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German Pages 316 Year 2013
Matthias Hoesch, Sebastian Muders und Markus Rüther (Hrsg.) Glück – Werte – Sinn
Glück – Werte – Sinn
Metaethische, ethische und theologische Zugänge zur Frage nach dem guten Leben
Herausgegeben von Matthias Hoesch, Sebastian Muders und Markus Rüther
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-028146-0 e-ISBN 978-3-11-028149-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Matthias Hoesch, Markus Rüther, Sebastian Muders Einleitung: Neue Perspektiven auf das gute Leben
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Teil I Grundlagen Holmer Steinfath 1 Werte und Glück Dimensionen der Frage nach dem guten Leben
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Kurt Bayertz 2 Empirische Antworten auf philosophische Fragen? Zum Verhältnis von philosophischer Ethik und empirischer Glücksforschung 35 Markus Rüther 3 Ein bedenkenswertes Projekt? Die objektive Theorie des guten Lebens in der Metaethik Peter Schaber 4 Eine objektive Theorie des guten Lebens
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Teil II Abgrenzungen Ludwig Siep 5 Was für ein Leben? Was für ein Sinn?
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Thaddeus Metz 6 Das Sinnvolle und das Lebenswerte Zur Klärung ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede Peter Strasser 7 Das gute Leben und das Leben, das gut genug ist
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Inhalt
Christoph Halbig 8 Tugend und Glück
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Teil III Perfektionismus Franz-Josef Bormann 9 ‚Handlungsfähigkeit‘ und ‚gutes Leben‘ Plädoyer für einen schwachen Perfektionismus
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Sebastian Muders 10 Tugendethik, Liberalismus und die Frage nach dem guten Leben Matthias Hoesch 11 Pflichten gegen sich selbst und die Frage nach dem guten Leben
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Teil IV Transzendenz Jörg Disse 12 Das Interesse der Vernunft und die Frage nach dem guten Leben John Cottingham 13 Das gute Leben, die menschliche Natur und das Transzendente Sigrid Müller 14 ‚Wie im Himmel, so auch auf Erden‘ Lebensfülle, Erlösung und Seligkeit als christliche Dimensionen guten 291 Lebens Personenregister Begriffsregister
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Matthias Hoesch, Markus Rüther, Sebastian Muders
Einleitung: Neue Perspektiven auf das gute Leben Die Frage, was ein gutes Leben ist, dürfte wohl jedem von uns vertraut sein. Wir stellen sie zumeist in praktischer Absicht: Wir fragen danach, wie wir unser Leben alles in allem betrachtet führen sollen. Zweifellos steht sie nicht im Zentrum des alltäglichen Denkens. Wir beschäftigen uns mehr mit anderen Dingen wie dem alltäglichen Einkauf, dem Berufsalltag und den Sportergebnissen. Dies ist auch nicht überraschend: Die kulturelle Gemeinschaft, in die wir hineingeboren werden, stellt nämlich bereits zahlreiche Muster für unsere Lebensführung bereit.Wir erlernen solche Leitmotive, wie zu leben gut ist, bereits in der Kindheit. Dementsprechend müssen wir uns die Frage nach dem guten Leben auch nicht ständig vorhalten. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sie von Zeit zu Zeit über uns hereinbricht. Wir hegen mitunter Zweifel, ob die überlieferten Deutungsmuster auch die richtigen Maßstäbe darstellen, an denen wir uns orientieren sollen. Besonders nachdrücklich stellt sich dieser Zweifel etwa in historischen Zeiten ein, die selbst durch Wertumbrüche und Krisen gekennzeichnet sind. Wir sind uns in diesen Momenten nicht mehr sicher, wie wir unser Leben eigentlich führen sollen, und suchen daher nach möglicher Orientierung. Doch wen können wir diesbezüglich um Rat fragen? In der Antike war die Ansicht verbreitet, dass es vor allem die Philosophie sei, die etwas zur Thematik des guten Lebens zu sagen habe.¹ Diese Ansicht wurde allerdings in der Neuzeit erheblich in Zweifel gezogen. War es früher die Philosophie, die uns über die richtige Lebensführung aufklärte, sind es nun die empirischen Sozialwissenschaften, denen zusammen mit populärwissenschaftlicher Literatur zum glücklichen Leben ein „Erstzugriffsrecht“ eingeräumt wird. Es ist viel über die ideengeschichtlichen Ursachen dieser Entwicklung und die Frage, ob man sie gutheißen sollte oder nicht, geschrieben worden.² Aus historischer Sicht betrachtet ist jedoch wichtiger, dass mit dem so gearteten Primat nicht das letzte Wort gesprochen ist. Denn in der jüngeren Vergangenheit zeichnet sich die Tendenz ab, dass sich die Philosophie schrittweise dem Thema wieder zuwendet. Aussagekräftiger Indikator für ein solches Comeback ist beispielsweise die philosophische Auseinandersetzung mit der Thematik in der analytischen Ethik der 80er und 90er
1 Vgl. dafür die Rekonstruktion in Horn 1998 und Wolf 1999. 2 Eine ausführliche Beschreibung der „Verfallsgeschichte“ und ihrer ambivalenten Bewertungen findet sich etwa in Fenner 2007, Kap. 2.
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Jahre. Hier haben insbesondere die Arbeiten von Alasdair MacIntyre, Martha Nussbaum und Charles Taylor, um einmal drei prominente Namen herauszugreifen, eine breite Rezeption erfahren und so maßgeblich zum Wiedererwachen des philosophischen Interesses an einer Theorie des guten Lebens beigetragen.³ Es scheint daher nur konsequent, wenn einige Autoren von einer Renaissance des guten Lebens als eines der Kernthemen der Philosophie sprechen.⁴ In der Gegenwart hat sich dieses Interesse noch verstärkt. So verrät ein Blick auf die einschlägige Fachliteratur, dass in den letzten Jahren ein respektabler Fundus an weiteren Texten entstanden ist. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Einführungsbüchern zum Thema;⁵ eine kaum noch überschaubare Vielfalt von Einzelmonographien;⁶ sowie mehrere neuere Aufsatzsammlungen,⁷ in denen sich Denker mit der Frage nach dem guten Leben auseinandersetzen. Hierbei handelt es sich aber nicht nur um eine quantitative Fortentwicklung. Vielmehr zeigt ein genauer Blick auf das Forschungsfeld, dass auch eine gewachsene Heterogenität der Fragestellungen zu beobachten ist. Während zu Beginn der Debatte die Frage nach dem guten Leben vorwiegend auf die Metaethik begrenzt war, findet man sie mittlerweile in ganz verschiedenen philosophischen Bereichen wieder.⁸ Man fragt nicht mehr etwa nur nach den begrifflichen Zusammenhängen von Glück und gutem Leben, sondern beispielsweise auch nach der Verbindung zwischen gutem Leben und sozialer Gerechtigkeit. Brauchen wir eine Vorstellung eines gelungenen Lebens, um gerechte von ungerechten Güterverteilungen zu unterscheiden? Und wenn ja,welche könnte dies sein? – Diese und weitere Fragen stellen sich in der politischen Philosophie.⁹ Weiterhin: Wie hängen Begriffe wie „lebensunwertes Leben“ und „würdiges Sterben“ mit dem Begriff des „guten Lebens“ zusammen? Können wir aus unseren Vorstellungen über Letzteres nicht auch Leitlinien für die ersten beiden Begriffe gewinnen? Welche konkreten Inhalte könnten dies sein? – Dies sind Fragen, die unter anderem in den Bereich
3 Vgl. MacIntyre 1981, Taylor 1989, Nussbaum 1992. 4 Vgl. Bien 1995, Seel 1995 und Fenner 2007, 7. 5 Vgl. etwa Fenner 2007 und Kazez 2007. 6 Um nur einige einschlägige Titel herauszugreifen: Crisp 2006, Haybron 2008, Kraut 2008, Tiberius 2008, Russell 2009, Bradley 2011 und Wessels 2011. 7 Claussen 2005, Gardiner 2005, Chappell 2006 und Olsaretti 2006. 8 Diese metaethische „Stoßrichtung“ wird etwa in den Beiträgen des einschlägigen Sammelbandes von Holmer Steinfath ausführlich reflektiert. Vgl. Steinfath 1998. 9 Vgl. dazu etwa Nussbaum 2006, die die Frage nach dem guten Leben explizit im Zusammenhang mit einer Theorie der Gerechtigkeit diskutiert.
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der angewandten Ethik fallen.¹⁰ Und schließlich: Verweisen unsere Ideen von einem guten Leben nicht in letzter Instanz auf ein höheres Wesen? Ist nicht ohne die Annahme eines göttlichen Schöpfers alles gleichgültig? Wie hängen die Kategorien „Sinn“ und „gutes Leben“ zusammen? – Dies sind Fragen, die mitunter dem Einzugsbereich der Religionsphilosophie zugerechnet werden können.¹¹ Sicherlich ließen sich noch weitere Diskussionsfelder aufzählen. Diese kurze Aufstellung sollte aber bereits ausreichen, um den wesentlichen Punkt deutlich zu machen: Es ist eine neue Forschungssituation eingetreten. Im Vergleich zu den Anfängen zeichnet sich die gegenwärtige philosophische Auseinandersetzung mit dem guten Leben durch eine thematische Breite aus, die bisher in diesem Maße nicht anzutreffen war. Das gute Leben wird nicht nur im Kontext der Metaethik verhandelt, sondern spielt auch für Fragestellungen der politischen Philosophie, der angewandten Ethik und der Religionsphilosophie eine bedeutende Rolle. Diese Beobachtung bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes. Er ist in der Absicht entstanden, die neue Vielfalt an Fragen, die unter dem Stichwort „gutes Leben“ zusammengefasst werden, möglichst breit und unter Einbeziehung der neuesten Entwicklungen abzudecken. Die behandelten Themen reichen von der klassischen metaethischen Gegenüberstellung subjektiver und objektiver Theorien des guten Lebens über den Glücksbegriff, das Verhältnis von Tugend und Glück sowie die Perfektionismus- und die Liberalismusdebatten bis hin zur Frage nach dem Sinn des Lebens. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann damit selbstredend nicht verbunden sein. Der gesamte Bereich der angewandten Ethik sowie Gerechtigkeitsfragen im engeren Sinn mussten ausgeklammert bleiben. Ein besonderes Augenmerk wird auf das Verhältnis philosophischer und theologischer bzw. religionsphilosophischer Ansätze gelegt. Auch über diejenigen Beiträge hinaus, die sich explizit dieser Frage widmen, rückt sie mehrfach ins Blickfeld. Diese dezente Schwerpunktsetzung ist der Tatsache geschuldet, dass ein großer Teil der Beiträge des Bandes auf ein Symposium mit dem Titel Philosophie, Theologie und die Frage nach dem guten Leben zurückgeht, das im Juni 2011 in Münster stattfand. Die Konfrontation der wiederauflebenden philosophischen
10 Dabei wird die Frage nach dem guten Leben in ganz verschiedenen Problemkontexten der angewandten Ethik diskutiert. Siehe für eine Auswahl an verschiedenen Zusammenhängen Bragues 2006, George 2008, Buchanan 2009 und Johnson 2010. 11 Siehe hierzu etwa Cottingham 2005, Claussen 2005; Miggelbrink 2009 und Disse/Goebel 2010. Neu ist dabei, dass sich die von philosophischer Seite betriebene Religionsphilosophie und die theologische Debatte treffen. Dass dagegen die Theologie selbst der Frage nach dem guten Leben wenigstens implizit immer schon eine zentrale Stellung eingeräumt hat, ist eine historische Beobachtung, die weitgehend unstrittig ist.
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Ansätze mit der Theologie verspricht in mehreren Hinsichten eine lebhafte und produktive Auseinandersetzung: Nicht nur hat die Theologie im Gegensatz zur säkularen Denktradition seit ihren Anfängen an einem „verbindliche[n] Begriff vom guten und exemplarischen Leben“ festgehalten und „Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wachgehalten“.¹² Sie tendiert auch zu metaphysischen Annahmen, die vielen als notwendig erscheinen, um substantiellen Aussagen über das gute Leben ein Fundament zu geben. Zu guter Letzt wird die Theologie im akademischen wie außerakademischen Kontext so eng mit der Frage nach dem Sinn des Lebens (oder gar allgemein mit Sinnfragen) verknüpft, dass für viele eine jede Sinnfrage als eine im weitesten Sinne religiöse Frage aufzufassen ist.¹³ Insofern Sinn ein Bestandteil des guten Lebens ist, scheint es daher mindestens plausibel zu sein, dass die Frage nach dem guten Leben im Grenzbereich von Philosophie und Theologie zu situieren ist. Dieser doppelten Motivation folgend sollen zunächst in einem ersten Teil die theoretischen Grundlagenfragen diskutiert werden, die sich stellen, wenn danach gefragt wird, was ein gutes Leben ist. In diesem Zusammenhang fragt Holmer Steinfath zunächst nach den zentralen Begriffen und Wertdimensionen, die bei der Beschäftigung mit der Thematik des guten Lebens eine Rolle spielen müssen. Steinfath betont die Notwendigkeit starker Wertungen bei der Bestimmung des guten Lebens; nur so lasse sich die von diesem in Anspruch genommene Orientierungsfunktion erhalten. Derlei „starke Wertungen“ wiederum benötigten zum einen eine emotionale Anbindung an unser Wünschen und Wollen und müssten sich zweitens einer intersubjektiven Prüfung unterziehen, um hinreichende Stabilität und Nutzbarkeit für unser Leben entwickeln zu können. Kurt Bayertz stellt demgegenüber methodische Überlegungen in den Vordergrund: Er fragt nach der Rolle empirischer Erkenntnisse bei der Bestimmung des guten Lebens. Im Ergebnis erhalten empirische Methoden und ihre Resultate im Rahmen der sogenannten Glücksforschung ein gewichtiges Mitspracherecht innerhalb der philosophischen Diskussion des guten Lebens zugesprochen. Allerdings lassen sich auch Bereiche identifizieren, in denen die Philosophie ein gutes Wort mitzureden hat, was etwa die begrifflichen Grundlagen der empirischen Forschungen angeht.
12 Habermas 2005, 31. 13 In der von Niklas Luhmann begründeten funktionalen Bestimmung des Religionsbegriffs wird dieser bekanntlich durch den Bezug zur Sinnfrage definiert.
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Die beiden folgenden Beiträge beschäftigen sich mit den ontologischen Grundannahmen, die eine plausible Theorie des guten Lebens akzeptieren muss. Markus Rüther wägt die Vor- und Nachteile einer objektivistischen Konzeption des guten Lebens gegenüber ihren Alternativen im Sinne eines Forschungsplans gegeneinander ab. Im Ergebnis sieht er die Beweislast, jedenfalls was den Ausgangspunkt der Debatte betrifft, eher bei subjektivistischen Fassungen des guten Lebens: Die weit verbreitete Skepsis, die ihren objektivistischen Mitbewerbern entgegen schlägt, erweist sich weder als aus der metatheoretischen Perspektive begründet, was etwa das Verhältnis von Theorie und Alltagspraxis angeht; noch kann mit Bezug auf die konkreten inhaltlichen Fragen dem Objektivismus der Vorwurf gemacht werden, er würde der individuellen Normativität einen zu geringen Spielraum einräumen. Peter Schaber argumentiert darüber hinausgehend dezidiert für eine objektivistische Konzeption. Er begründet dies mit der Alternativlosigkeit einer objektivistischen Basis zur Rechtfertigung unserer subjektiven Einstellungen, die andernfalls für ethische Fragestellungen unbewertbar blieben. Menschen können sich demnach sehr wohl darüber irren, was für sie gut ist, auch wenn es sich um höchstpersönliche Eigenschaften handelt wie diejenige, was sie selbst sind oder sein können. Dementsprechend muss dasjenige, was Menschen faktisch für gut halten, nicht das sein, was gut für sie ist. Eben dies motiviert für Schaber die Frage nach dem guten Leben. Der zweite Teil des Bandes setzt die Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen des behandelten Themas fort, nun allerdings im Sinne einer Abgrenzung von verwandten Begriffen, die in der Debatte um das gute Leben eine Rolle spielen. Den Anfang macht Ludwig Siep, der sich mit dem zum guten Leben häufig synonym gebrauchten Begriff des sinnvollen Lebens auseinandersetzt und hier unterschiedliche Lesarten voneinander trennt. Ihm geht es zentral darum, die Möglichkeit von Theorien des sinnvollen Lebens, hinreichend stabile Kriterien zur Bestimmung ihres Sujets zu entwickeln, einzuschätzen. Siep kritisiert die Beschränkung der Sinnfrage auf den (einen, umfassenden, letzten) Sinn des Lebens und betont die Pluralität von Kriterien und Weisen sinnvollen Lebens. Sie sind nicht auf die Annahme oder Suche nach einer transzendenten Sinnquelle angewiesen. Gleichwohl gehören auch solche Annahmen zu den möglichen Antworten auf die Frage nach einem sinnvollen Leben. Thaddeus Metz nimmt diesen Gedanken auf und fragt nach der philosophischen Differenz zwischen sinnvollem und lebenswertem Leben, um in Folge ihre jeweilige Relevanz zur Charakterisierung des guten Lebens herauszuarbeiten. Beide können im Grundsatz unabhängig voneinander bestehen,wenngleich sie im Einzelfall meist kontingenterweise zusammenfallen. In diesem Fall werden und
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sollten beide Wertdimensionen unverzichtbare Ingredienzen eines gelungenen im Sinne eines guten Lebens sein. Peter Strasser richtet sein Interesse auf die Unterscheidung zwischen dem Ideal eines guten Lebens und den weitaus niedriger anzusetzenden minimalen Anforderungen, ein solches auch tatsächlich zu führen. Ersteres wird von vielen Philosophen, gerade wenn man es in objektivistischer Art und Weise ausbuchstabiert, als zu „abgehoben“ gegenüber dem konkret zu führenden Leben empfunden. Dagegen argumentiert Strasser, dass ein solches Idealbild geradezu notwendig ist, da es die unverzichtbare Grundlage einer jeden menschlichen Existenz bildet, die danach strebt, sich im Rückblick mit sich selbst auszusöhnen: Am Ende mag ich mein unvolkommenes Leben, vor dem Hintergrund meines geringen Anteils am guten Leben, immerhin als „gut genug“ erkennen. Christoph Halbig schließlich greift die von Metz angesprochene Dimension des lebenswerten oder glücklichen Lebens erneut auf und untersucht diese mit Blick auf eine weitere, eng mit dem guten Leben zusammenhängenden Wertdimension, dem moralischen Leben. Die Unterscheidung verschiedener Ebenen, auf denen sich die Frage nach dem Verhältnis von Tugend und Glück stellt, führt zu einem vielschichtigen Ergebnis: Zwar kann weder ein tugendhaftes Leben ein glückliches Leben garantieren, noch muss sich ein glückliches Leben notwendigerweise durch Tugendhaftigkeit auszeichnen. Dennoch stehen in mehrfacher Hinsicht Tugend und Glück in einer Wechselbeziehung, was sich zum Beispiel darin zeigt, dass bestimmte Tugenden eine konstitutive Rolle für prudentielle Güter haben. Innerhalb der Debatte um das gute Leben dürfte der Perfektionismus mit seiner Leitidee einer Vervollkommnung menschlicher Anlagen mit die bedeutendste Spielart objektivistischer Theorien darstellen. Um diese Theoriefamilie kreisen die Beiträge des dritten Teils des Bandes. Franz-Josef Bormann macht sich für einen schwachen Perfektionismus stark, demzufolge ein allgemeines und abstraktes Kriterium der Lebensführung mit einer Pluralität von Lebensformen verträglich sei. Nach einer kritischen Diskussion der Theorien A. MacIntyres und Ph. Foots begründet er dies mit einer an den USamerikanischen Philosophen A. Gewirth angelehnten Theorie der Handlungsfähigkeit. Demnach sei aufgrund der Unhintergehbarkeit menschlichen Handelns eine jede Konzeption des guten Lebens der Bedingung unterworfen, die Vervollkommnung der eigenen Handlungsfähigkeit ebenso wie die der Handlungsfähigkeit anderer zu gewährleisten. Perfektionistische Theorien haben zumindest die Tendenz, den Wert autonomer Entscheidungen nur schwer integrieren zu können; kann doch das Ergebnis solcher Entscheidungen der Vervollkommnung des Menschen gerade entgegenstehen. Sebastian Muders untersucht deshalb Bemühungen von Seiten antiper-
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fektionistisch eingestellter, liberaler Theorien, eine den objektivistischen Intuitionen angemessene Theorie des guten Lebens mit einer starken Betonung des Wertes personaler Autonomie zu verbinden. Insbesondere werde eine solche Verbindung durch eine Kopplung der liberalen Theorie mit tugendethischen Ansätzen versucht, was allerdings zu ernsthaften Spannungen führe, die diese Theorien leicht dem Vorwurf des Relativismus aussetzten. Im Ergebnis argumentiert Muders deshalb für eine nur schwache Berücksichtigung des Werts autonomer Entscheidungen. Diese reiche auch aus, die ebenfalls vorhandenen subjektivistischen Intuitionen,welche die Frage nach der guten Lebensführung als höchstpersönliche Angelegenheit betrachten, zu befriedigen. Matthias Hoesch versucht schließlich, die Diskussion um das gute Leben mit der Debatte um die Existenz von Pflichten gegen sich selbst zu verknüpfen. Er sieht dabei einen engen Zusammenhang zwischen beiden Themen: Wer die Existenz von Pflichten gegen sich selbst bejaht, sei wenigstens in einem bestimmten Sinn auf eine objektive Theorie des guten Lebens festgelegt; wer eine objektive Theorie des guten Lebens vertritt, müsse andersherum auch die Existenz von Pflichten gegen sich selbst zugestehen. Hoesch setzt sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit dem Vorwurf auseinander, dass Pflichten gegen sich selbst einen selbstwidersprüchlichen Begriff bildeten. Der vierte und letzte Teil des Bandes beschäftigt sich mit dem Problem, inwieweit eine objektivistische Theorie des guten Lebens auf das Transzendente angewiesen ist, und wie sich dies aus philosophischer wie theologischer Perspektive charakterisieren lässt. Jörg Disse argumentiert für eine enge Verbindung zwischen objektivistischen und theistischen Theorien des guten Lebens: Das gute Leben für den Atheisten könne nur in der Verfolgung seines eigenen Glücks in Form subjektiver Interessen bestehen; das gute Leben für den Theisten umfasse hingegen darüber hinaus die universale Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen. Disse begründet diese These mit einer Theorie menschlicher Zielsetzungen, die an Ansätze der empirischen Kognitionspsychologie anknüpft. Folgt man dieser Theorie, lasse nur der Glaube an eine künftige vollkommene Gerechtigkeit die Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen als sinnvolles Ziel menschlichen Handelns erscheinen. John Cottinghams Überlegungen nehmen ihren Ausgangspunkt in einem transzendenten Bedürfnis des Menschen, das tief in seiner Natur verwurzelt sei. Cottingham illustriert dieses Bedürfnis in drei Dimensionen, einer kosmologischen, einer ästhetischen und einer moralischen. Er argumentiert gegen naturalistisch inspirierte Versuche, das Bedürfnis nach dem Transzendenten deflationistisch oder reduktiv zu behandeln, und kommt zu dem Ergebnis, dass der Theismus, wie er etwa in der Abrahamitischen Religionen vorliegt, eine
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adäquatere Antwort darstelle. Als Folge dieses ‚phänomenologischen Arguments‘ läge es nahe, die Befriedigung des transzendenten Bedürfnisses als notwendigen Bestandteil des guten Lebens anzusehen. Während die Argumentationen von Cottingham und Disse eher der natürlichen Theologie oder Religionsphilosophie zuzuordnen sind, nähert sich Sigrid Müller im abschließenden Beitrag der Frage nach dem guten Leben aus einem distinkt christlich-theologischen Blickwinkel. Wie die Philosophie habe auch die Theologie im 20. Jahrhundert eine „Wende zum Subjekt“ vollzogen. Obwohl damit etwa ein von kirchlichen Autoritäten vorgegebener Katalog von Normen zur Lebensgestaltung unmöglich geworden sei, versucht Müller, einige Aspekte ausfindig zu machen, die für die christliche Vorstellung eines guten Lebens besonders charakteristisch sind. Die Hoffnung auf Auferstehung und Erlösung führten demnach zu einem Begriff der Lebensfülle, der auch Scheitern und Fehlbarkeit integrieren könne. Das Projekt eines Sammelbandes, wie er nun fertig vorliegt, lebt selbstverständlich von der Mitwirkung und Unterstützung vieler. Für die finanzielle Beteiligung, die uns sowohl das Symposium Philosophie, Theologie und die Frage nach dem guten Leben als auch den vorliegenden Band erst ermöglichte, bedanken wir uns bei der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk sowie bei der Graduiertenschule des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Unserem gemeinsamen Doktorvater Ludwig Siep sind wir in vielerlei Hinsicht zu großen Dank verpflichtet; er unterstützte uns in jeder Phase des Projekts mit Rat und Tat. Dank sei auch allen Teilnehmern und Vortragenden des Symposiums ausgesprochen, deren lebhafte Diskussionsbeiträge vielfach Eingang in den Sammelband gefunden haben, sowie der Lektorin Gertrud Grünkorn vom Verlag Walter de Gruyter, die für uns bei der Konzeption und Organisation des Bandes eine unerlässliche Ansprechpartnerin war. Der größte Dank gilt freilich allen Beitragenden, mit deren Kompetenz, Zeit und Engagement sich das Herzstück des Sammelbands, die philosophische Auseinandersetzung mit dem guten Leben, nur realisieren ließ.
Literatur Bien (1995): Günther Bien, „Über das Glück“, Information Philosophie 1, 5 – 16. Bradley (2011): Ben Bradley, Well-Being and Death, Oxford. Bragues (2006): George Brague, „Seek the Good Life, not Money: The Aristotelian Approach to Business Ethics“, Journal of Business Ethics 67(4), 341 – 357. Buchanan (2009): Alan Buchanan, „Human Nature and Enhancement“, Bioethics 32(3), 141 – 150. Chappell (2006): Timothy Chappell (Hg.), Virtues and Values, Oxford.
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Claussen (2005): Johann Claussen (Hg.), Glück und Gegenglück: Philosophische und theologische Variationen zu einem alltäglichen Begriff, Tübingen. Crisp (2006): Roger Crisp, Reasons and the Good, Oxford. Cottingham (2005): John Cottingham, The Spiritual Dimension: Religion, Philosophy and Human Values, Cambridge. Disse/Goebel (2010): Jörg Disse und Bernd Goebel (Hg.), Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perspektiven, Frankfurt a. M. Fenner (2007): Dagmar Fenner, Das gute Leben, Berlin. George (2008): Robert George, „The Nature and Basis of Human Dignity“, Ratio Juris 21(2), 173 – 193. Habermas (2005): Jürgen Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“, in: Florian Schuller (Hg.), Dialektik der Säkularisierung, Freiburg i. Br., 15 – 37. Haybron (2008): Daniel M. Haybron, The Pursuit of Unhappiness, Oxford. Horn (1999): Christoph Horn, Antike Lebenskunst, München. Kraut (2008): Richard Kraut, What is Good and Why, Cambridge. Gardiner (2005): Stephen Gardiner (Hg.), Virtue Ethics. Old and New, New York. Johnson (2010): Lawrence Johnson, A Life-Centered Approach to Bioethics, Cambridge. Kazez (2007): Jean Kazez, The Weight of Things: Philosophy and the Good Life, Oxford. MayIntre (1981): Alasdair MacIntyre, After Virtue, Notre Dame. Miggelbrink (2009): Ralf Miggelbrink, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Freiburg i. Br. u. a. Nussbaum (1992): Martha Nussbaum, „Human Functioning and Social Justice. In Defense of Aristotelian Essentialism“, Political Theory 20/2, 202 – 246. Nussbaum (2006): Martha Nussbaum, Frontiers of Justice, Cambridge. Olsaretti (2006): Serena Olsaretti (Hg.), Preferences and Well-Being, Cambridge. Russell (2009): Daniel Russell: Practical Intelligence and the Virtues, Oxford. Seel (1995): Martin Seel, Versuch über die Formen des Glücks, Frankfurt a. M. Steinfath (1998): Holmer Steinfath (Hg.), Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen, Frankfurt a. M. Taylor (1989): Charles Taylor, Sources of the Self, Cambridge. Tiberius (2008): Valerie Tiberius, The Reflective Life. Living Wisely with Our Limits, Oxford. Wessels (2011): Ulla Wessels, Das Gute, Frankfurt a. M. Wolf (1999): Ursula Wolf, Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Hamburg.
Teil I Grundlagen
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1 Werte und Glück Dimensionen der Frage nach dem guten Leben Die Problematik des guten Lebens ist uns in der abendländischen Philosophie spätestens seit Platon und Aristoteles vertraut. Platon lässt seinen Sokrates in mehreren Dialogen fragen, wie zu leben ist, und die Leitfrage von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik ist die Frage nach dem höchsten Gut und besten Leben. Die lange Tradition philosophischer Überlegungen zur Frage nach dem guten Leben hat dieser jedoch nichts von ihrem schillernden Charakter genommen. Die Frage kann nicht nur verschieden beantwortet, sondern auch verschieden verstanden werden. Dabei sind insbesondere zwei Verständnisse auseinanderzuhalten, die regelmäßig durcheinander gebracht werden. Ihrer Klärung gelten die nachfolgenden Betrachtungen.
1.1 Die praktische Grundfrage und die Frage nach dem Glück Legt man das erste Verständnis zugrunde, so fällt die Frage nach dem guten Leben mit der Frage zusammen, die Ernst Tugendhat die „praktische Grundfrage“ genannt hat.¹ Diese Frage kann von einem Einzelnen, einem „Ich“, oder von einer Gruppe, einem „Wir“, gestellt werden, wobei ich mich auf den individuellen Fall beschränken möchte.² Wer die praktische Grundfrage stellt, fragt sich, was er überhaupt tun und wie er insgesamt leben soll. Man kann sich diese Frage versinnbildlichen, indem man sie, Aristoteles folgend, so versteht, dass sie auf die Wahl zwischen verschiedenen Lebensweisen gerichtet ist. Aristoteles überlegt ja zu Beginn der Nikomachischen Ethik, ob am meisten für ein Leben spricht, in dessen Mittelpunkt das Streben nach sinnlicher Lust steht, oder für ein Leben, dessen zentrales Gut entweder die Ehre oder die Tugend ist, oder für ein Leben, das sich in den theoretischen Beschäftigungen des Philosophen erfüllt, den bios theoretikos. ³ Sicherlich kann man skeptisch sein, ob wir denn überhaupt die Wahl zwischen verschiedenen Leben haben, und auch, ob es sinnvoll ist, diese Wahl als
1 Vgl. Tugendhat 1976, 118. 2 Der kollektive Fall ist bisher zu wenig beachtet worden. Er ist überall dort relevant, wo sich eine Gruppe von Menschen gemeinsam fragt, wie sie ihr Zusammenleben gestalten will. 3 Vgl. Aristoteles 1979, I. 3.
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Wahl zwischen verschiedenen Lebensformen vorzustellen, die alle um ein einziges Gut herum organisiert sind. Aber an dieser Stelle geht es mir nur um eine erste Illustration. Es sind leicht alternative Formulierungen der praktischen Grundfrage beizubringen. Z. B. können wir fragen, worum es uns im Leben gehen sollte, was wirklich wichtig ist und wirklich zählt, was letztlich wünschenswert ist oder wofür zu leben lohnt; oder wir können fragen, wie zu leben sinnvoll wäre oder was für ein Mensch wir eigentlich sein wollen. Obgleich diese Frageformulierungen nicht notwendig äquivalent sind und man darüber streiten kann, welche Formulierung am besten passt, sollten sie einen ersten Sinn der Frage nach dem guten Leben einkreisen helfen. Wichtig an diesem ersten Verständnis ist, dass es als solches inhaltlich maximal offen ist und keine Einschränkungen enthält. Im Extrem könnte die praktische Grundfrage eine Antwort finden, die die Aufopferung der eigenen Person für eine Sache oder für andere empfiehlt; vielleicht ist es am besten, die Ansprüche der eigenen Person radikal zurückzunehmen. Als solcher geht es der praktischen Grundfrage jedenfalls nicht von vornherein um das Wohl oder das Glück des Einzelnen. Eben darum geht es aber, wird die Frage nach dem guten Leben in einem zweiten Sinn verstanden. Auch dieser Sinn lässt sich mit den Anfangspassagen der Nikomachischen Ethik verknüpfen. Aristoteles formuliert die Frage nach dem höchsten, durch menschliches Handeln erreichbaren Gut und Ziel schnell in die Frage nach dem Glück um. An der fraglichen Stelle heißt es, die meisten Menschen seien sich im Namen für das gesuchte oberste Gut einig, würden sie es doch alle „eudaimonia“, „Glück“, nennen.⁴ Da Aristoteles gleichzeitig hervorhebt, wie strittig ist, worin das Glück besteht (der Pluralismus in Sachen Glück ist keine Erfindung der Neuzeit), mag man in der Bezeichnung des höchsten Guts als „Glück“ nicht mehr als eine formale Anzeige sehen, die ganz verschieden substantiell gefüllt werden kann. Aber zumindest dann, wenn wir das heute vorwaltende Glücksverständnis zugrunde legen und den speziellen Sinn, den „eudaimonia“ bei Aristoteles haben mag, einklammern, wird mit der Gleichsetzung von höchstem Gut und Glück eine signifikante Weichenstellung vorgenommen. Jetzt ist die Überlegung darauf gerichtet, wie man leben sollte um des eigenen Wohls willen. Anders als die erste Frage ist diese zweite Frage inhaltlich nicht mehr maximal offen; sie gibt der Suche nach einer Antwort eine bestimmte Richtung vor, so vage diese anfänglich auch sein mag. Dass beide Fragen einen verschiedenen Sinn haben, kommt uns am deutlichsten zu Bewusstsein, wenn wir an den möglichen Konflikt zwischen den eigenen Glückshoffnungen und den Ansprüchen der Moral denken. Im landläufigen
4 Vgl. Aristoteles 1979, I. 2 (1095a16 ff.).
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Verständnis kann die Moral in zugespitzten Situationen auch die völlige Preisgabe eigener Interessen fordern. Dass dies dem eigenen Glück zuträglich ist, ist zwar öfters behauptet worden, bedarf aber offenkundig einiger gedanklicher Akrobatik, um auch nur für die meisten Fälle plausibel zu erscheinen. Begreifen wir die Frage nach dem guten Leben im ersten Sinn der praktischen Grundfrage, müssen wir überlegen, wie wir unser Streben nach Glück und unsere Anerkennung moralischer Verpflichtungen (und natürlich manches mehr) in eine umfassendere Sichtweise integrieren können. Wir müssen fragen, wofür alles in allem gesehen am meisten spricht, und dabei können wir uns nicht ohne weiteres auf einen übergeordneten Maßstab stützen. Fassen wir die Frage nach dem guten Leben dagegen im zweiten Sinn so auf, dass sie dem Glück des Einzelnen gilt, werden wir zwar ebenfalls überlegen müssen, wie wir beispielsweise Glück und Moral unter einen Hut bringen, aber dies wird dann von vornherein so geschehen, dass die Moral (wie alles andere auch) dem Streben nach Glück untergeordnet wird. Ich gehe später noch darauf ein, wie das erste und das zweite Verständnis der Frage nach dem guten Leben zusammenhängen könnten und warum es viele für naheliegend halten, vom ersten Verständnis zum zweiten hinüberzugleiten. Zunächst einmal möchte ich jedoch von der weiteren – und das heißt der ersten – Fassung der Frage nach dem guten Leben ausgehen, sie mithin im Sinn der praktischen Grundfrage verstehen. Wie lässt sich dieser Sinn weiter ausarbeiten und vor welche philosophischen Alternativen führt er uns?
1.2 Die Notwendigkeit starker Wertungen Bemühen wir noch einmal das griechische Vorbild, so fällt auf, dass Platon und Aristoteles die Frage nach dem guten Leben denkbar unpersönlich formulieren. Bei Platon heißt es einfach „pos biotheon;“„Wie ist zu leben?“ oder „Wie soll man leben?“;⁵ bei Aristoteles ist vom „anthropinon agathon“, dem „menschlichen Gut“, die Rede.⁶ Es geht also darum, wie man überhaupt als Mensch leben sollte. Dagegen hat Bernard Williams geltend gemacht, dass die Frage nach dem guten Leben stets von einer besonderen Person – von mir – und zu einem besonderen Zeitpunkt – jetzt, in der Mitte meines Lebens – gestellt wird.⁷ Das entspricht sicherlich der Art,wie wir meistens mit der Frage nach dem guten Leben konfrontiert sind. Wir sind über etwas in unserem je individuellen Leben verunsichert und
5 Platon 1903, 492d5, 500d4 u. ö. 6 Aristoteles 1979, 1094b7 u. ö. 7 Vgl. Williams 1985, 21.
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möchten wissen, wie wir dieses Leben in die richtige Bahn bringen können. Williams’ Formulierung und diejenigen von Platon und Aristoteles stehen jedoch nicht unverbunden nebeneinander.Vielmehr nimmt die Frage, wie ich mein Leben führen soll, von sich aus eine Dynamik an, die auf allgemeine Dimensionen der menschlichen Existenz führt.Wie wir noch sehen werden, gilt dies vor allem, wenn wir uns die Frage nach dem guten Leben explizit und in jener rückhaltlosen Weise stellen, wie es uns Platon in der Figur des Sokrates vorführt, der bekanntlich ein ungeprüftes Leben für nicht wert erachtet, gelebt zu werden.⁸ Nun stellen sich freilich nicht alle Menschen die Frage nach dem guten Leben so ausdrücklich und radikal wie Sokrates; das dürfte im Gegenteil die seltene Ausnahme sein. Wir können unser Leben jedoch auch dann als implizite Antwort auf die praktische Grundfrage begreifen, wenn wir uns diese Frage nicht explizit vorlegen. Kein Mensch lebt nur von Instinkten geleitet und von Augenblick zu Augenblick stolpernd.Wir vollziehen unser Leben in Reaktion auf Situationen, die wir je schon in bestimmter Weise interpretieren und im Licht umfassenderer Wertungsrahmen beurteilen. Kant hat dem durch die Beobachtung Rechnung getragen, dass menschliches Handeln nie einfachen sinnlichen Stimuli, Momenten der Anziehung und Abstoßung, folgt, sondern wir unsere Neigungen durch deren Aufnahme in eine passende Handlungsmaxime erst in ein motivierendes „Interesse“ transformieren müssen.⁹ So mag ich beim Schlendern durch die Einkaufszone von den Auslagen in den Schaufenstern angezogen sein. Ob ich der Verlockung zum Kauf nachgebe, hängt jedoch davon ab, ob ich mich in dieser Angelegenheit an die Maxime, man dürfe sich schließlich einmal etwas gönnen, oder an die Maxime, sich auf die nötigsten Ausgaben zu beschränken, halte, wobei beides natürlich nur Beispiele für mögliche Maximen sind und die Maximen mir nicht einmal bewusst sein müssen. – Eine ähnliche Einsicht liegt Aristoteles’ Lehre von den ethischen Tugenden zugrunde. Sind Maximen Grundsätze, die unser Handeln anleiten, so sind Tugenden habituelle Grundhaltungen, die gegebenenfalls in Form von Grundsätzen artikuliert werden können. In Geldfragen mag eine Tugend die Haltung der Sparsamkeit sein, die zwischen dem Mangel des Geizes und dem Übermaß der Verschwendungssucht steht. Ethische Tugenden sind bei Aristoteles Weisen des Sichverhaltens zum eigenen Strebevermögen, und ein solches Sichzusichverhalten, eine Form von Selbstbewertung, liegt auch der Bildung von Maximen zugrunde.
8 Vgl. Platon 1995, 38a. 9 Ich will offen lassen, ob dies tatsächlich immer so ist; es genügt, dass es charakteristisch für viele menschliche Handlungen ist.
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Wir können das Feld der Grundsätze und Grundhaltungen, der Maximen und Tugenden, noch etwas stärker systematisieren. Martha Nussbaum begreift Tugenden als Dispositionen zum richtigen Umgang in Erfahrungsbereichen, die mehr oder minder zu jedem menschlichen Leben gehören und in denen „jeder Mensch mehr oder weniger irgendwelche Entscheidungen treffen und sich in irgendeiner Weise verhalten muß“.¹⁰ So betrifft die Tugend der Tapferkeit unseren Umgang mit der Furcht vor großen Schäden, insbesondere dem Tod, Mäßigung den Umgang mit körperlichen Begierden, Gerechtigkeit die Verteilung begrenzter Ressourcen, Freigebigkeit den Umgang mit dem eigenen Besitz, sofern es um andere geht, usw. – Einen etwas anderen Systematisierungsschritt verdanken wir Charles Taylor.¹¹ Taylor meint, Grundsätze und Grundhaltungen (ein Bezug, den er allerdings so nicht herstellt) seien Ausdruck „starker Wertungen“, in denen wir mit Hilfe eines Vokabulars kontrastiver Begriffe wie „hoch“ und „niedrig“, „edel“ und „gemein“ oder „tief“ und „banal“ qualitative Wertmaßstäbe formulieren, in deren Licht wir noch unsere eigenen Wünsche und Neigungen beurteilen. Tugenden sind Seinsweisen, in denen wir uns zu unserem Strebevermögen verhalten, und diese Seinsweisen unterliegen evaluativen Standards, in denen sich ausdrückt, welche Seinsweisen wir für erstrebens- oder gar bewundernswert halten und welche aus unserer Sicht gemieden oder gar verachtet werden sollten. Jemand, der einer Krieger- und Ehrenethik anhängt, wird bestimmte Verhaltensweisen als tapfer, edel, männlich und insgesamt nachahmenswert betrachten, andere als feige, sklavisch, weibisch und insgesamt verdammenswert einstufen, wobei sich dies nicht nur in seinen Urteilen, sondern in seinem ganzen Gebaren zeigen wird. – Taylor hat darüber hinaus vorgeschlagen, die impliziten oder expliziten starken Wertungen, über die sich wesentlich definiert, wer jemand ist, worin seine „Identität“ besteht, grob entlang dreier Wertungsachsen aufzuteilen. Die erste Achse betreffe unser Gefühl der Achtung und Verpflichtung gegenüber anderen, also ungefähr das, was oft als Kern der Moral angesehen wird. Die zweite Achse werde von unseren Auffassungen der Elemente eines erfüllten Lebens gebildet. In diesen Bereich falle z. B. die vor allem im Zuge der Reformation vollzogene Aufwertung des gewöhnlichen Lebens von Arbeit und Familie zu Tätigkeitsfeldern, in denen wir ein wertvolles und befriedigendes Leben führen könnten. Die dritte Achse schließlich kristallisiere sich im Bereich der Vorstellungen, die die Würde im Sinn der außermoralischen Hochachtung vor besonderen Leistungen oder der sozialen Stellung betreffen.¹² Hier geht es nicht zuletzt darum, wie sich jemand im
10 Nussbaum 1998, 119 f. 11 Vgl. Taylor 1985, 15 – 44. 12 Vgl. Taylor 1996, 35 ff.
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öffentlichen Raum bewegt und wahrgenommen wird. Die Trennlinien zwischen diesen drei Achsen sind nicht sonderlich scharf, und sie verschwimmen gerade in Taylors Darstellung. Mir erscheint die Auffächerung einer gewissen Anzahl von – vermutlich mehr als drei – Grunddimensionen des menschlichen Lebens, die durch starke Wertungen aufgespannt werden, jedoch fruchtbarer als Kants manichäische Dichotomie zwischen der Grundmaxime der Selbstliebe und der der Moral. Für Kant steht hinter allen unseren Handlungen eine dieser Maximen bzw. eine spezifische Anordnung dieser beiden Maximen, und zwar dergestalt, dass wir entweder moralisch gut sind, indem wir die Maxime der Selbstliebe der der Moral systematisch unterordnen, oder dass wir böse sind, indem wir die Rangfolge umkehren.¹³ Meines Erachtens ist es eine wichtige Erkenntnis, dass Menschen zur Orientierung im Leben auf Wertungsrahmen angewiesen sind, wie sie Charles Taylor und andere erläutert haben. So wie wir im physischen Raum nicht mehr wissen, wo wir sind, wenn wir den Sinn für oben und unten, rechts und links verloren haben, so verirren wir uns im sozialen Raum und im Raum unseres Lebens, wenn wir das Gespür dafür verlieren, was wichtig und unwichtig, gut und schlecht, bewundernswert und banal ist. Die Pointe von Taylors Konzeption der starken Wertungen liegt in der These, dass es zur Orientierung nicht ausreicht, Handlungsoptionen nach angenehm und unangenehm oder nach gewünscht und unerwünscht zu differenzieren. Ebenso wenig kann es genügen, dass wir unsere Präferenzen in eine kohärente Ordnung bringen und deren sukzessive Realisierung klug planen, wie es einige Versionen der Entscheidungstheorie suggerieren; wir brauchen das stärkere Vokabular kontrastiver Wertbegriffe oder doch einen Sinn für derartige qualitative Unterscheidungen. Ich weiß nicht, ob sich diese Sicht beweisen lässt. Sie erhält jedoch Unterstützung durch die Frage nach dem guten Leben selbst und dadurch, dass wir Wesen sind, die sich diese Frage stellen können und grundsätzlich für sie ansprechbar sind. Die Frage setzt nämlich zweierlei voraus, das über Gegensätze wie angenehm/unangenehm oder gewünscht/unerwünscht hinausgeht. Zum einen liegt in der Rede von einem „guten“ Leben ein Objektivitätsanspruch, der mit der Bewertung von etwas als angenehm oder unangenehm, gewünscht oder unerwünscht so nicht verbunden ist. Und zum anderen zielt die Frage tendenziell auf unser Leben als Ganzes, nicht auf einzelne Augenblicke oder Episoden, und auch damit wird die Sphäre des Angenehmen und Unangenehmen und wohl selbst noch des Erwünschten und Unerwünschten überstiegen. Dieser Ganzheitsbezug
13 Vgl. Kant 1979 [1793], 1. Stück.
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drängt sich uns aufgrund der Tatsache auf, dass wir um unsere Sterblichkeit wissen – ein Punkt, den Heidegger in seiner Daseinsanalyse herausgearbeitet hat. Wir sind Wesen, für die etwas in qualitativ distinkter Weise zählt, die etwas wichtig nehmen, sich um Dinge sorgen. Dass wir überhaupt etwas wichtig nehmen, uns um etwas sorgen, unsere Identität von Bindungen an geschätzte Lebensweisen abhängig machen, ist für uns als solches oft wichtiger als das,was uns im einzelnen wichtig ist. Der Sinn unseres Tuns entgleitet uns und ein Gefühl der Leere stellt sich ein, wenn wir nichts mehr wichtig nehmen und der Bewunderung wert erachten können.¹⁴ Dies gilt, wie gesagt, selbst dann, wenn wir uns die Frage nach dem guten Leben nicht ausdrücklich stellen. Die impliziten Antworten auf diese Frage liefern die starken Wertungen und das, was sie jeweils auszeichnen. Dabei stellt sich uns als eigene Aufgabe, nicht nur solche Wertungen vorzunehmen, sondern unser Leben danach auszurichten. In einer ersten Näherung gesprochen, führen wir dann ein gutes Leben, wenn wir wissen, was wichtig ist und zählt, und wenn dieses – meist unartikulierte – Wissen unserem Leben die Richtung vorgibt und wir in Kontakt zu dem erkannten Guten stehen.
1.3 Zwischen Wertrealismus und Wollensfundamentalismus Wie sieht es nun aber aus, wenn wir uns die Frage nach dem guten Leben doch so ausdrücklich und radikal stellen, wie es uns Sokrates vorgeführt hat?¹⁵ Zu vielen Zeiten scheinen sich Menschen sicher gewesen zu sein, worauf es im Leben ankommt. Zeiten eines tiefverwurzelten religiösen Glaubens mögen ein Beispiel dafür sein.¹⁶ Die radikalisierte Frage nach dem guten Leben macht dagegen auch
14 In der ihm eigenen Übersteigerung hat Nietzsche dies festgehalten, indem er behauptet hat, lieber wolle „der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen“ (Nietzsche 1993 [1887], 412). 15 Wir tun dies, wie gesagt, selten, und es ist eine schwierige Frage, was uns dazu bewegen kann, die praktische Grundfrage in sokratischer Manier zu stellen. Es gibt sowohl Motive dafür wie Motive dagegen. Tugendhat sieht das entscheidende Motiv für die Frage im Streben nach intellektueller Redlichkeit; vgl. Tugendhat 2007a, 85 – 113. Ich selbst habe vermutet, dass der Wunsch nach Selbstbestimmung eine wesentliche Rolle spielt; siehe dazu zuletzt Steinfath 2010, 103 – 126. 16 Auch Luther dürfte nicht an der Religion als letztem Orientierungsrahmen gezweifelt haben; er und andere waren nur ungewiss, wo sie im Verhältnis zu Gott standen, ob sie ein wirklich gottesfürchtiges Leben lebten oder eines, das zur Verdammnis führt; vgl. dazu Taylor 1996, 42 und 57. Luthers Krise ist insofern keine Sinnkrise, so verunsichernd sie auch
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vor der Befragung von Werten und Normen, die lange Zeit stillschweigend akzeptiert wurden, nicht halt. Sie provoziert damit automatisch die Frage nach allgemeinen Kriterien dafür, dass etwas wirklich wert ist, realisiert und verfolgt zu werden. Ich habe oben die Dynamik vom Individuellen zum Allgemeinmenschlichen gestreift. In existentiell bedrängter Lage stellt sich die praktische Grundfrage jeder als die besondere Person, die er ist, aus der Gegenwart seines je besonderen Lebens heraus. Aber zum einen wird er dabei durch die Grundsätzlichkeit der Reflexion ganz natürlich auf Dimensionen der menschlichen Existenz als solcher stoßen, zu denen er sich so oder so verhalten muss. Ich denke an Dimensionen wie sie durch unsere Sterblichkeit, die Begrenzung unseres Wissens, unsere Verletzlichkeit und unsere Angewiesenheit auf andere gegeben sind. Zum anderen werden wir insbesondere dann auf unser Menschsein zurückgeworfen, wenn wir im Zuge der Radikalisierung der praktischen Grundfrage überkommene Orientierungen nicht mehr allein deshalb zu akzeptieren vermögen, weil sie überkommen oder durch Tradition beglaubigt sind.¹⁷ Unsere Identität ist dann nicht eo ipso die Identität als Professor, Mann oder Vater, sondern erst einmal unsere Identität als Mensch. Deswegen ist es so natürlich, mit Platon und Aristoteles zu fragen, wie als Mensch zu leben gut ist. Nur fragt sich, ob wir auf dieser Ebene noch etwas Konstruktives sagen können. So in die Enge getrieben, lohnt ein Blick auf einige theoretische Alternativen, die sich in der jüngeren philosophischen Diskussion zu Fragen des guten Lebens herauskristallisiert haben. Der anhaltende Einfluss antiken Gedankenguts zeigt sich nirgends deutlicher als in neoaristotelischen Ansätzen, die offen oder verdeckt das sogenannte Ergon-Argument zu aktualisieren suchen. Zur Rekonstruktion müssen wenige Striche genügen: Aristoteles behauptet – wie vor ihm Platon – einen analytischen Zusammenhang zwischen dem ergon, das heißt der Funktion oder spezifischen Leistung von etwas, und seiner arete, seiner Tugend bzw. seinem Gutsein.¹⁸ Im Fall eines Gebrauchsgegenstands wie einem Brotmesser ist seine Funktion das Brotschneiden, und wenn ich diese Funktion kenne, weiß ich auch, was es heißt, ein gutes Brotmesser zu sein, nämlich eines, mit dem man Brot mühelos schneiden kann. Es ist umstritten, ob wir dieses Bewertungsmuster auch auf Lebewesen wie Pflanzen und Tiere und schließlich auf den Menschen übertragen können. In der neueren Debatte haben Philippa Foot und ihr Schüler Michael Thompson für die Möglichkeit einer eigenen Klasse von „naturgeschichtligewesen sein muss. Von einer Sinnkrise können wir erst sprechen, wenn auch der letzte Orientierungshorizont fraglich geworden ist. 17 Vgl. für eine ähnliche Überlegung Tugendhat 2007b, 34 – 54, bes. 40 f. 18 Vgl. Aristoteles 1979, I. 6.
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chen“ Werturteilen derart plädiert, dass wir zum Beispiel eine blinde Eule als defektes Exemplar ihrer Art einstufen können, weil sie den spezifischen Anforderungen ihrer Lebensform nicht gerecht wird.¹⁹ In Bezug auf den Menschen ist die Idee, dass es auch eine für ihn konstitutive Lebensform gibt, die interne Standards bereitstellt, so dass man bei Abweichungen von einem Menschen sprechen kann, der nicht so ist, wie er sein sollte. Solche Abweichungen seien insbesondere bei Menschen gegeben, die Lastern anheimfielen, statt in ihrem Leben für die menschliche Lebensform wesentliche Tugenden zu exemplifizieren. Man würde dann in einem allgemeineren als dem üblichen moralischen Sinn sagen können, dass ein Mensch, der feige, ungerecht oder unklug handelt, ein schlechter Mensch ist und deswegen auch kein gutes Leben führt. Die für eine derartige neoaristotelische Konzeption wesentliche Vorstellung besteht also darin, dass uns eine Reflexion auf die menschliche Natur bzw. die typisch menschliche Lebensform einen objektiven Maßstab zur Bewertung eines Lebens als gut oder schlecht an die Hand gibt. Zu den Vorzügen dieser Herangehensweise gehört, dass sie uns an die Schranken der Formbarkeit unseres individuellen wie kollektiven Lebens erinnert. Wollen wir ein gutes Leben führen, werden wir auf die naturale Seite unserer Existenz und die allgemeinen Erfordernisse der menschlichen Lebensform achthaben müssen. Dazu passt, was ich von Nussbaum in Erinnerung gebracht habe: es gibt für mehr oder minder jedes menschliche Leben typische Lebensbereiche, in denen wir uns so oder so verhalten müssen, und wir können die – oft bittere – Erfahrung machen, dass wir mit manchen Verhaltensweisen schlecht fahren oder Ansprüche übergehen, die wir schwerlich leugnen können. Auch scheint mir der bis in die Ökonomie diskutierte und ebenfalls von Aristoteles angeregte Befähigungsansatz – capability approach – von Nussbaum und Amartya Sen etwas Richtiges zu treffen.²⁰ Er geht davon aus, dass es bestimmte Grundfunktionen – genug zum Essen zu haben, soziale Bindungen zu pflegen, Kontakt zu einer reichhaltigen Natur zu haben und dergleichen mehr –, gibt, zu deren Ausübung und Entfaltung wir befähigt werden müssen, sollen wir die Chance haben, dass unser Leben gelingt. Gleichwohl stoßen die neoaristotelischen Ansätze auf Grenzen. Zwei Fragen drängen sich auf: Erstens ist zu fragen, warum z. B. ein als tapfer oder besonnen ausgezeichnetes Verhalten gut ist. Dass wir ohne ein solches Verhalten einen natürlichen Mangel aufwiesen, ist keine hilfreiche Antwort, weil es eine Antwort
19 Vgl. Foot 2001 und Thompson 2008. 20 Nussbaum spricht auch vom „human development approach“; siehe etwa neuerdings Nussbaum 2011.
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von außen ist, die wir vielleicht in der theoretischen Einstellung eines Beobachters, aber nicht in der erstpersonalen Perspektive praktischen Überlegens geben können. Warum sollte ich mir diesen „natürlichen“ Maßstab zu Eigen machen? Selbst wenn es „natürliche“ Normen geben sollte, bliebe doch unklar, wie diese Normen eine Bindungskraft für mich entfalten könnten. Unklar bliebe dies schon aus dem Grund, dass beim Menschen (wie bereits bei einigen Tieren) sein artgemäßes ‚Funktionieren‘ und sein erlebtes Wohl auseinandertreten können. Für naheliegender halte ich daher den Hinweis auf Bedingungen menschlichen Wohlergehens und die notwendigen Voraussetzungen zum Erreichen dessen, was uns wichtig ist. Ohne Mut würden wir mit äußeren Hindernissen nicht in einer für uns und unsere Ziele zuträglichen Weise umgehen; und ohne Besonnenheit würden wir zum Spielball unserer unmittelbaren Begierden werden. Vielleicht könnte man auch argumentieren, dass in einem mutigen und besonnenen Verhalten eine eigene Würde liegt.²¹ – Zweitens fragt sich, ob es überhaupt eine menschliche Lebensform gibt, die hinreichend bestimmt ist, um einen distinkten Maßstab für das gute Leben abgeben zu können. Zwar gibt es unzweifelhaft Erfordernisse des menschlichen Lebens, mit denen jeder zurechtkommen muss, aber die Frage ist doch, ob diese Erfordernisse nicht einen erheblichen Spielraum für das Verfehlen oder Verwirklichen eines guten Lebens lassen. Die von Nussbaum und Sen angestellten Überlegungen zu menschlichen Grundfunktionen und Befähigungen sind wichtig für Fragen der globalen Gerechtigkeit geworden, in denen es darum geht, jedem Menschen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu verschaffen. Diese Voraussetzungen sind aber natürlich keine Garantie für ein gutes und erfülltes Leben; andernfalls würde sich dieses Thema in Wohlstandsgesellschaften erübrigen. Und wenn wir uns in den klassischen Tugendlehren umschauen, stoßen wir auf ganz unterschiedliche Modelle. Bei Aristoteles ist das Tugendvorbild der megalopsychos, der Großgesinnte, der um seinen Rang und seine Überlegenheit weiß, gerne gibt, aber ungern empfängt und etwas von dem pflegt, was Nietzsche später das „Pathos der Distanz“ genannt hat.²² Das genaue Gegenbild zu diesem Rollenmodell stellt der Christ dar, für den die höchste Tugend in der Demut und im Gottesgehorsam liegt. Es mag hier Möglichkeiten geben, das eine Modell dem anderen mit Gründen vorzuziehen (mir
21 In noch größere Schwierigkeiten gerät der neoaristotelische Ansatz, wenn er sich auf natürliche Zwecke wie die Reproduktion verlegt; wer keine Kinder bekommen kann oder will oder homosexuell ist, wäre dann ein „defekter“ Mensch, der kein gutes Leben führen könnte. Heutige Neoaristoteliker wollen diese Konsequenz nicht ziehen, aber es ist nicht klar, woran sich dann bemessen soll, was zur menschlichen Natur oder Lebensform gehört und was nicht. 22 Vgl. Aristoteles 1979, IV. 8 (bes. 1124b5 ff.); Nietzsche 1993 [1887], 259.
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sind beide nicht eben nahe), aber die Berufung auf die menschliche Natur oder Form dürfte dafür nicht hinreichen. So müssen wir uns nach anderen Zugängen umsehen. Ein zweiter – gegenwärtig sehr beliebter – theoretischer Ansatz ist der Wertrealismus. Dieser tritt – wie auch die neoaristotelische Konzeption – in verschiedenen Versionen auf. Als Alternative zum Neoaristotelismus, mit dem er auch alliiert sein kann, bietet er sich insofern an, als reale Werte nicht notwendig an Aussagen über die Natur oder das Wesen des Menschen gebunden sind. Da das Argument von der kulturellen Differenz ernst zu nehmen ist, kommt aus meiner Sicht, wenn überhaupt, nur ein pluralistischer Wertrealismus in Frage.²³ In dieser Perspektive wäre es möglich, dass Aristoteles’ aristokratischer Großgesinnter und der demutsvolle Christ zwei Spielarten eines werthaften menschlichen Lebens repräsentieren, die sich nur nicht gleichzeitig und in einer einzigen Person verwirklichen lassen. Gedacht werden könnte auch an Überlegungen, wie sie George Edward Moore zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Schlusskapitel seiner Principia Ethica angestellt hat. In einer die damalige Bloomsbury-Gruppe elektrisierenden Passage heißt es, „[d]ie bei weitem wertvollsten Dinge, die wir kennen oder uns vorstellen können,“ seien „gewisse Bewußtseinszustände, die sich summarisch umschreiben lassen als die Freuden menschlichen Umgangs und das Genießen schöner Gegenstände.“ „Wahrscheinlich“, so Moore weiter, hätte „niemand, der sich die Frage vorgelegt hat, je daran gezweifelt, daß persönliche Zuneigung und die Wertschätzung des Schönen in Kunst oder Natur gut an sich sind“ und nichts „anderes […] annährend so viel Wert“ hat.²⁴ Dass daran niemand je gezweifelt hat, darf bezweifelt werden; Moore betont in fragwürdiger Weise die eher passiven und rezeptiven Freuden. Aber dessen ungeachtet könnte doch wahr sein, dass Freundschaft und das Erlebnis des Kunst- und Naturschönen ausgezeichnete Möglichkeiten eines guten und mit Werthaftem beschäftigten Lebens sind; dies könnte einfach eine von wechselnden Neigungen und Einstellungen unabhängige Tatsache sein. Nun gibt es freilich auch gegen die verschiedenen Spielarten des Wertrealismus erhebliche Einwände. Viele Kritiker halten es mit John Leslie Mackie, der die Annahme realer Werte, die nicht Projektionen menschlicher Wünsche, Gefühle
23 Als Vertreter eines pluralistischen Wertrealismus gilt Isaiah Berlin, der seine Position jedoch kaum systematisch ausgearbeitet hat. Bei realistischen Wertpluralisten wie George Edward Moore ist dagegen unklar, ob sich ihr Pluralismus tatsächlich auf eine Vielfalt von Werten oder nur auf eine Vielfalt von Wertträgern bezieht. Ein von Moore beeinflusster realistischer Wertpluralismus wird heute z. B. von Thomas Hurka 2011 vertreten, der in Hurka 1993 aber an die aristotelische Tradition anknüpft. 24 Moore 1970, § 113.
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und Wertungen sind, für ontologisch und epistemologisch absonderlich hält.²⁵ Was für Entitäten, so fragen diese Kritiker, sollen reale Werte sein und auf welche besondere Weise sollen wir sie erkennen können? Diese Art der Kritik trifft bestimmte Versionen des Wertrealismus.²⁶ Aber ich glaube, dass Mackie das Alternativenspektrum künstlich verengt.²⁷ Entscheidend ist, dass der Wertrealismus, jedenfalls in seinen Hauptvarianten, phänomenologisch unangemessen ist. Er übersieht, dass das, was ich mit Taylor „starke Wertungen“ genannt habe, Produkt von Artikulationen und Interpretationen ist, die erstens nie abgeschlossen sind und die zweitens einen kreativen und subjektrelativen Anteil haben, so dass sich in ihnen Entdeckung und Erfindung verschränken. Sehr deutlich tritt dies in jenen umfassenden Deutungen zu Tage, mit denen Menschen sich ihre Stellung im Kosmos zurechtzulegen versuchen. Manche verbinden mit der Sinnfrage ja vor allem das Problem, wie wir uns dazu stellen sollen, dass wir im Ozean des großen Ganzen nur ein winziges Teil sind, das vom Ganzen so wieder aufgesogen werden wird, als hätte es es gar nicht gegeben. Ich bin keineswegs sicher, dass jeder dies als drängendes Problem empfinden muss. Aber nicht zuletzt die Existenz der Religionen ist ein Indikator dafür, dass wir hier auf ein verbreitetes Deutungsbedürfnis stoßen. Wie können wir also unsere Stellung im großen Ganzen, sei dies nun das Universum, die Natur oder die Geschichte, sehen? Viele suchen Trost im Glauben an einen liebenden Gott, der jedem seine volle Aufmerksamkeit schenkt und ihn nach dem Tod bei sich aufnehmen wird. Andere ziehen Befriedigung aus dem Gedanken, dass erst die Menschen Werte in die Welt bringen und es nichts jenseits des menschlichen Verstandes und der Gemeinschaft aller Menschen gibt.Wieder andere halten es mit Albert Camus und sehen das Erhabene der menschlichen Existenz gerade in der unablässigen Revolte gegen eine absurde Welt, der wir uns nur wie Sisyphos seinem Fels entgegenstemmen können.²⁸ Richard Rorty empfiehlt eine ironisch-distanzierte Grundhaltung, die um unsere Begrenzungen weiß, darin aber nichts Tragisches erkennen will.²⁹ Ich bin nicht der Meinung, dass alle diese und weitere Deutungen
25 Vgl. Mackie 1977, 1. Kapitel. 26 Etwa – je nach Auslegung – die Idee des Guten, mit Rekurs auf die Platon die Frage nach dem guten Leben glaubt beantworten zu können. 27 Auch die skizzierte neoaristotelischen Konzeption des Guten, die das Gute ja als etwas von menschlichen Einstellungen ihm gegenüber Unabhängiges begreift, scheitert nicht an Mackies Absonderlichkeitsargument. 28 Vgl. Camus 1959. 29 Vgl. Rorty 1992.
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gleich gut sind. So halte ich selbst die theistische Option für hinfällig.³⁰ Doch gibt es, wie mir scheint, in Bezug auf unsere Stellung in der Welt ein Spektrum von möglichen Deutungen und Haltungen, die nicht einfach eine von unseren Einstellungen unabhängige Realität beschreiben, sondern Teil prinzipiell nicht abschließbarer Interpretationsprozesse sind. Unsere Deutungen von uns selbst und der Welt tragen einen untilgbar kulturellen und individuellen Index;³¹ in ihrer Verschiedenheit gleichen sie im Extrem den nicht vermittelbaren differenten Sichten von Menschen, die sich an der Vielfalt der Welt freuen, und Menschen, die am Elend der Welt verzweifeln, wobei beide dafür gute Gründe angeben können. Ohne dafür hier argumentieren zu können, möchte ich behaupten, dass sich das, was sich an umfassenden Deutungen zeigt, auch an umgrenzteren Interpretationen demonstrieren ließe, in denen wir mit bestimmten Aspekten unserer Situation oder einzelnen Facetten des menschlichen Lebens wertend zurechtzukommen versuchen. Verpflichtet uns dies auf eine antirealistische Konzeption vom guten Leben? Ich neige dazu, den Gegensatz von Realismus und Antirealismus in Bezug auf Werte für unfruchtbar und verfehlt zu halten. Er leidet nicht zuletzt an einer fragwürdigen Fixierung auf das Vorbild der Naturwissenschaften. Den vielleicht attraktivsten Ansatz, der oft als „antirealistisch“ rubriziert wird, könnte man als „wollensrelative Konzeption des Guten“ bezeichnen. Zur Erläuterung hilft es, noch einmal einen Bogen zurück zum Ergon-Argument zu schlagen. Am Brotmesser zeigte sich, dass zu wissen, was ein Brotmesser ist bzw. welche Funktion es hat, bedeutet, zugleich zu wissen, was ein gutes Brotmesser ausmacht. Des Weiteren ließe sich argumentieren, dass sich die Güte eines Brotmessers objektiv und mit unverdächtigen empirischen Mitteln feststellen lässt. Und doch ist das Gutsein eines Messers in anderer Hinsicht relativ auf das Wollen von Menschen; schließlich haben Menschen Messer für einen bestimmten Zweck hergestellt. Generalisieren wir diese Beobachtung, so ergibt sich, dass etwas gut ist, wenn es dem entspricht, was wir von ihm wollen. Und wird dieser Gedanke auf das eigene Leben bezogen, so heißt, ein gutes Leben zu führen, in erster Annährung, ein Leben zu führen, das einem gibt, was man von diesem Leben will.
30 Verzichtet sie nicht ganz auf die sie definierenden epistemischen Annahmen (dass es einen Gott gibt, er sich um uns sorgt, wir Kontakt zu ihm aufnehmen können usw.), ist sie unvereinbar mit allem, was wir inzwischen über die Entstehung der Welt und des Menschen wissen; die bekannten Kompatibilisierungsbemühungen wirken hilflos. 31 Vgl. Taylor 1996, 853; dort allerdings etwas anders gemeint. Dass Taylor selbst eine Form des Wertrealismus vertritt, steht auf einem anderen Blatt und führt zu Spannungen innerhalb seiner Theorie.
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Aber können wir nicht auch ganz Abwegiges vom Leben wollen? Die Vertreter des wollensrelativen Ansatzes antworten darauf in der Regel, dass wir zwar das Wie, aber letztlich nicht das Was des Wollens kritisieren können. Ein Wollen kann defizient sein, weil es auf unbedachte Weise zustande gekommen ist, weil sich der, der etwas will, nicht klar gemacht hat, woher sein Wollen kommt, oder weil ihm entscheidende Informationen über das Gewollte fehlen. Manche wünschen sich nichts sehnlicher, als Kinder zu bekommen, aber vielleicht machen sie sich ganz falsche Vorstellungen darüber, was das bedeuten würde und ob sie auf die Elternschaft vorbereitet sind. Aber wenn sie alles Relevante wissen, dann entscheidet den Vertretern des wollensrelativen Ansatzes zufolge über das Gutsein ihres Lebens allein, dass es das Leben ist, das sie wollen. Und das soll auch gelten, wenn sie ihr Leben ganz einem skurrilen Hobby widmen wollen, das uns anderen banal erscheinen mag, aber für die Betroffenen selbst der Hauptinhalt ihres Tuns ist.³² Auch diese Theorie trifft etwas Richtiges und greift doch zu kurz. Wir würden ein Leben nicht gut nennen, in dem der, der es führt, keinem seiner ihm am Herzen liegenden Ziele auch nur nahekommt. Noch wichtiger ist, dass es Dinge gibt, die wir wollen, ohne dafür weitere Gründe zu haben oder haben zu müssen. Menschen wollen nicht überleben, weil sie dem Leben einen Wert zumessen; vielmehr können sie nicht anders als überleben zu wollen, und wenn sie dem Leben als solchem einen Wert zuschreiben, dann dieses Wollens wegen. Genauso wollen Menschen anerkannt und geliebt werden, ihr Wissen erweitern und ähnliche Dinge mehr; auch dies wollen sie „einfach so“. Harry Frankfurt hat in vielen seiner Arbeiten argumentiert, dass das, was wir für wertvoll halten, aus dem erwächst, was wir lieben, nicht umgekehrt.³³ Und wenn wir etwas für gut und wertvoll erachten, dann gibt das unserem Leben solange keine Richtung, wie wir es nicht in unser Wollen aufgenommen haben. Gegen den Wollensfundamentalismus, den Frankfurt und andere verfechten, ist jedoch zum einen zu bedenken zu geben, dass der Schritt vom Wollen zur Wertzuschreibung ein eigener Schritt und kein Automatismus ist. Ich habe vorhin Taylors historische Diagnose erwähnt, dass die Aufwertung des gewöhnlichen Lebens der Arbeit und der Familie zu einem bevorzugten Ort für ein gutes Leben eine tiefgreifende Transformation bedeutet hat, die etwa in Aristoteles’ Anschauungen vom Guten keinen Platz hätte finden können, war für Aristoteles die Sphäre des Hauses – des oikos – doch nicht mehr als eine Voraussetzung der Existenzsicherung, während das gute Leben nur in der Politik und der Muße der
32 Für die Verteidigung eines solchen Ansatzes siehe z. B. Stemmer 1998. 33 Vgl. z. B. Frankfurt 1988 und 2006.
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Philosophie geführt werden konnte. Es ist unplausibel, den Einstellungswechsel von Aristoteles zur neuzeitlichen Affirmation des gewöhnlichen Lebens als einen bloßen Wandel im Wollen zu begreifen. Zum anderen – und als Kehrseite davon – erscheint es mir unmöglich, die uns leitenden starken Wertungen restlos auf basale Wollensinhalte zurückzuführen oder mit diesen auch nur stets in gerader Linie zu verbinden. So hängen beispielsweise die komplexen Verzweigungen eines historisch gewachsenen Ehrenkodexes sicherlich mit dem Bedürfnis nach Anerkennung zusammen, aber keine Ableitung führt von diesem auf jene. Wollensfundamentalistische Ansätze übergehen die erstpersonale Perspektive derer, die praktische Überlegungen anstellen, ähnlich wie es Wertrealisten regelmäßig tun. Sie blenden die Besonderheit von Willensbildungsprozessen aus, was im Fall von Wollensfundamentalisten zu einer Unterschätzung der Rolle von Urteilen und Wertungen führt, die uns oft erst dazu bringen, etwas zu wollen. Aber was bedeutet all das positiv? Was bleibt uns, wenn wir uns weder an ein Wesen des Menschen oder an in der Realität vorgegebene Werte noch an ein basales Wollen halten können? Es könnte helfen, sich einmal genauer anzuschauen, wie sich Änderungen in unseren Deutungen und starken Wertungen faktisch vollziehen und wieso uns im Einzelnen der Übergang von einem Deutungsmuster zum nächsten einleuchtend erscheinen kann. – Zum einen entwickeln wir unsere Selbst- und Weltdeutungen im Gespräch mit anderen, nicht selten auch mit der überlieferten Tradition oder mit bloß vorgestellten anderen. Ob bestimmte starke Wertungen plausibel sind und bestimmte umfassendere Deutungen zu überzeugen vermögen, muss sich im intersubjektiven Diskurs bewähren. Wir haben es hier mit einer holistischen Urteilspraxis zu tun, die sich weitgehend selbst trägt und die in der Suche nach dem Guten angezielte Objektivität mit konstituiert. Was es heißt, dass irgend etwas, und sei es auch ein Leben, gut oder schlecht ist, kann sich nur aus der Perspektive der Teilnahme an der menschlichen Verständigungspraxis über diese Dinge erschließen, nicht irgendwie von außen oder aus der ganz anders gearteten Perspektive der Naturwissenschaften. – Zum anderen können uns Wertungen und Deutungen nur überzeugen, wenn sie einen Widerhall in unseren Erfahrungen und Gefühlen finden. Die Schlüssigkeit, um die es dabei geht, ist nicht eine logische, sondern eine psychologische, und diese hat eine emotionale Dimension. Nehmen wir als Beispiel unser Verhältnis zur außermenschlichen Natur! Unsere Bilder von Natur, was wir an ihr warum für bewahrenswert halten und welches Verhältnis zu ihr wir für erstrebenswert erachten, haben eine komplexe Geschichte. Wir sehen Natur heute anders als in einer Welt, in der sie für uns eine unmittelbare Bedrohung darstellte, und auch anders als zu Zeiten, in denen wir uns als Krone der Schöpfung sahen. Die Evolutionslehre und stärker noch die gemeinsame Bedrohung durch den Klimawandel können uns nahelegen, unsere
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Verwandtschaft mit anderen Lebewesen zu betonen und deswegen schonender mit ihnen umzugehen. Mehr als ein „Nahelegen“ ist dies allerdings nicht. Es gibt hier einen Raum von Argumenten und Gründen, wie sie sich in der neueren Naturethik finden, aber keine zwingenden Schlüsse. Und was durch die Evolutionsbiologie oder den Klimawandel nahegelegt werden mag, muss selbst durch unsere Erfahrungen und Gefühle, etwa in Form der Liebe zur Natur, einem Heimatempfinden in Bezug auf eine bestimmte Natur und Landschaft oder das Mitleid mit den Tieren, beglaubigt werden. Intersubjektive Plausibilität bedarf zugleich eines affektiven Resonanzbodens. Noch aufschlussreicher könnten Beispiele von Umbrüchen sein, in deren Folge niemand mehr an einer bestimmten Tätigkeit oder Praxis etwas finden und deswegen eine Wertung für alle unverständlich werden kann. Ich könnte mir z. B. vorstellen, dass irgendwann niemand mehr am Stierkampf etwas finden wird, weil die gesamte kulturelle Einbettung – ein bestimmtes Männlichkeitsideal, die symbolische Rolle des Stiers, die Funktion der Stierkampfarena als Sphäre der Öffentlichkeit, ästhetische Vorlieben usw. – weggebrochen sein werden. Sollte für uns der Stierkampf nur noch ein grausames Spektakel sein, so liegt dies nicht einfach daran, dass wir plötzlich sensibel für das Leiden von Tieren geworden sind. Unser Mitleid mit dem Stier und den Pferden, die im Stierkampf zugrunde gerichtet werden, ist vielmehr auf intrikate Weise mit einer geänderten Gesamtdeutung einer kulturellen Praxis verwoben; affektive Erfahrungen und intersubjektive Gründe spielen hier notwendig zusammen. Deswegen greift sowohl der Appell an unser Gefühl oder unser Wollen als auch der Rekurs auf angeblich einstellungsunabhängige Werte zu kurz. Auch gibt es keine verlässliche intuitionistische Methode, wie sie Moore mit seinem Isolierungstest vorgeschlagen hat, wonach wir uns nur intensiv eine Welt mit der entsprechenden Tätigkeit oder Praxis und eine ohne dieselben vorstellen müssten, um dann zu „sehen“, welche in sich gut sind.³⁴ Unsere intuitiven Evidenzen verstellen uns den Blick für die Komplexität der Wertungsmuster, die wir einleuchtend finden. In einer sehr theoretischen Perspektive gesprochen, würde ich sagen, dass die damit angedeutete positive Auffassung von der Konstitution starker Wertungen auf eine an affektive Erfahrungen zurückgebundene intersubjektive Konzeption hinausläuft.³⁵ Nur ist nicht hinreichend klar, was das genau bedeuten soll. An dieser Stelle müsste eine Theorie von Werterfahrungen einspringen, die die Erfahrung von etwas als werthaft weder der Wahrnehmung äußerer Objekte an-
34 Vgl. Moore 1970, §§ 50, 55, 112 und 113. 35 Dies entspricht dem, was ich in Steinfath 2001 im Auge hatte, nur nicht befriedigend auf den Begriff bringen konnte, wie leider auch jetzt wieder.
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gleicht noch zu einer bloßen Projektion nonkognitiver Einstellungen erklärt. Ich kann leider nicht behaupten, über eine derartige Theorie zu verfügen. Man kann allerdings auch ohne sie versuchen, allgemeine Bedingungen dafür zu umreißen, dass Wertungen und Deutungen schlüssig sind. Anknüpfungspunkte dafür haben wir schon kennengelernt. So meine ich, dass keine Wertorientierung zu überzeugen vermag, die zur menschlichen Natur gehörende Züge systematisch missachtet. Das könnte gegen allzu asketische Lebensentwürfe sprechen, die die menschliche Sexualität und das menschliche Begehren unterdrücken. Von Tugendethiken und Befähigungsansätzen wie denen Nussbaums können wir lernen, dass menschliches Leben sich in typischen Erfahrungsbereichen vollzieht und auf Grundfunktionen beruht. Jeder muss sich zum Tod, zu den Ansprüchen anderer, zur außermenschlichen Natur usw. irgendwie verhalten, und die Überzeugungskraft von starken Wertungen und Existenzdeutungen wird mit davon abhängen, inwieweit sie auf diese Herausforderungen Antworten finden und diese Antworten zu integrieren vermögen. Die Notwendigkeit der Integration führt auf ein weiteres Erfordernis: So wie wir verfasst sind, kommen wir nicht umhin zu versuchen, unser Leben in eine hinreichende praktische Einheit zu bringen. Dazu sind wir schon aufgrund der Widersprüche unseres Begehrens und der divergierenden sozialen Ansprüche gezwungen. Bei Kant übernehmen die Maximen diese Aufgabe, und wie alle Moralisten ist er der Auffassung, dass wir unsere inneren Widersprüche letztlich nur durch Unterordnung aller Maximen unter die Maxime der Moral überwinden können.³⁶ Letzteres halte ich für ebenso überzogen wie illusorisch; wir können in unser Leben eine gewisse Einheit auch durch Orientierung an kontingentere Ziele und Ideale bringen, und es gibt nicht nur die Gefahr innerer Zerrissenheit, sondern auch die Gefahr der Erstarrung und eines Mangels an Offenheit und Spontaneität. Schon die Unterordnung dessen, woran uns liegt, unter ein oberstes Gut ist nur eine Option, keine Notwendigkeit. Schließlich brauchen wir vielleicht auch, wobei ich hier unsicher bin, eine Vorstellung von unserer Stellung im Kosmos, im großen Ganzen; auch daran sind Wertungen und Deutungen zu messen.³⁷
1.4 Glück und Werte Natürlich bleibt dies weiter hochabstrakt und ergänzungsbedürftig. Kann man daran aus verschiedenen Gründen Anstoß nehmen, so rührt ein verbreitetes
36 Vgl. z. B. Kant 1934, AA XIX, R 7202, 280. 37 Vgl. zu diesem letzten Punkt Nagel 2010.
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Unbehagen vermutlich daher, dass viele bei der Frage nach dem guten Leben an das Glück denken und die Frage damit im zweiten, eingangs umrissenen Sinn verstehen. Abschließend möchte ich einige Überlegungen zu diesem Sinn entwickeln und, wie versprochen, Verbindungslinien zwischen dem ersten Verständnis der Frage nach dem guten Leben im Sinn der praktischen Grundfrage und dem zweiten Verständnis im Sinn der Frage nach dem Glück aufzeigen. Dass ich überhaupt vorschlage, die beiden Verständnisse der Frage nach dem guten Leben auseinanderzuhalten, hat einen einfachen Grund: In meinen Augen ist das persönliche Glück erst einmal ein Gut unter anderen; dass ihm alles andere unterzuordnen ist, ist jedenfalls nicht selbstverständlich. Man kann sich sogar fragen, ob Glück überhaupt ein Gut ist, an dem wir uns im Handeln orientieren können. In Bezug auf das Glück gibt es eine unhintergehbare Bewertungssouveränität des Einzelnen. Glücklich ist man, wenn man sich so fühlt und man sein Leben aus ganzem Herzen bejaht.³⁸ Es ist nicht sinnvoll, Glück in der Weise in Analogie zur körperlichen Gesundheit aufzufassen, wie es etwa bei Platon insinuiert wird. Wer sich gesund fühlt, kann doch in sich eine unerkannte Krankheit tragen; und vielleicht kann man auch gesund sein, obwohl man sich krank fühlt. Im Fall des Glücks leuchtet weder die eine noch die andere Möglichkeit ein. Deswegen ist auch die verbreitete Unterscheidung von „wahrem“ und „illusionärem“ Glück irreführend. Wer sich glücklich fühlt, weil er sich geliebt glaubt, in Wirklichkeit aber geringgeschätzt wird, ist nicht weniger glücklich dadurch, dass sich sein Glück einer Illusion verdankt. Wahres und illusionäres Glück unterscheiden sich nicht qua Glück, sondern allein in ihren Ursachen. Natürlich kann man ein Glück, das auf Schein beruht, für wertlos halten, aber das heißt nur, dass es einem nicht nur um Glück geht, sondern etwa auch um Wahrheit oder den Kontakt zur Realität. Begreifen wir aber Glück in dieser subjektiven Weise, als gebunden an das Glücksempfinden und eine spezifische Bejahung des eigenen Lebens, ist es kein normales Handlungsziel. Es ist kein intentionales Objekt unseres Tuns, sondern stellt sich, wie Max Scheler bemerkt hat, „auf dem Rücken der Akte“ ein.³⁹ Streben wir es doch direkt an, verfehlen wir es mit großer Sicherheit. Möglich ist allerdings, dem Glück über indirekte Strategien näherzukommen; wir können versuchen, Voraussetzungen zu schaffen, die es wahrscheinlicher machen, dass sich das Glück einstellt. Nun gehört zu den Voraussetzungen, dass wir uns glücklich fühlen und unser Leben bejahen, jedoch gerade, dass wir Dinge in einem qualitativ distinkten Sinn
38 Birnbacher 2005, 1 – 16. 39 Scheler 1980 [1916], 351; Scheler umschreibt mit seiner prägnanten Wendung das, was den Kern des sogenannten „hedonistischen Paradoxes“ ausmacht.
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wichtig nehmen. Wir müssen etwas hochschätzen und bewundern können, müssen einen Unterschied zwischen dem Guten und Schlechten, Tiefen und Flachen, Bedeutsamen und Nebensächlichen usw. machen können. Entscheidend ist dabei, dass wir diese Voraussetzung für Glück nicht instrumentalistisch verkürzen. Wir können nicht sozusagen auf Probe etwas wichtig nehmen, um zu sehen, ob wir dadurch glücklich werden. Vielmehr müssen wir das für wichtig Erachtete intrinsisch – um seiner selbst willen – schätzen. Genauer betrachtet, haben wir es hier wohl mit einem Wechselverhältnis zu tun, das die im vorigen Abschnitt angesprochene Dialektik von intersubjektiver Bewährung und emotionaler Beglaubigung spiegelt. Nehmen wir einen Wissenschaftler, der in seinen Forschungen Erfüllung findet. Er könnte dies nicht,würde er im Forschen nicht eine Tätigkeit sehen, in der zum Tragen kommt, was menschliches Leben auszeichnet. Zum Forschen gehört ein eigenes Ethos, das diese Tätigkeit als eine besondere Form menschlichen Tuns nobilitiert. Das wiederum ist eine Einschätzung, die sich nicht einfach so ergibt. Es mag durchaus so sein, dass wir aus reiner Neugier zu forschen anfangen, merken, dass uns dies Freude bereitet und wir deswegen dabeibleiben. Doch die Freude trägt in der Regel nur eine Weile und muss auf Dauer durch eine entsprechende, meist allerdings unartikulierte, Bewertung des wissenschaftlichen Tuns gestützt werden, so dass sie am Ende auch deren Effekt ist. Das ist die eine Richtung des Wechselverhältnisses, in der das Glücksempfinden an starke Wertungen gebunden ist. – Aber es gibt auch die andere Richtung. Wir können noch so sehr davon überzeugt sein, dass ein tiefes Verständnis für Musik das Leben reicher macht und alle Bewunderung verdient – sind wir selbst ganz unmusikalisch und können wir für Musik nichts empfinden, dann ist die Beschäftigung mit Musik nichts für uns, kann sie uns nicht glücklich machen. Ohne Verwurzelung in unseren Empfindungen können Wertungen nicht zu einem guten Leben beitragen. Die Verkennung der Abhängigkeit des Glücks selbst von starken Wertungen liefert eine Teilerklärung für die in unserer Kultur zu beobachtende Tendenz, ein hedonistisch aufgefasstes Glück für das einzige Gut zu halten, nach dem zu streben letztlich und um seiner selbst willen lohnt. Eine andere Teilerklärung liegt in dem Umstand, dass uns viele Ziele und Ideale, die das persönliche Glück marginalisieren, aufgrund historischer Erfahrungen suspekt geworden sind. Eine Ehrenethik, die regelmäßig desaströse Rachezyklen lostritt, ist schon von Platon und Aristoteles abgelehnt worden. Das Unglück, das sie in die Welt gebracht hat, hat ihre Attraktivität vielleicht nicht vernichtet, aber gemindert. Der Dienst an und die Unterordnung unter die Gemeinschaft sind aufgrund nationalistischer und kollektivistischer Exzesse in Misskredit geraten. Die Unterwerfung unter einen Gott muss den Nichtreligiösen (auch moralisch) befremden. So bleibt oft als einziger Gegenpol zum persönlichen Glück die Moral mit Gerechtigkeit und
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Wohltätigkeit. Im Utilitarismus werden diese selbst in den Dienst für die Steigerung des allgemeinen Glücks genommen, was freilich nichts daran ändert, dass der normative Anspruch des Prinzips des größten Glücks der größten Zahl nicht aus dem Glück selbst stammen kann. Paradoxerweise könnte noch die Renaissance der Religionen, deren Realitätsgehalt ich nicht einzuschätzen vermag, ein Effekt der Betonung des persönlichen Glücks sein. Wird dieses nämlich von anderen Wertbezügen isoliert, so wirkt es schnell leer, so dass man meint, wahre Erfüllung könne es nicht ohne Transzendenzbezug geben. Gehen meine Überlegungen in die richtige Richtung, beruhen diese kulturellen Tendenzen jedoch auf einem Selbstmissverständnis.Wir leben nicht in einer entzauberten Welt, in der wir Lebensformen nur nach dem Grad, in dem sie uns gefühlsmäßig befriedigen, bewerten können. Es gibt auch in der Moderne viele Quellen von Bedeutsamkeit. Dazu gehören die Ideale der Gerechtigkeit, der Einsatz für das Gemeinwesen, das Streben nach Autonomie und Authentizität, das gewöhnliche Leben von Familie, Freundschaft und Beruf, das Ethos der Wissenschaft und der Verpflichtung auf Wahrheit, die Kunst, die Vielfalt und Schönheit der Natur und vieles mehr. Uns sind Ziele und Ideale zu Recht verdächtig geworden, die in einer systematischen Opposition zu unseren Hoffnungen auf persönliches Glück und persönliche Erfüllung stehen. Aber diese Hoffnungen wären selbst auf Sand gebaut, könnten wir uns an nichts halten, das über unser Glück hinausgeht.
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2 Empirische Antworten auf philosophische Fragen? Zum Verhältnis von philosophischer Ethik und empirischer Glücksforschung Auf der Hitliste der Themen, die unser alltägliches Denken in Anspruch nehmen, steht das Glück sicher nicht auf einem der obersten Plätze. Wir beschäftigen uns mehr mit dem Einkauf für das nächste Wochenende, mit den aktuellen Fußballergebnissen oder dem Verbleib unserer Brille (‚Wo steckt das verdammte Ding schon wieder?‘), als mit der Frage, ob wir glücklich sind oder ob es unsere Partner, unsere Freunde oder unsere Kollegen sind. Andererseits fällt das Nachdenken über das Glück aber auch nicht unter die Kategorie ‚exotisches Verhalten‘. Jedenfalls dann nicht, wenn wir den Terminus ‚Glück‘ in einem undramatischen Sinne verstehen: als einen Begriff, mit dem wir uns darauf beziehen, wie es jemandem geht. Man kann die philosophische Frage nach dem Glück als eine Art Verlängerung alltäglicher Überlegungen ansehen, die wir über die Qualität des Lebens einer Person anstellen. Sie ist das Bemühen, dieses alltägliche Fragen von der Ebene konkreter, punktueller, kontextbezogener Urteile auf die abstraktere Ebene einer allgemeinen Theorie zu heben. Spätestens seitdem Sokrates die Philosophie vom Himmel herabgeholt und in der menschlichen Gesellschaft heimisch gemacht hat, gehört die Frage nach dem Glück zum Kernbestand der Probleme, mit denen sich das philosophische Denken befasst. Sie bildet den Kern dessen, was in der Antike und weit darüber hinaus ‚Ethik‘ hieß. Nach einer Periode eher mäßigen Interesses an der Glücksfrage hat die Beschäftigung mit ihr in der jüngeren Vergangenheit wieder deutlich zugenommen. Je schwächer die Hoffnung auf eine menschenfreundliche Gestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten geworden ist, desto stärker wurde das Interesse am (individuellen) Glück und seinen Konstituenten. In der internationalen philosophischen Diskussion erleben daher nicht nur einzelne Theoreme und Begriffe der antiken Ethik eine Renaissance: Ihr ganzer Ansatz als Theorie des guten oder glücklichen Lebens erscheint aktueller denn je.
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2.1 Eine Wissenschaft vom Glück Doch wie weit ist das philosophische Denken bei der Entwicklung einer allgemeinen Theorie des Glücks gekommen? Auch ein wohlwollender Blick auf die zweieinhalbtausendjährigen Bemühungen seit Sokrates wird nicht übersehen können, dass von durchschlagenden Erfolgen keine Rede sein kann. Nicht, dass die Philosophen keine Antworten zu geben wüssten; wie immer besteht das Problem darin, dass sie zu viele geben. Wer theoretische Klarheit über das Glück wünscht, sieht sich mit einer Fülle konkurrierender und divergierender Angebote konfrontiert. Gerade in den Kernfragen (‚Was ist ‚Glück‘?‘ und ‚Wie wird man glücklich?‘) gehen die Ansichten nach wie vor weit auseinander. Es sind grosso modo noch immer die zentralen Kontroversen der Antike, die die philosophische Debatte auch heute prägen: vor allem die Konfrontation zwischen subjektivistischen und objektivistischen Deutungen des Glücks. Was zeigt dieser Überschuss an inkompatiblen Ergebnissen des philosophischen Denkens in einem Bereich, den es selbst unter seine Kernkompetenzen rechnet? Eine mögliche Antwort besteht in der These, dass es sich bei der Frage nach dem Glück um ein Problem handelt, für das es keine allgemeine theoretische Lösung gibt, weil es keine geben kann. Das Glück ist demnach eine gänzlich subjektive, individuelle, kulturrelative oder kontingente Sache und daher nicht in allgemeinen Begriffen fassbar. So sind nach Kant „alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesammt empirisch“¹ und daher kein möglicher Gegenstand philosophischer Erkenntnis. – Anders motiviert und begründet, im Ergebnis aber nicht allzu weit entfernt von der Kantischen These, das Glück sei eine gänzlich empirische Angelegenheit, sind die neueren Bemühungen, das menschliche Glück aus den ungelenken Händen der Philosophie zu befreien und in die Kompetenz der wissenschaftlichen Forschung zu legen. Ausgesprochen oder unausgesprochen steht hinter diesen Bemühungen die Überzeugung, dass echte Einsichten über das Glück nur dann gewonnen werden können, wenn es nicht mehr nur mit den Mitteln spekulativen oder begrifflichen Denkens, sondern mit dem anderweitig so erfolgreichen Instrumentarium der empirischen Wissenschaften angegangen wird. Tatsächlich haben sich in der jüngeren Vergangenheit, weitgehend unbemerkt von der Philosophie, Vertreter verschiedener Fachwissenschaften dem Thema ‚Glück‘ zugewandt und eine Vielzahl von damit verbundenen Problemen empirisch untersucht. Die folgende Aufzählung gibt einen (unvollständigen) Eindruck von der Breite dieser internationalen ‚Forschungs-
1 Kant 1968 [1785], 418.
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front‘, insbesondere von der Fülle der beteiligten Disziplinen mit ihren jeweils unterschiedlich akzentuierten Fragestellungen: – Zunächst ist die Psychologie zu nennen. Nachdem sie sich in den ersten hundert Jahren ihrer Existenz vornehmlich, wenn nicht ausschließlich mit krankhaften Störungen der menschlichen Psyche, mit Leiden wie Depression und mit negativen Gefühlen wie Angst befasst hat, ist das Interesse an der gesunden Psyche und an positiven Gefühlen wie Freude inzwischen deutlich gestiegen. Auf der Basis dieser Verschiebung des Forschungsinteresses hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten das Konzept der „Positiven Psychologie“ herausgebildet und international etabliert, das sich auf die Untersuchung der Bedingungen und Faktoren menschlichen Glücks konzentriert. – Auch in den Sozialwissenschaften ist das Interesse am Glück deutlich gestiegen. Hier geht es weniger um die Untersuchung des Glücks von Individuen als um das Glück von Gruppen oder ganzen Nationen. Erst seit wenigen Jahrzehnten sind die dafür notwendigen Erhebungen finanziell, technisch und methodisch möglich. So gibt es inzwischen in verschiedenen Ländern großangelegte Longitudinalstudien, in denen neben anderen Daten auch solche über die Lebenszufriedenheit und -qualität über Jahre hinweg erhoben und ausgewertet werden. Dazu gehört auch das in Deutschland seit 1984 regelmäßig durchgeführte „Sozio-ökonomische Panel“; die hier gesammelten Daten machen es möglich, die Entwicklung der kollektiven Lebensverhältnisse in Deutschland unter verschiedenen Gesichtspunkten einschließlich des Wohlergehens festzustellen, aber auch die biographische Entwicklung einzelner Personen nachzuverfolgen und auf diese Weise z. B. die Auswirkungen markanter Lebensereignisse wie Heirat oder Tod des Partners auf das Glück zu ermitteln. Auf der Basis solcher Daten ist es dann auch möglich, das Wohlergehen in verschiedenen Ländern miteinander zu vergleichen. – Wenn man davon ausgeht, dass unser Glück auch von der Verfügbarkeit bestimmter Güter wie Lebensmittel oder Medikamente abhängt; und wenn man weiter in Rechnung stellt, dass die Strategien und Mechanismen der Versorgung mit solchen Gütern Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften ist; so wird schnell klar, dass das Glück auch ein für die Ökonomie relevantes Thema ist. Im 18. Jahrhundert und teilweise auch später war dies eine Selbstverständlichkeit unter Ökonomen; später erschien der Glücksbegriff vielen als zu vage und zu subjektivistisch und verschwand aus der Theoriebildung. In den letzten Jahren hat sich dieser Trend wieder umgekehrt. – Schließlich ist das Glück auch ein Thema verschiedener biologischer Wissenschaften geworden, darunter der Evolutions- und Neurobiologie, der Genetik und der Medizin. Untersucht werden hier vor allem die verschiedenen
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Arten biologischer Faktoren, die mit Glückszuständen (kausal) verbunden sind. Dazu gehören etwa die individuellen genetischen Dispositionen für Glück oder, im Gegenteil, für Depression und andere psychische Störungen; sowie auch die epigenetischen oder sonstigen Faktoren, die Einfluss auf das Glück haben können, z. B. das Geburtsgewicht oder die Ernährung. Zunehmend erforscht werden auch die neuronalen Substrate verschiedener emotionaler Zustände und die Zusammenhänge zwischen Gehirnprozessen und dem „affektiven Stil“ eines Individuums. Aus einer evolutionstheoretischen Perspektive stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Schwierigkeiten des menschlichen Glücks: Hat das Glück im Rahmen unseres species designs überhaupt adaptiven Wert oder ist es biologisch eher dysfunktional? Betrachtet man die Vielfalt dieser Ansätze als Momente eines gemeinsamen Unternehmens, so zeichnet sich am Horizont eine Wissenschaft vom Glück ab, die in nicht allzu ferner Zukunft genau das zu leisten verspricht, woran das philosophische Denken in seiner langen Geschichte gescheitert ist: die Identifikation gesicherter Tatsachen und auf dieser Basis eine belastbare allgemeine Theorie des Glücks.² Der Philosophie scheint damit im Hinblick auf das Glück ein ähnlicher Prozess bevorzustehen, wie sie ihn im 17. Jahrhundert hinsichtlich der Natur durchzumachen hatte, als bis dahin für genuin philosophisch gehaltenen Fragen wie die nach der Struktur der Materie oder nach der Entstehung des Kosmos in den Zugriff der experimentellen Methode gerieten und aus dem Kompetenzbereich der Philosophie in den von Naturwissenschaften wie Physik und Chemie übergingen. Wird also die Frage nach dem Glück ihre ethische Heimat verlassen und in das gelobte Land der empirischen Wissenschaften auswandern? Dieses Bild zeichnen jedenfalls die Psychologen Pelin Kesebir und Ed Diener in einem gemeinsamen Aufsatz mit dem programmatischen Untertitel „Empirical Answers to Philosophical Questions“. Beachtenswert ist dieser Aufsatz nicht zuletzt deshalb, weil seine Autoren die zweieinhalbtausendjährigen philosophischen Bemühungen um das Glück überhaupt der Erwähnung für würdig erachten. Die große Mehrheit der mit dem Glück befassten empirischen Wissenschaftler machen sich diese Mühe gar nicht erst und halten die philosophischen Reflexionen der Vergangenheit, aber natürlich auch der Gegenwart, offenbar für vollständig irrelevant. Kesebir und Diener hingegen schreiben diesen Bemü-
2 Von einer „Glückswissenschaft“ bzw. „Wissenschaft vom Wohlergehen“ ist in verschiedenen Buchtiteln als einer bereits bestehenden Tatsache die Rede. So bei Diener 2009 oder bei Huppert/Baylis/Keverne 2005. Einen guten Überblick über das gesamte Forschungsfeld gibt die vierbändige Aufsatzsammlung Huppert/Linley 2011; vgl. auch den Literaturbericht Bayertz 2010.
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hungen das Verdienst zu, wichtige Fragen aufgeworfen zu haben, an deren Beantwortung sich die heutige empirische Wissenschaft versuchen kann. Our discussion suggests that, though some thinker’s insights about the nature of happiness were penetrating and profound, the arguments of numerous other philosophers simply could not be substantiated by available data. These great minds provided the most important questions regarding happiness, yet their answers disagreed with each other more often than not. It was by looking at the questions posed by philosophers and by using the methods of science that we have been able to provide some initial answers to crucial questions that have vexed thinkers for millennia. If we have seen farther than our betters, it was by standing on the shoulders of the great philosophers and on the platform of science.³
Das klingt höflich und ist vermutlich auch so gemeint. Der anschließende Satz plädiert jedenfalls nicht für eine Überwindung der Philosophie, sondern für eine produktive Zusammenarbeit zwischen Philosophie und empirischer Wissenschaft: It is our hope that the fields of philosophy and psychology will continue to mutually inspire and enrich each other, so that future psychologists and philosophers will be able to see even farther.⁴
In aller Höflichkeit ist damit gesagt, (a) dass die Philosophie zwar Fragen zu stellen, aber nicht zu beantworten vermag; und (b) dass ihre großen Leistungen in der Vergangenheit liegen, während der Wissenschaft die Gegenwart und vor allem die Zukunft gehört. Der Philosophie bleibt das Schicksal, die pensionsreife Themensouffleuse für die empirische Forschung zu geben. Ob das eine attraktive Rolle im glückstheoretischen Theater der Zukunft ist, kann uns gleichgültig bleiben.Wir wollen wissen, was Glück ist und wie man glücklich wird; und wenn uns die Empiriker bessere Antworten auf diese Fragen geben, so gibt es keinen vernünftigen Grund, thematische Prärogativen für die Philosophie zu reklamieren. Und in diesem Fall wird die Theorieentwicklung auf die Wünsche philosophischer Glückstheoretiker ebenso wenig Rücksicht nehmen, wie sie es im 17. Jahrhundert auf die angesichts des Aufstiegs der Physik indignierten Naturphilosophen tat.
3 Kesebir/Diener 2009, 71. 4 Ebd.
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2.2 Was wollen wir wissen? Wenn die empirische Wissenschaft sich anschickt, die Fragen der Philosophie endlich zu beantworten, so setzt das natürlich voraus, dass klar ist, welche Fragen die Philosophie gestellt hat. Und wenn, wie oben angedeutet, das philosophische Denken eine ‚Verlängerung‘, eine Theoretisierung, Methodisierung, Professionalisierung des Alltagsdenkens ist, dann können wir weiter fragen: Was wollen wir im Alltag wissen, wenn wir nach dem Glück fragen? – Kesebir und Diener scheinen hier überhaupt kein Problem zu sehen: die klassischen Philosophen, auf deren Schultern sie nach eigenem Bekunden stehen, haben nach dem Glück gefragt! Und dasselbe tun wir auch im Alltag. In einem gewissen Sinne und auf den ersten Blick ist das natürlich richtig. Einleitend wurde daher auch schon gesagt: Wenn wir nach dem Glück fragen, interessiert uns das Wohlergehen, die Qualität des Lebens einer Person (oder Personengruppe); interessiert uns, wie es ihr geht. Auf den zweiten Blick aber wird erkennbar, dass diese Bestimmung noch zu unspezifisch ist. Denn die Frage nach der ‚Lebensqualität‘ kann sich auf ganz unterschiedliche Dinge beziehen; und mit ‚Glück‘ können sehr unterschiedliche Phänomene gemeint sein: – Ist damit ein subjektiver Zustand gemeint, ein Zustand psychischen Wohlbefindens etwa; oder ein objektiver Zustand, der beispielsweise Gesundheit und Wohlstand einschließt? – Sind damit kurze Episoden des Lebens gemeint; oder eher lange Perioden, letzten Endes das ganze Leben einer Person? – Sind damit euphorische, ekstatische, rauschhafte Zustände gemeint; oder reicht eine gewisse Zufriedenheit, um von ‚Glück‘ sprechen zu können? – Ist ein faktisch gegebener Zustand gemeint, über dessen Vorliegen die betreffende Person souverän zu urteilen vermag; oder fragen wir nach Eigenschaften eines Lebens, die auch aus der Außenperspektive erkennbar sind? – Ist ein bloß innerer Zustand gemeint; oder muss dieser Zustand objektive evaluative Eigenschaften haben, also z. B. moralisch respektabel sein? Es ist leicht erkennbar, dass zwischen einigen dieser Alternativen Beziehungen bestehen.Wer etwa der Ansicht ist, dass „zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist“,⁵ der wird mit ‚Glück‘ eher kurze Episoden des Lebens meinen (und zu dem Schluss kommen, dass es ein glückliches Leben nicht geben kann oder dass es eine rare Ausnahme bleiben wird). Und wer davon
5 Kant 1968 [1785], 418.
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ausgeht, dass ‚Glück‘ ein objektiver Zustand ist, legt sich zugleich darauf fest, dass dieser Zustand nicht nur von Innen, sondern auch von Außen diagnostizierbar ist. Aber welche dieser Auffassungen ist die richtige? Es dürfte nicht schwer sein, sich für jede der genannten Fragen eine Situation vorzustellen, in der wir sie sinnvoll stellen können. Um nur ein Beispiel zu nehmen: Wir können bei der Beerdigung von Tante T. sinnvoll sagen, dass sie alles-in-allem ein gutes und glückliches Leben geführt hat; und ebenso sinnvoll können wir sagen, dass das Brautpaar bei seiner Hochzeit einen glücklichen Eindruck gemacht hat. Im ersten Fall beziehen wir uns auf ein ganzes Leben; im zweiten auf eine eher kurze Episode (und es bleibt wahr, dass das Brautpaar bei der Hochzeit glücklich war, auch wenn die beiden sich später nur noch gestritten haben und drei Jahre später geschieden wurden). Es ist nicht zu sehen, dass eine dieser Verwendungsweisen von ‚Glück‘ richtig, die andere aber falsch sein sollte. Anders ausgedrückt: Dass wir in einem Fall das Glück des ganzen Lebens meinen, schließt in keiner Weise aus, dass wir in anderen Fällen ein episodisches Phänomen im Auge haben, wenn wir von ‚Glück‘ sprechen. Als Ergebnis dieser Überlegung möchte ich eine erste These formulieren, aus der sich sogleich eine zweite These ergibt. (I) Mit dem Ausdruck ‚Glück‘ können unterschiedliche Dinge gemeint sein; und was tatsächlich gemeint ist, hängt von der jeweiligen Situation und ihrem Kontext ab. Die Bedeutung des Glücksbegriffs verändert sich also in Abhängigkeit von dem situativen Kontext, in dem er benutzt wird. (II) Wenn das philosophische Denken am besten als die Explikation und Elaboration dessen zu verstehen ist, was wir im Alltag denken, sagen oder fragen, dann gibt es nicht die eine richtige Theorie des Glücks; es gibt vielmehr verschiedene gleichermaßen mögliche und angemessene Theorien. Angemessen sind sie dann, wenn sie das, worauf es uns in bestimmten Situationen ankommt, systematisch zum Ausdruck bringen. Aus der Fülle verschiedener Situationen, in denen die Frage nach dem Glück gestellt werden kann, möchte ich nun zwei Typen herausheben, die sich deutlich unterscheiden; und die zugleich relevant sind für die nähere Bestimmung dessen, was die empirische Glücksforschung zu leisten vermag. – Im Situationstyp S1 haben wir eine Person vor uns, die sich ein Bild vom Leben einer anderen Person (oder Personengruppe) macht und dabei zu dem Urteil kommt, dass es dieser anderen Person gut oder schlecht geht. Im Alltag ist dies gang und gäbe; geschieht meistens eher flüchtig und oberflächlich; und ist irrtumsanfällig wie jedes andere Urteil. Wir können sagen, dass unser Kollege O. wieder einmal schlechte Laune hat; dass die jüngst verstorbene Tante T. ein insgesamt gutes Leben gehabt hat, ein besseres jedenfalls als Onkel A.; oder dass man in der Südsee besser lebt als im Braunkohletagebaugebiet.
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Im Situationstyp S2 haben wir es demgegenüber mit einer Person zu tun, die über eine wichtige, ihr weiteres Leben vermutlich stark beeinflussende Entscheidung nachdenkt. Es könnte sich dabei um die Wahl des Studienfachs oder des Berufs handeln, um eine Heirat oder einen Wechsel des Wohnorts. In den dabei angestellten Überlegungen werden vermutlich verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Einen davon möchte ich besonders hervorheben: Die betreffende Person wird sich die Frage stellen, ob es ihr mit diesem Studium und in diesem Beruf gut gehen wird, ob sie mit diesem Partner oder in dieser Stadt glücklich werden wird. Ob in den entsprechenden Überlegungen oder den Gesprächen, die diese Person mit Eltern oder Freunden führt, der Ausdruck ‚Glück‘ vorkommt oder nicht; und ob neben den glücksbezogenen Überlegungen auch noch andere (z. B. moralische) Überlegungen eine Rolle spielen, ist von sekundärer Bedeutung. Wichtig allein ist, dass die Frage nach den Auswirkungen der jeweiligen Entscheidung auf das künftige Leben und seine ‚Qualität‘ in der Regel von erheblicher Relevanz sein wird. Dies dürfte sich vor allem im negativen Fall zeigen: Wenn die Person zu dem Ergebnis kommt, dass die Wahl dieses Studienfachs oder Berufs, die Ehe mit diesem Mann oder dieser Frau, das Wohnen in dieser Stadt ihrem Glück oder Wohlergehen (vermutlich) abträglich sein wird, dann wird sie dies als einen entscheidenden Grund gegen die betreffende Option ansehen.
Beide Situationstypen unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht. Zu betonen ist zum einen, dass im Fall von S1 das fragende Subjekt von der Person, um deren Glück es geht, verschieden ist; während beide im Fall von S2 zusammenfallen. Im Rahmen von S1 wird die Frage nach dem Glück also aus der Außenperspektive gestellt, im Rahmen von S2 aus der Innenperspektive. Zum anderen geht es im ersten Situationstypus um ein primär epistemisches Problem: Gefragt wird, ob die betreffende Person glücklich ist und wie sie es geworden ist. Im zweiten Situationstypus geht es um ein primär praktisches Problem. Gefragt wird: Wie werde ich glücklich? Meine dritte These lautet nun: (III) Die empirische Glücksforschung ist ausschließlich mit dem Situationstypus S1 befasst. Sie stellt Glückszustände und ihre statistischen Zusammenhänge mit zahlreichen anderen (demographischen, ökonomischen, sozialen, psychologischen etc.) Faktoren fest; in der Hoffnung natürlich, auf diesem Wege allgemeine Ursachen des Glück identifizieren zu können. Ihre Befunde können im Rahmen von S2 als instrumentell relevante Informationen genutzt werden; auf die zentralen Fragen, die sich im Rahmen von S2 stellen, können sie jedoch keine Antworten liefern.
2 Empirische Antworten auf philosophische Fragen?
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2.3 Wie empirisch ist die empirische Glücksforschung? Überblickt man die vielfältigen Studien, die im Rahmen der empirischen Glücksforschung durchgeführt wurden und werden, so lassen sich zunächst grob drei zentrale Forschungsfragen unterscheiden. Zum einen wird untersucht, ob bestimmte (Gruppen von) Individuen glücklich sind. Dies geschieht meist mit Hilfe von Fragebogen: Die Individuen werden gefragt, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind oder wie gut sie sich fühlen, und gebeten, ihre entsprechende Befindlichkeit quantitativ anzugeben. Dies kann etwa mit Hilfe einer numerischen Skala von 1 bis 10 erfolgen, wobei 1 als ‚sehr unglücklich‘ und 10 als ‚sehr glücklich‘ definiert ist. Solche Untersuchungen werden inzwischen in großem Maßstab, d. h. in repräsentativen Untersuchungen ganzer Populationen durchgeführt. Die dabei gewonnenen Ergebnisse können dann zweitens mit demografischen Faktoren oder anderen Merkmalen korreliert werden. Man kann also untersuchen, ob das Glück mit steigendem Alter zu- oder abnimmt; ob Männer glücklicher sind als Frauen; ob Wohlhabende glücklicher sind als Arme; ob Atheisten glücklicher sind als Gläubige; ob Europäer glücklicher sind als Asiaten. Auf der Basis solcher Korrelationen können dann drittens kausale Hypothesen formuliert werden, die besagen, was glücklich macht. Auf diesem Wege nähert man sich der theoretischen Erklärung bestimmter empirischer Phänomene; beispielsweise der Tatsache, dass Einkommenszuwächse ab einer bestimmten Schwelle nicht zu proportionalen Glückszuwächsen führen. Auf die Einzelheiten dieser Forschung kommt es hier nicht an. Festzuhalten ist aber, dass es sich hier um Aufgaben handelt, für die Philosophen über keine spezifischen, über den common sense hinausgehenden Kompetenzen verfügen. Sie tun daher gut daran, allen Ambitionen auf diesem Gebiet zu entsagen und die Untersuchungen denen zu überlassen, die über entsprechende Mittel und Methoden verfügen: den empirischen Wissenschaften. Aber sind die Probleme, die sich bei der Erforschung des Glücks stellen, damit erschöpft? Geht es allein um die Feststellung,wer glücklich ist und warum? Lassen sich alle einschlägigen Fragen empirisch beantworten? Und lässt sich mit Hilfe der Empirie alle Philosophie vermeiden? Das ist nicht der Fall (ob ‚zum Glück‘ oder ‚leider‘, kann Geschmackssache bleiben). Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass alle diese empirische Forschung einen Begriff von Glück voraussetzt; und dass dieser Begriff daher nicht das Resultat von empirischer Forschung sein kann. In dem Aufsatz von Kesebir und Diener wird dies deutlich, wenn die Autoren darauf hinweisen, dass ein klar definierter und operationalisierter Glücksbegriff unerlässlich ist, um eine ‚Wissenschaft vom Glück‘ aufbauen und vorantreiben zu
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können. Dafür bietet sich ihrer Überzeugung nach das Konzept des ‚subjective well-being‘ (SWB) an, das Diener in vielen Arbeiten entwickelt und begründet hat. Dieses Konzept schließt zwei Komponenten ein: zum einen die affektive Bewertung eigener Stimmungen und Emotionen, zum anderen die kognitive Beurteilung der eigenen Zufriedenheit, die aufgeschlüsselt werden kann in die Zufriedenheit mit verschiedenen Lebenssphären (Gesundheit, Arbeit, Partnerschaft). Auf die Vorzüge oder Mängel dieses Konzepts kommt es hier nicht an. Entscheidend ist zunächst lediglich, dass sich die Autoren mit diesem Konzept auf den Boden einer bestimmten philosophischen Position in der Glücksdebatte stellen. Das SWBKonzept ist eine Variante jenes Subjektivismus, für den das Glück (a) ein psychologischer Zustand ist und zu dem (b) das betreffende Subjekt einen privilegierten Zugang hat. Von einer Überwindung der Philosophie durch empirische Forschung kann hier offensichtlich keine Rede sein. Dies zeigt sich weiter an der Art und Weise, in der Kesebir und Diener ihr SWBKonzept rechtfertigen. Ihr zentrales Argument besagt nämlich, dass die objektivistischen Glückskonzeptionen der Antike das Resultat eines elitären Misstrauens gegenüber den intellektuellen Kompetenzen der „Vielen“ gewesen sei, während das SWB-Konzept die subjektive Natur des Glücks betont und deshalb die betreffenden menschlichen Individuen als „the single best judges of their own happiness“⁶ ansieht. Mit dieser Abgrenzung vom Elitismus der Antike soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es unter den Bedingungen einer modernen demokratischen Gesellschaft unangemessen wäre, der Mehrheit der Bevölkerung die Urteilskompetenz hinsichtlich ihres eigenen Glücks abzusprechen. Jedes Individuum soll vielmehr als souverän hinsichtlich seines eigenen Glücks anerkannt werden. Was auch immer man von diesem Argument halten mag: In jedem Fall ist es kein empirisches, sondern ein moralisch-politisches Argument, wie es auch von philosophischer Seite aus vorgebracht und verteidigt werden könnte. Kesebir und Diener entscheiden sich also nicht nur für eine bestimmte philosophische Position als Grundlage ihrer empirischen Forschung, sondern rechtfertigen diese Entscheidung durch genuin philosophische Argumente. – Verallgemeinert heißt das: Jede empirische Glücksforschung setzt ein theoretisches Verständnis von ‚Glück‘ voraus, das seinerseits nicht ausschließlich empirisch gerechtfertigt werden kann. Bei der Begründung eines solchen Verständnisses erweisen sich damit Argumentationsformen als unvermeidbar, wie sie für die Philosophie charakteristisch sind. Philosophie (oder genauer: philosophische Denk- und Argumentationsformen) kann also nicht vermieden werden.
6 Kesebir/Diener 2009, 61.
2 Empirische Antworten auf philosophische Fragen?
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Dieser Befund lässt sich an zwei Punkten erhärten. Zum einen bei der Frage der Werturteilsfreiheit. Kesebir und Diener weisen objektivistische Glücksbegriffe zurück, weil diese auf Werturteilen beruhten und daher nicht wissenschaftlich objektiv seien. Sie übersehen dabei aber, dass sie selbst das von ihnen vertretene SWB-Konzept mit einem normativen Argument begründen. Zum zweiten lässt die konstatierte Unvermeidbarkeit von philosophischen Denk- und Argumentationsformen erwarten, dass wir in den Grundlagenfragen der empirischen Glücksforschung ähnliche Kontroversen finden, wie wir sie seit jeher in der philosophischen Debatte antreffen. Genau das ist der Fall: Neben dem von Kesebir und Diener favorisierten SWB-Konzepts finden wir tatsächlich auch konkurrierende objektivistische Konzepte, die sich in Anknüpfung an antike Vorbilder oft „eudämonistisch“ nennen.⁷ Auch in diesem Punkt kann also von einer Überwindung der Philosophie nicht die Rede sein. Kesebir und Diener räumen dann auch beiläufig ein, dass ihr SWB-Konzept kein Begriff von Glück oder Wohlergehen schlechthin ist, sondern nur ein „proxy“; und dass die empirische Forschung daher keine „direkten“ Antworten auf philosophische Fragen zu liefern vermag. It is reasonable to use subjective well-being as a proxy for well-being, even if it is not a perfect match. Admittedly, current empirical psychological research cannot directly answer the ancient philosophical question of how to live well. As researchers of subjective well-being, our hope is that we answer this question indirectly by illuminating a sine qua non of the good life – namely subjective well-being.⁸
Das ist eine deutlich abgespeckte Version des in der Überschrift ihres Aufsatzes erhobenen Anspruchs, empirische Antworten auf philosophische Fragen geben zu können. Es ist das Eingeständnis, dass nicht alle relevanten Fragen empirischer Natur sind. Während die Frage, wer wodurch in welchem Maße glücklich (geworden) ist, nur durch empirische Forschung beantwortet werden kann, lässt sich die Frage, was Glück ist, nicht auf diese Weise beantworten. Eine adäquate Definition von Glück ist eher eine Aufgabe des philosophischen Denkens (wenn auch nicht notwendigerweise des Denkens von Philosophen, denn es ist eine offene Frage, ob das philosophische Denken ein Monopolbesitz von Philosophen ist). Wahrscheinlich liegt hier, wo es um grundlegende begriffliche Probleme geht, jenes Feld, auf dem gelten wird: „philosophy and psychology will continue to mutually inspire and enrich each other“.⁹ Denn so wenig auf der einen Seite
7 Kesebir und Diener erwähnen selbst die Arbeiten von Ryan/Deci 2000 sowie von Ryff/ Singer 1996. 8 Kesebir/Diener 2009, 62. 9 Kesebir/Diener 2009, 71; vgl. das Zitat oben.
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Definitionsfragen rein empirische Fragen sind, so wenig sind Definitionsfragen angemessen beantwortbar, ohne die relevanten Tatsachen dabei zu beachten. Die von einigen Philosophen vertretene Ansicht, dass begriffliche Fragen analytisch und in keinem Sinne von Tatsachen abhängig seien, sollte verabschiedet werden. Eine adäquate Definition von ‚Glück‘ wird u. a. in Rechnung zu stellen haben, wie dieser Begriff allgemein verwendet und verstanden wird. Um das zu ermitteln, wird man in Zukunft nicht mehr darum herumkommen, die Erhebungen zur Kenntnis zu nehmen, die über das tatsächliche Glücksverständnis der allgemeinen Bevölkerung durchgeführt werden.Wir sind heute nicht mehr, wie seinerzeit Aristoteles, auf vage Mutmaßungen angewiesen, wenn es um die Frage geht, was die diesbezüglichen ‚endoxa‘, die weithin geteilten Meinungen über den Begriff des Glücks, besagen.
2.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 1.
2.
3.
4.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine interdisziplinäre Forschungsfront etabliert, die den Phänomenbereich ‚Glück‘ mit den Mitteln und Methoden der empirischen Forschung untersucht. Die philosophische Theoriebildung über Fragen des Glücks wird die Resultate dieser Forschung künftig in Rechnung zu stellen haben. So wenig wie Naturphilosophie heute an den Ergebnissen der Naturwissenschaften vorbeikommt, so wenig kann eine Ethik ernst genommen werden, die die Resultate der empirischen Glücksforschung ignoriert. Die empirische Glücksforschung erstreckt sich aber nur auf einen Teil der Fragen, die im Hinblick auf den Phänomenbereich ‚Glück‘ gestellt werden. Sie ist aufgrund ihres methodischen Zugriffs auf die Feststellung von Tatsachen und ihre theoretische Deutung beschränkt. Und auch in diesem Bereich der Feststellung und Deutung von Tatsachen ist sie nicht vollkommen souverän. Die begrifflichen Grundlagen ihrer empirischen Untersuchungen können nicht selbst vollständig mit empirischen Mitteln formuliert werden. Sie ist daher auf einen Denk- und Argumentationstypus angewiesen, der eher für die Philosophie charakteristisch ist.
Literatur Bayertz (2010): Kurt Bayertz, „Eine Wissenschaft vom Glück?“, Zeitschrift für philosophische Forschung 64, 410 – 429 und 560 – 578. Kant (1968 [1785]): Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Bd. IV, Berlin 1968.
2 Empirische Antworten auf philosophische Fragen?
Huppert/Baylis/Keverne (2005): Felicia A. Huppert, Nick Baylis und Barry Keverne (Hg.), The Science of Well-Being, Oxford/New York. Diener (2009): Ed Diener (Hg.), The Science of Well-Being, Dordrecht. Kesebir/Diener (2009): Pelin Kesebir und Ed Diener, „In Pursuit of Happiness: Empirical Answers to Philosophical Questions“, in: Ed Diener (Hg.), The Science of Well-Being, Dordrecht, 59 – 74. Huppert/Linley (2011): Felicia Huppert und P. Alex Linley (Hg.), Happiness and Well-Being, London. Ryan/Deci (2000): Richard M. Ryan und Edward L. Deci, „Self-Determination Theory and the Facilitation of Intrinsic Mativation, Social Development and Well-Being“, American Psychologist 55, 68 – 70. Ryff/Singer (1996): Carol D. Ryff und Burton H. Singer, „Psychological Well-Being: Meaning, Measurement, and Implications for Psychotherapy Research“, Psychotherapy and Psychosomatics 65, 14 – 23.
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3 Ein bedenkenswertes Projekt? Die objektive Theorie des guten Lebens in der Metaethik
3.1 Einleitung Die Frage, was ein gutes Leben ausmacht, erlebt in der philosophischen Diskussion seit einigen Jahrzehnten eine erstaunliche Renaissance. Dies hat sicherlich seine philosophieinternen und -externen Gründe.¹ Und man mag darüber streiten, ob diese Gründe überzeugend sind. Unbestritten ist jedoch, dass im Rahmen dieser neuen Auseinandersetzung ein Bedarf an theoretischer Systematisierung entstanden ist, dem man aus der Perspektive der Ethik auf unterschiedliche Weise nachkommen kann. Etwas vereinfacht kann man hier zwischen zwei verschiedenen methodischen ,Zugriffen‘ unterscheiden – einer metaethischen und einer normativ-ethischen Zugangsweise zur Frage nach dem guten Leben. Metaethische Thesen sind, so meine ich, dadurch gekennzeichnet, dass sie Aussagen über den Status des ethisch Guten sind. In der Metaethik geht es insbesondere darum, philosophisch verständlich zu machen, was wir meinen, wenn wir davon reden, dass ein Leben gut ist. Und man kann dies tun, indem man den semantischen, handlungstheoretischen, epistemologischen und ontologischen Status des ethisch Guten klärt. Demgegenüber stellt der normative Ethiker keine begrifflichen, sondern inhaltliche Aussagen auf.² Ihm geht es nicht darum, etwas darüber zu sagen, was die Natur von Aussagen über das ethisch Gute betrifft, sondern darum, die inhaltlichen Kennzeichen des ethisch Guten anzugeben. Die These, dass man stets seinen moralischen Pflichten nachkommen sollte, wenn man ein gutes Leben führen möchte, wäre ein Beispiel für eine solche, wenn auch umstrittene, Aussage. Den Ausgangspunkt dieses Beitrages bilden nun Fragen, die den metaethischen Status des ethisch Guten reflektieren, wohingegen normativ-ethische Thesen ausgeblendet werden. Meine Überlegungen konzentrieren sich also im Wesentlichen auf begriffliche und damit sprachliche Zusammenhänge, die sich im Kern um die folgende Frage drehen: Was soll es eigentlich heißen, wenn wir davon
1 Vgl. dazu etwa Steinfath 1998. 2 Dies setzt voraus, dass begriffliche (analytische) und nicht-begriffliche (synthetische) Zusammenhänge voneinander getrennt werden können. Vgl. aber für eine ausgezeichnete Verteidigung der Trennungsthese, die sowohl alte als auch neue Einwände berücksichtigt, Schroeder 2009.
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sprechen, dass ein Leben gut ist? In diesem Zusammenhang lassen sich im metaethischen Theorienfeld zumindest zwei Grundkonzeptionen unterscheiden: Zum einen subjektive Theorien, die das gute Leben an Zuständen des subjektiven Wohlbefindens oder an den aktuellen oder informierten Wünschen oder Präferenzen einer Person festmachen; zum anderen objektive Theorien, die diese Gleichsetzungen ablehnen und stattdessen auf subjektunabhängige Eigenschaften abheben, die selbst nicht auf subjektive Zustände reduziert werden können. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern ist mittlerweile recht komplex. Es sind in den letzten Jahren eine Reihe von Arbeiten erschienen, die sich mit der metaethischen Thematik auseinandersetzen. Es ist daher nicht leicht, in diesem Zusammenhang den Überblick zu behalten. Betrachtet man die Diskussion aber etwas genauer, dann fällt auf, dass objektive Theorien des Guten kaum vertreten werden. Erst in der jüngeren Vergangenheit lassen sich wieder Arbeiten finden, die sich einer objektiven Grundidee verpflichtet fühlen, wenngleich sie mit Blick auf die quantitative Gesamtverteilung immer noch ,Ausreißer‘ darstellen.³ Aber warum werden objektive Theorien in dieser Weise vernachlässigt? Dies scheint vor allem an der folgenden Konstellation zu liegen: Der Mainstream im metaethischen Diskurs geht davon aus, dass die Annahme einer objektiven Theorie mit grundsätzlichen Schwierigkeiten verbunden ist, die sie ipso facto als gangbare Option disqualifizieren.⁴ Allenfalls, so scheint es, kann ihr noch ein methodischer Wert zugebilligt werden, nämlich als negativer Abgrenzungsfall, um die subjektive Gegenposition zu plausibilisieren. Im Weiteren möchte ich diese Diagnose infrage stellen. Ich möchte bezweifeln, dass die meisten der konstatierten Schwierigkeiten tatsächlich bestehen. Denn mein Eindruck ist wie folgt: Viele Behauptungen über die vermeintlichen Folgekosten einer objektiven Theorie beruhen auf bestimmten Vorstellungen über ihre metaethische Grundstruktur. Diese Vorstellungen sind jedoch häufig defizitär, da sie auf stark vereinfachenden und oft pauschalisierenden Leitbildern beruhen. Eine objektive Theorie ist hinsichtlich ihres theoretischen Spielraums wesentlich flexibler, sodass sie keineswegs immer auf diejenigen Thesen limitiert ist, auf die sie ihre Kritiker festgelegt sehen. Und dieser Gesichtspunkt macht sie aus meiner Sicht zu einer attraktiven metaethischen Alternative, die gegenwärtig zu Unrecht kaum Beachtung findet. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es soll nicht behauptet werden, dass eine objektive Grundorientierung in der Metaethik all things considered über-
3 Vgl. die objektiven Theorien in Foot 2001, Thompson 2008 und Kallhoff 2010. 4 Ich werde im Abschnitt 3.3 darauf zurückkommen, was diejenigen Bedenken sind, die häufig angeführt werden, um sich von einer objektiven Theorie zu dispensieren.
3 Ein bedenkenswertes Projekt?
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zeugend ist. Genauso wenig soll für eine spezifische wertaxiologische Ausrichtung oder gar eine bestimmte inhaltliche Ausprägung einer Theorie des guten Lebens gestritten werden. Das Ziel des Aufsatzes ist weitaus bescheidener: Ich möchte dafür werben, eine objektive Theorie ernster zu nehmen, als es in der gegenwärtigen Theorienbildung geschieht, da man ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit nicht gerecht wird, wenn man sie lediglich auf ihre strategische Bedeutung für den Subjektivismus verkürzt. Was ich also vorschlage, ist eine argumentative Erkundung einer im metaethischen Diskus nur unterentwickelten Option. Um dieses Beweisziel zu erreichen, gehe ich in drei Schritten vor: In einem ersten Schritt werden einige allgemeine Betrachtungen zur dialektischen Situation erfolgen, in der sich die subjektiven und objektiven Theorien befinden. Dabei wird herausgestellt, dass den objektiven Theorien gemeinhin eine gewisse Anfangsplausibilität zugebilligt wird, die aber – so die allgemeine Meinung – recht schnell durch ihre strukturellen Schwächen aufgewogen wird. Aber ist dieses Abwägungsurteil tatsächlich gerechtfertigt? In einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, Wege aufzuzeigen, wie eine objektive Theorie mit den Vorwürfen umgehen kann, die gegen sie ins Feld geführt werden. Hierbei wird sich herausstellen, dass sie ein durchaus beachtenswertes Potenzial besitzt, um die an sie herangetragenen Einwände zu entkräften. Was aber bedeutet dieses Ergebnis für die Gesamtdebatte? In einem nunmehr dritten Schritt werde ich andeuten, welche Lehren meiner Meinung nach aus dieser neuen Konstellation zu ziehen sind.
3.2 Zur Dialektik der Debatte: subjektive und objektive Theorien des guten Lebens In seinem Werk Reasons and Persons (1984) unterscheidet Derek Parfit zwischen zwei paradigmatischen Theoriengruppen – zwischen subjektiven Theorien des Guten einerseits und objektiven Theorien andererseits.⁵ Hierbei handelt es sich um eine metaethische Differenzierung, die sich auf den Status des ethisch Guten bezieht. Die Vertreter beider Theoriengruppen stellen also begriffliche Thesen darüber auf, wie wir unsere alltägliche Redeweise über das gute und gelungene Leben interpretieren sollten. Die tragende Grundidee der subjektiven und objektiven Theorie ist indessen unterschiedlich: Während die Vertreter des Subjektivismus daran festhalten, dass wir in unserer Rede über das ethisch Gute in einem
5 Vgl. Parfit 1984, 493. Vgl. für analoge Differenzierungen Kagan 1992, 169 und Temkin 1993, 298 ff.
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bestimmten Sinne ⁶ über die konativen Einstellungen des Subjekts sprechen, also etwa über Gefühle, Wünsche oder Präferenzen, behaupten die Vertreter des Objektivismus, dass wir uns mit dieser Klasse von Urteilen auf etwas beziehen, was jenseits unseres subjektiven Standpunktes liegt.⁷ Diese letzte Bemerkung weist bereits den Weg für eine weitere Subdifferenzierung. Man kann nämlich die Subjektivismus/Objektivismus-Unterscheidung inhaltlich anreichern, indem man bestimmt, was die jeweiligen Elemente sind, die ein Leben gut machen. Parfit hat dieser Möglichkeit dadurch Rechnung getragen, indem er zwischen verschiedenen Ausprägungen von subjektiven und objektiven Theorien differenziert hat – auf der Seite der subjektiven Theorie sind dies der Hedonismus und die Präferenztheorie, auf der Seite der objektiven Theorie die Objektive-Listen-Theorie. Und dies sind auch diejenigen drei Optionen, die in der gegenwärtigen metaethischen Debatte vorherrschend sind. Was aber besagen die jeweiligen Theorien und in welcher dialektischen Konstellation stehen sie zueinander? Die erste Theorie des Subjektivismus, der Hedonismus, behauptet im Kern, dass etwas dann für den Menschen gut ist, wenn es etwas mit der gefühlten Qualität seiner Erfahrungen zu tun hat.⁸ Worin hingegen diese phänomenale Qualität zu suchen ist, darin unterscheiden sich die verschiedenen Ansätze, die unter dem Begriff des Hedonismus zusammengefasst werden. Am weitesten verbreitet sind aber solche Theorien, die sie mit dem Erleben von Glück gleichsetzen.
6 Aus metaethischen Sicht kann man darüber streiten, ob wir Urteile über das ethisch Gute primär dazu verwenden, um wahrheitsfähige Aussagen zu treffen oder zum Ausdruck von noch weiter zu qualifizierenden non-kognitiven Zuständen. Da dieser Streit aber für die Zwecke dieser einführenden Erläuterungen nicht weiter verfolgt werden kann, möchte ich es hier bei dem Hinweis auf weiterführende Literatur belassen. Vgl. etwa die einführenden Bemerkungen zur metaethischen Semantik in Kutschera 1999, Kap. 2.2 und Birnbacher 2007, Kap. 8. 7 Es ist allerdings umstritten, wie der Begriff „jenseits“ unabhängig von dieser bloß negativen Formulierung gefasst werden sollte. Inhaltlich bezieht sich der Streit vor allem auf die Frage, wie die enthaltene Unabhängigkeitsthese zu interpretieren ist. Muss eine objektive Theorie bereits eine vollständige oder bloß eine partielle Unabhängigkeit von subjektiven Leistungen behaupten? Diese Diskussion ist insbesondere durch das Aufkommen der sogenannten Sensibilitätstheorie entstanden, deren Vertreter die These vertreten, dass Werteigenschaften zumindest auch Teilprodukte unserer subjektiven Eigenschaften sind. Vgl. für eine Version der Sensibilitätstheorie etwa den Beitrag von Holmer Steinfath in diesem Band. Vgl. für einen einführenden Überblick zu dieser Theoriengruppe D’Arms/Jacobson 2006. Für eine Kritik an der Sensibilitätstheorie siehe Halbig 2007, Kap. 4.5.3. 8 Als klassische Vertreter werden zumeist Bentham und Mill genannt. Vgl. dazu Bentham 1970 [1789], Kap. I, Abschnitt I und Mill 1987 [1863], 307. In der neueren Debatte finden sich Ansätze einer hedonistischen Werttheorie auch in Tännsjö 1998, bes. Kap. 5, Tännsjö 2007 und Feldman 2004.
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Jedoch ist Glück ein notorisch vager Begriff.⁹ Man kann von Glück im Sinne eines glücklichen Zufalls reden, ebenso vom Glück des momentanen Augenblicks oder vom übergreifenden Glück des ganzen Lebens. Klassischerweise aber versteht eine hedonistische Theorie Glück als Synonym für subjektives Wohlergehen.¹⁰ Demgemäß führen wir ein gutes Leben, wenn wir glücklich sind, und dies bedeutet, dass wir uns gut fühlen. Der Ausdruck „gutes Leben“ bezieht sich dann zum Beispiel auf positive Gefühle, die wir haben, wenn wir ein wichtiges Lebensziel erreichen oder eine bestimmte Tätigkeit ausüben, mit der ein Glücksgefühl einhergeht. In diesem Sinne kann man sagen, dass hedonistische Theorien das ethisch Gute mit einem inneren, psychischen Zustand, eben Glücksempfinden, gleichsetzen. Es gibt nicht viele Vertreter dieser Theorie, was vor allem an der Exklusivitätsthese des Hedonismus liegt. Denn in der Regel halten wir neben Glück auch ganz andere Dinge für wesentlich, um ein gutes Leben zu führen. Parfit nennt beispielsweise die folgende Auswahl: The good things might include moral goodness, rational activity, the development of one’s abilities, having children and being a good parent, knowledge, and the awareness of true beauty.¹¹
Hierbei handelt es sich um eine intuitiv nachvollziehbare Liste, die wiedergibt, was Menschen für ethisch gut halten. Und sie tun dies in vielen Fällen auch dann, wenn sie gerade keine positiven Gefühlszustände haben. Nehmen wir als weiteres Beispiel den klassischen Autonomie-Fall:¹² Es gibt viele Menschen, für die die Ausübung der eigenen Autonomie ein wichtiges Gut darstellt, ohne dass die damit verbundenen Tätigkeiten mit Glücksempfindungen verknüpft wären. Demnach kann jemand ein gutes Leben führen, sich dabei aber keineswegs gut fühlen – zum Beispiel, indem er schmerzlindernde Medikamente verweigert, um bei klarem Bewusstsein zu bleiben.¹³ Wenn wir also davon reden, dass ein Leben gut ist, dann meinen wir damit nicht immer, dass es sich dabei auch um ein glückliches Leben handelt. Angenommen diese Überlegungen träfen zu und subjektives Wohlbefinden wäre nicht notwendig, um ein gutes Leben zu führen: Ist es aber nicht zumindest
9 Vgl. für die terminologischen Schwierigkeiten mit dem Glücksbegriff Bien 1995 und Seel 1995, 54 ff. 10 Vgl. dazu Birnbacher 1990, 73. 11 Parfit 1984, 499. 12 Vgl. für dieses Beispiel Griffin 1986, 8. 13 Man denke etwas an Sigmund Freud, der todkrank auf schmerzlindernde Mittel verzichtete, um bei klarem Bewusstsein seiner Schreibarbeit nachkommen zu können.
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manchmal ausreichend? Auch diese Frage wird von einigen verneint, zumindest dann, wenn man den Zusammenhang der beiden Relata so deutet, dass subjektives Wohlbefinden eine hinreichende Bedingung für das ethisch Gute darstellt. Warum könnte man dies bezweifeln? Um dies zu verstehen, denken wir etwa an das bekannte Beispiel der Erfahrungsmaschine von Robert Nozick¹⁴: Nehmen wir eine fiktive Welt an, in der die einzelnen Individuen die Möglichkeit haben, sich mit Elektroden an eine Maschine anschließen zu lassen, die sie fortwährend mit Glücksempfindungen versorgen würde. Wenn subjektives Wohlbefinden zumindest manchmal hinreichend wäre, um ein gutes Leben zu konstituieren, müssten wir ein solches Leben auch gut nennen können. Es ist aber offenkundig, dass die meisten Menschen ein solches Leben nicht als gut bewerten. Nach Nozick liegt dies daran, dass positives Glücksempfinden alleine nicht ausreichend ist, um ein gutes Leben zu führen. Vielmehr, so sein Vorschlag, müssen die durch die Maschine evozierten Glücksgefühle auch in einer bestimmten Weise gerechtfertigt sein, zum Beispiel dadurch, dass es sich um wahrhaftige und nicht-simulierte Zustände handelt.¹⁵ Allerdings gibt es auch andere Vorschläge.¹⁶ Diese inhaltlichen Unterschiede sind aber hier nicht weiter von Belang. In diesem Zusammenhang ist es wichtiger, sich die grundlegende Pointe von Nozicks Gedankenexperiment vor Augen zu führen, die viele dazu geführt hat, die Einheitsthese von als glücklich empfundenem und gutem Leben abzulehnen. Nozick scheint nämlich zu zeigen, dass erst bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, sodass wir von einem glücklichen Leben sagen können, dass es auch ein gutes Leben ist, wobei diese Bedingungen selbst keine positiven Gefühlszustände sind. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Glück häufig ein Bestandteil des guten Lebens ist. Was aber nahegelegt wird, ist die Ansicht, dass es auch in diesen Fällen mehr sein muss, was ein Leben gut macht, als lediglich positive Gefühlszustände auf der Seite des Subjekts. Diese Überlegungen bilden nun im metaethischen Diskurs den Ausgangspunkt für die zweite subjektive Theorie – die Präferenztheorie des Guten. Die Grundidee ihrer Vertreter besteht darin, dass das ethisch Gute nicht mit den Gefühlen der Person, sondern mit ihren Präferenzen zusammenhängt.¹⁷ Demnach bemisst sich die ethische Güte eines Lebens nicht nach dem subjektiven Wohl-
14 Vgl. Nozick 1974, 42 – 45. 15 Vgl. Nozick 1974, 45. 16 Vgl. für einen Überblick Crisp 2004 und Crisp 2006b. 17 Besonders prominent ist dieser Theorientypus etwa in der Ökonomie. Vgl. dazu Luce/ Raiffa 1957. In der neueren Moralphilosophie lässt sie sich etwa in Tugendhat 1981, Griffin 1986, Gauthier 1986, Seel 1995 und Stemmer 1998 wiederfinden. Vgl. auch die Beiträge in Olsaretti 2006.
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befinden einer Person, sondern nach der Erfüllung ihrer Präferenzen sowie nach deren Platz im Gesamtgefüge der persönlichen Präferenzordnung.Welche ethische Qualität ein Leben hat, zeigt sich beispielweise daran, ob diejenige Präferenz, die im Rahmen der persönlichen Präferenzordnung die höchste Stellung einnimmt, realisiert werden konnte oder nicht. Der Vorteil einer solchen Theorie ist leicht zu sehen: Die Präferenztheorie erlaubt es, der Verschiedenartigkeit der menschlichen Ziele Rechnung zu tragen, da man unter einer Präferenz ganz Unterschiedliches verstehen kann. Hierunter fallen nicht nur subjektives Wohlbefinden, sondern auch Dinge wie moralische Integrität, Ausübung der eigenen Autonomie oder sozialer Erfolg. Aber auch die Präferenztheorie ist mit Einwänden konfrontiert. Ein gewichtiger Einwand betrifft etwa die Gleichsetzung von wohlinformierten Präferenzen und dem, was für eine Person gut ist. Dabei wird nicht bestritten, dass Erstere eine Rolle spielen, um Letztere zu bestimmen. Was aber bestritten wird, ist die These, dass das Gute für eine Person immer ihren wohlüberlegten Präferenzen entspricht. Und dies aus dem folgenden Grund: Viele Gegenstände sind für eine Person gut oder schlecht – und zwar selbst dann, wenn sie wohlaufgeklärte Präferenzen hat, die ein anderes Urteil nahelegen.¹⁸ Aus diesem Gedankengang heraus kann man weitere Zweifel an der Stimmigkeit der Präferenztheorie hegen. Gesetzt die bisherige Kritik ist richtig und die Gleichsetzung von wohlinformierten Präferenzen und dem Wohlergehen für eine Person ist nicht immer möglich: Gibt es dann überhaupt Fälle, in denen wir meinen, dass das Haben oder die Realisierung von so definierten Präferenzen genügt, um ein gutes Leben zu führen? Auch diese These ist bestritten worden, wobei insbesondere solche Kritiklinien besonders prominent sind, die sich auf die Grundannahme der Präferenztheorie beziehen.¹⁹ Die Vertreter der Präferenztheorie gehen nämlich davon aus, dass die letzte Instanz zur Bestimmung des ethisch Guten in den Präferenzen der wertenden Subjekte liegt. Natürlich sind auch diese Präferenzen wiederum in einer gewissen Weise kritisierbar. Sie können beispielsweise mit Blick auf ihr Zustandekommen als irrational entlarvt werden, etwa weil sie auf falschen Vorstellungen über die Welt oder uns selbst beruhen. Irrational sind aber demzufolge nicht unsere Präferenzen selbst, sondern die Art und Weise, wie sie gebildet worden sind.²⁰ Und genau diese Annahme scheint den
18 Vgl. für eine Reihe von Beispielen, die die Grundlage einer solchen Kritik bilden, Schaber 1998, bes. 156 – 162. 19 Vgl. für die folgende und weitere Schwierigkeiten der Präferenztheorie Ripstein 1993. 20 Diese Grundansicht bringt Peter Stemmer auf den Punkt, wenn er konstatiert: „[O]b ein Wollen richtig oder falsch ist, bemisst sich nicht an dem Was, sondern an dem Wie des Wollens. Richtig ist ein Wollen, das in die für es relevanten Informationen eingebettet ist, ein
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Präferenztheoretiker auf kontraintuitive Konsequenzen festzulegen. Denn hat jemand eine in diesem Sinne rationale Präferenz ausgebildet, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass wir ihm ein gutes Leben zuschreiben. Denken wir etwa an die wohlüberlegte Präferenz, ein skrupelloser Auftragsmörder zu werden: In diesem Fall weiß der Betreffende um die Konsequenzen, die dieser Lebensentwurf beinhaltet, ist ausreichend informiert über die Art seiner Handlungen und hat alle Alternativen ausgeschlossen. Alles in allem handelt es sich qua Grundannahme der Präferenztheorie um eine wohlüberlegte Präferenz. Andererseits: Wir haben gemeinhin einige Bedenken, ein solches Leben gut zu nennen und das, obwohl die Präferenzen den Rationalisierungstest der Präferenztheorie überstanden haben. Wie lässt sich dieses Beispiel deuten? Naheliegend ist die Vermutung, dass das obige Beispiel auf einen allgemeinen Punkt aufmerksam macht, nämlich, dass wohlinformierte Präferenzen nicht hinreichend sind, um ein Leben „gut“ zu nennen. Es müssen andere Gesichtspunkte angeführt werden, die uns ihrerseits verständlich machen, wann eine bestimmte Präferenz das ethisch Gute für eine Person befördert und wann nicht. Aber welche „anderen“ Gesichtspunkte könnten dies sein? Diese Frage führt uns zur objektiven Theorie des guten Lebens. Ihre Vertreter gehen davon aus, dass wir mit unserer Redeweise über das ethisch Gute nicht über unser subjektives Wohlbefinden oder unsere wohlinformierten Präferenzen sprechen, sondern über davon unabhängige Eigenschaften. Wenn wir ein Leben „gut“ nennen, dann bedeute dies, dass dieses Leben bestimmte gutmachende Eigenschaften aufweist, deren Existenz nicht von den Meinungen,Wünschen oder Präferenzen des jeweils Bewertenden abhängt. Damit ist nicht impliziert, dass diese subjektiven Elemente irrelevant sind. Man kann sogar in einem objektiven Theorierahmen zugestehen, dass sich nur mithilfe von ihnen für eine Person erschließt, was es heißt, ein gutes Leben zu führen.²¹ Aus der Perspektive einer objektiven Theorie macht ein solcher Rekurs aber nur epistemisch zugänglich, was tatsächlich unabhängig von ihnen gut ist. Ihr zufolge ist ein Leben also nicht gut, weil wir es in einer bestimmten Weise wollen, sondern es ist vielmehr umkehrt so, dass wir ein bestimmtes Leben wollen, weil es gut ist. Was aber ist in dieser beschriebenen Weise gut? Lassen sich überhaupt solche Gegenstände bestimmen, die für alle Menschen gut sind? Hierauf kann man unterschiedliche Antworten geben.²² Hält man allerdings daran fest, dass man zu-
über sich, sein Objekt und seine Genese aufgeklärtes Wollen; falsch ist hingegen ein blindes Wollen.“ Stemmer 1998, 64 (Hervorhebung im Original, M. R.). 21 Vgl. für eine solche Theorie etwa die Überlegungen von Peter Schaber in diesem Band. 22 Auf die Frage, ob eine objektive Theorie notwendigerweise von einer Universalität gutmachender Eigenschaften ausgehen muss, gehe ich im dritten Abschnitt ein.
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mindest in einem minimalen Sinne systematisieren kann, was ein menschliches Leben gut macht, dann stößt man auf eine prominente Ausprägung der objektiven Theorie – die Objektive-Listen-Theorie. ²³ Ihre Vertreter gehen davon aus, dass sich universelle Eigenschaften ausmachen lassen, die die ethische Qualität eines Lebens bestimmen. Aber welche Eigenschaften sollen dies sein? Dies ist eine umstrittene Frage, bei der nicht klar ist, ob sie überhaupt noch durch eine philosophische Begriffsanalyse beantwortet werden kann.²⁴ Aber lassen wir diese Bedenken beiseite und blicken auf mögliche Kandidaten. In diesem Fall sind es vor allem negativ bewertete Phänomene wie Schmerzen, Hunger und Unterdrückung, die eine häufige Nennung finden.²⁵ Bei ihnen erscheint es für viele Vertreter der Objektiven-Listen-Theorie am erfolgsversprechensten, zu behaupten, dass sie die ethische Güte eines Lebens bestimmen, und zwar ganz unbeschadet davon, ob die betreffende Person diese normative Qualifizierung teilt oder nicht. Es ist einfach zu sehen, dass eine objektive Theorie eine gewisse Anfangsplausibilität besitzt: Die obigen Überlegungen deuten darauf hin, dass subjektives Wohlbefinden und Präferenzerfüllung weder notwendig noch hinreichend sind, um ein gutes Leben zu führen. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass wir über etwas Anderes reden, wenn wir ein Leben gut nennen. Und für dieses „Andere“ haben objektive Theorien eine intuitiv nachvollziehbare Deutung. Es handelt sich nämlich um objektive Eigenschaften, also um eine Klasse von Eigenschaften, die nicht auf wie auch immer geartete subjektive Zustände zurückführbar ist. In diesem Sinne scheint eine objektive Theorie daher besonders gut zu unserer alltäglichen Redeweise über das ethisch Gute zu passen. Sie scheint nur theoretisch zu explizieren, was wir vermittelt durch unsere alltäglichen Redeweisen immer schon annehmen. Nennen wir dies den „intuitiven Vorteil“ der objektiven Theorie. Aber übersteht der konstatierte Vorteil auch eine zweite, genauere Prüfung? Und falls ja, würde dieser Umstand für die objektive Theorie überhaupt einen Pluspunkt im Theorienvergleich begründen? Auf beide Punkte werde ich am Schluss dieses Beitrages zurückkommen.²⁶ An dieser Stelle reicht es aus, darauf
23 Als klassische Vertreter wird zumeist Aristoteles genannt. Vgl. Aristoteles 1985. Im neueren Diskurs ist insbesondere Martha Nussbaum zu nennen, die eine an Aristoteles anknüpfende Listentheorie des Guten vertritt. Vgl. exemplarisch für die Grundidee und Fortentwicklung ihrer neoaristotelischen Theorie Nussbaum 1992, Nussbaum 1999, Nussbaum 2006 und Nussbaum 2011. Vgl. für einen allgemeinen Überblick über diese Theoriengruppe Fenner 2007, Kap. 5. 24 Vgl. für diese Schwierigkeit Wolf 1999, 16. 25 Vgl. für das Beispiel Schmerzen Nagel 1986, Kap. 8. Vgl. für die Beispiele Elend und Unterdrückung sowie zur weiteren Ausarbeitung einer objektiven Liste von Grundgütern die Beiträge in Nussbaum/Sen 1993 und die Überlegungen in Krebs 1998. 26 Vgl. Abschnitt 4.
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hinzuweisen, dass auch die meisten Subjektivisten beide Fragen bejahen.²⁷ Sie gestehen der objektiven Theorie einen intuitiven Vorteil zu, wenngleich sie ihn zu relativieren suchen. Dies geschieht zumeist dadurch, dass der objektiven Theorie theoretische Folgekosten attestiert werden, die ihre anfängliche Attraktivität in ein anderes Licht rücken. Die intuitive Adäquatheit müsse nämlich mit gewichtigen Einwänden abgewogen werden, mit denen die objektive Theorie konfrontiert sei. Und das Entscheidende: Diese Einwände werden von der überwiegenden Anzahl der Metaethiker als durchschlagend empfunden, was viele zu der Annahme bewegt, eine subjektive Theorie sei die einzig gangbare metaethische Position. So gesehen ist das gegenwärtige Primat der subjektiven Theorien also wenig überraschend: Objektive Theorien, so der allgemeine Tenor, werden zwar nicht von vornherein als unplausibel betrachtet, aber genauer besehen sprechen eben doch schlagende Gründe gegen sie. Aber können diese Gründe überzeugen? Ich hatte bereits in der Einleitung angedeutet, dass ich diesbezüglich Zweifel habe. Ich vermute nämlich, dass die Kritik häufig auf Missverständnissen darüber beruht, was eine objektive Theorie tatsächlich behaupten muss und was nicht. Um dieser Vermutung weiter nachzugehen, werde ich im Folgenden fünf exemplarische Einwände darstellen und untersuchen, inwiefern von ihnen eine Bedrohung für die objektive Theorie ausgeht.
27 Dafür spricht etwa das methodische Vorgehen vieler ihrer Vertreter. So beispielsweise in Peter Stemmers Beitrag Was es heißt, ein gutes Leben zu leben (1998). Stemmer verteidigt darin eine subjektive Theorie, in der das Gutsein eines Lebens mit dem Wollen des Subjekts gleichgesetzt wird. Demnach ist etwas „ein gutes X, wenn es das leistet, was wir von einem X wollen“ (56 f.). Interessanterweise entwickelt Stemmer diese metaethische Position aber erst im Anschluss an eine Kritik der objektiven Theorie, was zumindest für eine implizite Anerkennung dieser als ,Normalposition‘ spricht. Denn warum sollte er sich die Mühe machen, die objektive Theorie einer internen Kritik zu unterziehen, wenn die Beweislast zwischen beiden Lagern symmetrisch verteilt ist? Würde Stemmer dies vermuten, wäre es sicherlich attraktiver, sich um einen Theorienvergleich zu bemühen, der zunächst den eigenen subjektiven Ansatz erläutert und dann aufzeigt, dass dieser sich gegenüber einer objektiven Theorie als leistungsfähiger erweist. Dieses Vorgehen ist aber weder bei Stemmer noch bei den meisten anderen Vertretern der subjektiven Theorie zu beobachten. Und dies spricht für die Anerkennung des intuitiven Vorteils der objektiven Theorie und der damit verbundenen asymmetrischen Beweislast zwischen den beiden metaethischen Lagern.
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3.3 Fünf Missverständnisse gegenüber einer objektiven Theorie Der erste Einwand ist ursprünglich im Kontext der Moralphilosophie beheimatet, kann aber auch auf die Debatte um das ethisch Gute übertragen werden. Sein empirischer Ausgangspunkt besteht darin, dass sich bei einem Vergleich verschiedener Gesellschaften oder Kulturen im Hinblick auf die in ihnen vertretenen Vorstellungen über das gute Leben nur schwer ein gemeinsamer inhaltlicher Kern ausmachen lässt.Wir scheinen vielmehr auf eine Pluralität verschiedener und zum Teil konfligierender Vorstellungen zu stoßen, von denen nicht klar ist, ob sich in naher Zukunft eine Konvergenz unter ihnen abzeichnet. Und mehr noch: Auch innerhalb einer Gesellschaft oder Kultur lässt sich eine beträchtliche Anzahl von persistenten Meinungsverschiedenheiten ausmachen,wenn es um die Beurteilung von guten und schlechten Lebenskonzepten geht. Wir müssen also neben dem Phänomen einer dauerhaften inter- auch von einer hartnäckigen intrakulturellen Uneinigkeit ausgehen, wenn es um Antworten auf die Frage geht, was ein Leben zu einem guten Leben macht. Akzeptiert man diesen empirischen Befund,²⁸ dann kann man ihn zum Ausgangspunkt für zumindest zwei Arten von Einwänden machen. So kann man erstens behaupten, dass die konstatierten Meinungsverschiedenheiten über das menschliche Wohl logisch implizieren, dass der Objektivismus falsch sein muss. Denn würde er zutreffen, würde eine Konvergenz über das ethisch Gute herrschen, was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Daher, so die Schlussfolgerung, muss etwas mit der Ausgangsprämisse der objektiven Theorie nicht stimmen. Jedoch ist offensichtlich, dass es sich hierbei um ein schwaches Argument handelt, da der Objektivist keineswegs dazu gezwungen ist, eine Konvergenz in den faktischen Meinungen anzunehmen. Eine objektive Theorie kann durchaus damit einhergehen, dass es eine Vielzahl von verschiedenen Ansichten geben kann. Gerade aus dem Grund, weil man sich in der Frage nach der objektiv richtigen Lebensführung irren kann, ist die Möglichkeit gegeben, dass es de facto ganz verschiedene Auffassungen darüber gibt. Weitaus attraktiver erscheint da schon eine zweite Strategie, die auf das Erklärungspotenzial einer objektiven Theorie abhebt. Ebenso wie die erste Strategie fußt auch sie auf der Annahme, dass eine inhaltliche Divergenz über das ethisch Gute besteht. Im Gegensatz zu ihr legt die zweite Strategie aber den Fokus darauf,
28 Vgl. aber für eine Kritik der Uneinigkeitsthese, die bei den methodischen Voraussetzungen ihrer empirischen Fundierung ansetzt, Moody-Adams 2001.
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dass es sich hierbei um ein empirisches Faktum handelt, für dessen Erklärung der Objektivismus keine aussichtsreichen Ressourcen bereitstellt.²⁹ Was ist von diesem Einwand zu halten? Dies hängt trivialerweise davon ab, was man unter „keine aussichtsreichen Ressourcen“ versteht. Wenn damit gemeint ist, dass dem Objektivisten abseits eines einfachen Modells, in dem Meinungsunterschiede mit der ethischen Blindheit der beteiligten Diskursteilnehmer verständlich gemacht werden, keine Erklärungsmöglichkeiten bleiben, verkürzt man sein Potenzial enorm. So kann der Vertreter einer objektiven Theorie zum Beispiel viele Meinungsverschiedenheiten als nur scheinbare entlarven, etwa weil der Gesprächspartner seine Meinung nur heuchelt oder lediglich ein Unterschied in den faktischen Urteilen besteht, die den verschiedenen Wertungen zugrunde liegen. Auch für tatsächliche Meinungsverschiedenheiten hätte er ein Modell, zum Beispiel könnte er auf bestimmte Defizite abstellen, die uns eine richtige Einschätzung des guten Lebens unmöglich machen. Diese können von ganz verschiedener Art sein: Sie umfassen psychologische Fehlleistungen (z. B. Selbsttäuschung), semantische und kognitive Irrtümer (z. B. falsche Kategorisierungen des Einzelfalls), reichen über Fehler beim praktischen Überlegen (z. B. fehlerhafte Gesamteinschätzungen) bis hin zu empirischen und logischen Defiziten (z. B. defizitäre Faktenkenntnis, unlogische Schlussfolgerungen). Man kann diese Liste sicherlich noch erweitern.³⁰ Ausgehend von dieser kurzen Aufzählung sollte aber bereits deutlich geworden sein, dass eine objektive Theorie dem Phänomen der ethischen Uneinigkeit nicht gleichsam hilflos gegenübersteht. Auch der Objektivist kann eine differenzierte Analyse präsentieren, warum es in der Praxis zu Unstimmigkeiten kommt, wenn wir die Inhalte eines guten Lebens diskutieren. Ein zweiter Einwand gegenüber einer objektiven Theorie beruht auf der Beobachtung, dass häufig ganz verschiedene Dinge für Menschen gut sind. Um ein Beispiel zu nehmen: So mag etwa für Person A und für Person B die Ausübung ihrer Autonomie einen wichtigen Wert darstellen, um ein gutes Leben zu führen. Dass sie aber für beide in der gleichen Weise wertvoll ist, ist nicht immer ein-
29 Mit dieser Behauptung ist der Kern des klassischen Argument from Relativity beschrieben, das John Mackie im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem moralischen Wertrealismus in die metaethische Diskussion eingebracht hat. Mackie spricht in diesem Zusammenhang von einer „truth of descriptive morality“ (Mackie 1977, 36), die sowohl für den Vertreter des moralischen Wertrealismus als auch für den moralischen Antirealisten gleichsam erklärungsbedürftig ist. 30 Einen guten Überblick über die Ressourcen, die dem Objektivisten für die Erklärung von Uneinigkeit zur Verfügung stehen, gibt etwa Brink 1989, 197 ff.
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sichtig.³¹ Es lassen sich Beispiele denken, in denen für A der Wert der Autonomie durch einen anderen Wert aufgewogen wird, während dies für B nicht der Fall ist. Gleichzeitig wollen wir jedoch in vielen Fällen daran festhalten, dass beide ein gutes Leben führen. Kann eine objektive Theorie diesem Umstand Rechnung tragen? Für viele Kritiker ist dies sehr fragwürdig, da aus ihr vermeintlich das Gegenteil folgt, nämlich, dass ein bestimmter Gegenstand für alle Wesen gleichermaßen wertvoll ist.³² Diese Konsequenz ist aber unplausibel, zumindest in dem Fall, wenn man individuelle Unterschiede berücksichtigen möchte, was es im Einzelnen für eine Person heißt, ein gutes Leben zu führen. Ich glaube allerdings nicht, dass eine solche Kritik einschlägig ist, da sie sich lediglich gegen eine bestimmte Art von Theorie über das objektiv Gute richtet – genauer gesagt, auf solche, die eine fixe Liste von werthaften Gütern annimmt, die in ihrer ethischen Valenz nicht auf den individuellen Lebenskontext reagieren. Eine mögliche Ausprägung ist auch gegenwärtig sehr einflussreich: Es sind objektive Theorien, die auf eine gemeinsame menschliche Natur rekurrieren, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen, wie ein gelungenes Leben aussehen sollte.³³ Ich möchte hier offen lassen, wie die Leistungsfähigkeit dieser Ansätze tatsächlich einzuschätzen ist und ob sie – entgegen dem ersten Anschein – nicht doch mit unseren individual-ethischen Intuitionen kompatibel sind.³⁴ Für meine Zwecke ist es wichtiger, dass die objektive Theorie nicht auf die Grundausrichtung dieser Ansätze festgelegt ist. Sie kann mit Blick auf den Geltungsradius variabler sein, als viele Kritiker unterstellen. Dass etwas in einem objektiven Sinne für eine
31 Damit wird keineswegs die These des modernen Liberalismus vertreten, dass Autonomie einen intrinsischen Wert darstellt. Vgl. für eine Kritik dieser Behauptung den Beitrag von Sebastian Muders in diesem Band. Hier soll lediglich betont werden, dass verschiedene Dinge für verschiedene Menschen gut sein können, wobei die Autonomie als inhaltliches Beispiel dient, um diese Behauptung zu kontextualisieren. 32 Eine solche Kritik gegenüber einer objektiven Theorie formuliert etwa Peter Stemmer: „Ich glaube, die meisten von uns haben eine gewisse Reserve gegenüber Theorien, die sagen, gut zu leben heiße, so und so zu leben, und zwar für alle Menschen, ganz unabhängig von ihren unterschiedlichen Vorstellungen, Wünschen, Interessen. Unsere Intuitionen gehen in eine andere Richtung“ (Stemmer 1998, 58). 33 Natürlich stellen sich dann verschiedene Anschlussfragen, die wir aus der Diskussion des ergon-Arguments bei Aristoteles kennen – etwa die Fragen, wie der Begriff der „Natur“ zu deuten ist, welche metaphysisch-teleologischen Annahmen mit ihm verbunden sind und welche Art von Wissen mit der Erkenntnis der eigenen Natur verbunden ist. Vgl. für einige Versuche, diese Nachfragen mit einem Rekurs auf die antike Ethik zu beantworten, die Überlegungen in Foot 2001, Thompson 2008 und Nussbaum 2011. Vgl. für einen Überblick auch Bayertz 2005. 34 Vgl. für einen solchen Versöhnungsversuch die Überlegungen in Nussbaum 1992 und neuerdings Kallhoff 2010.
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Person wertvoll ist, impliziert nicht, dass dies immer auch für alle anderen Personen in der gleichen Weise wertvoll ist.³⁵ Das ethisch Gute weist vielmehr eine gewisse Subjektrelativität auf, die darin besteht, dass es nicht indifferent zu dem ist, was Personen sind.³⁶ Verschiedene Menschen haben verschiedene Fähigkeiten und Talente, sind in verschiedenen sozialen Umfeldern aufgewachsen und verfolgen oder verfolgten verschiedene Anliegen und Projekte. Dass Person A einen Grund hat, ihr Leben so und nicht anders zu gestalten, während Person B keinen solchen Grund hat, könnte einfach in den je eigenen Lebenszusammenhängen liegen, in denen sich beide befinden. In diesem Sinne bedeutet objektiv gut nicht einfach gut, sondern immer gut für ein bestimmtes Individuum. Ein dritter Einwand geht von der Beobachtung aus, dass wir Personen in manchen Fällen eine normative Individualität zusprechen, wenn es um die Frage nach dem ethisch Guten geht.³⁷ Damit ist nicht gemeint, wie oben verhandelt, dass das gute Leben von Person zu Person variieren kann, also mitunter von der Kontingenz der jeweiligen Lebensumstände abhängt. Auch ist damit nicht gemeint, dass Menschen gegen die besten Gründe handeln können, die für einen bestimmten Lebensentwurf sprechen – zum Beispiel in einem „acte gratuit“. Typische normative Individualität zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass das ethisch Gute zumindest manchmal der Entscheidungshoheit der jeweiligen Person obliegt. Es ist die jeweilige Person, die bestimmt, was für sie ein gutes Leben darstellt und was nicht. Und genau hierdurch bekommt ihr Leben eine genuin individuelle Ausprägung. Für viele ist nicht klar, ob eine objektive Theorie des Guten mit einer so verstandenen normativen Individualität kompatibel ist. Das Problem besteht darin, dass eine objektive Theorie vermeintlich fordern muss, dass es nicht von der individuellen Entscheidung einer Person abhängt, was für sie gut ist. Denn ihre
35 Damit soll keineswegs ausgeschlossen werden, dass es bestimmte Werteigenschaften gibt, die unabhängig vom jeweiligen Lebenskontext eine bestimmte ethische Valenz haben – zu denken wäre etwa an moralische Werteigenschaften, bei denen viele Objektivisten gerade nicht bereit sind, die oben konstatierte Subjektrelativität zuzugestehen. Demgegenüber soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass es bei manchen Werteigenschaften, die die ethische Qualität eines Lebens betreffen, einen gewissen Spielraum geben kann, was von Person zu Person jeweils wichtig ist. Welche Eigenschaften dies wiederum sind, wie groß dieser ethische Spielraum tatsächlich ist und wodurch er festgelegt wird, sind schwierige Fragen, die nach einer substanziellen Theorie des guten Lebens verlangen, sodass sie in diesem Beitrag offen gelassen werden müssen. 36 Vgl. für diesen Vorschlag die ausführlicheren Überlegungen von Peter Schaber in diesem Band. 37 Vgl. zur Erläuterung der folgenden Überlegungen auch die ausführliche Begriffsanalyse von „normativer Individualität“ in Ernst 2011.
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Grundidee besteht ja gerade darin, dass das jeweils gute Leben unabhängig von den Meinungen, Wünschen und Gefühlen (und damit auch den Entscheidungen) festgelegt ist. Wie aber soll von einer subjektiven Selbstbestimmung ausgegangen werden, wenn das ethisch Gute bereits in dieser Weise normativ vorstrukturiert ist? – Allenfalls, so könnte man sagen, besteht noch die Möglichkeit, dass sich eine Person durch eine irrationale Wahl gegen das bestmögliche Leben entscheidet. Dass sie allerdings selbst in einem nur minimalen Sinn mitbestimmt, was für sie gut ist, wird durch eine objektive Theorie vermeintlich ausgeschlossen. Ist dieser Einwand stichhaltig? Ich denke, man kann diesbezüglich Zweifel formulieren, die sich inhaltlich vor allem darauf beziehen, dass der obigen Kritiklinie ein nur sehr vereinfachendes Bild vom ethischen Objektivismus zugrunde liegt. So besteht eine wesentliche Unterstellung darin, dass der Vertreter der objektiven Theorie lediglich ein optimales (perfektes) Leben für das Subjekt annehmen muss. Würde diese Annahme zutreffen, wäre es in der Tat fraglich, wo im objektiven Modell möglicher Spielraum für individuelle Mitbestimmung bliebe. Hierbei handelt es sich aber um eine offensichtliche Missdeutung: Nicht jeder Objektivist muss notwendigerweise ein Monist im Hinblick auf das gute Leben sein. Nichts spricht beispielsweise gegen die logische Möglichkeit, eine pluralistische Konzeption des ethisch Guten zu vertreten, in der zwei (oder mehrere) optimale Leben für ein und dieselbe Person angenommen werden.³⁸ Hält man nun ein solches Modell für plausibel, ließe sich auch das Phänomen der menschlichen Individualität berücksichtigen. Sie zeigt sich für einen Vertreter einer pluralen Konzeption gerade in den Momenten, in denen wir vor die Wahl zweier (oder mehrerer) Leben gestellt werden, die für uns in ihrer ethischen Qualität nicht mehr unterscheidbar sind. Das heißt, in Situationen, in denen es nicht möglich ist, für die eine oder andere Lebenskonzeption mit besseren Gründen zu argumentieren. An diesem Punkt stellen sich Anschlussfragen. Am dringendsten wohl die Frage, was es denn dann ist, an was wir uns in rational unterbestimmten Situationen halten, wenn uns sprichwörtlich die Gründe ausgehen. Handelt es sich um einen spontanen Akt der Selbstbestimmung? Oder lassen sich solche ,freien‘ Zwecksetzungen nicht auf Neigungen, Wünsche und Anlagen zurückfahren? Was hier droht, ist eine komplizierte Diskussion über das Wesen der menschlichen Selbstbestimmung und die Möglichkeit des freien Willens, auf die ich mich in diesem Beitrag nicht einlassen möchte. Glücklicherweise muss sie im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von normativer Individualität und objektiver Theorie auch gar nicht behandelt werden. Mein Ziel war viel beschei-
38 Ein prominenter Vertreter, der häufig in Zusammenhang mit einem Glückspluralismus in Verbindung gebracht wird, ist Isaiah Berlin. Vgl. etwa Berlin 1997.
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dener, indem ich lediglich aufzeigen wollte, dass sich beide nicht ausschließen. Der Vertreter einer objektiven Theorie kann dieses Phänomen in seiner Theorie berücksichtigen, nämlich genau dann, wenn er sie im Kontext von rational unterbestimmten Wahlsituationen verortet. Ein nunmehr vierter Einwand setzt bei der Annahme an, dass dasjenige, was ein Leben gut macht, eine normative Autorität besitzt.³⁹ Diese Behauptung ist natürlich präzisierungsbedürftig. Was gemeint ist, ist das Phänomen, dass dasjenige, was ein Leben gut macht, uns einen guten Grund gibt, unser Leben entsprechend zu gestalten. Wir können dem Guten für uns nicht gleichgültig gegenübertreten, so wie zum Beispiel dem Faktum, dass Menschen Säugetiere sind, dass Wasser aus H2O gebildet wird oder dass ein Atom unter anderem aus Elektronen besteht. Jemand, der weiß, welche Merkmale das für ihn gute Leben ausmachen, wird ipso facto auch einen ,normativen Druck‘ verspüren, sein Leben in Übereinstimmung mit diesen Merkmalen zu bringen. Hierin, so scheint es, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Aussagen über das Gute und (natur)wissenschaftlichen Aussagen. Man kann nun bestreiten, dass eine objektive Theorie diese Phänomenologie angemessen berücksichtigen kann, da es sich, so die Annahme, bei ihren Aussagen lediglich um Beschreibungen von nicht-normativen Tatsachen handeln würde. Demgemäß würde folgen, dass Aussagen über das Gute für uns keine normative Autorität haben, sie also für uns gleichbedeutend sind mit Aussagen über biologische, chemische oder physikalische Sachverhalte. Würde diese Behauptung zutreffen, gäbe es einen handfesten Widerspruch zwischen Theorie und ethischem Alltagsbewusstsein: Es muss doch so sein, dass Urteile über das Gute uns in unserem Handeln anleiten – worin sonst sollte das distinktive Merkmal dieser Klasse von Urteilen liegen? Aber es kann doch nicht so sein, weil es sich um Urteile handelt, die keinen direkten Bezug auf unser Handeln haben. Mir scheint aber, dass auch dieser Einwand nicht zwingend ist. Es ist nämlich nicht zu sehen, warum der Vertreter der objektiven Theorie seinerseits nicht behaupten sollte, dass Urteile über das Gute objektiv und zugleich intrinsisch normativ sind. In diesem Sinne könnte er die Phänomenologie integrieren und ebenso an der Objektivitätsannahme festhalten. Aber ist es plausibel anzunehmen, dass es Eigenschaften gibt, die beide Merkmale aufweisen? Viele, die eine objektive Theorie ablehnen, neigen dazu, diese Frage zu verneinen, da sie einen solchen Zusammenschluss für eine fragwürdige Wiederverzauberung der Wirklichkeit
39 Vgl. für diese Kritiklinie gegen die objektive Theorie Sumner 1995 und Rosati 1996.
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halten, die gleichsam einer Rückkehr zum ethischen Platonismus gleichkommt.⁴⁰ Man würde schlicht hinter die Einsichten der modernen Naturwissenschaften zurückfallen, hielte man an dem Gedanken fest, dass gutmachende Eigenschaften beide Merkmale aufwiesen. Was an dieser Stelle der Dialektik ins Spiel kommt, ist eine Diskussion über den ontologischen Status von Werteigenschaften und die zugegebenermaßen schwierige Frage, wie sie mit anderen Eigenschaften zusammenhängen. Dazu nur einige andeutende Bemerkungen: Es ist offensichtlich, dass ein Vertreter der objektiven Theorie des Guten etwas zur Ontologie von Werteigenschaften sagen muss. Er kann seine Gedanken grundsätzlich in zwei Richtungen entwickeln: Zum einen kann er die normative Autorität des Guten als einen erklärungsbedürftigen Irrtum abtun und somit an der Objektivität des guten Lebens festhalten. Dies bietet sich insbesondere für Objektivisten an, die mit einer Ontologie sympathisieren, die durch die Erkenntnisse und Methoden der modernen Naturwissenschaften limitiert wird.⁴¹ Zum anderen kann der Vertreter einer objektiven Theorie aber auch versuchen, an beiden Merkmalen des Guten, also an seiner Objektivität und normativen Autorität, festzuhalten. Diese Strategie läuft dann darauf hinaus, die Monopolisierung einer naturwissenschaftlichen Ontologie aufzugeben und eine expansive Metaphysik zu vertreten, in der das so verstandene Gute einen Platz finden kann.⁴² Es kann offen gelassen werden, welcher der beiden Wege beschritten werden sollte. Ich möchte vielmehr darauf aufmerksam machen, dass man sie überhaupt beschreiten kann. Dem Objektivisten stehen verschiedene Möglichkeiten offen, mit dem Vorwurf umzugehen, seine Theorie sei mit der Vorstellung einer normativen Autorität des Guten per se inkompatibel. Ein fünfter Einwand setzt bei der Frage an, woher wir denn wissen, was für eine Person objektiv gut ist. Man kann sicherlich verschiedene Dinge für gut
40 Die These, dass eine Verbindung von Objektivität und Präskriptivität im Ergebnis auf eine Restituierung eines platonischen Reichs der Werte hinläuft, hat John Mackie bekanntlich in besonders nachdrücklicher Weise vertreten: „Plato’s Forms give a dramatic picture of what objective values would have to be. The Form of the Good is such that knowledge of it provides the knower with both a direction and an overriding motive […].“ (Mackie 1977, 40) 41 In diese Richtung argumentieren etwa Railton 1998, Jackson/Pettit 1995 und Hursthouse 1999, bes. 206. Als weiterer Exponent wird zumeist auch Philippa Foot mit ihren Überlegungen in Natural Goodness (2001) angeführt. Diese Einordnung ist aber durchaus bestreitbar. Vgl. dazu die exegetischen Ausführungen von Thomas Hoffmann, der den Foot’schen Ansatz gegenüber der Kritik von McDowell verteidigt, einen szientistischen Naturalismus zu vertreten, in Hoffmann 2010. 42 Vgl. für ein solches Projekt etwa Wiggins 1993a, Wiggins 1993b, McDowell 1995. Vgl. dazu auch die neueren Arbeiten von Shafer-Landau 2003, Shafer-Landau 2006, Halbig 2007, Halbig 2011, FitzPatrick 2008 und Rüther 2012.
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halten: Moralische Integrität, Autonomie, die Ausübung der eigenen Fähigkeiten, persönliche Beziehungen haben, die Erwerbung von Wissen oder die Erfahrung von ästhetischer Schönheit. Die subjektive Theorie scheint mit der Ermittlung dieser oder ähnlicher Eigenschaften keine Probleme zu haben. Sie behauptet schließlich, dass es die mentalen Zustände des Subjekts sind, die bestimmen, was für eine Person gut ist.Wenn wir daher wissen wollen, was gut ist, müssen wir uns nur fragen, bei welchen Aktivitäten und Projekten wir gutmachende Zustände haben, zum Beispiel bei denen wir uns gut fühlen. Anders dagegen bei der objektiven Theorie: Sie vertritt die These, dass es nicht die mentalen Zustände des Subjekts sind, die die ethische Qualität eines Leben konstituieren, sondern hiervon unabhängige Eigenschaften. Wenn wir davon ausgehen, dass wir solche Eigenschaften nicht in der gleichen Weise erkennen können wie etwa die Tatsache, dass vor mir ein Tisch steht, dann stellt sich ganz allgemein die Frage, wie wir überhaupt zu solchen gutmachenden Eigenschaften gelangen können.⁴³ An diesem Punkt bleibt dem Vertreter einer objektiven Theorie vermeintlich nur die folgende Lösung: Er muss behaupten, dass wir über ein eigenständiges Erkenntnisvermögen verfügen, gleichsam einen ,sechsten Sinn‘, der die Wahrnehmung solcher Eigenschaften ermöglicht.⁴⁴ Dies wäre allerdings eine fragwürdige und kaum zu rechtfertigende Implikation, die grundsätzliche Zweifel am metaethischen Projekt des Objektivismus aufwirft. Aber ist der Vertreter einer objektiven Theorie überhaupt auf eine solche Position festgelegt? Auch hier sind Zweifel angebracht. Und dies aus dem folgenden Grund: Die Kritik am Objektivismus ist an ontologische Voraussetzungen gebunden, die seine Vertreter nicht teilen müssen. Denn die Notwendigkeit, ein ominöses Erkenntnisvermögen anzunehmen, ergibt sich erst aus der These, dass das ethisch Gute in einem eigenen Seinsbereich sui generis zu verorten ist. Erst vor diesem ontologischen Hintergrund wird plausibel, warum der Objektivist gezwungen sein sollte, einen obskuren und quasi-mystischen Zugang zu stipulieren. Nun kann der Vertreter der objektiven Theorie diese Vorannahme bestreiten, da ihm grundsätzlich die beiden Weg offenstehen, die uns schon bei der Auseinandersetzung mit der normativen Autorität des Guten begegnet sind. Entweder er macht sich für eine Metaphysik stark, die an den Erkenntnisidealen der modernen Naturwissen-
43 Vgl. aber für ein genau solches Wahrnehmungsmodell, das im Kontext der angewandten Ethik entwickelt wird, Quante/Vieth 2001 und Vieth 2004. 44 Der locus classicus für diese Unterstellung ist Mackie 1977, 38: „If there were objective values, then they would be entities or qualities or relations of a very strange sort, utterly different from anything else in the universe. Correspondingly, we were aware of them, it would have to be by some special faculty of moral perception or intuition, utterly different from our ordinary ways of knowing everything else.“
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schaften orientiert ist. In diesem Fall würde er beispielsweise auf die Zugänglichkeit des ethisch Guten durch eine naturwissenschaftliche Heuristik hinweisen können; oder er bestimmt einen solchen Rekurs als unplausibel, entwirft eine erweiterte Metaphysik und charakterisiert das ethisch Gute als nicht-natürliche Eigenschaft. In diesem Fall würde er das ethisch Gute immer noch als Teil der einen Wirklichkeit interpretieren können, es aber einer primär naturwissenschaftlich orientierten Erkenntnisweise entziehen. Beide Wege haben sicherlich Folgekosten, zum Beispiel könnte mit gewissem Recht gefragt werden, ob eine Naturalisierung des ethisch Guten überhaupt möglich ist oder wie die Grenzen einer expansiven Metaphysik, die auch das ethisch Gute enthält, festgelegt werden können. Belassen wir es aber bei diesen Andeutungen. Denn für den Gang meiner Argumentation ist es bedeutsamer, dass beide Ansätze den aufgeworfenen epistemologischen Bedenken entgegentreten können. Beide fußen auf der Grundidee, dass das ethisch Gute keine ontologisch problematische Eigenschaft ist und daher auch kein fragwürdiges Erkenntnisvermögen erfordert. Natürlich entfällt dadurch nicht die Notwendigkeit, eine tragfähige Erkenntnistheorie auszuarbeiten. Dies ist aber eine Aufgabe, die jeder Theorie des ethisch Guten zukommt, nicht nur dem Vertreter des ethischen Objektivismus.
3.4 Fazit und offene Fragen Folgen wir den vorangegangenen Überlegungen, dann kann den objektiven Theorien ein Stück weit von der Unattraktivität genommen werden, die sie für viele haben. Objektive Theorien besitzen einen intuitiven Vorteil: Sie scheinen nur philosophisch auszubuchstabieren, was wir in der ethischen Praxis annehmen. Allerdings ist dieser Umstand für viele nicht sonderlich beeindruckend. Denn im metaethischen Diskurs wird im Allgemeinen angenommen, dass diese intuitive Stärke recht schnell von den Nachteilen, die objektive Theorien mit sich bringen, aufgewogen wird. Nun wurde aber im letzten Abschnitt herausgestellt, dass viele der antizipierten Folgekosten überhaupt nicht getragen werden müssen. Mit anderen Worten: Viele der theoretischen Unruhen, die die Kritiker von objektiven Theorien umtreibt, sind unbegründet. Sie fußen zu großen Teilen auf Missverständnissen darüber, was ihre Vertreter tatsächlich behaupten müssen. In diesem Licht betrachtet sind objektive Theorien also gar nicht so unplausibel, wie häufig von ihren Kritikern unterstellt wird. Dennoch wäre es zu voreilig, die Debatte an diesem Punkt zu beenden, da die bisherigen Überlegungen noch einige Fragen unbeantwortet lassen. Geschuldet ist dies vor allem dem Gegenstandsbereich selbst. Metaethische Fragen sind komplex. Mit ihnen hängen viele angrenzende philosophische Fragestellungen zu-
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sammen, die gegenseitig wiederum miteinander verflochten sind. Wenn also dieser Beitrag damit endet, einer objektiven Theorie des guten Lebens eine gewisse Überzeugungskraft zuzusprechen, dann ist dieses Ergebnis mit Vorsicht zu betrachten. Auf dem Weg zu dieser Konklusion wurden einige philosophische Prämissen vorausgesetzt, die einer gründlicheren Betrachtung bedürfen, als ihnen in den vorangegangenen Ausführungen zuteil wurde. Ein erstes Desiderat betrifft etwa die intuitive Anfangsplausibilität der objektiven Theorie. Besteht der konstatierte intuitive Bonus dieser Theoriengruppe tatsächlich? Es wurde bereits gesagt, dass die Mehrheit der Metaethiker tatsächlich hiervon ausgeht. Nun muss diese Konstellation aus argumentativer Sicht noch nicht viel heißen. Auch der status quo ist schließlich nicht immun gegenüber Kritik. Und man könnte diese Kritik auf zweierlei Weise plausibilisieren: Erstens könnte man argumentieren, dass der intuitive Vorteil einer objektiven Theorie bei näherem Hinsehen überhaupt nicht besteht. In diesem Fall müsste eine subjektive Theorie zeigen, dass auch sie unsere alltägliche Redeweise über das ethisch Gute konservieren kann – und zwar ohne sie als falsch herauszustellen. Zweitens könnte man zugestehen, dass ein solcher Vorteil besteht, dieser aber keinen entscheidenden Pluspunkt für den Theorienvergleich markiert.⁴⁵ Insofern würde also zugegeben, dass sich eine objektive Theorie gegenüber einer subjektiven Theorie im Vorteil befindet, wenn es um eine intuitiv adäquate Rekonstruktion der alltäglichen Redeweise über das ethisch Gute geht. Gleichzeitig wird aus dieser dialektischen Lage aber nicht der Schluss gezogen, dass es sich bei der objektiven Theorie um die Default-Position handelt, die so lange gerechtfertigt ist, bis eine überzeugende interne Kritik gegen sie vorgebracht wurde. Folgt man dieser Strategie, wird man vielmehr davon ausgehen, dass die Symmetrie in der Beweislast bereits wiederhergestellt wird, wenn eine zusätzliche Erklärungsarbeit vonseiten der subjektiven Theorie geleistet würde. Diese beinhaltet dann zum Beispiel eine Erklärung, (i) was wir eigentlich mit unserer Rede über das ethisch Gute meinen, (ii) wie die Genese der falschen Redeweise verlaufen ist und (iii) wie wir mit dem so durchschauten Irrtum umgehen sollen. Ein zweites Desiderat resultiert aus dem methodischen Vorgehen im dritten Abschnitt dieses Beitrages. Dort wurden Möglichkeiten aufgezeigt, wie die objektive Theorie mit denjenigen Einwänden umgehen kann, die häufig gegen sie angeführt werden. Dabei wurde der Fokus breit angelegt. Es wurden nicht lediglich ein oder zwei, sondern fünf Beispiele herausgegriffen, um die Leistungsfähigkeit der objektiven Theorie zu demonstrieren. Eine solche Vorgehensweise
45 Vgl. für eine Erläuterung dieser Strategie Schaber 1997, 38. Für eine Kritik siehe Halbig 2007, Kap. 4.3.
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provoziert daher die Rückfrage, ob die Auseinandersetzung mit den möglichen ,Winkelzügen‘ des Objektivismus hinreichend ist, um die Erfolgsaussichten der objektiven Theorie angemessen einschätzen zu können. Auf beide Desiderata lässt sich Folgendes replizieren: Es sollte in diesem Beitrag nicht gezeigt werden, dass die objektive Theorie eine alles in allem überzeugende Theorie darstellt. Dieses Ziel wäre schlicht zu ambitioniert. Vielmehr sollte es lediglich darum gehen, die systematischen Orte aufzuzeigen, an denen mögliche Ressourcen für ihre Ausarbeitung zu erwarten sind. Es ist daher nicht überraschend, dass ausgehend von dieser Zielsetzung offene Fragen zurückbleiben, wenngleich ich mit Blick auf ihre grundsätzliche Lösbarkeit optimistisch bin. Dass sich dieser Optimismus aber auch auf der Ebene der philosophischen Reflexion rechtfertigen lässt, muss durch weitere Überlegungen entschieden werden. Was besagt nun all dies mit Blick auf die Frage nach der Leistungsfähigkeit der objektiven Theorie des guten Lebens? Zunächst sollte nicht der Eindruck entstehen, dass durch die Auflistung der ,offenen Enden‘ dieses Beitrages die vorangegangenen Überlegungen ergebnislos geblieben seien. Denn gehen meine Überlegungen in die richtige Richtung, dann besteht kein Grund, einer objektiven Theorie mit einer übertriebenen Skepsis zu begegnen. Ihr explanatorisches Potenzial ist weitaus höher als häufig angenommen wird.Warum sollte eine objektive Theorie daher nicht zum Gegenstand eines ausführlichen Theorienvergleichs gemacht werden? Dieser würde dann sicherlich auch die obigen Desiderata berücksichtigen müssen: Zum einen sind dies methodologische Fragen zu den zentralen Adäquatheitskriterien in der Metaethik im Allgemeinen und insbesondere zum Verhältnis von angemessener Theorie und Alltagspraxis im Speziellen. Zum anderen sind dies inhaltliche Fragen, die sich auf die Ontologie und Erkenntnistheorie für das ethisch Gute beziehen, und diejenigen, die die Rolle und Bedeutung von normativer Individualität und Selbstbestimmung für das gute Leben zum Gegenstand haben. Diese Fragen in den Blick zu nehmen, ist für eine objektive Theorie ein ambitioniertes Projekt. Aber ein Projekt, so sollte deutlich geworden sein, das es wert wäre, verfolgt zu werden.
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4 Eine objektive Theorie des guten Lebens 4.1 Einleitung Verschiedene Arten von Dingen werden als gut für Personen bezeichnet: a) Zustände, in denen sich Personen befinden (‚er fühlt sich zur Zeit sehr wohl‘); b) Dinge, die ihnen widerfahren (‚es ist gut für sie, dass ihr dieser Preis zugesprochen wurde‘); c) Phasen ihres Lebens (‚er hat eine glückliche Kindheit erlebt‘) und schliesslich d) das ganze Leben einer Person (‚sie hat ein gutes Leben geführt‘). So unterschiedlich diese Dinge sind, sie alle werden positiv bewertet, wenn sie gut genannt werden. Was aber heisst es, dass solche Dinge gut sind für Personen? Wann können wir berechtigterweise davon reden, dass etwas gut ist für eine Person? Das ist die Frage, um die es nachfolgend gehen wird. Es soll dabei für eine objektive Theorie des guten Lebens argumentiert werden. Subjektive Theorien des guten Lebens, so die These, erfüllen die Bedingungen nicht, die an eine normative Theorie des guten Lebens zu stellen sind. Doch wonach fragen wir überhaupt, wenn wir danach fragen, ob etwas gut ist für eine Person? Dass das nicht klar ist, zeigt sich an einer Bemerkung, die der englische Philosoph Bertrand Russell in einem Interview kurz vor seinem Tod gemacht hat.¹ Auf die Frage eines Journalisten, ob er denn ein gutes Leben geführt habe, antwortete er sinngemäss, das könne man jetzt noch nicht sagen, das hänge davon ab, ob sein Kampf gegen den Nuklearkrieg erfolgreich gewesen sei. Aber kann die Qualität eines Lebens, so fragt man sich, von Fakten abhängig sein, die eine Person selbst nie erleben wird? Hier bedarf es einer begrifflichen Klärung. Kann etwas als gut für eine Person bezeichnet werden, das mit dem, was sie selbst erfährt und ist, nichts zu tun hat? Was kann sinnvollerweise als gut für eine Person betrachtet werden? Die Schwierigkeit, welche mit Russells Bemerkung verbunden ist, besteht darin, dass das, was gut ist für eine Person, etwas mit ihr zu tun haben sollte. Ob etwas gut oder schlecht ist, muss einen Unterschied für die Person selbst ausmachen.² Es sollte sich dabei um etwas handeln, das – so eine verbreitete Intuition – ihr selbst prinzipiell zugänglich ist. Wenn wir davon ausgehen, dass Russell
1 Vgl. Griffin 1986, 23. 2 Siehe Kagan 1992, 180: „But if something is to make a difference to my level of well-being it must make a difference to me. The facts that constitute my being well-off must be facts about me.“
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selbst nie erfahren wird, ob das, wofür er sich eingesetzt hat, in Erfüllung gehen wird, kann das auch keinen Einfluss darauf haben, ob sein Leben gut oder schlecht verlaufen ist. Das heisst nicht, dass etwas, was gut ist für eine Person, von ihr selbst eo ipso auch als gut bewertet werden muss. Es muss allerdings von ihr als gut bewertet werden können. Diese positive Bewertung sollte Teil ihres Lebens sein können. Es wird im Folgenden davon ausgegangen, dass eine Theorie dessen, was es heisst, dass etwas gut ist für eine Person, unter dieser Einschränkung steht. Das, was von der Theorie als gut für Personen identifiziert wird, sollte etwas sein, zu dem die Personen selbst in ihrem Leben prinzipiell Zugang haben.
4.2 Bewertung und Deliberation Bevor wir auf die Frage, was ein für Menschen gutes Leben ist, eingehen, sollten wir klären, welche Rolle eine solche Theorie des guten Lebens im Leben von Personen spielen kann und soll. Es geht genauer um die Klärung dessen, was es für Menschen bedeutet, zu wissen, dass etwas für sie gut oder schlecht ist. Mit den Ausdrücken ‚gut‘ und ‚schlecht‘ werden generell Dinge bewertet. Bewertungen weisen uns auf Gründe hin.Wenn etwas gut ist für eine Person, dann liefert ihr das Gründe. Wozu aber liefert ihr das Gründe? Die Frage stellt sich, weil hier unterschiedliche Antworten gegeben werden können. Man kann sagen: Dinge, die gut sind für eine Person, liefern ihr Gründe dafür, bestimmte Einstellungen gegenüber diesen Dingen zu haben. Wenn es gut für mich ist, dass ich die Gelegenheit erhalte, ein Buch zum guten Leben zu schreiben, dann sollte ich mich darüber freuen. Und umgekehrt sollte ich über das, was schlecht ist für mich, betrübt sein. Nun ist es naheliegend, im Blick auf diejenigen Dinge, welche gut sind für mich und auf die ich gleichzeitig einen Einfluss haben kann, zugleich als Gründe zum Handeln und Unterlassen zu betrachten. Wenn es gut für mich ist, mehr Sport zu treiben, dann habe ich auch Grund, das zu tun. Die Gründe, die uns das, was gut ist, liefert, können dabei natürlich durch gewichtigere Gründe aufgewogen werden. Es kann sein, dass ich gewichtigere Gründe habe, mich statt dem Sport meiner beruflichen Tätigkeit zu widmen. Das, was gut ist, liefert uns aber in jedem Fall pro tanto-Gründe für Einstellungen wie auch für Handlungen und Unterlassungen. Die Gründe zum Handeln sind dabei Gründe, die uns, so könnte man sagen, in unserem Nachdenken über unser Tun und Lassen, leiten sollten. Praktische Reflexion ist ein Nachdenken über die Gründe zum Handeln. Hier sollten nicht bloss die Gründe, die darauf beruhen, was gut ist für uns, eine Rolle spielen, sondern auch die Gründe, die uns die Moral liefert. Wenn es aber darum geht, zu be-
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stimmen, was das für mich selbst Beste ist, sollten allein die Gründe, die auf dem persönlichen Gut beruhen, leitend sein. Letzteres ist allerdings vor dem Hintergrund des berühmten Paradox des Hedonismus umstritten. Nehmen wir – um die Schwierigkeit zu verdeutlichen – an, Zustände subjektiven Wohlergehens wären das, was für Personen gut ist, dies die Kernthese einer hedonistischen Theorie des guten Lebens. Das Paradox des Hedonismus besagt: Wir steigern die Chancen, ein in diesem Sinn gutes Leben zu führen, wenn wir uns in der praktischen Reflexion darüber, was wir tun sollten, nicht am subjektiven Wohl, sondern an anderen Dingen orientieren.³ Erwartbares subjektives Wohl sollte von uns nicht als Grund zum Handeln gesehen werden. Wer ein gutes Leben führen will, wird andere Dinge als Gründe sehen. Aber nehmen wir an, subjektives Wohlergehen wäre das, was für Personen gut wäre und eine bestimmte Tätigkeit würde mir solches Wohlergehen versprechen. Wäre das dann für mich kein Grund, die Tätigkeit auszuführen? Wenn es richtig ist, dass die fragliche Tätigkeit gut ist für mich und ich auch weiss, dass dies so ist, dann habe ich einen Grund, entsprechend zu handeln. Was würde es sonst heissen, dass es gut ist für mich? Es wäre eigenartig zu sagen, x zu tun, wäre gut für mich, aber ich habe keinen Grund, x zu tun. Wenn ich bestreiten würde, einen Grund zu haben, x zu tun, dann würde ich auch bestreiten, dass das gut für mich ist. Bedeutet das, dass ich nicht in der Lage bin, ein Leben zu führen, das besser für mich wäre, würde ich mich nicht am subjektiven Wohlergehen orientieren? Das ist zunächst eine empirische Frage, die nicht leicht zu beantworten sein wird. Aber wenn wir annehmen, es wäre so, hiesse das nicht, dass uns subjektives Wohlergehen keine Gründe zum Handeln liefern würde. Es hiesse bloss, dass wir vielleicht besser leben würden, wenn wir diese Konzeption eines guten Lebens für falsch hielten, wenn wir also bestreiten würden, dass sich ein gutes Leben am darin erfahrenen subjektiven Wohlergehen bemisst. Wenn wir diese Theorie aber für richtig halten, sehen wir das subjektive Wohlergehen auch als das, was uns Gründe für unser Tun und Lassen liefert. Dass wir vielleicht insgesamt weniger subjektives Wohlergehen erfahren, wenn wir das tun, ändert nichts daran, dass es das ist, woran wir uns in unserem Handeln orientieren sollten. Dies jedenfalls dann, wenn es sich dabei um die richtige Theorie des guten Lebens handelt. Sie als die richtige Theorie des guten Lebens zu bezeichnen, heisst, subjektives Wohlergehen sowohl als Grund für Einstellungen, als Grund zum Handeln und auch als Grund, sich für gewisse Dinge zu entscheiden, zu sehen.
3 Vgl. Sidgwick 1907, 48: „Here comes into view what we may call the fundamental paradox of Hedonism, that the impulse towards pleasure, if too predominant, defeats its own aim.“
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4.3 Subjektive Theorien Was heisst es nun aber nun, dass etwas gut ist für Personen? Es gibt eine Fülle von unterschiedlichen Antworten auf diese Frage. Eine wichtige Unterscheidung von Antworttypen, die in der Diskussion eine wichtige Rolle spielen, ist die zwischen subjektiven und objektiven Theorien des guten Lebens.⁴ Und in der Tat lässt sich m. E. an dieser Unterscheidung deutlich machen, worum es in der Debatte um das gute Leben von Menschen zentral geht. Was ist unter einer subjektiven und was unter einer objektiven Theorie des guten Lebens zu verstehen? Wenden wir uns zunächst der subjektiven Theorie des guten Lebens zu. Subjektive Theorien leben von der Intuition, dass etwas nicht gut sein kann für eine Person, ohne dass die betroffene Person selbst davon etwas mitbekommen würde.⁵ Es kann nicht sein, dass ein Leben gut verläuft und die Person selbst davon nichts merkt oder gar selbst als schlecht einschätzt. Es wäre doch sonderbar, wenn man sagen würde: ‚Paul hat ein wunderbares Leben gelebt, obwohl er es selbst für ein sehr schlechtes Leben hielt‘. Sonderbar wäre das nicht zuletzt im Blick auf die oben formulierte Einschränkung, dass das, was gut ist, auch als solches der betroffenen Person zugänglich sein muss. Nach einer radikalen Version einer subjektiven Theorie des guten Lebens wäre etwas genau dann gut für eine Person, wenn sie den fraglichen Gegenstand selbst als gut bewertet. Damit wird man sich als Vertreter einer subjektiven Theorie allerdings nicht zufriedengeben können. Nehmen wir an, Paul ist überzeugt, dass es für ihn gut ist, wenn er einer Einladung an eine Party folgt. Er wäre allerdings nicht dieser Meinung, wüsste er, was ihn an dieser Party erwartet. Gut – so die entsprechend revidierte Version einer subjektiven Theorie, von der im Folgenden die Rede sein wird – ist etwas für eine Person bloss dann, wenn sie den fraglichen Gegenstand unter der Bedingung für gut hält, dass sie über die relevanten Fakten richtig informiert ist. Die Bewertung darf darüber hinaus auch nicht das Resultat kognitiver Fehler sein. Wenn Paul fälschlicherweise glauben würde, an der Party würde Musik gespielt und er bloss deshalb meint, zur Party zu gehen wäre gut für ihn, beruhte die Bewertung nicht auf mangelnder Information, sondern auf einer falschen Überzeugung. Man könnte entsprechend sagen, dass etwas dann und nur dann gut ist für eine Person, wenn sie (a) den fraglichen Gegenstand für gut hält, und wenn sie (b) die relevanten Informationen besitzt und (c) im Blick auf den Bewertungsgegenstand keine falschen Überzeugungen hat. Etwas ist also nach einer subjektiven Theorie gut für eine Person, wenn sie unter kognitiv vorteilhaften
4 Vgl. Sumner 1996, 27. 5 Vgl. Sumner 1996, 42.
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Bedingungen von der betroffenen Person für gut gehalten wird. Für subjektive Theorien ist die Idee einer Bewertungssouveränität der jeweils betroffenen Person zentral. Die Bewertungen von Personen kommen in Einstellungen zum Ausdruck. Man hält x für gut und ist entsprechend motiviert, unter den geeigneten Umständen sich für x zu entscheiden oder sich dafür einzusetzen, dass x bestehen bleibt. Die Bewertungen sind subjektiven Theorien zufolge mit entsprechenden Handlungsmotivationen verbunden, da sie keine genuinen Überzeugungen darstellen, die richtig oder falsch sein können. Die Bewertung geht der Einstellung nicht voraus. Sie bringt vielmehr eine Einstellung zum Ausdruck.Wir werden auf diesen Punkt in Abschnitt 4.6 zurückkommen. Dabei sind die Bewertungen einer Person genau dann motivational wirksam, wenn die Person rational ist.
4.4 Objektive Theorien Wenden wir uns den objektiven Theorien des guten Lebens zu. Nach objektiven Theorien des guten Lebens können Dinge gut sein für Personen, ohne dass sie von ihnen auch für gut gehalten werden.⁶ Dies gilt diesen Theorien zufolge – und darin unterscheiden sie sich von subjektiven Theorien – auch dann, wenn weder mangelnde Information noch falsche Überzeugungen dafür ausschlaggebend sind, dass jemand etwas für gut hält. So könnte es sein, dass es für Paul gut wäre, zur Party zu gehen, er das aber nicht so sieht, obwohl er weiss, was ihn an der Party erwarten würde. Objektive Theorien gehen davon aus, dass Menschen im Blick auf das gute Leben nicht bloss Opfer von kognitiven Defiziten und Fehlern, sondern auch von genuin evaluativen Fehlern sein können. Paul könnte z. B. fälschlicherweise glauben, dass es schlecht ist, wenn an Partys keine Musik gespielt wird und deshalb nicht hingehen. Eine andere Person könnte fälschlicherweise meinen, die Beziehung mit ihrem Partner sei gut für sie. Dies – so objektive Theorien – muss nicht auf kognitive Fehler und Defizite zurückzuführen sein. Es kann auch einfach sein, dass eine Person die falschen evaluativen Überzeugungen hat und sich an ihnen orientiert. Die zentrale These objektiver Theorien lautet entsprechend: Das,was eine Person für gut hält, ist dann für sie gut,wenn sie sich in ihrem Tun und Lassen weder an kognitiven, noch an evaluativen Irrtümer orientiert.
6 Vgl. Sumner 1996, 38: „On an objective theory […] something can be (directly and immediately) good for me though I do not regard it favourably, and my life can be going well despite my failing to have any positive attitude toward it.“
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Eine solche objektive Theorie vertritt man beispielsweise dann, wenn man das, was gut ist, an der Idee eines typisch menschlichen Lebens festmacht.⁷ Menschen zeichnen sich, so kann man argumentieren, durch bestimmte Fähigkeiten aus. Diese Fähigkeiten ausüben zu können, ist das, was ein Leben gut macht. Schlecht für Menschen ist entsprechend alles, was sie daran hindert oder was sie selber tun, um sie nicht ausüben zu können.Wer wesentliche menschliche Fähigkeiten nicht ausübt, lebt ein schlechtes Leben, unabhängig davon, ob er selbst es für gut hält oder nicht. Eine objektive Theorie vertritt man auch, wenn man bestimmte Güter für gut hält, ohne dies an eine Theorie einer typisch menschlichen Lebensform festmachen zu müssen. So kann man sagen, dass glücklich zu sein gut ist für Menschen. Das hat mit Eigenschaften dessen zu tun, was es heisst, glücklich zu sein. Wer weiss, was es heisst glücklich zu sein, sieht auch, dass es gut ist, sich in einem solchen Zustand zu befinden und dass er Gründe hat, nach solchen Zuständen zu streben oder sie, wenn er sich schon darin befindet, zu erhalten. Man kann hier andere Güter wie Freundschaft, beruflichen Erfolg, Autonomie und Wissen hinzunehmen und sagen, dass ein Leben gut verläuft, wenn Menschen Zugang zu diesen Gütern haben.⁸ Objektiven Theorien zufolge sind es die Eigenschaften von Zuständen und Aktivitäten, welche Dinge für uns gut machen. Diese Eigenschaften liegen unabhängig davon vor, ob sie von den betroffenen Personen für gut gehalten werden oder nicht. Genau das ist es, was subjektive Theorien bestreiten. Personen halten nach diesen Theorien Dinge aufgrund von bestimmten Eigenschaften für gut. Aber es sind nicht die Eigenschaften, welche die Dinge gut machen. Zumindest würden sie etwas nicht gut für eine Person machen, wenn sie nicht von der betroffenen Person unter kognitiv vorteilhaften Bedingungen für gut gehalten würde. Objektiven Theorien zufolge kann genau das der Fall sein.
4.5 Was für objektive Theorien spricht So viel zur näheren Bestimmung dessen, was es heisst, eine subjektive und eine objektive Theorie des guten Lebens zu vertreten. Welche Theorie sollte man vorziehen? Eine objektive Theorie des guten Lebens ist genau dann richtig, wenn man falsche evaluative Überzeugungen haben kann, die das eigene Leben betreffen.
7 So z. B. Nussbaum 2006, 74 ff. 8 Vgl. Kagan 1992, 170: „Being well-off is simply a matter of one’s having the various goods. These might include not only pleasure, but also, for example, friendship, fame, knowledge, or wealth.“
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Was spricht für diese Auffassung? Zunächst spricht dafür die Weise, wie sich uns diese Dinge in unserer alltäglichen Praxis präsentieren. Wir haben positive Einstellungen gegenüber bestimmten Dingen, weil wir glauben, dass sie gut sind. Und wir glauben auch, Gründe zu haben, uns für gewisse Dinge zu entscheiden, weil und sofern sie gut sind. Den Grund, Freunde zu haben, sehen wir nicht darin, dass wir glauben, das sei gut für uns, sondern darin, dass es für uns gut ist. So jedenfalls stellt sich die Sache aus der Sicht der ersten Person dar. Wir meinen Gründe für Einstellungen zu haben,weil oder sofern die Objekte dieser Einstellungen gut sind. Und wir unterstellen, dass das unabhängig davon der Fall ist, ob wir sie auch für gut halten. Wir können Dinge für gut halten, die nicht gut sind. Zudem beurteilen wir in unserem Alltag unser eigenes Leben wie auch dasjenige anderer Menschen im Lichte evaluativer Überzeugungen. Weil Gerda von Paul seelisch ausgebeutet wird, halten wir ihre Beziehung zu Paul für schlecht. Gerda bestreitet dies und entsprechend auch, dass die Beziehung zu Paul für sie schlecht sei. Sie könnte auch der Ansicht sein, sie werde zwar ausgebeutet, trotzdem sei die Beziehung für sie gut. Solche Diagnosen müssen an unserer negativen Bewertung nichts ändern. Unsere Bewertung der Beziehung muss dabei nicht davon ausgehen, dass Gerda über relevante Aspekte der Beziehung nicht informiert noch dass sie Opfer falscher nicht-evaluativer Überzeugungen ist. Gerda bewertet die Fakten falsch. Das ist der Fehler, den sie begeht. Sie sieht nicht, so können wir sagen, dass sie von Paul ausgebeutet wird und die Beziehung entsprechend schlecht für sie ist. Oder sie sieht das zwar, aber sie sieht nicht, dass das ein guter Grund ist, die Beziehung negativ zu bewerten. Genau das ist es, was objektive Theorien behaupten: Es gibt genuine evaluative Irrtümer. Wir können in Bezug auf das, was für uns gut und schlecht ist, falsch liegen, auch wenn wir um alle relevanten Fakten wissen.
4.6 Persönliche Gründe und evaluative Überzeugungen Was lässt sich für subjektive Theorien des guten Lebens vorbringen? Viele meinen, dass es das Scheitern objektiver Theorien des guten Lebens sei, das für subjektive Theorien spricht. Wenn, wie viele meinen, die zentrale These objektiver Theorien falsch ist, bleiben einzig subjektive Theorien als akzeptable Alternativen. Es sind dabei, soweit ich das sehe, zwei Einwände, die sich gegen objektive Theorien des guten Lebens vorbringen lassen. Zunächst lässt sich bezweifeln – so der erste Einwand –, dass es falsche und wahre evaluative Überzeugungen im Blick darauf geben kann, was für Personen
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selbst gut oder schlecht ist. Wer diesen Einwand vorbringt, muss nicht bestreiten, dass es generell falsche und wahre evaluative Überzeugungen geben kann, sondern bloss, dass es solche geben kann, die sich auf die Qualität des eigenen Lebens bezieht. Die Gründe, auf dem dieser Einwand beruht, haben mit der Subjektrelativität zu tun, von der wir eingangs gesprochen haben. Man kann aber auch ganz generell bestreiten – so der zweite Einwand – dass es falsche und wahre evaluative Überzeugungen geben kann und so auch die evaluativen Überzeugungen in Frage stellen, die das eigene Leben betreffen. Das ist der grundlegende metaethische Einwand. Betrachten wir zunächst den ersten Einwand. Wenn etwas gut ist für eine Person, muss es mit der Person etwas zu tun haben. Denn nur dann kann man erklären, dass etwas für diese Person gut ist. Es wäre sonderbar, wenn etwas gut für Paul wäre, Paul davon aber nichts wüsste und er auch davon nichts wüsste, wenn er alle relevanten Fakten kennen würde. Objektive Theorien können dies – und darin liegt das Problem – allerdings nicht ausschliessen. Wenn Pauls evaluative Überzeugungen völlig falsch wären, könnte er ein gutes Leben führen, es selbst aber gleichzeitig für ein sehr schlechtes Leben halten. Subjektive Theorien sind, so kann man argumentieren, im Unterschied zu objektiven Theorien in der Lage, der Idee der Subjektrelativität des guten Lebens Rechnung zu tragen. Eine subjektive Theorie macht das, was gut ist für Personen an den Einstellungen fest, die sie unter kognitiv idealen Bedingungen haben. Ihre Bewertungen kommen in diesen Einstellungen zum Ausdruck. Es kann so nicht sein, dass das, was gut ist für eine Person, nichts mit ihr zu tun hat. Gut für sie ist das, was ihren Einstellungen entspricht, wenn sie sich über die relevanten Fakten nicht irrt. Damit lässt sich auch dem Faktum Rechnung tragen, dass für verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge gut sein können. Während für Gerda die Beziehung mit Paul gut sein könnte, wäre sie für Anna schlecht. Wie die Beziehung für Gerda bzw. für Anna ist, hängt nach einer subjektiven Theorie von den Einstellungen ab, die die beiden jeweils haben, und diese müssen sich nicht entsprechen. So der erste Einwand. Ist das ein Grund, objektive Theorien zurückzuweisen? Bewertungen kommen in Einstellungen zum Ausdruck. Einstellungen stellen, so die Idee, den Subjektbezug her. Etwas ist gut für Paul heisst: er hat dazu eine positive Einstellung. Es ist allerdings unklar, wieso wir uns auf Einstellungen beziehen müssen, um einen Subjektbezug herzustellen. Man kann zugeben, dass das, was gut ist für Personen, etwas mit dem zu tun haben muss, was Personen sind. Einstellungen sind Eigenschaften von Personen. Was aber privilegiert Einstellungen im Blick auf das, was gut ist für Personen? Diese Frage stellt sich insbesondere deshalb, weil der Subjektbezug über andere Eigenschaften von Personen hergestellt werden kann. Eigenschaften dieser Art sind z. B. Eigenschaften von Personen, die mit ihren
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Fähigkeiten und Begabungen zu tun haben. Dinge können gut sein für Personen, weil sie es ihnen ermöglichen, die dafür erforderlichen Fähigkeiten auszuüben. Das ist z. B. der Grund, wieso wir unmusikalischen Menschen abraten, eine Karriere als Geiger zu verfolgen. Dies tun wir nicht bloss, um die Welt vor kakaphonischen Tönen zu verschonen, sondern auch deshalb, weil wir glauben, dass die betroffene Person damit nicht glücklich werden wird. Und wir würden ihre mögliche Überzeugung, eine Karriere als Geiger wäre gut für sie, für falsch halten. Subjektive Theorien des guten Lebens könnten dem zustimmen und sagen: Wenn er informiert wäre über das, was es für ihn heisst, eine Geigerkarriere zu verfolgen, würde er nicht mehr motiviert sein, dies zu tun. Aber selbst wenn er es gegen alle Erwartungen des Vertreters der subjektiven Theorie des guten Lebens weiterhin wünschen würde, würden viele seine Überzeugung, es sei gut für ihn, für falsch halten. Eine von den subjektiven Theorien abweichende Einschätzung dieser Art lässt sich auch gut rechtfertigen. Denn es ist unklar, was Einstellungen in diesem Zusammenhang normativ austragen. Ob eine Karriere als Geiger für die betroffene Person gut ist, hängt von Fakten ab, die unabhängig von seinen Einstellungen der Fall wären: z. B. der Frustration, die er regelmässig erfahren würde, der mangelnden Beachtung, unter der er leiden würde oder auch dem Hohn und Spott, den er möglicherweise über sich ergehen lassen müsste. Einer subjektiven Theorie folgend könnte man sagen: Wenn die betroffene Person um diese Dinge weiss, wird sie die Geigerkarriere auch nicht mehr als für sie erstrebenswert ansehen. Das ist richtig. Allerdings würde sie das genau deshalb nicht mehr tun, weil sie sehen würde, dass aufgrund dieser Fakten eine Geigerkarriere für sie schlecht ist. Ihre Einstellungen würden – wenn alles gut läuft – diesen evaluativen Fakten Rechnung tragen. Als Vertreter einer objektiven Theorie kann man an der Auffassung, dass das, was gut ist für Personen, etwas mit ihnen zu tun haben muss, festhalten. So kann es sein, dass die Geigerkarriere nicht gut für Paul ist, weil er unmusikalisch ist. Umgekehrt könnte es sein, dass eine Geigerkarriere gut wäre für Anna,weil sie sehr musikalisch ist und sich bei den ersten Versuchen mit der Geige als äusserst talentiert erwiesen hat. Und so wäre es für Anna gut und für Paul schlecht, sich für eine Geigerkarriere zu entscheiden. Das evaluative Faktum beruht in beiden Fällen auf Eigenschaften der betroffenen Personen. In beiden Fällen würden wir das Bestehen des evaluativen Faktums allerdings nicht daran festmachen, dass die betroffenen Personen eine entsprechende Einstellung haben. Man muss m. a. W. nicht auf Einstellungen Bezug nehmen, um der Idee der Subjektrelativität dessen, was gut ist für Personen, Rechnung tragen zu können.
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4.7 Evaluative Irrtümer? Der zweite und allgemeinere Einwand gegen eine objektive Theorie des guten Lebens richtet sich gegen die Idee, es gebe evaluative Irrtümer. Man kann ganz generell bestreiten, dass es evaluative Überzeugungen gibt, die wahr oder falsch sind. Wenn jemand sagt, Geige zu spielen sei gut für ihn, bringt er damit, so kann man argumentieren, nichts anderes als seine positive Einstellung gegenüber der besagten Aktivität zum Ausdruck. Darin kann man sich nicht irren. Einstellungen sind nicht Dinge, die wahr oder falsch sind, sondern vielmehr Dinge, die man hat oder nicht hat. So hat man dem Geigenspiel gegenüber eine bestimmte Einstellung. Man kann zur Kenntnis nehmen, welche Einstellung eine andere Person dem Geigenspiel gegenüber hat. Es ist der Fall, dass eine Person dem Geigenspiel gegenüber eine positive Einstellung hat. Darin irrt sie sich nicht, weil Einstellungen keine Irrtümer sein können. Sie können auf Irrtümern beruhen, aber keine Irrtümer darstellen. So der zweite, allgemeinere Einwand. Gibt es keine evaluativen Irrtümer? Betrachten wir dazu Folgendes: Paul meint, es sei gut für ihn, Geige zu spielen. Er glaubt das, weil diese Aktivität bestimmte Eigenschaften hat. Das sind die Eigenschaften, die in seiner Begründung, wieso diese Aktivität gut für ihn ist, genannt werden. ‚Das Geigenspielen beruhigt mich und lässt mich meine beruflichen Probleme vergessen‘. Es sind zwei Arten von Eigenschaften, die hier eine Rolle spielen können: a) nicht-evaluative und b) evaluative Eigenschaften. Erstere werden in rein deskriptiven Begriffen beschrieben; letztere bringen wir mit einem evaluativen Vokabular zur Sprache. Für subjektive Theorien können allerdings bloss nicht-evaluative Eigenschaften eine begründende Rolle spielen.Wenn man sich, wie die subjektive Theorie unterstellt, in Bezug auf die Eigenschaften aufgrund derer man Dinge wählt, irren kann, muss es sich dabei um nicht-evaluative Eigenschaften handeln. Damit ist aber folgendes Problem verbunden. Zwischen den Eigenschaften und der Bewertung scheint eine normative Beziehung zu bestehen. Es ist jedoch unklar, was nicht-evaluative Eigenschaften bedeutsam macht. Wieso können nicht-evaluative Eigenschaften Gründe liefern? Wieso ist der Umstand, dass das Geigenspiel beruhigt, möglicherweise normativ bedeutsam, der Umstand aber, dass die Geige im Antiquitätenladen gekauft wurde, nicht? Man könnte sagen, dass es der Umstand ist, dass Paul die Eigenschaften schätzt, die sie normativ bedeutsam machen. Dann sind aber nicht die Eigenschaften normativ bedeutsam, sondern der Umstand, dass sie positiv bewertet werden. Die Eigenschaften lösen bei Paul positive Einstellungen aus. Die Eigenschaften sind nicht die Gründe der positiven Einstellung, sondern das, was die Einstellungen als Reaktion auf die Eigenschaften ermöglicht. Wenn die Eigenschaften vorliegen, dann findet Paul eine positive Einstellung in sich vor. Das ist
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der Mechanismus, den eine subjektive Theorie des guten Lebens beschreibt. Der Zusammenhang zwischen Eigenschaften und Einstellungen wird dann aber nicht normativ verstanden. Er stellt kein Begründungsverhältnis, sondern höchstens einen Kausalzusammenhang dar. Normativ bedeutsam sind einer subjektiven Theorie zufolge allein die Einstellungen, die bei Personen hervorgerufen werden. Weshalb aber soll der Umstand, dass jemand eine positive Einstellung hat, selbst als normativ bedeutsam betrachtet werden? Dass jemand eine positive Einstellung etwas gegenüber hat, ist ein Faktum in der Welt, das wir zur Kenntnis nehmen können. Wie aber kann das Faktum, dass Paul x für gut hält, als Grund für die Ansicht, dass x für Paul gut ist, gesehen werden? Daraus, dass er x für gut hält, folgt nicht, dass es für ihn gut ist. Zudem ist dann auch unklar, wieso eine Person – was von allen subjektiven Theorien behauptet wird – allein unter kognitiv vorteilhaften Bedingungen das für gut hält, was gut für sie ist. Nehmen wir an, das Geigenspiel hätte noch eine weitere Eigenschaft, von der Paul aber nichts weiss, z. B. dass der Nachbar über sein Geigenspiel lacht. Die Eigenschaft ist relevant für Pauls Einstellung, weil er sein Geigenspiel nicht mehr in derselben Weise bewerten würde, wüsste er um die Reaktion seines Nachbarn, auf dessen Urteil er sehr viel Wert legt. Aber nehmen wir an, er würde das nie erfahren und sein Geigenspiel nach Massgabe der beiden genannten Eigenschaften bis zum Ende seiner Tage positiv bewerten. Die Standardversion der subjektiven Theorie würde in einem solchen Fall sagen, dass das Geigenspiel nicht gut ist für Paul.Was aber rechtfertigt eine solche Einschätzung? Klar, Paul würde die Aktivität nicht mehr in der gleichen Weise bewerten, würde er um die anderen Eigenschaften wissen. Auf die Eigenschaften, um die er weiss, reagiert er positiv. Man müsste also sagen: Geige zu spielen, ist für Paul gut,wenn er die beiden Eigenschaften wahrnimmt, nicht gut aber dann, wenn er darüber hinaus auch noch die weitere Eigenschaften wahrnehmen würde. Aber wieso soll das Geigenspiel im ersten Fall auch nicht gut sein für ihn? Was man aus der Perspektive einer subjektiven Theorie sagen kann, ist dies, dass Paul positiv reagiert, wenn er dies weiss und negativ, wenn er noch mehr weiss. Wieso sollten wir die Bewertung davon abhängig machen, dass Paul vollständig über den Gegenstand informiert ist? Was wir sagen können, ist nicht mehr, als dass unterschiedliche Bewertungen bei unterschiedlichem Wissensstand vorliegen. Wieso aber soll eine Bewertung nicht als angemessen angesehen werden, die auf mangelndem Wissen beruht? Eine subjektive Theorie müsste in solchen Fällen sagen: Das Geigenspiel ist dann eben gut für Paul. Bewertungen von Dingen, über die die betroffene Person mangelhaft informiert ist, liessen sich dann nicht kritisieren. Man könnte bloss noch sagen: Das ist die Weise, wie eine Person, die so viel über den Gegenstand weiss, den Gegenstand bewertet. Sie würde den Ge-
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genstand anders bewerten, würde sie auch die andere Eigenschaft kennen. Aber wieso soll dieser Informationsstand den Bewertungsstandard darstellen? Die subjektive Theorie stellt fest, dass bestimmte Dinge positiv, andere negativ bewertet werden. Damit sagt man aber nichts darüber aus, was gut oder schlecht ist für Personen. Eine Theorie, die das allerdings nicht tut, ist keine normative Theorie des guten Lebens. Sie stellt bloss einen empirischen Zusammenhang fest zwischen Bewertungen und Dingen, die bewertet werden. ‚Gegenüber diesen Eigenschaften hat Person x eine positive Einstellung‘, oder dann in der kontrafaktischen Version: ‚Gegenüber diesen Eigenschaften hätte Person x eine positive Einstellung, würde sie sie wahrnehmen‘. Es ist aber nicht ersichtlich, inwiefern der konstatierte empirische Zusammenhang zwischen Bewertung und Bewerteten eine normative Bedeutung haben soll. Der Zusammenhang mag jeweils bestehen, er sagt allerdings nichts darüber aus, was gut ist für Personen. Wenn evaluative Aussagen (‚es ist gut für mich, x zu tun‘) einfach Einstellungen zum Ausdruck bringen und man an ihnen eine Theorie des guten Lebens festzumachen versucht, ist letzteres nicht mehr als Teil eines normativen Unternehmens zu sehen. Eine Theorie kann uns bloss dann sagen, was gut ist für Personen, wenn sie klarmachen kann, was an den Dingen, die sie für gut hält, normativ bedeutsam ist. Dazu brauchen wir Dinge mit evaluativen Eigenschaften, die uns Gründe für Einstellungen liefern. ‚Ich begrüsse es, x tun zu können, weil x gut ist‘. Die Einstellungen, von denen hier die Rede ist, sind nicht bloss Dinge, die wir haben oder nicht haben, sondern vielmehr Dinge, die begründet oder nicht begründet sein können. Zu sagen, x ist gut, heisst zu sagen, dass es Gründe gibt, die für x sprechen. Und entsprechend gilt, dass wenn x gut ist, es solche Gründe gibt. Diese Gründe müssen durch die Eigenschaften geliefert werden, denen gegenüber man eine positive Einstellung hat.⁹ Wenn das richtig ist, dann bringt man mit evaluativen Aussagen Dinge zum Ausdruck, die bestehen oder nicht bestehen. Die Gründe, die dabei geltend gemacht werden, sprechen für ihr Bestehen. Es kann sein, dass nichts für ihr Bestehen spricht.Wer trotzdem meint, der fragliche evaluative Sachverhalt bestünde, irrt sich. Er wäre dann das Opfer eines evaluativen Irrtums.
9 Dabei kann es sein, dass eine Person Gründe hat, x zu tun und zugleich auch Gründe, y zu tun, ohne dass sich klar sagen liesse, für welche Option die stärkeren Gründe sprechen. Die Gründe könnten ungefähr gleich stark sein. Oder sie könnten inkommensurabel sein. In beiden Fällen müsste man sich einfach entscheiden. Die evaluativen Überzeugungen ‚Es ist gut für mich, x zu tun‘ und ‚Es ist gut für mich, y zu tun‘ wären beide richtig. Dasselbe würde in dem Fall für die Aussage ‚Es ist richtig, einer der beiden Optionen zu wählen‘ gelten; vgl. dazu Raz 1986, 321 ff.
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4.8 Was für uns gut ist Wie wir oben gesagt haben, gibt es unterschiedliche Varianten objektiver Theorien des guten Lebens. Eine Variante macht das, was gut ist für Menschen, an einer typisch menschlichen Lebensform fest, eine andere an intrinsisch wertvollen Gütern, die zu wählen für Menschen gut ist. Allgemein lässt sich dabei folgendes festhalten: Gut ist nach einer objektiven Theorie etwas für eine Person dann, wenn der fragliche Gegenstand evaluative Eigenschaften hat, die der betroffenen Person einen Grund liefern, ihn zu wählen, hervorzubringen oder zu bewahren. Ob solche Gründe vorliegen, hängt nicht von den Einstellungen der Person ab. Eine Person kann Dinge tun, die für sie schlecht sind, weil sie evaluative Überzeugungen hat, die sich auf ihr Leben beziehen und falsch sind. Betrachten wir dazu ein Beispiel: Ist es für Paul gut, an die Party seines besten Freundes zu gehen? Man kann sagen: Das ist genau dann der Fall, wenn der Partybesuch evaluative Eigenschaften besitzt, die Paul nahelegen, zur Party zu gehen. So könnte gelten: Paul wird an der Party anregende Gespräche führen können; er wird ihm bekannte Personen treffen können, mit denen er sich bestens amüsieren wird etc. Das sind mögliche Gründe für Paul, zur Party zu gehen. Ihre Beschreibung ist nicht rein deskriptiver Natur. Sie enthalten vielmehr evaluative Begriffe wie ‚anregend‘ und ‚bestens amüsieren‘. Der Partybesuch hat Eigenschaften, die Paul Gründe liefern: Die Gespräche werden für ihn anregend sein; er wird sich mit ihnen bestens amüsieren können. Auf seinen Kollegen, der auch eingeladen wurde, trifft all dies möglicherweise nicht zu, und entsprechend hätte er auch keinen Grund, zur Party zu gehen. Was gut ist für Paul, kann schlecht sein für Thomas. Das hat nichts mit ihren Bewertungen, sondern vielmehr damit zu tun, welche evaluative Beschreibung des Anlasses aus ihrer Sicht jeweils wahr wäre. In Pauls Beschreibung könnten Begriffe wie ‚anregend‘ ‚höchst amüsant‘, in Thomas’ Beschreibung ‚ödes Philosophieren‘ und ‚schrecklich langweilige Gesprächspartner‘ angemessen sein. Das hat mit Fakten zu tun, welche die beiden Personen betreffen: dem Faktum z. B., dass Paul sich intensiv mit bestimmten Fragen philosophischer Natur beschäftigt und Thomas dies nicht tut. Die Unterschiede haben – allgemein gesprochen – mit dem zu tun, was die Personen jeweils sind und tun. So hat Paul einen Grund, zur Party zu gehen und Thomas eben nicht. Eine in diesem Sinne objektive Theorie des guten Lebens hat auch keine Schwierigkeiten, individuelle Unterschiede im Blick auf das,was für Menschen gut oder schlecht ist, zu erklären. Sie kann der Idee der Subjektrelativität des Guten Rechnung tragen. Das, was gut ist für Personen, ist dem, was sie sind, nicht fremd. Dinge sind gut für sie, weil sie bestimmte Eigenschaften besitzen, weil sie gewisse Talente und Fähigkeiten haben; weil sie bestimmte Projekte verfolgen; weil ihnen bestimmte Dinge wichtig sind. Letzteres ist nicht mit einer subjektiven Bewertung
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zu verwechseln. Dinge sind Personen wichtig aufgrund dessen, was sie sind und auch aufgrund dessen, was sie tun und getan haben. Es kann für mich wichtig sein, ein Buch zum guten Leben, an dem ich lange gearbeitet habe, zum Abschuss bringen zu können. Es würde mir ein Gefühl tiefer Befriedigung geben, wenn mir das gelingen würde. Das wäre auch dann der Fall, wenn ich mir möglicherweise sagen würde, dass das eh nicht wichtig sei und ich mich ja eh mit Theorien des guten Lebens gar nicht hätte beschäftigen sollen. Die Eigenschaften von Personen bilden den Hintergrund, vor dem bestimmte Dinge für Personen evaluative Eigenschaften haben, die ihnen Gründe liefern, sie zu wählen, ihre Existenz zu begrüssen, über ihren Besitz sich zu freuen usw. Das, was objektiv gut ist für Personen, ist gut für einzelne Personen, nicht einfach gut. Eine objektive Theorie des Guten kann nicht bloss der Subjektrelativität Rechnung tragen, sie vermag auch – anders als subjektive Theorien – zu erklären, was es heisst, dass etwas gut für eine Person ist. Subjektive Theorien stellen fest, dass das Vorliegen bestimmter Eigenschaften zu positiven oder negativen Bewertungen führen oder mit positiven oder negativen Bewertungen korrelieren. Objektive Theorien demgegenüber sagen, dass evaluative Eigenschaften auf dem Hintergrund dessen, was Personen sind, Personen Gründe liefern, sie für gut zu halten. ‚X ist gut für Person A‘ besagt: ‚Es gibt Gründe für A, x zu wählen, da x bestimmte evaluative Eigenschaften besitzt‘. Das heisst es, den Subjektbezug eines ‚gut sein für‘ verständlich zu machen. Allein objektive Theorien des guten Lebens sind dazu in der Lage. Und das spricht für sie. Nun kann man einwenden, dass man die Subjektrelativität des Guten noch nicht erklärt hat, wenn man ‚x ist gut für A‘ als ‚Es gibt Gründe für A, x zu tun‘ versteht.¹⁰ Wenn beispielsweise gilt, dass A moralisch verpflichtet ist, andere nicht physisch zu verletzen, dann hat er Gründe, so zu handeln. Diese Gründe sind nicht subjektrelativ, obwohl sie Gründe für A sind. Es sind nicht Gründe, die auf besonderen Eigenschaften A’s beruhen. Es ist richtig, dass prudentielle im Unterschied zu moralischen Gründen subjektrelativ sind. Ich habe im prudentiellen Sinn einen Grund, x zu tun, wenn x für mich eine evaluative Eigenschaft hat, die sie für andere nicht auch haben muss. Für Paul hat der Partybesuch evaluative Eigenschaften, die ihm Gründe liefern, zur Party zu gehen, die der Partybesuch für Thomas nicht besitzt. Das hat mit Eigenschaften der betroffenen Personen zu tun. Paul ist jemand, dem Tanzen Spass bereitet, Thomas nicht. Prudentielle Gründe sind Gründe für Personen, die auf den besonderen Eigenschaften von Personen beruhen. Das macht sie zu
10 Ich verdanke diesen Einwand Christoph Halbig.
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subjektrelativen Gründen. Sie sind gleichzeitig objektive Gründe,weil sie nicht von den Einstellungen von Personen, sondern von dem, was sie sind, abhängig sind.
4.9 Wie es sich anfühlt Objektive Theorien schliessen nicht aus, dass Menschen sich über das, was gut für sie ist, irren können. Wer sich in seinem Leben an falschen evaluativen Überzeugungen orientiert, lebt kein gutes Leben. Es stellt sich jedoch die Frage, wie unabhängig das Faktum, dass etwas gut ist für eine Person, von der Weise, wie es von der betroffenen Person erfahren wird, sein kann.¹¹ Ronald Dworkin schreibt: (S)omeone who leads a boring, conventional life without close friendships or challenges or achievements, marking time to his grave, has not had a good life, even if he thinks he has and even if he has thoroughly enjoyed the life he has had.¹²
Nach Dworkin kann ein Leben schlecht sein, auch wenn es von der betroffenen Person als zutiefst befriedigend erfahren wird. Er vertritt, was man als einen starken Objektivismus bezeichnen könnte. Ein schwacher Objektivist würde dagegen sagen: Ein Leben kann nicht schlecht sein, wenn es dauerhaft als befriedigend erfahren wird. Der Umstand, dass man etwas als zutiefst befriedigend erfährt, zeigt, dass die Dinge, die für diese Erfahrung verantwortlich sind, für die betroffene Person positive evaluative Eigenschaften hätten. Umgekehrt gilt: Wäre das dauerhaft nicht der Fall, würden sich diese evaluativen Eigenschaften für die betroffene Person nicht realisieren. Sie wäre dann eben nicht so beschaffen, dass für sie diese Dinge positive evaluative Eigenschaften haben. Der Vorteil eines schwachen Objektivismus besteht darin, dass er das, was im prudentiellen Sinn gut ist für Personen, besser als ein starker Objektivismus an das zu binden vermag, was Personen sind. Es ist unklar, wie ein starker Objektivismus der Idee der Subjektrelativität Rechnung zu tragen vermag. Wenn etwas, wie Dworkin meint, schlecht sein kann für eine Person, obwohl sie es dauerhaft als befriedigend erfährt, dann hat das gute Leben nichts mit dem, was Personen sind, zu tun. Ein konventionelles Leben, um ein Beispiel von Dworkin zu nehmen, ist dann schlecht für A, weil ein solches Leben eben schlecht ist. Das jedenfalls scheint die Überlegung eines starken Objektivisten zu sein. Wenn man aber die Idee ernst nimmt, dass Dinge für die einen im prudentiellen Sinn gut und
11 Christoph Halbig hat mich auf diesen Punkt hingewiesen. 12 Dworkin 2011, 42.
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gleichzeitig für andere schlecht sein können, erweist sich ein schwacher Objektivismus als die bedeutend plausiblere Theorie. Man kann einer objektiven Theorie zufolge das falsche Leben führen. Das aber bedeutet nicht, dass das, was gut ist für Personen, nichts mit ihnen zu tun hätte. Menschen können sich über das, was für sie gut ist, irren, weil sie dem nicht Rechnung tragen können, was sie selbst sind und sein können. Das sind Dinge, zu denen sie selbst prinzipiell Zugang haben. Es sind nämlich Eigenschaften ihrer Person. Ungeachtet dessen muss das, was Menschen faktisch für gut halten, nicht das sein, was gut für sie ist. Diese Möglichkeit, sich im Blick darauf, was für die eigene Person gut ist, irren zu können, ist auch das, was die Frage danach, was denn ein gutes Leben sei, motiviert. Diese Frage ist nämlich nicht die Frage danach, was wir für gut halten (das wissen wir), sondern die Frage, was wir für gut halten sollen.
Literatur Dworkin (2011): Ronald Dworkin, „What Is A Good Life?“, New York Review of Books 59, 41 – 43. Griffin (1986): James Griffin, Well-Being: Its Meaning, Measurement, and Moral Importance, Oxford. Kagan (1992): Shelley Kagan, „The Limits of Well-Being“, Social Philosophy and Policy 9, 169 – 189. Nussbaum (2006): Martha Nussbaum, Frontiers of Justice, Cambridge, MA. Raz (1986): Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford. Sidgwick (1907): Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, London. Sumner (1996): Leonard W. Sumner, Welfare, Ethics & Happiness, Oxford.
Teil II Abgrenzungen
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5 Was für ein Leben? Was für ein Sinn? 5.1 Der Ort der Sinnfrage Die Frage nach dem Sinn des Lebens¹ verbindet alltägliche Diskussionen mit philosophischen und theologischen Entwürfen einer langen Tradition. Sie ist eine Frage nach Inhalten, aber auch danach, ob es einen solchen Sinn gibt oder nicht. In beiden Hinsichten ist im Folgenden von der „Sinnfrage“ die Rede. Von den Antworten hängt nicht nur die Befriedigung eines theoretischen Interesses ab, sondern auch Emotionen und Zielsetzungen, bis hin zu Begeisterung oder Verzweiflung. Das Interesse an der Frage verknüpft offenbar theoretische mit im paradigmatischen Sinne „existentiellen“ Interessen. Darin ist sie mit der Frage nach der Existenz Gottes verwandt – und die Antworten auf beide beeinflussen sich zweifellos. In der philosophischen Diskussion hat die Frage nach dem Sinn des Lebens in jüngerer Zeit wieder an Aufmerksamkeit gewonnen, vor allem auch in der angelsächsischen Philosophie, die lange Zeit nahezu ausschließlich an „wertfreien“ Wissenschaften wie Logik und Naturwissenschaften orientiert war.² In dieser ist sie inspiriert von Diskussionen der Metaethik und der Werttheorie, in denen es vor allem um den ontologischen und epistemischen Status von evaluativen oder normativen Eigenschaften und Gegenständen (Werte, Normen, Tugenden etc.) geht. Die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts dominierenden Fronten zwischen Subjektivismus und Objektivismus, Wertprojektivismus und Realismus der Werte oder moralischen Tatsachen – sei es naturaler oder supernaturaler Art – ist dabei in letzter Zeit aufgeweicht worden durch zwei Tendenzen: Zum einen wurden in der epistemologischen und ontologischen Debatte der Metaethik die Intuitionen des moralischen Alltagsbewusstseins ernst genommen, dass moralische Urteile wahr oder falsch sein können und etwas in der Wirklichkeit treffen. „Ernst nehmen“ lässt natürlich ein ganzes Spektrum von möglichen Antworten und Erklärungen zu.
1 Andere in der Philosophie wichtige „Sinnfragen“ wie die nach dem „Sinn von Sein“ (Heidegger), nach Sinn und Bedeutung in den Geisteswissenschaften (Dilthey) oder nach dem Realitätsbezug der Begriffe (Freges Sinn und Bedeutung) werden im Folgenden ausgeklammert. Nur in diesem eingeschränkten Sinn ist im Text von der „Sinnfrage“ die Rede. 2 Vgl. dazu die Übersicht bei Muders/Rüther 2011 mit ausführlicher Literatur.
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Zum anderen lässt sich in der neueren angelsächsischen Philosophie eine Rückkehr zu den Diskussionen der Existenzphilosophie (in einem weiten Sinne) beobachten: die Frage „what matters“ nimmt ja die wieder auf, um was es im Leben für das Individuum eigentlich geht.³ In dieser Tradition kann nicht nur zur Diskussion stehen, was „Sinn“ überhaupt bedeutet und ob sich dazu etwas mit „Wahrheitsanspruch“ sagen lässt. Es muss auch überlegt werden, ob es zumindest Kriterien oder allgemeine Empfehlungen für ein sinnvolles Leben gibt.⁴ Allerdings ist die Frage nach den Bedeutungen der Sinnfrage Voraussetzung sowohl für die metaethischen Diskussionen wie für die inhaltlichen Fragen nach Kriterien sinnvollen Lebens. Auf die metaethischen Probleme will ich hier nicht oder nur indirekt eingehen. Ich habe an anderer Stelle die Position eines „gemäßigten Realismus“ verteidigt.⁵ Danach gibt es bei Bewertungen eine Skala von nahezu reinen „Kreationen“ bis zu einem „Treffen“ von etwas, das seine Basis in der von Subjekten unabhängigen Realität hat, nicht nur ihren naturwissenschaftlich feststellbaren Eigenschaften. Etwas Ähnliches scheint für den Sinn des Lebens zu gelten. Die Frage „lebt“ sozusagen aus der Spannung zwischen individueller Sinngebung und objektiven Antworten. Individuelle Sinngebung soll zugleich Findung sein, etwas dem Individuum in seinem Verhältnis zur „Welt“ Angemessenes treffen. Dazu findet das Individuum bereits ein großes Reservoir sozialer und historischer Sinngebungen vor, die es für sich klarzumachen, zu prüfen und vielleicht auch fortzubilden hat. Eine solche Sinnfindung ist immer zugleich Selbstfindung. Die „Sinnfrage“, auf deren verschiedene Bedeutungen ich im nächsten Abschnitt eingehen möchte, hat natürlich selber historische Voraussetzungen – auch wenn Welt- und Selbstdeutungsfragen die Menschen vermutlich seit den Anfängen der Kultur beschäftigt haben. Zumindest die Alltagsdiskussion über die Frage hat sicher zugenommen in einer Zeit miteinander konkurrierender Weltanschauungen und der Individualisierung von Weltdeutungen und Lebensplänen. Die Spannung zwischen individueller Sinngebung und Antworten mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit belebt die Frage heute weit mehr als zu Zeiten relativ unbezweifelter Lehrautoritäten. Sie werden heute nicht mehr an professionelle Experten delegiert, seien es Priester, Philosophen oder Wissenschaftler. Aber auch
3 Autoren wie Bernhard Williams, Harry Frankfurt, Robert Nozick, Richard Rorty oder Susan Wolf stehen ja der „kontinentalen“ Tradition der Philosophie des 20. Jahrhunderts besonders aufgeschlossen gegenüber. Für Charles Taylor ist sie sicher die primäre „Herkunft“. 4 Metz 2007 unterscheidet die Frage nach der Bedeutung von „Sinn“ und die nach den Inhalten oder Kriterien eines sinnvollen Lebens als die beiden Hauptrichtungen der gegenwärtigen Debatte. 5 Z. B. Siep 2004, Kap. 3; Siep 2004a sowie Siep 2005.
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zu autoritätsgläubigeren Zeiten haben individuelle und kollektive Lebenserfahrungen zu „Sinnkrisen“ geführt – jedenfalls werden sie heute so genannt. Dass diese Diskussionen heute mit besonderer Beachtung dessen geführt werden, was unter „Sinn“ und „Leben“ überhaupt verstanden wird, ist sicher ein „analytischer“ Fortschritt. Bei Debatten, die eine solche Öffentlichkeitsdimension besitzen, ist es aber schwer, den gemeinsamen Sprachgebrauch zu sichern, den man über längere Zeiträume, verschiedene Sprachen und soziale Schichten hinweg als verlässliche Ausgangsbasis voraussetzen könnte. „Der Sinn des Lebens“ ist ja auch ein Thema von Deutschaufsätzen und Sonntagspredigten. Ich kann hier nicht auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener „Soziolekte“, nicht einmal die verschiedener Sprachen eingehen. Ob „Meaning of Life“ dieselben Bedeutungsnuancen aufweist wie „Sinn des Lebens“, muss offenbleiben.⁶ Gleichwohl versuche ich im Folgenden, als Vorbereitung zu meinem Kriterienvorschlag, verschiedene Bedeutungen von „Sinn“ und „Leben“ zu unterscheiden und – was mir bisher noch unzureichend erörtert scheint – miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei kann ich nur von dem Sprachverständnis ausgehen, dass ich von diesen Ausdrücken in meiner Lebenszeit und Sprachumgebung in Literatur, Wissenschaft und Alltagskommunikation gewonnen habe. Ob quantitative Methoden der empirischen Sprach- und Sozialforschung hier wesentlich weiterführen, lasse ich – mit einer gewissen Skepsis – offen. Die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ wird philosophisch nicht nur mit metaethischen, sondern auch mit ethischen Überlegungen über das gute und richtige Leben in Verbindung gebracht.Was alle drei Ausdrücke verbindet, ist eine Verschränkung von Teilnehmer- (oder „erstpersönlicher“) und Beobachterperspektive sowie von moralischen und „hedonistischen“ Momenten. Zum guten Leben in der aristotelischen Tradition (eu zên) gehören beide Komponenten bzw. Perspektiven in nahezu gleichgewichtiger Weise. Das liegt natürlich daran, dass in dieser Tradition die These vertreten wird, nur der moralisch richtig Handelnde sei der mit sich im Einklang Lebende, sich selbst Bejahende und im wesentlichen Sinne Glückliche – auch wenn er zumindest bei Aristoteles durch den Verlust von Gesundheit und äußeren Gütern (bis zum Glück der Nachkommen) auch an sei-
6 Ein Beispiel für das problematische Ausgehen von einer gemeinsamen Bedeutung philosophisch relevanter Ausdrücke in verschiedenen Sprachen ist Paul Ricoeurs Buch „Wege der Anerkennung“ (Ricoeur 2006). Das von ihm aus Wörterbüchern aufgenommene französische Wort „reconnaissance“ hat offenbar einen anderen Bedeutungsumfang als das deutsche „Anerkennung“, zu dem die Bedeutung „Dankbarkeit“ ebenso wenig unmittelbar gehört wie „Wiedererinnerung“. – Es könnte im Übrigen sein, dass der Anglizismus „es macht Sinn“, der sich im Deutschen unaufhaltsam gegen ältere Ausdrücke wie „es ergibt Sinn“ oder „es ist sinnvoll“ etc. durchzusetzen scheint, Bedeutungsnuancen einebnet.
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nem Glück Einbußen erleiden kann. Mit dem richtigen Leben kann man entweder das vom Individuum selber sozusagen „nachhaltig“ bejahte Leben meinen oder eben das nach moralischen und rechtlichen Kriterien richtige – wenn man denn „Kognitivist“ ist und solche Kriterien für objektivierbar hält. Den Sinn seines Lebens muss ein Individuum zweifellos primär selber finden und bejahen oder verneinen. Das gilt jedenfalls in Epochen der individuellen Autonomie in Fragen der Überzeugung und der Lebensführung. Dabei spielen moralische Kriterien eine sehr unterschiedliche Rolle – je nachdem, wie gewissenhaft oder unreflektiert, integriert oder eigenwillig jemand ist. Gibt man das Urteil von außen ab, sei es als Ratschlag oder als nachträgliches Urteil, dann werden moralische Kriterien zweifellos eine Rolle spielen. Wir werden erwarten, dass ein zerstörerisches oder „verlogenes“ Leben auf die Dauer seinen „Träger“ selbst in Zweifel oder Verzweiflung stürzt. Ob wir von einem Verbrecher ohne Reue und Selbstzweifel – sozusagen bis zur letzten Minute, was von außen gar nicht feststellbar ist – sagen sollten, dass sein Leben keinen Sinn gehabt habe oder eben, dass es moralisch zu verurteilen ist, scheint mir eine schwierige Frage. Das bedeutet offenbar, dass bei der Frage nach dem Sinn des Lebens die subjektive Perspektive, auch wenn man in ihr nach Objektivität und Passung mit der Welt sucht, die primäre ist und die moralische Bedeutung eine nachgeordnete Rolle spielt. Das hat sie mit der Frage nach dem Glück gemeinsam – jedenfalls, wenn man sie heute etwas subjektiver und individueller beantwortet als Aristoteles. Im Folgenden stehen aber weder die ethischen Probleme im Vordergrund noch das Verhältnis von subjektiver und objektiver Perspektive. Es geht mir vielmehr ziemlich direkt (und vielleicht „naiv“) darum, ob es Kriterien eines sinnvollen Lebens gibt. Da ich aber wie viele andere Autoren vermute, dass die Frage oft an unklaren Begriffen und Erwartungen leidet, beginne ich mit Bedeutungsdifferenzierungen. Sie erheben nicht den Anspruch, ganz neu zu sein,⁷ sollen aber den folgenden Kriterienvorschlag verständlich machen.
5.2 Bedeutungen von „Leben“ und „Sinn“ 5.2.1 Zwei Hauptbedeutungen von Leben Ausgehend von der alltäglichen Debatte und der philosophischen und theologischen Tradition sind im Zusammenhang der Sinnfrage vor allem zwei Bedeutungen von „Leben“ wichtig:
7 Vgl. etwa Gerhardt 1996; Metz 2007; Thies 2008.
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Erstens verstehen wir unter Leben die „Spanne“ eines menschlichen Organismus vom Lebensbeginn bis zum Tod – wobei im Zusammenhang der Sinnfrage hier von den heftigen ethischen Debatten nach dem Beginn des schützenswerten Lebens abgesehen werden kann. In dieser Spanne gehören zum Leben die psychischen Aktivitäten und Zustände, die – unabhängig von der jeweiligen Einteilung der psychischen Vermögen oder Kräfte – das Emotionale, Kognitive, Voluntative, Imaginative, „Musische“, „Spirituelle“ etc. umfassen.Wichtig ist aber, dass in der ersten Bedeutung diese Tätigkeiten und Zustände zeitlich auf die Lebensspanne des menschlichen Körpers beschränkt sind. In einer zweiten Bedeutung reicht die Lebensspanne über das biologische Leben des Körpers weit hinaus und umfasst dieses nur als eine Phase unter anderen. Das gilt etwa für alle Konzepte der Seelenwanderung und der Wiederverkörperung, aber auch der vor und nach dem biologischen Leben anzunehmenden Existenzweisen der Seele oder auch des – nach Auferstehung – verwandelten Körpers. Zu diesen Vorstellungen gehören auch die philosophischen und theologischen Annahmen eines „ewigen Lebens“ – mit einer Verschiedenheit von zeitlichen oder unzeitlichen Ewigkeitsvorstellungen.
In der Vergangenheit und auch noch in vielen heutigen Religionen galt die Annahme solcher Phasen als notwendig, um Phänomene der Erkenntnis – z. B. der mathematischen Erkenntnis oder der Begriffserkenntnis in der platonischen Tradition –, der Beschaffenheit der Seele (z. B. ihre Unteilbarkeit), aber auch um natürliche Phänomene und ihre Beeinflussung durch übernatürliche Kräfte erklären bzw. bewerkstelligen zu können. Das ist im gegenwärtigen Stadium der Wissenschaften und der Philosophie nur noch schwer haltbar. Es wird aber diskutiert, ob etwa für die Moral oder eben die Beantwortung der „Sinnfrage“ solche Weisen bzw. Phasen des Lebens noch angenommen werden müssen. Darauf komme ich im Schlussteil zurück.
5.2.2 Bedeutungen von „Sinn“ Auch hier ist es notwendig, verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden. Zumindest Zweckmäßigkeit (i), Kohärenz oder Verständlichkeit (ii) und soziale Rolle (iii) sind wichtige Komponenten der Bedeutung von Sinn. Obwohl ich die SinnFrage von der Glücksfrage anfangs unterschieden habe, gehört schließlich zum „Sinn“ auch eine enge Beziehung zum „Glück“ (iv). Das liegt aber schon auf der
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Grenze zwischen der Bedeutung von Sinn und den Inhalten bzw. Kriterien eines positiv sinnvollen Lebens (5.3.). i) Geradezu dominierend bei den klassischen Debatten über den Sinn des Lebens oder sogar der Welt scheint mir die Suche nach einer zweckmäßigen Ordnung zu sein – zuweilen sogar die Unterstellung, es müsse eine solche Ordnung geben. Das Vorbild ist der Organismus oder die erfolgreiche, ihren Zweck erreichende Handlung. In dieser Ordnung hat jeder Teil eines Ganzen oder jede Phase einer Bewegung oder Handlung, vielleicht auch die Komponenten eines Zustandes, eine Funktion für das Ganze oder das Ziel. Wenn man das Leben eines Individuums daraufhin untersucht, ob es einen „Sinn“ hat, dann wird oft nach einer solchen Zweckmäßigkeit gesucht, sowohl innerhalb dieses Lebens wie im Ganzen seiner sozialen oder natürlichen Umgebung. Das scheint nur möglich zu sein, wenn auch diese Umgebungen selber zweckmäßig geordnet sind. Der „Sinn“ der Welt als ganzer ist am ehesten dann anzunehmen, wenn sie einen Schöpfer oder zumindest „Ordner“ – wie etwa der platonische Baumeister (Demiurg) im Timaios – hat, der das Ganze nach einem Plan entwirft und ausführt.⁸ In diesem Ganzen kann dann der Einzelne eine bestimmte vorgezeichnete Funktion übernehmen – schwierig wird es, wenn er früh stirbt oder gar nicht erst geboren wird, wie viele Embryonen und Föten. Dann muss angenommen werden, dass auch diese Vorgänge irgendeine Bedeutung für das Ganze haben. Hier geht dann die Zweckmäßigkeitsvorstellung oft in eine Gerechtigkeitsvorstellung über, wie sie auch aus der Theodizee-Diskussion bekannt ist: das abgebrochene Leben oder die Formen des Leidens müssen im Ganzen irgendwie aufgewogen werden – am Ende aller Zeiten auch durch eine Belohnung oder Kompensation des Leidens.⁹ Ohne eine solche ausgleichende Gerechtigkeit, so wird oft unterstellt, hat das Leiden, oder sogar „das Ganze“, der Kosmos und der Weltlauf, „keinen Sinn“. Eine solche Sinnerwartung kann durch die modernen Welterklärungen der Wissenschaften offenbar weder begrifflich noch empirisch bewiesen oder belegt werden. Offen ist dann aber, ob man der Welt aus anderen Ressourcen einen Sinn unterstellen muss – etwa aus den anders zu begründenden Annahmen eines über das „irdische“ hinausgehenden Lebens – oder ob man dem Fehlen eines Endzweckes und einer letzten Gerechtigkeit auf andere Weise Rechnung tragen kann. Etwa dadurch, dass man das aufrichtige Aushalten dieser Situation¹⁰ oder das
8 In frühen Hochkulturen kann der „sinnvolle“ Zusammenhang auch durch die Idee einer „kausalen“, natürliche wie soziale Ereignisse verbindenden Gerechtigkeit gesichert sein. Vgl. dazu Assmann 2006, 232. 9 Zur modernen Theodizee-Diskussion vgl. Kreiner 1997; besonders kritisch Lewis 1998 [1993], 277. 10 Wie in Albert Camus moderner Version des Sisyphos-Mythos. Vgl. Camus 1959, 98 – 101.
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Arbeiten an einer Linderung des Leidens und der Bekämpfung von Ungerechtigkeit ohne letzte Erfolgsgarantie gerade als Sinn und Würde des menschlichen Lebens begreift. ii) Eine zweite, eher am Verstehen und Erklären von Zeichen, Schrift, Sprache oder Kunst orientierte Bedeutung von Sinn ist diejenige einer nicht offen zutage liegenden, sondern erst zu erschließenden Bedeutung einer Sache. Dann wird nach dem eigentlichen oder „tieferen“ Sinn gefragt. Was für die Bedeutung von Zeichen, Äußerungen, Texten gilt, könnte auch für Teile oder das Ganze des menschlichen Lebens anzunehmen sein: Man muss sie in ihrer Zusammengehörigkeit oder Verweisung, vor einem Hintergrund oder aus einem Ganzen verstehen. Offenbar wird hier wieder die Unterscheidung der beiden Lebensbegriffe wichtig: Wenn es „hinter“ dem biologisch-psychischen Leben in „diesem“ Körper noch ein anderes gibt, dann muss man das irdische Leben anders „lesen“ und anders deuten, als ohne diesen Hintergrund. Im letzteren Falle kann es natürlich auch „Verständnisprobleme“ geben: Wie kann ich mein Leben sinnvoll deuten, wie kann ich aus den vielen Gegebenheiten, Aufgaben, Erfahrungen, Erwartungen anderer etc. ein sinnvolles Ganzes oder zumindest kohärente Teilzusammenhänge machen? Dies zu fragen legt sich nahe, wenn man der Auffassung ist, dass die Fragen nach letzten Zweck- und Gerechtigkeitsbedeutungen unbeantwortbar sind; oder dass sie jedenfalls nicht in einer irgendwie wissenschaftlichen Weise diskutiert werden können – ähnlich wie die angeblich unabdingbare Frage „Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts?“. Es muss nicht auf jede denkbare Frage eine Antwort geben – noch weniger muss man dazu einen allwissenden Geist postulieren. „Dass etwas ist“, ist ja offenbar ein unbestreitbares Faktum, und es muss nicht für jedes Faktum einen Grund oder eine Ursache geben, nur weil unser menschlicher Verstand danach fragen kann. Was spricht gegen unbeantwortbare Sinnfragen in dieser Bedeutung? Das Scheitern der großen Entwürfe der Geschichtsphilosophie hat vielleicht auch gezeigt, dass es auf die Frage, warum „die“ Geschichte oder viele Teilgeschichten so verlaufen sind, wie das der Fall war, oder wie wir sie aus den uns zugänglichen Quellen zu deuten versuchen, keine Antwort gibt. Zwar können wir im Nachhinein „große Trends“ zu identifizieren versuchen, vielleicht auch von Lernprozessen sprechen, nicht nur in Wissenschaft und Technik, sondern auch in der Rechtsgeschichte. Aber eine Notwendigkeit im Sinne einer Heilsgeschichte oder von der Vernunft gesteuerten Fortschrittsgeschichte ist nicht mehr ohne den Glauben an bestimmte übermenschliche Offenbarungen erkennbar. Was das für kollektive Sinnstiftungen bedeutet, die stets auf Konstruktionen von sinnvoller und handlungsorientierender Geschichte der Gruppe beruhten, kann hier nicht weiter erörtert werden. Trotz aller medial und museal vermittelten Geschichts-
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kenntnis und -deutung hat sich auch hier der Spielraum des Individuums, sich selber in die ihm bekannte und von ihm bewertete Geschichte von Kollektiven einzuordnen, erheblich erweitert. iii) Schon vor solchen globalen Fragen nach dem Sinn der Geschichte von Kollektiven gibt es eine Bedeutung der Sinn-Frage, die es mit der der sozialen Funktion zu tun hat. Was für eine Rolle spielt jemand in sozialen Zusammenhängen und wie wird diese von anderen eingeschätzt? Hier gehört zur Sinn-Erwartung nicht nur das Bewusstsein, eine Funktion von einer gewissen Bedeutung überhaupt auszufüllen – man denke an die berühmte Frage älterer Menschen „ob ich noch gebraucht werde“ – sondern auch eine Anerkennungserwartung, wie bescheiden und „desillusioniert“ auch immer. iv) Schließlich gehört zur Bedeutung von Sinn in der „Sinnfrage“ sicher auch ein Bestandteil des Glücks bzw. dessen, was man heute gerne „gelungenes Leben“ nennt. Wenn es nicht minimale Bestandteile der Freude, der Erfüllung, der Zufriedenheit enthält (und sollte sie erst nach diesem Leben eintreten), wird ein Leben auch nicht als sinnvoll erachtet. Irgendwie muss es sich lohnen, man darf nicht alles bereuen oder im Nachhinein als „wertlos“ beurteilen, wenn man die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens – des ganzen oder zumindest bestimmter Abschnitte – bejahen können soll. Ob man tatsächlich irgendwann eine „Gesamtbilanz“ aufmacht, kann dabei offenbleiben – und die Annahme irgendeines „letzten“ Augenblicks dafür, sei es in diesem oder einem anderen Leben, ist alles andere als zwingend. Ob der Sterbende dazu in der richtigen Verfassung ist, kann bezweifelt werden, und die Vorerwartung darauf kann eine erhebliche und unnötige Belastung sein – so wie die noch viel grausamere, im letzten Augenblick entscheide sich das ewige Schicksal des Individuums zwischen dem größten Glück und unausdenkbarem Unglück. Nicht nur das Sterben der Hoffnungen muss Enttäuschungen vergrößern, dazu können auch illusionäre Annahmen über Lebensbilanzen beitragen.
5.3 Kriterien und Bestandteile eines sinnvollen Lebens Es liegt auf der Hand, dass auf die Frage, ob ein Leben Sinn hat bzw. sinnvoll ist oder war und als solches erfahren werden kann, ganz unterschiedliche Antworten gegeben werden, je nachdem, ob man an „Leben 1“, also ein an die biologische Lebensspanne eines Organismus gebundenes Lebens denkt, oder an „Leben 2“, das in unterschiedlichen Maßen darüber hinaus reicht. Dabei wird es eine zusätzliche Schwierigkeit darstellen, ob für die unterschiedlichen Weisen der
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zweiten Bedeutung – Seelenwanderung, ewiges Leben in höchstem Glücksempfinden oder der völligen Empfindungslosigkeit, in der man sich vielleicht das „Nirwana“ vorstellen muss – überhaupt gemeinsame Kriterien angegeben werden können. Wenn es ein solches Leben jenseits dieses „sterblichen“ Lebens gibt, dann kann man in jenem ganz andere Glückszustände erwarten als in diesem, oder zumindest höchst gesteigerte. Allerdings für die meisten, die ein solches Nachleben erwarten, nur nach gerechtem Ausgleich für die Leistungen in diesem Leben. Aber auch für den, der schreckliche Strafen oder fortwährende leidvolle Wiederverkörperungen annehmen muss, wird es wohl eine Einsicht darin geben, dass sein vielleicht ewig unglückliches Leben „sinnvoll“ in dem Sinne ist, dass es verdient, zweckmäßig und ein Teil endgültiger Gerechtigkeit ist. Die Glücks- und Wertaspekte müssen hier entfallen, aber die Einsicht in die Zweckmäßigkeit, die Lösung aller Rätsel usw. können die subjektive Realisierung des Sinnes garantieren. Ob darin eine kognitive Befriedigung liegt, auch wenn sie dem Erkennenden verdientes ewiges Leiden zuspricht, ist schwer zu entscheiden. Was den Sinn des diesseitigen Lebens unter der Perspektive des jenseitigen angeht, so liegt er wohl hauptsächlich im Vorbereitungscharakter und vermutlich auch in Vorwegnahmen des zu Erwartenden.Wenn das etwa der bewusste Zustand einer vollständigen „Fülle“ ist, wie Charles Taylor schreibt, so werden es Teilerfahrungen von außeralltäglicher Erfüllung sein, wie sie für Taylor etwa auch in rauschhaften Gemeinschaftserlebnissen (inkl. Rockkonzerten) andeutungsweise erfahren werden können.¹¹ Aber sicher auch in alltäglichen¹² Formen der Erfüllung von gerechten Erwartungen an sich selbst und andere. Je nach Auslegung des Sinnes und der Pflichten eines vorläufigen und vorbereitenden Lebens, die eher asketischen Glücks- und Tugendvorstellungen zuneigen kann oder aber weniger heroischen, werden die immanenten Sinnkriterien eines „diesseitigen“ Lebens auch in transzendenter Perspektive gültig sein oder nicht. Die hohe Schätzung, die zu allen Zeiten und in verschiedenen Religionen den radikalen Asketen und Märtyrern entgegengebracht wurde, spricht für die Annahme gesteigerter Sinnerfüllung in solchen Lebensweisen: „Ut moriens viveret, vixit ut moriturus“,¹³
11 Vgl. Taylor 2009, 16 – 35 (Analogie der Erfahrungen in Rockkonzerten mit religiösen Gefühlen: 865). Vgl. dazu jetzt auch seine Erwiderungen auf Kritiker in Kühnlein/LutzBachmann 2011, 843 – 850. 12 Mit „alltäglich“ ist hier und im Folgenden nicht der Gegensatz Alltag-Festtag gemeint, sondern der Gegensatz zu heroischen, im Leben der meisten Menschen nicht realisierbaren Sinnerwartungen. 13 Deutsch etwa: „Damit er im Sterben das Leben erlange, lebte er in Vorbereitung auf das Sterben.“
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heißt es auf dem Grabmal eines Bischofs in der römischen Kirche Santa Sabina. Aber es gibt auch in der katholischen Kirche Heilige des Alltagslebens, und im Hinduismus hat nicht nur der asketische „Saddhu“ Aussicht auf endgültige Erlösung.¹⁴ Wenn das der Fall ist, werden sich Kriterien und Bestandteile eines sinnvollen diesseitigen Lebens zumindest teilweise auch auf Lebensphasen eines umfassenden Lebens („Leben 2“) übertragen lassen. Worin können sie bestehen? Natürlich können Philosophen diese Frage nicht a priori beantworten. Sie lässt sich aber auch nicht rein empirisch psychologisch beantworten. Die Erfahrungen der Menschen und die Einsichten in die „conditio humana“,wie sie seit Jahrhunderten in der Literatur, natürlich nicht nur der philosophischen, niedergelegt sind, müssen dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Antwort kann auch keine exakte, sondern nur ein „Umriss“ sein, wie es schon seit Aristoteles für alle Wissenschaften gilt, die es mit menschlichem Verhalten und seinen Selbstdeutungen zu tun haben. Aristoteles hat auch für das Glück ein nachahmenswertes Verfahren vorgeführt: Er gibt dafür Kriterien und Bestandteile an, die durch unterschiedliche Inhalte und in verschiedenen Graden erfüllt sein können. Wegen der Verwandtschaft der Sinn- und Glücksfragen liegt es nahe, auch bei der Frage, was einem (irdischen) Leben Sinn geben kann, verschiedene Bestandteile und Kriterien anzugeben. Insoweit die Sinnfrage auf eine Erklärung des diesseitigen, vielleicht auch jenseitigen Lebens zielt, muss man sich offenbar an die verschiedensten Sinnsysteme wenden, darunter Religionen, Mythologien, kulturelle Traditionen¹⁵ und sicher in zunehmendem Maße auch medial vermittelte wissenschaftliche Theorien. Für die übrigen Aspekte der Sinnfrage ist aber die Frage wichtiger, wann und warum „gewöhnliche“ Menschen vermutlich ein sinnvolles Leben führen. Der Verzicht auf den Freitod ist zwar sicher kein Beleg dafür, dass Menschen ihr Leben als sinnvoll empfinden. Auf der anderen Seite erscheint es aber elitär, dem Gros der oft unter harten Verhältnissen lebenden, wenig theoretisch gebildeten oder explizit „Sinnfragen“ erörternden Menschen ein sinnvolles Leben absprechen zu
14 Um einen Ausgleich zwischen den alltäglichen und außerordentlichen Formen sinnvollen Lebens bemüht sich auch William James. Ob ihm das gelungen ist, kann man aber bezweifeln, wenn er schreibt: „Der wirkliche Sinn des Lebens ist in aller Ewigkeit der gleiche, – nämlich die Vereinigung eines außergewöhnlichen Ideals, wie speziell auch immer, mit Treue, Mut und Ausdauer, mit den Schmerzen eines Mannes oder einer Frau.“ (James 2010, 76) 15 Vgl. Assmann 2006, 57 („Die Riten und Mythen umschreiben den Sinn der Wirklichkeit“).
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wollen. Warum kommen sie zu einer Bejahung des Lebenssinnes, wenn auch oft nur unbewusst und in sehr unterschiedlichen Graden von Bejahung? Die elementarste Quelle einer basalen Zufriedenheit oder mindestens Zustimmung zum Leben scheint die Bewältigung der alltäglichen Lebensvollzüge zu sein, die Erhaltung von Leben und Gesundheit für sich selber und die unmittelbar Abhängigen. Es ist plausibel, dass dafür auch genetisch bedingte oder jedenfalls körperliche „Belohnungssysteme“ mitverantwortlich sind. Aber die alltägliche Lebensbewältigung ist immer in ein kulturelles System von kommunizierten Aufgaben, sozialen Erwartungen und Ritualen eingebunden. Wenn die Primatologen Recht haben, gibt es auch dafür beim Menschen natürliche Grundlagen in Form schon frühkindlicher Interessen und Fähigkeiten zu Kommunikation und kooperativer Bewältigung von Aufgaben.¹⁶ Aber das Bewusstsein, die Lebensführung mehr oder minder erfolgreich zu meistern, geht über solche natürlichen Basisinteressen hinaus. Zumal für ein gewisses Maß an Zufriedenheit das Bewusstsein der eigenen, immer auch erlernten Kompetenzen und Fertigkeiten erforderlich ist. Das Gefühl, etwas gekonnt, und nicht bloß zufällig oder „gepfuscht“ zustande zu bringen, ist im Allgemeinen Grund zur Selbstbestätigung. Das Leben selber einigermaßen zu bewältigen, ist ein wichtiger Bestandteil der positiven Antwort auf die Sinnfrage und einer grundsätzlichen Selbstbejahung. Will man die Komponenten dieser Bewältigung unterscheiden und als Kriterien für ein explizit als sinnvoll empfundenes Leben benutzen, dann sind es zumindest die folgenden: 1. Das Bewältigen von Aufgaben bzw. das Lösen von Problemen, beides sowohl allein wie in der Gruppe 2. Das Bewusstsein, dabei eigene und fremde Bedürfnisse gestillt und Entwicklungen gefördert zu haben – am stärksten verbreitet wahrscheinlich beim Umgang mit Kindern oder offenkundig Bedürftigen, wie Kranken. Die Frage, ob es objektiv feststellbare allgemein-menschliche Bedürfnisse oder nur subjektiv wahrgenommene gibt, kann dabei hier offenbleiben.¹⁷ 3. Das schon erwähnte Bewusstsein, dabei eigene Fähigkeiten, Stärken und Kompetenzen erfolgreich einzusetzen – und sich dabei mit anderen zu ergänzen 4. Die soziale Anerkennung durch wichtige Bezugspersonen. Sie kann sehr unterschiedliche Formen haben, sowohl positive wie Zustimmung, Freundschaft, Liebe, Solidarität etc. als auch negative wie erfolgreich bestandene
16 Vgl. Tomasello 2009, Kap. 3 und 4. 17 Für die These einer naturalen Basis kulturell formbarer Bedürfnisse plädiere ich in Siep 2004, 143 f. und 277 f.
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Konkurrenz, Rangerhöhung, bis zur Unterwerfung anderer. Wenn man hier moralische Kriterien beiseite lässt, wird der große Sieger und Dominator sein Leben wahrscheinlich – zumindest solange der Zustand anhält – als sinnvoll erfahren. Ein Kriterium, das ebenfalls moralisch neutral ist, bei vielen aber sicher als erstrebenswertes und insoweit „sinnvolles“ Ziel von Tätigkeiten und Lebensphasen erscheint, ist der „Erfolg“. Er scheint aber ein so formaler Begriff, der alle oben genannten Kriterien und vielleicht noch mehr umfasst, dass er zu einem eigenen Kriterium wenig taugt. Ob man im Konkurrenzkampf um Besitz, Macht und Ruhm erfolgreich ist oder in der selbstlosen Erfüllung fremder Bedürfnisse oder dem Einsatz eigener Fähigkeiten bei sinnvollen Gemeinschaftsaufgaben – alles kann in gewissem Sinne „Erfolg“ darstellen. Als Kriterium für ein sinnvolles Leben ist der Begriff daher nicht trennscharf genug. 5. Ebenso inhaltsoffen, aber dennoch ein wichtiges Kriterium scheint zu sein, was in jüngster Zeit Harry Frankfurt unter dem Begriff „Liebe“ oder existentieller Anteilnahme („care about“) erörtert hat.¹⁸ Dass man einer Sache sein ganzes Interesse und seinen wichtigsten „Einsatz“ widmet, ist offenbar für die Erfahrung eines sinnvollen Lebens von größter Bedeutung. Aber ob es sich dabei um das Lösen von Rätseln oder um große körperliche Leistungen – etwa Bergbesteigung oder Erfolg in sportlichen Wettkämpfen –, um wissenschaftliche Leistungen, soziale oder politische Aufgaben, Sammeltätigkeiten oder soziale Beziehungen („die Liebe meines Lebens“) handelt, ist für die Sinngebungsfunktion relativ gleichgültig. Jedenfalls, solange wir die Perspektive des „Sinnsuchers“ selber einnehmen, nicht des externen Beurteilers. Wichtig ist, dass aus dem Finden des Zieles enorme Bindungskräfte erwachsen können, die sogar – wie Frankfurt betont – die Frage nach Gründen oder Rechtfertigung gegenstandslos machen. Die Weise, wie Menschen durch solche lebensbedeutsamen Dinge oder Tätigkeiten ergriffen, oft überwältigt werden können, ist von Theoretikern der Werterfahrungen phänomenologisch analysiert worden.¹⁹ Dass solche nicht konstruierte oder gewünschte, sondern manchmal gegen eigene Erwartungen und Gewohn-
18 „Most profoundly perhaps, it is love that accounts for the value to us of life itself.“ (Frankfurt 2004, 40) 19 Etwa von Hans Joas (vgl. Joas 1997) und Charles Taylor mit seiner einflussreichen Theorie der starken Wertungen (vgl. etwa Taylor 1992). Die Verbindung solcher Wertungen mit dem Lebenssinn betont er in seiner Antwort auf Kritiker in Kühnlein/Lutz-Bachmann 2011, 838 und 840.
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heiten erfahrene Bedeutsamkeit von Lebenszielen eine große Ausstrahlung haben können, die lange Lebensphasen und fast alle Tätigkeiten und Wahrnehmungen in Anspruch nehmen bzw. „färben“ können, ist unbestreitbar. Das Verlieben und sein Gegenteil, der Verlust des Geliebten, sind deutliche Beispiele dafür, wie ein Leben in allen Details sinnvoll oder sinnlos („grau“) werden kann. Solches „Gefesselt Werden“ oder „Verfallen an“ jemand oder eine Sache, kann aber andere sinnvolle Ziele und Glückserfahrungen, Verpflichtungen und Fähigkeiten auch gefährden. Religiöse Konversionen und Fanatismus, auch im Bereich persönlicher Beziehungen oder politischer Ziele, können zerstörerische Wirkungen haben. Das gilt nicht erst im moralischen Sinne. Wer ständig nach dem Ziel sucht, für das sich letzter Einsatz und rücksichtslose Selbsthingabe lohnt, wird blind gegen viele Aufgaben, soziale, kognitive oder ästhetische, die sich ebenfalls als lohnenswert für einen selber und andere erweisen können – und denen möglicherweise die eigenen Fähigkeiten und Kräfte mehr entsprechen. „Sich selbst zu übertreffen“ – oder wie es in der sportlich gewordenen Gesellschaft heißt, „ans eigene Limit gehen“ – ist sicher auch etwas, was für viele Menschen ihren Anstrengungen Sinn verleiht. Aber so wenig man die richtige Gesellschaftsordnung vom Ausnahmezustand her verstehen kann, sowenig ein dauerhaft erfülltes Leben nur von den Erlebnissen äußerster Kraftanspannung. Wer für ein lohnendes Leben einen extremen „Kick“ braucht, hat sich meist vorher von den Angeboten einer Erlebnisindustrie, die Träume suggeriert, um die Mittel zu ihrer Erfüllung verkaufen zu können, erschöpfen und abstumpfen lassen. Wenn Liebe und Hingabe also besondere Quellen von Erfahrungen sinnvollen Lebens sind, so darf dieses Kriterium doch nicht die vorher aufgezählten (oben 1. – 4.) gegenstandslos machen. Es mag scheiternde Glücksspieler oder anderweitig alles auf eine Karte setzende Menschen geben, die ihr Leben im Nachhinein trotzdem als sinnvoll und lohnenswert betrachten. Aber die Verachtung derjenigen, die in einer Pluralität von Zielen, Aufgaben und Erlebnisweisen Quellen des Sinns und des Lohnenswerten sehen, als „spießig“, durchschnittlich und langweilig, ist oft nicht Zeichen der wirklich Außergewöhnlichen, sondern der wenig Sensiblen und Erfahrungsfähigen. Bei diesem Gegensatz zwischen den außergewöhnlichen, unbedingten und letzten Sinnerfahrungen einerseits und dem Reichtum des auch in alltäglichen Lebensweisen als sinnvoll Erfahrbaren andererseits kommt auch das Verhältnis des diesseitigen und des (möglichen) jenseitigen Lebens wieder ins Spiel. Vor der Möglichkeit unendlicher Steigerung des Glücks und der Erfüllung in einem jenseitigen Leben werden die Ziele und Aufgaben des diesseitigen leicht unendlich klein und bedeutungslos. Diese Einsicht ist positiv immer wieder als Befreiung von der Last des Strebens nach irdischem Glück und seinem Scheitern empfohlen worden. Gegen solche Frustrationen, die bis zur Sinnlosigkeitserfahrung gesteigert
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sein können, hilft die Abkehr vom Glanz der irdischen Ziele und Hoffnungen, die Gegenstand von „Rost und Motten“ werden können. Darin liegt einerseits eine Dämpfung der eben erwähnten Gefahren des rücksichtslosen und verzehrenden Strebens nach „unbedingten“ Gütern in dieser Welt. Aber auch die angenommenen jenseitigen Ziele und Güter können eine Sogwirkung ausüben, die alle partiellen diesseitigen Ziele wert- und bedeutungslos machen. Relativierung von partiellen Zielen in diesem Leben kann zu Gelassenheit und Distanz führen, aber auch zu einer Entwertung und Entleerung sinnvoller Lebens- und Erfahrungsweisen.²⁰ Um diese Wirkung zu verhindern und die Motive für die alltägliche Meisterung des Lebens nicht zu sehr zu schwächen, haben viele Religionen der Heiligung des Alltäglichen Raum gelassen oder eine Art „Arbeitsteilung“ zwischen jenseits gewandten Heroen (Mönche, Asketen, Märtyrer) und den „gewöhnlich Sterblichen“ eingeführt. Die Letzteren können an den Verdiensten der ersteren (thesaurus ecclesiae) auf verschiedene Weise partizipieren – etwa durch Almosen oder Gebet. Ihre „irdische“ Entsprechung hat diese Arbeitsteilung im Verhältnis zu den Pionieren, Entdeckern und opferbereiten Künstlern, von deren Werk die weniger Begabten und oft auch weniger Begünstigten zehren. Aber auch die „Leiden und Größe der Meister“ (Thomas Mann) muss das Leben der weniger Begabten nicht trivialisieren. Es gibt nach vielen Lese- und Lebenserfahrungen also durchaus Kriterien des sinnvollen Lebens, die in einem „gewöhnlichen“ menschlichen Leben erfüllt sein können. Das ist sicher kein stringenter Beweis und keine erschöpfende empirische Bestätigung. Wie bei der Glücksforschung ist aber auch oder erst recht bei Interviews zur Frage nach dem sinnvollen Leben eine von der Suggestion der Frage oder der Kommunikation mit dem Fragenden unabhängige Antwort selten; nicht zuletzt wegen Mechanismen der Selbstbestätigung – wer gibt schon gerne zu, dass er sich mit Sinnlosem beschäftigt oder zufriedengegeben hat?²¹ Bei Glück und Sinn unterliegt der Befragte schon der Suggestion der Begriffe selber, die durch lange Traditionen, vom Märchen über den Katechismus bis zum Deutschaufsatz, semantisch eingefärbt sind. Wie eben die Frage nach „dem“ Sinn des Lebens im Singular in der Regel bereits voraussetzt, dass es letztlich nur einen oder jedenfalls den hinter allen vorläufigen liegenden letzten Sinn geben muss.
20 Man kann etwa mit José Luis Borges auch die Auffassung vertreten, nur das unwiederholbar Seltene und Verletzliche, nicht das Vollendete und Ewige sei für den Menschen die höchste Quelle des Sinns. Vgl. dazu Stewart 1993. Stewart bezieht sich auf Borges’ Text „The Immortal“ (Borges 1982). 21 Nach den in Magazinen abgedruckten Fragebögen sind daher die meisten Menschen mit den Grundentscheidungen ihres Lebens im Nachhinein zufrieden.
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5.4 Der „letzte“ Sinn zwischen Wunsch und Notwendigkeit Lässt sich aus den Überlegungen über die Bedeutung von „Sinn“ und „Leben“ sowie über die Kriterien und Bestandteile sinnvollen („irdischen“) Lebens etwas für die Frage gewinnen, ob es ein Leben jenseits oder nach dem begrenzten eines individuellen biologischen Körpers geben muss? Kann es also eine Art „Sinnbeweis“ für ein solches Jenseits geben? Offenbar nur dann, wenn vorausgesetzt wird, dass Menschen sowohl kognitiv wie praktisch „metaphysische“ Wesen sind. Dass sie also, wie Kant annahm, nach dem Unbedingten und Vollendeten fragen und streben müssen. Und dass sie zumindest als moralische Wesen eine vollendete Übereinstimmung von Glück und Gerechtigkeit „postulieren“ dürfen – was jedenfalls in einigen von Kants Äußerungen mehr als nur Hoffen bedeutet. Oder, wie religiöse Denker von Augustinus bis Charles Taylor sagen, dass sie nach einer Fülle und Ruhe streben, die es in einem veränderlichen und zufallsabhängigen Leben nicht geben kann. Aus den besten Erklärungen der natürlichen und kulturell-historischen Welt lässt sich für die Notwendigkeit solcher Annahmen kein Beweis mehr führen. Auch Moral wird heute von vielen – einschließlich vieler Theologen²² – auf eine „autonome“ menschliche Vernunft und Motivation zurückgeführt. Empirische Anthropologie und Kulturgeschichte kann natürlich auf das permanente religiöse – wenn auch nicht unbedingt theistische – Verlangen vieler Menschen der Vergangenheit und Gegenwart nach solchem letzten Sinn verweisen. Aber es gibt sicher auch viele Menschen, die ohne das in ihrem Leben Sinn der verschiedensten Art finden. Der Wunsch, einen letzten, endgültigen Sinn in allen Bedeutungen des Begriffs – Zweck, Bedeutung, Erklärung, Erfüllung etc. – zu finden und ihn jenseits dieses Lebens zu erhoffen, ist sicher kein Beweis für die Existenz eines solchen Sinnes oder Lebens. Er kann gerade junge Menschen auch in dunkle Stimmungen und kognitive Dilemmata bringen, die durch nichts als eine falsch gestellte Frage begründet sind. Hier hat die Philosophie durchaus eine „therapeutische“ Funktion. Trotzdem könnte eine solche Suche für alle Zeiten und viele Menschen etwas bleiben, was ihnen das Leben sinnvoll macht. Dass das Streben und Hoffen in diese Richtung für viele zu einem sinnvollen Leben gehört, ist zumindest bisher unbestreitbar und bleibt es vielleicht für immer. Solange solche Sinnerwartung nicht zu inakzeptablen moralischen Konsequenzen führt, kann man auch aus einer den Horizont des betreffenden Subjekts überschreitenden Perspektive nicht
22 Auch in der katholischen Theologie. Vgl. etwa Auer 1995 und Merks 2004.
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sagen, dass es ein verfehltes Streben ist. Sicher könnte es sich um ein Streben mit illusionären Vorstellungen handeln. Aber die Bedeutung, die Wünsche und Hoffnungen haben, nicht für das Erkennen, aber für das Handeln, und nach welchen Kriterien sie da zu kritisieren sind, ist sicher noch nicht endgültig geklärt.²³ So wenig sich aus der Frage nach dem Sinn des Lebens also ein Beweis für ein Leben jenseits der biologischen Lebensphase des Menschen ergibt, so wenig ist es Menschen vorzuwerfen, wenn sie ihrem Leben aus dieser Hoffnung einen Sinn verleihen – zumal sie davon ebenso ergriffen werden können wie von anderen Erfahrungen des Wertvollen und Bedeutsamen. Die Erwartung eines letzten Sinnes war zwar im metaphysischen Zeitalter teleologischer und schöpfungstheoretischer Welterklärungen naheliegender, weil auch von den Wissenschaften, den dominierenden Religionen und der traditionellen Gesellschaftsordnung gestützt. Aber widersinnig ist sie auch danach nicht. Es ist eine Frage individueller Erfahrung und Selbstbestimmung, ob man Sinn in diesem Leben oder über dieses hinaus sucht. Finden kann man ihn, wenn man nicht verzweifeltes Pech hat, an vielen Stellen. Daran zu arbeiten, dass sich die Bedingungen dafür verbessern, ist schon eine sinnvolle Aufgabe.
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23 Eine klassische Verteidigung des notwendigen und nicht unbedingt verzerrenden Einflusses affektiver Perspektiven nicht nur auf das Handeln, sondern auch das Erkennen, ist William James Schrift „The Will to Believe“ (James 1976).
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Thaddeus Metz
6 Das Sinnvolle und das Lebenswerte Zur Klärung ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede
6.1 Einleitung Unter den Ausdrücken, mit denen wir das Leben unserer Mitmenschen im positiven Sinne beschreiben, finden sich unter anderem auch „sinnvoll“ und „lebenswert“.¹ Die Aufgabe, die zu lösen ich mir in diesem Beitrag vorgenommen habe, ist die Beantwortung der Frage nach der Beziehung zwischen diesen beiden Wörtern. Dafür beziehe ich mich auf Texte zur Werttheorie sowohl aus der angloamerikanischen wie auch der kontinental-europäischen Tradition. Fragen nach dem Sinnvollen und dem Lebenswerten sind zwei der wenigen philosophischen Debatten, bei denen sich Denker des 21. und 20. Jahrhunderts in der analytischen wie kontinentalen Tradition beständig wechselseitig gelesen haben. Einige, darunter Albert Camus und Ludwig Wittgenstein, haben behauptet, dass die beiden Worte dasselbe meinen, entweder ihrem Bezug oder ihrem Sinn nach. Mein wichtigstes Ziel wird in der Zurückweisung dieser Position bestehen; stattdessen werde ich überzeugende Gründe für die Ansicht vorlegen, nach der ein sinnvolles Leben mit einem lebenswerten zwar vielerlei Eigenschaften teilt, beide aber dennoch nicht ein und dasselbe sind. Ich beginne meinen Aufsatz mit der Darlegung verschiedener Facetten des Sinnvollen und Lebenswerten, wie sie zumindest von zeitgenössischen westlichen Philosophen weitläufig geteilt werden, die sich lange Zeit über das Wesen des guten Lebens Gedanken gemacht haben (6.2). Nachdem ich beide Begriffe näher bestimmt habe, werde ich zeigen, weshalb viele mit durchaus guten Gründen angenommen haben, dass das sinnvolle und das lebenswerte Leben ein und dasselbe sind – vielleicht sogar per definitionem (6.3). Als nächstes greife ich aus der weitläufigen Literatur einige Gedanken von Philosophen wie Kurt Baier und Richard Wollheim heraus, die man vorbringen könnte, um diese Identität in Frage zu stellen, behaupte aber, dass sie schlussendlich nicht überzeugen, da sie auf einer unplausiblen Definition dieser beiden Ausdrücke beruhen (6.4). Im darauffolgenden Abschnitt gebe ich einige Gegenbeispiele bezüglich der Behaup-
1 Anmerkung der Übersetzer: Der Begriff „worthwhile“, der in der englischen Fassung des Textes verwendet wird, umfasst neben der hier durchgängig verwendeten Übersetzung des „Lebenswerten“ auch den Aspekt des „Lohnenswerten“.
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tung, dass ein Leben genau dann als sinnvoll bezeichnet zu werden verdient, wenn es auch lebenswert ist, und bringe weitere, nun grundsätzlichere Gründe vor, daran zu zweifeln, dass es sich bei beiden um ein und dieselbe Eigenschaft handelt (6.5). Nachdem ich gezeigt habe, dass beide Ausdrücke verschiedene Eigenschaften aufgreifen, schlage ich vor, sie ihrem Sinn nach verschieden aufzufassen und schließe mit zwei sich anbietenden Definitionen von „sinnvoll“ und „lebenswert“, welche die Art und Weise ihrer Verschiedenheit aufzeigen. Abschließend stelle ich noch einige Überlegungen zu den Auswirkungen dieser beiden Werte auf ein gutes Leben an (6.6).
6.2 Unumstrittene Bestandteile des Sinnvollen und Lebenswerten Einige behaupten, dass das sinnvolle Leben mit dem lebenswerten identisch ist, oder meinen sogar, dieser Zusammenhang sei analytisch wahr, d. h. wahr allein durch die Definition von „sinnvoll“ und „lebenswert“, wohingegen ich einen solchen Standpunkt als falsch zurückweisen möchte. Um die Art der Debatte etwas zu erhellen, werde ich mit einigen relativ unbestrittenen Facetten dieser beiden Begriffe beginnen. Woran also denken ich und meine philosophischen Gegner, wenn wir über die Beziehung zwischen dem Sinnvollen und dem Lebenswerten unterschiedlicher Meinung sind? Was ist der gemeinsame Gegenstand, über den wir verschiedene Auffassungen haben? Ich setze voraus, dass „sinnvoll“ ein Synonym zu „bedeutsam“ (significant) ist, und dass „unbedeutsam“ genau den gleichen Sinn hat wie „sinnlos“. Oftmals gebrauchen wir derlei Ausdrücke, wenn wir über unser Leben aus dem Blickwinkel des Sterbebetts nachdenken und uns fragen, ob unser Leben ertragreich war. Gleichfalls sind wir geneigt, in diesen Kategorien zu denken, wenn wir eine Lobrede über das Leben einer anderen Person verfassen. Viele von uns denken an diese Kategorien, wenn wir darüber nachsinnen, wie man wichtige Entscheidungen im Leben treffen sollte, etwa wen man heiratet, ob man Kinder großzieht oder nicht, wie man einen Feiertag verbringt oder welche Karriere oder Projekte man verfolgen soll. Die meisten von uns, die sorgfältig über den Sinn des Lebens nachgedacht haben, kommen zu der Auffassung, dass er von demjenigen herrührt, das klassischerweise als „das Gute, das Wahre und das Schöne“ bezeichnet wird.² Es ist, mit anderen Worten, weitgehend unbestritten, dass einem individuellen Leben
2 Siehe dazu Metz 2011.
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Sinn durch das Vollbringen moralischer Taten gegeben werden kann,³ etwa wenn wir uns für Gerechtigkeit einsetzen oder nach dem Gebot der Nächstenliebe handeln; oder über das differenzierte Nachsinnen über Dinge, die unserer intellektuellen Neugier angemessen sind; oder durch kreatives Handeln wie Malen, Komponieren, Schreiben, Gestalten und Ähnliches. Von so gut wie jedem wird zugestanden, dass Mutter Theresa, Nelson Mandela, Charles Darwin, Albert Einstein, Fjodor Dostojewski oder Pablo Picasso ihrem Leben viel Sinn gegeben haben. Würde man bestreiten, dass sie als gute Kandidaten für ein sinnvolles Leben in Frage kämen, so wäre dies ein falscher Gebrauch des Ausdrucks „Sinn“, oder wenigstens mit der Bereitschaft verknüpft, das Wort in einer radikal anderen Art und Weise zu verwenden, wie dies die meisten zeitgenössischen Philosophen und anderen Denker der europäisch-amerikanischen Literatur tun.⁴ Über das Wesen sinnloser Leben herrscht ebenfalls weitgehende Einigkeit, die durch routiniert vorgetragene Gedankenexperimente gestützt wird. Drei klassische Fälle unanfechtbarer Sinnlosigkeit sind etwa die mythische Figur des Sisyphos, dazu verdammt, auf ewig einen schweren Felsbrocken einen Hügel herauf zu rollen;⁵ oder das in einer Erfahrungsmaschine verweilte Leben, die einen mit Wahrnehmungen fesselnder und herausfordernder Aktivitäten versorgt oder die eigene Vortrefflichkeit vorgaukelt, ohne dass irgendetwas davon tatsächlich der Fall wäre – man ist einfach an diese Maschine angeschlossen, die das Gehirn so stimuliert, dass diese Eindrücke erzeugt werden;⁶ oder das Beispiel des Landwirts, der Getreide anbaut, um seine Schweine zu füttern, damit er weiteres Land dazukaufen und so mehr Getreide anbauen kann, um noch mehr Schweine zu füttern, um so weiteres Land zum Anbauen von Getreide zu erwerben und so weiter.⁷ Realistischere Beispiele von Sinnlosigkeit wären unter anderem, auf Scharlatane hereinzufallen, die einem das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein, indem man etwa fälschlicherweise an die Treue seiner Geliebten oder an die Göttlichkeit eines
3 Man beachte, dass die Rede vom Sinn eines individuellen Leben sich von der Frage unterscheidet, weshalb die menschliche Art als Ganze existiert oder warum es überhaupt ein Universum gib (statt gar nichts). Diese beiden Fragen berühren deutlich „holistischere“ oder „kosmischere“ Themen. 4 Man hat mir entgegnet, dass wir den Ausdruck „sinnvolles Leben“ in ganz unterschiedlichen Weisen verwenden, so dass es keine einzelne Bedeutung gibt, auf die sich alle Philosophen berufen würden. Nehmen wir an, das sei wahr: Dann soll der Leser davon ausgehen, dass ich eine einzelne, vorherrschende Weise unseres Sprechens über den „Sinn im Leben“ ausbuchstabiere, soweit sich diese auf die Leben von individuellen Personen beziehen lässt. 5 Vgl. Camus 2000 [1942]; Taylor 1970. 6 Vgl. Nozick 1974, 42 – 45. 7 Vgl. Wiggins 1988, 137.
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charismatischen Führers glaubt;⁸ oder das Beispiel des „Blobs“: jemand, der sein ganzes Leben damit zubringt, bierselig Sitcoms anzuschauen;⁹ oder das Ausüben von Prostitution mit dem Ziel, die eigene Drogenabhängigkeit zu finanzieren.¹⁰ Wiederum gilt, dass niemand einfach behaupten kann, derlei Verhalten sei faktisch oder möglicherweise sogar begrifflich sinnvoll, ohne sich bei fast allen in diesem Feld Forschenden den Verdacht auszusetzen, dass er den Ausdruck falsch gebraucht und sich damit aus dem zeitgenössischen akademischen Diskurs ausklinkt. Nachdem ich näher ausgeführt habe, was wir wesentlich vor Augen haben, wenn wir jemandes Leben als „sinnvoll“ oder „sinnlos“ bezeichnen, komme ich nun zu „lebenswert“ oder „nicht lebenswert“. Ein Synonym für ein „lebenswertes“ Leben ist ein Leben, das „wert ist, gelebt zu werden“, wohingegen ein Leben, das „nicht wert ist, gelebt zu werden“ die gleiche Bedeutung hat wie ein „nicht lebenswertes“ Leben.¹¹ Viele beziehen sich auf diese Kategorien innerhalb bestimmter medizinischer Kontexte. Dies gilt beispielsweise, wenn man über die Bedingungen nachdenkt, unter denen Sterbehilfe erlaubt sein könnte, oder wenn man fragt, wann es angemessen wäre, eine Anweisung der Art „Nicht wiederbeleben!“ zu geben, oder wann es nicht länger sinnvoll scheint, knappe medizinische Ressourcen für eine tödlich Erkrankte aufzuwenden, anstatt sie in ein Hospiz zu verlegen. Und ebenso wie Urteile über die Werthaftigkeit eines Lebens oftmals zu bestimmten biomedizinisch-ethischen Entschlüssen über das Leben- oder Sterbenlassen anderer führen, finden sie sich auch im Kern der Debatten über prudentielle und moralische Aspekte des Suizid wieder. Hier wird von vielen angenommen, dass es (jedenfalls bis zu einem gewissen Grad) vernünftig wäre, sich selbst zu töten, wenn das eigene Leben nicht länger lebenswert ist.¹² Weiterhin berufen wir uns auf den Ausdruck des lebenswerten Lebens (bzw. sein Gegenstück) häufig,wenn wir uns über Populations- und Fortpflanzungsethik Gedanken machen.Wenn man sich entscheidet, ob man ein Kind bekommen sollte oder nicht, schaut man natürlicherweise darauf, ob dessen Leben lebenswert sein würde. Dabei stimmen fast alle darin überein, dass es falsch wäre, ein Kind zu
8 Vgl. Wolf 1997, 211 und 218. 9 Vgl. Wolf 2003. 10 Metz 2009, 9. 11 Anmerkung der Übersetzer: Was sich im Deutschen wie eine Trivialität ausnimmt, ergibt im Englischen durch die nicht im gleichen Maße ähnlich klingenden Bezeichnungen „worthwile“ und „worthless“ mehr Sinn. Gegen die mögliche Übertragung von „worthless“ mit „wertlos“ wurde sich bewusst entschieden; siehe dazu auch Fußnote 16. 12 Siehe beispielsweise Camus 2000 [1942]; Wollheim 1984, 244 – 245; Baier 1997, 67 – 70 und Trisel 2007, 4.
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zeugen, von dem man weiß, dass es mit einer Krankheit geschlagen wäre, die nach einem kurzen, von Kraftlosigkeit und Schmerzen gezeichneten Leben mit Gewissheit zum Tod führt. Aber auch wenn wir einen größeren Maßstab anlegen und uns fragen, wie viele Menschen auf unserem Planeten leben sollten (und was politische Einrichtungen tun können, um dies zu beeinflussen), ist es wiederum unter Sozialphilosophen wie Ethikern gemeinhin anerkannt, sich zu fragen, bis zu welchen Ausmaß zukünftige Menschen ein lebenswertes Leben führen würden. Nachdem ich einige essentielle Merkmale sinnvoller und lebenswerter Leben herausgestellt habe, wenigstens insoweit dies von einem ganz überwiegenden Teil zeitgenössischer westlicher Werttheoretiker mitgetragen wird, beginnt man zu ahnen, weshalb einige die beiden miteinander identifizieren. Gewiss führt jemand, der sich erfolgreich am Wahren, Schönen und Guten als den Wahrzeichen eines sinnvollen Lebens versucht hat, auch ein lebenswertes Leben. Ebenso wahr scheint zu sein, dass das sinnlose Leben eines Sisyphos nicht lebenswert ist; und gleichfalls würden nur wenige ein Leben als „Couch-Potato“ führen oder in einer Erfahrungsmaschine dahinvegetieren wollen. Umgekehrt könnte jemand zu Recht finden, dass ein Leben so lange begonnen und weitergeführt zu werden verdient, meinetwegen auch unter Zuhilfenahme immenser medizinischer Ressourcen, wie man ihm einen Sinn abgewinnen kann, wohingegen das für Leben, denen jeglicher Sinn abgeht, nicht gilt. Im folgenden Abschnitt möchte ich weitere Belege aufführen, die es prima facie sinnvoll erscheinen lassen, das Sinnvolle mit dem Lebenswerten gleich zu setzen.
6.3 (Scheinbare) Belege für die Identitätsthese Zu den prominenten Denkern, die von der Identität des Sinnvollen mit dem Lebenswerten ausgegangen sind, gehören etwa Albert Camus und Ludwig Wittgenstein,¹³ sowie – nun neueren Datums – Robert Solomon und Julian Baggini.¹⁴ Susan Haack und Wai-hung Wong haben ebenfalls Sympathien für diese Position erkennen lassen.¹⁵ Nur wenige der genannten Philosophen geben dabei irgendein Argument für die von ihnen angenommene Identität; sie scheinen sie vielmehr als selbstverständlich vorauszusetzen. In diesem Abschnitt erläutere ich, was eine solche Sichtweise motivieren könnte: Warum ist sie es wert, ernst genommen zu werden, auch wenn ich sie letztendlich als fehlgeleitet betrachte?
13 Siehe Camus 2000 [1942], 11 und Wittgenstein 1965, 5; vgl. jedoch Camus 2000 [1942], 15. 14 Siehe Solomon 1993, 27 – 43 und Baggini 2004, 149, 166 – 170. 15 Vgl. Haack 2002 und Wong 2008, 126 – 134.
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Zum ersten sind sowohl das Sinnvolle als auch das Lebenswerte evaluative Kategorien, d. h. ganz grundsätzliche Arten, den Wert des Lebens einer Person einzuschätzen, um es in bestimmten Hinsichten als gut oder schlecht zu beurteilen. Dadurch unterscheiden sie sich von Urteilen, die vorrangig auf das Vorhandensein eines Grundes für den Handelnden abzielen, eine bestimmte Handlung eher als eine andere auszuführen. In dieser Rücksicht lässt sich das Sinnvolle und Lebenswerte vom Klugen und Gerechten unterscheiden: In den letzten beiden Fällen gibt man im Wesentlichen ein normatives Urteil darüber ab, wie ein Handelnder sich bei einer bestimmten Entscheidung verhalten soll, entweder aus Gründen des Eigeninteresses oder der Berücksichtigung anderer. Natürlich können und sollten auch Urteile über das Sinnvolle und Lebenswerte in unsere Handlungsentscheidungen einfließen; mein Punkt ist aber, dass diese Urteile nicht als solche davon handeln, wie man agieren soll. Um das noch deutlicher zu machen, betrachte man jemanden, der zu keinerlei Handlung fähig ist, beispielsweise weil er in einen engen Käfig eingepfercht ist oder zwangsweise in ein künstliches Koma versetzt wurde. Während man seine Situation durchaus als sinnlos oder nicht lebenswert beschreiben könnte, ist damit nicht gesagt, dass er eine schlechte Wahl getroffen hat oder sich hätte besser entscheiden können. Zum zweiten lassen das Sinnvolle und das Lebenswerte variable und graduell unterschiedliche Bewertungen zu. Die Variabilität von Urteilen darüber zeigt sich darin, dass das Leben mancher Menschen diese Merkmale trägt, während dies bei anderen nicht der Fall ist. Es ist in der Tat kohärent zu sagen, dass manche Leben lebenswert sind und manche eben nicht; und genauso, dass manche Leben sinnvoll sind, während dies bei anderen nicht so ist.¹⁶ Weiterhin können diese Merkmale in ihrem Grad unterschieden werden. Das Leben von Einstein war ohne Zweifel sinnvoller als meines jemals sein wird. Und obwohl die Redeweise von einem „lebenswerten Leben“ suggeriert, dass wir eine bestimmte Schwelle übertreten haben, zeigt sich nach etwas Nachdenken, dass einige Leben lebenswerter sind als andere. In diesem Sinne unterscheiden sich das Sinnvolle und das Lebenswerte etwa vom Begriff der Würde, der zumeist als unveränderlich gegenüber Personen oder vielleicht sogar menschlichem Leben als solchem gedeutet wird, und der allen, auf die er zutrifft, in gleichem Umfang zukommt. Zum dritten könnte man vermuten, dass das Sinnvolle und das Wertvolle nicht verschieden sind, weil häufig eine gewisse Kovarianz zwischen beiden auftritt. Dies hatte ich am Ende des vorigen Abschnitts bereits angedeutet. In vielen Fällen ist ein sinnvolles Leben auch ein lebenswertes – und umgekehrt. Ebenso halten
16 Natürlich impliziert ein solches Urteil nicht, dass solchen Leben ein intrinsischer Wert, Würde oder ein moralischer Status fehlt.
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wir sinnlose Leben häufig auch für nicht lebenswert – und andersherum. Damit zusammenhängend lässt sich eine vierte Überlegung formulieren, nämlich, dass man von einer Konstitutionsbeziehung zwischen beiden ausgehen könnte. Darunter verstehe ich, dass viele Merkmale, die ein Leben sinnvoll machen, auch dafür verantwortlich sind, dass es lebenswert ist (und umgekehrt). Damit ist nicht nur gemeint, dass einige Leben, die sinnvoll sind, auch lebenswert sind.Vielmehr ist der stärkere Punkt angesprochen, dass dasjenige, was ein Leben sinnvoll macht, zum Beispiel seine Kreativität oder Tugend, auch dasjenige ist, was es als lebenswert auszeichnet.¹⁷ Unbeschadet dieser guten Gründe, die sich für die These anführen lassen, dass das Sinnvolle und das Lebenswerte identisch sind, werde ich im Folgenden dagegen argumentieren. Bevor ich aber diesem Projekt nachgehe, möchte ich demonstrieren, dass es überhaupt noch sinnvoll ist, es zu verfolgen. In der Literatur werden nämlich bereits einige Strategien zur Unterteilung vorgeschlagen, die jedoch meiner Ansicht nach nicht erfolgreich sind und daher eine Alternative immer noch notwendig machen.
6.4 Unplausible Strategien, zwischen dem Sinnvollen und dem Lebenswerten zu unterscheiden Um das Sinnvolle und das Lebenswerte zu unterscheiden, wird in der umfangreichen Literatur häufig so vorgegangen, dass bestimmte Definitionen von beiden vorgeschlagen werden, die sich eindeutig unterscheiden. Demgegenüber werde ich in diesem Abschnitt argumentieren, dass es sich dabei nicht um angemessene Definitionen handelt, weil sie die beiden Begriffe auf eine zu enge Weise verstehen. Ein solcher Versuch läuft damit auf eine falsche Darstellung der zu differenzierenden Begriffe hinaus. Zunächst gibt es einige, die behaupten, dass ein lebenswertes Leben per definitionem mehr Freude oder Zufriedenheit als Schmerz oder Unzufriedenheit er-
17 Eine fünfte Überlegung, bei der ich mir aber weniger sicher bin, betrifft die anscheinende Abwesenheit von kausalen Beziehungen zwischen dem Sinnvollen und Lebenswertem. Wenn beide verschieden sind, dann würde man kausale Beziehungen zwischen ihnen erwarten, etwa in dem Sinne, dass der Sinn in einem Leben jemanden auch glücklicher macht oder umgekehrt Glück die Sinnhaftigkeit eines Lebens erhöht (vgl. Metz 2009, 5). Jedoch wird in der Regel nicht davon gesprochen, dass der Sinn in einem Leben den Effekt hat, dieses Leben auch lebenswert zu machen, und vice versa.
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warten lässt, oder zumindest eine Menge an Wohlbefinden verspricht, die die Menge an Leid erheblich überwiegt.¹⁸ Wenn dies zuträfe, dann wäre es eindeutig, dass die Rede vom „Sinnvollen“ davon zu unterscheiden ist, da es gemeinhin anerkannt ist, dass Sinnhaftigkeit trotz schlechter Aussichten auf ein solches Leben logisch möglich ist. Zahlreiche Hollywood-Filme handeln davon, dass der Held gegen alle Widerstände ankämpft, um etwas aus seinem Leben zu machen, und am Ende auch erfolgreich ist. Ein gutes Beispiel hierfür ist vielleicht eine wagemutige Rettungsaktion, deren Erfolgschancen nur sehr gering waren und dem Retter mit einiger Wahrscheinlichkeit sein Leben hätten kosten können. Ich meine jedoch, dass ein lebenswertes Leben keines ist, das einen (hinreichend) hohen erwartbaren Ertragswert von Wohlbefinden minus Leid aufweist, denn zwei Leben können in dieser Hinsicht den gleichen erwartbaren Wert haben und sich dennoch darin unterscheiden, ob sie lebenswert sind – das hängt nämlich vom tatsächlichen Erfolg ab. Ein Leben kann durchaus ein lohnenswertes Wagnis sein, aber sich am Ende doch als nicht lebenswert herausstellen. Man denke hier etwa an den Betrüger, der allen Grund zu der Annahme hat, dass sein Betrug nicht aufgedeckt wird, der jedoch am Ende im Gefängnis landet. Ebenso kann ein Leben erwartbar schlecht sein, sich aber nichtsdestotrotz als lebenswert herausstellen, zum Beispiel, indem jemand physische und psychische Hemmnisse übersteht, ohne dass seine Ärzte dies für möglich gehalten hätten. Helen Kellers Leben ist so ein Fall, in dem ein Leben lebenswert ist, obgleich nicht erwartet wurde, dass es einen hohen Ertragswert im oben angeführten Sinne haben würde.¹⁹ Vielleicht ist ein lebenswertes Leben aber auch per definitionem eines, das nicht nur erwartbar, sondern auch tatsächlich mehr Wohlbefinden als Leid aufweist. Trifft dies zu, dann ist auch klar, dass die Rede von „Sinnhaftigkeit“ davon zu unterscheiden ist, da es gemeinhin anerkannt ist, dass Sinn logisch von anderen Dingen abhängen kann als dem eigenen Wohlbefinden. Eigene Kinder zu haben reduziert klarerweise das eigene Glück, während gewöhnlich behauptet wird, dass es die Sinnhaftigkeit steigert.²⁰ Die meisten glauben zudem, dass ein Leben Sinn erhalten kann, wenn man sein eigenes Wohlbefinden für andere opfert.
18 So Wollheim 1984, 244 und Baier 1997, 69. 19 Helen Keller (1880 – 1968) war eine taubblinde amerikanische Schriftstellerin. Gesund geboren, verlor sie Hörfähigkeit und Sehvermögen in ihrem zweiten Lebensjahr aufgrund einer Hirnhautentzündung. Später lernte sie wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren und engagierte sich zeitlebens für Menschen mit Behinderungen und Benachteiligte. 20 Vgl. Senior 2010.
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Ich meine jedoch, dass ein lebenswertes Leben nicht durch eine bestimme Summe von Wohlbefinden konstituiert wird, da dies Vorstellungen eines lebenswerten Lebens ausschließen würde, die dem intuitiv entgegenstehen. Zum Beispiel haben einige Religionsphilosophen mit Leo Tolstoi dafür argumentiert, dass ein lebenswertes Leben eines ist, das ewig andauert;²¹ wiederum andere haben behauptet, dass sich ein lebenswertes Leben nicht wiederholbar sein darf.²² Selbst wenn man annimmt, dass diese Behauptungen falsch sind, dann sind sie es nicht schon aus begrifflichen Gründen – wie es der Fall wäre, wenn die vorgeschlagene Definition von „lebenswert“ wahr wäre. Derjenige, der bisher am meisten explizit zur Unterscheidung zwischen dem Sinnhaften und Lebenswertem beigetragen hat, ist Brooke Alan Trisel.²³ Er argumentiert, dass ein sinnvolles Leben eines ist, das bestimmte Ziele realisiert. Falls diese Aussage zutrifft, dann ist, wie Trisel herausstellt,²⁴ die Rede von „lebenswert“ davon zu unterscheiden. Denn es ist unkontrovers, dass ein Leben aufgrund anderer Merkmale als nur zweckorientierter Aktivitäten lebenswert sein kann (und das gilt auch dann, wenn diese für ein lebenswertes Leben insgesamt instrumentell notwendig sind). Zum Beispiel können erfahrene Lustzustände zumindest bis zu einem gewissen Grad ein lebenswertes Leben ausmachen, auch wenn angenommen wird, dass diese Zustände nicht das Ergebnis von zielgerichteten Handlungen sind. Entgegen der Ansicht Trisels behaupte ich nun, dass ein sinnvolles Leben nicht lediglich eines ist, das bestimmte Ziele realisiert. Vielmehr kann Sinnhaftigkeit auch unter bestimmten Bedingungen hervorgebracht werden, die nicht zweckhaftes Handeln voraussetzen.²⁵ Menschen haben häufig daran geglaubt, dass ihr Leben zumindest bis zu einem gewissen Grad dadurch sinnvoll wird, dass sie einem bestimmten Geschlecht angehören (eine aristokratische Ansicht), sie von Gott auserwählt wurden (z. B. im Judentum), eine unsterbliche Seele besitzen (z. B. im Hinduismus), geliebt und bewundert werden, oder dass sie nach ihrem Tod sonstige „Spuren“ hinterlassen (die möglicherweise gar nicht intendiert waren). Wenn aber Sinnhaftigkeit nicht notwendigerweise zweckhaftes Handeln einschließt, dann bleibt es eine offene Frage, inwiefern das Sinnhafte mit dem Lebenswerten zusammenfällt.
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Vgl. Tolstoi 1978 [1882]; Morris 1992, 26. Vgl. Blumfeld 2009. Vgl. Trisel 2007. Vgl. Trisel 2007, 2 f. Vgl. dazu Metz 2001, 141 f.
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6.5 Eine neue Strategie, das Sinnhafte vom Lebenswerten zu unterscheiden Im vorigen Abschnitt habe ich gegen Versuche argumentiert, die zwischen dem Sinnhaften und dem Lebenswerten unterscheiden, indem sie zunächst verschiedene Definitionen aufstellen und im zweiten Schritt daraus schließen, dass die beiden Eigenschaften differieren. In diesem Abschnitt verfolge ich genau die umgedrehte Strategie, die von der Idee ausgeht, dass zwei Wörter verschiedene Bedeutungen haben, wenn sie eindeutig auf verschiedene Eigenschaften verweisen. In diesem Abschnitt werde ich daher aufzeigen, dass die Rede von einem „sinnvollen“ und „lebenswerten“ Leben auf verschiedene Eigenschaften referiert, was uns nicht nur einen guten Grund liefert, beide für nicht synonym zu halten, sondern auch einige Hinweise darauf gibt, welche Definitionen für diese Begriffe angemessen sind. Auf diesen letzten Punkt werde ich am Ende des Beitrages nochmals zurückkommen. An dieser Stelle beschränke ich mich darauf, Fälle anzuführen, in denen ein Leben lebenswert ist, aber nicht sinnvoll, oder in denen ein Leben sinnvoll ist, aber nicht lebenswert, wobei ich im Anschluss eine Erklärung für diese Differenz anbieten werde.
6.5.1 Gegenbeispiele Als erstes betrachten wir solche Leben, die intuitiv lebenswert sind, aber nicht sinnvoll, oder sich wenigstens ihrem Grad nach darin erheblich unterscheiden. Der aus meiner Sicht klarste Fall ist der Hedonist, also ein Individuum, das seine eigene Lust maximieren und sein Leid minimieren möchte. Das Leben eines erfolgreichen Hedonisten – das heißt: ein Hedonist, der sein Ziel erreicht hat – scheint durchaus lebenswert zu sein; jedenfalls scheint es vernünftig, im Angesicht einer solchen Existenz keinen Selbstmord zu begehen. Sicherlich macht das Essen von Schokolade und Eiscreme das Leben (irgendwie) lebenswerter, aber es macht es ganz sicher nicht bedeutsamer. Einen zweiten Fall stellt etwa der Gesundheitsfanatiker dar, zum Beispiel in Gestalt eines Marathonläufers. Nehmen wir an, dass der „Runners High“ nicht so beträchtlich und lang anhaltend ist, um ein solches Individuum als Hedonisten bezeichnen zu können. In diesem Fall scheint es so, dass das Training des eigenen Körpers und die sich daraus ergebende Möglichkeit, herausfordernde körperliche Ziele zu erreichen, durchaus „lebenswert“ genannt werden können. Drittens kann man an Menschen denken, die besonders reich und einflussreich sind, oder noch spezifischer: an Menschen, die ihren Reichtum und ihre Macht dafür nutzen, einen großen Einfluss auf die Menschheit auszuüben. Selbst in dem Fall, dass dieser Einfluss nicht positiv ist,
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haben viele die Intuition, dass die Tatsache, dass man Einfluss hat, dazu beitragen kann, ein lebenswertes Leben zu führen.²⁶ Ich wende mich jetzt Fällen zu, in denen ein Leben zwar Sinnhaftigkeit aufweist, aber nicht lebenswert ist, oder – wie oben auch – in denen sich beide zumindest ihrem Grad nach radikal unterscheiden. Ich bin versucht zu sagen, dass so ein Fall vorliegt, wenn das Leben einer Person sinnvoller wird, indem sie ein Leben führt, das nicht lebenswert ist, dadurch aber anderen ein solches Leben erspart. Insofern ein solches Gedankenexperiment kohärent durchgeführt werden kann, sind das Sinnvolle und Lebenswerte klarerweise verschieden! Jedoch wird jemand, der beide für identisch hält, wahrscheinlich dieses Gedankenexperiment mit dem Hinweis zurückweisen, dass ich hier eine petitio principii begehe. Ich werde mich daher einigen weniger kontroversen Beispielen zuwenden. In anderen Zusammenhängen habe ich den Fall diskutiert, dass ein Individuum leidet und dadurch Leid von anderen Individuen fernhält.²⁷ Denken wir etwa an jemanden, der freiwillig die Rolle als Geschäftsführer in seinem Institut übernimmt, also unliebsame Verwaltungsaufgaben wahrnimmt und an langweiligen Versammlungen teilnimmt, sodass diese Aufgaben von seinen Kollegen gemieden werden können. Oder denken wir an solche Menschen, die in Pflegeberufen tätig sind und sich freiwillig strengem Geruch, Schmutz, Not usf. aussetzen, um diese Dinge bei anderen zu verringern. In solchen Zusammenhängen erscheint es ganz natürlich zu sagen, dass solche Handlungen den Leben dieser Menschen mehr Sinn verleihen, sie aber trotzdem nicht (oder nur zu einem wesentlich kleineren Grad) lebenswert machen. Als nächstes wäre an Individuen zu denken, die aus einem guten Grund Selbstmord begehen, zum Beispiel, um Unschuldige zu beschützen. Nehmen wir ein klassisches Rettungsboot-Szenario, in dem nicht genug Plätze für alle vorhanden sind.Wer nun freiwillig seinen Platz für jemand anderen aufgibt, führt sicherlich eine sinnvolle Handlung aus, aber keine, die es lohnenswert erscheinen ließe, das eigene Leben fortzuführen. Nachdem einige Ausnahmen zur vermeintlichen Regel vorgeführt wurden, dass das Sinnhafte und Lebenswerte extensional äquivalent sind, werde ich mich jetzt den theoretischen Lehren zuwenden, die man aus diesen Differenzen ziehen kann. In diesem Zusammenhang erscheinen mir insbesondere vier als bedeutsam.
26 Vgl. Nozick 1989, 170 – 181. 27 Metz 2007 und 2009, 15.
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6.5.2 Die inhärente Abwägung mit einer negativen Dimension Wenn wir über das Lebenswerte nachdenken, berücksichtigen wir dabei immer auch eine negative Dimension, d. h., wir haben immer auch einen Unwert vor Augen. Die Frage, ob ein Leben es wert ist, gelebt zu werden, bringt wesentlich die Vorstellung mit sich, dass ein Teil des Lebens unerwünscht ist. Es wird danach gefragt, ob die erwünschten Seiten des Lebens die Mühe wert sind, die unerwünschten durchzustehen.²⁸ Mit der Frage, ob ein Leben sinnvoll ist, verhält es sich in diesem Punkt anders, denn sie impliziert keine Aussage über die Anwesenheit einer solchen negativen Dimension. Auch wenn einige durchaus die Existenz einer Art „Anti-Sinn“ behaupten, also das Bestehen von etwas, was den Sinn unseres Lebens reduziert,²⁹ bleibt es kontrovers, ob es sie gibt. Dieses Problem ist deshalb kein analytischer Bestandteil der Frage nach dem sinnvollen Leben, mit der wir lediglich danach zu fragen scheinen, ob ein bestimmtes positives Element vorhanden ist.
6.5.3 Die Bedeutung des Todes Sicherlich kann dasjenige, was ein Leben es wert macht, weitergelebt zu werden, nicht etwas sein, was auch das Ende des Lebens als wertvoll erscheinen lässt. Deshalb wird im Kontext der Frage nach dem lebenswerten Leben ständig über Selbstmord diskutiert.³⁰ Dabei wird überwiegend davon ausgegangen, dass eine hinreichende Bedingung dafür vorliegt, keinen Selbstmord zu begehen, wenn ein Leben es wert ist, weitergeführt zu werden. Im Gegensatz dazu kann das Sinnvolle, obwohl es oft als etwas angesehen wird, wofür sich zu leben lohnt, auch etwas sein, wofür es sich lohnt zu sterben (wie etwa Josef Heller in dem berühmten Roman Catch-22 aufzeigt). Einige Bedingungen des Sinnvollen werden häufig so verstanden, dass sie Gründe abgeben können, Selbstmord zu begehen oder zumindest seinem eigenen Tod nicht mehr aktiv entgegenzuarbeiten, weil das Sterben dem Leben bestimmte narrative Eigenschaften verleihen oder gute Konsequenzen für das Leben anderer hervorbringen kann.
28 Vgl. Camus 2000 [1942], 17; siehe auch Trisel 2007, 5 und Baier 1997, 68 f. Eine andere Sicht vertritt Baier in einem früheren Text; vgl. Baier 1988, 49. 29 Vgl. Metz 2009, 14 und 18. 30 Vgl. Camus 2000 [1942]; Wollheim 1984, 244 f.; Baier 1997, 67 – 70.
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6.5.4 Die Bedeutung von Empfindungen Die Frage, ob ein Leben lebenswert ist, wird zum Teil überzeugend durch den Verweis auf hedonistische Erwägungen beantwortet. Das ist aber nur ein Aspekt. Ein zweiter Aspekt besteht darin, dass zumindest für viele der heutigen NichtUtilitaristen Lust nicht nur in der Form der Nettobilanz von Lust minus Schmerz relevant ist. Stattdessen müsste nach der herrschenden Meinung die Frage, ob ein Leben lebenswert ist, ungeachtet der künftigen Lustzustände, die das Leben eines Tages mit sich bringt, zu Recht negativ beantwortet werden, wenn man sich einer langen Zeitspanne hinreichend intensiven Schmerzes gegenübersähe – beispielsweise ein Jahr, in dem man täglich gefoltert wird.³¹ Die Frage, ob ein Leben sinnvoll ist, kann dagegen nicht überzeugend beantwortet werden, indem auf nackte Tatsachen über Lustzustände verwiesen wird;³² man kann sich das am Beispiel des Verspeisens von Schokolade oder Eis nochmals vor Augen führen. Außerdem kann ein langer Zeitraum intensiven Schmerzes zwar völlig sinnlos sein und vielleicht sogar den Sinn eines Lebens beeinträchtigen, aber er kann als solcher das Leben nicht als möglichen Träger eines per Saldo-Sinnes disqualifizieren.³³ Wer gefoltert wurde, kann sich möglicherweise auf besonders einfühlsame Weise um andere Folteropfer kümmern und auf diese Art seinem Leben Bedeutung verleihen.
6.5.5 Der Fokus auf interne Aspekte eines Lebens Die Frage, ob ein Leben lebenswert ist, wird (vermutlich per definitionem) korrekt beantwortet, indem man sich auf Tatsachen bezieht, die in einem bestimmten Sinn dem Leben selbst innewohnen. Damit beziehe ich mich nicht allein auf die sinnlichen Empfindungen einer Person (wie in 6.5.4), sondern auch auf ihre Aktivitäten, Ziele und Zustände sowie deren Verteilung über die Lebenszeit.Während die Ausübung von Tugenden etwas ist, was ein Leben lebenswert machen könnte, erscheint es beispielsweise begrifflich unangemessen anzunehmen, dass das Leben von irgend jemandem aufgrund von Konsequenzen für das Leben anderer lebenswert war. Dies gilt wenigstens dann, wenn diese Konsequenzen nicht intendiert waren und man sich ihrer niemals bewusst wurde.³⁴ Dagegen wird in der zeitgenössischen Sinn-des-Lebens-Debatte behauptet, zu dem, was Sinn von an-
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Vgl. z. B. Blumenfeld 2009, 382 – 386. Und das ist vermutlich eine analytische Wahrheit; vgl. dazu Metz 2001 und 2009. Vgl. Frankl 1977. Vgl. Blumenfeld 2009, 369 f.
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deren Werten wie Lust oder Glück unterscheidet, gehöre, dass er zumindest der logischen Möglichkeit nach durch eher „externe“ Faktoren hervorgebracht werden kann. Es ist beispielsweise angemessen davon auszugehen, dass das Leben des Vincent van Gogh durch die postume Anerkennung und Wertschätzung, die es erfahren hat, sinnvoller geworden ist, ohne dass sein qualvolles Leben dadurch lebenswerter geworden wäre. In meinen Augen habe ich in diesem Abschnitt ausreichend Gründe gegen die These dargelegt, dass das Sinnvolle einfach mit dem lebenswerten Leben identisch sei. Auch wenn es eine substantielle Beziehung zwischen den beiden Eigenschaften gibt, die ich nicht bestreiten möchte (siehe Abschnitt 6.3), habe ich wichtige Differenzen zwischen ihnen herausgearbeitet. Wenn ich das Sinnvolle und das Lebenswerte als Kreise in einem Venn-Diagramm darstellen müsste, würden sie sich teilweise, sogar großteils, überlappen, aber sie würden nicht zusammenfallen.Was zu tun bleibt, ist, den Begriffen „sinnvoll“ und „lebenswert“ Bedeutungen zuzuweisen, die es Philosophen erlaubt, beide Eigenschaften bei der Bewertung der Qualität eines Lebens auseinander zu halten.
6.6 Fazit Ich hoffe, dass diejenigen, die zunächst davon ausgegangen sind, dass sich das Sinnvolle und das Lohnenswerte inhaltlich näher stehen als ich behauptet habe, nun dazu neigen, ihre Meinung zu ändern. Wenn man den verschiedenen werttheoretischen Unterschieden zwischen den beiden Eigenschaften, denen wir uns im vorigen Abschnitt genähert haben, zustimmt, dann sind das „Sinnvolle“ und das „Lebenswerte“ zwei Begriffe, die genauer in den Blick zu nehmen hilfreich sein könnte. Ich schließe deshalb damit, Definitionen der beiden Begriffe vorzuschlagen, die von der Argumentation des vorigen Abschnitts gestützt werden, und danach zu fragen, wie sich das Sinnvolle und das Lebenswerte in ein erstrebenswertes Leben einpassen lassen. Rufen wir uns in Erinnerung, dass ich oben (Abschnitt 6.4) argumentiert habe, dass eine Definition des „Lebenswerten“ in Begriffen des erwartbaren oder tatsächlichen Wohlbefindens (well-being) zu eng gefasst wäre. Die folgende Definition halte ich für vielversprechender: Dass ein Leben lebenswert ist (oder wert ist, gelebt zu werden), bedeutet, dass es, weitgehend aufgrund von sinnlichen Empfindungen und anderen dem Leben innewohnenden Tatsachen, einen gewissen Wert und nur wenig Wertminderndes beinhaltet. Der Wert muss dabei so groß und das Wertmindernde so gering ausfallen, dass es vernünftig ist, dem Leben gegenüber positive Einstellungen einzunehmen. Das kann etwa heißen, es
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hochzuschätzen, sich ein solches Leben zu wünschen, sich über das Leben zu freuen oder Zufriedenheit darüber zu verspüren. Eine solche Analyse dessen, was es heißt, ein lebenswertes Leben zu führen, sollte im Lichte der Argumente dieses Beitrags überzeugend klingen. Darüber hinaus sind einige prima facie-Hinsichten zu beachten, in denen sie eine Verbesserung gegenüber konkurrierenden Analysen darstellt, die in der Literatur zu finden sind. Kurt Baier hat die Ansicht vertreten, ein Leben als lebenswert zu beurteilen sei per definitionem nichts anderes, als begierig danach zu sein, das gleiche Leben nochmals zu durchleben.³⁵ Eine solche Analyse würde jedoch implizieren, dass es logisch widersprüchlich ist, die Meinung zu vertreten, dass ein Leben weniger lebenswert wäre, wenn man es nochmals durchlaufen müsste – eine Meinung, für die David Blumenfeld argumentiert hat.³⁶ Blumenfeld schlägt stattdessen vor, dass die Rede von einem lebenswerten Leben per definitionem mit der Behauptung einhergeht, es sei besser, zu existieren, als nicht zu existieren.³⁷ „Besser“ ist jedoch ein vager Ausdruck, der einen engen Begriff des Wohlbefindens (well-being) nahe legen könnte. Meiner Ansicht nach können dagegen Tugend oder Selbstverwirklichung, um zwei Beispiele zu nennen, zumindest der logischen Möglichkeit nach gute Kandidaten für das Lebenswerte sein. Durch die Rede von dem Leben innewohnenden Tatsachen wird dies in der von mir vorgeschlagenen Analyse zugelassen. Schließlich schlägt Trisel in seinen Schriften die Ansicht vor, ein Leben als lebenswert zu beurteilen sei einfach damit identisch, sich tendenziell für seine eigene Geburt zu entscheiden, wenn man die Möglichkeit dazu hätte.³⁸ Bei wenigen von uns steht jedoch dieses eigenartige Gedankenexperiment im Zentrum, wenn wir etwa im Kontext der Euthanasie darüber nachdenken, ob ein Leben es wert ist, weitergeführt zu werden. In jedem Fall erscheint es angemessen, sich auf eine breitere Auswahl von positiven Einstellungen zu beziehen, statt nur auf eine einzige. Ich habe andernorts viel daran gearbeitet, den Begriff eines sinnvollen Lebens zu analysieren,³⁹ und werde mich deshalb hier kurz fassen. Ich bevorzuge die folgende Definition: Dass ein Leben sinnvoll ist (oder dass jemand ein bedeutsames Leben führt), heißt per definitionem, dass es, überwiegend aufgrund von Handlungen, deren Ursachen und deren Konsequenzen, einen besonderen Stolz oder eine besondere Bewunderung rechtfertigt, oder dass es außergewöhnliche
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Vgl. Baier 1988, 49. Vgl. Blumenfeld 2009. Vgl. Blumenfeld 2009, 379; siehe auch Benatar 2006. Vgl. Trisel 2007, 7 f. Vgl. Metz 2001; 2007 und 2009.
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letzte Ziele jenseits unseres tierischen Selbst umfasst. Eine solche Analyse des Sinnvollen ist von der, die ich für das Lebenswerte vorgeschlagen habe, eindeutig verschieden, und kann die unterschiedlichen Fälle, die in diesem Beitrag diskutiert wurden, gut erfassen – beispielsweise bezogen auf den Fall, dass man sein Leben oder seine Lebensgrundlage für andere opfert. Zusammengefasst habe ich zu zeigen versucht, dass es eine kontingente Beziehung zwischen den Eigenschaften des Sinnvollen und des Lebenswerten gibt, sodass das erstere mit dem letzteren zusammenfallen kann, aber nicht muss, und das letztere mit dem ersteren zusammenfallen kann, aber nicht muss. Einmal vorausgesetzt, ihre Verschiedenheit sei damit nachgewiesen, möchte ich darauf hinweisen, dass vermutlich beide notwendig sind, um das beste Leben zu führen, das dem Menschen möglich ist, oder auch nur ein zufriedenstellendes Leben. Wenige würden ein nur lebenswertes, aber sinnloses Leben führen wollen – beispielsweise das Leben eines Hedonisten in der Erfahrungsmaschine; und wenige würden ein sinnvolles Leben führen wollen, wenn es nicht zugleich lebenswert ist – etwa ein Leben voller Opfer für andere. Stattdessen scheint es, dass die attraktivste Art des Lebens ein solches wäre, das sowohl substantiell lebenswert als auch substantiell sinnvoll ist, d. h. eines, das viele der Bedingungen umfasst, in denen sich die beiden Eigenschaften überschneiden. Nachdem ich das Sinnvolle und das Lebenswerte im Prinzip voneinander unterschieden habe, behaupte ich, dass die Debatte damit ein klareres und reicheres Verständnis darüber gewonnen hat, welche Art des Lebens ein gutes wäre, nämlich eines, in dem das Sinnvolle und das Lebenswerte in der Praxis zusammenfallen.⁴⁰ Übersetzt von Matthias Hoesch, Sebastian Muders und Markus Rüther.
Literatur Baggini (2004): Julian Baggini, What’s it All About? Philosophy and the Meaning of Life, London. Baier (1997): Kurt Baier, Problems of Life and Death: A Humanist Perspective, Amherst. Baier (1988): Kurt Baier, „Threats of Futility: Is Life Worth Living?“, Free Inquiry 8, 47 – 52. Benatar (2006): David Benatar, Better Never to Have Been: The Harm of Coming into Existence, New York.
40 Ich bin dem Philosophy Department der Universität Stockholm für Kommentare zu einem Vortrag, der auf diesen Ideen beruhte, zu Dank verpflichtet. Ebenso danke ich den Herausgebern dieses Bandes dafür, dass sie eine vorläufige Version dieses Beitrags kommentiert haben.
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Blumenfeld (2009): David Blumenfeld, „Living Life Over Again“, Philosophy and Phenomenological Research 79, 357 – 386. Camus (2000 [1942]): Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, übersetzt von Vinvent von Wroblewsky, Reinbek. Frankl (1977): Viktor Frankl, … trotzdem ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München. Haack (2002): Susan Haack, „Worthwhile Lives: Coming to Grips with Ourselves“, Free Inquiry 22, 50 – 51. Metz (2001): Thaddeus Metz, „The Concept of a Meaningful Life“, American Philosophical Quarterly 38, 137 – 153. Metz (2007): Thaddeus Metz, „The Meaning of Life“, in: Edward Zalta (Hg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, einzusehen unter: http://plato.stanford.edu/entries/life-meaning/. Metz (2009): Thaddeus Metz, „Happiness and Meaningfulness: Some Key Differences“, in: Lisa Bortolotti (Hg), Philosophy and Happiness, New York, 3 – 20. Metz (2011): Thaddeus Metz, „The Good, the True and the Beautiful: Toward a Unified Account of Great Meaning in Life“, Religious Studies 47, 389 – 409. Morris (1992): Thomas Morris, Making Sense of it All: Pascal and the Meaning of Life, Grand Rapids (MI). Nozick (1974): Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York. Nozick (1989): Robert Nozick, The Examined Life, New York. Senior (2010): Jennifer Senior, „All Joy and No Fun: Why Parents Hate Parenting“, New York Magazine, 4. Juli 2010, einzusehen unter: http://nymag.com/print/?/news/features/67024/. Solomon (1993): Robert Solomon, The Passions: Emotions and the Meaning of Life, Indianapolis. Taylor (1970), Richard Taylor, „The Meaning of Life“, in: Ders., Good and Evil, New York, 319 – 334. Tolstoi (1978 [1882]): Leo Tolstoi, Meine Beichte, übersetzt von Raphael Löwenfeld, Düsseldorf. Trisel (2007): Brooke Alan Trisel, „Judging Life and Its Value“, Sorites 18, 60 – 75. Wiggins (1988): David Wiggins, „Truth, Invention, and the Meaning of Life“, überarbeitete Version, in: Geoffrey Sayre-McCord (Hg.), Essays on Moral Realism, Ithaca, NY, 127 – 165. Wittgenstein (1965): Ludwig Wittgenstein, „Lecture on Ethics“, The Philosophical Review 74, 3 – 12. Wolf (1997): Susan Wolf, „Happiness and Meaning: Two Aspects of the Good Life“, Social Philosophy and Policy 14, 207 – 225. Wolf (2003): Susan Wolf, „The Meanings of Lives“, einzusehen unter: http://www.law.nyu.edu/clppt/program2003/readings/wolf.pdf. Wollheim (1984): Richard Wollheim: The Thread of Life, Cambridge. Wong (2008): Wai-hung Wong, „Meaningfulness and Identities“, Ethical Theory and Moral Practice 11, 123 – 148.
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7 Das gute Leben und das Leben, das gut genug ist 7.1 Das Problem intrinsischer Werte Mögen die Realisten sagen, was sie wollen, die Idee des guten Lebens ist unserer Seele eingesenkt. Als ich einmal einen recht groben Menschen – nennen wir ihn „Proll“ – fragte, worin für ihn das gute Leben bestehe, da antwortete er mir (ich bitte um Nachsicht für die Wahl seiner Worte): „Fressen, saufen, vögeln.“ In Brechts Dreigroschenoper heißt es: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Und auch diese Äußerung zeigt nicht gerade das empfindsame Temperament eines, sagen wir, Marcel Proust. Denn das „Fressen“ kommt für den hungrigen Menschen, Brechts Proletarier, auf alle Fälle zuerst, und daran zu zweifeln geziemt in der Tat nur Heiligen und Hungerkünstlern. Der Unterschied zwischen Brecht und Proll ist dennoch eindeutig. Für Proll kommt nach „Fressen, saufen, vögeln“ nichts weiter außer wieder das gleiche. Bei Brecht hingegen kommt nach dem „Fressen“ immerhin die Moral. Das klingt abschätzig, und es ist auch abschätzig gemeint. Denn die „Moral“, die Brecht im Auge hat, ist die des Ausbeuters – des Bürgers, der die Moral benützt, um den Proletarier glauben zu machen, es gäbe Höheres. Vom Standpunkt des Kommunisten Brecht aus gibt es indessen das Höhere nicht. Das Höhere, die Moral, von Gott ganz zu schweigen, wurde erfunden, um die geschundenen Untertanen besser beherrschen zu können, indem man ihre äußeren Ketten durch eine viel wirksamere innere komplettiert. Das ist die Kette der unwandelbaren, ewigen Werte, die, glaubt man dem elenden Priestertrug, über das Schicksal der Seele entscheiden und, in verlogen humanistischer Gesinnung, von den Moralisten gegen das bloße „Fressen, saufen, vögeln“ in Anschlag gebracht werden. Trotzdem: Es gibt einen Unterschied zwischen Brecht und Proll, und dieser Unterschied liegt darin, dass Brecht eine Moral kennt – wenn auch in abschätziger Haltung, das „Fressen“ geht vor –, während Proll nur das „Fressen“ und all das zu kennen scheint, was damit auf einer Linie der Triebbefriedigung liegt. Das Brecht’sche „Fressen“, so könnte man sagen – und so sollte man sagen –, hat einen moralischen Fluchtpunkt. Das macht es dem Ideal des guten Lebens zugänglich. Bei Proll verhält sich die Sache anders. Die Proll’sche „Moral“ kennt keinen moralischen Fluchtpunkt. Es gibt radikale Hedonisten, Anhänger einer Ethik des Instant-Glücks, die an dieser Stelle klarstellen werden, dass es schein-
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heilig wäre, wollte man jemanden, der seine allermenschlichsten Nöte zu befriedigen trachte, einer Versündigung am Ideal des guten Lebens zeihen. Bekanntlich war John Stuart Mill, der große Liberale, zugleich Utilitarist. Für ihn war der grundlegende Wert, nach dem wir alle streben, „pleasure“ oder „happiness“, also Glück in der Vielfalt seiner Varianten. Wir sind keine besonders glücksbegabten Wesen. Die Zahl der Leiden, die uns bedrohen und tatsächlich peinigen, ist Legion. Wie könnte es unter diesen Bedingungen erstaunlich sein, dass wir uns, mehr als alles andere, einfach wohl befinden möchten? Ist es etwa nicht wahr, dass jene Situationen, die eine schlichte Form des Glücks verkörpern, ob es sich nun ums Essen, Trinken oder Liebemachen handelt, als an und für sich gut erlebt werden – philosophisch gesprochen: als intrinsisch gut? Man könnte meinen, es sei besser, das philosophische Vokabular zu vermeiden. Denn als „intrinsisch gut“ werden gewöhnlich jene Handlungen, Zustände oder Merkmale bezeichnet, die – um es mit W. D. Ross zu sagen – gut sind unabhängig von den Konsequenzen, die aus ihrer Verwirklichung resultieren.¹ Nun wird man kaum sagen können, dass Essen, Trinken oder Liebemachen, sofern sie Formen des Glücks verkörpern (was sie keineswegs immer tun), niemals schlechte Konsequenzen zeitigen. Man kann zu viel essen, übermäßig trinken und aufgrund einer Liebesnacht ungewollt schwanger oder geschlechtskrank werden. Hält man dem entgegen, es gehe bloß um jene Formen des Glücks, die ihrem Wesen gemäß keine schlechten Konsequenzen haben können, dann muss man mit Bezug auf alle überhaupt realisierbaren Formen des Glücks eine Reihe von Komplikationen in Kauf nehmen. Erstens ist dann das intrinsisch Gute nichts, was sich als „an und für sich gut“ erleben ließe, weil ja die Qualität des Intrinsischen niemals vom Erleben allein, sondern stets auch vom Wissen um die Konsequenzen der Realisierung des als gut Erlebten abhängt. Mag der Sex, den ich gerade praktiziere,von mir als noch so gut, ja als der beste Sex, den ich je hatte, erlebt werden – um etwas intrinsisch Gutes handelt es sich dennoch nur, wenn es zum Wesen jener von mir hier und jetzt praktizierten Art von Sex gehörte, keine schlechten Konsequenzen zu haben. Daraus folgt dann aber, zweitens, dass wir uns niemals dessen sicher sein dürfen, ob es sich bei irgendeiner von uns praktizierten Form des Glücks tatsächlich um intrinsisch Gutes handelt. Denn um dessen sicher zu sein, müssten wir die Auswirkungen unseres Glücklichseins in allen möglichen Welten – nicht nur in der hier und jetzt gerade realisierten – mit jener Sicherheit kennen, die es gestattete, einen Rückschluss auf das Wesen der jeweils fraglichen Verkörperung
1 Ross 1930, 68: „The intrinsically good is best defined as that which is good apart from any of the results it produces.“
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des Glücks zu ziehen. Nur wenn in allen Welten, die sich überhaupt denken lassen, unser Glück mit keinerlei schlechten Konsequenzen verbunden wäre, hätten wir einen triftigen Grund, es als „intrinsisch gut“ zu bezeichnen.² Hinzu tritt nun, drittens, eine Komplikation, auf die ebenfalls John Stuart Mill hingewiesen hat: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedengestelltes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.“³ Hinter dieser Überlegung steckt eine Gewichtung unterschiedlicher Verkörperungen des intrinsischen Wertes „Glück“. Das Glück des Schweines und des Narren sind niedere Formen des Glücks, während der Mensch Sokrates, der die geistigen Freuden kennt, damit auch unmittelbar weiß, dass diese über den animalischen und primitiven Formen der Zufriedenheit rangieren. Daher propagiert laut Mill kein Utilitarist – wie seine Gegner bösartig unterstellen – bloß eine Moral für Schweine und Narren. Denn er ist im Gegenteil davon überzeugt, dass jeder Mensch, der niedere wie höhere Formen des Wohlbefindens kennt, intuitiv begreift, dass er primär die Letzteren anstreben sollte (obwohl es ihm natürlich gestattet sein muss, seine biologischen Grundbedürfnisse zu befriedigen). Es sind nun aber gerade die erwähnten Komplikationen, die uns ein starkes Argument dafür liefern, warum wir auf das Konzept der intrinsischen Werte nicht verzichten können. Zwischen diesem Konzept und jenem des guten Lebens besteht nämlich ein innerer Zusammenhang. Dessen Missachtung würde die Moral als solche zerstören. Warum beispielsweise rangiert das Glück des Schweines so tief, wie es von Mill angesetzt wird? Steckt dahinter nicht ein Zugeständnis an die christliche Lustfeindlichkeit? Das wohl auch. Doch da gibt es eben noch einen Punkt, weswegen wir, die wir uns für aufgeklärt und zivilisiert halten, das sogenannte „schweinische Glück“ – ein Glück, das mit dem des unschuldigen Schweines eigentlich nichts zu tun hat – unterhalb der „geistigen“ Freuden ansiedeln. Was wir mit einem abwertenden Unterton als „schweinisches Glück“ bezeichnen, ist durch das Merkmal der Selbstgenügsamkeit charakterisiert. Angenommen, ich habe in einer Diskothek eine Frau getroffen und wir beide verständigen uns darüber, dass wir uns eine Nacht lang vergnügen wollen. Unsere Bettgeschichte beschert uns intensive Lust, ja, eine Art des Glücks, das Puritaner als „schweinisch“ geißeln. Doch darauf kommt es im Moment nicht an. Entscheidend ist eine Eigenart unseres Vergnügens, die sich als „perspektivenlos“
2 Vgl. dazu mein Buch Gut in allen möglichen Welten (Strasser 2008). 3 Mill 1976 [1863], 18.
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beschreiben ließe. Wenn es eine Perspektive hat, dann die, dass wir die Bettgeschichte wiederholen wollen,weil sie uns so gut gefallen hat. Dennoch ist unserem One-Night-Stand, so will ich annehmen, kein Sehnsuchtsmoment beigegeben – außer vielleicht diesem: Noch einmal dasselbe! Das erinnert an Nietzsches Diktum, wonach die Lust bloß eines will: „tiefe, tiefe Ewigkeit“. Sie will nicht mehr sein, als sie hier und jetzt ist, nicht mehr, als sie gerade eben war. Sie ist sich selbst genug. Sehen wir einmal von Frage möglicher Konsequenzen einer derart selbstgenügsam lustvollen Gestaltung des Liebeslebens ab, dann gibt es keinen vernünftigen Grund, warum man das dadurch entstehende Glück nicht als „intrinsisch gut“ bezeichnen sollte. Und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass kein gutes Leben seinen Namen jemals verdienen würde, wären ihm nicht Momente derart selbstgenügsamer Erlebnisformen eingesenkt. Worauf es hier jedoch ankommt, ist die Feststellung, dass Erlebnisse dieser Art allein nicht ausreichen, um die Idee des guten Lebens angemessen zu charakterisieren. Denn dabei geht es darum, auch die Natur jener Werte zu erfassen, die Mill als höherwertig einstuft. Mill führt uns jedoch in die Irre, wenn er – aus verständlichen Gründen, in Abwehr klerikaler und puritanischer Gehässigkeiten – die „Geistigkeit“ der Freuden herausstreicht, von denen er sagt, sie würden von einem Schwein oder einem Narren niemals gewürdigt werden können.Worum also geht es?
7.2 Werte als Eröffnungspotenziale Nehmen wir das nächstliegende Beispiel, denken wir an das Glück. Es gibt viele Arten des Glücks: vom Glück, das uns die Lust einer Nacht bescheren mag, über das Glück, einem notleidenden Menschen zu helfen, bis hin zu dem vielleicht lebenslangen Glück, das daraus resultiert, einen Menschen zu lieben und von ihm ebenfalls geliebt zu werden. Ich könnte ferner das Vergnügen nennen, das sich bei manchen dadurch einstellt, dass sie mit den Skiern eine Piste hinunterrasen, oder bei wieder anderen, sobald sie dem Wohltemperierten Klavier von Bach, gespielt von Glenn Gould, entrückt lauschen. Bei dieser willkürlichen Aufzählung sticht Folgendes ins Auge: Während manche Spielarten des Glücks einfach und definitiv in dem Sinne zu sein scheinen, dass sie sind, was sie sind, ist anderen Formen des Glücks zu eigen, dass sie sind, was sie sind, indem sie sich auf ein Ideal ihrer Vervollkommnung hin ausrichten. Mit der „Geistigkeit“ im Sinne Mills hat dies nur indirekt zu tun, nämlich dadurch, dass der Umstand, „sich vervollkommnen zu wollen“, immer schon einen geistigen Aspekt mit einschließt. Die Lust einer Nacht ist die Lust einer Nacht; sie mag einmal größer, einmal kleiner und qualitativ jedes Mal ein wenig
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anders sein. Doch es würde uns seltsam berühren, wenn uns jemand weismachen möchte, diese seine „Lust einer Nacht“ sei an einem Ideal der Vervollkommnung auszurichten. Eine solche Äußerung würde für uns nach einer fehlgeleiteten Form des Perfektionismus klingen – sagen wir: nach einer Variante des Donjuanismus. Kaum jedoch würden wir ihr zubilligen, auf jenen Horizont zu verweisen, für den das ethisch hochsignifikante Ideal des guten Lebens steht. Demgegenüber finden wir nichts seltsam an dem Wunsch, das eigene ästhetische Empfinden verfeinern zu wollen, zumal wenn dahinter eine bestimmte Auffassung künstlerischer Wahrheit oder Authentizität steckt.Wird das Kunstwerk als ein Ganzes wahrgenommen, dessen Botschaft sich aus der Tiefe einer künstlerischen Subjektivität, der darin wurzelnden Fülle des Bedeutungserlebens sowie der ausdrucksformenden Könnerschaft des Künstlers ergibt (wozu das Deutungsgenie des Interpreten hinzutreten mag), gerät die Rezeption zu einem unabschließbaren Abenteuer des immer besseren Verstehens einer evidenten Nähe, die sich doch nie voll erschließt. Wenn wir die Dimension der musikalischen Offenbarung, die uns beim Hören des Wohltemperierten Klaviers in seiner Interpretation durch Glenn Gould zuteil wird, als einen intrinsischen Wert auffassen, dann haben wir es mit nichts zu tun, was einfach gegeben wäre – so wie die blanke Lust beim Sex, die gleichsam sich selbst genügt. Nein, wir haben es, indem wir das musikalisch evident Schöne genießen, zugleich mit einem Ereignis zu tun, dessen innerste Triebfeder das Streben nach Vollkommenheit ist. Und wir genügen diesem Streben, sofern unser „interesseloses Wohlgefallen“ sich darauf richtet, in der virtuosen Darbietung eine Spur jener Vollkommenheit zu erhören, deren Verkörperung das ultimative Ziel des Werks bildet. Das Glück beim Anhören des Wohltemperierten Klaviers ist also durchaus nichts Einfaches. Und es ist ein „geistiges“ Glück, weil zur Realität des Werks sein Horizont, zu dem hin es sich öffnet, wesensmäßig dazugehört: der Horizont des Absoluten, jene schöpferische Grenze der Kunst, an der, könnte sie jemals erreicht werden, alles Unvollkommene „erlöst“ wäre. Darin gründet die transformierende Magie des Ästhetischen. Man denke an die Meisterwerke der bildenden Kunst, in denen das Mittelmäßige, ja sogar radikal Schlechte in einem Glanz erstrahlt, der die armen, bösen Dinge gutzumachen scheint. Immer wieder wurde die Passion Christi, ein real unüberbietbar grausames Geschehen, von inspirierten Malern wandlungsmagisch zelebriert: als eine Verkörperung des höchst Erhabenen und uns, die Betrachter, daher zuinnerst Erhebende. Und noch in Picassos Gemälde Guernica (1937) vermittelt uns die beseelte Anklage im Modus der Schönheit – Anklage über die Zerstörung des gleichnamigen Baskenstädtchens durch die faschistische Legion Condor – einen Vorschein der Erlösung: so, als ob alles noch gut werden könnte, auch wenn das religiöse Motiv hier keine explizite Rolle mehr spielt.
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Das sind hochfliegende Mutmaßungen, gewiss. Man mag kritisieren, dass sie das Wesen der Kunst, zumal aller Kunst nach dem Ende der kunstreligiösen Epoche vom Humanismus bis zur Romantik, weniger erhellen als mystifizieren. Ich denke nicht, dass wir uns dieser Kritik beugen sollten. Stattdessen lautet die Frage: Unterhält das, was wir Kunst nennen, noch eine Beziehung zur Idee des guten Lebens, oder aber haben sich die Künstler und ihr Publikum bereits ganz anderen Zielen zugewandt? Wenn ja, dann bliebe immerhin zu klären, welche Ziele das sein könnten, die ganz ohne Bezug zur Idee des guten Lebens auskämen? Mir scheint, es ist gerade das Fehlen jener Idee, wodurch sich die profane Trinität der Lust auszeichnet: „Fressen, saufen, vögeln…“ Und es ist dieses Moment der „Selbstgenügsamkeit“, weswegen es sich dabei um Aktivitäten handelt, die, im Unterschied zur Kunst des Kochens, Trinkens oder Liebens, jeder künstlerischen Ambition entbehren – und sei es der missverständlichsten, wozu die sogenannte „Lebenskunst“ gehört. (Das Leben als Kunst ist eine Travestie des ästhetischen Traums.) Aber wie verhält es sich denn, so wird man vielleicht fragen, mit einer ganz und gar sozialen Ambition, beispielsweise dem Bedürfnis, notleidenden Menschen zu helfen? Auch in der Erfüllung dieses Bedürfnisses kann ja eine Art des Glücks ihren Ursprung haben, ohne dass man deswegen gleich von irgendwelchen Sehnsuchtshorizonten, die auf das gute Leben ausgerichtet wären, schwadronieren müsste, oder? Die Frage ist wohl eher rhetorisch als ernst gemeint. Gewiss, in einer großzügigen Gabe, die der Wohlhabende einem Bedürftigen zukommen lässt, steckt möglicherweise nichts weiter als das Vergnügen, welches darin liegt, reich genug zu sein, um sich den Society-Impuls der Mildtätigkeit – „Charity“ genannt – leisten zu können. Davon zu unterscheiden ist freilich jener Akt, der darin besteht, einem Bettler am Straßenrand zwar bloß ein paar Geldstücke zukommen zu lassen, doch eben in jener Haltung, von der es heißt, die eine Hand wisse nicht, was die andere tue. Daraus mag auf der Seite des Gebenden eine Befriedigung entspringen, die ihren Ursprung darin hat, uneigennützig gegeben zu haben. Was nun aber an der Oberfläche als Tugend der Uneigennützigkeit erscheint, schließt in seiner ethischen Dimension das Ideal der Caritas ein: der „Nächstenliebe“, die, christlich geprägt oder nicht, ebenfalls auf den Horizont des guten Lebens verweist. Mildtätige Gaben sind, was sie sind; zugleich aber verkörpern sie, in karitativer Einstellung dargebracht, ein Bewusstsein vom Wert der Zuwendung zum notleidenden Anderen. Das Glück, das in der Verkörperung dieses Bewusstseins liegt – in der wie auch immer unausdrücklichen Caritas jener paar Geldstücke, die dem Bettler am Straßenrand überreicht werden –, hat durch seine Unbedingtheit etwas von einem ethischen Eröffnungspotenzial an sich. Es ist die Unbedingtheit des Gebens, wodurch auf einen Horizont der Mitmenschlichkeit
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verwiesen wird, der in unserer unvollkommenen Welt nicht erreicht wird. Dennoch bleibt er unverzichtbar, soll unsere Welt, im „höheren“ Sinne des Wortes, menschlich sein. Menschlichkeit repräsentiert einen intrinsischen Wert höherer Stufe, deren vornehmster Ausdruck die Tugend der Nächstenliebe ist. Wem hingegen der karitative Horizont unzugänglich bleibt, braucht stets einen guten instrumentellen Grund, um sich dem notleidend Anderen zuzuwenden: den Glauben an eine, könnte man sagen, humanitäre Umwegrentabilität. Ferner: Die Liebe, die zwei Menschen einander schenken, indem sie nach Erfüllung ihrer Zweisamkeit streben, ist – neben Glück und Mitmenschlichkeit (es ließen sich auch Selbstachtung, Autonomie oder Gerechtigkeit nennen) – ein weiteres Beispiel für einen intrinsischen Wert als Eröffnungspotenzial. Die sehnsüchtige Vorausweisung, welche der Liebe innewohnt, ließe sich derart beschreiben, dass in ihrer idealen Verkörperungsform das Pflichtgemäße niemals bloß aus Pflicht, sondern stets auch aus Neigung getan würde. Dies wiederum hätte zur Voraussetzung, dass zwischen unseren eigenen Neigungen und den Bedürfnissen des Anderen eine wesensmäßige Zusammenstimmung bestünde – also nichts, was sich psychologisch im endlichen Leben herstellen lässt. In der Liebe, die nach ihrer wahren Verkörperung strebt, konvergieren animalische Lust und Paradieses-Sehnsucht, und jeder gelingende Schritt aufeinander zu manifestiert sich im Bewusstsein der Liebenden als eine hohe Form des Glücks. Auch dieses Glück hat einen absoluten Horizont, der unerreichbar bleibt – unerreichbar nahe, da der geliebte Andere stets der Allernächste ist. Und es ergibt sich daraus, dass, scheinbar paradox, das Glück der wahrhaft Liebenden großes Leiden in sich zu schließen vermag. Das ist die Romeo-und-Julia-Konstellation, welche, ins Melodramatische übersteigert, den frühen Tod benötigt, um sich vollenden zu können. Dagegen einzuwenden, dass derlei Schwülstigkeiten oder Neurasthenien der Seele bloß dazu geeignet seien, die einfache Liebe zwischen einfachen Menschen aufs Bassena-Niveau herabzudrücken, wäre ein grobes Missverständnis der Funktionsweise intrinsischer Werte. Auch in der einfachsten Liebe, die sich nicht zur Routine veräußerlicht oder zur Befriedigung sexueller Notdurft verkümmert, ist die Vorausweisung immer schon mit enthalten. Ob es nun die zartfühligen Adelskinder sind, die sich bis zum Schluss nach nichts weiter sehnen als danach, im Zustand des ineinander Versunkenseins zu existieren, oder ob ein normalmenschliches Paar noch in den kleinen Gesten des Alltags darum besorgt ist, durch liebendes Wohlwollen dem Partner so nahe wie möglich zu sein: es ist immer dasselbe Ideal, das sich in den unterschiedlichen Formen der liebenden Zuwendung verkörpert.
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7.3 Das Streben nach Vollkommenheit An dieser Stelle muss mit dem hartnäckigen Einwand gerechnet werden, dass ein Konzept des guten Lebens zur Diskussion steht, welches an der Realität vorbeiphantasiert. Gemessen am Ideal der absoluten Liebe (was immer das sein mag) wird alles, was die Menschen normalerweise unter „Liebe“ verstehen – trotz hochfliegender Emotionen unter Jungverliebten und reiferer Glücksmomente im Verlauf einer längeren Beziehung –, im besten Fall eine bodenständige Angelegenheit bleiben, begleitet von gegenseitiger Vertrautheit und wechselseitiger Sympathie. Im schlimmeren Fall wird sich über kurz oder lang Eigensucht melden, außerdem wird sich ein gerüttelt Maß an Monotonie einstellen: lauter Stimmungslagen also, die zum – ohnehin unerreichbaren – Horizont „wesensmäßiger Zusammenstimmung“ der Bedürfnisse und Interessen querliegen. Und gerade hinter jenen Liebesvorfällen, die, durch Extreme des Begehrens charakterisiert, scheinbar zum Absoluten drängen, steckt gewöhnlich eine krankhafte Obsession, eine realitätsblinde Fixierung auf den Liebespartner oder der Wunsch, den geliebten Anderen zu besitzen, bis hin zu dessen Versklavung.⁴ Ich denke allerdings, dass man dem prononcierten Realismus des Lebens, den leichtfertig zu überspielen auf eine Donquichotterie des „Ideals“ hinausliefe, ab einem bestimmten Punkt dennoch nicht zu viel zugestehen sollte. Dieser Punkt sitzt tief: Er ist dem banalen Alltag profund eingesenkt und daraus nicht wegzudenken. Denn es handelt sich dabei – ich wiederhole mich – um Realität und Wirkkraft intrinsischer Werte in ihrer Funktion als Eröffnungspotenziale. Das geht zwingend schon daraus hervor, dass sich, exemplarisch gesprochen, jede Art und Weise des Einander-Liebens der Frage ausgesetzt sieht: „Ja, ist denn die Liebe, die hier und jetzt zwischen uns stattfindet, ist unsere faktische Liebe auch ein Ausdruck der wahren?“ Die Differenz – der Unterschied zwischen dem faktisch Gegebenen und der Verkörperung des Wahren – gehört zum Wesen aller intrinsischen Werte, zumal aller „höheren“, die, um mit Mills Worten zu sprechen, den Schweinen und Narren unter uns unzugänglich sind. Und solange den Liebenden der grundlegende Unterschied zwischen ihrer faktischen Liebe als Realität und ihrer faktischen Liebe als, wie immer auch unvollkommener, Verkörperung der wahren Liebe be-
4 Ein fulminantes literarisches Beispiel für eine derartige Fehllage liefert Patricia Highsmith in ihrem Roman This Sweet Sickness (Highsmith 1961). Der männliche Protagonist erweist sich als unfähig zu begreifen, dass die Frau, die er liebt, ihn nicht widerliebt, und so missdeutet er jeden Versuch der Distanzierung, den seine von ihm phantasierte Geliebte unternimmt, als eine Aufforderung, sich als Liebender noch mehr anzustrengen – ein Verhalten, das nur in der Katastrophe enden kann.
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wusst bleibt, ist die untergründige Beziehung zur Idee des guten Lebens, das seiner absoluten Natur nach unerreichbar bleibt, ein unabdingbarer Teil der Liebesbeziehung selbst. Diese Beziehung gibt dem Streben nach Vollkommenheit überhaupt erst seinen Sinn, und zwar selbst unter der eigentümlichen Voraussetzung, dass der Horizont des guten Lebens im mehr oder weniger Begriffslosen verharrt, weil sich endliche Wesen um ihn bemühen. Denn die Endlichkeitsschranke bedeutet nicht, dass wir keinerlei Vorstellung davon hätten, was ein besseres Leben – eine makellosere Liebe, eine höheres Maß an Selbstachtung, mehr Gerechtigkeit, erfülltere Freiheit etc. – wäre. Unsere Vorstellung mag nicht immer die richtige sein, oft gehen wir fehl, wenn wir nach dem Höheren oder Tieferen fragen. Doch das schließt eben ein, dass es sinnvoll und darüber hinaus geboten ist, unsere Vorstellung vom guten Leben auf ihre Richtigkeit – den Grad ihrer ethischen, ihrer existenziellen Dignität – hin zu prüfen, indem wir einen weiteren Schritt tun in der Hoffnung, rückblickend sagen zu dürfen, unser Leben sei nun immerhin ein wenig besser geworden. Wir verhalten uns hier nichts anders, als wir es im Erkenntnisalltag überhaupt tun, wenn wir, die endlichen Wesen, zwar um die Unmöglichkeit wissen, die ganze oder absolute Wahrheit zu erkennen, und dennoch nicht aufhören, nach „der“ Wahrheit zu streben.Wie ist das ohne Selbstwiderspruch möglich? Allein dadurch, dass „nach der Wahrheit zu streben“ für uns die Bedeutung hat: „sich der Wahrheit Schritt für Schritt – und dabei so weit als möglich – anzunähern“. Ohne diese Zielvorgabe wäre die Wissenschaft als Suchbewegung sinnlos. Nun liegt der Unterschied zwischen der objektiven Realität als Grenzwert und dem Ideal des guten Lebens als Absoluthorizont unserer Suche nach dem Richtigen auf der Hand. Ideen existieren nicht unabhängig von einem Bewusstsein, das zur Wahrnehmung von Ideen fähig ist, wie dies für die physikalische Realität gilt. Was den Anfang und das Ende der Welt betrifft, so wird von der Kosmologie postuliert, dass es sich dabei um Zustände handelt, die jede Form des Bewusstseins ausschließen. Sei dem, wie es sei: Auch die Welt des Bewusstseins, als ein Reich der Ideen und begriffsgesättigten Erlebnisse, ist nichts, was uns von vornherein durchsichtig wäre – schon gar nicht dort, wo es um die Entdeckung fundamentaler Wertgehalte geht, von denen sich sagen ließe, dass sie „in allen möglichen Welten“ Geltung haben. Entscheidend scheint die Frage, ob man auf derlei Gehalte – die Idealformen des intrinsisch Guten – verzichten könnte. Und die Antwort lautet: Nein. Auch wenn an der Basis des Lebens scheinbar selbstgenügsame Freuden stehen, so ist es doch, basierend auf der Differenz zwischen dem Faktischem und dem Wahrem, erst die entfaltete intrinsische Kraft, kraft welcher das Selbstgenügsame eine Transformation erfährt. Durch seine Ausrichtung auf den Abso-
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luthorizont des guten Lebens tritt es als ein Element in Erscheinung, das sich dem Konzept einer Idealgemeinschaft einfügt, die ihre Erfüllung erst in der Zusammenstimmung zwischen dem Faktischem und dem Wahren: dem Psychologischen und dem Ethischen, den Einzelinteressen und dem Gemeinwohl, fände. Dass eine solche – paradiesische – Gemeinschaft hierorts nicht realisierbar ist, desavouiert das Streben nach ihr ebenso wenig, wie es die mathematische Idee des Kreises desavouiert, dass sie sich mit materiellen Mitteln, vom Zirkel bis zum Laserstrahl, in reiner Form nicht verwirklichen lässt. Kein Grund also, den inneren Bezug zwischen dem Glück aus der befriedigten Notdurft des Lebens („Zuerst kommt das Fressen…“, etc.) und jenem Gemeinschaftsideal, das der Idee des guten Lebens immanent ist, hedonistisch zu kappen: kein Grund, sich als Proll zu gerieren.
7.4 Das Leben, das gut genug ist Es macht nun aber einen großen Unterschied, ob wir die Frage des guten Lebens diskutieren, indem wir gedanklich eine Perspektive einnehmen, die ein Mensch real einnimmt, der auf seine Zukunft vorausblickt, oder ob wir jene Frage gleichsam vom Rückblick auf das gelebte Leben her aufrollen.Vermischen wir diese beiden Perspektiven, dann gelangen wir zu einem Ergebnis, das all unserer Lebensweisheit widerspricht: Weil kein Leben, ideal gesprochen, auch nur annähernd ein gutes Leben sein kann, ergäbe sich am Ende für jedes Leben, das keines gut genug gewesen ist. Daraus lassen sich theoretisch zwei Konsequenzen ziehen. Die eine besteht darin, das Ideal des guten Lebens bewusst auszublenden, ja, es zu negieren – ihm gleichsam von außen seine Ungültigkeit zu bescheinigen. Die andere Konsequenz aber erkennt in dem Umstand, dass am Maßstab des Ideals kein Leben jemals ein gutes sein kann, keinen Grund, warum es, abschließend betrachtet, nicht doch „gut genug“ sein sollte. Dem widerspricht keineswegs, dass gerade der Umstand, dass ein Mensch sein bisheriges Leben mit Blick auf die Zukunft kritisch beurteilt („nicht gut genug“), erst dazu führt, dass er sich fortan darum bemüht, ein besseres Leben zu leben, indem er sich nämlich bemüht, ein besserer Mensch zu werden. „Ein besserer Mensch werden“: Es ist dieses Motiv, das, über alle biologischen Modalitäten des Homo sapiens sapiens L. hinaus, die eigentliche Menschwerdung des Menschen festschreibt. Wollte man sich eines traditionellen Vokabulars bedienen (und warum sollte man nicht?), dann ließe sich sagen, dass eine nichtmythologische Version des Seelenbegriffs einschließt, der Mensch sei insofern ein beseeltes Wesen, als seine Lebendigkeit nicht bloß ein biologisches Faktum, sondern Ausdruck seiner Sehnsucht nach dem guten Leben und der daraus er-
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fließenden Orientierung ist. Deren Ausblendung würde den Menschen bloß noch als biologische Gestalt, als Zufallsprodukt einer ungerichteten, seelenlosen Evolution, existieren lassen. So zu existieren wäre indessen ein Mangelmodus des menschlichen Seins, eine Art des existenziellen Todes. Es ist der Tod des Menschlichen am Menschsein, den wir in der hedonistischen Verkürzung des guten Lebens aufs „Fressen, saufen, vögeln“ mit Grauen erahnen, ohne deswegen das Glück des Elementaren zu negieren. Davon einmal abgesehen, sind all die Lebensrückblicke – ob zur Feierstunde oder am Grab –, die davon handeln, wie ein Leben „gelang“, obwohl es bloß mittelmäßig, gar von Pech, Misserfolgen und Schicksalsschlägen geplagt war, nicht einfach fromme Lügen. Denn wenn wir auf ein gelebtes Leben als etwas Vollbrachtem zurückblicken, dann sehen wir oft noch im Scheitern und in der Armseligkeit etwas Einzigartiges aufleuchten. Und damit ist eben nicht gemeint, dass sich eine biographische Linie, die mehr oder weniger zufällig einem bestimmten Menschen eignet, durch Raum und Zeit zieht. Das ließe sich von jedem Objekt, ob belebt oder unbelebt, sagen. Das Einzigartige ist vielmehr eine im existenziellen Sinne bedeutsame Gestalt: Es ist die Spur eines beseelten Lebens, das heißt eines Lebens, in dem auch das Missglückte und Verdorbene in wesenhafter Beziehung zur Welt der intrinsischen Werte steht. Am Ende scheint uns dann, als ob, alles in allem betrachtet, noch das Übel vom Übel erlöst würde (das ist eine paradoxe Formulierung, an deren Stelle mir keine bessere einfällt⁵). Damit soll nicht gesagt sein, dass das Übel im realen Leben keines gewesen wäre; vielmehr soll zum Ausdruck gebracht werden, dass wir es hier mit einem Vorgang der Transformation zu tun haben: Was einst, im Leben mit Vorausblick, von Übel war, wird nun, im Rückblick, als Teil eines Daseinsganzen begriffen, das seine Lebendigkeit – und damit seine Teilhabe am Ideal des guten Lebens – auch dort bezog, wo das gelebte Leben gerade kein gutes gewesen ist. Am Ende war es „gut genug“. Es ist auf eine Weise, die nur durch die Lebenserzählung selbst evident zu werden vermag, nicht umsonst gewesen. Wer kennt es nicht, das durchschnittlich hässliche Leben? Einer, dessen Name „Man“ sein könnte – er machte es, wie „man“ es macht –, wollte die große Liebe seines Lebens zelebrieren, doch dann war es doch nur die Zufallsbekanntschaft, mit der er eine Nacht verbracht hatte und die er nun, nolens volens, als Schwangere zum Traualtar führte. Die Ehe hielt nicht lange, man hatte zu jung geheiratet. Da war nun dieses Kind, die Tochter, die man liebte, während ihre Existenz einen
5 Es ist diese Formulierung, die mein Buch Unschuld. Das verfolgte Ideal (Strasser 2012) antreibt, um jenes Ideal der Unschuld herauszuarbeiten, das sich erst nach dem „Sündenfall“, also unter Menschen, die bereits eine Einsicht in Gut und Böse haben, herausbilden kann.
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daran hinderte, das eigene Studium zu beenden. Man ergriff einen Brotberuf, traf sich, bedürftig und hoffend, mit anderen Frauen, heiratete wieder, wurde noch einmal Vater. Dieses Mal war es ein Sohn, der, in die Pubertät gekommen, bloß eines wollte: nicht so werden wie sein Vater, der „alte Sack“. Alles lief, zwischen Hypotheken und monotonen Arbeitsjahren, mehr schlecht als recht, eingeschlafen vorm Fernseher, zwanghaft phantasierend in schnell abgetanen Liebesnächten, mit einer Frau an der Seite, die ihrer Pflicht nachkam, obwohl sie in ihrem Innersten noch das junge Mädchen mit dem abenteuerlichen Herzen geblieben war. Krankheiten, Misserfolge und die kleinen Freuden des Lebens im erweiterten Familienkreis, die erste Frau hatte längst wieder geheiratet, die eigene Tochter nannte einen anderen Mann „Papa“, im Übrigen war man miteinander befreundet… Von außen betrachtet, kalt, gleichsam mit Fischaugen, mag so ein Leben ein erschütterndes Urteil evozieren: „Gewogen und für zu leicht befunden!“ Doch darin läge sowohl eine große Ungerechtigkeit als auch ein fundamentales Missverständnis.Was sich im Laufe der Zeit als nur halbwegs gelungen, als verfehlt und immer wieder schäbig erweist, ist oftmals der ernsthafte, dauerhafte Versuch, ein Leben zu führen, für das man sich selbst einigermaßen achten darf (und das es jedenfalls verdient, von den anderen, die sich nicht minder anstrengen und dabei fehlen, einigermaßen geachtet zu werden). Solange der Raum der Möglichkeiten noch einen Spalt offen steht, wird für den Einzelnen, auch wenn er die Sehnsucht nach dem guten Leben aus „pragmatischen Gründen“ nur als einen tiefvergrabenen Jugendtraum in sich trägt, die Anstrengung, das eigene Leben „so gut wie möglich“ zu leben, nicht gänzlich vorbei sein. Weder will er als lebender Toter vor dem Fernseher sitzen, noch möchte er vor sich selbst – und seiner Umwelt – als unfähig, unanständig oder gar als böse dastehen. Am Ende jedoch wird der Raum der Möglichkeiten geschlossen sein. Nun ist aus einer kontingenten Geschichte eine geworden, die zum unabänderlichen Zeugnis einer Lebensanstrengung wurde. Das stattet sie mit einer eigentümlichen Art von Notwendigkeit aus, die ein Leben mit all seinen Zufällen und Wechselfällen zu einer „Gestalt“ werden lässt: Das bist du! So lautet das Urteil. Und obwohl einem schmerzhaft bewusst sein mag, dass vieles misslang, so fühlt man nun im Rückblick (und so fühlt der einfühlsame Beobachter), dass auch das Misslungene Teil eines Ganzen ist, dem eine eigentümliche Dignität innewohnt. Man hat das den „Sinn des Lebens“ genannt, und was wäre dieser rätselhafte Sinn, wenn nicht der unwiederholbare, einzigartige Ausdruck einer Seele, die sich nicht völlig der Finsternis, dem Opaken, dem Bösen anheimgab, sondern durch alle Dunkelheit hindurch ihrer Quelle, der Idee des Guten, zugewandt blieb? Um das Wesen des Phänomens besser zu erfassen, sollten wir es gegen Formen des Lebens abgrenzen, von denen wir schließlich sagen zu müssen glauben,
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sie waren nicht gut genug: Formen der nach menschlichen Maßstäben unheilbar verrotteten oder missratenen Existenz, die so tief ins Böse, Dumme oder „Vertierte“ abgesunken ist, dass sie nur durch eine übernatürliche Macht – für den, den’s angeht: durch die Gnade Gottes – vor dem Verdammungsurteil gerettet werden könnte. Man darf nicht alles relativieren und man soll nicht alles verstehen wollen. Es gibt menschliche Wesen, in denen eine schreckliche Dunkelheit herrscht. Die Welt der intrinsischen Werte bleibt ihnen unzugänglich. Sie haben davon gehört, dass es die Liebe, die Wahrheit, die Gerechtigkeit gibt; sie kennen das „Gerede“ von der wechselseitigen Achtung, der Selbstachtung und Würde des Menschen. Das alles ist ihnen nicht fremd, aber eben nur in der Weise, in der einem das hassenswert Fremde nicht fremd ist. Man hat davon gehört, aber man hält es für bullshit. Man verachtet die Vorstellung des guten Lebens, deren Verkörperungen man in ihren unscheinbaren, friedfertigsten Ausprägungen – ja, sie gerade – mit sadistischer Wut verfolgt, um ihnen zu schaden, sie zu beschädigen und zu zerstören. Wo immer Wesen, die derart dämonisch denken und fühlen, ihre Spur hinterlassen, wird sich im Rückblick keine versöhnliche Perspektive mehr auftun. So ein Leben war, menschlich betracht, nicht gut genug. Und es gehört nun aber zu den profunden Versuchungen der Geschichte, dass die großen Dämonen, ob sie Hitler, Stalin oder sonst wie heißen, gerade wegen ihrer abgründigen Verachtung des Menschlichen im Menschen dazu beitragen, ein Ressentiment gegen das Ideal des guten Lebens und die ihm eigenen Werte zu nähren. Diese Dämonen sind es, die dazu beitragen, ein Gegenideal zu errichten, das scheinbar aus der Natur bezogen wird und daher als das „Natürliche“ gilt. Es beginnt beim Recht des Stärkeren und endet bei der Apokalypse des Übermenschen, der alles versklavt oder ausgelöscht wissen will, was sich durch die „Schwäche“ der Mitmenschlichkeit auszeichnet.
7.5 Die Natur des Guten Überhaupt ist für die Moderne kennzeichnend, dass in ihr das Konzept der Natur zusehends quer zur Idee des guten Lebens steht. Es gibt eine offensichtliche Naturdämonie, die aus einer Mythologisierung des sogenannten „Kampfes ums Überleben“ hervorbricht. Daneben und darüber hinaus jedoch machten gerade die aufgeklärten, liberalen Köpfe des 20. Jahrhunderts Front gegen das Konzept der intrinsischen Werte. Diese standen im Verdacht, ein ursprünglich religiöses und daher nicht generalisierbares, weil irrationales Konzept in verdeckter Form weiterzuschleppen. John L. Mackies Argument from Queerness sagt es klipp und
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klar (nachdem es David Hume, wenn auch mit skeptischem Vorbehalt, schon gesagt hatte):⁶ Die menschliche Vernunft ist gerüstet, Tatsachen zu erkennen. Ihre Erkenntnisse formuliert sie in Sätzen, die wertfrei sind. Daraus geht hervor, dass alle Werte zur ontologischen Struktur der Natur „querstehen“. Werte selbst sind keine Naturtatsachen und daher auch kein legitimer Gegenstand der menschlichen Vernunft. Ergo: Es gibt keine Werterkenntnis. Es müsste sie indessen geben, wenn Werte der Natur immanent und daher selbst eine Art von Tatsachen sein sollten. Werte entstehen vielmehr dadurch, dass Menschen zu den Tatsachen der Welt „subjektiv wertend“ – und das heißt letzten Endes: irrational – Stellung nehmen. Der Wertesubjektivismus ist das Ergebnis einer bestimmten, naturalistisch verengten Vorstellung davon, was „natürlich“ ist, sowie eines zugespitzten Begriffs von Vernunft, der sich ebenfalls auf das naturalistische – im Kern naturwissenschaftliche – Erkenntnismodell stützt. Demgegenüber sollten wir erkennen, dass es keinen guten Grund gibt, die Existenz intrinsischer Werte zu leugnen. Deren Objektivität wird durch die Struktur unseres Bewusstseins gewährleistet, zu dessen grundlegenden, transpsychologischen Kategorien „gut“ und „böse“ gehören; sie wird jedoch nicht durch dasjenige gewährleistet, was der Physiker als die physikalische Struktur der Welt und was der Hirnphysiologe als die physiologische Struktur unseres Gehirns ausweisen. Deshalb klingt Humes berühmtes Argument, wonach es für die Vernunft dasselbe bedeutet, ob ich meinen Finger ritzen oder die ganze Menschheit vernichten will (weil der Unterschied in meinem Wollen nämlich gar keinen Unterschied im Erkennen macht), schlichtweg verrückt.⁷ Um dieses Argument zu widerlegen, genügt es, die Vorstellung von Rationalität, welche das naturalistische Erkenntnismodell absolut setzt, zurückzuweisen. Denn niemand, der bei Sinnen und Verstand ist, kann ernsthaft der Meinung sein, wir hätten keine Gründe, um die mutwillige Verletzung eines Fingers zwar für schlecht, aber nicht für schlechter zu halten als die mutwillige Auslöschung der ganzen Menschheit. Auf die Frage – die einigermaßen absurd klingt –, was denn dies für Gründe sein könnten, wird jeder, der bei Sinnen und Verstand ist, antworten, dass die grundlose, dem blanken Willen geschuldete Zufügung von Leid an sich – eben: intrinsisch – schlecht und daher zu vermeiden sei. So ein Wille ist objektiv („in allen möglichen Welten“) böse, und der Wille, die ganze Menschheit zu vernichten, zweifellos böser als derjenige, sich selbst grundlos den Finger zu ritzen. Und wenn das objektiv Böse eines möglichen Willensaktes nicht ausreicht, um uns
6 Vgl. Mackie 1977, 38 ff. 7 Hume 1976 [1739/40], 154.
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einen guten Grund zu seiner Verurteilung und Unterdrückung zu liefern – was könnte dann in moralischen Angelegenheiten überhaupt noch als „guter Grund“ geltend gemacht werden?⁸ Die Frage ist rhetorisch. Daraus lernen wir, dass die menschliche Natur nicht so verstanden werden darf, als ob in ihr die Idee des guten Lebens keinen Platz hätte, sondern erst als etwas Künstliches – von außen Herangetragenes, „Subjektives“ – hinzuträte. Stattdessen sollten wir davon ausgehen, dass intrinsische Werte der menschlichen Natur immanent sind. Ihre Quelle ist das menschliche Bewusstsein, dessen Inhalte offensichtlich nicht auf ihre physiologische Funktionsbasis reduziert werden können. Es ist wahr, im Gehirn finden sich keine Werte. Aber dort finden sich auch keine Gefühle und Wahrnehmungen, sondern nur die körperlichen Grundlagen, deren Intaktheit notwendig ist, um normale Gefühle zu haben und korrekte Wahrnehmungen zu erlauben. Vielen Denkern und Forschern fällt es heute schwer, den Raum des Natürlichen auf intrinsische Werte auszudehnen, weil ein solches Zugeständnis gleichbedeutend damit ist, der Realität des Bewusstseins einen ontologischen Status einzuräumen, welcher über das raumzeitlich Identifizierbare hinausreicht. Und doch hängt an dieser Realität, die der Naturalist als „transzendent“ ablehnt, unser Menschsein als ein Seinsmodus, der seine ihm eigene Lebendigkeit aus der Idee des guten Lebens bezieht.
7.6 Fazit Die Idee des guten Lebens ist der objektive Horizont unseres natürlichen Gutseins – ein Horizont, der sich daraus ergibt, dass die intrinsischen Werte Eröffnungspotenziale repräsentieren. Daraus geht hervor, was es bedeuten würde, wollte man das gute Leben aus dem Bereich der Natural Goodness ausgliedern, um es dem Subjektivismus zu überantworten.⁹ Es würde bedeuten, den Sinn des Lebens zu
8 Gegen alle heute überhaupt bekannten Versuche, diese Frage im Sinne des ethischen Subjektivismus zu unterlaufen, hat Derek Parfit die erforderlichen Argumente im 2. Band seines zweibändigen Werkes On What Matters (Parfit 2011) beigebracht. Die Schwäche der Prafit’schen Parteinahme für den ethischen Objektivismus liegt freilich darin, dass er sich weigert, die nötigen ontologischen Grundlagen ausdrücklich zu formulieren und gegenüber ihren non-kognitivistischen Alternativen zu verteidigen. Das hat Parfits Position mit der ihr eng verwandten von Thomas Nagel gemeinsam: Man kann eben nicht zugleich Naturalist und ethischer Objektivist sein. 9 Natural Goodness betitelte Philippa Foot ihr Buch (Foot 2001). Leider bleibt Foot im Bereich der Ontologie derart vage, dass man am Ende nicht weiß, ob das, was der
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zerstören, indem man der Vorstellung vom Leben, das gut genug ist, die Grundlage entzieht. Dass die Philosophie, die sich selbst gerne als „wissenschaftlich“ oder „rational“ bezeichnet, nach wie vor dazu neigt, die Objektivität von Werten zu negieren, ist ein, wenn auch ungewollter, Angriff auf die menschliche Natur. Diese nämlich bedarf der Transzendenz, namentlich der des Bewusstseins. Sie bedarf also dessen, was die Tradition – in Abgrenzung zu den bloß „innerweltlichen“ Aspekten des Menschen, ob körperlich oder psychisch – schlicht, dogmatisch und traumwandlerisch „Seele“ nannte.
Literatur Foot (2001): Philippa Foot, Natural Goodness, Oxford. Highsmith (1961): Patricia Highsmith, This Sweet Sickness, New York. Hume (1976 [1739/40]): David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Übersetzung v. Theodor Lipps, hgg. von Reinhard Brandt, Hamburg. Mackie (1977): John L. Mackie, Ethics: Inventing Right and Wrong, New York. Mill (1976 [1863]): John Stuart Mill, Der Utilitarismus, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort v. Dieter Birnbacher, Stuttgart. Parfit (2011): Derek Parfit, On What Matters, Oxford. Ross (1930): William D. Ross, The Right and the Good, Oxford. Strasser (2008): Peter Strasser, Gut in allen möglichen Welten, Der ethische Horizont, 2., verb. Auflage, Paderborn. Strasser (2012): Peter Strasser, Unschuld. Das verfolgte Ideal, München.
Philosophin als „natürlich gut“ vorschwebt, nicht doch bloß eine façon de parler dafür ist, dass wir bestimmte biologische und kulturelle Merkmale als „natürlich“ empfinden.
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8 Tugend und Glück 8.1 Methodologische Vorüberlegungen Bonum est multiplex – diese scholastische Formel lässt sich ohne Zweifel auch auf das menschliche Leben anwenden: Es ist gut – oder schlecht – entlang mehrerer Dimensionen. Zu den wichtigsten dieser Dimensionen gehören die Tugend und das Wohlergehen oder, im Folgenden kurz: das Glück. Seit Platos Dialogen stand die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Dimensionen zueinander im Zentrum philosophischer Aufmerksamkeit. Nützt ein tugendhaftes Leben dem Tugendhaften, insofern es den Schlüssel zu einem glücklichen Leben darstellt? Ist Tugend hinreichend für das Glück, wie die Stoiker meinten, oder ist sie zumindest notwendig, wie Aristoteles annahm? Andererseits verlangen die Tugenden uns häufig große Opfer bis hin zur Aufgabe des eigenen Lebens ab. Nietzsche hat nicht ohne Grund die These vertreten, dass wir eigentlich das Opfer unserer Tugenden sind.¹ Die Frage nach dem Nutzen der Tugend und damit nach dem Verhältnis des tugendhaften zum glücklichen Leben ist also von größter praktischer Relevanz: Viele der wichtigsten Entscheidungen unseres Lebens hängen von der impliziten oder expliziten Antwort ab, die wir auf diese Frage geben. Aber diese Frage ist auch von großer theoretischer Bedeutung: So unterstellen Philosophen gerade in der aristotelischen Tradition einen begrifflichen Zusammenhang zwischen Tugend und Glück. Tugenden werden geradezu definiert als die Charaktermerkmale, die menschliche Wesen benötigen, um glücklich zu werden.² Andere Philosophen aus ansonsten ganz unterschiedlichen Traditionen bemühen sich hingegen um eine
1 Vgl. Nietzsche 1980 [1882], § 21 „A n d i e L e h r e r d e r S e l b s t l o s i g k e i t“: „Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend!) – so bist du ihr Opfer! Aber der Nachbar lobt eben deshalb deine Tugend! […] Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften – also desjenigen, der nicht s e i n e ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwicklung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt – dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der ‚Nächste‘ lobt die Selbstlosigkeit, weil er d u r c h s i e Vo r t e i l e h a t !“ 2 Vgl. Hursthouse 1991, 226.
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unabhängige Theorie der Tugend, die dann erst in einem zweiten Schritt versucht, ihren Beitrag zum Glück verständlich zu machen.³ Der Versuch einen begrifflichen Zusammenhang zwischen Tugend und Glück herzustellen, empfiehlt sich prima facie aus mindestens drei Gründen: Erstens sorgt er für theoretische Vereinheitlichung:⁴ Anstatt sich mit einem Dualismus von Tugend und Glück abzufinden, versteht er erstere aus ihrem Beitrag zu Letzterem heraus. Zweitens liefert er den Ansatzpunkt für eine erfolgversprechende Naturalisierung der Tugenden; in jedem Fall scheint die Kategorie des Glücks einer Naturalisierung eher zugänglich zu sein als die Kategorie der Tugend. Drittens schließlich scheint so die alte Frage „Warum eigentlich tugendhaft sein?“ eine einfache Antwort zu finden: Weil tugendhaft zu sein entweder notwendig oder sogar hinreichend dafür ist, ein glückliches Leben zu führen. Die letzten beiden Gründe unterstellen freilich jeweils eine Asymmetrie zwischen Tugend und Glück, der zweite eine ontologische, der dritte eine normative bzw. motivationale: Es scheint demzufolge unkontrovers, dass jeder von uns einen Grund und ein Motiv hat, glücklich zu werden – aber haben wir notwendig einen Grund (und sogar ein Motiv), den Forderungen der Tugend zu genügen? Moralische Rationalisten, denen zufolge moralische Werte wie die Tugenden intrinsisch normativ sind, sowie motivationstheoretische Internalisten, denen zufolge aufrichtige Wertungen notwendig eine Motivation, entsprechend zu handeln, implizieren, würden indes bestreiten, dass eine solche Asymmetrie überhaupt vorliegt.⁵ Außerdem wird unterstellt, dass sowohl die Tugenden wie das Glück einer Naturalisierung bedürfen, wobei die Erfolgsaussichten für die Naturalisierung des letzteren als deutlich größer als die der ersteren bewertet werden. Dann mag es naheliegen, die Tugenden auf indirektem Wege, eben über den Beitrag, den sie zum Glück leisten, in ein solches Naturalisierungsprojekt mit einzubeziehen. Hier kann zunächst von antinaturalistischer Seite bestritten werden, dass überhaupt Anlass zu einer Naturalisierung beider Kategorien besteht, und selbst wenn man dies zugesteht, bleibt fraglich, ob ihre Naturalisierung nicht vor gleichermaßen große Probleme stellt. Wenn es aber keine solchen Asymmetrien zwischen Tugend und Glück gibt, verflüchtigen sich auch die genannten Gründe, die für den Versuch sprechen, eine begriffliche Abhängigkeit der Tugend vom Glück nachzuweisen. Es könnte nun
3 Darin kommen inhaltlich so heterogene Ansätze wie Adams 2006; Driver 2001 und Hurka 2001 überein. 4 Vgl. Slote 1997, 264 f. 5 Zum moralischen Rationalismus bzw. zum motivationstheoretischen Internalismus vgl. die Diskussion in Halbig 2007, Kap. 5 und 6.
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sogar vielversprechend erscheinen, in umgekehrter Richtung und im Einklang mit dem erstgenannten Gesichtspunkt theoretischer Vereinheitlichung und Ökonomie nachzuweisen, dass einige zentrale prudentielle Güter, also solche, die einen konstitutiven Beitrag zum Glück leisten, ihrerseits zumindest teilweise durch Tugenden konstituiert sind – im Folgenden werden einige Beispiele dafür diskutiert werden – oder dass die Tugend sogar eine notwendige Bedingung dafür darstellt, dass prudentielle Güter wie Lust überhaupt Güter sind; die Lust des Sadisten ist vielleicht nicht nur lasterhaft, sondern stellt als solche nicht einmal ein Gut für den Sadisten selbst dar, leistet also keinen Beitrag zu seinem Glück. Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt.Wenn die beiden letztgenannten Ansätze zutreffen, dann benötigen wir eine unabhängige Theorie der Tugenden: Unser Verständnis prudentieller Güter scheint mindestens ebenso auf unser Verständnis der Tugenden angewiesen zu sein wie umgekehrt. Unglücklicherweise verspricht auch die empirische Forschung keinen entscheidenden Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Tugend und Glück: Selbst wenn es überzeugende empirische Belege für eine weitreichende Kovarianz zwischen Tugend und Glück gäbe, bliebe immer noch die Frage nach der Art dieses Zusammenhangs offen – handelt es sich um einen begrifflichen, oder um einen kausalen? Ebenso bliebe offen, in welche Richtung dieser Zusammenhang zu lesen wäre: Angenommen, es gäbe einen kausalen Zusammenhang – sind die Leute glücklicher, insofern sie tugendhaft sind, oder sind sie umgekehrt tugendhafter, insofern sie glücklich sind? Glücklich zu sein erleichtert es schließlich sehr, ein tugendhaftes Leben zu führen: Während Unglück den Unglücklichen in sich verschließt, senkt das Glück Barrieren wie Angst, Selbst-Zweifel etc. und ermöglicht eine Öffnung gegenüber der eigenen Umwelt, die die Voraussetzung für die Kultivierung zentraler sozialer Tugenden zu bilden scheint. Das Hauptziel dieses Beitrags ist zunächst ein klassifikatorisches: Ausgehend von der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Tugend und Glück werden verschiedene Dimensionen dieses Zusammenhangs unterschieden und einige Thesen zu der Frage entwickelt, wie diese Dimensionen sich zu einander verhalten. Die Argumentation gliedert sich in vier Schritte: Zunächst gilt es, die beiden Relata des Problems zu untersuchen und dessen Struktur genauer zu bestimmen.Worin genau besteht der Beitrag der Tugend zum Glück (8.2.1)? Und zu wessen Glück trägt sie bei (8.2.2)? Für welche Arten von Tugend stellt sich das Problem in besonderem Maße (8.3.1) und welche Konzeption der Tugenden wird dabei eigentlich vorausgesetzt (8.3.2)? Nach diesen unverzichtbaren Vorarbeiten werden dann fünf Arten möglicher Zusammenhänge zwischen Tugend und Glück unterschieden und jeweils in ihrer grundlegenden Struktur charakterisiert (8.4). Ein Ergebnis dieser Diskussion wird lauten, dass es möglich bleibt, dass wir um
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der Tugend willen unser Glück opfern müssen; am Ende steht eine Diskussion der Probleme, die solche Opfer aufwerfen, und zwar sowohl in der erstpersönlichen Perspektive des Handelnden wie in der drittpersönlichen Perspektive eines Beobachters, der die Entscheidungen des Handelnden bewertet (8.5).
8.2 Vorbereitende Klärungen 1: Glück 8.2.1 Das Glück Das Glück des Menschen bildet eine sogenannte prudentielle Kategorie – prudentielle Werte sind wesentlich gut für denjenigen, der sie realisiert. Die Kategorie dessen, was gut für jemanden ist, fällt jedoch nicht mit der Kategorie dessen zusammen, was gut simpliciter ist. Etwas, was das Leben einer Person besser macht, macht dieses Leben nicht unbedingt für die Person selbst besser. Ein Beispiel dafür könnten die Tugenden sein: Auch wenn man zugesteht, dass Tugend intrinsisch wertvoll ist und dass eine tugendhaft handelnde Person, die zum Beispiel die Freude anderer Menschen um ihrer selbst willen befördert, damit ihr Leben um ein Gut bereichert, wie Hurka es ausdrückt,⁶ scheint es doch zumindest eine offene Frage zu sein, ob die Tugenden wirklich das Leben dieser Person selbst verbessern. Gewiss machen sie sie zu einer besseren Person. Aber machen sie das Leben dieser Person auch für sie selbst besser? Wird sie ipso facto durch die Tugenden glücklicher, als sie es ohne sie wäre? Man könnte natürlich behaupten, dass gut und gut für aus allgemeinen werttheoretischen Gründen nicht in dieser Weise auseinander treten können. Eine experientialistische Werttheorie zum Beispiel impliziert, dass nichts außerhalb des bewussten Erlebens von Lebewesen intrinsischen Wert haben kann. Einer solchen Theorie zufolge kommt nur das,was von einer Person als gut erfahren wird (und demnach in einem klaren Sinne gut für sie ist) als Kandidat für den Status des intrinsischen Wertes in Betracht. Den Tugenden (die zwar auch eine affektive Dimension haben mögen, die jedoch weder ontologisch noch axiologisch in dieser Erlebnisqualität aufgehen) käme im Rahmen einer solchen Theorie nur der Status zu, bestenfalls instrumentell nützlich zu sein. Oder, um eine andere Alternative zu nennen, ein radikaler Perfektionismus könnte bestreiten, dass eine eigene Kategorie des gut für überhaupt erforderlich ist. Alles, wonach wir streben sollen, wäre die Vervollkommnung unserer eigenen Natur, die zwar Elemente wie Freude
6 Vgl. Hurka 2001, 55. Hurka spricht von „achieving a further good in her life“.
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enthalten mag, die eine essentielle Erfahrungsdimension haben, die aber ansonsten keinen Raum für eine eigene Kategorie prudentieller Werte lässt.⁷ Lässt man solche substantiellen Theorien des Zusammenhangs von gut und gut für beiseite, kann es wenig Zweifel daran geben, dass in unserer alltäglichen Perspektive die Bewertung eines Lebens als gut nicht einfach mit der Bewertung als gut für die Person, die dieses Leben führt, zusammenfällt. Ein gutes Leben ist ein Leben, das einfach insgesamt wählens- und wünschenswert ist und unsere Bewunderung verdient. Glück mag eine der Dimensionen sein, die zum Gutsein eines Lebens beitragen, aber es ist nur eine Dimension neben anderen, wie etwa sinnvoll, erfolgreich oder eben tugendhaft zu sein. Ein Leben kann besser werden, indem es sinnvoller oder erfolgreicher wird, aber anders als im Fall des Glücks bedeutet dies nicht, dass es besser für die Person wird, die dieses Leben führt: Man denke nur an einen talentierten Mathematiker, der sich in abstrakte geometrische Überlegungen vertieft, die seinem Leben zwar Sinn verleihen, dies aber auf Kosten entscheidender Dimensionen seines Glücks tun. Er mag nicht nur gezwungen sein, auf viele schöne Erfahrungen zu verzichten (etwa Freude beim Tanzen zu erleben statt über Theoremen zu brüten), sondern sogar auf die Möglichkeit verzichten müssen, basale Aspekte des menschlichen Lebens zu kultivieren, etwa das Eingehen enger zwischenmenschlicher Beziehungen oder die Verbesserung seiner körperlichen Fähigkeiten durch sportliches Training.Wie Haybron zu Recht bemerkt, streben wir auch innerhalb unserer eigenen praktischen Perspektive ein gutes Leben sans phrase an, sowohl für uns selbst als auch für diejenigen, für die wir zu sorgen haben.⁸ So ist es zum Beispiel einfach nicht wahr, dass wir uns nur um das Glück unserer Kinder sorgen. Wir wollen, dass sie ein gutes Leben führen, sogar wenn dies bedeutet, auf ein gewisses Maß an Glück zu verzichten, das ihnen nur auf Kosten anderer Dimensionen des guten Lebens hätte zuteilwerden können. Dennoch sorgen wir uns eben auch um diejenige Dimension unseres Lebens und des Lebens derer, für die wir zu sorgen haben, die im Folgenden gleichbedeutend als Glück, Gedeihen oder Wohlergehen bezeichnet werden. Dieser Teilbereich des guten Lebens enthält seinerseits viele Dimensionen, deren Inhalte und Verknüpfungen unter einander selbst Gegenstand weit verzweigter Diskussionen sind. Im Rahmen dieses Beitrags muss es genügen, einige grundlegende Unterscheidungen einzuführen, sowie einige Bemerkungen dazu zu machen, was im Folgenden nicht diskutiert werden kann.
7 Eine solche Position skizziert etwa Haybron 2007, 19, der an dieser Stelle aus einem persönlichen Gespräch mit Thomas Hurka zitiert. 8 Vgl. Haybron 2007, 19.
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Eine erste und grundlegende Unterscheidung in diesem Bereich ist diejenige zwischen subjektiven und objektiven Theorien des Glücks. Subjektiven Theorien zufolge hängt das Glück einer Person von ihren subjektiven Einstellungen ab; was eine Person glücklich macht, ist etwa gebunden an ihr subjektives Erleben oder an die Erfüllung ihrer Wünsche oder Präferenzen. Objektiven Theorien zufolge gibt es keine solche Abhängigkeit; eine Person kann durchaus glücklich sein, obwohl eine große Menge ihrer Präferenzen unerfüllt bleibt, und sie kann unglücklich sein, obwohl die meisten ihrer Präferenzen in der Tat erfüllt sind. Eine wesentliche Stärke subjektiver Theorien, unabhängig von ihrer konkreten Formulierung (als hedonistische Theorien, präferenzbasierte Theorien, sog. life-satisfaction Theorien etc.), besteht darin, dass nur sie aufgrund ihrer Struktur ein grundlegendes Merkmal unseres Alltagsbegriffs des Glücks einzufangen scheinen: Ein glückliches Leben muss für den glücklich sein, der es lebt, es muss als glücklich erlebt werden. Dieses wichtige Merkmal, das L. W. Sumner die „Subjekt-Relativität“ des prudentiellen Werts genannt hat,⁹ ist auf verschiedene Weise ausbuchstabiert worden. Rosalind Hursthouse zum Beispiel hat auf den sogenannten smile-Faktor hingewiesen – eine glückliche Person muss in einem gewissen Grade Freude am Leben haben.¹⁰ Die Unabhängigkeit von subjektiven Zuständen, die objektive Theorien des Glücks behaupten, scheint zu dieser Subjekt-Relativität zumindest in einem Spannungsverhältnis zu stehen. Eine zweite relevante Unterscheidung, die zu derjenigen zwischen subjektiven und objektiven Theorien des Glücks quer steht, ist diejenige zwischen internalistischen und externalistischen Theorien.¹¹ Internalistischen Theorien zufolge hängt das Glück einer Person nur von der Verfassung dieser Person als solcher ab. Da die Verfassung einer Person nicht mit ihren subjektiven Zuständen koinzidiert, koinzidieren auch Internalismus und Subjektivismus nicht; eine Konzeption des Glücks, die sich etwa auf die Kategorie der Gesundheit stützt, kann durchaus zugleich objektivistisch und internalistisch sein. Externalistischen Theorien zufolge hängt das Glück einer Person hingegen auch davon ab, wie es um die Person als Angehöriger einer anderen Entität bestellt ist. Die Bedingungen für das Glück einer Person könnten zum Beispiel essentiell auf die biologische Spezies Bezug nehmen, zu der die Person gehört. Zum Beispiel behaupten viele Neo-Aristoteliker, dass man nicht verstehen kann, worin das Glück für einen individuellen Vertreter einer Spezies besteht, wenn man nicht weiß, welche Bedingungen für ein gedeihendes Leben für Vertreter dieser Spezies im Allgemeinen gelten. Externalistische
9 Vgl. Sumner 1998, 21 f. 10 Vgl. Hursthouse 1999, 185 f. 11 Zu diesem Unterschied vgl. Haybron 2007, 2 f.
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Theorien teilen viele der Schwierigkeiten objektivistischer Theorien: Sofern sich nicht zum Beispiel ergibt, dass das Gedeihen einer Person qua Angehöriger der menschlichen Spezies mit einem psychologischen Zustand wie der Lebensfreude identisch oder zumindest eng verknüpft ist, fällt es schwer, zu sehen, inwiefern dieses Gedeihen der Person ihr Gründe (oder auch nur Motive) gibt, sich um ein so verstandenes Gedeihen überhaupt zu kümmern. Das Projekt, die normative (oder die motivierende) Kraft der Tugend zu erklären, indem man sie mit dem menschlichen Glück in Verbindung bringt, würde jedoch überhaupt keinen Ansatzpunkt finden, wenn sich ergäbe, dass Glück und prudentielle Werte selbst etwas sind, dem die Person normativ gleichgültig gegenüber stehen kann oder um das sie sich einfach nicht zu kümmern bräuchte. Eine dritte Unterscheidung impliziert bereits eine Antwort auf die Frage, die uns hier beschäftigt, nämlich die Unterscheidung zwischen moralisierenden und nicht-moralisierenden Konzeptionen des Glücks, wobei Tugenden den ersteren zufolge einen konstitutiven Teil des Glücks darstellen.¹² Jede Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Konzeption würde natürlich die Frage vorentscheiden, die wir zu beantworten versuchen. Wir wenden uns den Vor- und Nachteilen solcher moralisierenden Konzeptionen daher erst weiter unten zu. Fassen wir die gerade angestellten Überlegungen zum Glück zusammen: Etwas trägt nur dann zum Glück einer Person bei, wenn es dieser Person ein besseres Leben für sie ermöglicht, nicht schon da, wenn es sie zu einer besseren Person macht. Was zum Glück einer Person beiträgt, mag lediglich von der individuellen Verfassung von P abhängen oder es mag von zusätzlichen Bedingungen abhängen, vor allem von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten biologischen Spezies. Und es mag sogar sein, dass die internen und externen Aspekte zusammenhängen – die Tugenden sind dafür vielleicht ein Beispiel: Neo-Aristoteliker versuchen zu zeigen, dass sie ihren Besitzern nicht nur ein gutes Leben ermöglichen, sondern sie auch zu guten menschlichen Wesen machen, und dass beide Aspekte unauflöslich zusammenhängen.¹³ Leider kann den komplexen Problemen der Zusammenhänge zwischen Tugenden, menschlichem Gutsein und dem guten Leben für menschliche Wesen hier nicht weiter nachgegangen werden. Von vornherein aus der Diskussion ausgeschlossen werden müssen freilich starke Formen des Objektivismus bezüglich des menschlichen Glücks, also Positionen, für die Glück
12 Siehe Copp/Sobel 2004, 230 – 232; Haybron spricht statt von moralisierenden Konzeptionen von einem Wohlfahrts-Perfektionismus. Er meints damit eine Position „which maintains that well-being consists, non-derivatively, at least partly in perfection: excellence or virtue – or, in the Aristotelian case, excellent or virtuous acitivity.“ (Haybron 2007, 2) 13 Vgl. Hursthouse 1999, 526 und Copp/Sobel 2004, 526 ff. Für eine kritische Diskussion vgl. Zagzebski 2006, § 1.
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vollkommen unabhängig von subjektiven Einstellungen ist. Wie eine Person ihr Leben empfindet, ob sie sich ihrer selbst und ihres Lebens freut usw. bleibt der hier vertretenen Auffassung zufolge (und in Übereinstimmung mit dem common sense) mindestens teilweise konstitutiv für ihr Glück. Desweiteren muss die Frage offen bleiben, wie genau sich die subjektiven und die objektiven Dimensionen zu einander verhalten – zum Beispiel in der Frage: Wie verhalten sich Erfahrungen der Lebensfreude oder der Zufriedenheit zu ökologischen Kriterien wie „the bright eye and the gleaming coat“¹⁴ einerseits und zum Kriterium etwa der Tiefe¹⁵ eines Lebens, die ihrerseits von Fragen wie der abhängt, worum es im Leben geht und auf was es ausgerichtet ist, andererseits? Der Beitrag der ethischen Tugenden zum Glück in diesem Sinne wird weiter unten diskutiert werden.
8.2.2 Wessen Glück? Auch die Frage, zu wessen Glück bzw. Gedeihen die Tugend beitragen soll, kann hier nur auf eine ihrer Dimensionen eingegrenzt werden: Ist es a) die tugendhafte Person selbst, b) diejenigen, die mit tugendhaften Personen in Kontakt sind, c) die Gemeinschaften, deren Teil tugendhafte Personen sind, oder d) die Lebensform, die für menschliche Wesen charakteristisch ist? Im Folgenden wird unter diesen vier Positionen, die alle in der gegenwärtigen Debatte ihre Vertreter finden, allein die vierte knapp diskutiert werden können, um auf diesem Wege freilich ein strukturelles Problem zutage zu fördern, mit dem auch die anderen konfrontiert sind. Anselm Müller zum Beispiel behauptet mit Blick auf den individuellen Angehörigen einer Spezies, dass die Tugenden „der Entfaltung und Erhaltung seiner Lebensform in ihm selbst und in seinesgleichen“ dienen.¹⁶ Seine Lebensform zu erhalten, kann jedoch dem Individuum einen hohen Preis abverlangen: Die einzelne Biene, die sticht, beschützt damit die Lebensform ihrer Spezies, aber verurteilt sich selbst zum Tode. Ähnliche Opfer können der tugendhaften Person im Dienste ihrer Mitmenschen und ihrer Gemeinschaft abverlangt werden. Andererseits sind die Mitmenschen, die Gemeinschaft und die Lebensform immerhin ihre Mitmenschen, ihre Gemeinschaft und ihre Lebensform. Die Opfer, die ihr abverlangt werden, dienen also nicht Zwecken, die ihrer Identität ganz und gar äußerlich wären – im Gegenteil: Vor dem Opfer
14 Vgl. Bernard Williams 1985, 46. 15 Zur Dimension der Tiefe vgl. Foot 2001, 86 ff. 16 Müller 1998, 68. Vgl. auch die parallele These bei Wallace 1978, 37: „Human excellences, including virtues, will be capacities or tendencies that suit an individual for human life generally.“
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zurückzuscheuen, könnte diese Identität in Frage stellen (in verschiedenen Weisen, z. B. indem es ihre Selbstachtung gefährdet) und damit ihr Glück aufs Spiel setzen. Wenn man jedoch nicht eine extrem starke Form beispielsweise eines sozialen Holismus vertritt, der das Glück des Individuums ausschließlich durch seine Rolle als Teil einer Formation etwa des objektiven Geistes (im Hegelschen Sinne) definiert, dann bleibt die Spannung zwischen dem Glück der tugendhaften Person selbst und dem Dienst an den Mitmenschen, der Gemeinschaft oder der Lebensform bestehen. Obgleich es sicherlich eine eigene Diskussion verdient, ob die Tugenden zum Glück bzw. Gedeihen anderer Entitäten als dem der Tugendhaften selbst beitragen, wird daher im Folgenden die Frage im Mittelpunkt stehen, ob und in welchem Sinne die Tugenden zum Glück derer beitragen, die sie besitzen.
8.3 Vorbereitende Klärungen 2: Tugend Mit Blick auf die Kategorie der Tugend stellen sich mit Blick auf die Fragestellung dieses Beitrags zunächst die folgenden beiden Fragen: Mit Blick auf welche Art von Tugenden wird jeweils die Frage nach ihrem Beitrag zum Glück gestellt (3.1), und welche allgemeine Theorie der Tugenden wird dabei zugrunde gelegt (3.2)?
8.3.1 Arten von Tugenden Für zumindest einige Arten von Tugenden erscheint die These, dass sie ihrem Besitzer nützen, als unmittelbar einleuchtend: Selbst-bezogene Tugenden wie die der Besonnenheit nützen ihrem Besitzer dabei, sich gegen seine überschießenden Leidenschaften zu schützen, dasselbe gilt für andere strukturelle Tugenden wie Fleiß oder Ausdauer, die ihrem Besitzer bei der Verfolgung gleicher welcher Art von Projekten von Nutzen sind. Aber lassen sich diese Beobachtungen zum Zusammenhang von Tugend und Glück auf alle Arten von Tugenden ausdehnen? Zumindest die auf andere Personen bezogenen Tugenden wie Mitleid und Treue scheinen offensichtliche Gegenbeispiele zu bilden, die die These, dass die Tugenden tout court ihrem Besitzer nützen, in Frage stellen.Wer sein Wort auch unter schwierigen Umständen hält oder seinem Nachbarn aus einer auch für die Helfer bedrohlichen Gefahrensituation rettet, der setzt sein eigenes Glück aufs Spiel, und das vielfach nicht zufälligerweise, sondern gerade weil er über die entsprechenden Tugenden verfügt. Eine treulose oder gleichgültige Person würde nicht einmal auf die Idee kommen, sich solchen Gefahren auszusetzen. An dieser Stelle eröffnen sich zwei methodologische Optionen: Erstens kann die Frage, ob die Tugenden
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zum Glück ihrer Besitzer beitragen, als hoffnungslos elliptisch verworfen und statt dessen für jede einzelne Art von Tugenden neu gestellt werden. Zweitens kann der Versuch unternommen werden, an der ursprünglichen Fragestellung festzuhalten und den Nachweis zu führen, dass tatsächliche alle Tugenden einen solchen Beitrag leisten. Der Erfolg eines solchen Versuchs müsste sich jedoch insbesondere an den auf andere Personen bezogenen, moralischen Tugenden erweisen, insofern diese die stärkste Herausforderung für die These des Nutzens der Tugenden tout court darstellen. Hier wiederum mag eingewendet werden, dass sich die vorgeschlagene Diskussion der Frage nach dem Beitrag der Tugenden zum Glück ihrer Besitzer anhand von auf andere Personen bezogenen, moralischen Tugenden als fragwürdig erweisen könnte, insofern sie sich in der Regel auf drei zumindest fragwürdige Annahmen stützt. Sie setzt nämlich erstens voraus, dass sich (i) eine klare Unterscheidung zwischen moralischen und nicht-moralischen Tugenden treffen lässt, (ii) dass der Bereich der Moral eine überschaubare Anzahl von Tugenden umfasst, die sich (iii) wiederum durch die Verpflichtungen gegenüber anderen Personen (im Gegensatz etwa zu solchen gegenüber Tieren, Ökosystemen etc.) individuieren lassen. Alle diese drei Annahmen sind in jüngerer Zeit scharfer Kritik unterzogen worden. So beklagt Swanton (gegen (i)) die weithin uneingestandene „“artificiality of the moral/non-moral distinction in much contemporary ethics„¹⁷ und plädiert (gegen (ii)) für die These, dass „moral virtues are legion“¹⁸, insofern sie sich für eine Integration etwa auch nicht-universeller, rollen-relativer Tugenden einerseits, von Charaktermerkmalen wie Charme und Witz andererseits, in den Bereich der moralischen Tugenden ausspricht. Die Fokussierung auf die auf andere Personen bezogenen Tugenden erscheint vor diesem Hintergrund (gegen (iii)) als das kontingente und fragwürdige Erbe von Humes Akzentuierung von sozialen Tugenden wie Gerechtigkeit und Wohlwollen, die Hume als Tugenden gerade über ihren Nutzen bei der Reglung des menschlichen Zusammenlebens individuiert hatte.¹⁹ Keine der drei genannten Bedenken (einmal abgesehen von der Spannung, in der etwa (i) und (ii) zueinander stehen – das Projekt einer Ausweitung der moralischen Tugenden setzt ja voraus, dass sich eine klare Unterscheidung von moralischen und nicht-moralischen Tugenden treffen lässt) erscheint mir allerdings als schlagend: Selbst wenn man zugesteht, dass es wichtige moralische
17 Swanton 2003, 73. 18 Swanton 2003, 71. 19 Für eine Verteidigung der neuzeitlichen Abkehr von einer „agent-centered theory of virtues“, die sie im Wohlergehen ihres Besitzers fundiert, zugunsten einer „patient-centered theory“, die sie im Wohlergehen ihrer Nutznießer fundiert, vgl. Sumner 1998, 24 f.
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Tugenden gibt, die gar nicht auf andere Personen bezogen sind, wenn also in der Formulierung von Sumner eine „patient-centered“-Theorie moralischer Tugenden zurückgewiesen wird, bleibt dennoch die Tatsache bestehen, dass es zumindest einige paradigmatische moralische Tugenden gibt, die auf andere Personen bezogen sind und die in besonderer Weise die Frage aufwerfen, ob sie ihrem Besitzer nicht erhebliche Opfer abverlangen und ihm also insgesamt mehr schaden als nutzen können.
8.3.2 Theorie der Tugend Unabhängig von der Frage, ob sich das Problem des Nutzens der Tugenden für unterschiedliche Arten von Tugenden in unterschiedlicher Weise stellt, bleibt zu prüfen, welche Hintergrundannahmen zur Ontologie der Tugend überhaupt ganz unabhängig von ihren einzelnen Arten für dieses Problem relevant sind. Erstens wird hier die Unterscheidung zwischen einer Konzeption, der zufolge die Tugend ein nicht weiter steigerungsfähiges Ideal bezeichnet, einerseits und einer Konzeption, der zufolge es sich bei Tugend um einen satis-Begriff handelt, der nach Überschreiten einer mehr oder minder vagen Schwelle erfüllt ist, jedoch weitere Steigerungen durchaus zulässt, andererseits relevant.²⁰ Die erstere Konzeption erlaubt nur einen Fortschritt hin zur Tugend, die letztere dagegen auch einen Fortschritt in der Tugend. Wenn nun Tugenden als nicht gradualisierbare Ideale der Vollkommenheit verstanden werden, erscheint es deutlich aussichtsreicher, einen notwendigen oder hinreichenden Zusammenhang zwischen Tugend und Glück herzustellen, als dies vor dem Hintergrund einer Konzeption von Tugend als satis-Begriff möglich wäre. Für die wenigen Menschen, die eine solche Vollkommenheit erreichen, mag es vielleicht sogar vorstellbar sein, dass sich etwa die evaluative Valenz von extremen Schmerzzuständen, die ihnen die Ausübung ihrer Tugend eingetragen haben, vom Negativen ins Positive wendet.²¹ Für die-
20 Dass „Tugend“ein Schwellenbegriff ist, wird von Swanton 1998, 63, vertreten. Siehe auch die Diskussion in Russell 2009, Kap. 4, der überzeugend darlegt, dass seine Konzeption, die Tugendbegriffe als satis-Begriffe versteht, durchaus damit vereinbar ist, Tugenden als Ideale zu begreifen; vgl. ebd. 121. 21 So lässt etwa Swanton die Frage, ob der Eudaimonismus (demzufolge die Tugend zumindest charakteristischerweise zum Wohlergehen des Tugendhaften beiträgt) sich nicht als „viable theory of highest virtue“ (Swanton 2003, 90), erweisen könnte, ausdrücklich offen, lehnt ihn aber als „a theory of normal virtue“ (ebd.) ab, wie sie etwa für die – in Nietzsches Terminologie – Genesenden gelten würde, die noch weit vom Ideal vollkommener Tugend entfernt sind. Vgl. ebd., 62 ff.
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jenigen, die lediglich den satis-Begriff der Tugend erfüllen, scheint dies jedoch kaum eine plausible Annahme darzustellen. Vor dem Hintergrund einer Konzeption der Tugend als Ideal würde jedoch die Frage nach ihrem Beitrag zum Wohlergehen des Tugendhaften einen Großteil ihrer Relevanz verlieren. Erstens würde sie sich nur noch für die wenigen Vollkommenen überhaupt stellen, und zweitens wäre sie kaum zu entscheiden, da die Ontologie, Epistemologie und Psychologie einer solchen Vollkommenheit ganz erhebliche Schwierigkeiten aufwirft, die zunächst bewältigt werden müssten, bevor eine solche Frage überhaupt diskutiert werden könnte. Aus diesen Gründen soll Tugend im Folgenden als satis-Begriff verstanden werden, ohne dass dies freilich das Streben nach einem Ideal an Vollkommenheit als Konstituens der Tugend ausschließen würde. Nur vollzieht sich dieses Streben eben zu einem Gutteil innerhalb der Tugend selbst. Sowohl die Tugend wie das Glück ihres Besitzers müssen mithin als gradualisierbare Begriffe aufgefasst werden. Offen bleiben muss freilich die Frage, ob, selbst wenn ein Zusammenhang zwischen beiden Kategorien tatsächlich nachgewiesen werden kann, die Steigerung etwa der Tugend proportional verläuft zu der des Glücks. Oder nimmt gemäß dem Prinzip des abnehmenden Grenznutzens der Beitrag, den die Tugend zum Glück leistet, mit steigender Vollkommenheit eher ab? Oder gilt vielleicht sogar die Umkehrung dieses Prinzips, und der Beitrag der Tugend zum Glück steigt noch an, je vollkommener jemand über diese Tugend verfügt? Zweitens definieren, wie eingangs erwähnt, einige einflussreiche, insbesondere neo-aristotelische Theorien die Tugenden geradezu durch den Beitrag, den sie zum Glück ihrer Besitzer leisten. Rosalind Hursthouse etwa definiert die Tugend als „a character trait a human being needs for eudaimonia, to flourish or live well“.²² Hursthouse selbst hebt hervor, dass sie den Zusammenhang zwischen Tugend und Eudaimonie als einen begrifflichen betrachtet.²³ Dass Tugenden zum Wohlergehen ihrer Besitzer beitragen, würde demzufolge eine begriffliche Wahrheit darstellen. Hursthouses Definition der Tugenden lässt freilich sowohl eine konstitutive (die Eudaimonie besteht partiell im Ausüben der Tugenden) wie eine instrumentelle Lesart (die Tugenden liefern verlässliche Mittel zur Eudaimonie) zu. Der konstitutiven Lesart zufolge wäre es in der Tat unmöglich, ein lasterhaftes, aber glückliches Leben zu führen. Die instrumentelle Lesart wiederum erlaubt zwei ihrerseits distinkte Konzeptionen von Tugend, die sich beide
22 Hursthouse 1999, 169; siehe auch Hursthouse 1991, 226 und Müller 1998, 60. 23 Vgl. Hursthouse 1991, 226.
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im Werk von Hursthouse finden lassen.²⁴ Entweder wird die Liste von Charaktermerkmalen, die wir alltäglich als Tugenden betrachten, als Ausgangspunkt gewählt und für jedes dieser Merkmale nachgewiesen, dass es ein verlässliches Mittel zur Eudaimonie darstellt, oder aber die Tugend wird streng funktional definiert als eben jedes Charaktermerkmal, das ein solches Mittel darstellt. Im letzteren Fall wäre es eine offene Frage, ob die sich aus einer solchen Konzeption ergebende Liste von Tugenden mit der des common sense übereinstimmt oder nicht. Ergibt sich keine solche Übereinstimmung, müsste die Liste des common sense einer entsprechenden Revision unterzogen werden. Hursthouse selbst scheint insgesamt der ersteren Konzeption zuzuneigen: So hebt sie ausdrücklich hervor, dass wir von vornherein nicht über unsere alltägliche Vorstellungen von Tugenden verfügen würden, wenn diese sich nicht bereits durch ihren Beitrag zur Eudaimonie bewährt hätten.²⁵ Wenn tatsächlich eine begriffliche Beziehung zwischen Tugend und Eudaimonie besteht, sei sie nun konstitutiver oder instrumenteller Natur, wird sie sich mithin an der vertrauten Liste von Tugenden bewähren müssen; gelingt dies nicht, scheint Hursthouse eher bereit, die begriffliche Beziehung selbst in Frage zu stellen, als eine fundamental revisionäre Liste der Tugenden in Betracht zu ziehen.
8.4 Fünf Arten der Beziehung zwischen Tugend und Glück Nach diesem knappen Blick auf die beiden Relata der Beziehung zwischen Tugend und Glück sind nun die Voraussetzungen geschaffen, um die Beziehungen selbst, in der sie zueinander stehen könnten, zu untersuchen. Ich möchte zwischen fünf Arten dieser Beziehung zu unterscheiden vorschlagen, die sich in abnehmender Stärke auflisten lassen. Zunächst bedarf es jedoch noch einer letzten einschränkenden Bemerkung. Ich werde zwei Hinsichten nicht diskutieren, in denen Tugenden ipso facto von prudentiellem Wert sein können: Wenn Aristoteles recht damit hat, dass wohlerzogene Personen im tugendhaften Handeln persönliche Erfüllung finden, dass sie deren Ausübung also erfreulich statt lästig finden, dann sind die Tugenden in der Tat in mindestens einer Hinsicht prudentiell wertvoll, eben durch die Freude, die sie einem selbst spenden. Und wenn Aristoteles ebenfalls recht damit hat, dass
24 Für die entsprechenden Belege bei Hursthouse vgl. Everitt 2007, 289; zum Problem selbst vgl. Copp/Sobel 2004, 529 ff.; Everitt 2007, § 4. 25 Vgl. Hursthouse 1999, 187.
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die Tugenden den Charakter der tugendhaften Person integrieren und ihre affektiven, motivationalen und kognitiven Dispositionen in eine stabile Ordnung bringen, so dass sie ihr den Ärger interner Konflikte ersparen, dann sind Tugenden wiederum auch in dieser Hinsicht prudentiell wertvoll. Nun ist es jedoch erstens fraglich, ob diese beiden Punkte sich wirklich für alle Arten tugendhaften Verhaltens verallgemeinern lassen – Aristoteles selbst schränkt dies dahingehend ein, dass es gerade die Tugendhaftesten sein werden, die, wenn sie im Schlachtfeld dem Tod entgegensehen, Wunden und den Tod nur widerwillig und ohne Lust erleiden werden, weil ihnen klar ist, wie viel auf dem Spiel steht. Anders als weniger wertvolle Menschen setzen sie nicht nur ihr bloßes Leben, sondern auch eben das Leben, das sich durch einen tugendhaften Charakter auszeichnet, aufs Spiel, gerade indem sie tugendhaft handeln.²⁶ Zweitens scheinen diese beiden Punkte das vorauszusetzen, was hier allererst gezeigt werden soll. Ohne dass hier auf die Feinheiten der Aristotelischen Theorie der Lust eingegangen werden könnte, sei lediglich darauf hingewiesen, dass die Rolle, die der Lust im Kontext der Tugend zugeschrieben wird, eine moralisierende Sichtweise dieser Lust zu implizieren scheint – entweder vervollständigt sie eine ausgezeichnete Aktivität, deren konstitutiver Teil sie ist,²⁷ oder sie superveniert auf tugendhaftem Handeln als etwas „Hinzukommendes“.²⁸ Eine so verstandene Lust kann jedoch nur schwerlich als ein prudentieller Wert gelten. Dasselbe gilt für den prudentiellen Wert eines integrierten Charakters: Es müsste zumindest aufgezeigt werden, warum das Laster nicht einen ähnlichen hohen Grad an Integration erlaubt, ohne dabei jedoch einfach vorauszusetzen, dass nur die Form von Integration, die die Tugend mit sich bringt, von prudentiellem Wert sei – und zwar eben weil die Tugend sie mit sich bringt. Nach dieser letzten Vorüberlegung soll nun zwischen den folgenden fünf Arten eines Zusammenhangs zwischen Tugend und Glück differenziert werden, und zwar in abnehmender Stärke dieses Zusammenhangs: 1. Ein insgesamt tugendhafter Mensch zu sein, ist notwendig und hinreichend für das Glück des Tugendhaften. 2. Ein insgesamt tugendhafter Mensch zu sein, bildet eine notwendige Bedingung dafür, dass andere Güter einen prudentiellen Wert für den Tugendhaften haben und damit zu seinem Glück beizutragen vermögen. 3. Ein insgesamt tugendhafter Mensch zu sein, bildet selbst einen prudentiellen Wert.
26 Vgl. Aristoteles, NE III.12, 1117b10. 27 Vgl. Aristoteles, NE 1174b4. 28 Vgl. Aristoteles, NE X.4, 1174b31 – 33.
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Der Besitz der einen oder anderen Tugend bildet eine notwendige Bedingung dafür, dass bestimmte andere Güter einen prudentiellen Wert für den Tugendhaften haben und damit zu seinem Glück beizutragen vermögen. Ein insgesamt tugendhafter Mensch zu sein bildet ein kontingentes, persönliches Projekt, dessen Realisierung einen prudentiellen Wert für denjenigen darstellt, der ein solches Projekt verfolgt.
Die stärkste und die schwächste der fünf gerade unterschiedenen Arten der Beziehung zwischen Tugend und Glück können von vornherein als keiner näheren Prüfung bedürftig ausgesondert werden: Die fünfte Art der Beziehung würde den Zusammenhang zwischen Tugend und Glück vollständig trivialisieren. Tugend erscheint hier als ein zufälliges Projekt unter anderen, das ebenso gut durch das Projekt, ein besonders lasterhafter Mensch zu werden, ersetzt werden könnte. Der prudentielle Wert der Tugend liegt hier nicht in ihr selbst, sondern eben nur darin, dass sie den Inhalt eines persönlichen Projekts bildet, dessen erfolgreiche Realisierung eben als solche und ganz unabhängig von seinem Inhalt einen prudentiellen Wert darstellt. Die erste und stärkste Art des Zusammenhangs von Tugend und Glück wird durch die stoische Auffassung vertreten, dass die Tugend den einzigen Wert im strengen Sinne des Wortes darstellt. Andere scheinbare intrinsische Werte wie Gesundheit erweisen sich bestenfalls als vorzugswürdige Adiaphora. Man mag hier einwenden, dass die Kategorie des so verstandenen Wertes lediglich in den Bereich des Guten gehört, nicht aber in den des Guten für und damit keinerlei prudentielle Relevanz hat. Ein solcher Einwand verträgt sich indes nicht mit der stoischen Überzeugung, dass ein tugendhaftes Leben eben auch ein gutes Leben für denjenigen ist, der es führt, selbst wenn er auf viele vorzugswürdige Adiaphora verzichten muss und nachgesetzten Adiaphora wie etwa dem körperlichen Leiden ausgesetzt ist.Tugend erweist sich jedenfalls aus stoischer Sicht als gleichermaßen notwendig und hinreichend für das Glück; dies wiederum impliziert, dass es kein Opfer an Glück im Dienst der Tugend geben kann. Diese stoische Theorie bedarf hier indes keiner weiteren Diskussion, da sich, wie nun zu zeigen sein wird, schon die schwächere, zweite Art des Zusammenhangs nicht verteidigen lässt. Diese zweite Art des Zusammenhangs gesteht die Existenz anderer genuiner Werte außer dem der Tugend zu, bestreitet aber, dass es sich bei ihnen um prudentielle Güter handelt, sofern nicht derjenige, der über sie verfügt, ein tugendhafter Mensch ist. Man spricht in Bezug auf eine solche Theorie des Zusammenhangs von Tugend und Glück in der angloamerikanischen Debatte auch von einer moralisierenden Konzeption des Glücks. Ihr zufolge gilt ein Doppeltes: Kein Gut wie Gesundheit, Erfolg etc. ist für denjenigen, der über es verfügt, prudentiell wertvoll, wenn dieser nicht tugendhaft ist. Und umgekehrt: Kein Übel stellt für
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denjenigen einen prudentiellen Unwert dar, der es in Kauf nimmt, um den Forderungen der Tugend zu entsprechen. Eine solche moralisierende Konzeption wird etwa von D. Z. Phillips vertreten. Phillips zufolge gilt: „death for the sake of justice is not a disaster“²⁹; sogar der eigene Tod als Preis moralischer Integrität verwandelt sich für den Tugendenhaften in „a good“³⁰. John McDowell wiederum behauptet, dass für die für den Tugendhaften charakteristische Auffassung von Glück gilt: The conception of human excellence [sc. des Tugendhaften] […] equip[s] him to understand special employments of the typical notions of ‘prudential’ reasoning – the notions of benefit, advantage, harm, loss, and so forth – according to which (for instance) no payoff from flouting a requirement of excellence […] can count as a genuine advantage; and, conversely, no sacrifice necessitated by the life of excellence, however desirable what one misses may be by other canons, can count as a genuine loss.³¹
Nun sieht sich eine solche moralisierende Konzeption des Glücks offenkundigen Gegenbeispielen ausgesetzt, insofern sie die Vorstellung eines Verlusts im Dienst der Tugend als nichts weniger als inkohärent erscheinen lässt: Wenn ich öffentlich für einen Freund eintrete, der brutale Übergriffe der herrschenden Klasse meines Landes aufgedeckt hat, dann mag ein solches Handeln von mir als tugendhaftem Menschen gefordert sein, ich setze damit aber meine Freiheit sowie mein physisches und psychisches Wohlergehen aufs Spiel; die mir drohende Folter mag zu irreparablen Beeinträchtigen sogar in der Ausübung basaler menschlicher Fähigkeiten wie der zur selbstbestimmten Fortbewegung führen. Würden wir in solchen Fällen tatsächlich davon sprechen, dass ich – in McDowells Worten – „no
29 Phillips 1964, 50. 30 Ebd., 51. Vgl. auch ebd., 60, wo Phillips behauptet, dass „the man who chooses justice […] has accomplished all“ – auch wenn er hinsichtlich des Gewinns an Macht und Wohlstand nicht so profitiert wie ein Gauner es in derselben Situation tun würde. 31 McDowell 1981, 369. An anderer Stelle bezeichnet McDowell Eudaimonia/Glück jedoch als nur “one dimension of practical worthwileness” (McDowell 1998, 122). Mithin kann eine ernste Verletzung, die man sich beim tugendhaften Handeln zuzieht, durchaus einen echten Verlust hinsichtlich anderer Dimensionen zwar nicht des Glücks, aber doch der practical worthwileness darstellen. Dennoch lässt McDowell keinen Zweifel daran, dass die Dimension der Eudaimonia/des Glücks im Vergleich zu den anderen Dimensionen einen privilegierten Status besitzt – sie steht für “excellence par excellence” (ebd., 123), was wiederum bedeutet, dass für jemandem, der diese Dimension zu schätzen gelernt hat, “nothing else matters for the question what shape one’s life should take here and now, even if the upshot is a life that is less desirable along other dimensions.” (ebd.) In ähnlichem Sinne bestreitet Müller, der von einem “Geheimnis” in der Haltung der tugendhaften Person zu ihrem Glück spricht, dass der Tugendhafte glauben kann, dass sein Gutsein seinem Glück wirklich im Wege stehen könne; vgl. Müller 1998, 191.
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genuine loss“³² erlitten habe, ja dass ich sogar selbst nach der Folter, die mich mit bleibenden Behinderungen zurücklässt „alles erreicht habe“ (accomplished all),³³ und zwar alles nicht nur im moralischen, sondern auch im prudentiellen Sinne? Erstens trägt, wer die Möglichkeit eines prudentiellen Verlusts im Dienst der Tugend leugnet, eine erhebliche Beweislast. Er muss zeigen, dass die Tugenden als Bedingungen fungieren, die nicht nur die evaluative Valenz eines Sachverhalts insgesamt, sondern sogar sein prudentielles evaluatives Vorzeichen ändern können. Ein Beispiel: Meine Freundschaft mit B mag darauf basieren, dass ich ihm eine wichtige Information vorenthalte, z. B. dass ich ihn in der Vergangenheit gegenüber einer staatlichen Behörde denunziert habe. Nun mag man mit einiger Plausibilität behaupten, dass unsere Freundschaft, die auf einem solchen schuldhaften Verschweigen basiert, nicht so wertvoll ist, wie sie es wäre, wäre das nicht der Fall. Die Freundschaft mag an Wert verlieren, oder sie mag sogar in einem Maße verdorben sein, der ihr evaluatives Vorzeichen ins Negative verkehrt und sie damit zu einer insgesamt schlechten Sache macht. Aber verliert sie auch an prudentiellem Wert oder wird sogar zu einem prudentiellen Unwert für mich? Das erscheint als eine ganz andere Frage als die nach dem Wert der Freundschaft all things considered. Immerhin mag die Freundschaft ja gedeihen, ich genieße das volle Vertrauen meines Freundes usf.Wäre ich ein tugendhafter Mensch (und hätte B die Wahrheit gestanden), wäre die Freundschaft nicht zustande gekommen – aber warum soll dies ihren prudentiellen Wert für mich beeinträchtigen? Nun kann man an diesem Punkt eine hang tough-Strategie verfolgen und bestreiten, dass eine solche Freundschaft auch nur einen prudentiellen Wert für mich darstellt. Auch wenn ich die äußeren Vorteile einer solchen Freundschaft genieße, übersehe ich vielleicht, dass eine auf ein schuldhaftes Verschweigen gegründete Freundschaft auch zum eigenen Glück eben nicht den Beitrag leistet, den wirkliche Freundschaften zu ihm zu leisten vermögen. Zweitens aber gilt es an dieser Stelle, eine in diesem Zusammenhang entscheidende Asymmetrie zwischen gut und schlecht zu berücksichtigen: Eine solche hang tough-Strategie mag dann plausibel erscheinen, wenn es um prudentielle Güter geht, die gleichsam verdorben und damit auch zu prudentiellen Unwerten werden.³⁴ Schon Aristoteles bemerkt schließlich, dass die Lust an las-
32 McDowell 1981, 369. 33 Philipps 1964, 60. 34 Auch Slote 1997, der im Fall der verdorbenen Güter in keiner Weise zu einer hang toughStrategie neigt, scheint das Bestehen einer solchen Asymmetrie durchaus anzuerkennen. Er bemerkt nämlich, dass eine solche Strategie angewendet auf Fälle, in denen prudentielle Unwerte durch Forderungen der Tugenden vorgeblich neutralisiert oder sogar in prudentielle Werte verwandelt werden, „even more implausible“ (ebd., 274) sei.
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terhaftem Handeln eben keineswegs etwas Gutes, sondern vielmehr etwas Schlechtes sei.³⁵ Aber lässt sich diese Strategie ebenso überzeugend für den Fall prudentieller Übel vertreten, die dann neutralisiert oder sogar in positive prudentielle Werte verwandelt werden? Was diejenigen, die bestreiten, dass es Opfer im Dienst der Tugend geben kann, nämlich zeigen müssen, ist, das etwas Schlechtes wie die Schmerzen, die ich bei der Folter erleide, die mir mein tugendhaftes Handeln eingebracht hat, ihren prudentiellen Unwert entweder verlieren, wie McDowells no-loss-at-all-Metapher suggeriert, oder sogar positive prudentielle Valenz gewinnen, wie Philipps has-accomplished-all-Metapher nahelegt. Eine solche Annahme scheint aber kaum zu verteidigen – und nicht nur das: Dass das prudentielle Übel eben genau dies, nämlich ein Übel bleibt, selbst wenn es im Dienst der Tugend erlitten wird, wird nicht nur durch unsere Intuitionen nahegelegt, es scheint auch durch die Art, wie wir solche Situationen unschuldigen Leidens bewerten, impliziert zu werden: Was sie so unerträglich werden lässt, ist ja eben der Umstand, dass der Tugendhafte hier wirklich leidet, dass es den Foltermeistern gelingt, ihm großen Schaden zuzufügen und das Leben für ihn zur Hölle zu machen. Sogar die Selbstachtung des Leidenden verlangt, dass er sich eingesteht, dass er eben tatsächlich ein Opfer im Dienst eines höheren Gutes erbracht hat³⁶ – jemand, der nach einer solchen Folter beiläufig erklärt, gar keinen Verlust erlitten zu haben, würde uns kaum als moralisches Vorbild erscheinen. Doch warum erscheint die These, dass es keine Opfer im Dienst der Tugend geben kann, dann überhaupt plausibel? Handelt es sich tatsächlich um nichts anderes als um das Produkt philosophischer Denkzwänge? Ein Ansatzpunkt für eine Irrtumstheorie könnte jedenfalls in der Beobachtung liegen, dass sich eine entscheidende Motivation für eine solche These aus der einseitigen Orientierung an der deliberativen, erst-persönlichen Perspektive des Tugendhaften ergibt:Wenn der Tugendhafte darüber nachdenkt, was er zu tun verpflichtet ist, dann kann es nämlich in der Tat der Fall sein, dass mögliche prudentielle Verluste für ihn selbst gar nicht erst Eingang in sein praktisches Überlegen finden. Sie werden, in der treffenden Metapher McDowells, zum Schweigen gebracht. Wir finden es häufig bewundernswerter, wenn jemand gar nicht erst über bestimmte Gefahren, denen er sich aussetzt, nachdenkt, als wenn er sie gegen die positiven Folgen seines Handelns für andere abwägt und sie zugunsten letzterer hintanstellt. Aber dies bedeutet nur, dass Gesichtspunkte wie die prudentiellen Verluste, die sich aus
35 Vgl. Aristoteles, NE X.5, 1175b26 – 28. 36 Vgl. Haybron 2007, 10 für ein detaillierteres Argument, das die Unvereinbarkeit der noloss-at-all-These mit den Forderungen der Selbstachtung nachzuweisen versucht.
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einer erwogenen Handlungsoption ergeben, nicht einmal gegen andere Gesichtspunkte abgewogen werden. Es bedeutet nicht, dass die Verluste selbst ihren prudentiellen Unwert verlieren. Was sie verlieren, ist lediglich ihre normative Relevanz im Prozess des praktischen Überlegens einer Person.³⁷ Aus drittpersönlicher Perspektive hingegen besteht auch in solchen Fällen deliberativen ZumSchweigen-Bringens kein Zweifel über die Verluste, die der Tugendhafte durch seine Entscheidung auf sich nimmt. Aber selbst wenn man drittens die Asymmetrie-These akzeptiert und damit die Möglichkeit verdorbener prudentieller Güter zulässt, die Möglichkeit neutralisierter oder sogar in positive Werte verwandelte prudentieller Übel jedoch bestreitet, könnte man weiter an der Überzeugung festzuhalten versuchen, dass die Tugend dem Handelnden nie ein Opfer an Glück abverlangen kann. Wieso? Weil für den Tugendhaften ein Leben, in dem ein prudentielles Übel wie eine dauerhafte Beeinträchtigung der eigenen Gesundheit durch lasterhaftes, etwa feiges, Handeln vermieden worden wäre, eben nicht (a) ein Leben wäre, in dem eine Chance zu tugendhaftem Handeln verpasst worden wäre, das sich dafür aber prudentieller Werte wie guter Gesundheit und der uneingeschränkten Verfügung über grundlegende körperliche Fähigkeiten erfreuen könnte; es wäre vielmehr (b) ein verdorbenes Leben, das schon deshalb nicht prudentiell wertvoll sein könnte, weil der Handelnde sich eingestehen müsste, seine grundlegenden Ideale kompromittiert zu haben. Bei der Wahl zwischen der tugendhaften Handlung einerseits, die die eigene Gesundheit aufs Spiel setzt, der lasterhaften Handlung andererseits, die sie bewahrt, kann mithin gar nicht die Rede davon sein, dass dem Handelnden ein Opfer seines Glücks im Dienst der Tugend abverlangt wird: Er befindet sich nämlich in einer tragischen Situation, die es ihm unmöglich macht, glücklich zu werden, gleich welche Wahl er trifft. ³⁸ Angesichts einer solchen Alternative könnte es sogar einen Grund a priori dafür geben, die Option des tugendhaften Handelns zu ergreifen: Auch wenn man in jedem Fall die Aussicht auf ein glückliches Leben verliert, verliert man sie im Fall der Entscheidung zugunsten der lasterhaften Handlung durch die eigene Entscheidung (man ist selbst für diese
37 Und sogar dem überlegenden Akteur sollte klar sein, dass es um solche prudentiellen Unwerte geht, auch wenn er sie hinsichtlich ihrer normativen Relevanz zum Schweigen zu bringt. Andernfalls ließe sich etwa die Unterscheidung zwischen einer mutigen und einer leichtsinnigen Person kaum treffen. (Der Mutige ist sich, anders als der Leichtsinnige, der Risiken bewusst, denen er sich durch tugendhaftes Handeln aussetzt.) Zu McDowells Theorie des silencing, siehe ders. 1979, § 3; 1981, 370. 38 Vgl. Foot 2001, 97, die behauptet, dass der Tugendhafte in einer solchen Situation nicht davon sprechen würde, dass er sein Glück opfert, sondern dass ihm klar werden würde, „that a happy life had turned out not to be possible for him“.
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Handlung verantwortlich, die das eigene Glück unmöglich macht), im Fall der Entscheidung zugunsten der tugendhaften Handlung jedoch lediglich durch die zumindest kontingente Ungunst der Umstände (die Folterer, die den Tugendhaften quälen, tragen die Verantwortung).³⁹ Aber selbst in einer solchen Konstellation erscheint es als grob missverständlich, davon zu sprechen, dass die Tugend keine Opfer verlangt: Der einzige Grund für eine solche Behauptung besteht ja darin, dass das Glück in solchen tragischen Situationen ohnehin nicht zu haben ist⁴⁰ – aber eben dafür ist die Tugend selbst wiederum verantwortlich: Ihren Forderungen in einer Situation wie der gerade beschriebenen zu folgen bedeutet eben, auf grundlegende prudentielle Güter zu verzichten, es nicht zu tun, bedeutet hingegen, eben diese Güter zwar zu bewahren, aber ihren positiven prudentiellen Wert zu verderben. An dieser Stelle empfiehlt es sich mit Blick auf die komplexe dialektische Konstellation der einschlägigen Argumente eine Zwischenbilanz der Diskussion der zweiten Art des Zusammenhangs zwischen Tugend und Glück zu ziehen: Sogar das Leben des Tugendhaften kann unglücklich ausfallen, insofern er auf grundlegende prudentielle Güter verzichten muss. Tugend ist nicht hinreichend für das Glück. Es bedarf, mit Aristoteles gesprochen, äußerer Güter zum Glück, Güter, deren Opfer die Tugend uns durchaus abverlangen kann – ob und wie häufig dies der Fall ist, hängt von kontingenten Umständen ab (etwa von sozialen und politischen Rahmenbedingungen).⁴¹ Was wir opfern, ist in diesem Fall nicht eine Entität, die ihren prudentiellen Unwert schon einfach deshalb verloren hat, weil das Opfer eben durch die Tugend erzwungen ist. Wir opfern ein genuines prudentielles Gut. Aber ist die Tugend zumindest notwendig für das Glück in dem Sinne, dass die Vereinbarkeit mit ihren Forderungen eine Bedingung für den prudentiellen Wert anderer Güter darstellen würde? Auch wenn es phänomenologisch durchaus plausibel erscheint, davon zu sprechen, dass die Unvereinbarkeit mit den Forderungen der Tugend den prudentiellen Wert einiger Güter verdirbt (man denke an das Beispiel der auf Unaufrichtigkeit gegründeten Freundschaft), reichen diese Fälle doch m. E. nicht aus, um ein allgemeines axiologisches Prinzip zu stützen, demzufolge x nur dann prudentiell wertvoll sein kann, wenn x (bzw. dessen Erwerb, dessen Aufrechterhaltung etc.) vereinbar mit den Forderungen der Tugend ist.⁴² Um eine Metapher von Jonathan Dancy zu verwenden: Entitäten wie Lust,
39 Dieser Punkt wird von Zagzebski 2006, 65 hervorgehoben. 40 Vgl. Foot 2001, 97 41 Vgl. Aristoteles, NE I.11, 1101a14 ff. 42 Ein solches Prinzip findet sich bei Foot 2001, 96 zumindest angedeutet. Sie spricht dort davon, dass „humanity’s good can be thought of as happiness, and yet in such a way that
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Erfolg,Wissen besitzen einen prudentiellen default-value: ⁴³ Ihr Wert ist gleichsam immer schon ‚eingeschaltet‘, kann in Konfliktfällen mit der Tugend freilich auch neutralisiert werden oder sogar sein Vorzeichen ins Negative verkehren.Wenn dies nicht geschieht, bleibt ihr positiver prudentieller Wert indes bestehen. Tugend erweist sich mithin weder als hinreichend für das Glück noch als strikt notwendig – auch wenn sie es de facto für die meisten von uns sein mag. Die dritte Art des Zusammenhangs zwischen Tugend und Glück betrachtet die Tugend selbst als eine fundamentale Kategorie prudentiellen Werts neben anderen. Mängel an Tugend können aber durchaus mit Blick auf die Bewertung eines Lebens als insgesamt glücklich durch andere Arten von prudentiellen Gütern kompensiert werden (dies wäre hingegen unmöglich, wenn die gerade diskutierte zweite Art des Zusammenhangs bestehen würde). Unter Bedingungen eines fundamental ungerechten Regimes mögen sich Eltern, die ihren Kindern ein insgesamt glückliches Leben ermöglichen wollen, damit begnügen, ihren Kindern nur eine moderate Dosis an Tugenden zu vermitteln, um eine Beeinträchtigung anderer prudentieller Werte wie etwa gelingenden sozialen Beziehungen zu vermeiden.⁴⁴ Vergleichen wir das Leben von a und das von b, die dieselben prudentiellen Werte realisieren, mit der einzigen Ausnahme, dass a tugendhaft ist, b hingegen nicht, dann würden wir der dritten Art des Zusammenhangs von Tugend und Glück zufolge nicht nur davon sprechen, dass das Leben von a besser sans phrase als das von b ist, es ist auch besser für a. Selbst wenn wir Gesichtspunkte des Verdienstes ausblenden, müssten wir in diesem Fall b dafür bedauern, dass es ihm an Tugend und damit an einer zentralen Dimension prudentiellen Werts mangelt.⁴⁵ Aber bedauern wir ihn wirklich dafür? Es scheint mir zumindest künstlich zu sein, den Status der Tugend als basaler prudentieller Wert dadurch nachzuweisen, dass wie in dem gerade angestellten Gedankenexperiment die Menge an anderen prudentiellen Werten konstant gehalten, die an Tugend hingegen variiert wird.
combining it with wickedness is a priori ruled out“. (Einige Abschnitte zuvor lässt Foot jedoch die Kombination eines bösen Charakters und eines glücklichen Lebens zumindest als begriffliche Möglichkeit zu; vgl. ebd. 92.) 43 Vgl. Dancy 2004, 184 – 187. 44 Zur Möglichkeit solcher Abwägungen zwischen Tugenden und prudentiellen Gütern, die Eltern dazu führen kann, ihren Kindern „a mixed virtuousness“ zu empfehlen, vgl. Copp/ Sobel 2004, 527 ff. 45 Für ein „argument from lack of sympathy“ (für die lasterhafte Person, die dieselbe Menge prudentieller Werte realisiert wie die tugendhafte Person, mit Ausnahme eben der Tugend selbst) für die Zurückweisung der Tugend als fundamentaler Kategorie prudentiellen Werts vgl. Hooker 1996, 149 – 155.
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Erstens nämlich wurde bereits in der Diskussion der zweiten Art des Zusammenhangs zwischen Tugend und Glück gezeigt, dass Tugenden und Laster in komplexer Weise mit anderen prudentiellen Werten interagieren, während eine solche Interaktion zwischen Werten wie Erfolg und Wissen eben nicht stattfindet. Mangel an Erfolg verdirbt nicht den prudentiellen Wert einer wissenschaftlichen Entdeckung (auch wenn natürlich ein wissenschaftlich Durchbruch, der weithin Anerkennung findet, für den Entdecker insgesamt größeren prudentiellen Wert besitzt als ein Durchbruch, der zu seinen Lebzeiten unbeachtet bleibt), der Vertrauensbruch in der Vorgeschichte einer Freundschaft verdirbt aber möglicherweise sehr wohl den prudentiellen Wert der Freundschaft. Gerade solche holistischen Zusammenhänge stehen indes einer Prüfung unserer Intuitionen mit Hilfe von Gedankenexperimenten wie dem gerade genannten im Wege. Die von ihnen vorausgesetzten cetera erweisen sich häufig in einer methodisch schwer zu kontrollierenden Weise keineswegs als paria. Zweitens werden unsere Intuitionen nolens volens massiv durch unsere moralische Einstellungen beeinflusst – vielleicht bedauern wir den Lasterhaften einfach deshalb nicht, weil wir glauben, dass er prudentielle Güter ohnehin nicht verdient. Drittens tragen Tugenden in komplexer Weise nicht nur zu anderen Arten von prudentiellen Werten bei – dazu gleich einige Beispiele – sondern sie spielen auch eine konstitutive Rolle für Dimensionen unseres Lebens, die selbst zwar nicht prudentiell sind, aber dennoch von großer Bedeutung für die Frage, ob ein Leben glücklich ist oder nicht. Ein Beispiel für eine solche Dimension ist die der Tiefe: ⁴⁶ Einen tugendhaften Charakter zu erwerben mag eine Weise darstellen, dem Leben eine Tiefe zu verleihen, die auch seinen prudentiellen Wert zumindest indirekt steigert: Selbst etwa die ästhetische Lust in der Begegnung mit großen Kunstwerken scheint bei tiefen Persönlichkeiten ausgeprägter zu sein als bei oberflächlichen. Ein lasterhaftes Leben hingegen, das sich in der Verfolgung kleinlicher, selbstbezogener Projekte erschöpft, mag gemessen an den eigenen Maßstäben gelingen, es wird aber eben ein oberflächliches bleiben müssen. Der Grund, warum wir eine Person bedauern, die dasselbe Maß an prudentiellen Gütern aufweist wie eine andere Person mit Ausnahme der Tugend, mag dann nicht darin zu suchen sein, dass es qua Voraussetzung an Tugend als einer eigenen Dimension prudentiellen Wertes mangelt, sondern eben darin, dass diese Person zu einem oberflächlichen Leben verurteilt ist, das dann auch prudentielle Folgekosten haben wird.
46 Siehe Fn. 15.
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Aber selbst wenn die Tugend keine eigene Dimension prudentiellen Wertes darstellt und ganz unabhängig von ihrer Bedeutung für andere Dimensionen des Guten, könnten doch spezifische Tugenden – im Gegensatz zur Qualifizierung einer Person als insgesamt tugendhaft – eine konstitutive Rolle für bestimmte prudentielle Werte spielen. Diese Möglichkeit gilt es nun zu prüfen. Die vierte Art des Zusammenhangs zwischen Tugend und Glück unterstellt weder, dass die Tugend eine Bedingung dafür darstellt, dass alle anderen Güter überhaupt einen prudentiellen Wert für eine Person besitzen, noch, dass die Tugend selbst eine basale Art prudentiellen Wertes darstellt. An die Stelle solcher weitreichender Thesen tritt der Versuch, von Fall zu Fall zu zeigen, dass einzelne Arten prudentiellen Wertes einzelne Tugenden oder Bündel von Tugenden voraussetzen.⁴⁷ Achievement, also Erfolg bzw. Leistung etwa im Gegensatz zu bloßem Talent, setzt, wie Michael Slote hervorgehoben hat,⁴⁸ die Tugend der Hartnäckigkeit voraus: Während Talent jemandem einfach zufallen mag, impliziert achievement eine feste Disposition, auch angesichts von Widerständen durchzuhalten – darin aber besteht der Kern der strukturellen Tugend der Hartnäckigkeit. Wissen bildet eine weitere fundamentale prudentielle Kategorie, die wiederum in mehrfacher Weise Tugenden vorauszusetzen scheint: Erstens beinhaltet die Tugend der Klugheit eine starke kognitive Komponente; bestimmte Dimensionen moralischen Wissens scheinen dem Tugendhaften vorbehalten zu bleiben. Wenn dem so wäre, würde ein wichtiger Bereich des Wissens, nämlich der moralische, die Tugend der Klugheit voraussetzen.⁴⁹ Zweitens setzt Wissen, ganz unabhängig von seinen Inhalten, die Tugend etwa des Mutes voraus – die Suche nach Wissen mag etwa liebgewordene Überzeugungen, tröstliche Gewissheiten etc. in Frage
47 Im Zentrum des sogenannten Platonic elevationism von Slote steht die These, dass sich eine solche Verbindung nicht nur für manche prudentielle Werte nachweisen lässt, sondern tatsächlich für „every [meine Hervorhebung, C.H.] element of human well-being“. Falls die Lehre der Einheit der Tugenden zutrifft, würde Slotes Platonic elevantionism mit dem zusammenfallen, was er Aristotelian elevationsism nennt, also mit der These „that all elements of personal well-being must be compatible with virtue taken as a whole“ (Slote 1997, 274). Denn die einzelnen Tugenden, wie sie für einzelne prudentielle Werte notwendig sind, würden dann jeweils alle anderen Tugenden voraussetzen. 48 Vgl. Slote 1997, 276 f. 49 Für ein ausführlicheres Argument, das zeigen soll, dass die ethischen Tugenden einen konstitutiven Beitrag zu moralischem Wissen leisten, das seinerseits eine entscheidende Dimension des fundamentalen prudentiellen Werts des Wissens bildet, vgl. Hooker 1996, 146 f.
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stellen. Es bedarf der Tugend des Mutes, um angesichts solcher Herausforderungen psychologische Ausweichstrategien wie Wunschdenken zu vermeiden.⁵⁰ Beide genannten Beispiele, also Wissen und achievement, belegen indes zugleich zwei strukturelle Schwierigkeiten, vor die sich diese vierte Art des Zusammenhangs von Tugend und Glück gestellt sieht. Erstens erscheint es fraglich, ob die jeweilige Tugend tatsächlich notwendig für das entsprechende prudentielle Gut ist. So mag man einwenden, dass auch der bloß Selbstbeherrschte, dem es etwa an der Tugend der Klugheit mangelt, doch über dasselbe Wissen verfügen kann wie der Tugendhafte; ihm fehlt es lediglich an der Leichtigkeit oder der Freude daran, das eigene Wissen über das Gesollte auch umzusetzen. Zweitens ist fraglich, ob die Tugenden tatsächlich notwendig für die prudentiellen Güter als solche sind: Tugenden wie Mut mögen vielleicht instrumentell nützlich dafür sein, Wissen zu erwerben, aber ist die Art des Erwerbs konstitutiv für den prudentiellen Wert des Wissens selber? Zumindest im Fall von achievement und in dem von prudentiellen Gütern, die tiefe persönliche Beziehungen beinhalten wie etwa Freundschaft und Liebe, erscheint es allerdings als keineswegs aussichtslos, eine konstitutive Beziehung zwischen Tugend und prudentiellem Wert zu identifizieren: Ein Vermögen, das ich in der Lotterie gewonnen habe, bereichert mein Leben eben auch prudentiell in bescheidenerem Maße als ein Vermögen, das ich mir ‚im Schweiße meines Angesichts‘ gegen erhebliche Widerstände selbst erarbeitet habe. Ebenso scheinen Großzügigkeit und Vertrauen nicht nur instrumentell nützlich für den Erwerb tiefer sozialer Bindungen zu sein, sondern sie spielen offenbar eine partiell konstitutive Rolle für den prudentiellen Wert von Freundschaft und Liebe. Jemand anderem großzügig etwas zu überlassen, was man selbst lieb gewonnen hat, erhöht wiederum den Wert des prudentiellen Gutes der Beziehung selber.
8.5 Fazit: Der Preis der Tugend Trägt die Tugend bei zum Glück des Tugendhaften? Im letzten Abschnitt wurde der Nachweis geführt, dass dies auf mehreren Ebenen der Fall ist: Einige einzelne Tugenden, insbesondere selbst-bezogene, und ganze Arten von Tugenden (wie die exekutiven Tugenden – der mutige Räuber ist kein besserer Mensch dadurch, dass er über die Tugend des Mutes verfügt, aber es ist eben für ihn besser, mutig zu sein) besitzen ohne Zweifel großen instrumentellen Wert. Wie groß er ist, hängt indes
50 Vgl. Slote 1997, 277 f. Demzufolge gilt: „knowledge constitutes a distinctive form of personal good, and counts as wisdom, only when it takes courage to acquire it.“ (Ebd., 278)
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von den kontingenten Rahmenbedingungen ab, in die sich eine konkrete Person jeweils gestellt sieht. Unabhängig von ihrem instrumentellen Wert spielen einige Tugenden eine konstitutive Rolle für grundlegende prudentielle Werte wie tiefe persönliche Beziehungen, achievement oder sogar Wissen. Insgesamt tugendhaft zu sein bildet jedoch nicht selbst eine grundlegende Kategorie prudentiellen Werts. Insgesamt tugendhaft zu sein trägt jedoch zu anderen Dimensionen eines Lebens bei, die, obwohl selbst nicht-prudentiell (wie im Beispiel der Tiefe), dennoch den prudentiellen Wert dieses Lebens beeinflussen. Schließlich vermag ein insgesamt lasterhafter Charakter das Leben des Lasterhaften auch in prudentieller Hinsicht zu verderben. Auch wenn die Güter, deren Verzicht die Tugend von uns verlangen mag, ihren prudentiellen Wert behalten, können prudentielle Güter, die nur durch den Verstoß gegen die Forderungen der Tugend erworben oder bewahrt werden können, ihre positive evaluative Valenz ändern und damit auch gegen den äußeren Anschein nicht länger zu einem guten Leben beitragen. Für einen stoischen Optimismus, demzufolge die Tugend das Glück zu garantieren vermag, komme was wolle, bleibt im Rahmen der hier vertretenen Konzeption freilich kein Raum. Eine solche Form von Autarkie erweist sich als illusionär. Vielmehr ist damit zu rechnen, das sich gerade der Tugendhafte häufig in tragischen Entscheidungssituationen wiederfindet, in denen er sein Glück in Frage stellt, egal welche Entscheidung er trifft: Den Forderungen der Tugend zu genügen mag bedeuten, auf grundlegende prudentielle Güter zu verzichten; ihnen nicht zu genügen, mag genau diese Güter, selbst wenn sie dadurch bewahrt werden, in ihrem prudentiellen Wert verderben. Wie aber sind eben jene Konstellationen zu bewerten, in denen die Tugend in der Tat zu Opfern zwingt, die das Glück des Tugendhaften beeinträchtigen? Erstens wird der prudentielle Verlust, den die Tugend verlangt – abgesehen von tragischen Entscheidungen – fast niemals ein totaler Verlust sein: Die tugendhafte Handlung wird nicht nur zum guten Leben simpliciter (im Sinne der eingangs getroffenen axiologischen Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Guten für) beitragen, sie wird auch in einigen entscheidenden Hinsichten, wenn auch qua Voraussetzung nicht insgesamt, zum Glück des eigenen Lebens beitragen. Jemand, der etwa einen Kollegen in Schutz nimmt, der von einem despotischen Vorgesetzten in ungerechter Weise kritisiert wird, und der deswegen seine Stelle verliert, kann auch in prudentieller Hinsicht auf mehreren Ebenen einen Nutzen davon haben: Als eine wahrhaft mutige Person freut sie sich über ihre tugendhafte Handlung und das Erreichen des selbstgesetzten Ziels (den Kollegen seiner Solidarität zu versichern, dem Vorgesetzten seine Missbilligung auszudrücken). Die mutige Handlung fördert prudentielle Werte wie etwa in diesem Beispiel das Eingehen von mehr als nur oberflächlichen Beziehungen zu den Kollegen. Sie befördert Dimensionen des Lebens wie sein Gewicht und seine
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Tiefe, die wiederum wichtige prudentielle Dimensionen besitzen. Und sie kann sogar den prudentiellen Unwert des Verlustes des Arbeitsplatzes, wenn auch vielleicht nicht in sein Gegenteil verkehren, so doch mildern. Dennoch steht der Mutige ungeachtet dieser prudentiellen Gewinne insgesamt prudentiell schlechter da, weil er tugendhaft gehandelt hat, als er es getan hätte, wenn er sich nicht für seinen Kollegen eingesetzt hätte. (Nehmen wir an, dass zumindest in manchen Fällen der prudentielle Wert der Weiterbeschäftigung durch das Unterlassen der tugendhaften Handlung nicht verdorben wird.) Aber gibt es, zweitens, eine exakte und nicht-arbiträre Weise, (i) die Gewinne und Verluste an Glück, die im Dienste der Tugend verzeichnet wurden, gegeneinander abzuwägen, und (ii) die prudentiellen Gewinne und Verluste gegen den Wert des tugendhaften Handelns selbst abzuwägen? Übertrumpfen die Forderungen der Tugend zum Beispiel ipso facto alle anderen Erwägungen, oder gibt es Spielraum für legitime Abwägungen? Diese schwierigen Fragen können im Kontext dieses Beitrags nicht einmal im Ansatz diskutiert werden. Der Hinweis auf ein Dilemma muss genügen, das an dieser Stelle zu drohen scheint: Um ein Verfahren zur Abwägung zu entwickeln, das dem Problem (ii) gerecht wird, bedarf es eines gemeinsamen Maßstabes, der prudentiellen Wert und den Wert tugendhaften Handelns kommensurabel macht. Ansätze wie etwa derjenige von Thomas Hurka bieten nun in der Tat einen solchen Maßstab an. Hurka findet ihn in der Kategorie des intrinsischen Werts: Er fasst die Eigenschaft des moralischen Werts, die die Tugenden aufweisen, als eine weitere Art intrinsischen Werts neben anderen (wie etwa der Lust etc.) auf, nämlich als eine Art intrinsischen Werts „had by certain objects, namely, attitudes evaluated in relation to their objects“.⁵¹ Hurka gesteht zu, dass eine tugendhafte Handlung mit Kosten für den Handelnden verbunden sein kann, lässt aber zugleich zu, dass der intrinsische Unwert der im Dienste der Tugend erlittenen prudentiellen Übel zum Teil durch den intrinsischen Wert der tugendhaften Handlung selbst kompensiert werden kann. Hurkas komparatives Prinzip jedoch, welches besagt, dass the degree of intrinsic goodness or evil of an attitude to x is always less than the degree of goodness or evil of x,⁵²
impliziert, dass die Tugenden – deren intrinsischer Wert eben derjenige der besagten Einstellungen ist (Hurka versteht etwa die Tugend der Ehrlichkeit als intrinsisch wertvolle Einstellung zum intrinsischen Wert der Wahrheit) – sich im Vergleich zu den grundlegenden Werten, auf die diese Einstellungen gerichtet
51 Hurka 2001, 133. 52 Ebd., 133.
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sind, notwendig als „lesser values“⁵³ erweisen. Gänzlich unberücksichtigt bleibt in diesem Modell freilich der entscheidende Unterschied zwischen einem Leben, das eine große Menge intrinsischer Werte verwirklicht, und einem Leben, das für die Person gut ist, die dieses Leben lebt.Vielleicht stehe ich dann, wenn ich im Dienst der Tugend Verluste an prudentiellen Gütern wie Freude oder Erfolg akzeptiere, in dem Sinne besser da, dass ich mehr intrinsischen Wert verwirkliche. Aber mein Leben mag für mich dennoch schlechter sein als es gewesen wäre, wäre ich den Forderungen der Tugend nicht nachgekommen. Dieses Problem, das hier für Hurka aufgeworfen wurde, scheint mir auf ein ganz allgemeines Dilemma hinzudeuten: Das eine Horn besteht darin, die entscheidenden Unterschiede zwischen dem guten Leben simpliciter und dem guten Leben für den, der es lebt, anzuerkennen. Tut man dies, scheint ein Vergleichsmaßstab (sei er kardinal oder ordinal), der beide Arten von Wert kommensurabel machen würde, kaum zu rechtfertigen zu sein. Das andere Horn besteht darin, eine Vergleichsgröße anzuführen, die als gemeinsamer Nenner fungieren kann (wie etwa in Hurkas Falle der intrinsische Wert). Diese mag zwar ein praktisches Hilfsmittel darstellen, aber sie läuft Gefahr, dass zu lösende Problem einfach zum Verschwinden zu bringen. Wenn ich mehr intrinsisch Wertvolles verwirkliche, indem ich tugendhaft handle, so muss ich Verluste in anderen Dimensionen des intrinsischen Werts akzeptieren. Innerhalb dieses Ansatzes scheint dies alles zu sein, was sich über diesen Fall sagen lässt. Was wir aber stattdessen sagen sollten, ist, dass mein Leben dann für mich schlechter ist – aber wie kann das sein, wenn die Gesamtmenge an Wert, die ich verwirkliche, größer ist als sie gewesen wäre, wenn ich mich gegen die Forderungen der Tugend und für die mit ihnen unvereinbaren prudentiellen Güter entschieden hätte? Die Kategorie gut für scheint sich einer Reduktion auf die Kategorie gut simpliciter hartnäckig zu widersetzen. Drittens verdient – ganz unabhängig von dem gerade diskutierten Problem der Abwägung zwischen den Forderungen des Glücks und denen der Tugend – die Frage gesonderte Aufmerksamkeit, wem sich dieses Problem eigentlich stellt. Stellt es sich in der drittpersönlichen Perspektive eines Beobachters, der festzustellen versucht, ob ein Verlust an Glück, den x erleidet, indem sie tugendhaft handelt, insgesamt zu rechtfertigen ist? Oder stellt es sich in der deliberativen Perspektive von x selbst, nämlich im Rahmen ihrer Entscheidung darüber, was sie tun soll? Die Frage: „Wird die tugendhafte Handlung zu meinem Glück beitragen?“ wird die Entscheidung des Handelnden wahrscheinlich eher nicht anleiten. Worum es ihm gehen wird, gerade insofern er tugendhaft ist, wird ein gutes Leben
53 Ebd., 134.
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simpliciter sein, nicht ein Leben, das zu führen für ihn gut ist.⁵⁴ Ohne Zweifel spielen in dieser Perspektive auch prudentielle Werte eine Rolle. Auch das gute Leben simpliciter ist immerhin das Leben einer Person, und sie wird sich zu Recht auch um ihr eigenes Wohlergehen sorgen. Zudem bildet die angemessene Berücksichtigung prudentieller Werte (oder Unwerte) oft ihrerseits einen konstitutiven Bestandteil in dem Prozess, die Forderungen der Tugend zu identifizieren: Wie oben bereits gezeigt wurde, wird eine mutige Person im Gegensatz zu einer leichtsinnigen Person die Risiken, denen sie ihr eigenes Wohlergehen aussetzt, durchaus in Betracht ziehen, und zwar selbst dann, wenn Erwägungen der eigenen Risiken, insofern ein hinreichend gewichtiges Gut für andere auf dem Spiel steht, schließlich doch ganz zum Schweigen gebracht werden. Auch in Fällen, in denen die Forderungen der Tugend einen Verlust an Glück beinhalten und diesen Verlust ganz zum Schweigen bringen oder zumindest im Zuge des praktischen Überlegens und Abwägens doch überwiegen, erscheint es als abwegig anzunehmen, dass der Tugendhafte dem Ausmaß seines prudentiellen Verlustes in erstpersönlicher Perspektive eigene Aufmerksamkeit widmen wird: Erstens scheint es mit einem tugendhaften Charakter unvereinbar zu sein, das prudentielle „Preisschild“ zu prüfen, das zum Beispiel mit der Rettung eines Freundes aus Lebensgefahr einhergehen mag. Zweitens erweist es sich in einer Entscheidungssituation als für den Handelnden kaum praktikabel, die prudentiellen Gewinne und Verluste zu errechnen – wie wir gesehen haben, kann die tugendhafte Handlung selbst auf mehreren Ebenen einen gewissen, wenigstens zum Teil den Verlust an prudentiellen Gütern ausgleichenden prudentiellen Wert besitzen. Es wäre jedoch für den deliberierenden Handelnden nicht nur ausgesprochen schwierig, über eine solche Kompensation nachzudenken. Es würde zudem von dem eigentlichen Ziel seines praktischen Überlegens ablenken, nämlich herauszufinden, was all things considered zu tun ist. Drittens können sich manche Aspekte, die zum prudentiellen Wert der tugendhaften Handlung beitragen, der deliberativen Perspektive sogar notwendig entziehen: So mag die Freude daran, jemand anderem geholfen zu haben, sich nur dann wirklich einstellen, wenn sie sich als Nebenprodukt der (erfolgreich vollzogenen) Absicht zu helfen ergibt. Strebte man diese Freude unmittelbar an, würde die Handlung diesen Wert verlieren. (Jemandem als Mittel zur eigenen Freude zu helfen macht eben diese Freude tendenziell zunichte – man erlangt sie nur dann wirklich, wenn man die Handlung um ihrer selbst willen vollzieht.) Ein solches Vorhaben würde sich also selbst unterminieren. Außerdem
54 Zu dieser Unterscheidung siehe Haybron 2007, 20. und ebd., 19 ff. Haybron stellt einige interessante Überlegungen darüber an, wie Aristoteles methodischer Ansatzpunkt bei einer Hermeneutik der erstpersönlichen, zielsetzenden Perspektive der Entwicklung einer eigenen Theorie des Wohlergehens im Weg gestanden haben könnte.
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kann der prudentielle Wert einer Handlung durch puren Zufall erhöht oder verringert werden; Kausalketten üben dann einen Einfluss aus, der sich der Kontrolle durch den Handelnden entzieht. Auch ein solcher Einfluss des Zufalls entzieht sich notwendig der deliberativen Perspektive des Handelnden. Aber nicht nur die Seite des prudentiellen Wertes entzieht sich der erstpersönlichen Perspektive des Handelnden, dasselbe gilt auch für die Seite der Tugend. Die Tugendethik sieht sich strukturell dem Problem des sog. Fetischismus, oder wie Max Scheler es benannt hat, des Pharisäismus ausgesetzt: Wenn, wie die Tugendethik behauptet, die Tugenden die Quelle von Handlungsgründen bilden, dann sollte man erwarten, dass wir uns in unserem praktischen Überlegen an eben diesen Quellen unserer Gründe orientieren sollten. Genau das aber erscheint als moralisch fragwürdig: Ein mitfühlender Mensch sollte sich in seinem praktischen Überlegen an dem Leid des anderen Menschen, mit dem er fühlt, orientieren, und gerade nicht an der Frage, wie er selbst seine eigene Tugend des Mitgefühls am besten zum Ausdruck bringen kann;⁵⁵ in diesem Fall wäre der leidende Mensch ein bloßer Anlass für die Ausübung der eigenen Tugend als Quelle der Handlungsgründe des Tugendhaften. Die Tugendethik droht angesichts dieses Problems zu einer – in der Formulierung Derekt Parfits⁵⁶ – self-effacing theory zu werden, also einer Theorie, die sich selbst ausstreicht, insofern sie ihre eigenen Anhängern verbietet, sich an ihr zu orientieren.⁵⁷ Ohne hier das Problem des Pharisäismus näher diskutieren zu können, wird deutlich, dass die Tugenden, auch wenn sie von zentraler Bedeutung für das praktische Überlegen des Tugendhaften sind, doch nicht dessen zentralen Inhalt bilden sollten – dabei würde es sich in der Tat um eine moralisch fragwürdige Selbstbespiegelung handeln. Der Handelnde, der im Dienst der Tugend ein Opfer bringt, sollte dieses Opfer eben nicht um der Tugend willen bringen, sondern um eben der Merkmale der Handlungssituation, die ein solches Opfer verlangen und die eben den Gegenstandsbereich der Tugend selbst bilden (im Falle des Mitgefühls also die Not des anderen Menschen). Beide Seiten der Frage: Trägt die Tugend bei zum Glück des Tugendhaften, sowohl die des Glücks wie die der Tugend, entziehen sich also der erstpersönli-
55 Dieses Problem betrifft jedoch offenbar nicht alle Tugenden in gleichem Maße. Es scheint, dass jemand durchaus aus dem Grunde gerecht handeln kann, dass dieses Handeln gerecht ist. Hingegen erscheint es unwahrscheinlich, dass eine Person aus dem Grunde mitfühlend handeln kann, dass sie auf diese Weise ihre Tugend des Mitgefühls angemessen zum Ausdruck bringt: Eine wirklich mitfühlende Person sollte hier gerade von sich selbst absehen. Vgl. Williams 1985, 10 f. 56 Vgl. Parfit 1984, 24. 57 Für eine Diskussion des Problems einer fragwürdigen Selbstbezogenheit und seiner möglichen Konsequenzen für die Tugendethik vgl. Hurka 2001, 246 ff.; Cox 2006 und Keller 2007.
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chen Perspektive des praktischen Überlegens: In dieser Perspektive kommen prudentielle Gesichtspunkte nur zum Teil und unter den gerade genannten Einschränkungen in den Blick,während die Tugend sich selbst gleichsam epistemisch aufhebt, indem sie die Aufmerksamkeit des Akteurs auf die Handlungssituation⁵⁸ lenkt und für diese transparent wird. Natürlich mag der Handelnde im Rückblick aus drittpersönlicher Perspektive Bilanz ziehen: Wenn er dann zu dem Ergebnis kommt, dass sein tugendhaftes Handeln regelmäßig zu erheblichen Beeinträchtigen seines eigenen Glücks führt, mag er in der Tat die normative Relevanz von Tugend einerseits, Glück andererseits und den Zusammenhang zwischen beidem kritisch reflektieren. Oder aber er mag die sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen selbst in Frage stellen, die regelmäßig zu solchen Konflikte führen. Die in diesem Beitrag angestellten Überlegungen sollten jedenfalls gezeigt haben, dass und warum solche Konflikte auf mehreren Ebenen nie vollständig zu überwinden sind. Sie zu minimieren und es damit zu verhindern, dass das tugendhafte Leben dem Tugendhaften, der es zu führen hat, zu große Opfer abverlangt, bleibt selbst eine zentrale Aufgabe tugendhaften Handelns.
Literatur Adams (2006): Robert M. Adams, A Theory of Virtue, Oxford/New York. Annas (2005): Julia Annas, „Virtue Ethics: What Kind of Naturalism?“, in: Stephen M. Gardiner (Hg.), Virtue ethics, old and new, Ithaca u. a., 11 – 29. Aristoteles (1894): Aristoteles, Nikomachische Ethik, hgg. von L. Bywater, Oxford (=NE). Copp/Sobel (2004): David Copp und David Sobel „Morality and Virtue. An Assessment of Some Recent Work in Virtue Ethics“, Ethics 114, 514 – 554. Cox (2006): Damian Cox, „Agent-based Theories of Right Action“, Ethical Theory and Moral Practice 9, 505 – 515. Dancy (2004): Jonathan Dancy, Ethics Without Principles, Oxford. Driver (2001): Julia Driver, Uneasy Virtue, Cambridge. Everitt (2007): Nicholas Everitt, „Some Problems with Virtue Theory“, Philosophy 82, 275 – 299. Foot (2001): Philippa Foot, Natural Goodness, Oxford. Halbig (2007): Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt a. M. Halbig (2011): Christoph Halbig, „Verdient der ethische Nonnaturalismus erneutes Gehör?“, in: Thomas Schmidt und Tatjana Tarkian (Hg.), Die naturalistische Herausforderung, Paderborn 2011, 181 – 202. Haybron (2007): Daniel M. Haybron, „Well-Being and Virtue“, Journal of Ethics and Social Philosophy 2, 1 – 27. Hooker (1996): Brad Hooker, „Does Moral Virtue Constitute a Benefit to the Agent“, in: Roger Crisp (Hg.), How Should One Live?, Oxford/New York, 141 – 155.
58 Die Person und ihr Charakter können natürlich selbst Teil der Situation sein.
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Teil III Perfektionismus
Franz-Josef Bormann
9 ‚Handlungsfähigkeit‘ und ‚gutes Leben‘ Plädoyer für einen schwachen Perfektionismus Die vielfältigen philosophischen Bemühungen um eine Rehabilitierung der lange Zeit verdrängten Kategorie des ‚guten Lebens‘ haben mittlerweile eine Diskussionslage entstehen lassen, die ungeachtet ihrer Heterogenität und Unabgeschlossenheit wenigstens drei in systematischer Hinsicht bedeutsame Kristallisationspunkte zu besitzen scheint: nämlich erstens die Frage nach dem inhaltlichen Profil eines ‚guten‘, ‚geglückten‘ bzw. ‚sinnvollen‘ Lebens, zweitens die epistemologische Debatte um Status und Reichweite praktischer Vernunfturteile und drittens die Auseinandersetzung um die ontologischen Konsequenzen einer (anti‐)realistischen Interpretation moralischer Werte und Güter. Das Ziel der folgenden, vor allem am ersten Diskussionskontext interessierten Überlegungen besteht darin, für eine nicht-naturalistische Version einer objektiven, schwach perfektionistischen Konzeption des ‚guten Lebens‘ zu argumentieren, die sich inhaltlich am Begriff der Handlungsfähigkeit orientiert.¹ Dazu werde ich mich in einem ersten Argumentationsschritt von zwei m. E. unbrauchbaren Positionen abgrenzen, von denen die eine rein formalistisch und die andere naturalistisch ausgerichtet ist. In einem etwas umfangreicheren zweiten Schritt soll dann der systematische Zusammenhang zwischen dem ‚guten Leben‘ und der ‚Handlungsfähigkeit‘ des Individuums entfaltet werden. Einige exemplarische Überlegungen zur Relevanz des religiösen Glaubens für die nähere Interpretation dieser Kategorie beschließen diese Ausführungen.
1 Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse angesichts der Mehrdeutigkeit des Begriffs ‚gut‘ sei ausdrücklich betont, dass dessen adjektivische Verwendung im Ausdruck ‚gutes Leben‘ hier in Übereinstimmung mit der Tradition in einem moralischen Sinne verstanden wird. Es geht nachfolgend also lediglich um die Frage, wie ein mit dem Anspruch moralischer Richtigkeit auftretendes Konzept des ‚guten Lebens‘ aussehen könnte, und nicht um den dieser Frage vorgelagerten Versuch, ausgehend von einer außermoralischen Vorstellung des ‚Guten‘ den Übergang zu einer dezidiert moralischen Betrachtung argumentativ abzusichern.
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9.1 Abgrenzung von Formalismus und Naturalismus Bevor ich versuche, die Konturen meiner eigenen Position näher zu umreißen, sollen zwei Interpretationsversuche des ‚guten Lebens‘ aus jüngerer Zeit benannt werden, die m. E. wenig überzeugend erscheinen. Es ist dies zum einen der rein formale tugendethische Deutungsansatz von A. MacIntyre und zum anderen die naturalistische Interpretation des Guten bei P. Foot.
9.1.1 A. MacIntyres Versuch einer tugendethischen Bestimmung des ‚guten Lebens‘ Der amerikanische Ethiker A. MacIntyre ist nicht nur als einer der radikalsten Kritiker des moralphilosophischen Erbes der Aufklärung hervorgetreten, sondern hat sich im Zuge seines Einsatzes für eine tugendethische Wende in der Moraltheorie auch für eine Wiedergewinnung der Kategorie des Guten eingesetzt.² MacIntyre zufolge laboriert die postkantische Moralphilosophie neben einer auffallenden Geschichtsvergessenheit, einem fragwürdigen Individualismus und einer problematischen Abhängigkeit von einer Tatsachen-Werte-Dichotomie vor allem an einem ungelösten Teleologie-Problem, das letztlich in dem inkonsistenten Bemühen der Aufklärungsphilosophie wurzele, sich einerseits radikal von dem bis dahin vorherrschenden aristotelischen Essentialismus mit seiner Vorstellung eines in die menschliche Wesensnatur eingeschriebenen normativen Telos abzugrenzen, andererseits aber zu glauben, dennoch an dem durch eben diese metaphysische Basis abgestützten Normenbestand unverändert festhalten zu können. Da diese Doppelstrategie aber offenkundig nicht aufgehe, hat die gegenwärtige Ethik seines Erachtens nur die Wahl, entweder mit F. Nietzsche einen Großteil der traditionellen moralischen Überzeugungen ein für alle Mal zu verabschieden, oder aber eine zeitgemäße Reformulierung der aristotelischen Ethik zu versuchen, die deren Abhängigkeit von einer inzwischen obsoleten ‚metaphysischen Biologie‘ überwindet. Genau dieses zuletzt genannte Ziel verfolgt MacIntyre selbst. Kernstück seines Projektes ist dabei eine Neuformulierung des aristotelischen Tugendbegriffs, mit deren Hilfe er die Dominanz des Norm-, Regelund Entscheidungsbegriffs in der zeitgenössischen Moraltheorie brechen und eine tugendethische Wende innerhalb der Moraltheorie einleiten zu können hofft.
2 MacIntyre 1987.
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Drei Definitionselemente eines solchermaßen transformierten Tugendverständnisses sind dabei von entscheidender Bedeutung. Das erste Element besteht im Begriff der ‚Praxis‘, unter der MacIntyre „jede kohärente und komplexe Form sozial begründeter, kooperativer menschlicher Tätigkeit“ versteht, „durch die [die] dieser Form von Tätigkeit inhärenten Güter […] verwirklicht werden“.³ Aufgrund der möglichen Konflikthaftigkeit zwischen einzelnen Handlungsfeldern und der Notwendigkeit, die Identität der handelnden Person über ein ganzes Leben sicherzustellen, bedarf es zweitens eines umfassenden Telos’ menschlichen Handelns, das MacIntyre als ‚Einheit einer narrativen Suche nach dem Guten‘ beschreibt. Ausdrücklich stellt er in diesem Sinne fest: Das gute Leben für den Menschen ist das Leben, das in der Suche nach dem guten Leben für den Menschen verbracht wird, und die für die Suche notwendigen Tugenden sind jene, die uns in die Lage versetzen zu verstehen, worin darüber hinaus und worin sonst noch das gute Leben für den Menschen besteht.⁴
Das dritte Definitionselement, das die bislang vorherrschende individuelle Perspektive um eine soziale Dimension erweitert, besteht im Begriff der ‚Tradition‘.⁵ Mit dieser dreigliederigen ‚sozialteleologischen‘ Neuformulierung des Tugendbegriffs glaubt MacIntyre, nicht nur den entscheidenden Gehalt der aristotelischen Moraltheorie gerettet zu haben, sondern auch die neuzeitliche Ethik wieder auf eine objektive Grundlage stellen zu können. Ohne hier in eine umfassende Kritik dieser Position eintreten zu können, die neben der Gewaltsamkeit der historischen Rahmenkonstruktion⁶ auch die Fragwürdigkeit der Behauptung eines logischen Primats des Tugend- vor dem Normbegriff ⁷ zu thematisieren hätte, sei in diesem Zusammenhang lediglich auf einige Ungereimtheiten in MacIntyres eigenem Tugendverständnis hingewiesen. Tatsächlich ist nämlich keines der drei genannten definitorischen Merkmale geeignet, die gewünschte Objektivität dieses Begriffs zu verbürgen.
3 MacIntyre 1987, 251 f. 4 MacIntyre 1987, 293. 5 MacIntyre zufolge finden Tugenden „Ziel und Zweck nicht nur darin, die Beziehungen aufrecht zu erhalten, die notwendig sind, wenn die Vielzahl der einer Praxis inhärenten Güter erlangt werden soll, und auch nicht nur darin, die Form eines individuellen Lebens zu erhalten, in dem dieser einzelne sein Gut als das Gut seines ganzen Lebens suchen kann, sondern auch darin, jene Traditionen zu erhalten, die sowohl der Praxis wie dem Leben des einzelnen den notwendigen historischen Kontext liefern“ (MacIntyre 1987, 297). 6 Vgl. Schneewind 1983. 7 Vgl. Bormann 1988, bes. 48 – 76.
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Da es zugegebenermaßen auch moralisch verwerfliche Praxisformen geben kann, verweist MacIntyre auf die Vorstellung eines übergreifenden Telos, das die disparaten Teilgüter einzelner Handlungen auf das umfassend Gute des Menschen hin transzendiert und so den gesuchten Objektivitätsmaßstab liefern soll. Diese vermeintlich aristotelische Verknüpfung von Tugend und Telos hat jedoch einen entscheidenden Mangel. Anders als Aristoteles versteht MacIntyre unter diesem Telos nicht die Entfaltung der charakteristischen menschlichen Grundbefähigungen,⁸ sondern die ‚narrative Einheit‘ einer ‚Suche nach dem Gut des Menschen‘, die als solche rein formal bzw. funktional definiert ist. Es ist jedoch leicht vorstellbar, dass auch die konsequente Verfolgung eines moralisch verwerflichen Lebensziels die Einheit eines Lebensentwurfes zu stiften und so den nötigen Kontext für das Sinnverstehen einzelner Handlungen zu liefern vermag. Deswegen bedarf es eines über die Feststellung der bloßen Einheit hinausgehenden inhaltlichen Beurteilungskriteriums der moralischen Qualität eines Lebensentwurfes, um die moralische Objektivität sicherzustellen. Bedauerlicherweise bleibt uns MacIntyre dieses Kriterium aber schuldig.⁹ Damit kommt der ‚Tradition‘ als drittem und letztem Definiens seines Tugendbegriffs eine alles überragende Bedeutung zu. Aufgrund des keineswegs zufälligen erneuten Fehlens eines plausiblen Beurteilungsprinzips disparater Traditionen¹⁰ legt sich damit die Schlussfolgerung nahe, dass MacIntyres Tugendlehre (wider Willen?) zu einer extrem konservativen Ethik führt, die als Folge ihrer systematischen Verdrängung der Normproblematik letztlich genau jenem Relativismus anheimfällt, den sie im Zeichen eines objektiven Tugendverständnisses gerade überwinden wollte.
9.1.2 P. Foots naturalistische Bestimmung des ‚Guten‘ Ein im Grunde ähnlich fragwürdiger Umgang mit dem Teleologie-Problem begegnet uns im Spätwerk P. Foots,¹¹ in dem die Vorstellung eines umfassend Guten des menschlichen Lebens allerdings nicht formalistisch, sondern naturalistisch
8 Vgl. Aristoteles, EN, I. 6. 9 M.S. Prakash und M. Weinstein haben daher zu Recht festgestellt: „The telos must emerge as more than a necessary formal fiction. MacIntyre owes us more of an account of ‚the good for man‘ than the opaque if not circular definien‚ search for the good for man‘ if he is to combat relativism and resuscitate the healthy sense of objectivity that he claims pervades the pre-Enlightenment moral project.“ (Prakash/Weinstein 1982, 44). Vgl. auch Schneewind 1982, 659; Downing/Thigpen 1984, 43; Wachbroit 1983, 573 sowie Feldman 1986, 313 – 316. 10 Zu MacIntyres späterem Bemühen, diesen Vorwurf durch eine differenzierte Analyse des Traditions-Begriffs zu entkräften, vgl. MacIntyre 1990. 11 Vgl. Foot 2004.
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interpretiert wird. Foot glaubt, „daß Bewertungen menschlichen Wollens und Handelns dieselbe begriffliche Struktur haben wie Bewertungen von Eigenschaften und Vollzügen anderer Lebewesen und nur nach diesem Modell verstanden werden können“.¹² Da wir zur Begründung von außermoralischen Werturteilen im Bereich der Pflanzen und Tierwelt gewöhnlich auf Merkmale zurückgreifen, denen „eine ‚unabhängige‘, ‚intrinsische‘ oder […] ‚natürliche‘ Qualität“ zukommt, die also „nichts mit den Bedürfnissen und Wünschen der Mitglieder irgendeiner anderen Spezies zu tun haben“¹³, steht für Foot zum einen fest, dass die verbreiteten subjektivistischen Werttheorien allesamt falsch sein müssen. Zum anderen eröffnet sich damit ihres Erachtens aber auch die Möglichkeit, moralische Defekte als „eine Form des natürlichen Defekts“¹⁴ zu verstehen. Foot ist also davon überzeugt, dass unsere moralischen Bewertungen menschlicher Handlungen dasselbe „Muster natürlicher Normativität“¹⁵ erkennen lassen wie unser außermoralisches Bewertungsverhalten. Die Bedeutung des Wortes ‚gut‘ ist ihres Erachtens dieselbe, „ob das Wort in ‚gute Wurzeln‘ oder in ‚gute Dispositionen des menschlichen Willens‘ verwendet wird“. ¹⁶ Trotz der Vielfalt des menschlichen Lebens sei es möglich, „ziemlich allgemein menschliche Notwendigkeiten aufzulisten, […] von denen im großen und ganzen das Wohl des Menschen abhängt“.¹⁷ Zwar sei das Wohl des Menschen eine Kategorie sui generis, doch hätten wir es eben nicht nur im Falle der Pflanzen und Tiere, sondern auch im Falle des Menschen mit einer „Naturgeschichte“ zu tun, die in beiden Fällen jene Lebensweise beschreibe, „in der die jeweiligen Individuen erreichen, was gut für sie ist“.¹⁸ Was ist von dieser Argumentation zu halten? Schauen wir zunächst auf die Stärken ihres Ansatzes: Foot wendet sich in typisch realistischer Manier zu Recht gegen eine subjektivistische Deutung des Handlungsbezuges moralischer Urteile. Die Anerkennung eines Handlungsgrundes beruht „auf Tatsachen und Begriffen, nicht auf irgendwelchen vorgängigen Einstellungen, Gefühlen oder Zielen“.¹⁹ Daher gehen nicht nur rein internalistische Motivationstheorien im Sinne D. Humes in die Irre, sondern auch G. E. Moores Antinaturalismus, der den Zu-
12 13 14 15 16 17 18 19
Foot 2004, 19. Foot 2004, 45. Foot 2004, 46. Foot 2004, 59. Foot 2004, 60. Foot 2004, 65. Foot 2004, 75. Foot 2004, 41.
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sammenhang zwischen Bewerten und Beschreiben missachtet und durch einen übersteigerten Intuitionismus ersetzt. Allerdings stehen diesen m. E. völlig zutreffenden Beobachtungen auch eine Reihe fragwürdiger Behauptungen gegenüber. Aus der Fülle der möglichen Kritikpunkte sei nur der folgende Einwand herausgegriffen, der den zentralen Begriff der ‚natural goodness‘ betrifft. Da ich einen Menschen oder einen Lebenszusammenhang nur dann als ‚gut‘ qualifizieren kann, wenn zunächst klar ist, worin das Gute des Menschen besteht, hängt die Plausibilität von Foots gesamter Theorie letztlich von der Überzeugungskraft ihrer Bestimmung des Guten ab, für die sie sich auf die ‚Naturgeschichte‘ und die ‚artspezifische Lebensform‘ des Menschen beruft. Das Problem dieser beiden zentralen Begriffe liegt nun darin, dass sie beide moralisch neutral bzw. unterbestimmt sind. Jede der von Foot diskutierten artspezifischen Fähigkeiten – die Sprachfähigkeit ebenso wie das Regelfolgen und die Kooperationsfähigkeit – kann in moralisch unterschiedlicher Weise, also gut oder schlecht, gebraucht werden. Damit setzt sich Foots Argumentation jedoch dem Vorwurf der Zirkularität aus.²⁰ Im Gegensatz zu ihren Gewährsleuten Aristoteles²¹ und G. E. M. Anscombe²² differenziert Foot nicht zwischen dem spezifischen und dem moralisch guten menschlichen Leben und löst Ethik damit tendenziell in Naturgeschichte auf. Bestand das Hauptproblem bei MacIntyre letztlich darin, dass der Begriff des ‚guten Lebens‘ aufgrund seiner Formalität im Grunde beliebig gefüllt werden konnte, so begegnen wir bei Foot der komplementären Schwierigkeit eines inhaltlich zwar klar konturierten Begriffsverständnisses, dessen spezifischer Realismus jedoch in einen moralphilosophisch kaum weniger gefährlichen Naturalismus abgleitet.
9.2 Zur Bedeutung der ‚Handlungsfähigkeit‘ für das ‚gute Leben‘ Angesichts des durchaus problematischen Umgangs mit dem aristotelischen Erbe, der sich sowohl bei MacIntyre als auch mutatis mutandis bei Foot beobachten lässt, könnte es zumal aus moraltheologischer Perspektive naheliegend erscheinen, hier den Versuch zu unternehmen, die tatsächliche Argumentation des Aristoteles zur näheren Bestimmung des für den Menschen Guten (i. S. von to agathon, to ariston bzw. eudaimonia) – insbesondere sein berühmt berüchtigtes
20 Vgl. Ricken 2010, 202. 21 Vgl. Aristoteles, EN, I. 6; dazu auch Heinaman 1995. 22 Vgl. Anscombe 1981, 10 – 21.
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ergon-Argument in EN I 6 sowie die dazu in Spannung stehenden Ausführungen in EN X – und ihren Einfluss auf die moraltheologische Tradition zu rekonstruieren. Da eine solche historische Analyse, die ich an anderer Stelle mit Blick auf die thomanische Konzeption vorgelegt habe,²³ aber immer noch mit dem Plausibilitätshorizont zeitgenössischen Denkens zu vermitteln wäre, soll im Folgenden ein anderer Gesprächsfaden geknüpft werden, der inhaltlich zwar in eine ganz ähnliche Richtung weist, uns jedoch direkter in die gegenwärtige Kontroverse um eine Bestimmung des ‚guten Lebens‘ hineinführt. Konkret möchte ich an einige einschlägige Einsichten von J. Rawls und A. Gewirth erinnern, die sich m. E. zu einer schwach perfektionistischen Konzeption des ‚guten Lebens‘ weiterentwickeln lassen.
9.2.1 J. Rawls’ liberaler Blick auf das Gute Es sind im Wesentlichen zwei Überlegungen von Rawls, die mir in diesem Zusammenhang bedeutsam erscheinen. Die erste betrifft den systematischen Ort der Kategorie des ‚Guten‘. Da „die beiden Hauptbegriffe der Ethik“ Rawls zufolge „das Rechte und das Gute“²⁴ sind, kommt es entscheidend darauf an, wie das Verhältnis beider Kategorien zueinander bestimmt wird. In klarer Abgrenzung zu teleologischen Theorien wie z. B. dem Utilitarismus, die „das Gute unabhängig vom Rechten“ definieren und das Rechte dann als dasjenige bestimmen, „was das Gute maximiert“,²⁵ plädiert Rawls selbst bekanntlich für eine „deontologische Theorie, […] die entweder das Gute nicht unabhängig vom Rechten oder das Rechte nicht als Maximierung des Guten bestimmt“.²⁶ Seine Behauptung eines logischen Vorrangs des Rechten hat letztlich die Funktion, die moralische Dignität des Guten zu sichern und beabsichtigt keinesfalls – wie von kommunitaristischer Seite fälschlich unterstellt –, dessen systematische Marginalisierung voranzutreiben.²⁷ Die zweite Einsicht betrifft die notwendige Differenzierung verschiedener rationalitätstheoretischer Ebenen innerhalb der Rede vom Guten. Bereits der frühe Rawls hat unmissverständlich darauf hingewiesen, dass wir „zwei Theorien des Guten unterscheiden“²⁸ müssen: eine sog. „schwache Theorie“,²⁹ die die zur 23 Vgl. Bormann 1999, bes. 61 – 143. 24 Rawls 1979, 42. 25 Ebd. 26 Rawls 1979, 48 (die deutsche Übersetzung gibt den Rawlsschen Begriff „deontological“ irreführenderweise mit dem Begriff „deontisch“ wieder). 27 Vgl. dazu Bormann 2011b, bes. 168 – 175. 28 Rawls 1979, 433 f. 29 Rawls 1979, 434.
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Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze nötigen Voraussetzungen über die Grundgüter liefert und eine sog. „vollständige Theorie des Guten“,³⁰ welche auf dieser Grundlage weitergehende Fragen etwa der Definition einer wohltätigen Handlung, der Tugend oder des moralischen Wertes eines Menschen beantwortet und letztlich auch auf den umfassenden Horizont eines ‚guten Lebens‘ verweist. Um den fatalen Eindruck zu vermeiden, die von ihm propagierte Fairnesskonzeption enthalte lediglich rein instrumentelle oder individualistische Vorstellungen des Guten, hat Rawls später die Verbindung seiner Vorrang-These mit fünf für seinen eigenen Ansatz bedeutsamen Ideen des Guten unterstrichen: „(1) der Idee des Guten als des Rationalen; (2) der Idee der Grundgüter; (3) der Idee der zulässigen umfassenden Konzeptionen des Guten; (4) der Idee der politischen Tugenden und (5) der Idee des Guten einer wohlgeordneten (politischen) Gesellschaft“.³¹ Für unsere Fragestellung dürfte dabei die Idee der ‚zulässigen umfassenden Konzeptionen des Guten‘ von besonderem Interesse sein. Hinter dieser Idee verbirgt sich nämlich die Einsicht des späten Rawls, „dass eine Pluralität vernünftiger und dennoch einander ausschließender umfassender Lehren das natürliche Ergebnis des Gebrauchs der menschlichen Vernunft innerhalb des Rahmens der freien Institutionen einer konstitutionellen Demokratie ist“.³² Die Ursache für dieses ‚Faktum eines vernünftigen Pluralismus‘ sieht Rawls in den sog. „Bürden des Urteilens“,³³ die nicht nur zu einer Reihe weiterer begrifflicher Unterscheidungen (etwa zwischen ‚politischen Konzeptionen‘ und ‚umfassenden Lehren‘) führen, sondern auch eine Differenzierung unserer landläufigen rationalitätstheoretischen Ordnungsschemata erzwingen. Jenseits des planen Gegensatzes zwischen irrationalem Subjektivismus auf der einen und universaler Objektivität auf der anderen Seite gibt es demnach eine spezifische Form des Pluralismus, die sich – etwa im Blick auf einen möglichen „übergreifenden Konsens“³⁴ mehrerer vernünftiger umfassender Lehren – nicht nur als stabilitätspolitisch bedeutsam, sondern insofern auch als epistemologisch unverdächtig erweist, als sie trotz aller Abschwächungsbemühungen im Zuge der ‚Methode der Vermeidung‘ an einem Vernunftbegriff festhält, der gegenüber den verschiedenen Konzeptionen des Guten eine kritische Filterfunktion ausübt.³⁵
30 Ebd. 31 Rawls 1997d, 364. 32 Rawls 1998, 13. 33 Vgl. Rawls 1998, 2. Vorlesung §2. 34 Vgl. Rawls 1997b, 293 – 332 sowie Rawls 1997c, 333 – 363. 35 Rawls stellt in diesem Sinne fest: „Die Einheit der praktischen Vernunft wird dadurch ausgedrückt, daß das Vernünftige per definitionem das Rationale umrahmt und ihm absolut
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Ohne hier auf die vernunfttheoretischen Details des Rawls’schen Spätwerkes näher eingehen zu können,³⁶ seien lediglich zwei m. E. ungelöste Probleme benannt, die für eine überzeugende Bestimmung des ‚guten Lebens‘ unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen. Das erste Problem betrifft die Güterlehre, die das Herzstück der sog. ‚schwachen Theorie des Guten‘ bildet. Bekanntlich hat Rawls’ eigene Liste verteilungsrelevanter ‚social basic goods‘ eine ebenso kontroverse wie fruchtbare Diskussion ausgelöst,³⁷ die zu einem doppelten Ergebnis geführt hat: nämlich erstens zu der Einsicht, dass die basalen Grundgüter nicht nur einen instrumentellen Charakter haben, der der anzustrebenden menschlichen Vollendung (und damit der ‚starken Theorie des Guten‘) letztlich äußerlich bleibt, sondern durchaus konstitutive Funktion für die Bestimmung des Guten besitzen;³⁸ und zweitens zu der Erkenntnis, dass eine solche Güterlehre schon aus gerechtigkeitsethischen Erwägungen um eine Orientierung an menschlichen Fähigkeiten zu erweitern wäre, da die objektive Verfügbarkeit eines Gutes allein noch keine Garantie für seine subjektive Nutzbarkeit darstellt. Obwohl die in diesem Zusammenhang etwa von A. Sen³⁹ und M. Nussbaum⁴⁰ angestellten fähigkeitstheoretischen Reflexionen zweifellos einen beträchtlichen Fortschritt gegenüber der Rawls’schen Schrumpfanthropologie darstellen, lassen auch ihre Überlegungen noch einen gewissen Eklektizismus in der Auswahl der jeweils hervorgehobenen Einzelfähigkeiten sowie der ihnen korrespondierenden Güter erkennen, der die Frage nach einem überzeugenden Auswahlprinzip aufwirft. Das zweite ungelöste Problem der Rawls’schen Position besteht m. E. darin, dass dem durchaus berechtigten Hinweis auf die mögliche Vielfalt vernunftförmiger ‚umfassender Lehren‘ des Guten selbst noch kein hinreichendes Sachkriterium zur Bestimmung eben dieser Vernunftförmigkeit und damit für die Abgrenzung von irrationalen Bestimmungen ‚guten Lebens‘ zu entnehmen ist. Da die Kompatibilität mit Rawls’ eigener Gerechtigkeitsauffassung allein schon deswegen als Abgrenzungskriterium ausscheidet, weil sie zwangsläufig zur Zirkularität der Argumentation führen würde, bedarf es eines hiervon unabhängigen Beurteilungsmaßstabes, mit dessen Hilfe nicht nur der gemeinsame vernünftige Kern
übergeordnet ist; d. h. die Gerechtigkeitsgrundsätze, die vereinbart werden, sind lexikalisch bei ihrer Anwendung in einer wohlgeordneten Gesellschaft den Ansprüchen des Guten gegenüber vorrangig. […] [D]as Vernünftige und das Rationale sind vereint in einem einzigen System praktischer Vernunft, das einen strikten Vorrang des Vernünftigen gegenüber dem Rationalen festlegt.“ (Rawls 1997a, 103) Vgl. auch Rawls 1997d, 364 – 397. 36 Vgl. hierzu Bormann 2008. 37 Vgl. Bormann 2006, 152 – 165. 38 Vgl. Finnis 1993, 85 – 90. 39 Vgl. Sen 1980 sowie Sen 2009, 225 – 290. 40 Vgl. Nussbaum 1999a sowie Nussbaum 1999b.
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und die legitimen Gestaltungsspielräume der jeweiligen Ansätze zu bestimmen wären, sondern sich auch das bei Rawls weithin ungeklärte Verhältnis zwischen ‚starker‘ und ‚schwacher‘ Theorie des Guten einer eindeutigen Bestimmung zuführen ließe. Um einer Lösung beider Probleme näherzukommen, möchte ich nachfolgend im Anschluss an die Position von A. Gewirth den Begriff der ‚Handlungsfähigkeit‘ ins Spiel bringen.
9.2.2 A. Gewirths handlungstheoretische Annäherung an das Gute Ausgehend von der zweifachen Erfahrung der Unhintergehbarkeit und der Voraussetzungsgebundenheit menschlichen Handelns hat der amerikanische Ethiker A. Gewirth einen prinzipienethischen Ansatz vorgelegt, dessen Besonderheit darin besteht, „dass die Eigenart des Handelns in Gehalt und Begründung des obersten moralischen Prinzips selbst eingeht“.⁴¹ Trotz der äußeren Vielgestaltigkeit unseres Handelns gibt es seines Erachtens eine invariante Struktur bzw. invariante Merkmale allen Handelns, zu der neben der „Willentlichkeit oder Freiheit“ vor allem die „Zweck- bzw. Zielgerichtetheit oder Intentionalität“ gehört.⁴² Gewirth glaubt nun zeigen zu können, „dass jeder Handelnde aufgrund der Tatsache, dass er handelt, logisch genötigt ist, ein in seinem Gehalt festumrissenes oberstes moralisches Prinzip anzuerkennen“.⁴³ Zur Begründung dieser These bedient er sich eines methodischen Dreischritts: Im ersten Schritt geht es um die Freilegung einer sog. evaluativen Struktur des Handelns, was zunächst nichts anderes heißt, als dass jedem Handeln notwendigerweise bestimmte Wertungen seitens des Handelnden zugrunde liegen, die sich aus der invarianten Grundstruktur des Handelns selbst ergeben. Wenn nämlich ein Handelnder wirklich ein bestimmtes Handlungsziel verfolgt, dann kann er gegenüber den notwendigen Voraussetzungen seiner Zielverfolgung bzw. Zielerreichung letztlich nicht indifferent sein. Er kann nicht konsistent sein Ziel erreichen wollen und zugleich nicht wollen, dass er die notwendigen Voraussetzungen und Mittel dazu hat und im Besitz dieser
41 Gewirth 1978, 26. 42 Vgl. Gewirth 1978, 25 und 27. 43 Ausdrücklich stellt Gewirth fest: „The main thesis of this book is that every agent, by the fact of engaging action, is logically committed to accept a supreme moral principle having a certain determinate normative content. Because any agent who denies or violates this principle contradicts himself, the principle stands unchallenged as the criterion of moral rightness, and conformity with its requirements is categorically obligatory.“ (Gewirth 1978, 48)
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Mittel nicht beeinträchtigt wird. Positiv formuliert heißt das: Der Handelnde muss notwendigerweise ein positives Interesse am Besitz bzw. Vorliegen der notwendigen Bedingungen für seine Zielerreichung haben. Da nun aber die Handlungsfähigkeit die notwendige Bedingung jeder Zielverfolgung des Handelnden ist, ist der Handelnde dazu genötigt, seine eigene Handlungsfähigkeit zumindest instrumentell positiv zu bewerten und für ein Gut zu halten. Diese positive Bewertung der eigenen Handlungsfähigkeit führt Gewirth zufolge direkt zur Einsicht in bestimmte ‚notwendige (bzw. konstitutive) Güter‘ (generic goods), die nicht an das Erstreben bestimmter konkreter subjektiver Handlungsziele gebunden sind, sondern notwendige Bedingungen jedes Handelns überhaupt darstellen. Zu diesen konstitutiven Gütern zählt Gewirth die ‚Freiheit‘ (freedom) sowie das ‚Wohlergehen‘ (well-being) des Handelnden. Während sich das Gut der ‚Freiheit‘ analytisch aus dem invarianten Aspekt der Freiwilligkeit des Handelns ergibt, resultiert der komplexe Begriff des ‚Wohlergehens‘ aus der Ziel- bzw. Zweckgerichtetheit des Handelns, deren verschiedenen Dimensionen wiederum jeweils spezifische Arten von Gütern entsprechen: erstens ‚elementare Güter‘ (basic goods), zweitens ‚Güter der Nichtminderung‘ (non-subtractive goods) und drittens ‚Zuwachsgüter‘ (additive goods). Mit dieser Differenzierung des Zielbezuges wird bereits deutlich, dass die Handlungsfähigkeit selbst ein außerordentlich dynamisches Vermögen ist, das unterschiedliche Grade der Entfaltung und verschiedene Dimensionen ihres Vollzuges kennt.⁴⁴ Gewirths zweiter Argumentationsschritt besteht in dem Nachweis, dass menschliches Handeln aufgrund seiner evaluativen auch eine deontische Struktur besitzt, die jeden Handelnden zu bestimmten Rechtsansprüchen gegenüber allen anderen Handlungsfähigen nötigt. So muss jeder Handelnde vernünftigerweise davon ausgehen, dass er ein Recht auf die ‚notwendigen Güter‘ hat und dieses Recht strikte Pflichten der anderen Handlungsfähigen ihm gegenüber begründet. Im dritten Schritt versucht Gewirth dann, von der Perspektive der 1. Person zu derjenigen der 3. Person überzugehen und zu zeigen, dass für jeden Handelnden aufgrund des Universalisierungsprinzips die Anerkennung moralischer Rechte und Pflichten zwingend ist. Da der Handelnde davon ausgehen muss, dass ihm die Rechte auf die notwendigen Güter notwendigerweise aus dem zureichenden
44 Um die grundlegende Bedeutung der Handlungsfähigkeit für unser personales Selbstverständnis zu verstehen, ist es erforderlich, den Handlungsbegriff in seiner ganzen Weite zur Geltung zu bringen und neben der aktiven auch seine passiv-kontemplative Dimension in den Blick zu nehmen. Denn je reduktionistischer die Sicht auf das Handeln ausfällt, desto näher liegt der Verdacht, die anthropologische Basis der Handlungsfähigkeit falle allzu schmal aus, um als Basis einer überzeugenden Bestimmung des ‚guten Lebens‘ fungieren zu können.
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Grund zukommen, dass er ein Handelnder bzw. Handlungsfähiger ist, muss er auch anerkennen, dass dieselben Rechte auch jedem anderen Handlungsfähigen zukommen und er selbst gegenüber anderen Handlungsfähigen die entsprechenden strikten Pflichten hat. Die Einsicht in die wechselseitigen Rechte und Pflichten aller Handlungsfähigen führt Gewirth schließlich zum sog. „Prinzip der konstitutiven Konsistenz“ (principle of generic consistency), demzufolge „jeder Handelnde […] stets in Übereinstimmung mit den konstitutiven Rechten der Empfänger seiner Handlungen wie auch seiner selbst handeln soll“.⁴⁵ Obwohl Gewirths prinzipientheoretischer Ansatz eher grundsätzlich auf die Verteidigung eines materialen Kognitivismus in der normativen Ethik angelegt ist, lassen sich seine im Grunde transzendentalen Überlegungen m. E. insofern auch für eine überzeugende Bestimmung des ‚guten Lebens‘ fruchtbar machen, als sie uns mit der Kategorie der ‚Handlungsfähigkeit‘ einen Schlüssel zur Lösung der beiden bei Rawls unbewältigten Probleme an die Hand geben.⁴⁶
9.2.3 Zur Bedeutung der ‚Handlungsfähigkeit‘ für die Frage nach dem ‚guten Leben‘ Wenn es nämlich stimmt, dass die Situation des Handelns für den Menschen schlechthin alternativlos ist (der Mensch also nicht dauerhaft nicht-handeln kann) und wenn das Handelnkönnen seinerseits wiederum an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, dann scheint es zum einen naheliegend zu sein, in der individuellen Handlungsfähigkeit den für die ‚schwache Theorie des Guten‘ entscheidenden Bezugspunkt für eine objektive Güterlehre zu erblicken, mit deren Hilfe der Eklektizismus der meisten zeitgenössischen Güterlisten überwunden werden könnte. Zum anderen weist die Handlungsfähigkeit infolge ihres dynamischen Charakters aber auch insofern einen Bezug zur ‚starken Theorie des Guten‘ auf, als sie nicht nur ein äußerliches Mittel, sondern einen ganz wesentli-
45 Gewirth 1978, 135. 46 Der naheliegende Einwand, dass transzendentale Ansätze per se ungeeignet seien, universalistische bzw. objektive Geltungsansprüche zu rechtfertigen, da in die Explikation der jeweiligen ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ stets zeit- und kulturabhängige Vorstellungen einfließen würden, kann zwar zu Recht in Anschlag bringen, dass etwa die Semantiken eines Güter-, Ressourcen-, Rechts- oder Fähigkeitendiskurses in der Explikation der Handlungsvoraussetzungen durchaus gewisse Differenzen aufweisen. Doch bedeutet dies keineswegs eine Beliebigkeit, da zwischen diesen unterschiedlichen Semantiken sehr wohl bestimmte systematische Beziehungen und Abhängigkeiten bestehen, die weniger an einander ausschließende Alternativen als vielmehr an eine Konvergenz verwandter Gesichtspunkte denken lassen.
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chen Bestandteil der menschlichen Erfüllung darstellt.⁴⁷ Mithilfe des Begriffs der Handlungsfähigkeit ließe sich daher eine Konzeption des ‚guten Lebens‘ rechtfertigen, die in dreifacher Weise näher bestimmt ist: nämlich erstens objektiv, zweitens anti-naturalistisch und drittens schwach perfektionistisch. Schauen wir zuerst auf die Objektivität: Der Schutz und die Entfaltung der individuellen Handlungsfähigkeit ist nicht irgendein subjektives zeit- oder kulturabhängiges Strebensziel des Menschen, auf das dieser begründeterweise auch verzichten könnte, sondern sie ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, sich überhaupt Ziele gleich welcher Art setzen und diese durch das eigene planvolle Handeln auch tatsächlich erreichen zu können. Daher gilt, dass jeder, der überhaupt irgendetwas wirklich will, notwendigerweise auch immer schon zumindest implizit die Entwicklung, Förderung und Verteidigung der eigenen Handlungsfähigkeit wollen muss. Die zweite wichtige Kennzeichnung ist der Antinaturalismus: Obwohl die Handlungsfähigkeit zweifellos charakteristischer als jede andere Befähigung für das Menschsein ist, lässt auch sie einen moralisch unterschiedlichen Gebrauch zu.Während sich ein moralisch schlechter Gebrauch dadurch auszeichnet, dass er beim Handelnden selbst oder bei den von seinem Handeln betroffenen Dritten die Handlungsfähigkeit ohne zwingenden Sachgrund beeinträchtigt, führt ein moralisch guter Gebrauch bei sich selbst und bei Dritten entweder zum Erhalt oder sogar zur Ausweitung der Handlungsmöglichkeit oder – im Falle ungünstiger Handlungsbedingungen – doch zumindest zu keiner grundlosen Schädigung derselben.⁴⁸ Der für die Bestimmung des ‚guten Lebens‘ notwendige moralisch richtige Gebrauch der Handlungsfähigkeit schließt also i. S. der Konsistenzforderung von Gewirth kategorisch jeden Raubbau an den eigenen und fremden Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit aus und ermöglicht so eine Sicht auf ein gutes bzw. gelingendes Leben, das nicht statisch im Modus des Zustandes oder des bloßen Habens bestimmter Einzelgüter, sondern dynamisch im Sinne der Ent-
47 Mit der schwachen und der starken Theorie des Guten sind zwei verschiedene Ebenen benannt, auf deren jeweiliger Rechtfertigung sehr unterschiedliche argumentative Lasten ruhen. Während die elementare Forderung einer Nichteinschränkung fundamentaler Grundrechte zum Schutze einer basalen Form der Handlungsfähigkeit mit relativ geringem argumentativem Aufwand zu begründen ist, sind an die Rechtfertigung der perfektionistischen Forderung einer möglichst umfassenden Entfaltung der eigenen Vermögen ungleich höhere Anforderungen zu stellen. 48 In Modifikation von Gewirths Überlegungen könnte ein oberstes handlungsleitendes Prinzip daher lauten: Handle so, dass du deine eigene Handlungsfähigkeit sowie die Handlungsfähigkeit der von deinem Handeln Betroffenen nach Möglichkeit umfassend entfaltest und nicht ohne zwingenden Sachgrund beeinträchtigst oder sogar zerstörst.
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faltung der eigenen Potentiale und mithin als Vollzug der grundlegenden personalen Vermögen des Menschen gedacht wird. In diesem Zusammenhang ist die dritte Bestimmung – der ‚schwache Perfektionismus‘ – der hier vorgeschlagenen Deutung des ‚guten Lebens‘ bedeutsam.⁴⁹ Obwohl mit der nach Möglichkeit optimal entfalteten individuellen Handlungsfähigkeit durchaus ein inhaltlicher Referenzpunkt für die Bestimmung ‚vernünftiger umfassender Lehren des Guten‘ im Rawls’schen Sinne benannt ist, sei ausdrücklich betont, dass dieser Bezug nur eine allgemeine bzw. relativ abstrakte Grenze umschreibt,welche der vielfältigen näheren Konkretisierung bedarf und daher mit einer begrenzten Pluralität von spezifizierenden Ausgestaltungen verträglich erscheint. In der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung solcher umfassenden Bestimmungen des ‚guten Lebens‘ werden zwangsläufig kulturelle Einflüsse wirksam, die ungeachtet ihrer historischen Kontingenz keineswegs zu einem Relativismus führen, der jede Form der Graduierung unter Vernünftigkeitsgesichtspunkten ausschließt. Was dieser Gedanke für den Einfluss religiöser Traditionen bedeutet, sei abschließend noch kurz am Beispiel des christlichen Liebesgebotes skizziert.
9.3 Eine spezifisch christliche Sicht auf das ‚gute Leben‘ Dass die hier vorgeschlagene, am Fähigkeitsbegriff orientierte Deutung des ‚guten Lebens‘ bei Leibe keine Erfindung zeitgenössischer Autoren darstellt, sondern vielmehr tief in der Geschichte der abendländischen Moralphilosophie verwurzelt ist, wird niemanden überraschen, der auch nur von Ferne mit der aristotelischthomanischen Tradition vertraut ist. Eine ganz ähnliche Auffassung findet sich übrigens auch im Neuen Testament – etwa im sog. Gleichnis von den Talenten, das uns sowohl bei Matthäus (Mt 25, 14– 30) als auch bei Lukas (Lk 19, 21– 27) überliefert wird. Obwohl die Sinnspitze dieser Texte vordergründig allein darin besteht, die eigenen Fähigkeiten einzusetzen und zu entfalten, Ängste vor einem möglichen Scheitern zu überwinden und gerade in der Anspannung der eigenen Kräfte
49 Die mit dem hier vertretenen schwachen Perfektionismus notwendigerweise verbundene Außenperspektive in der Bestimmung des ‚guten Lebens‘ zieht zwangsläufig einen zumindest schwachen Paternalismusverdacht auf sich, dessen Problematik jedoch weitaus weniger gravierend erscheint als die Folgen einer radikal individualistischen Reduktion auf die reine Innenperspektive der einzelnen Personen, deren individuelle Anpassungsmechanismen an oftmals gerechtigkeitsethisch hochproblematische Ausgangsbedingungen keinesfalls ausgeblendet werden dürfen. Vgl. dazu Sen 2009, 282 – 284.
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sein Glück zu finden, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass es den neutestamentlichen Schriftstellern gerade nicht um ein reines Selbstverwirklichungsprogramm im modernen Sinne geht. Das größte Talent des Menschen besteht nämlich aus christlicher Perspektive gar nicht in einer seiner natürlichen Eigenschaften als solcher, sondern vielmehr im – durch Gottes Gnade ermöglichten – gläubigen Vertrauen auf jene Liebe, mit der Gott selbst den Menschen immer schon vorgängig zu dessen eigenen Anstrengungen zugetan ist und die in Leben, Tod und Auferstehung Jesu ihren unüberbietbaren Ausdruck gefunden hat. So sehr es auch für Christen stimmen mag, dass die höchste Vollendung der menschlichen Handlungsfähigkeit in der Befähigung zur Liebe besteht,⁵⁰ so sehr trägt diese Liebe für ihn doch eine ganz bestimmte Signatur, die sie von rein säkularen Liebeskonzepten deutlich unterscheidet. Auf zwei Besonderheiten möchte ich kurz hinweisen: Die erste Eigentümlichkeit besteht im Antwortcharakter der Liebe, der für das gesamte christliche Ethos kennzeichnend ist und die christliche Konzeption des guten Lebens damit als ein elementares Beziehungsgeschehen ausweist. Christliche agape ist nie nur eigene Leistung, sondern immer Antwort auf die unverdiente vorgängige Liebe Gottes zum Menschen.⁵¹ Eng mit ihrem konsekutiven Sinn ist das zweite Merkmal christlicher Liebe verbunden, das in ihrer triangulären Struktur i. S. der Einheit von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe besteht. An den Grundrelationen des Menschen – seiner Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst – soll die vorgängige Liebe Gottes zum Menschen glaubwürdig in einem ganz bestimmten Handeln bezeugt werden, das sich unter den Anspruch der konkreten Nachfolge gestellt sieht. Da das Handlungsfeld des Christen durch seine christozentrische Grundausrichtung, seine pneumatologische Fundierung und seinen eschatologischen Zeithorizont in mehrfacher Hinsicht spezifisch religiös imprägniert ist, könnte eine Reduktion des christlichen Ethos auf einen allgemeinen Humanismus nur um den Preis gelingen, dass man es all jener Spitzenforderungen (von der Feindesliebe über eine unbedingte Vergebungsbereitschaft bis hin zur Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen) beraubt, die den Rahmen einer rein säkularen Vernunftbegründung und einer ihr korrespondierenden universalistischen normativen Ethik sprengen.⁵² Der Umstand, dass sich keine dieser das proprium christianum bildenden Weisungen als selbstverständlich oder gar als rational alternativlos
50 Vgl. Fromm 1997; vgl. dazu auch Bormann 2011a, 454 – 472. 51 Vgl. Joh 13, 34: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ Ganz ähnlich Joh 15, 16: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt.“ 52 Vgl. Gula 1989.
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erweisen lässt, dürfte die neutestamentlichen und frühchristlichen Schriftsteller übrigens dazu veranlasst haben, ihre Vorstellungen einer gelungenen christlichen Lebensführung in eine Semantik zu kleiden, die sich von den landläufigen Glückstraktaten etwa der hellenistischen Popularphilosophie markant unterscheidet. Jedenfalls legen die Makarismen der Bergpredigt den Schluss nahe, dass sich hinter den Kategorien von ‚Glück‘, ‚Sinn‘, ‚Erfüllung‘, ‚Heil‘ und ‚Seligkeit‘ letztlich sehr unterschiedliche Konzeptionen eines ‚guten Lebens‘ verbergen, die nicht vorschnell miteinander harmonisiert werden dürfen.⁵³ Diese Differenzen en détail zu rekonstruieren, wäre jedoch Aufgabe für eine eigene Abhandlung.
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53 Vgl. Greshake 1981, 101 – 146; Lauster 2004, 16 – 36; Claussen 2005; Rohner 2006, 92 – 103.
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10 Tugendethik, Liberalismus und die Frage nach dem guten Leben* 10.1 Einleitung Theorien des guten Lebens mögen objektivistisch und damit mit dem Anspruch einer gewissen, vom jeweiligen Individuum unabhängigen Allgemeingültigkeit auftreten, oder aber subjektivistisch und damit diesen Anspruch negierend geprägt sein: Beide Seiten kommen gewöhnlich darin überein, dass die Suche nach dem guten Leben sich an den Eigenheiten des Menschen zu orientieren habe. Gesucht wird also nicht das gute Leben des Gänseblümchens, der Ameise oder Gottes, und es besteht wenig Hoffnung, dass sich auf einer all diese Unterschiede abstrahierenden Ebene noch sonderlich substantielle Aussagen formulieren lassen – „substantiell“ in dem Sinn, als dass sich aus ihnen möglichst detaillierte normative Gründe darüber ableiten lassen, wie ein solches Leben zu führen sei. Ihre Opposition zueinander ergibt sich freilich aus den Antworten, die sie auf die Frage nach der Existenz eines dem Menschen als solchen auszeichnenden guten Lebens geben. Dabei können beide, objektivstische wie subjektivistische, Theorietypen auf eine lange Tradition zurückblicken: Aristoteles’ Theorie des guten Lebens stellte das menschliche Gut ins Zentrum, insofern das spezifisch menschliche Ergon Bestimmungsgrund der sich selbst genügenden Tätigkeit sein soll – seine Fähigkeit zu vernunftgemäßem Denken.¹ So ist es nicht verwunderlich, dass die Formierung einer Gegenposition ebenfalls auf dem Boden einer spezifisch auf den Menschen gerichteten Perspektive erfolgte. Als klassischer Ausgangspunkt lässt sich etwa Pico della Mirandola nennen. In Über die Würde des Menschen wird der Mensch als ein allein aus seiner freien Wahl heraus bestimmtes Lebewesen porträtiert, dem anders als bei Tieren von Gott gerade keine fest umrissene Lebens-
* Für wertvolle Hinweise beim Verfassen dieses Aufsatzes danke ich Jan-Christoph Heilinger, Matthias Hoesch, Elif Oezmen, Markus Rüther sowie dem Publikum meines Vortrags im Rahmen des Symposiums „Die anthropologische Wende“ am 11. 05. 2012 in Zürich. 1 „Das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele, und gibt es mehrere Tugenden: der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit.“ (Aristoteles 1985, 12)
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führung vorgegeben ist. Stattdessen macht es gerade seine Würde aus, sich selbst für das Richtige entscheiden zu können.² Beide Traditionen lassen sich – mit all den dadurch eingeführten Vereinfachungen und übergangenen Brüchen – bis in die zeitgenössische Philosophie hinein verfolgen. So verficht spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts die liberale Tradition ausgehend von John Stuart Mill eine auf die personale Autonomie des Einzelnen verpflichtete Moral- wie politische Philosophie.³ Auch diese baut letztlich auf anthropologischen Überlegungen auf und hat in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch Denker wie Gerald Dworkin, Robert Nozick oder John Rawls starken Auftrieb erhalten.⁴ Gleichzeitig sind im Zuge des NeoAristotelismus Denkerinnen wie Philippa Foot und Martha Nussbaum bemüht, den liberalen Grundgedanken aufzugreifen, dabei jedoch gleichzeitig eine am aristotelischen Gedankengut angelehnte, substantielle Theorie menschlicher Güter zu entwickeln. Ihnen ist gemeinsam, dass damit einerseits einer zu starken Beliebigkeit in der Theorie des guten Lebens entgegengewirkt werden soll, die insbesondere liberalen Positionen anzuhängen droht;⁵ in diesem Zusammenhang fällt häufig der Ausdruck des Relativismus, dem es entgegenzutreten gälte.⁶ Andererseits wird versucht, eine solche Konzeption nicht zu substantiell werden zu lassen, um für unterschiedliche, auf kultureller, gesellschaftlicher und individueller Ebene divergierende Lebensauffassungen offen zu bleiben.⁷ Im Hintergrund dieser grundlegenden Spannung scheinen mir zwei gegenläufige Intuitionen zu stehen, die sich in unserer Alltagsethik bei dem Gedanken des guten Lebens miteinander verbinden. Auf der einen Seite herrscht die Auffassung vor, dass die Wahl eines guten Lebens für jeden Menschen eine mehr oder
2 Vgl. Pico della Mirandola 1990 [1496], 9, 11. Dass sich der Mensch bei Pico für das Richtige selbst entscheiden kann, und nicht etwa für ein Richtiges, tut der Beliebtheit des Autoren bei Subjektivisten keinen Abbruch. Wie wir am Ende sehen werden, kann jedoch auch der Objektivist eine mit Picos Worten kompatible Sichtweise menschlicher Autonomie vorlegen. 3 Mill 1991, 14: „Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.“ 4 Über die Verflechtungen von Autonomie als Grundidee liberaler Theorie und liberalen Positionen siehe Colburn 2010a. 5 Eine detaillierte Ausarbeitung über Umfang und Intensität dieses Problems hat Graham Long in Long 2004 vorgelegt. 6 Für Nussbaum gilt diese Sorge weniger relativistischen Implikationen ihrer liberalen Grundhaltung als vielmehr deren Verortung in einer tugendethischen Interpretation des guten Lebens, die Zeitgenossen wie Alasdair MacIntyre und Bernard Williams bereits als solche relativistisch deuten. Vgl. Nussbaum 1993, 243. 7 Siehe für eine ausführlichere Beschreibung Christopher Gowans’ „Virtue Ethics and Moral Relativism“ (2011, 404 – 408).
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minder höchstpersönliche, autonome Angelegenheit darstellt: „Höchstpersönlich“ sowohl in dem Sinne, als die breite Auswahl an unterschiedlichen, gleichermaßen legitimen Lebensweisen dem Einzelnen das letzte Wort darüber geben soll, welcher davon er folgen möchte; „höchstpersönlich“ aber auch in dem Sinne, dass bei der Bestimmung der für das Individuum infrage kommenden Lebensformen Sachverhalte eine Rolle spielen, die unmittelbar mit ihm zu tun haben: Hinweise auf seine Vorlieben, seine Talente, seine soziale Situiertheit sind hier nur einige Beispiele. Umgekehrt scheint nicht jedes Leben als ein „gutes“ qualifiziert werden zu können, ganz gleich, wie sehr den vorgenannten Intuitionen entsprochen wird: Nehmen wir als Beispiel das Leben eines jungen Mannes, Kind einer Ölmilliardärin. Seine soziale Situation erlaubt es ihm, sich früh von seiner Mutter auszahlen zu lassen. Sein Vermögen gibt ihm die Möglichkeit, aus einer breiten Auswahl unterschiedlicher Formen des Müßiggangs auszuwählen. Er entwickelt seine Talente dementsprechend dahingehend, sich möglichst originelle Aufenthaltsorte im internationalen Jet Set auszugucken, einen kultivierten Kleidergeschmack zu entwickeln und grandiose Cocktails zu mixen. Ihm gefällt sein Leben, er fragt nicht nach mehr. Sein relativ früher Tod mit gerade 26 Jahren bei einem Verkehrsunfall verhindert zudem, dass er je nach mehr fragen kann. Hat er aber, vom Umstand seines vorzeitigen Endes einmal abgesehen, ein gutes Leben geführt? Sicher, es war ein angenehmes, selbstbestimmtes, freudvolles Leben, nach seinen eigenen Maßstäben fehlte ihm nichts. Dennoch scheint damit etwas nicht zu stimmen. Er hätte, so könnte man meinen, ein weit besseres, sinnvolleres Leben führen können, wenn er sich der Kunst verschrieben, eine Kinderhilfsorganisation gegründet oder wissenschaftliche Interessen verfolgt hätte. Dies würde, so würden die meisten von uns urteilen, selbst dann gelten, wenn das Leben aus seiner Perspektive dadurch um keinen Deut freudvoller ausgefallen wäre. In meinem Beitrag möchte ich die Beziehung zwischen Autonomie, tugendethisch ausgerichteten liberalen Theorien und dem Relativismusvorwurf im Kontext der Debatte um das gute Leben näher betrachten. Im einem ersten Abschnitt (10.2) werde ich die grundsätzlichen Erfolgsaussichten für ein Zusammengehen von liberal ausgerichteter Ethik und tugendethischem Fundament prüfen. Diese erfreut sich als Theorieoption großer Beliebtheit, gerade weil sie als Kompromissposition die gelungene Einbindung der beiden vorgenannten Intuitionen verspricht. In einem zweiten Schritt (10.3) soll die grundsätzliche Anfälligkeit solcher Kombinationen für einen metaethischen Relativismus evaluiert werden. Dessen Einfallstor wird in der epistemologischen Begründung der für den Liberalismus konstitutiven, neutralen Haltung hinsichtlich verschiedener Theorien des guten Lebens lokalisiert. Diese Gefährdung wird in einem dritten Schritt durch die Betrachtung der Wahlmöglichkeiten liberaler Tugendethiken hinsicht-
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lich ihrer metaethischen Strategien genauer ausgelotet. Zu diesem Zweck werden vier exemplarische Vertreter untersucht, welche diese Strategien systematisch ergründen helfen. Als entscheidende Determinante erweist sich dabei die Rolle, die personale Autonomie in diesen Theorien einnimmt: Deren starke Betonung (10.4) löst entweder mehr oder minder offen die Relativismus-Option ein oder kann zumindest keine befriedigende philosophische Systematik der grundlegenden Intuitionen bieten, die hinter der tugendethisch-liberalen Behandlung der Frage nach der Objektivität des guten Lebens stehen. Wird personale Autonomie hingegen nur als ein menschliches Gut unter anderen betrachtet oder erhält sie gar lediglich eine rein instrumentelle Funktion für die Realisierung des menschlichen Guts zugesprochen (10.5), wird es diesem Theorietypus weit besser gelingen, relativistische Tendenzen auszugrenzen, ohne dabei eine der beiden für seine Adäquatheit wesentlichen Intuitionen aufzugeben.
10.2 Liberalismus und Tugendethik Dass liberale und tugendethische Ansätze überhaupt sinnvoll zusammengeführt werden können, mag zunächst alles andere als offensichtlich erscheinen: Als Markenkern des Liberalismus gilt die gleiche Freiheit und der gleiche Respekt für alle Personen.⁸ Bis hierhin lässt sich noch kein offensichtlicher Reibungspunkt mit einer tugendzentrierten Ethik ausmachen; dieser stellt sich jedoch ein, sobald die Stellung von Freiheit im Werte- oder Rechtssystem des Liberalen offenkundig wird: Freiheit steht hier im Zentrum ethischer und politischer Bewertungen, an ihr hat sich in mehr oder minder starken Maße die Berechtigung von Eingriffen vonseiten Dritter – des Staates oder anderer Handelnder – zu orientieren. Damit in Verbindung stehend tritt häufig ein nicht-exklusiver Ansatz zur Bestimmung des für die einzelne Person Guten auf. Sobald der Liberale Freiheit zumindest auch im Sinne von Autonomie versteht und diesen Begriff wiederum über den Begriff der selbstbestimmten Entscheidungsfindung charakterisiert, kann sich deren vom Freiheitsbegriff geerbte, zentrale Stellung wahlweise wie folgt gestalten: Entweder (a) kommt autonomen Entscheidungen selbst ein Wert zu, welcher als wichtig genug angesehen wird, um gegebenenfalls die dadurch realisierten Übel auszugleichen; oder (b) autonome Entscheidungen sind selbst über die Kategorie des Wertvollen gar nicht zu fassen, sondern generieren vielmehr erst dasjenige, was wertvoll ist, so dass sie außerhalb des eigentlichen Wertekatalogs platziert werden können.
8 Siehe Dworkin 1985, 191 f.; Christman 2009, 3.2; Ryan 2012, 373.
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In beiden Fällen muss, so scheint es, demgegenüber eine Tugendethik, die wesentlich auf dem Begriff eines menschlichen Guts aufbaut, das letztlich über die richtigen Einstellungen im Charakter des Handelnden realisiert werden soll, wie ein Fremdkörper auf die liberale Theorie wirken. Denn wenn die moralische Bewertung meines Tuns von der Erfüllung eines unabhängig davon festgelegten Guts abhängig ist, welche Rolle spielt dann der Einfluss meiner autonomen Entscheidung in einer der beiden gerade skizzierten Weisen? Die naheliegende Lösung, das menschliche Gut selbst als individualisierbar zu betrachten, und zwar nach Maßgabe der Bedeutung personaler Autonomie innerhalb der liberalen Theorie, erscheint nicht ohne Weiteres gangbar: Nehmen wir etwa die zweite gerade skizzierte Form (b) und machen die Bildung des menschlichen Gutes von der jeweiligen Autonomie des Einzelnen abhängig, so scheint entweder die Rede von der menschlichen Natur als Etikettenschwindel – die sodann nur funktional zu leistende Charakterisierung der Art „was immer die Autonomie des jeweiligen Menschen als gut befindet“ könnte als radikalisierte Variante des eingangs beschriebenen Standpunkts von Pico della Mirandola verstanden werden –; oder der Autonomiebegriff muss so weit substantiell-normativ angereichert werden, dass von der Grundidee liberaler Theorie nicht mehr viel übrig bleibt. Aussichtsreicher erscheint daher Variante (a): Hier wird Autonomie als eigenständiger Wert in die Theorie menschlicher Güter eingeführt. Im Unterschied zur erstgenannten Option ergibt sich der Wert der übrigen Güter unabhängig vom Wert der sodann näher zu bestimmenden Autonomie. Hierbei lassen sich wenigstens zwei Unterformen unterscheiden. So könnte Autonomie erstens (i) innerhalb des Wertkatalogs menschlicher Güter ein besonders herausgehobener Wert zukommen, was sich insbesondere im Konfliktfall positiv auf die liberalen Intuitionen auswirken würde: Werden also autonomiefremde menschliche Güter durch selbstbestimmte Entscheidungen des Einzelnen in Mitleidenschaft gezogen, so kann die Entscheidung immer noch gegen einen Eingriff von Dritten ausfallen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die infrage stehenden Güter entweder als Ganze der Autonomie unterzuordnen sind, oder wenn die Verletzung autonomiefremder Güter graduell beschrieben werden kann: Das als sicher angenommene Ritzen des linken Zeigefingers infolge einer selbstbestimmten Handlung wäre beispielsweise nicht hinreichend, die Autonomie des Handelnden einzuschränken, sehr wohl aber die sich aus derselben Handlung ergebende Lebensgefahr. Die zweite Unterform (ii) verschärft den Wert von Autonomie dahingehend, dass diese nicht allein als besonders gewichtig, sondern als notwendige Bedingung für den Wert aller übrigen Güter angesetzt wird. Eine einzelne Handlung mag so viele menschliche Güter realisieren wie sie möchte – so lange sie nicht dem
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Kriterium der Autonomie genügt, wird es keine Handhabe geben, diese gegen den Willen des Handelnden durchzusetzen. Im Unterschied zum oben als inkompatibel mit dem tugendethischen Ansatz zurückgewiesenen Prozeduralismus hinsichtlich menschlicher Güter – diese werden überhaupt erst durch die Selbstbestimmung des Willens zu Gütern erklärt – bleibt im vorliegenden Fall die Unabhängigkeit der Theorie des Guten gewahrt. Es gibt mithin eine unabhängig von unseren Wünschen bestehende, objektive Natur, deren Realisierung Gegenstand menschlichen Strebens ist. Allerdings lässt sie sich nicht gegen essentielle Bestandteile ihrer selbst durchsetzen – und hierzu zählt die selbstbestimmte Annahme dessen, was für den Menschen gut ist. Wie nicht weiter verwundert, werden beide Wege von ausgewiesen liberalen Denkern auch tatsächlich beschritten, die sich zudem mit einem tugendethischen Ansatz identifizieren, der seinen Ausgangspunkt aus Aristotelischem Gedankengut nimmt. So hat Douglas Rasmussen zusammen mit Douglas Den Uyl mit Norms of Liberty: A Perfectionist Basis for Non-perfectionist Politics (2005) eine Monographie vorgelegt, die laut Ben Colburn eine „neo-Aristotelian solution to […] ‘liberalism’s problem’“⁹ bieten soll. Die Autoren unterscheiden im Sinne von (ii) kurz gefasst zwischen normativen und meta-normativen Prinzipien. Im Unterschied zu ersteren bieten letztere keine direkten Festlegungen hinsichtlich der Lebensführung des Einzelnen, sondern nennen lediglich Bedingungen, unter denen eine solche Festlegung erfolgen kann. Der genauere Blick auf diese Bedingungen verweist nun auf das aus der natürlichen Bestimmung des Menschen sich ergebende Gut der Selbststeuerung (self-direction), für das gilt: „[N]o other feature could be a constituent of human flourishing without self-direction.“¹⁰ In den Schriften von Martha Nussbaum findet sich demgegenüber eine Ausarbeitung von Variante (i) einer mit dem Liberalismus kompatiblen Tugendethik. Sie identifiziert eine Reihe typisch menschlicher Vermögen, die sie in Anlehnung an Sen als „substantial freedoms“ bezeichnet.¹¹ Ihre Theorie des Guten umfasst mithin eine Liste schützenswerter substantieller Werte, allerdings nur im Zustand der autonomen Möglichkeit, sie im Tun zu verwirklichen. Die Ursache dafür liegt in dem besonderen Status, der dem Vermögen praktischer Vernunft in dieser Liste zukommt. Nussbaum schreibt:
9 Colburn 2008, 318. 10 Rasmussen/Den Uyl 2005, 87. 11 „What are capabilities? They are the answers to the question, ‘What is this person able to do and to be?’ In other words, they are what Sen calls ‘substantial freedoms’.“ (Nussbaum 2011, 20)
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Among the capabilities, two, practical reason and affiliation, stand out as of special importance […]. All the items on the list should be available in a form that involves reason and affiliation. This sets constraints on where we set the threshold, for each of the separate capabilities, and also constraints on which specifications of it we will accept.¹²
Wenngleich sie im gleichen Atemzug betont, dass die übrigen Kandidaten dadurch nicht auf den Gebrauch der prominent platzierten Befähigungen reduziert werden sollen, spricht doch das Zitat eine deutliche Sprache: Die übrigen Güter auf Nussbaums Liste können in ihren Wirkungsbereich und ihrer genauen Ausformung von dem Vermögen praktischer Vernunft eingeschränkt werden. Damit ist im Gegensatz zu Rasmussen und Den Uyl kein hierarchischer Anspruch verknüpft, besonders, wenn andere bedeutende Güter auf dem Spiel stehen: „We may also feel that health is a human good that has value in itself, independent of choice, and that it is not unreasonable for government to take a stand on its importance in a way that to some extent (though not totally) bypasses choice.“¹³ Im Ergebnis können wenigstens zwei Strömungen innerhalb der zeitgenössischen Ethik identifiziert werden, die einen Liberalismus im hier verstandenen Sinne auf einer tugendethischen Grundlage verteidigen: Entweder wird Autonomie als herausgehobener Wert im Kanon menschlicher Güter identifiziert (i), oder sie gilt gar als Bedingung der Möglichkeit zur Bestimmung der Werthaftigkeit des menschlichen Guts (ii). Im kommenden Abschnitt soll die Verbindung zwischen moralischem Liberalismus und metaethischem Relativismus genauer untersucht werden.
10.3 Liberalismus und Relativismus Wie in der Einleitung angemerkt, finden sich liberale Positionen nicht selten dem Vorwurf eines „Relativismus“ ausgesetzt. Ich möchte diesen Vorwurf im Folgenden dahingehend verstanden wissen, als dass er sich auf eine Form des metaethischen Relativismus bezieht.¹⁴ Unter dem Begriff des metaethischen Relativismus wird hier eine Position verstanden, welche die Wahrheit oder Rechtfertigung ethischer Urteile bejaht, diese allerdings auf eine bestimmte soziale Gruppe einschränkt. Die Art und Größe der gewählten Gruppe, die Reichweite der relativis-
12 Nussbaum 2000, 82 f. 13 Nussbaum 2000, 91. 14 Damit möchte ich selbstverständlich nicht behaupten, dass sich alle RelativismusVorwürfe, die gegen den Liberalismus erhoben werden, so verstehen ließen; vielmehr möchte ich die Betrachtung dieses Vorwurfs auf den von mir spezifizierten Fall einschränken.
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tischen Behandlung ethischer Urteile und der genaue Rechtfertigungs- oder Wahrheitsmaßstab sind vom jeweiligen Vertreter dieser Theorie näher zu spezifizieren. Die so beschriebene Position fällt in den Diskursbereich der Metaethik, insofern sie Annahmen über die Epistemologie ethischer Urteile trifft und somit deren Gültigkeit näher bestimmt.¹⁵ Ausgehend von der oben vorgenommenen Charakterisierung eines ethischen Liberalismus, der aus seinen Grundsätzen heraus die Unterbestimmtheit des guten Lebens mit der Forderung einer weitreichenden Autonomie des Einzelnen zur Bestimmung des für ihn Guten verknüpft, stellt sich die Frage nach dem theoretischen Fundament dieses Standpunktes. Urteile über das gute Leben, so die Annahme, sind für den Liberalen nicht in einem Sinne universalisierbar, wie das bei der oben herausgestellten Kontrastgruppe der moralischen Urteile möglich ist – verstanden als diejenige Klasse ethischer Urteile, die unsere Pflichten und Rechten gegenüber anderen Personen regeln. Während diese Divergenz nicht weiter beleuchtet werden soll – der Liberalismus hat hier eine breite Auswahl an Strategien entwickelt, so dass für eigentlich jeden Typ von Moraltheorie eine entsprechende Begründung zur Verfügung steht¹⁶ –, muss, so die Vermutung, doch zumindest eine Erklärung dafür gegeben werden, weshalb wir im Bereich der eigenen Lebensführung der höchstpersönlichen Verfügungsgewalt einen so hohen Stellenwert einräumen.¹⁷ Diese Erklärung kann nun vom metaethischen Relativismus geliefert werden. Graham M. Long hat diese mögliche Verbindung zwischen Liberalismus und metaethischem Relativismus genauer erkundet. Wie er betont, ist der moralische Liberale nicht eo ipso auf eine relativistische Strategie festgelegt. Der frühe Rawls beispielsweise verteidigt seine liberale Grundhaltung wesentlich unter Verweis auf die epistemischen Schwierigkeiten, welche bei der Erkenntnis des ethisch Richtigen bestehen. So sei es unmöglich, alle ernstzunehmenden Ansichten und Urteile im Bereich der Moral zu überprüfen. Dementsprechend lässt er es unausgemacht, ob sich im Ergebnis mit der von ihm entwickelten Methodik, wie er sie in einem frühen Aufsatz entwickelt¹⁸ und für sein Hauptwerk A Theory of Justice
15 Für eine nähere Bestimmung dieses und anderer Aufgabenbereiche der Metaethik siehe Sayre-McCord 2012, 5. 16 Für eine Liste unterschiedlicher Strategien siehe Rasmussen 1990, 153 f. 17 Die Notwendigkeit einer solchen Erklärung wird nicht von jedem Vertreter des Liberalismus geteilt, namentlich nicht von solchen, die ihre Position als reinen „politischen Liberalismus“ weiter qualifizieren. Ich gehe im weiteren Verlauf dieses Abschnitts gegen Ende darauf ein, siehe auch insbesondere Fußnote 32. 18 Siehe „Outline of a Decision Procedure for Ethics“ (1951).
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anwendet,¹⁹ eine einheitliche Moral einstellen wird oder nicht. Da wir den Endpunkt des über die Methodik des Überlegungsgleichgewichts durchgeführten ethischen Unternehmens nie erreichen, sondern selbigen bestenfalls als philosophisches Ideal („philosophical ideal“) als Leitbild dieser Untersuchung anstreben können,²⁰ würde sich auch aus diesem Gesichtspunkt heraus ein liberal geprägter Standpunkt rechtfertigen lassen, der viele verschiedene, gegenwärtig gleichermaßen gerechtfertigte Ansichten über das gute Leben zulässt. Aber selbst wenn man die Möglichkeit zur Etablierung ethischer Wahrheit und Rechtfertigung zumindest in einem bedeutsamen Teil ethischer Konflikte als erreichbar betrachtet, muss sich eine liberal orientierte Position nicht von vornherein als ausgeschlossen betrachten: Folgt man Issaiah Berlin, lässt selbst eine restlos aufgeklärte Ethik es unwahrscheinlich erscheinen, dass für jede Person derselbe Weg zum guten Leben vorgezeichnet ist, und das in einer Weise, dass dessen Beschreibung anders als bei den Liberalen nicht aus einer wertethisch neutralen Perspektive wiedergegeben werden kann.²¹ Stattdessen erscheint es mit Blick auf die philosophische Tradition wahrscheinlicher, dass sich ein Pluralismus einstellen wird. Dieser wird von Berlin beschrieben als the conception that there are many different ends that men may seek and still be fully rational, fully men, capable of understanding each other and sympathizing and deriving light from each other, as we derive it from reading Plato or in the novels of medieval Japan – worlds, outlooks, very remote from our own.²²
Wenn ich mich also verzaubert von Platons Dialogen ganz dem akademischen Philosophiestudium hingebe und mein Freund sich, inspiriert von den Heike Monogatari, einer stark buddhistisch inspirierten Lebensweise unterwirft, sind selbst unter Annahme ähnlicher Befähigungen beide Lebenswege möglich. Daraus folgt jedoch nicht die Ablehnung von objektiv erkennbaren moralischen Werten. Wie Berlin selbst kurz und knapp bekennt: „There is a world of objective values.“²³ Diese zweite Variante liberaler Theorien, die sich nicht auf einen Relativismus gründen, gibt uns zudem Gelegenheit, den Begriff des Relativismus, so wie er hier verstanden wird, über seine Abgrenzung zu dem von Berlin gerade in Anspruch
19 So verweist er in Rawls 1999, 40 explizit auf diesen Aufsatz. 20 Vgl. Rawls 1999, 43. 21 So wäre eine Aussage der Form „Tu dies, was Du selbstbestimmt möchtest“, die für jeden Menschen als gültig erachtet wird, immer noch unzureichend, um insbesondere aus der Außenperspektive festzusetzen, wie er sein weiteres Leben zu gestalten hat. 22 Berlin 1997, 9. 23 Ebd.
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genommenen Pluralismus weiter zu schärfen. Beide Positionen eint die Ansicht, dass es innerhalb einer gegebenen Situation mehrere ethisch vertretbare Lösungen gibt. Allerdings begründen sie diesen Pluralismus gangbarer Alternativen unterschiedlich: Der (metaethische) Relativismus unterscheidet mehrere, gleichermaßen gültige Grundlagen praktischer Rationalität – wenigstens in Bezug auf ethische Fragen. Für den Pluralismus gibt es demgegenüber nur ein solches Fundament von grundlegenden Regeln zur Bewertung ethischer Urteile. Der Relativismus kann, mit anderen Worten, die Vielgestaltigkeit praktischer Rationalität nicht mehr auf eine Basis noch grundlegenderer Regeln zurückführen, die gleichzeitig dafür sorgt, die Gültigkeit unterschiedlicher Lebensentwürfe simultan, d. h. ohne Wechsel der praktischen Perspektive, einsichtig zu machen²⁴ Stattdessen kann er nur deskriptiv beschreibbare Faktoren ausmachen, die es ihm erlauben, die Entstehung und Akzeptanz bestimmter Rationalitäten zu verstehen. Zentral ist für ihn, in den Worten Carol Rovanes, „the idea of alternatives, which are truths that cannot be embraced together […] – that is, […] the idea that some truth-value-bearers do not stand in any logical relations at all.“²⁵ Wenn somit auch nicht jede Form von Liberalismus auf einen metaethischen Relativismus in der hier vertretenen Form angewiesen ist, gilt dasselbe nicht für die hier betrachteten Varianten. Nun macht Long für jeden Versuch einer Verbindung zwischen Relativismus und Liberalismus zwei grundsätzliche Herausforderungen aus, die eine Zusammenführung beider Theorietypen von vornherein als aussichtslos erscheinen lassen. Dies würde jedweden Vorwurf gegenüber dem Liberalismus, demnach dieser sich auf einen metaethischen Relativismus stützen würde, im Keim ersticken. Dabei zielt die erste Herausforderung auf die positive Möglichkeit des Liberalismus, einen solchen Begründungsansatz für die eigene liberale Grundhaltung zu etablieren, wohingegen ihm die zweite Herausforderung einen Ausweg anbietet, auf die Frage nach der näheren Begründung seiner Grundhaltung überhaupt antworten zu müssen. Wie lauten diese beiden Herausforderungen genau? Long formuliert hinsichtlich der ersten kurz und bündig: „The first problem arises specifically from the adoption of a relativist foundation. If relativism holds as an account of justification in diversity, why does it not also apply to liberal values?“²⁶ Das ist im Grunde genommen die spezifischere Variante der bereits von Bernard Williams in Moral
24 Eben diese Möglichkeit wird im obigen Zitat von Berlin durch die Passage „capable of understanding each other and sympathizing and deriving light from each other“ zum Ausdruck gebracht. 25 Rovane 2011, 31. 26 Long 2011, 319.
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Luck vorgetragenen Widerlegung des Relativismus als „the anthropologist’s heresy“.²⁷ Das zweite Problem betrifft demgegenüber die Möglichkeit, einen dezidiert als politisch angelegten Liberalismus möglichst unbeeinflusst von andernorts ausgetragenen philosophischen Kontroversen zu halten: „Recall that one distinctive virtue of political liberalism is that it claims to have found a foundation for the liberal state which neither relies on controversial philosophical ideas, nor brings liberalism into conflict with the diverse conceptions of the good held by individuals.“²⁸ Ein Beleg für eine solche Haltung lässt sich wiederum bei Rawls finden, der vom „fact of reasonable pluralism“ spricht, mit der man in jedem Fall unter politischen Gesichtspunkten Umgang finden müsse: Sie ergibt sich für ihn, in den Worten von Forst, „als eine pragmatisch-realistische Einsicht in das ‚Faktum‘ der ‚praktischen‘ Unmöglichkeit übereinstimmender ethischer Urteile“ „as the natural outcome of the activities of human reason under enduring free institutions“.²⁹ Wie leicht einsichtig zu machen ist, sind es gerade die im vorigen Abschnitt herausgearbeiteten Formen eines auf tugendethischen Fundamenten gegründeten Liberalismus, welche auf die beiden Herausforderungen antworten und sich so zumindest als kompatibel mit relativistisch beeinflussten Begründungsansätzen für ihre zentralen Thesen erweisen.Was das erste Problem betrifft, so haben wir es hier allesamt mit Positionen zu tun, die ihren Relativismus auf Basis ihrer Theorie der menschlichen Natur sowie von deren Bestimmungsgrad für den Wertgehalt konkreter Lebensauffassungen und -weisen entwickeln. Dies impliziert gleichzeitig eine Begrenzung der Reichweite relativistisch deutbarer Urteile. Wie zu Beginn dieses Abschnitts gesehen, besteht eine Dimension der erforderlichen näheren Charakterisierung des metaethischen Relativismus in eben der Frage, ob alle oder nur einige Klassen ethischer Urteile von seiner Diagnose betroffen sind. Chris Gowans hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „mixed position“ geprägt, der eine Kompromissposition zwischen dem Relativismus und seinem metaethischen Mitbewerber, dem Objektivismus, beschreibt.³⁰ Eben eine solche
27 „[T]he view is clearly inconsistent, since it makes a claim […] about what is right and wrong in one’s dealing with other societies, which uses a nonrelative sense of ‚right‘ not allowed for. The claim that human sacrifice, for instance was ‚right for‘ the Ashanti comes to be taken as saying that human sacrifice was right among the Ashanti, and this in turn as saying that human sacrifice among the Ashanti was right; i. e., we had no business to interfere with it. But this last is certainly not the sort of claim allowed by the theory.“ (Williams 1976, 20) 28 Vgl. Long 2011, 319. 29 Siehe Forst 2003, 640 und Rawls 1993, xxiv als die auch von Forst (in der deutschen Fassung) zitierte Stelle. 30 Vgl. Gowans 2008, 6.
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Zwischenstellung ist es, die beide Theorien des guten Lebens anstreben, um den eingangs erwähnten, konträren Intuitionen hinsichtlich der Offenheit bei der Auswahl der eigenen Lebensweise bei gleichzeitiger Möglichkeit ihrer kritischen Evaluation Rechnung tragen zu können. Dabei begründen sie über die starke Stellung menschlicher Autonomie einerseits die relativistische Rechtfertigung dafür, dass auch gegen potentielle oder tatsächliche Güter der menschlichen Natur Entscheidungen getroffen werden können, achten aber andererseits darauf, den so etablierten Wert selbstbestimmter Entscheidungen selbst nicht als disponierbar erscheinen zu lassen. Auch der zweiten Herausforderung eines prinzipiell sich schadlos haltenden Liberalismus als rein politischer Theorie lässt sich über den besonderen Hintergrund einer dezidiert substantiell-normativen Theorie, auf welche die liberale Grundhaltung aufsetzt, begegnen: Der so vertretene Liberalismus möchte sich erst gar nicht den Anschein geben, gegenüber verschiedenen Theorien des guten Lebens neutral zu sein; stattdessen inkorporiert er eine davon ja ganz offen und stellt sich somit in Opposition zu den übrigen. Der Fokus des Liberalismus verlagert sich auf diese Weise von der Theorie des guten Lebens hin zur Breite der möglichen Lebensweisen, die mit dieser Theorie kompatibel sind. Hier wird gegenüber den althergebrachten Mitbewerbern eine besondere Flexibilität in Anschlag gebracht, und eben hierfür wird auf Ressourcen des metaethischen Relativismus zurückgegriffen.³¹
31 Darüber hinaus kann natürlich auch ganz grundsätzlich das Bestreben des politischen Liberalismus kritisiert werden, seine Haltung als dezidiert unabhängig von der näheren Begründung der als „Faktum“ konzedierten Vielzahl der Ansichten über das gute Leben zu betrachten. Denn während man sich in der Tat philosophisch auf die Frage konzentrieren kann, wie man die als berechtigt angenommene Pluralität unterschiedlicher Auffassungen zum guten Leben innerhalb einer Gesellschaft bestmöglich realisieren kann und sich weiterhin damit begnügen mag, die in demokratischen Gesellschaften weithin geteilte Auffassung von der Richtigkeit dieser Pluralität als Begründung für die Berechtigung dieser Vorannahme auszuweisen, macht dies doch nicht die Frage überflüssig, ob und inwiefern diese weithin vertretene Auffassung selbst gerechtfertigt ist. Unterschiedliche metaethische, dazu einen epistemologischen Standpunkt einnehmende Positionen – die Annahme eines ethischen Nihilismus, Skezptizismus, Pluralismus oder Relativismus mit Bezug auf das gute Leben – können hier die notwendige Antwort liefern. Die Ansicht jedoch, die Erforderlichkeit einer solchen Grundlage und deren Begründung abweisen zu können, wäre selbst in höchstem Maße begründungsbedürftig, nicht zuletzt weil die Annahme über die Richtigkeit der eigenen Konzeption des guten Lebens für jeden Einzelnen hohe praktische Relevanz hat. Würde sich etwa nun erweisen, dass es nur eine richtige Vorstellung vom guten Leben gibt und alle übrigen Ansichten dazu offenkundig falsch liegen, ist unklar, weshalb die Fragestellung des Liberalismus zur Möglichkeit der Realisierung unterschiedlicher Ansichten zum guten Leben überhaupt noch von Relevanz ist. Bestreitet man dies und unterscheidet
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10.4 Relativismus oder Objektivismus? Es stellt sich die Frage, ob die so angestrebte Befriedigung der gegenläufigen Intuitionen mithilfe der zusammengeführten Theorieelemente aus objektivistischer Basis und relativistischer Ausgestaltung in sich stabil bleibt. Im Folgenden werde ich dies verneinen und dafür die beiden Theorien des guten Lebens von Nussbaum und Rassmusen/Den Uyl noch einmal genauer in den Blick nehmen. Meine Kritik erhebt dabei den Anspruch, derart verallgemeinerbar zu sein, dass sich wenigstens nicht ohne weiteres vernachlässigbare Schwierigkeiten für die beiden liberalen Theorietypen ergeben, die durch die beiden vorgenannten konkreten Theorien illustriert werden können. Ich beginne mit der Theorie von Rasmussen und Den Uyl. Der objektive Rahmen jedes guten Lebens wird mithilfe einer teleologisch interpretierten menschlichen Natur im aristotelischen Sinn abgesteckt, die mit derartiger normativer Kraft ausgestattet zum Ideal menschlichen Strebens erklärt wird. Damit dieses Ideal den liberalen Grundgedanken nicht verwässert, wird das daraus abgeleitete menschliche Gut so ausgestaltet, dass es in den Worten der Autoren zu einer „essentially […] individualized, agent-relative, and self-directed (or chosen) activity“ wird.³² Dass das Führen eines guten Lebens auf das gute Leben des einzelnen Menschen bezogen ist und unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Lebensweisen Erfüllung finden können, sollte sowohl dem liberalen Pluralisten wie dem Skeptiker und auch dem Vertreter einer substantiellen, auf der Ebene konkreter Handlungsnormen einsetzenden Theorie des guten Lebens keine Probleme bereiten. Wir werden im letzten Abschnitt auf die pluralistischen Manövriermöglichkeiten von letzterem zurückkommen. Rasmussen und Den Uyl wenigstens wähnen sich im Lager der PluralismusBefürworter, wie sie in ihrer Auseinandersetzung mit Isaiah Berlin herauszustellen versuchen. Darüber hinaus grenzen sie sich explizit von der hier im Zentrum stehenden (meta‐)ethischen Position ab: „[W]e hold […] that ethical relativism is an inadequate moral theory.“³³ Gegeben der oben konzedierten breiten Akzeptanz der ersten beiden Merkmale des menschlichen Guts für eine Vielzahl von Theorien des guten Lebens, hängt somit alles an der dritten von ihnen ausgemachten Eigenschaft: Das menschliche Gut muss „selbstgesteuert“ (self-directed) sein, sich
etwa, wie oftmals üblich, zwischen „für wahr gehaltenen“ und „vernünftigerweise vertretbaren“ Ansichten, noch dazu unter expliziter Anerkennung eines diesbezüglichen Auseinanderfallens zwischen praktischer und theoretischer Vernunft (vgl. Rawls 1993, 55), ist man bereits mitten im epistemologischen Teil der metaethischen Debatte. 32 Rasmussen/Den Uyl 2005, 185. 33 Rasmussen/Den Uyl 2005, 338.
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also nicht allein auf das einzelne Leben herunterbrechen lassen, sondern auch von diesem ausgehen. – Daraus ergibt sich die Frage, ob und gegebenenfalls welchen normativen Beschränkungen der Prozess der Selbststeuerung unterworfen ist. Die Autoren wollen normative Ansprüche, die an ihren zentralen Begriff zur Bestimmung des menschlichen Guts („the very essence of human flourishing“³⁴) herangetragen werden, erkennbar niedrig halten. Sie verneinen jegliche normativ aufgeladenen Prinzipien, welche a priori eine inhaltliche Beschränkung des über die Selbststeuerung gewählten menschlichen Guts vornehmen wollen, und grenzen sich dementsprechend auch explizit von einer anspruchsvollen Konzeption des Begriffs ab, die sich einer „full-blown Millean or Kantian autonomy“ annähert oder die korrekte Ausübung der Selbststeuerung von Ergebnissen abhängig macht, wie sie „the perfected self where one is fully rational“ aufweisen würde.³⁵ Als einzige Determinante geben sie eine eigenwillige Interpretation von Aristoteles’ Konzeption der phronēsis: Demnach gilt es für den einzelnen Handelnden, eine „proper balance“ zwischen den einzelnen menschlichen Gütern zu finden, die ein gelungenes Leben auszeichnen: Put generally, practical wisdom is the intelligent management of one’s life so that all the necessary goods and virtues are coherently achieved, maintained, and enjoyed in a manner that is appropriate for that individual human being.³⁶
Der bloße Bezug auf Kohärenz, der nicht weiter qualifiziert, sondern in seiner genauen Ausgestaltung der Freiheit der individuellen Person anheimfällt, scheint nun die schwächstmögliche Beschränkung zu sein, die einem sich „objektiv“ gebenden Objektivismus überhaupt einfallen kann. Verdeutlicht man sich noch einmal, dass die übrigen Güter selbst in ihrer bloßen Akzeptanz vom Willen des Einzelnen abhängen,³⁷ scheinen annähernd beliebige Gewichtungen möglich. So scheint eine ganz aufs Geldverdienen angelegte Lebensweise ebenso legitim zu sein wie ein dem Müßiggang gewidmetes Leben: Dafür wird wenig mehr erfordert, als dass man das jeweils konkurrierende menschliche Gut (Freizeit- vs. Arbeitsbedürfnis) in seinem praktischen Handeln einfach ganz konsequent (und kohärent) ausschließt.
34 Rasmussen/Den Uyl 2005, 86 f. 35 Rasmussen/Den Uyl 2005, 88. 36 Rasmussen/Den Uyl 2005, 87. 37 „[The different human goods] are […] wide abstractions that help to outline the general character of human flourishing; they take on actuality and value only in relation to and because of the efforts of individual human beings. It is thus an error to suppose that they can be fulfilled in any manner apart from individuative and agent-relative considerations.“ (Rasmussen/Den Uyl 2005, 171; Hervorhebung von S.M.)
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Es ist natürlich kein Zufall, dass prominente metaethische Relativisten, weit davon entfernt, sich auf die Plumpheit der „Anything Goes“-Position des Nihilismus einzulassen, allesamt dem Kriterium der Kohärenz der moralischen Einstellungen innerhalb des jeweils Handelnden einen großen Stellenwert einräumen. Gilbert Harman spricht von der Wahl derjenigen Prinzipien als Bestimmungsgründen des eigenen Handelns, „which will promote the coherence of your resulting overall view.“³⁸ Und auch Bernard Williams betrachtet Kohärenz als wichtigstes Kriterium bei der Festlegung des ethisch Gesollten innerhalb der praktischen Deliberation.³⁹ Im Ergebnis steht also das einzige mit den Händen zu greifende Kriterium zur Auswahl unterschiedlicher Lebensweisen auch Relativisten zur Verfügung, der aristotelische Unterbau mitsamt der teleologisch ausgerichteten menschlichen Natur erweist sich in seiner näheren Ausgestaltung von einer in normativer Hinsicht minimalistisch gedachten „Selbststeuerung“ abhängig. Gegen den eigenen Anspruch entpuppt sich ein solcher „Objektivismus“ als Relativismus im Schafspelz, die Kritikfähigkeit von individuellen Lebensentwürfen fällt derart schmal aus, dass die Theorie den eingangs ausgegebenen Intuition nicht gleichermaßen gerecht werden kann. Nussbaums Konzeption geht demgegenüber einen wichtigen Schritt weiter in Richtung eines aristotelisch inspirierten Objektivismus. In ihrer Version menschlicher Güter sind diese in ihrer Akzeptanz und Gewichtung nicht vom Wert einer liberal interpretierten praktischen Deliberation abhängig; stattdessen, und hierin besteht die objektivistische Weiterentwicklung, herrscht nun ein wechselseitiges Geben und Nehmen vor: In Teilen übertrumpft die Wertigkeit wichtiger menschlicher Güter wie Gesundheit diejenige des autonomen Vernunftgebrauchs, in anderen Fällen ist es genau umgekehrt. So schreibt Nussbaum etwa: [M]ost modern nations treat health and safety as things not to be left altogether to people’s choices: building codes, regulation of food, medicine, and environmental contaminants, all these restrict liberty in a sense. […] [H]ealth and bodily integrity are so important in relation to all the other capabilities that they are legitimate areas of interference with choice up to a point, although there will rightly be disagreement about where that point is in each area.⁴⁰
38 Harman 2000, 56. 39 Williams spricht hier von der „perception of unexpected similarities“ (1995, 38) während des Prozesses praktischer Deliberation, was im Effekt auf eine Angleichung der eigenen kognitiven wie nonkognitiven Einstellungen unter kohärentistischen Gesichtspunkten hinausläuft. 40 Nussbaum 2000, 91, 95.
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An anderer Stelle aber billigt sie selbst der autonom ausgeführten Entscheidung zum gemäß ihrer Gütertheorie Grundfalschen dennoch einen eigenständigen Wert zu: [In our] conception we are protecting and promoting spheres of choice in a way that shows respect for people’s desires, even their mistaken desires, so long as these involve no harm to others. […] [It] makes room for these inadequate desires and respects them, and choices motivated by them […]. In these ways, it aims to respect persons even when they are not wise.⁴¹
Der Grund für diese Zwischenposition, ihr als zentral eingestuftes Gut des Vermögens praktischer Vernunft, gerät dabei in einen Zwiespalt: Auf der einen Seite erhält selbige als Betätigung einen genuinen Wert zugesprochen, der Respekt einfordert, um das Bemühen von Personen, selbst das Gute erkennen zu wollen und sich nicht nur danach zu verhalten, entsprechend zu würdigen: „[W]e think of persons in a certain way, namely as creatures of whom it is true that the fact that they reach out for something has itself some importance, some dignity. […] [We have to show this] by giving their desires some weight.“⁴² Auf der anderen Seite verwendet sie annähernd zwei Drittel des zweiten Kapitels von Women and Human Development darauf, die zahlreichen Unsicherheiten und Fallstricke darzustellen, die eine zu große Fokussierung auf die konativen Zustände von Personen zur Folge hat. Am Ende ihrer Kritik steht die eher kärgliche Ausbeute, dass diesen primär nur eine heuristische Funktion bei der Validation potentieller Kandidaten für menschliche Güter zukommt. Auch die Quantifizierung dieser Funktion zeugt nicht gerade von großem Zutrauen in die rechtfertigenden Fähigkeiten unserer Sehnsüchte und Wünsche: Ihnen sei zumindest „ein klein wenig“ zu vertrauen.⁴³ Der normativ-substantiell gedeuteten Liste menschlicher Güter steht nun also ein einzelnes Element daraus gegenüber, was im Zuge des erkennbaren Bemühens Nussbaums, daraus einen harmonischen Gleichklang zu erzeugen, zu mindestens drei Dissonanzen für die Gesamttheorie führt: Zum ersten ist wie gerade ausgeführt unklar, wie die als gering eingeschätzte eigenständige Fähigkeit konativer Zustände zur ethischen Rechtfertigung unseres Strebens solch gewaltige Umwälzungen für die Gesamtliste zur Folge haben kann; immerhin werden dank der Fähigkeit praktischer Deliberation alle übrigen Positionen der Menge menschli-
41 Nussbaum 2000, 161. 42 Nussbaum 2000, 146. 43 Vgl. Nussbaum 2000, 156. Im Original steht „a little bit“.
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cher Grundgüter vom Status des Tätigkeit auf denjenigen der Befähigung zurückgestuft.⁴⁴ Zum zweiten liefert Nussbaum meines Wissens nirgendwo eine auch nur einigermaßen genaue Skizze, wie die in vielen Fällen widerstreitenden Ansprüche der Ergebnisse praktischer Deliberation einerseits und schützenswerter menschlicher Güter andererseits versöhnt werden könnten. Hinsichtlich der zu Beginn dargestellten Intuitionen über Bewertbarkeit und Freiheit menschlicher Lebensweisen mag es ihr so zwar gelingen, beide Seiten theoretisch fundieren zu können; allerdings ist damit für eine Theorie des guten Lebens noch nicht viel gewonnen, wenn es nicht gelingt, deren normative Hierarchie zu klären. Zum dritten ist überhaupt zweifelhaft, ob die Begründung für den eigenständigen Wert eines Tätigseins praktischer Vernunft stichhaltig ist: Das von Nussbaum beschriebene Bemühen, das eigene Leben am eigenständig als gut Erkannten auszurichten, mag ein ebenso wertvoller wie zentraler Aspekt unserer Natur sein; dass man dies jedoch am besten dadurch respektiert, indem man bei begründeter Vermutung hinsichtlich des Fehlgehens eines solchen Strebens selbiges im Ergebnis einfach zulässt, wirkt wenig schlüssig.
10.5 Alternativen zur Verbindung von Tugendethik und Autonomie Im Ergebnis kann also weder die Einbringung des Wertes von Autonomie als notwendige Bedingung aller Formen des guten Lebens (Rasmussen/Den Uyl) noch deren besondere Gewichtung innerhalb der relevanten Güter eines solchen Lebens (Nussbaum) eine stabile und nachvollziehbare Rechtfertigung für den besonderen Status geben, der Gründen für oder gegen das Führen einer bestimmten Lebensweise zukommt. Im ersten Fall erweist sich die relativistische Komponente, welche die Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen, annähernd an die Grenze zur Beliebigkeit bringt, als überbetont; im zweiten Fall ergibt sich ein instabiles Konglomerat gegeneinander stehender Ansprüche, deren normative Hierarchie unklar bleibt und deren allgemeine Systematik nicht befriedigen kann. Zur Prüfung der weiteren Möglichkeiten liegt es nahe, die übrig bleibenden Schritte zu tun: Autonomie als normativ-minimalistisch interpretierter Wert ist den übrigen Elementen des guten Lebens nicht mehr über- oder zumindest vorgeordnet, sondern bei- oder gar untergeordnet. Wir wollen die Plausibilität solcher
44 Vgl. Nussbaum 2000, 88.
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Theorien im verbleibenden Rest des Abschnittes wiederum anhand zweier konkreter Vertreter erkunden. Als Beispiel für die Beiordnungs-Strategie steht an prominentester Stelle der Philosoph Joseph Raz. Der von ihm verfolgte Perfektionismus erkennt den Wert ausgeübter Autonomie in der Möglichkeit von Personen an,Verantwortung für das eigene Leben zu nehmen; dies versteht sich nicht allein negativ in dem Sinne, dass Personen diese Handlungen zugerechnet werden können; vielmehr geben sie ihnen positiv die Möglichkeit, sich mit ihnen zu identifizieren: „[Autonomy includes] the basic idea of being the author of one’s life.“⁴⁵ Diese Idee ist für Raz nicht mit dem Wunsch nach Selbstverwirklichung oder der Entwicklung von Personalität zu verwechseln; auch Personen, die ihre Talente nicht ausbauen und vervollkommnen wollen, können autonom handeln. Erforderlich ist demgegenüber das Vorliegen eines angemessenen Rahmens unterschiedlicher Optionen („adequate range of options“), die einer Person sowohl für alltägliche Entscheidungen als auch bei der Auswahl größerer Lebensentwürfe gegeben sein müssen: „It is intolerable that we should have no influence over the choice of our occupation or of our friends. But it is equally unacceptable that we should not be able to decide on trivia such as when to wash or when to comb our hair.“⁴⁶ Diese Bestimmungen hinsichtlich des Werts und Inhalts von Autonomie legt Raz mindestens auf einen metaethischen Pluralismus fest, wie wir ihn weiter oben charakterisiert haben. Eben dies räumt Raz auch unumwunden ein.⁴⁷ Versteckt sich hinter dieser Bezeichnung aber ähnlich wie bei Rasmussen und Den Uyl nicht ebenfalls ein Relativismus? Wie frei ist man in seiner autonomen Auswahl von Lebensentwürfen? Raz lässt hier nichts an Deutlichkeit vermissen: [There is] an issue of great importance to the understanding of the relation between autonomy and other moral values. No one would deny that autonomy should be used for the good. The question is, has autonomy any value qua autonomy when it is abused? Is the autonomous wrongdoer a morally better person than the non-autonomous wrongdoer? Our intuitions rebel against such a view. It is surely the other way round. The wrongdoing casts a darker shadow on its perpetrator if it is autonomously done by him.⁴⁸
45 Raz 1986, 374. 46 Ebd. 47 „A moral theory which recognizes the value of autonomy inevitably upholds a pluralistic view.“ (Raz 1986, 381) 48 Raz 1986, 380.
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Offenkundig ergibt die hier von Raz ausgeführte Unterscheidung nur dann Sinn, wenn autonome Entscheidungen nicht per se gute Werte hervorbringen. Bis hierhin wäre das allerdings lediglich ein Hinweis darauf, dass Autonomie alleine nicht hinreichend zur Hervorbringung von Werten ist. Ist sie aber vielleicht notwendig in dem Sinn, dass nur durch sie Werte des guten Lebens durch den Handelnden angelegt werden können? – Auch diese Möglichkeit wird von Raz verneint: Some philosophical traditions emphasize self-creation. Sometimes this has been exaggerated into a doctrine of arbitrary self-creation based on the belief that all value derives from choice which is itself not guided by value and is therefore free, i. e. arbitrary. The views explained above neither derive from nor support any such conception. On the contrary, they presuppose independently existing values which are transformed and added to by the development of one’s projects and commitments.⁴⁹
Nach Raz erhält Autonomie zwar einen nicht zu ersetzenden Wert⁵⁰ für das Führen eines guten Lebens zugesprochen, ist aber in ihrer Manövrierfähigkeit eingeschränkt, insofern sie sich in ihrer Ausübung auf andere Aspekte des Guten für den Menschen beziehen muss, selbst also nicht im strengen Sinn⁵¹ wertbildend ist. Gleichzeitig gelingt es über den von ihm vertretenen Pluralismus, den gefühlten Wert einer eigenständigen Auswahl aus der Palette annehmbarer Alternativen nachzubilden (das Bild der Person als „maker or author of his own life“). Ist der Bereich verfügbarer Optionen je Individuum nur groß genug, kann dadurch auch dem Eindruck von mehreren gleichermaßen legitimen Lebensentwürfen entsprochen werden. Während Autonomie bei Raz den übrigen Werten immerhin noch insoweit beigeordnet ist, dass sie im Zusammenspiel mit diesen einen eigenständigen Beitrag zum guten Leben jedes Menschen liefert, können weiterhin auch Positionen ausgemacht werden, die eben diese Eigenständigkeit bestreiten. Gegeben der oben eingeführten Beschreibung eines Liberalismus, der Freiheit im Sinne von Autonomie ins Zentrum seiner Axiologie stellt, sind diese dementsprechend als non-liberalistisch einzustufen. Ein wichtiger Vertreter dieser Tradition ist der Rechtsphilosoph Robert P. George.
49 Raz 1986, 387 f. 50 So spricht Raz von Autonomie als „a constituent ingredient of the good life“ (Raz 1986, 408). 51 In einem erweiterten Sinn gesteht Raz dies allerdings zu. Siehe Raz 1986, 389 f.
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George hebt die große Übereinstimmung hervor, die er zwischen sich und seinem akademischen Lehrer Raz wahrnimmt. Dennoch betrachtet er dessen Betonung des intrinsischen Wertes von Autonomie als fehlgeleitet: Were autonomy something intrinsically good, it would, I think, be necessary to conclude either that something intrinsically valuable is realized in autonomous but wicked choices, namely, the intrinsic value of autonomy, or that wicked choices are, by definition, never autonomous.⁵²
Wie wir jedoch gerade gesehen haben, verneint Raz explizit diese beiden Optionen. George schlägt daher vor, den Wert von Autonomie, „understood as the effective freedom (from internal compulsions and neurotic impediments as well as from external constraints) to bring reason to bear in making self-constituting choices“,⁵³ als Vorbedingung für das eigentlich intrinsisch Gute zu sehen, weswegen wir Autonomie wertschätzen können: Autonomy appears to be intrinsically valuable because something really is more perfect about the realization of goods when this realization is the fruit of one’s own practical deliberation and choice. The additional perfection is provided not by autonomy, however, but by the exercise of reason in self-determination.⁵⁴
Alleine die tatsächliche Befolgung der „vernünftigen“ Alternativen (für George gleichzusetzen mit „morally upright choosing“) lässt autonome Wahl als intrinsisch wertvoll erscheinen, nicht die bloße Möglichkeit dazu. Mit dieser Annahme lässt sich George definitiv nicht in die Riege des klassischen Liberalismus einordnen.⁵⁵ Wie kann es ihm dann aber gelingen, sich auf eine Vielzahl gangbarer Wege mit dem Ziel eines guten Lebens einzulassen? – George sieht jedenfalls die Notwendigkeit, sich in entscheidenden Punkten vom Perfektionismus eines Aristoteles zu distanzieren: Without adopting the relativistic view which sees the good as so radically diverse that whatever people happen to want is good, we can and should recognize a multiplicity of basic human goods and a multiplicity of ways that different people (and communities) can pur-
52 George 1993, 175. 53 George 1993, 176. 54 George 1993, 176 f. 55 Was ihn jedoch nicht unbedingt jenseits aller möglichen Charakterisierungen von „Liberalismus“ stellt: Siehe Wolfe 2006, 127, Fn. 82.
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sue and organize instantiations of those goods in living valuable and morally upright lives.⁵⁶
Sowohl die irreduzible Vielzahl an befolgungswürdigen, aber nicht gleichzeitig befolgungsfähigen Gütern als auch die vielen Arten, diese zu realisieren, bieten breiten Raum für Auswahl. Zusätzlich kann argumentiert werden, dass unter Rückgriff auf die oben aufgeworfene Möglichkeit eines notwendigerweise aus den individuellen Gegebenheiten des Handelnden sich ergebenden guten Lebens die Meinungen und Wünsche desjenigen, der ein solches Leben führen muss, bereits aus epistemologischen Gründen vorrangig sind: Er wird nicht zuletzt aus seiner Innenperspektive heraus eine besonders privilegierte Zugangsweise zur Erkenntnis seiner Talente, den (ethisch rechtfertigbaren) Wünschen und den ihm zur Verfügung stehenden Wegen, ein gutes Leben zu führen, haben. Somit können sowohl aus Rasmussens und Den Uyls „essentially […] individualized, agent-relative“ Konzeption des menschlichen Guts als auch aus Nussbaums Verteidigung der heuristischen Rolle von Präferenzen wichtige Einsichten gewonnen werden, um die weit verbreitete Auffassung der bedeutenden Rolle, die dem Einzelnen bei der Bestimmung des guten Lebens zukommen sollte, zu stützen. Allerdings erweisen sich beide als sogar mit einer Theorie des rein extrinsischen Werts von Autonomie kompatibel. Und auch der zu Beginn zitierte Pico della Mirandola sollte sich bestätigt fühlen; er fragt selbst nach dem Zweck der Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen: Aber wozu dies? […] [D]amit wir uns die freie Wahl, die uns Gottvater gegeben hat, nicht durch Missbrauch seiner gütigen Großzügigkeit von etwas Heilsamen zu etwas Schädlichem machen. Ein heiliger Ehrgeiz dringe in unsere Seele, dass wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmäßigen, nach dem Höchsten verlangen und uns mit ganzer Kraft bemühen, es zu erreichen – denn wir können es, wenn wir wollen.⁵⁷
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56 George 1993, 38. 57 Pico della Mirandola 1990, 11.
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10 Tugendethik, Liberalismus und die Frage nach dem guten Leben
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11 Pflichten gegen sich selbst und die Frage nach dem guten Leben 11.1 Einleitung Im Schatten der gewaltigen Renaissance der Frage nach dem guten Leben ist in den letzten Jahren eine Diskussion um die Frage nach der Existenz von Pflichten gegen sich selbst entstanden, die zwar ihrem Umfang nach vergleichsweise gering ausfällt,¹ aber dennoch lebhafte Kontroversen ans Licht gebracht hat.² Dass die gegenwärtige Debatte um das gute Leben von dieser Diskussion bislang so gut wie keine Notiz genommen hat, muss überraschen, handeln doch beide von einem (wenigstens auf den ersten Blick) sehr ähnlichen, wenn nicht identischen Gegenstand: Im Kern geht es um die Frage, ob die eigene Lebensführung jenseits tatsächlicher subjektiver Präferenzen und Wünschen einer objektiven normativen Bewertung zugänglich ist. Theorien, die die Existenz von Pflichten gegen sich selbst einschließen, teilen mit objektiven Theorien des guten Lebens³ die Überzeugung, dass diese Frage zu bejahen ist. Ähnlich wie etwa ein Vertreter einer objektiven Theorie des guten Lebens sagen könnte, zum guten Leben gehöre die Entfaltung zumindest einiger seiner Talente, wird mancher Verfechter der Existenz von Pflichten gegen sich selbst die Pflicht formulieren, man solle seine (oder zumindest einige seiner) Talente entwickeln. Es mag aufgrund der inhaltlichen Nähe nicht überraschen, dass Pflichten gegen sich selbst im Laufe der Philosophiegeschichte – wenn auch mit einer kurzen Verschiebung – von einem ähnlichen Schicksal ereilt wurden wie die Objektivität des guten Lebens: Wenngleich nur für wenige antike Autoren ausdrückliche Belege für die Existenz von Pflichten gegen sich selbst genannt werden können⁴ – was nicht zuletzt an einer Verschiebung des zur philosophischen
1 Lorenz Kähler spricht deshalb in einer noch unveröffentlichten Arbeit von den „vergessenen Pflichten gegen sich selbst“; vgl. Kähler 2007. 2 Für den deutschsprachigen Raum vgl. insbesondere Lohmar 2005 und 2007; Tiedemann 2007; Schaber 2010, 61 – 80 und von der Pfordten 2010, 272 – 280; für den englischsprachigen Raum insbesondere Hills 2003 und Timmermann 2006. 3 Zum Gegensatz von subjektiven und objektiven Theorien des guten Lebens vgl. Steinfath 1998, Abschnitt 4 und den Beitrag von Markus Rüther in diesem Band. 4 Zu den relativ deutlichen Beispielen des Vorkommens von Pflichten gegen sich selbst zählen die Diskussion einer „Ungerechtigkeit sich selbst gegenüber“ bei Aristoteles
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Theoriebildung verwendeten Vokabulars liegt –, scheint deren Existenz in der Vormoderne kaum angezweifelt zu werden. In der Neuzeit erlebt das Thema der Pflicht gegen sich selbst bei Autoren wie Pufendorf, Baumgarten und Kant zunächst seine Blütezeit,⁵ um dann seit dem 19. Jahrhundert entweder übergangen zu werden, oder sich in einer radikalen Kritik an der Existenz solcher Pflichten zu erschöpfen.⁶ Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist wieder ein leicht verstärktes Interesse zu beobachten.⁷ Sie spielen heute in der kantianisch ausgerichteten Ethik sowie in den Debatten um Perfektionismus und Paternalismus eine Rolle; dabei geht es insbesondere um die Frage, ob der Begriff der Menschenwürde Pflichten gegen sich selbst rechtfertigt, die sogar im positiven Recht zu berücksichtigen wären.⁸ Daneben spielt die Pflicht gegen sich selbst (freilich ohne die genannte Unterbrechung im 19. und 20. Jahrhundert) in der katholischen Moraltheologie eine bedeutende Rolle; am populärsten ist hier sicherlich der Bereich der Sexualethik. Verschiedene Theorien, die Pflichten gegen sich selbst umfassen, sprechen dem Inhalt solcher Pflichten einen sehr unterschiedlichen Umfang zu. Teils kennen sie nur ganz fundamentale Pflichten wie das Verbot der Selbsttötung, der Selbstverstümmelung, und das Verbot, sich selbst zum Sklaven eines anderen zu machen. Andere Theorien, die man als ‚schwach perfektionistisch‘ bezeichnen kann, sehen in der Erhaltung der eigenen Autonomie oder der Vervollkommnung
(Nikomachische Ethik, 1138b), welche offensichtlich der Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst gleichkommt, und die Forderung eines naturgemäßen Lebens in der Stoa; Cicero etwa formuliert im Anschluss an die Stoa, es sei „so zu handeln“, dass wir „unsere Zielsetzungen an unserer Natur messen“ (Cicero, De officiis, 1. Buch, §110). 5 Die Blütezeit der Pflichten gegen sich selbst fällt damit interessanterweise genau in den Zeitraum, in dem die Thematik des guten Lebens zunehmend aus der philosophischen Diskussion verschwindet. 6 Zu den frühen Kritikern gehören Schopenhauer und Mill; im 20. Jahrhundert sind etwa Marcus G. Singer und Bernard Williams zu nennen. Vgl. Mill, Über die Freiheit, Kapitel 4, 107 ff.; Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, 126 f.; Singer 1959 und Williams 1985, 182; für letzteren sind Pflichten gegen sich selbst nicht weniger als „fraudulent items“ z. B. im Dienste ökonomischer Interessen. 7 Goertz erwägt sogar eine „Rückkehr der Pflichten gegen sich selbst“; vgl. Goertz 2004. Dass die Annahme der Existenz von Pflichten gegen sich selbst heute trotz des aufkommenden Interesses alles in allem eher einer Mindermeinung darstellt, belegt Durán Casas mit zahlreichen Literaturhinweisen; vgl. Durán Casas 1996, 117. Für Beispiele von Verteidigern der Existenz von Pflichten gegen sich selbst siehe Fußnote 8. 8 Für den Kantianismus vgl. z. B. Timmermann 2006; Schönecker 2010; Esser 2004; Reath 2006; Denis 2010; für den Perfektionismus Raz 1986 und 1994 sowie Hurka 1993; zu ihrem Verhältnis zur Menschenwürde Schaber 2010; zur Bedeutung für die Rechtsphilosophie und das geltende Recht Köhler 2006.
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der eigenen Handlungsfähigkeit Pflichten gegen sich selbst.⁹ Eine dritte, entsprechend ‚stark perfektionistische‘ Gruppe von Theorien – die Übergänge sind sicher fließend – sieht die Vervollkommnung seines Charakters und seiner Talente, das Leben gemäß der normativ verstandenen ‚Natur‘, das eigene Glück oder sogar das gute Leben als Inhalt von Pflichten an – wobei an dieser Stelle noch unklar bleiben muss, was mit der Pflicht, ein gutes Leben zu führen, gemeint sein kann.¹⁰ Versucht man, diese drei Theoriegruppen, soweit das auf den ersten Blick möglich ist, ihrem Inhalt nach in Beziehung zur Frage nach dem guten Leben zu setzen, so handelt es sich erstens um Pflichtinhalte, die fundamentale Bedingungen des guten Lebens sichern sollen – wer gar nicht mehr lebt, lebt auch nicht mehr gut –, zweitens um Inhalte, die selbst bereits ein Bestandteil des (objektiv verstandenen) guten Lebens sind, aber das gute Leben nicht erschöpfend beschreiben – Autonomie kann selbst als intrinsischer Wert aufgefasst werden, aber sie eröffnet zugleich die Möglichkeit, weitere intrinsische Werte zu realisieren¹¹ –, und drittens um Inhalte, die (zumindest auf einen bestimmten Lebensbereich bezogen) sämtliche objektiv zu verstehende Bestandteile des guten Lebens darstellen, also alles umfassen, was man bewusst für sein gutes Leben tun kann.¹² Es liegt auf der Hand, dass für die hier gewählte Thematik die erste Gruppe weniger relevant ist – dass jemand, der sich selbst zum Sklaven macht, wenig Aussichten auf ein (wie auch immer verstandenes) gutes Leben hat, ist relativ unstrittig.¹³ Für die Frage nach einer möglichen substantiellen Bestimmung des Inhalts des guten Lebens innerhalb einer objektiven Theorie sind dagegen die zweite und dritte Gruppe von größerem Interesse. Wenn ich im Folgenden der Frage nach dem Verhältnis zwischen Pflichten gegen sich selbst und objektiven Theorien des guten Lebens nachgehe, geht es allerdings überwiegend nicht um den möglichen Inhalt der Pflichten gegen sich
9 Vgl. Bormann 2011 sowie sein Beitrag in diesem Band; Raz 1986, 407 ff. Siehe allerdings die Bemerkung zu Raz in Fußnote 62. 10 Für die Vervollkommnung seines Charakters steht paradigmatisch Kant (vgl. Kant, Tugendlehre, 515). Ein Leben gemäß der menschlichen Natur wird in der Stoa und in Anlehnung daran bei Cicero gefordert; heute vertritt dies etwa Hurka; vgl. Hurka 1993. Das eigene Glück ist für Hills Gegenstand einer Pflicht; vgl. Hills 2003. Wall formuliert die Pflicht, ein gutes Leben zu führen; vgl. Wall 2008. 11 Vgl. dazu den Beitrag von Sebastian Muders in diesem Band. 12 Womit nicht impliziert ist, dass man auch Erfolg damit hat. 13 Es ist zwar ein Unterschied, ob das Verbot, sich zu versklaven, als Klugheitsgebot oder als Pflicht aufgefasst wird. Trotz dieses Unterschieds werden aber vermutlich alle darin übereinkommen, dass sich jeder, der dagegen verstößt, einer Voraussetzung des guten Lebens beraubt.
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selbst. Stattdessen möchte ich dafür argumentieren, dass die Debatte um das gute Leben in wenigstens zwei Hinsichten an den Kontroversen um die Existenz von Pflichten gegen sich selbst prinzipiell nicht vorbei kommt: Gibt es Pflichten gegen sich selbst, dann ist nach einem gewissen Verständnis der Frage nach dem guten Leben auch eine objektive Theorie des guten Lebens gegeben; sind Pflichten gegen sich selbst undenkbar, dann wird es schwer einzusehen, was eine objektive Theorie des guten Lebens noch leisten kann. Dazu möchte ich nach einigen kurzen Überlegungen zum Begriff der Pflicht gegen sich selbst (Abschnitt 11.2) zunächst zeigen, dass ausgehend von der Bejahung von Pflichten gegen sich selbst eine gewissermaßen deontologisch fundierte objektive Theorie des guten Lebens möglich ist (Abschnitt 11.3). Da die Existenz von Pflichten gegen sich selbst aber wenigstens einer fundamentalen Schwierigkeit ausgesetzt ist (Abschnitt 11.4), stellt sich die Frage, ob eine Theorie des guten Lebens möglich erscheint, die jedenfalls ihrer Grundlage nach nicht auf Pflichten gegen sich selbst Bezug nimmt (Abschnitt 11.5). In diesem Zusammenhang wird abschließend diskutiert, ob eine solche, typischerweise wertbasierte Theorie nicht auf die Annahme der Existenz von Pflichten gegen sich festgelegt ist. Die prinzipielle Angemessenheit einer objektiven Theorie des guten Lebens, die sicherlich gewichtigen Einwänden ausgesetzt ist, ist damit kein Gegenstand meiner Überlegungen.
11.2 Der Begriff der Pflicht gegen sich selbst Ob es Pflichten gegen sich selbst gibt, und welche Rolle diese im Zusammenhang mit der Frage nach dem guten Leben spielen können, hängt offenbar wesentlich davon ab, was man unter einer Pflicht gegen sich selbst versteht. Dabei handelt es sich nicht nur um eine rein definitorische Vorentscheidung. Vielmehr spiegeln konkurrierende Bestimmungen der Pflicht gegen sich selbst häufig Unterschiede wider, die das fundamentale Verständnis von Ethik überhaupt betreffen. Kontrovers ist sowohl der Begriff der „Pflicht“ im Allgemeinen als auch der Zusatz „gegen sich selbst“. Die Problematik der Existenz von Pflichten gegen sich selbst erschließt sich offensichtlich nur dann, wenn ein hinreichend enger Pflichtbegriff zugrunde gelegt wird.Wer jede mögliche Handlung, die durchzuführen man einen guten Grund hat, als Gegenstand einer Pflicht ansieht, der kann die Existenz von Pflichten gegen sich selbst nicht bestreiten. Deshalb sollen im Folgenden nur solche Forderungen als Pflichten bezeichnet werden, die in einem weiten Sinn kategorische Geltung aufweisen. Insbesondere müssen Pflichten über bloße Klugheitsregeln hinausgehen, die nur unter der Voraussetzung bestimmter subjektiver Zwecke
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Geltung beanspruchen können:¹⁴ „A self-regarding duty to develop one’s talents, if there is such a duty, is categorical. One has the duty whether or not one has a desire to fulfill it.“¹⁵ In diesem Punkt trifft sich ein wesentliches Merkmal des Pflichtbegriffs mit einem Merkmal objektiver Theorien des guten Lebens, die Unabhängigkeit von faktisch vorhandenen Wünschen. Keine Rolle spielt in meinen Augen, ob Pflichten stets in den Bereich der Moral fallen: Es mag Pflichten geben, denen der moralische Charakter völlig abgeht, oder man mag sich dazu entscheiden, den Begriff der Moral auf Pflichten gegen andere einzuschränken, wodurch Pflichten gegen sich selbst per definitionem keine moralischen Pflichten sein könnten¹⁶ – meine Fragestellung bleibt davon unberührt. Wie ist nun der Zusatz „gegen sich selbst“ zu deuten – was genau ist an einer Pflicht gegen sich selbst das reflexive, selbstbezügliche Moment? Bei Kant heißt es, im Falle einer Pflicht gegen sich selbst sei der „Verbindende“ identisch mit dem „Verbundenen“.¹⁷ Wer der Verbundene ist, ist ziemlich klar, nämlich der Verpflichtete oder das ‚Subjekt‘ der Pflicht. Aber wie ist der „Verbindende“ zu verstehen? Zuweilen wird angenommen, bei Pflichten gegen sich selbst falle der Verpflichtete in dem Sinne mit dem ‚Urheber‘ der Pflicht zusammen, dass der Geltungsgrund der Pflicht im Verpflichteten selbst zu suchen sei.¹⁸ Eine solche Begriffsbestimmung verwischt allerdings den Unterschied zwischen Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere, wie er uns aus der philosophischen Tradition bekannt ist: In einer theistischen Ethik wären demnach alle Pflichten Pflichten gegen einen anderen (nämlich gegen Gott) – auch solche Pflichten, die sich ihrem Inhalt nach nur auf mich beziehen; und in einer Ethik in der kantischen Tradition wären alle Pflichten Pflichten gegen sich selbst, insofern sie ihren
14 Anders etwa Hills 2003, 139 und Tiedemann 2007, 187. 15 Wall 2008. 16 Eine solche Definition der Moral scheint gegenwärtig zu dominieren. Moral sei demnach nicht die weit gefasste Frage, wie ich handeln soll, sondern die Frage, wie ich mich gegenüber anderen zu verhalten habe. Paradigmatisch das Cambridge Dictionary of Philosophy, in dem Moral als System „governing behavior that affects others“ definiert wird; vgl. Gert 1999. 17 Kant, Tugendlehre, 549. 18 So kann man Kant stellenweise verstehen, vgl. Kant, Tugendlehre, 549. Ausdrücklich teilt dies Tiedemann 2007, 180. Schaber formuliert etwas mehrdeutig, der „Grund der Pflicht“ müsse „in der eigenen Person“ liegen; vgl. Schaber 2010, 68. Offensichtlich gibt es aber nicht den einen Grund einer Pflicht, sondern viele Gründe, die zusammengenommen zu einer Pflicht führen. Da die eigene Moralfähigkeit notwendige Bedingung einer jeden Pflicht ist, wäre auch nach dieser Definition jede Pflicht eine Pflicht gegen sich selbst.
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Geltungsgrund in der praktischen Vernunft des Verpflichteten finden.¹⁹ Kants berühmte These, gäbe es keine Pflichten gegen sich selbst, könne es gar keine Pflichten geben,²⁰ ist auf dieses Verständnis zurückzuführen – Kant teilt an anderen Stellen aber den traditionellen Begriff einer Pflicht gegen sich selbst in Abgrenzung zu Pflichten gegen andere. Das geeignete Kriterium ist also nicht in der Frage nach dem Urheber bzw. Geltungsgrund der Pflicht zu suchen, sondern darin, an welche Person sich der Inhalt der Pflicht richtet.²¹ Es liegt nahe, dies so zu verstehen, dass bei Pflichten gegen sich selbst der Verpflichtete identisch mit dem durch die Pflicht Berechtigten sein muss. Dies würde aber die problematische Annahme voraussetzen, dass jeder Pflicht ein Recht korrespondiert. Deshalb lässt sich etwas allgemeiner formulieren, der Verpflichtete müsse identisch mit dem Begünstigten sein, also dem, dem die Pflicht zugutekommt.²² Dies allein reicht kann allerdings noch keine hinreichende Bedingung dafür sein, von einer Pflicht gegen sich selbst zu sprechen. Schließlich kann es auch Pflichten geben, die mich selbst begünstigen, die ich aber anderen schulde – etwa weil ich ihnen etwas versprochen habe, oder weil mein eigenes Wohlergehen Bedingung der Möglichkeit der Erfüllung von Pflichten gegen andere ist.²³ Pflichten gegen sich selbst sind also nur solche Pflichten, deren Begünstigter ich in originärer Weise bin, und nicht nur als Mittel zur Erfüllung einer Pflicht gegen andere. Eine Pflicht gegen mich selbst würde auch dann Bestand haben, wenn ich der einzige Mensch oder das einzige moralfähige Wesen auf der Erde wäre, oder wie Robinson auf einer einsamen Insel lebte. Diese Zusatzbedingung ist nicht gleichbedeutend mit der sehr viel stärkeren Annahme, bei Pflichten gegen sich
19 So ausdrücklich Tiedemann 2007. Ähnlich, aber nicht identisch ist die Sicht Timmermanns: Er geht davon aus, dass jede Pflicht eine Pflicht gegen sich selbst umfasst; Pflichten gegen andere umfassen neben der Pflicht gegen sich selbst auch noch eine Pflicht gegen andere, vgl. Timmermann 2006, 512. 20 Kant, Tugendlehre, 549. Zur Problematik der Deutung dieser Stelle vgl. insbesondere Schönecker 2010 und Timmermann 2006. 21 Das gesteht ausdrücklich auch Lohmar zu; vgl. Lohmar 2007, 293. Lohmar bezeichnet die Person, auf die sich der Inhalt der Pflicht bezieht, etwas verwirrend als „Adressaten“ der Pflicht (Lohmar 2005, 50). Unter dem „Adressaten“ einer Pflicht wird natürlich in anderen Zusammenhängen oft der Verpflichtete verstanden. 22 So auch von der Pfordten 2010, 274 ff. Zu Recht weist von der Pfordten darauf hin, dass es sich natürlich auch um den durch die Pflicht Belasteten handeln kann – dies träfe z. B. zu, wenn es eine Pflicht gäbe, sich selbst für Übeltaten zu bestrafen. Ich lasse diesen Sonderfall, dessen Verhältnis zum guten Leben nicht uninteressant wäre, beiseite. 23 Für Kant ist deshalb die Beförderung der eigenen Glückseligkeit eine indirekte moralische Pflicht, vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 217.
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selbst falle der Urheber der Pflicht mit dem Verpflichteten zusammen – der Urheber bzw. Geltungsgrund der Pflicht mag meine eigene Vernunft, die teleologisch verfasste menschliche Natur, platonische objektive Werte oder Gott²⁴ sein.
11.3 Eine objektive Theorie des guten Lebens auf Basis von Pflichten gegen sich selbst Pflichten gegen sich selbst als Grundlage einer objektiven Theorie des guten Lebens zu wählen, hieße, die (weitgehende) Erfüllung solcher Pflichten als einen notwendigen (wenn auch nicht unbedingt hinreichenden) Bestandteil des guten Lebens anzusehen. Dies ist offensichtlich nur möglich, wenn es prinzipiell denkbar ist, dass die Erfüllung von Pflichten ein Bestandteil des guten Lebens sein kann. Um diese keineswegs unumstrittene Frage geht es zunächst. Nach einem verbreiteten Verständnis der Frage nach dem guten Leben ist ein Leben dann gut, wenn es gut für die Person ist, die das Leben führt. Versteht man das gute Leben in dieser Weise relativ zu einem Subjekt, ist damit noch kein Subjektivismus vorgezeichnet, denn es könnte ja auch unabhängig von Wünschen oder Präferenzen des Subjekts festliegen, was für es gut ist; es könnte sogar in der Gattung Mensch festgeschrieben sein, was für alle Menschen gut ist. Die Erfüllung deontologisch begründeter Pflichten kann unter diesem Vorzeichen allerdings kaum ein notwendiger Bestandteil des guten Lebens sein: Da Pflichten kategorisch gelten, und nicht deshalb, weil sie dem Interesse des Subjekts entsprechen, wäre eine Übereinstimmung von der Erfüllung der Pflicht und dem, was für den Handelnden gut ist, nur zufällig möglich.²⁵
24 Die Frage, ob nach meiner Definition der Pflicht gegen sich selbst theistisch fundierte Pflichten, die sich auf die eigene Lebensführung beziehen, Pflichten gegen mich selbst oder Pflichten gegen einen anderen (Gott) sind, wirft sicherlich Probleme auf. Ich denke aber, dass es ein Missverständnis ist, wenn angenommen wird, im Rahmen des Theismus „schulde“ man Gott einen guten Lebenswandel. Gott wäre zwar Urheber aller Pflichten, aber ich hätte die Pflichten gegenüber anderen moralisch zu berücksichtigenden Wesen, nicht gegenüber Gott (anders allerdings Lohmar 2005, 54 f). Insbesondere wäre es ein Missverständnis anzunehmen, ich hätte die originäre Pflicht, Gott durch mein Handeln zu erfreuen, und alle anderen Pflichten seien von dieser Pflicht abgeleitet. Im Folgenden werden theistisch begründete Pflichten ausgeklammert; es sei aber darauf hingewiesen, dass die Existenz von Pflichten, die die eigene Lebensführung betreffen, unter theistischen Prämissen von den unten diskutierten Problemen nicht getroffen wird (dies betont auch von der Pfordten 2010). 25 Dies ändert sich, wenn eine objektive Theorie des guten Lebens vorausgesetzt wird: Dann könnte ein „objektives Interesse“ des Subjekts angenommen werden, das mit kategorischen Pflichten einhergeht. Für eine solche Theorie siehe Abschnitt 4. Da die Objektivität des guten
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Auf ein solches subjektrelatives Verständnis der Frage nach dem guten Leben, das letztlich auf eine Theorie des Glücks oder Wohlbefindens (well-being) hinauszulaufen scheint,²⁶ ist man freilich nicht festgelegt. Versteht man das gute Leben als Frage danach, wann ein Leben an sich gut ist, liegt es nahe, auf den Bereich kategorischer Pflichten, insbesondere auf moralische Pflichten zurückzugreifen – werden doch moralisch-gute Handlungen typischerweise als diejenigen angesehen, von denen nicht weiter gefragt werden kann, für wen sie gut sind.²⁷ Nun wird heute wohl niemand so weit gehen in stoischer Tradition zu behaupten, das gute Leben erschöpfe sich in moralisch-guten Handlungen.Wer trotz seiner ungetrübten moralischen Einstellung stets vom Pech verfolgt ist, Armut und Krankheiten erleidet – man denke an die biblische Schilderung Hiobs –, führt kein gutes Leben, sondern ist eine bemitleidenswerte gescheiterte Existenz. Das an sich gute Leben muss sinnvollerweise innerhalb dieses Rahmens vielmehr in dem Zusammenfallen von Moralität und Glück bestehen, d. h. in einem glücklichen Leben unter der Bedingung moralischen Handelns. Der prominenteste Vertreter einer solchen Theorie ist sicherlich Kant. Zwar spricht er nicht ausdrücklich vom „guten“ oder „gelingenden Leben“. Aber wenn das gute Leben in aristotelischer Tradition als das letzte und höchste telos verstanden wird, das Menschen anstreben, fällt es mit dem zusammen, was Kant als „höchstes Gut“ bezeichnet hat: Dieses sei die „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen Vernunft“²⁸ und damit die Gesamtheit dessen, was die praktische Vernunft ihrer moralischen und ihrer natürlichen Bestimmung nach anstrebt. Inhaltlich bestimmt Kant das höchste Gut als unter der Bedingung der Tugend erfahrene Glückseligkeit, damit als Zusammentreffen von Bedingtem (Glückseligkeit) und Unbedingtem (Moralität).²⁹ Dass das höchste Gut dadurch nicht selbst zu einem bloß bedingten Wert degradiert wird, möchte Kant dadurch zeigen, dass es in den Augen einer unparteiischen Vernunft als Zweck an sich betrachtet werden muss.³⁰ Obwohl Kant immer wieder zu denen gerechnet wird,
Lebens hier aber erst durch die Existenz von Pflichten gegen sich selbst konstituiert werden soll, können subjektives Interesse und kategorische Pflicht auseinanderfallen. 26 Neben dem Glück könnten etwa Werte oder Sinn als Elemente des guten Lebens aufgeführt werden. Man kann sich allerdings fragen, ob die Erfahrung von Wertvollem und Sinnvollem innerhalb dieses Verständnisses vielleicht nur deshalb zum guten Leben gehören, weil wir uns ohne sie unwohl fühlen würden. 27 Dass die Erfüllung moralischer Pflichten entgegen einem immer wieder vorgebrachten Einwand gegen Kants Ethik nichts ist, was dem guten Leben entgegensteht, sondern durchaus Bestandteil des guten Lebens sein kann und sein sollte, zeigt Kim 1998. 28 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 235. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. ebd., 238.
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die die neuzeitliche Verbannung der Frage nach dem guten Leben maßgeblich vorangetrieben haben, findet die Thematik bei ihm in der Lehre vom höchsten Gut unverkennbar eine Fortführung.³¹ Weil es Kant nicht nur um den Begriff, sondern um die in der uns bekannten Welt immer problematisch bleibende Realisierung eines guten Lebens geht, behandelt er das höchste Gut allerdings im Zusammenhang mit seiner Religionsphilosophie. Was ist gewonnen, wenn das gute Leben in dieser Weise bestimmt wird? Zunächst einmal stellt der kantische Ansatz einen guten Grund zur Verfügung, ein Leben nicht kontraintuitiv als „gut“ bezeichnen zu müssen, in dem Reichtum, Glück und Ehre offensichtlich auf Kosten anderer erworben wurden.³² Gleichwohl bliebe das gute Leben allzu schwach determiniert, wenn lediglich die Erfüllung von Pflichten gegenüber anderen Bestandteil des guten Lebens wären – ein Großteil der eigenen Lebensführung wäre dann nach wie vor ein Bereich einer den subjektiven Präferenzen überlassenen Privatsphäre, wodurch eine Pointe der Frage nach dem guten Leben verfehlt zu werden scheint. Interessant wird der kantische Ansatz deshalb v. a. dann, wenn neben den Pflichten gegen andere auch Pflichten gegen sich selbst unter die Bestandteile des guten Lebens aufgenommen werden. Eine derartige Theorie des guten Lebens ist jüngst von J. Timmermann vorgeschlagen worden: [R]eflecting on the fundamental role of ‘internal’ duties to the self ³³ reminds us that even for Kantians there is more to a ‘good life’ than ‘happiness’, narrowly construed. Duties to the self can help to supplement Kant’s experientialist conception of happiness with a strong and articulate conception of what makes a distinctly human, rational life go best.
31 Dies wird zuletzt in der Kantforschung stark betont. Vgl. Konhardt 2010; Timmermann 2006, 528 und die klassisch gewordene Studie von Reiner Wimmer, die bezeichnenderweise in ihrer ursprünglichen Fassung als Habilitationsschrift den Titel Religion des guten Lebens. Kants Lehre vom höchsten Gut als der eschatologischen Vollendung des menschlichen Daseins trug (Wimmer 1990). Haucke 2002 und Kim 1998 sehen auch unabhängig von der Thematik des höchsten Gutes einen Beitrag Kants zur aktuellen Frage nach dem guten Leben. 32 Markus Rüther sieht hierin ein wichtiges Motiv, eine objektive Theorie des guten Lebens zu vertreten (vgl. seinen Beitrag in diesem Band, Abschnitt 3.2). Wie der kantische Ansatz zeigt, muss man dafür aber seine Konsequenz, einen Wertrealismus einzuführen, nicht teilen. Es könnte sogar eine objektive Theorie des Glücks ausreichen, das Problem zu beseitigen, denn häufig unterstellen wir denen, die ihren Interessen systematisch auf Kosten anderer nachgehen, die falsche Form von Glück. 33 Timmermann geht, wie oben erwähnt, davon aus, dass alle Pflichten unter einem gewissen Gesichtspunkt Pflichten gegen sich selbst sind; diesen Aspekt einer jeden Pflicht nennt er “internal duty tot he self”. Wenn hier von “internal duties to the self” die Rede ist, umfassen diese sowohl Pflichten gegen andere als auch Pflichten gegen sich selbst; Timmermann betont aber zugleich, dass Pflichten gegen andere insofern Bestandteil des guten Lebens sind, wie ich sie meiner eigenen Lebensführung schulde.
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Such a Kantian theory of the ‘good human life’ would be […] highly objectivist, not the kind of good life that is desired by the agent, but rather: the good life of the ‘better’ self, according with the activity of his rational faculty.³⁴
Wie weitgehend die eigene Lebensführung von Pflichten gegen sich selbst geregelt wird, hängt natürlich davon ab, welche konkreten Pflichten gegen sich selbst angenommen werden. Ist nur die Sicherung der eigenen Autonomie eine Pflicht gegen sich selbst, bleibt ein weiter Bereich der Lebensführung von intersubjektiv gültigen Regeln ausgenommen, den das Individuum gemäß subjektiver Wertschätzungen oder Präferenzen frei ausfüllen kann. Ist dagegen die Vervollkommnung seiner Talente Gegenstand einer Pflicht gegen sich selbst, wird diese Pflicht zwar noch verschiedene Wege offenlassen, dieser Forderung nachzukommen; es gibt aber kaum noch eine Entscheidung, bei der die Pflicht nicht berücksichtigt werden müsste. Eine Pflicht, ein gutes Leben zu führen, ergibt in diesem Theorierahmen freilich keinen Sinn: das gute Leben wird schließlich wesentlich durch die Erfüllung von Pflichten definiert. Eine Pflicht, ein gutes Leben zu führen, wäre deshalb nichts anderes als die Pflicht, seine Pflichten zu erfüllen – eine Tautologie.
11.4 Schwierigkeiten mit Pflichten gegen sich selbst 11.4.1 Die logische Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst Eine objektive Theorie des guten Lebens auf der Grundlage von Pflichten gegen sich selbst erscheint also zunächst als möglich. Bedingung dafür ist aber, dass es Pflichten gegen sich selbst gibt. Dies wird heute überwiegend angezweifelt. Dabei wird immer wieder argumentiert, dass der Begriff einer Pflicht gegen sich selbst widersprüchlich (oder zumindest „paradox“³⁵) sei, sodass die Existenz von Pflichten gegen sich selbst logisch ausgeschlossen werden müsse. Der locus classicus dieser These findet sich – freilich nur, um sogleich als bloß „scheinbare“ Antinomie wieder zurückgenommen zu werden – bei Kant: Wenn das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Begriff. Denn im Begriff der Pflicht ist der einer passiven Nötigung enthalten (ich werde verbunden). Darin aber, daß es eine Pflicht
34 Timmermann 2006, 528. 35 Lohmar 2007, 294.
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gegen mich selbst ist, stelle ich mich als verbindend, mithin in einer aktiven Nötigung vor […]; und der Satz, der eine Pflicht gegen sich selbst ausspricht […], würde eine Verbindlichkeit verbunden zu sein […], mithin einen Widerspruch enthalten. – Man kann diesen Widerspruch auch dadurch ans Licht stellen: daß man zeigt, der Verbindende […] könne den Verbundenen […] jederzeit von der Verbindlichkeit […] lossprechen; mithin (wenn beide ein und dasselbe Subjekt sind), er sei an eine Pflicht, die er sich auferlegt, gar nicht gebunden: welches einen Widerspruch enthält.³⁶
Insbesondere die erste Hälfte des Zitats bringt ernsthafte Interpretationsschwierigkeiten mit sich: Kants Autonomiebegriff setzt voraus, dass eine Verpflichtung nur dann eine genuin moralische sein kann, wenn der Verbindende identisch mit dem Verbundenen ist; niemand anderes als meine eigene Vernunft kann mich moralisch verbinden. Genau dies soll hier, in der Einleitung zu einem langen Abschnitt über konkrete Pflichten gegen sich selbst wie etwa das Verbot der Selbsttötung und das Verbot der Masturbation, plötzlich auf den ersten Blick einen Widerspruch darstellen; in seinen moralphilosophischen Grundlegungsschriften (in denen Pflichten gegen sich selbst als Selbstverständlichkeiten diskutiert werden) findet sich dagegen kein Wort über diese Problematik. Wirkungsvoller ist deshalb Kants zweiter Versuch geworden, den vermeintlichen Widerspruch zu formulieren, der sich im letzten Satz des Zitates findet. Demnach könne sich der Handelnde selbst von einer Pflicht gegen sich selbst lossprechen; ein Handlungsgrundsatz, von dem man sich selbst lossprechen kann, wäre aber keine Pflicht mehr.Wie Kant den hier formulierten vermeintlichen Widerspruch genau verstanden wissen möchte, ist aus gutem Grund umstritten.³⁷ Verlässt man aber das Gebiet der Kant-Exegese und fragt nach der systematischen Bedeutung des von Kant angesprochenen Problems, liegt es nahe, die Überlegung wie folgt zu reformulieren: Mit dem Verbindenden ist hier nicht (oder nicht primär) der Urheber im Sinne des Geltungsgrundes einer Pflicht gemeint, sondern der Begünstigte der Pflicht, der mich durch seinen Anspruch auf Erfüllung der Pflicht „verbindet“. Der Begünstigte kann aber freiwillig auf die Erfüllung der Pflicht verzichten. Ist der Begünstigte mit dem Verpflichteten identisch, kann er sich selbst jederzeit von der Pflicht lossprechen. In diesem Sinne hat Marcus G. Singer versucht, Pflichten gegen sich selbst als widersprüchlich zu erweisen. Singer argumentiert, zu jeder Pflicht gehöre ein ihr korrespondierendes Recht; der Inhaber eines Rechtes könne jederzeit auf die Ausübung des Rechtes verzichten und so den Verpflichteten von seiner Pflicht
36 Kant, Tugendlehre, 549. 37 Vgl. die unterschiedlichen Interpretationen von Schönecker 2010, Timmermann 2006 und Schaber 2010.
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befreien. Im Falle einer Pflicht gegen mich selbst hätte ich ein Recht gegen mich selbst, auf das ich jederzeit verzichten könnte – damit wäre der Begriff einer Pflicht gegen mich selbst ad absurdum geführt.³⁸ Ein ähnliches Problem sieht Peter Schaber: In vielen Fällen könne mich derjenige, gegenüber dem ich eine Pflicht habe, von der Pflicht entbinden; wenn ich mich selbst entbinden kann, könne aber keine Pflicht in einem relevanten Sinne mehr vorliegen.³⁹ Für Schaber sind damit Pflichten gegen sich selbst nicht per se widersprüchlich. Vielmehr sei die Aufgabe, solche Pflichten zu identifizieren, von denen mich niemand entbinden kann. Gibt es Pflichten, von denen mich andere nicht entbinden können, dann kann ich mich selbst auch nicht entbinden, wenn ich die gleiche Pflicht gegen mich selbst habe. Schaber sieht solche Pflichten in all jenen, die aus der Würde des Menschen folgen. Ich habe etwa die Pflicht, die Würde meiner Mitmenschen zu achten; von dieser Pflicht können mich diese nicht einfach entbinden; oder, anders ausgedrückt, sie können das Recht auf ihre Würde nicht einfach aufgeben. Entsprechend könne ich mich auch nicht von der Pflicht entbinden, meine eigene Würde zu achten.⁴⁰ Pflichten gegen sich selbst wären demnach in dem Maße möglich und gerechtfertigt, wie sie aus dem Verbot der Verletzung der eigenen Würde folgen. Darüberhinausgehende Pflichten, etwa die Entwicklung seiner Talente, wären dagegen nicht widerspruchslos denkbar. Wie aber lässt sich begründen, dass andere mich nicht von Pflichten entbinden können, die aus ihrer Würde folgen? Für Schaber liegt der Grund darin, dass die menschliche Würde unantastbar bzw. unveräußerlich ist.⁴¹ Doch warum ist Würde aus moralischer Sicht unveräußerlich? Möchte man sich nicht einfach damit zufriedengeben, dass die Unveräußerlichkeit der Würde eine unhintergehbare Tatsache ist, die keiner weiteren Begründung bedarf, sehe ich nur eine plausible Antwort auf diese Frage: Weil es eine Pflicht gegen sich selbst gibt, seine Würde nicht zu veräußern. Andere können mich deshalb nicht von meiner Pflicht, ihre Würde zu achten, entbinden, weil sie eine Pflicht gegen sich selbst haben, ihre Würde zu schützen.⁴² Wenn diese Überlegung richtig ist, setzt der Begriff der unveräußerlichen Würde Pflichten gegen sich selbst bereits voraus; es gerät in einen Zirkelschluss, wer versucht, die logische Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst durch den Begriff der Menschenwürde zu sichern. Der Verweis auf die Menschenwürde ist also nicht mehr (und nicht weniger) als ein Hinweis darauf,
38 39 40 41 42
Vgl. Singer 1959, 203 f. Vgl. Schaber 2010, 70. Vgl. Schaber 2010, 72 – 77. Schaber 2010, 75. So auch Denis 2010, 187; Kähler 2007, 42 und Timmermann 2006, 517.
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dass es einem verbreiteten Verständnis des Würdebegriffs zufolge Pflichten gegen sich selbst geben muss. Ist zugestanden, dass ein bestimmtes Verständnis der Menschenwürde eher auf der Existenz von Pflichten gegen sich selbst beruht, als dass es sie begründen könnte, stellt sich die Frage, ob der behauptete Widerspruch nicht durch andere Überlegungen gelöst werden könnte.⁴³ Dabei fällt zunächst auf, dass sowohl Singer als auch Schaber davon auszugehen scheinen, dass jeder Pflicht ein Recht korrespondiert. Die Frage, ob es Pflichten gegen sich selbst gibt, wäre dann gleichbedeutend mit der Frage, ob es Rechte gegen sich selbst gibt. Zwar tauchen im Alltag Redeweisen auf, die auf so etwas wie ein Recht gegen sich selbst Bezug nehmen – etwa der Ausspruch „Das bin ich mir selbst schuldig!“. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass der Begriff eines Rechtes gegen sich selbst über die metaphorische Verwendung in Redensarten hinaus Sinn ergibt. Es scheint in der gegenwärtigen Debatte eine relativ breit geteilte Einstellung zu geben, der zufolge ein Recht gegen sich selbst tatsächlich eine Absurdität darstellt.⁴⁴ Einen Anspruch, auf den man sich berufen kann, den man vielleicht sogar einklagen kann, gegen sich selbst zu haben, ist eine schwierige Vorstellung. Aber ist die zugrundeliegende Prämisse, einer jeden Pflicht entspräche ein korrespondierendes Recht, zutreffend? Offenkundig entstammt diese Vorstellung dem rechtsstaatlichen Denken, in dem aus subjektiven Rechten bestimmte Pflichten erwachsen und der Begriff der Rechtspflicht anders kaum verstanden werden kann. Was für das an gerichtlicher Durchsetzbarkeit orientierte positive Recht gilt,⁴⁵ muss aber für im weitesten Sinne ethische Pflichten nicht gelten. Insbesondere positive Hilfspflichten mit unbestimmtem Adressatenkreis scheinen Pflichten ohne korrespondierende Rechte zu sein. Angenommen, Person x hätte die Pflicht, den Armen in der Dritten Welt zu helfen, so gäbe es keine Person y, die gegenüber x ein ‚moralisches Recht‘ auf Unterstützung geltend machen könnte. Im Falle einer Pflicht gegen sich selbst liegt freilich kein unbestimmter Adressatenkreis vor; vielmehr ist der Akteur selbst der Adressat. Aber mithilfe des Beispiels ist ausgeschlossen, dass der Begriff der Pflicht analytisch mit dem Begriff eines Rechts verbunden ist. Es ist dann auch möglich anzunehmen, dass es
43 Ich übergehe den offensichtlich zum Scheitern verurteilten Versuch, die Konsistenz von Pflichten gegen sich selbst zu retten, indem die Verpflichtung eines späteren Ichs gegenüber einem früheren Ich angenommen wird, etwa wenn ich mir heute verspreche, morgen keine Schokolade zu essen. Dazu treffend Hills 2003, 133; Lohmar 2005, 53 und Schaber 2010, 70. 44 „The very idea of a right to oneself is absurd.“ (Raz 1994, 33) Zu den wenigen Ausnahmen gehören Kähler 2007, 21 f. und Schaber 2010, 78. 45 Selbst dies ist nicht klar. Nach Meinung einiger Juristen gibt es auch im positiven Recht Rechte, denen keine Pflichten korrespondieren.
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Pflichten gegen sich selbst gibt, aber diesen kein Recht gegen sich selbst korrespondiert. Der Akteur wäre dann zwar der durch die Pflicht Begünstigte, nicht aber ein durch die Pflicht Berechtigter. Doch selbst wenn das zugestanden ist, bleibt ein Problem: Auch als Begünstigter könnte ich mich eventuell von der Pflicht gegen mich selbst entbinden. Wenn derjenige, dem die Pflicht zu Gute kommt, freiwillig auf seinen Vorteil verzichtet, dann könnte bestritten werden, dass die Pflicht noch gilt. Ähnlich wie in der Formulierung Singers läge dann im Falle einer Pflicht gegen sich selbst eine Pflicht vor, die der Verpflichtete selbst aushebeln könnte, was absurd ist. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, ob von moralischen Pflichten in der Weise entbunden werden kann, wie Singer und Schaber unterstellen. Führen wir uns noch einmal das Beispiel der Menschenwürde vor Augen: Wie gesagt, kann ich andere deshalb nicht von der Pflicht, meine Würde zu achten, entbinden, weil ich eine Pflicht gegen mich selbst habe, meine Würde nicht aufzugeben. Eine Schwierigkeit liegt darin, wie das „ich kann nicht“ zu deuten ist. Mindestens besagt es jedoch, ich darf andere nicht von der Pflicht, meine Würde zu achten, entbinden.⁴⁶ Dann kann man aber allgemeiner formulieren: Von einer Pflicht darf ich dann nicht entbinden, wenn ich eine Pflicht gegen mich selbst habe, die dies untersagt.Warum sollte diese einfache Überlegung nicht auch dann gelten, wenn es um Pflichten gegen mich selbst geht? Demnach kann ich mich genau dann nicht von einer Pflicht gegen mich selbst entbinden, wenn ich diese Pflicht gegen mich selbst habe. Was ist durch diese banale Behauptung gezeigt? Jedenfalls nicht, dass es Pflichten gegen sich selbst gibt. Aber der Vorwurf, der Begriff einer Pflicht gegen sich selbst sei widersprüchlich, kann damit als zirkulär erwiesen werden: Er setzt nämlich voraus, dass von jeder Pflicht entbunden werden kann; das trifft aber unter der genannten Prämisse nur dann zu, wenn es keine Pflichten gegen sich selbst gibt. Gibt es Pflichten gegen sich selbst, dann darf ich mich von diesen einfach nicht entbinden;⁴⁷ und würde ich es, dann würde ich damit gegen diese Pflicht verstoßen. Gegen die Annahme, dass von jeder moralischen Pflicht entbunden werden kann, kann noch ein stärkerer Einwand vorgebracht werden, der von der Idee einer Pflicht gegen sich selbst keinen Gebrauch macht. Offensichtlich gibt es viele
46 Verträge, in denen jemand seine Würde aufgibt, werden im Allgemeinen als nichtig angesehen. Das hieße, dass die betroffene Person ihre Würde nicht nur nicht aufgeben darf, sondern es auch faktisch nicht kann. Das faktische Nicht-Können ist in der hier vorgeschlagenen Auffassung auf das nicht-Dürfen zurückzuführen; das nicht-Dürfen wird aufgrund der besonderen Bedeutung der Menschenwürde so umfassend gefasst, dass die genannten Verträge als nichtig angesehen werden. 47 So auch Timmermann 2006, 516.
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Pflichten, von denen man durch einen Willkürakt entbunden werden kann. Darunter fallen jedenfalls alle solche Pflichten, die erst durch einen Willkürakt entstanden sind. Bei Verträgen können sich die Vertragspartner jederzeit darauf einigen, Vertragspflichten zu erlassen; oft kann sogar durch einseitige Willenserklärung eine Pflicht erlassen werden. Auch von einem Versprechen kann jemand entbunden werden, indem der, dem etwas versprochen wurde, den Verzicht auf die Umsetzung des Versprochenen erklärt. Es wäre allerdings voreilig, von diesen Sonderfällen darauf zu schließen, dass prinzipiell der Begünstigte einer Pflicht von der Pflicht entbinden kann. Zur Illustration der These, dass man im Allgemeinen von Pflichten entbinden kann, führt Schaber als Beispiel an, eine positive Pflicht etwa zur Hilfeleistung eines anderen gelte nicht, wenn der andere die Erfüllung dieser Pflicht gar nicht wolle. Aber hat der andere mich durch seinen Willen, auf Hilfe zu verzichten, tatsächlich in dem hier relevanten Sinn von meiner Pflicht „entbunden“? Es scheint doch vielmehr so zu sein, dass durch seinen Willen (bzw. durch das Wissen um seinen Willen) eine neue Situation entstanden ist, in der die Hilfeleistung (unter bestimmten Bedingungen jedenfalls) einfach keine Pflicht mehr ist; aber nicht, weil mich jemand von der Pflicht entbunden hätte, sondern weil es (außer unter Extrembedingungen) keine Pflicht gegen den erklärten Willen des Betroffenen geben kann. Hier spielt also nicht die Frage eine Rolle, ob der Betroffene die Pflicht durch seine Willenserklärung im gleichen Sinne aufhebt, wie man einen Vertrag kündigen kann, sondern vielmehr die Frage, in welchem Ausmaß Paternalismus moralisch legitim sein kann. Paternalismus kann aber nur eine Rolle spielen, wenn es um die Beziehung(en) zwischen mindestens zwei Menschen geht. Ich kann mich mir selbst gegenüber nicht paternalistisch verhalten. Entsprechend kann mein Wille, auf die Erfüllung einer Pflicht zu verzichten, keinen Grund dafür abgeben, die Existenz dieser Pflicht zu bestreiten. Schabers Beispiel zeigt bei weitem nicht, dass Pflichten prinzipiell vom Begünstigten erlassen werden können.
11.4.2 Die Paradoxie des Umgangs mit Pflichtverstößen Lohmar gesteht ausdrücklich zu, dass das Problem von Pflichten gegen sich selbst nicht darin bestehen kann, dass man sich von ihnen jederzeit lossprechen kann. Dennoch versucht er zu zeigen, dass die Existenz von Pflichten, bei denen der Verpflichtete mit dem durch die Pflicht Begünstigten zusammenfällt, „paradox“ sei. Nach der abschließenden Fassung, die Lohmar seinem Argument gibt, bezieht sich die Paradoxie nicht auf die logische Form des Pflichtbegriffs selbst, sondern auf den Umgang mit Pflichten und dem Verstoß gegen Pflichten im Rahmen der
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sozialen Praxis einer Gemeinschaft moralischer Akteure. Seine These besagt, dass es keine „konsistente Praxis des Umgangs mit Verletzungen von Pflichten gegen sich selbst geben“⁴⁸ kann. Demzufolge könne das Übertreten einer Pflicht unter bestimmten Bedingungen sanktionierende Reaktionen rechtfertigen; dagegen könne das Erleiden des durch die Pflichtübertretung entstandenen Unrechts kein Grund sein, der zur Rechtfertigung sanktionierender Reaktionen herangezogen werden kann.Wenn aber das Übertreten der Pflicht mit dem Erleiden des Unrechts in ein und derselben Handlung x zusammenfällt – und das sei bei Pflichten gegen sich selbst der Fall –, würde gelten, dass das Tun von x zugleich ein Grund zur Rechtfertigung von Sanktionen sein kann und nicht sein kann – was sich widerspricht. Lohmars Argument ist sicher ausgefeilter als etwa der vermeintliche Nachweis der Widersprüchlichkeit von Pflichten gegen sich selbst, wie ihn Singer formuliert hat. Zugleich lebt es aber von Annahmen, die nicht als allgemein geteilt gelten können. So könnte etwa dagegengehalten werden, dass nicht jede Pflichtverletzung sanktionierende Reaktionen rechtfertigen kann – im Falle von Pflichten gegen sich selbst legt das Paternalismus-Problem sogar nahe, dass Pflichtverletzungen keine Sanktionen durch andere rechtfertigen können. Auf der gegenüberliegenden Seite kann man gerade auf das Funktionieren einer eingespielten Praxis der Kritik von Verletzungen von Pflichten gegen sich selbst hinweisen. Wir machen uns dann selbst Vorwürfe, oder unsere Lebensführung wird von nahestehenden Personen – etwa von Eltern, dem Lebenspartner oder engen Freunden – kritisiert. Möchte man diese Praxis nicht als irrational erweisen oder auf die Verletzung von Pflichten gegen andere reduzieren, dann wird man Lohmars These bestreiten müssen, dass eine Handlung x kein Grund sein kann, der Sanktionen rechtfertigt, sofern x mit dem Erleiden eines Unrechts zusammenfällt. Dann könnte etwa argumentiert werden, das Erleiden eines Unrechts sei als solches kein Grund zur Rechtfertigung von Sanktionen; es könne aber mit einem solchen Grund zusammenfallen.
11.4.3 Die Begründbarkeit von Pflichten gegen sich selbst Lässt man gelten, dass der Begriff einer Pflicht gegen sich selbst keinen Widerspruch erzeugt, ist damit noch nicht gezeigt, dass es irgendwelche Pflichten gegen sich selbst gibt. Die Existenz von konkreten Pflichten kann nicht einfach behauptet oder unter Berufung auf Intuitionen unterstellt werden; vielmehr gibt es eine Pflicht nur dann, wenn sie sich begründen lässt. Dabei muss die Begründung
48 Lohmar 2007, 294.
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dem oben genannten Kriterium entsprechen, dass Pflichten kategorische Geltung zukommt. „Gute Gründe“ für eine bestimmte Form der Lebensführung reichen nicht aus, denn darunter könnten auch reine Klugheitsgebote fallen. Da Pflichten gegen sich selbst in dem dargestellten Ansatz die objektive Theorie des guten Lebens erst konstituieren sollen, kommt außerdem eine Begründung der Pflichten durch eine objektive Vorstellung von dem, was ein Leben gut macht, nicht in Frage. Die Begründung kategorisch geltender Pflichten ist bekanntlich eine unter Philosophen höchst umstrittene Thematik. Um die Schwierigkeit der Begründung von Pflichten gegen sich selbst aufzuzeigen, muss es an dieser Stelle ausreichen, schlaglichtartig und schemenhaft auf einige Probleme hinzuweisen, die sich in verschiedenen Theorien der Normenbegründung stellen. Es fällt auf, dass die Generierung kategorischer Verbindlichkeit in vielen Moraltheorien darauf beruht, dass eine Norm zwischen den Interessen und Bedürfnissen mehrerer Betroffener einen Ausgleich erzielt. Zwar können auch meine eigenen Interessen miteinander in Konflikt stehen. Die Lösung dieses Konflikts besteht jedoch in der Regel in einem Klugheitsgebot, das unter der Bedingung gilt, dass mir bestimmte Interessen wichtiger sind als andere. Die Berücksichtigung der Interessen anderer kann dagegen eher eine kategorische Notwendigkeit begründen.⁴⁹ Die Begründung konkreter Pflichten gegen sich selbst muss deshalb etwa in allen Moraltheorien scheitern, die auf der allgemeinen Zustimmung zu Normen (oder auf der Zustimmungsfähigkeit) beruhen. Dazu zählt – sofern er überhaupt auf die Begründung kategorischer Pflichten abzielt – der Kontraktualismus, aber auch die Diskursethik.Wenn ich der einzige Betroffene einer Norm bin, dann kann ich der Norm nach Belieben zustimmen oder nicht; die Objektivität, die von einer allgemeinen Zustimmung aller Betroffenen ausgeht, wird verfehlt. Aus einem ähnlichen Grund können Pflichten gegen sich selbst ebenso wenig im Rahmen aller Moraltheorien begründet werden, in denen Normativität aus dem wechselseitigen Anspruch auf Rechtfertigung entsteht, mit dem sich die moralischen Akteure gegenübertreten.⁵⁰ Auch hier gilt: Mir selbst gegenüber kann ich beliebige Rechtfertigungsgründe gelten lassen oder verwerfen; objektiv gültig wird eine Norm innerhalb dieses Theorierahmens nur durch ihre intersubjektive Rechtfertigung. Anders sieht es zunächst in Ansätzen aus, die nicht vorrangig auf eine Vermittlung divergierender Interessensphären zielen. Eine Universalitätsregel wie der
49 Diesen Gegensatz arbeitet von der Pfordten überzeugend heraus; vgl. von der Pfordten 2010, 277 – 279. 50 Paradigmatisch für diesen Ansatz ist Forst 2007.
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kategorische Imperativ Kants steht deshalb prima facie der Begründung von Pflichten gegen sich selbst zur Verfügung.⁵¹ Es ist aber bezeichnend, dass die Beispiele für Pflichten gegen sich selbst, die Kant aus dem kategorischen Imperativ ableiten möchte, selbst nach Meinung überzeugter Kantianer kaum funktionieren dürften.Weiterhin fällt auf, dass Kant in der Tugendlehre zur Begründung von Pflichten gegen sich selbst immer wieder auf naturteleologische Annahmen zurückgreift,⁵² die den Rahmen seiner Theorie zu sprengen scheinen. Es spricht sicherlich einiges dafür, dass dies nicht nur den spezifischen Pflichten geschuldet ist, mit denen Kant sich auseinandersetzt, sondern in der Natur der Sache liegt.⁵³ Einen aussichtsreicheren Versuch der Begründung von Pflichten gegen sich selbst im Anschluss an A. Gewirth hat zuletzt F.-J. Bormann vorgelegt.⁵⁴ Durch transzendentalpragmatische Überlegungen soll gezeigt werden, dass ein Akteur in einen Widerspruch gerät, wenn er die Voraussetzungen des eigenen Handelns zerstört. Dieses Argument kann – gesteht man die Überzeugungskraft der Transzendentalpragmatik überhaupt zu – jedoch höchstens Pflichten rechtfertigen, die sich auf die prinzipielle Möglichkeit künftigen Handelns beziehen.⁵⁵ Wenn die Begründungsfähigkeit konkreter Pflichten gegen sich selbst aber auf solch fundamentale Pflichten eingeschränkt ist – hinzunehmen könnte man vielleicht noch die von relativ Vielen anerkannten, naturrechtlich begründeten Pflichten gegen sich selbst, die aus der Menschenwürde erwachsen –, dann ist es um die Reichweite einer pflichtbasierten Theorie des guten Lebens schlecht bestellt.
51 Timmermann weist darauf hin, dass mögliche Widersprüche einer als allgemeines Gesetz gedachten Maxime nicht mehr aus der allgemeinen Befolgung des Gesetzes durch alle vernünftigen Wesen resultieren würden, sondern nur aus der temporären Universalität. Vgl. Timmermann 2006, 519. 52 Kant rechtfertigt etwa das Verbot der Selbstbefriedigung mit dem Naturzweck der Arterhaltung, dem der Gebrauch seiner Geschlechtseigenschaft unterworfen sei; vgl. Kant, Tugendlehre, 557. 53 Dieter Henrich etwa vertritt die These, es könnte prinzipiell nicht gelingen, Pflichten gegen sich selbst aus dem kategorischen Imperativ abzuleiten. Vgl. Henrich 1982, 24 f. und 45. 54 Vgl. Bormann 2011, 460 – 464 und sein Beitrag in diesem Band. 55 Widersprüchlich verhält sich m. E. nur, wer so handelt, dass er künftig nicht mehr handeln kann. Bormann möchte dagegen die Pflicht rechtfertigen, die eigene Handlungsfähigkeit „umfassend“ zu entfalten; vgl. Bormann 2011, 461.
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11.5 Werte und Pflichten Gegen den vorgestellten Ansatz, eine objektive Theorie des guten Lebens auf kategorisch geltende Pflichten aufzubauen, kann eingewendet werden, dass damit das Spezifikum des „Guten“, das in der aktuellen Debatte vom „Rechten“ oder „Gebotenen“ oft sorgsam unterschieden wird,⁵⁶ gerade verfehlt wird: Bei der Frage um das gute Leben gehe es demnach im Kern gar nicht um Pflichten oder Normen, die zu befolgen wären, sondern entweder um das intrinsisch Wertvolle oder um das, was (objektiv) für mich gut ist. Was intrinsisch wertvoll oder für mich gut ist, muss mir aber nicht durch Pflichten vorgeschrieben werden, sondern entspricht dem, was ich unmittelbar erstrebe; mithin nicht dem, was ich tun soll, sondern dem, was ich immer schon will. ⁵⁷ Derart verstandene objektive Theorien des guten Lebens thematisieren deshalb die Objektivität intrinsischer Werte sowie die Objektivität des Glücks bzw. Wohlergehens. In diesem Sinne dürfte die Frage nach dem guten Leben heute überwiegend verstanden werden.⁵⁸ Die zahlreichen ernstzunehmenden metaethischen Probleme dieser Theorien, die von starken ontologischen Annahmen bis zu epistemologischen Schwierigkeiten reichen, lasse ich hier beiseite. Mir geht es allein um die Frage, ob nicht auch solche Theorien einen Bezug zu Pflichten gegen sich selbst aufweisen. Zwar werden sie nicht durch Pflichten gegen sich selbst konstituiert, aber sie könnten dennoch mit Pflichten gegen sich selbst in einem Zusammenhang stehen, indem sie die oben (Abschnitt 11.4.3) diagnostizierte Lücke füllen und zur Begründung von Pflichten gegen sich selbst dienen. Das gilt insbesondere für Theorien, die von der Existenz intrinsischer Werte ausgehen: Werte sind zwar von Pflichten bzw. Normen kategorial verschieden, können aber nach einer verbreiteten Meinung zur Begründung von Pflichten herangezogen werden.⁵⁹
56 Dazu paradigmatisch Rawls 1975, 486 – 492. 57 Durchaus in Abgrenzung zum Gegenstand der Moralphilosophie konstatiert Schaber: „Denn wir wollen alle ein gutes Leben führen.“ (Schaber 1998, 149) Das Verständnis einer Pflicht, das in dieser Gegenüberstellung von „wollen“ und „sollen“ zum Ausdruck kommt, kann freilich (nicht zuletzt mit Kant) in Frage gestellt werden. 58 Gegen meine Unterscheidung pflicht- und wertbasierter Theorien des guten Lebens wendet sich implizit Bormann: Er scheint davon auszugehen, dass sich pflicht- und wertbasierte Ansätze nur in der gewählten Sprache unterscheiden, nicht ihrem Inhalt nach. Die katholische Sexualmoral leide demnach nur unter einem Sprachproblem, wenn sie Anforderungen an die private Lebensführung in Form von Ge- und Verboten formuliere und nicht in das Ideal einer gelingenden Partnerschaft übersetze, deren Wert auch heute breit anerkannt sei; vgl. Bormann 2011. Bormann sieht entsprechend auch kein Problem darin, den deontologischen Ansatz Gewirths mit der aristotelischen Tradition zu verbinden. 59 Vgl. etwa Siep 2004, Kap. 3.5.
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Einige der Vertreter objektiver Theorien des guten Lebens scheinen dies für selbstverständlich zu halten. Für Hurka legt die menschliche Natur fest, was objektiv gut ist; aus dieser objektiven Theorie des Guten folgen konkrete Pflichten gegen sich selbst – etwa die Pflicht, sich gemäß seiner Natur zu entwickeln, die eigene Perfektionierung anzustreben und seine Talente zu entfalten.⁶⁰ In diesem Kontext kann auch der Pflicht, ein gutes Leben zu führen, ein Sinn abgewonnen werden: Sie wäre eine durch die Objektivität des guten Lebens konstituierte, übergeordnete Pflicht, von der einzelne Pflichten wie etwa die Entfaltung seiner Talente abgeleitet werden.⁶¹ In einem Wertepluralismus, wie ihn etwa Joseph Raz vertritt, ist dagegen nicht das gute Leben Pflicht, sondern nur die Aufrechterhaltung der notwendigen Bestandteile eines jeden guten Lebens, d.i. in erster Linie die Autonomie.⁶² Dass nicht nur Werttheorien, sondern auch alle objektiven Theorien des Wohlergehens (well-being) Pflichten gegen sich selbst rechtfertigen, behauptet Hills: Jede objektive Theorie des Wohlergehens könne Grundlage der Pflicht sein, das eigene ‚wahre‘ Wohlergehen zu befördern.⁶³ Dabei scheint die Möglichkeit eines Übergangs vom objektiv Guten zu Pflichten gegen sich selbst durchaus konstitutiv für die normative Bedeutung des Guten zu sein: Lässt sich für den Fall, dass jemand nicht so handelt, wie für ihn gut wäre, nicht eine Pflicht formulieren, wie die Person handeln soll, dann ist schwer einzusehen, wie das Gute überhaupt normativ wirksam werden kann. Dabei ergibt sich aus dem objektiven Charakter des Guten, dass dieses Sollen unabhängig von tatsächlichen Wünschen oder Präferenzen des Subjekts und insofern kategorisch gilt. Pflichten gegen sich selbst wären demnach nicht die Grundlage der objektiven Theorie des guten Lebens, würden aber notwendig mit ihr einhergehen.⁶⁴ Gegen die hier skizzierte Verbindung von objektiven Theorien des guten Lebens und Pflichten gegen sich selbst wendet sich nachdrücklich Schaber. Schaber hält, wie gesagt, Pflichten gegen sich selbst überhaupt nur in dem Rahmen für
60 Vgl. Hurka 1993, 5 und 62. Für Hurka liegt in Pflichten gegen sich selbst sogar das, „what is most lacking in current philosophical morality“ (Hurka 1992, 5). 61 „Specific negative and positive self-regarding duties are derived from the more comprehensive duty to oneself to do what one can to lead a good life.“ (Wall 2008). 62 Dass Raz eine Pflicht gegen sich selbst formuliert, die eigene Autonomie zu sichern, ist eine plausible Lesart einiger Stellen in The Morality of Freedom; vgl. Raz 1984, 407 f. und 415. Ausdrücklich nennt Raz allerdings nur Pflichten gegen sich selbst, die aus „self-respect“ abgeleitet werden (Raz 1994, 40); diese wären freilich nicht aus einer Theorie des Guten abgeleitet. 63 Vgl. Hills 2003, 137. 64 So ausdrücklich Schockenhoff, der das Prinzip des Guten auf ein Analogon zur ästhetischen Vorliebe reduziert sieht, sobald das deontologische Element gänzlich verneint wird. Vgl. Schockenhoff 2007, 53 f.
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widerspruchsfrei denkbar, wie sie aus dem Begriff der Menschenwürde folgen – paradigmatisch ist die Pflicht, vor anderen nicht zu kriechen. Die Ausbildung seiner Talente und das eigene Wohl seien lediglich Klugheitsgebote, aber ausdrücklich nicht Gegenstand kategorisch geltender Pflichten.⁶⁵ Zugleich vertritt Schaber aber eine objektive Theorie des guten Lebens, die zwar inhaltlich nicht substantiell ausgearbeitet wird, aber keinen Zweifel lässt, dass das eigene Wohl und die Ausbildung seiner Talente prinzipiell in den Bereich dessen fallen, was der normativen Beurteilung durch das objektiv Gute zugänglich ist. Kommt eine objektive Theorie des guten Lebens in dieser Weise ohne die Anerkennung weitgehender Pflichten gegen sich selbst aus? Es muss an dieser Stelle offen bleiben, ob der Zusammenhang von objektiven Werten oder des objektiv verstandenen Wohlergehens zu Pflichten gegen sich selbst tatsächlich so bruchlos gegeben ist, wie Hurka und Hills suggerieren. Bezeichnend ist aber, dass Schaber selbst seiner Theorie des guten Lebens eine Erläuterung beifügt, die relativ deutlich eine Pflicht gegen sich selbst enthält: Die Frage nach dem guten Leben sei „nämlich nicht die Frage danach, was wir für gut halten, das wissen wir, sondern die Frage, was wir für gut halten sollen“.⁶⁶ Wenn ich mich aber jederzeit selbst von der Pflicht entbinden kann, irgendetwas für gut halten zu sollen, was mein eigenes Leben betrifft, wäre der so verstandenen Frage nach dem guten Leben kaum noch ein Sinn abzugewinnen.
Literatur Aristoteles (1985): Aristoteles, Nikomachische Ethik, hgg. v. Günther Bien (Philosophische Bibliothek; Bd. 5), Hamburg. Bormann (2011): Franz-Josef Bormann, „Von der Verbotsmoral zur christlichen Liebenskunst“, in: Konrad Hilpert (Hg.), Zukunftshorizonte katholischer Sexualethik, Freiburg u. a., 454 – 472. Cicero (2003): Marcus Tullius Cicero, De officiis / Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch/Deutsch, übersetzt, kommentiert und hgg. von Heinz Gunermann, Stuttgart. Denis (2010): Lara Denis, „Freedom, primacy, and perfect duties to oneself“, in: Dies. (Hg.), Kant’s „Metaphysics of Morals“. A Critical Guide, Cambridge, 170 – 191. Durán Casas (1996): Vicente Durán Casas, Die Pflichten gegen sich selbst in Kants „Metaphysik der Sitten“, Frankfurt a. M. u. a. Esser (2004): Andrea Esser, Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart-Bad Canstatt. Forst (2007): Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main.
65 Vgl. Schaber 2010, 77. 66 Schaber, Eine objektive Theorie des guten Lebens, in diesem Band, letzter Satz.
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Teil IV Transzendenz
Jörg Disse
12 Das Interesse der Vernunft und die Frage nach dem guten Leben Keinen Menschen lässt die Frage nach dem guten Leben gleichgültig. Es gibt niemanden, der sich nicht nach einem guten Leben sehnen würde, es gibt kein Handeln, keinen Entschluss, der nicht, wie schon Aristoteles im ersten Satz der „Nikomachischen Ethik“ herausstreicht, auf das – zumindest subjektiv vermeintlich – Gute gerichtet wäre. Ja, nicht nur der Mensch, sondern alles Lebendige überhaupt strebt stets nach dem, was verspricht, für es selbst gut zu sein. Wer auf das Gute gerichtet ist, verfolgt Ziele, die er als wertvoll erachtet. Dabei ist der Mensch stets auf eine Vielzahl von Zielen ausgerichtet, die zugleich einander unter- und übergeordnet sind. Es gibt konkrete, materiale Ziele, die um allgemeinerer bzw. formaler Ziele willen verfolgt werden. Was aber ein Einzelner unter einem guten Leben versteht, hängt insbesondere von der Beschaffenheit der allgemeinsten formalen Ziele ab, auf die er sein Verlangen richtet. In kritischer Anlehnung an einen Ansatz aus der empirischen Kognitionspsychologie möchte ich zunächst zeigen, dass das menschliche Verlangen auf der übergeordneten Ebene formaler Zielsetzung wesentlich von drei Interessen geprägt ist: ein Interesse der Gene an der Replikation ihrer selbst, ein Interesse des Individuums am eigenen Glück, und ein Interesse der Vernunft, das auf die universale Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen gerichtet ist. Je nachdem, von welchem Interesse sich der Mensch in seinem Leben leiten lässt, verleiht es seiner praktischen Zielsetzung bzw. seinem Verständnis vom guten Leben eine grundsätzlich andere Richtung. Die Frage, um die es im Folgenden gehen wird, bezieht sich vor allem auf die dritte Form von Interesse: Kann das gute Leben mit der universalen Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen gleichgesetzt werden? Das Interesse der Gene ist zwar nicht ohne Bedeutung für ein gutes Leben, dennoch ist es kein ernstzunehmender Kandidat für das höchste formale Ziel menschlichen Verlangens. Meine Ausführungen fokussieren von daher auf eine Gegenüberstellung des Interesses des Individuums und des Interesses der Vernunft: Besteht das gute Leben darin, sich vom Interesse des Individuums am eigenen Glück leiten zu lassen oder vom Interesse der Vernunft an der universalen Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen? Die Antwort auf diese Frage ist jedoch abhängig von den metaphysischen Überzeugungen, die ein Mensch vertritt. Überzeugungen sind mehr oder weniger gut begründete Glaubenssätze. Sie beziehen sich nicht nur auf die Beschaffenheit des unmittelbaren Handlungsumfeldes eines Menschen, sondern reichen bis hin
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zu Vorstellungen bezüglich der Beschaffenheit des Wirklichkeitsganzen bzw. der Welt. Letztere Überzeugungen nenne ich metaphysische Überzeugungen. Jeder Mensch hat metaphysische Überzeugungen, ganz gleich, welche Weltanschauung er vertritt, wobei ich die Einheit von formalen Zielen und metaphysischen Überzeugungen eine Lebensform nenne. Meine Frage lautet somit genauer: Gibt es eine Lebensform, für die es sinnvoll ist, das Interesse der Vernunft zum höchsten formalen Lebensziel zu machen? Gibt es metaphysische Überzeugungen, die kompatibel sind mit dem Interesse der Vernunft als einem solchen Lebensziel? Im zweiten Teil meiner Ausführungen werde ich zwei Lebensformen mit grundsätzlich entgegengesetzten metaphysischen Überzeugungen auf diese Frage hin untersuchen: eine atheistische und eine theistische Lebensform, eine Lebensform, welche die Existenz Gottes negiert, und eine, die sie bejaht. Ich möchte aufweisen, dass für eine atheistische Lebensform das Interesse des Individuums konsistent mit dessen metaphysischen Überzeugungen ist, für eine theistische Lebensform hingegen das Interesse der Vernunft. Das gute Leben für den Atheisten besteht in der Verfolgung seines eigenen Glücks, das gute Leben für den Theisten in der universalen Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen. D. h., eine Lebensform, für die das Interesse an der universalen Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen sinnvoll zum höchsten Lebensziel gemacht werden kann, geht in ihren Überzeugungen davon aus, dass ein Gott existiert, der dem Menschen aufgrund einer sich der Vernunfteinsicht letztlich entziehenden Offenbarung ein vollkommenes Glück in Aussicht stellt. Meine Darstellung versteht sich, das sei noch vorweggeschickt, grundsätzlich als deskriptiv und nicht als präskriptiv. Obwohl ich persönlich die theistische Lebensform vertrete, strebe ich nicht an, ihre Richtigkeit zu beweisen, sondern es geht mir um die Frage einer Logik der Lebensformen.
12.1 Das dreifache Interesse 12.1.1 Biologische Grundlegung Bevor ich zur Grundlegung meiner Interessentheorie auf den kognitionspsychologischen Ansatz von Keith E. Stanovich eingehe, möchte ich kurz die Zielgerichtetheit von Lebewesen überhaupt thematisieren. Lebewesen genügen sich nicht selbst, sondern sind über die Membran, die sie von der Umwelt abgrenzt, zugleich auf den Austausch mit dieser Umwelt angewiesen. Sie brauchen ihre Umwelt vor allem für die Nahrungsaufnahme und sie müssen sich zugleich in vielfacher Hinsicht vor Gefahren schützen, die ihnen von der Umwelt her drohen. Sie haben von daher Bedürfnisse, und um diese Bedürfnisse zu befriedigen, ver-
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folgt jedes Lebewesen eine Anzahl von Zielen. Lebendige Organismen überhaupt zeichnen sich somit durch Zielgerichtetheit aus. Sie mögen aus rein biologischer Sicht nicht zu Unrecht ausschließlich als rein kausaler Mechanismus betrachtet werden, es besteht jedoch kein Grund, die common sense-Betrachtung von Lebewesen als zielgerichtete Entitäten zu negieren, solange nicht zwingende Gründe dafür sprechen, dass die rein kausale Erklärung als erschöpfend anzusehen ist. Auch ein Biologe wird eine teleologische Beschreibung zumindest als heuristisches Prinzip meist nicht ablehnen. Man kann die Zielstruktur von Lebewesen zunächst so beschreiben, dass die vielen Einzelziele, die ein Lebewesen verfolgt, dem formalen Ziel der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung untergeordnet sind. Damit ist die in lebendigen Organismen gegebene Zielgerichtetheit allerdings erst teilweise beschrieben, denn in jedem Organismus ist zugleich eine Tendenz am Werk, die nicht primär auf die Selbsterhaltung und Selbstentfaltung des Einzelorganismus zielt. Alles Lebendige ist zugleich auf die Replikation seiner eigenen Gene gerichtet. Der Mechanismus dieser Weitergabe gründet auf der Unterscheidung zwischen Genotyp und Phänotyp. Der lebendige Organismus als Phänotyp, als lebensweltliche Verkörperung der in ihm enthaltenen Geninformation, hat aus der Perspektive der den Einzelorganismus übergreifenden Lebensgeschichte immer auch den Zweck, ein optimales Medium zur Replikation der in ihm enthaltenen Gene zu sein. Dabei hat der Evolutionsbiologe Dawkins in seinem Werk „Das egoistische Gen“ die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass der Drang nach Fortpflanzung nicht um des lebendigen Organismus willen geschieht, sondern der lebendige Organismus angesichts dieses Dranges in einem Instrumentalverhältnis zu seinen Genen steht. Der einzelne, die Geninformation verkörpernde Organismus dient so besehen als Gen-Vehikel. Es gibt uns, damit die Gene sich replizieren können. Der Selbsterhaltungs- und Selbstentfaltungsdrang ist dem Ziel der Replikation der Gene bei den meisten Lebewesen völlig untergeordnet. Insbesondere am Sexualverhalten lässt sich dies ablesen. Die Genweitergabe ist zwar für den Einzelorganismus oft mit Lustgewinn verbunden, in vielen Fällen kommt es bei oder nach der Paarung aber zugleich zum Tod der Geschlechtspartner, wie etwa in dem bekannten Fall der Gottesanbeterin (mantis religiosa). Zwar fällt meistens das Bedürfnis der Gene mit dem des individuellen Organismus zusammen. Es ist der Replikation der Gene generell förderlich, wenn der individuelle Organismus sich am Leben erhalten und in seinen Möglichkeiten entfalten kann. Doch selbst wenn Paarung mit punktuellem Lustgewinn verbunden ist, führt das Sicheinlassen auf das Fortpflanzungsgeschehen mitsamt der eventuell anfallenden Sorge um den Nachwuchs oft zu einer Beeinträchtigung, wenn nicht gar Verhinderung der Selbsterhaltung bzw. Selbstentfaltung für das einzelne Lebewesen. Durch die Verknüpfung der Fortpflanzung mit Lustgewinn
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macht sich der in jedem Lebewesen angelegte Drang nach Replikation der eigenen Gene den Drang nach Selbsterhaltung und Selbstentfaltung regelrecht zu Nutze, um ein Interesse durchzusetzen, das zur Selbstentfaltung des Individuums insgesamt gesehen quer stehen kann. In Analogie zu Hegels List der Vernunft bedient die Natur bzw. der biologische Mechanismus sich sozusagen der List, die Fortpflanzung für die Maximierung der Lebensqualität des einzelnen Organismus auf den ersten Blick förderlich erscheinen zu lassen.
12.1.2 Duale Kognition Die einzelnen Lebewesen können sich gegen diese Hinordnung auf die Replikation ihrer Gene generell nicht wehren. Mit Dawkins und Dennett gehe ich allerdings davon aus, dass der Mensch als voraussichtlich einziges Lebewesen dazu fähig ist, diese Zielgerichtetheit zu hemmen.¹ So kann er etwa die Lebensform wählen, keine Kinder zu zeugen. Im Körper des Individuums, das diese Lebensform gewählt hat, zielen eine Anzahl von Mechanismen auf eine Weitergabe der Gene durch Sexualität, es vermag sich dieser Mechanismen aber zu entziehen bzw. so mit ihnen umzugehen, dass sich das Interesse der Gene nicht durchsetzt. Eine empirisch fundierte Erklärung für diese besondere Fähigkeit hat der kanadische Psychologe Stanovich mit seiner kognitionspsychologischen two process theory erarbeitet, an die ich jetzt anknüpfe.² Sie ermöglicht es, in einem ersten Schritt zwei beim Menschen nicht aufeinander zurückführbare Formen des Interesses voneinander zu unterscheiden: ein Interesse der Gene und ein Interesse des Individuums. Stanovich isoliert zunächst einmal zwei grundsätzliche Formen von kognitiven Abläufen, ein type 1 processing und ein type 2 processing. ³ Das type 1 processing unterliegt einer engen Reiz-Reaktion-Koppelung. Es gibt viele Formen der Informationsverarbeitung, die in uns, wenn der entsprechende (innere oder äußere) Reiz gegeben ist, automatisch, zwangsläufig, ohne Anstrengung und ohne bewusste Kenntnis der ihr zugrundeliegenden Mechanismen ablaufen. Man kann sie
1 In „The selfish gene“ stellt Dawkins fest, der Mensch habe „die Macht, den egoistischen Genen unserer Geburt […] zu trotzen“ (Dawkins 1976, 200); auch Dennett ist der Auffassung, „dass wir uns als einzige Spezies über die Gebote der Gene hinwegsetzen können“ (Dennett 1997, 509). 2 Vgl. insbesondere Stanovich 2011 sowie Stanovich 2004. 3 Vgl. Stanovich 2011, 16 – 25. Es konnte nachgewiesen werden, dass diesen zwei Typen von kognitiven Prozessen neurophysiologisch gesehen verschiedene Gehirnvorgänge entsprechen. Vgl. Goel/Dolan 2003, B11-B22. Eine gute Zusammenfassung der verschiedenen Argumente, die für eine dual process theory sprechen, findet sich in Evans 2003, 454 – 459.
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als intuitiv⁴ bzw. als instinktiv⁵ im Gegensatz zu bewussten kognitiven Akten bezeichnen. Es handelt sich um eine Reihe bzw. ein Netz von voneinander unabhängigen funktionalen Einheiten bzw. Mechanismen, auch kognitive Module genannt,⁶ die meist spezialisiert sind auf die Informationsverarbeitung eines abgegrenzten Bereichs bzw. einer Klasse von Reizen. Es gibt in jedem Organismus eine Vielzahl solcher Mechanismen im Sinn von konkreten Werkzeugen, die der Lösung bestimmter, für den Organismus vitaler Probleme dienen. Ein klassisches Beispiel ist die von Kindheit an gegebene Fähigkeit, Gesichter automatisch und ohne Anstrengung wiederzuerkennen oder an Gesichtern anderer deren Absichten abzulesen. Weitere Beispiele sind Mechanismen für das Erkennen der Gegenwart gefährlicher Raubtiere, für das Vermeiden von schädlicher Nahrung usw. Solche Mechanismen ermöglichen die vielen Erkenntnisprozesse, die nicht nur automatisch, sondern auch präzise und schnell ins uns ablaufen müssen, um angemessen auf die Umwelt reagieren zu können.⁷ Diese Art von kognitiven Prozessen ist evolutionsbiologisch gesehen das Resultat von Jahrmillionen von Anpassung an die äußeren Umstände. Die evolutionäre Psychologie geht davon aus, dass in den Organismen nach und nach immer mehr solcher Mechanismen entstanden sind und sich mit der Zeit diejenigen durchgesetzt haben, die zumindest zum Zeitpunkt ihres Entstehens einen Anpassungsvorteil bedeuteten.⁸ Als spezifische Mechanismen, die der konkreten Problemlösung zwecks Anpassung dienen, aber gehorchen sie dem Interesse der Gene. Bei den kognitiven Abläufen des 2. Typs handelt es sich um kontrollierte und bewusste Prozesse im Gehirn, die nicht automatisch ablaufen und deren Ablauf auch viel langsamer ist als die des 1. Typs. Sie sind sprachgebunden und ihnen liegen domänenübergreifende Mechanismen zugrunde, d. h. es sind Prozesse, die anders als die Prozesse des 1. Typs nicht auf ganz bestimmte Reize ausgerichtet sind,⁹ sondern eine allgemeine, sich auf beliebige Reize beziehende Intelligenz bzw. Informationsverarbeitung darstellen.¹⁰ Grundlegend für das type 2 processing
4 Siehe Boyer/Barrett 2005, 96 – 118. 5 Siehe Cosmides/Tooby 1999,145 – 198. 6 Vgl. Fodor 1983. 7 Auch durch wiederholtes Lernen erst nachträglich automatisierte Kognitionsprozesse gehören nach Stanovich zum type 1 processing; siehe Stanovich 2011, 20. 8 Vgl. Cosmides/Tooby 1999, 155 – 156. 9 So auch Caramazza/Mahon 2006, 25 – 30. 10 Aus neurophysiologischer Sicht scheint diese Form von kognitiver Aktivität auf einem neuronalen Funktionszusammenhang zu gründen, der verschiedene Gehirnareale aus dem Bereich des Frontal- und Parietallappens in Anspruch nimmt. Für sie ist das
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ist nach Stanovich¹¹ die Fähigkeit des antizipierenden Simulierens von Geschehnissen sowie das (konzeptuelle) hypothetische Denken als Repräsentation von Sachverhalten, für die aktuell keine äußeren Reize vorliegen. Diese kognitiven Aktivitäten sind auf die Fähigkeit des Menschen zur Entkopplung (decoupling) zurückzuführen. Entkopplung ist der Vorgang, durch den man sich von primären Repräsentationen, die sich auf real Wahrgenommenes beziehen, löst, indem man sekundäre, manipulierbare Repräsentationen produziert, d. h. solche, die man frei variieren kann, unabhängig von dem, was in der Wahrnehmung tatsächlich vorliegt.¹² Dank des type 2 processing kann der Mensch sich auch Ziele setzen, die sich von denen unterscheiden, auf die er durch unmittelbare Reize auf der Ebene des type 1 processing gerichtet wird. Es eröffnet gewissermaßen den „Raum“ des Möglichen in Absetzung zum Wirklichen. Innerhalb dieses type 2 processing nimmt die empirische Psychologie die verschiedensten Unterscheidungen vor.¹³ Ich werde mich hier damit begnügen, dass sie über das Imaginieren hinaus generell zum logischen Denken induktiver oder deduktiver Art befähigt, und damit auch zur Planung und Entschlussfassung. Die beiden Arten von kognitiven Prozessen aber können mit Bezug auf ihre jeweiligen Zielsetzungen in Konflikt miteinander geraten.¹⁴ Beim domänenspezifischen type 1 processing handelt es sich wie gesehen um automatische, unbewusste Abläufe, die sich im Organismus in der Geschichte der Evolution langsam herausgebildet haben. Die Ziele, die durch sie verfolgt werden, dienen der Replikation der Gene bzw. sie sind streng auf die Maximierung der Angepasstheit des Organismus ausgerichtet. Mit dem type 2 processing hingegen hat sich zumindest im Menschen eine Form von bewusster Kognition entwickelt, die das Individuum mit Blick auf seine Zielsetzungen dazu verwendet, seine Interessen als Individuum in den Vordergrund zu stellen. Die Interessen der Gene und die des Individuums stimmen wie gesagt in vielen Fällen überein, wenn es aber zum Konflikt kommt, kann sich das Individuum dank des 2. Kognitionstypus über das Interesse der Gene hinwegsetzen. Eine Biene, die nicht über die Fähigkeit des type 2 processing verfügt, wird sich im Interesse ihrer Gene zum Schutz ihrer Königin für diese opfern. Hier gibt es keinerlei Zielkonflikt. Aufgrund seiner Fähigkeit zum type 2 processing aber kann der Mensch die Mechanismen, die dem Ziel der Replikation seiner Gene dienen, hemmen, etwa indem er bewusst auf die Zeugung von Kindern
bewusstseinskonstituierende Arbeitsgedächtnis wesentlich, das verschiedene lokale Gehirnbereiche miteinander koordiniert; vgl. Gläscher/Rudrauf/Colom u. a. 2010. 11 Vgl. Stanovich 2011, Kap. 3 und 4. 12 Vgl. Stanovich 2011, 48 – 50. 13 Vgl. Stanovich 2011, CHC theory und viele andere Ansätze. 14 Vgl. Stanovich 2011, 20 – 22, Kap. 3 und Kap. 4.
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verzichtet.¹⁵ Dabei befähigt das type 2 processing nach Stanovich den Einzelnen nicht nur dazu, gelegentlich das Ziel der Maximierung seiner eigenen Interessen zu verfolgen, sondern er ist grundsätzlich darauf fokussiert.¹⁶ Wir haben somit zwei Typen von Kognition und zwei Arten von Interessen, die sich zumindest schwerpunktmäßig auf diese zwei Formen von Kognition verteilen. Der Mensch ist auf der Ebene der automatischen Abläufe des type 1 processing vom Interesse der Gene geleitet, er setzt sich aber auf der Ebene des type 2 processing prinzipiell Ziele, die seinem Interesse als Individuum dienen, und er kann dies dank seiner Fähigkeit zur Entkopplung auch dann tun, wenn diese Ziele dem Interesse der Gene widersprechen.
12.1.3 Das Interesse der Vernunft Stanovichs Unterscheidung von nur zwei Formen von Interesse bzw. formaler Zielgerichtetheit greift jedoch m. E. zu kurz. Er selbst ist der Auffassung, was allerdings schon einer philosophischen Interpretation seines Ansatzes gleichkommt, jede Zielsetzung des type 2 processing, die nicht dem Interesse des Individuums diene, sei auf ein thinking error zurückzuführen.¹⁷ Ich halte dies für eine unzulässige Reduktion der Interessenstruktur des Menschen. Meine weiterführenden Gedanken stützen sich jetzt nicht direkt auf die Kognitionspsychologie, sondern ich möchte in Anlehnung an Kant ein paar elementare Aspekte der philosophischen Erkenntnistheorie aufgreifen, um zu zeigen, dass auf der Ebene des type 2 processing aller Wahrscheinlichkeit nach von zwei Formen von Interesse bzw. über das Interesse der Gene und des Individuums hinaus noch von einem Interesse der Vernunft auszugehen ist. Das type 2 processing kann sowohl im Interesse des Individuums als auch im Interesse der Vernunft vollzogen werden. Die praktischen Zielsetzungen aber, zu denen ein Mensch gelangt, wenn er das eine oder das andere tut, unterscheiden sich wesentlich voneinander. Zur Begründung dieser Annahme gehe ich zunächst davon aus, dass unsere elementaren Lebensvollzüge (Atmen, Bewegung, Wahrnehmen, Sichernähren, Wohnen, Arbeiten usw.) grundsätzlich, d. h. soweit von körperlicher Seite oder umweltbedingt keine widrigen Umstände vorliegen, von einer positiven Selbstempfindung begleitet sind. Wir erfreuen uns grundsätzlich der Ausübung unserer
15 Vgl. Stanovich/West 2003. Vgl. Stanovich 2003 (wie Anm. 2), 22 – 25. 16 Vgl. Stanovich 2004, 64. 17 Vgl. Stanovich 2011, 22 – 23 Anm.; bzw. eine solche Zielsetzung sei der Ausdruck von parasitären Memen, die sich im Gehirn festsetzen und die das Individuum bekämpfen müsse (vgl. Stanovich 2004, Kap. 7).
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Fähigkeiten, d. h. wir empfinden sie als ein Gut. Jede Fähigkeit ist von daher zugleich etwas, nach dessen Ausübung den Menschen im Prinzip verlangt. Eine unter diesen Fähigkeiten aber ist die Erkenntnisfähigkeit mittels Begriffen. Auch nach deren Ausübung besteht ein prinzipielles bzw. natürliches Verlangen im Menschen. Unser Gehirn ist so beschaffen, dass wir auf diese Weise kognitiv tätig werden können.Wir haben das Bedürfnis, Erkenntnisakte dieser Art zu vollziehen, und wir empfinden auch Freude am Vollzug der Erkenntnistätigkeit. Wenn nun der Mensch denkt, also wenn er kognitiv aktiv im Sinn des 2. Typs ist, bedient er sich einer Anzahl von Begriffen, die er miteinander zu Aussagen verknüpft, die wiederum mit anderen Aussagen verknüpft werden können. Mit Begriffen aber wird stets etwas als ein Allgemeines charakterisiert: Wir bezeichnen etwas als Blume unter Blumen, als Person unter Personen bzw. wir machen eine Aussage über den Sachverhalt, dass diese Blume so und so geartet ist, wie auch anderes so und so geartet ist, dass jene Person dies oder jenes getan hat, wie es auch andere Personen tun oder hätten tun können usw. Alle Erkenntnis, die wir mit Hilfe von Begriffen gewinnen, ist die Erkenntnis von etwas Allgemeinem. Das Verlangen nach Erkenntnis ist somit in gewisser Weise ein Verlangen nach dem Allgemeinen. Dieses Verlangen aber besteht zugleich darin, vom weniger Allgemeinen zum immer Allgemeineren aufzusteigen. Wir verknüpfen Begriffe zu Aussagen, wird sind bestrebt, besondere Aussagen unter allgemeinere zu subsumieren, und zielen so letztlich auf größtmögliche Allgemeinheit. Kant hat diesen Erkenntnisdrang das Interesse bzw. das Bedürfnis der Vernunft genannt.¹⁸ Der Mensch hat einen natürlichen Hang, alle Einzelerkenntnis unter allgemeinere Prinzipien zu subsumieren, bis er die Wirklichkeit als ein systematisches Ganzes erfasst hat.¹⁹ Doch nicht nur auf der Ebene theoretischer Betrachtung besteht ein Bedürfnis nach höchstmöglicher Allgemeinheit, sondern auch auf der Ebene der praktischen Vernunft, d. h. mit Blick auf unsere Zielsetzungen und deren Umsetzung. Kant selbst, dessen Ausführungen ich hier allerdings nicht weiter folge, spricht von einem „Bedürfnis der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch“.²⁰ Wenn der Mensch auf dieser Ebene dem Interesse der Vernunft folgt, wird er sich solche Ziele setzen, die ein Gut von größtmöglicher Allgemeinheit zu verwirklichen versprechen. Statt Erkenntnisse mittels Begriffen unter allgemeine Prinzipien zu subsumieren, geht es der praktischen Vernunft um die Frage, was gut im Allgemeinen und für alle ist, und um die universale Verwirklichung des so verstandenen Guten.
18 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 365. 19 Ebd., B 825. 20 Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, 274. Vgl. auch Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 249 – 252 (A215-A219).
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Auch hier gilt die Dynamik, dass besondere Ziele um allgemeinerer willen verfolgt werden und das Interesse der Vernunft letztlich immer auf das je umfassendere Gut gerichtet ist: Besser, als nur meinen eigenen Hunger zu stillen, wäre es, den Hunger all derer zu stillen, die mir nahe sind, noch besser wäre es, den Hunger aller Menschen überhaupt zu stillen. Das Interesse der Vernunft aber fände seine Erfüllung im Erreichen des höchstmöglichen Gutes für alle, wofür wir u. a. den Begriff der Vollkommenheit verwenden. Die Vollkommenheit aller Menschen und letztlich des Wirklichkeitsganzen und damit die Vollkommenheit schlechthin ist das höchste Ziel, auf das der Mensch aufgrund des Interesses der praktischen Vernunft formal gerichtet ist. Wir können uns also im Rahmen des type 2 processing nicht nur Ziele setzen, die im Interesse des Individuums, sondern auch solche, die im Interesse der Vernunft sind. Doch wie verhalten sich diese beiden Interessen zueinander? Das Interesse des Individuums möchte ich zunächst mit dem klassischen Begriff des Glücks in Verbindung bringen. Wenn ich esse, wenn ich trinke, wenn ich arbeite, empfinde ich mich essend, trinkend, arbeitend. Ein solches Empfinden ist wie gesagt nicht immer, aber es ist grundsätzlich von positiver Natur im Sinn eines Sicherfreuens an den eigenen Lebensvollzügen und damit immer auch ein Stück weit Glückserfahrung. Darüber hinaus aber besteht zugleich ein grundsätzliches Verlangen nach vollkommener Erfüllung, d. h. nach einem Zustand, in dem alle Erfahrungen von uneingeschränkt positiver Natur sind. Der Mensch sehnt sich nicht nur nach Glück im Allgemeinen, sondern auch nach uneingeschränktem Glück. Augustinus hat diesen Sachverhalt klassisch so formuliert: Alle Menschen wollen glücklich im Sinn von vollkommen glücklich sein. Sie suchen aber das Glück meist im Erlangen irdischer Güter, die ihnen dieses Glück nicht gewähren können, weil sie etwas sind, was ihnen wieder genommen werden kann, und derjenige, der befürchten muss, dass ihm wieder genommen wird,was er hat, kann nicht glücklich genannt werden. Vollkommen glücklich ist nur, wer das, was er begehrt, für immer besitzt. Vollkommen glücklich ist weiter nur, wer in den Besitz des für ihn höchstmöglichen Guts, des summum bonum gelangt. Alle Menschen also sehnen sich nach ewigem Besitz vollkommenen Glücks.²¹ Ein Denken nun, das sich in den Dienst des Interesses des Individuums stellt, wird mit Blick auf dieses Glücksverlangen in seinen Zielsetzungen an der Maximierung seines eigenen Glücks als höchstem Ziel orientiert sein. D. h. alle Überlegungen hinsichtlich dessen, wie man handeln soll, werden dem obersten Prinzip untergeordnet, sich stets für das zu entscheiden, was die Verwirklichung des insgesamt höchstmöglichen Glücks gewährleistet.
21 Vgl. Augustinus, De beata vita, 11.
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Anders verhält es sich bei einem vom Interesse der Vernunft geleiteten Menschen. Er ist auf die universale Verwirklichung des Guten gerichtet, und zwar genauer noch auf die universale Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen. Wer um seiner selbst willen das Ziel verfolgt, einem Menschen zu helfen, als Techniker ein Gerät herzustellen, welches Menschen das Leben erleichtert, oder sich für die allgemeine Verwirklichung von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden einsetzt, handelt nicht auf der Grundlage des Prinzips der Maximierung seines persönlichen Glücks. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass das Interesse der Vernunft den Faktor Glück ausschließt. Jeder vom Vernunftinteresse geleitete Mensch verspricht sich von der universalen Verwirklichung des Guten zumindest insgeheim auch etwas für sich selbst Positives. Unseren Denkakten und Handlungen liegt immer ein Verlangen zugrunde, sich an ihnen auch zu erfreuen. Vom Motivationsgrund des Sicherfreuens an den eigenen Lebensvollzügen können wir zu keinem Zeitpunkt absehen. Dennoch orientiert sich der praktisch Reflektierende, der die universale Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen zum höchsten Prinzip seines Handelns erhebt, in seinen Überlegungen nicht an der Idee der eigenen Glücksmaximierung. Aufgrund dieser unterschiedlichen formalen Zielsetzung können das Vernunftinteresse und das Interesse des Individuums auch in Konflikt geraten. Es besteht, wie man es etwas unpräzise ausdrücken könnte, ein gewisser Antagonismus zwischen Denken und Leben. Genauer besehen ist jeder Mensch als Lebewesen zunächst auf sich selbst zentriert, und damit in seinem praktischen Denken auf das Glück als das Ziel seines Verlangens. Aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten aber kann er sich Ziele setzen, die über diese Zentriertheit hinausreichen, die sein Verlangen auf die Verwirklichung eines Gutes von größtmöglicher Allgemeinheit richten. Und wenn er vom Interesse der Vernunft geleitet ist, wird er diese Ziele um ihrer selbst willen verwirklichen wollen. Er kann dies nicht nur, jeder tut es auch ständig, weil er sich aufgrund der Beschaffenheit seiner kognitiven Fähigkeiten auf natürliche Weise solche Ziele setzt. Ich gehe davon aus, dass es genau deshalb nur wenige Menschen gibt, die ihr Handeln konsequent nach dem Prinzip der eigenen Glücksmaximierung gestalten. Das Interesse des Individuums und das Interesse der Vernunft müssen zwar nicht auseinandertreten, sie tun es in vielen Fällen auch nicht, es gibt jedoch genug Fälle, wo dies der Fall ist. Wer einen kranken Angehörigen bis zu seinem Tod pflegt, erhofft sich zwar auch von einer solchen Tätigkeit grundsätzlich etwas Positives, es gibt jedoch genug Situationen, in denen er sich ausrechnen kann, dass ein solches Opfer nicht das für ihn größtmögliche Glück bedeuten würde, dass also ein solcher Altruismus dem Interesse des Individuums widerspricht.
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12.2 Interesse und Lebensform 12.2.1 Das Sinnkriterium Soviel zur anthropologischen Grundlegung einer formalen Interessenvielfalt im Menschen. Man könnte jetzt direkt die präskriptive Ebene ansprechen und die Frage stellen, warum ein Mensch um des Interesses der Vernunft willen auf sein eigenes Glück verzichten sollte. Warum soll etwa ein Techniker in einem havarierten Atomkraftwerk weiterarbeiten, statt sich davonzumachen, soweit er dies freiwillig tun kann, wenn er sich doch ausrechnen kann, dass das Weiterarbeiten, um andere Menschenleben zu retten, ihn entschieden weniger glücklich machen wird, als wenn er mit der Aussicht zu seiner Familie zurückkehrt, noch viele Jahre mit seiner Frau und seinen Kindern in Frieden weiterleben zu können? Warum soll so jemand nicht lieber das für ihn größere Glück wählen, d. h. die Fähigkeit zur Entkopplung dazu einsetzen, sich auch von einem Interesse der Vernunft zu lösen, das zwar in gewisser Weise seiner Natur entspricht, das aber seinem Glück immer wieder auch im Weg steht? Ich möchte weniger direkt vorgehen, indem ich auf der deskriptiven Ebene verbleibe und frage: Auf der Grundlage welcher Überzeugungen bzw. im Rahmen welcher Lebensform ist es für den Menschen sinnvoll, das Interesse der Vernunft zum höchsten Prinzip seines Handelns zu machen? In Verbindung mit welchen Überzeugungen ist es konsistent, sein Interesse als Individuum dem Interesse der Vernunft unterzuordnen bzw. um des allgemein Guten willen auf die eigene Glücksmaximierung zu verzichten? Was sind die Voraussetzungen dafür, ein dem Interesse der Vernunft gemäßes Handeln als die Verwirklichung guten Lebens anzusehen? Ich komme jetzt also auf das Verhältnis von Interesse und metaphysischer Überzeugung im Rahmen einer gegebenen Lebensform zu sprechen. Lebensformen sind im konkreten Leben oft sehr widersprüchliche Gebilde. Ich denke, dass es keinen Menschen gibt, der eine Lebensform vertritt, innerhalb derer nicht zumindest vorübergehend Ungereimtheiten auftreten. Zu komplex ist die Wirklichkeit, der wir ausgesetzt sind, um unser Leben zu jeder Zeit absolut konsistent zu gestalten. Diese Inkonsistenz betrifft natürlich auch das Verhältnis von Zielsetzungen und Überzeugungen. Dennoch stellt sich die Frage der Logik einer Lebensform, die Frage, ob das Handeln des Menschen in einer von ihm vertretenen Lebensform als sinnvoll angesehen werden kann und ob die entsprechenden Zielsetzungen und Überzeugungen wirklich kompatibel miteinander sind. Selbst wenn es keinem Menschen durchgehend gelingt, dürfte doch jeder es als ein regulatives Ideal ansehen, nach möglichst konsistenten Vorstellungen zu leben. Um zu zeigen, welche Überzeugungen mit dem Interesse der Vernunft kompatibel sind, konstruiere ich jetzt zwei idealtypische Lebensformen mit ra-
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dikal entgegengesetzten metaphysischen Überzeugungen: die des Atheisten und die des Theisten bzw. Gottesgläubigen. Allerdings bedarf es als Grundlage für die folgende Analyse eines lebensformübergreifenden Sinnbegriffs, der zuvor noch bestimmt werden muss. Bezüglich einer Lebensform geht es nicht nur um die Kompatibilität von deren verschiedenen Elementen, sondern auch darum, dass sie grundsätzlich sinnvolle Handlungen generieren. Ich formuliere jetzt mit Bezug auf das Verhältnis von Handlung und Sinn vier Sinnaxiome, die sicher einer eingehenderen Diskussion bedürften, die ich an dieser Stelle aber mehr oder weniger setze: 1) Eine Handlung kann nur für ein Subjekt einen Sinn haben. Es gibt keinen Sinn unabhängig von Subjekten, für die etwas einen Sinn hat. 2) Handlungen sind nur dann sinnvoll, wenn sie der Verwirklichung von Zielen dienen.Wir arbeiten, um leben zu können, d. h. das Ziel des Arbeitens ist das Sich-am-Leben-erhalten, das Sich-am-Lebenerhalten ist der Sinn des Arbeitens. 3) Nicht jedes Ziel ist ein sinnvolles Ziel. Sinnvoll ist eine Handlung mit Richtung auf ein Ziel für ein Subjekt erst dann, wenn das angestrebte Ziel für es selbst als ein Gut empfunden oder beurteilt wird. Es macht für ein Subjekt keinen Sinn, sich bewusst ein Ziel zu setzen, das ein Gut allein für ein anderes Subjekt darstellt. 4) Sinnvoll ist eine Handlung mit Richtung auf das Ziel, das als ein Gut empfunden oder beurteilt wird, nur dann, wenn das Subjekt von keinem anderen Ziel weiß,welches es als ein höheres Gut ansieht, und das ebenfalls verwirklicht werden könnte. Wer weiß, dass eine Heilung besser durch körperliche Betätigung als durch Medikamente erreicht wird, für den ist es nicht sinnvoll, Medikamente einzunehmen, wenn er das andere tun kann. Diese vier Axiome zusammengenommen nenne ich im Folgenden der Einfachheit halber das Sinnkriterium. Es muss grundsätzlich erfüllt sein, damit eine Lebensform eine sinnvolle Form von gutem Leben darstellen kann.
12.2.2 Atheistische Lebensform Ich beginne mit der Lebensform des Atheisten. Der Atheist geht, was seine metaphysischen Überzeugungen betrifft, davon aus, dass das Universum, in dem er sich befindet, mit allem, was es beinhaltet, ohne weiteren Grund einfach da ist, dass es darüber hinaus nichts gibt, und dass aus der Materie zufällig Leben und schlussendlich der Mensch entstanden ist. Dass das Universum keinen Grund hat, bedeutet: Es gibt kein Subjekt, das es so hervorgebracht hat, dass es zu irgendeinem Zweck da ist bzw. einen Sinn erfüllt. Weder das Universum als Ganzes noch irgendetwas in ihm ist aufgrund eines solchen Subjekts um etwas willen da. Der Mensch kann sich Ziele setzen und seinem Leben auf diese Weise einen selbstgegebenen Sinn verleihen, es gibt aber keinen Sinn, der erklärt, wozu er da ist.
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Im Fall des Atheismus unterscheide ich nun zwischen zwei Typen von Atheisten, dem verzweifelten und dem lebensbejahenden. Der verzweifelte Atheist begegnet wohl selten unter den Menschen. Er sieht nicht nur das Universum als sinnlos an, sondern er sieht auch keinen Sinn darin, seinem eigenen Leben dadurch einen Sinn zu verleihen, dass er sich Ziele setzt, die er als ein Gut anstrebt. Er ist so resigniert, dass er selbst das Glück nicht für ein erstrebenswertes Ziel hält. Kierkegaard hat in seiner Schrift „Entweder-Oder“ einem solchen Menschen, der für ihn die höchste Form des sogenannten ästhetischen Stadiums darstellt, mit einer Prise Humor folgendes unterstellt: „Du begehrst […] nichts, wünschst nichts; denn das einzige, was Du wünschen könntest, wäre eine Wünschelrute, die Dir alles zu geben vermöchte, und die würdest Du dann benutzen, um deine Pfeife damit auszukratzen“.²² Für ein solches Individuum wäre es im Prinzip gleichgültig, ob er sich in seinem Handeln das Prinzip der Glücksmaximierung oder das Interesse der Vernunft zum Leitfaden macht. Auch wenn er diese Gleichgültigkeit mit jeder konkreten Handlung aufgibt, bzw. jede Handlung, die er vollzieht, ihr widerspricht, kann er doch aus der Distanz der reflexiven Selbstbetrachtung jedes Ziel, das er sich setzt und das er handelnd zu realisieren versucht hat, nachträglich für sinn- und wertlos erklären. Für einen solchen Menschen wird es auch gleichgültig sein, ob er sich für den Verbleib im Atomkraftwerk oder für dessen Verlassen entscheidet. Im Sinn des verzweifelten Ästhetikers von „EntwederOder“ kann man es so formulieren: Tu es, du wirst es bereuen, tut es nicht, du wirst es bereuen, tu es oder tu es nicht, du wirst beides bereuen.²³ Es gibt aus dieser Perspektive keine guten Gründe dafür, das eine oder das andere vorzuziehen, und es macht damit auch keinen Sinn, das Interesse der Vernunft zum höchsten Maßstab des Handelns zu erheben. Etwas anders verhält es sich mit dem lebensbejahenden Atheisten. Auch für ihn ist das Universum als Ganzes ohne Grund und hat damit auch kein beabsichtigtes Ziel und keinen Sinn. Er geht jedoch davon aus, dass es sich lohnt zu leben. Da die Wirklichkeit als Ganze sinnlos ist, muss er,wenn er sich nicht einfach vom Leben treiben lässt, sondern es bewusst und konsistent gestalten will, seinem Leben für die ihm gegebene Lebenspanne selbst einen Sinn verleihen, d. h. sein Leben bewusst nach einem selbstgewählten Prinzip gestalten, welches es ihm erlaubt, möglichst lohnenswerte, also von ihm als Gut erachtete Ziele zu verfolgen und zu verwirklichen. Was für eine formale Zielsetzung aber könnte dies sinnvollerweise sein? Das Prinzip muss dem Sinnkriterium gemäß so gestaltet sein, dass die Handlungen, die daraus resultieren, und die Ziele, die erreicht werden, so
22 Kierkegaard 1975, 759. 23 Vgl. ebd., 49 – 50.
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an das Subjekt zurückgebunden sind, dass sie ein Gut für das Subjekt darstellen. Für den lebensbejahenden Atheisten aber ist das einzig denkbare oberste Prinzip des Handelns, das diese Rückbindung gewährleistet, das Prinzip der Verwirklichung des höchstmöglichen Glücks in diesem Leben. Genauer noch: In einem Leben, in das man unverlangt hineingeboren wird, das unwiderruflich einmalig ist und in einem sinnlosen Universum abläuft, das aber zugleich positiv gestaltet werden will, ist die einzige, mit diesen metaphysischen Überzeugungen konsistente oberste Lebensmaxime: Lebe so glücklich wie möglich in diesem dir zufällig gegebenen Leben. Damit ist nicht gesagt, dass er notwendig als Egoist allein auf sein eigenes Glück blickt, dass das Wohl anderer Menschen ihm nichts bedeutet. Ich möchte den Atheisten keinesfalls als jemanden hinstellen, der sinnvoll nur als Amoralist leben kann. Ein Gemeinwohl, dessen Verwirklichung auch für das eigene Glück förderlich ist, ist sicher auch für den lebensbejahenden Atheisten als erstrebenswert anzusehen: In einem Land, in dem Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden herrschen, lebt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch für den Einzelnen besser, als in einem Land, wo dies nicht der Fall ist. Der Einsatz für das Wohl anderer ist für ihn etwa auch dann sinnvoll, wenn er Kinder hat und das Glück der eigenen Kinder als Bestandteil des eigenen Glücks ansieht. Er kann auch Freude daran finden, das Wohlbefinden ihm ganz fremder Menschen zu fördern. In vielen Fällen widerspricht der Einsatz für die universale Verwirklichung von Werten somit nicht dem Prinzip der eigenen Glücksmaximierung. Aus welchem Grund jedoch sollte ein solcher Atheist das Prinzip der universalen Verwirklichung von Werten um ihrer selbst willen zum höchsten Leitfaden seines Handelns machen? Welchen Sinn macht es, in einem sinnlosen Weltganzen sich in seinem Handeln konsequent vom Interesse der Vernunft leiten zu lassen? Dass der Mensch seinem Wesen nach so beschaffen ist, dass er ein Vernunftinteresse besitzt, kann für den Atheisten kein Grund sein, ebenso wenig wie es für ihn ein Grund sein kann, dem Interesse seiner Gene Rechnung zu tragen, weil er wie jedes andere Lebewesen auch von einem solchen Interesse bestimmt wird. Er fühlt sich nicht dem verpflichtet, was die Evolution zufällig hervorgebracht hat. Warum aber sollte er dem Interesse der Vernunft dann folgen? Ich möchte nicht behaupten, dass er diesem Prinzip gar nicht zu folgen vermag, denn wie gesehen bereitet auch das Verfolgen des Guten um seiner selbst willen Freude und kann somit als in den Gesamtplan eines auf die Glücksmaximierung ausgerichteten Lebensentwurfes integriert werden. Allerdings ist dies nur in Grenzen möglich, d. h. genauer besehen nur so weit, als die Verfolgung des Guten um seiner selbst willen das eigene Glück nicht in Frage stellt. Denn warum sollte, um das Beispiel noch einmal aufzugreifen, ein lebensbejahender atheistischer Techniker in einem havarierten Atommeiler weiterarbeiten, um vielen Menschen das Leben
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zu retten, wenn er der Überzeugung ist, dass dies sein Lebensglück entschieden schmälert? Sinnvoll wäre es für ihn höchstens, wenn er im Moment der Entscheidung der Auffassung wäre, es würde ihn glücklicher machen zu bleiben, als sich davonzumachen. Er könnte es natürlich auch tun, weil er sich im Moment der Entscheidung sagt: Für mich ist das Wohlergehen anderer Menschen ein wichtiger, mir Zufriedenheit verschaffender Wert. Es drängt mich gerade, mich für diesen Wert einzusetzen, auch wenn es meiner Glücksmaximierung widerspricht. Gemäß dem von mir formulierten Sinnkriterium wäre dies jedoch für den reflektierten Atheisten keine sinnvolle Entscheidung, denn es ist grundsätzlich nicht sinnvoll, bewusst etwas weniger Gutes etwas gewusst Besserem vorzuziehen. Noch sinnloser aber wäre es für ihn, die universale Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen konsequent zum obersten Prinzip seines Handelns zu erheben.Wenn man etwas um seiner selbst willen anstrebt, strebt man es als etwas an, dem man deshalb einen Wert zuspricht, weil man es aufgrund der eigenen Vernunfteinsicht für ein wünschenswertes zu verallgemeinerndes Gut hält. Da aber die Verwirklichung dieses Gutes dem, der es um seiner selbst willen verwirklichen will, keinen weiteren persönlichen Vorteil als die eventuelle Freude an der Verwirklichung dieses Gutes selbst verspricht, gibt es keine Gewährleistung dafür, dass ein solches Handeln ihm mit Blick auf sein Gesamtleben das größtmögliche Glück bringt. Er muss sich aber, wenn er sinnvoll handeln will, die Frage stellen, ob es nicht ein größeres Gut gibt als das Glück, das man bei der Verwirklichung eines Gutes um seiner selbst willen erlangen kann. Dabei kann das angesprochene Glück für den Atheisten allein das Glück sein, das er in diesem Leben zu erlangen hoffen kann. Es gibt jedoch über den Fall des Technikers in einem havarierten Atommeiler hinaus genug Fälle, wo er sich ausrechnen kann, dass die Verwirklichung eines Gutes um seiner selbst willen für ihn nicht das größtmögliche Glück in diesem Leben bedeutet. Der bewusst reflektierende, konsequente Atheist kann die universale Verwirklichung des Guten von daher sinnvoll nur so lange verfolgen, wie sie seiner eigenen Glücksmaximierung in diesem Leben nicht im Weg steht. Alles andere wäre ein thinking error bzw. ein Fehler in der Logik einer atheistischen Lebensform.
12.2.3 Theistische Lebensform Der Theist geht im Gegensatz zum Atheisten davon aus, dass es einen Gott als Schöpfer dieses Universums gibt, und dass er dieses Universum mit Absicht und nach Plan geschaffen hat, also mit einem gewissen Zweck vor „Augen“. Ein solcher Mensch wird die Beschaffenheit dieser Welt und auch die Beschaffenheit seiner selbst grundsätzlich für von Gott gut geheißen bzw. für gottgewollt halten. D. h., er
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wird davon ausgehen, dass es Gottes Willen und damit auch einem von Gott gewollten Sinn entspricht, dass der Mensch durch die Evolution mit einem Interesse der Vernunft ausgestattet ist, also mit einem natürlichen Hang zur Erkenntnis von allgemeinen Zusammenhängen und in praktischer Hinsicht zur universalen Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen, und dass er dem gemäß auch handeln soll. Doch ist es damit für den Theisten schon sinnvoll, die universale Verwirklichung von Werten um ihrer selbst willen anzustreben? Dem Sinnkriterium gemäß macht es wie gesagt für ein Subjekt keinen Sinn, sich ein Ziel allein deshalb zu setzen, weil es ein Gut für ein anderes Subjekt darstellt. Es macht von daher auch für den Gottesgläubigen keinen Sinn, die universale Verwirklichung von Werten allein deshalb verwirklichen zu wollen, weil sie ein Gebot Gottes ist und damit für Gott ein Gut darstellt. Sinn kann es nur geben, wo das angestrebte Ziel ein Gut für das es anstrebende Subjekt selbst ist. Wie gesehen fehlt auch beim Interesse der Vernunft das Moment der Glückserfahrung nicht. Wer um des Guten selbst willen handelt, empfindet die Ausübung einer solchen Tätigkeit wie auch das Ausüben vieler anderer Tätigkeiten als grundsätzlich positiv und oft mit Freude verbunden. Auch das ist allerdings noch kein ausreichender Grund, konsequent das Gute um seiner selbst willen anzustreben, denn genauso wenig wie für den Atheisten wäre es auch für den Gottesgläubigen sinnvoll, eine für ihn weniger gute Handlung einer besseren vorzuziehen, und wie schon mit Bezug auf den Atheisten dargestellt, verspricht die Verfolgung des allgemein Guten um seiner selbst willen nicht an sich schon das zu sein, was einen am glücklichsten macht. Für den Atheisten gab es mit Bezug auf gut und weniger gut keinen anderen Maßstab als das Glück in diesem Leben. Der Theist aber, wie ich ihn verstehe, zeichnet sich in seinen metaphysischen Überzeugungen zugleich dadurch aus, dass er sich Hoffnung macht auf die universale Verwirklichung eines höchsten Gutes, das auch seine eigene Glückseligkeit mit einschließt. Er kann zwar keinerlei Hoffnung hegen, dass die Verwirklichung des höchsten Gutes bzw. der Vollkommenheit schlechthin, die sein Vernunftinteresse als Letztziel anstrebt, zu Lebzeiten zustande kommen wird. Eine solche Verwirklichung ist unter den Bedingungen, in denen der Mensch lebt, nicht vorstellbar. Seine Hoffnung richtet sich aber auf eine transzendente, von Gott herbeigeführte Vollkommenheit, die es rechtfertigt, sich konsequent für die universale Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen einzusetzen. D. h., er kann das Interesse der Vernunft zum obersten Prinzip seines Handelns machen, ohne das Sinnkriterium zu verletzen, weil er mit der Hoffnung auf eine von Gott gegebene Vollkommenheit, die sein eigenes Glück miteinschließt, auf ein Glück hofft, über das hinaus es kein größeres Glück mehr geben kann. Die Gefahr kann somit gar nicht aufkommen, ein Handeln, das ein geringeres Glück verspricht, einem Handeln vorzuziehen, durch das
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etwas Besseres verwirklicht werden kann. Der Theist ist grundsätzlich auf das höchstmögliche Gut ausgerichtet. Im Gegensatz zum Atheisten kann also ein gottesgläubiger Atomtechniker sinnvoll in einem havarierten Atommeiler weiterarbeiten, weil er die Ausrichtung seines Handelns auf das Gute um seiner selbst willen als gottgewollt ansieht und für ihn zugleich die Hoffnung auf ein höchstes Gut besteht. Er kann auf das bewusste Streben nach Glücksmaximierung hier und jetzt verzichten, weil er die Hoffnung hat bzw. darauf vertraut, dass Gott in der Zukunft ein maximales Glück für ihn bereithält. Auch im Fall des Theisten unterscheide ich zwischen zwei verschiedenen Typen, allerdings in anderer Hinsicht als beim Atheisten. Es gibt den Theisten rein aus Vernunftgründen – eventuell auch lediglich aus subjektiven Gefühlsgründen, aber diesen Fall blende ich hier aus – und den Theisten nicht nur aus Vernunftgründen, sondern auch aus Offenbarungsgründen. Der Einfachheit halber nenne ich den ersten einen Theisten aus Vernunftgründen, den zweiten einen Offenbarungstheisten. Wie soll nun der Gottesgläubige aus Vernunftgründen rein von der Vernunft her zu dem Schluss kommen, dass Gott ihm tatsächlich die Verwirklichung eines höchsten Gutes in Aussicht stellt? Selbst wenn es eine logisch einwandfreie Herleitung von Gott als erster Ursache von allem zu dessen absoluter Vollkommenheit und damit auch Güte gäbe, wie etwa Thomas von Aquin sie mit den Mitteln aristotelischer Begrifflichkeit in seinen Summen eindrücklich darlegt,²⁴ und damit notwendig auch davon auszugehen wäre, dass dieser gute Gott es mit der von ihm geschaffenen Kreatur gut meint, wüsste doch dieser Gottesgläubige angesichts des Übels, das ihm überall in Gottes guter Schöpfung begegnet, nicht so genau, was diese Güte konkret für den Menschen bedeutet. Man kann zwar davon ausgehen, dass ein absolut gütiger Gott alles zu einem absolut guten Ende führt, aber es bleiben Zweifel, was dies für das einzelne Individuum genau bedeutet. Zwar gehen die Offenbarungstheisten ebenfalls davon aus, dass ein personaler Gott die Welt mit Absicht und Plan erschaffen hat, und sie damit einen Zweck und einen Sinn hat, und viele von ihnen versuchen, diese Annahmen so weitgehend wie möglich auf Vernunftgründe zurückzuführen. Ihr Denken und Handeln gründet jedoch zugleich in der Annahme, dass Gott sich dem Menschen in der Geschichte offenbart hat, d. h. sich ihm mitgeteilt hat, und zwar etwas von sich mitgeteilt hat, was letztlich keiner Vernunfteinsicht mehr zugänglich ist. Die für unseren Zusammenhang entscheidende Mitteilung aber ist die Verheißung einer Zukunft, in der genau das erreicht wird, was der Theist sich erhofft: die Ver-
24 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, I, 14 ff. In Zusammenfassung siehe Disse 2007, 163 – 165.
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wirklichung einer Vollkommenheit, in der das Gute, welches das Interesse der Vernunft um seiner selbst willen anstrebt, so umfassend verwirklicht ist, dass es auch das eigene Glück mit umfasst. Wie wir diese Vollkommenheit benennen, ob Reich Gottes, Paradies oder anders, und mit welchen unvollkommenen, bildhaften Vorstellungen wir sie belegen, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass der Glaube an die Verheißung einer solchen Vollkommenheit es für das Individuum sinnvoll macht, das Interesse der Vernunft konsequent zum Maßstab seines Handelns zu erheben, und zwar sinnvoller als für einen Gottesgläubigen rein aus Vernunftgründen.²⁵ Auch für den Offenbarungstheisten bestehen natürlich weiterhin die bereits erwähnten Zweifel angesichts des Übels in der Welt. Der Glaube an die Verheißung einer zukünftigen Vollkommenheit als von Gott selbst offenbart aber ist ein Grund dafür, sich in seinem Handeln vom Interesse der Vernunft leiten zu lassen, der über das hinausreicht, was die Vernunft von sich aus an Begründungen zu bieten hat. Dass eine solche Zukunft zu erwarten ist, lässt sich mit den Mitteln der Vernunft wie gesagt höchstens daran festmachen, dass die absolute Güte Gottes, wenn sie denn rational plausibel gemacht werden kann, auf einen guten Ausgang der von Gott hervorgebrachten Schöpfung schließen lässt. Man kann darüber streiten, aber m. E. wiegen die genannten Zweifel die Vernunftgründe, die für ein Sicheinlassen auf das praktische Vernunftinteresse sprechen, eher auf. Die Überzeugung aber, dass Gott den Menschen eine solche Verheißung vermittelt durch ausgewählte Menschen in einem besonderen Akt kommuniziert hat,vermag diese Zweifel weiter zu entkräften. Wenn jemand eine solche Überzeugung hat, dann wird er einer auf Gott zurückzuführenden Kommunikation einen größeren Wahrheitsgehalt zusprechen als alles, was er mit Hilfe der Vernunft zu erkennen vermag, es sei denn alle Vernunft spricht gegen die Glaubwürdigkeit des Inhaltes dieser Mitteilung. Insbesondere mit Blick auf die Einsicht in die Begrenztheit der Vernunft, metaphysische Fragen zu beantworten, erweist sich die Annahme einer Offenbarung für den Theisten als wichtiger Legitimationsgrund.
25 Zumindest die christliche Ethik könnte als ein Aufruf ausgelegt werden, konsequent das Interesse der Vernunft dem Interesse des Individuums vorzuziehen gemäß: „Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten.“ (Mk 8,35) Man kann sich fragen, ob sich nicht Jesu gesamtes Leben als unbedingte Treue zur formalen Ausrichtung des Menschen auf das Gute um seiner selbst willen verstehen lässt. Im Zentrum seiner Wirksamkeit stand jedenfalls die Verkündigung eines Reiches Gottes, dessen Verkörperung er zugleich zu sein beanspruchte. Wie schon der Atheist Ernst Bloch den Eindruck, den die Gestalt Jesu hinterlässt, auf den Punkt gebracht hat: „Ein Mensch wirkte hier als schlechthin gut, das kam noch nicht vor.“ (Bloch 1958, 1487).
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Dabei möchte ich in Anlehnung an Gadamer betonen, dass ich es nicht als widervernünftig ansehe, sich einer Überzeugung anzuschließen, die man mit Hilfe der Vernunft weder verifizieren noch falsifizieren kann, soweit es vernünftig ist, in Fragen, über die man aufgrund mangelnder Kenntnis selbst nicht entscheiden kann, sich dann auf das Urteil anderer zu verlassen, wenn man gute Gründe hat anzunehmen, dass diese Anderen über die dafür nötige Kenntnis verfügen. Wäre dem nicht so, so wäre es dem Nichtwissenschaftler unmöglich, die Erkenntnisse der Physik, etwa die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik oder die Evolutionstheorie anzuerkennen, denn kein in den entsprechenden Naturwissenschaften unausgebildeter Mensch kann kompetent überprüfen, ob die Forschungsergebnisse der Physik oder der Biologie glaubwürdig sind. So wie der Nichtwissenschaftler dem Physiker vertraut, so ist es auch legitim, dass der Offenbarungstheist dem Religionsstifter, der Offenbarung für sich beansprucht, vertraut, soweit er gute Gründe hat, ihn für glaubwürdig zu halten. Ein wichtiges, aber natürlich immer auch zwiespältiges, weil projektionsverdächtiges Glaubwürdigkeitskriterium wird dabei die Güte dessen sein, was sich ihm als Offenbarung aufdrängt. Aufgrund meiner Analyse der Logik der Lebensformen komme ich somit zu dem Schluss: Für den Atheisten besteht das gute Leben grundsätzlich in der Glücksmaximierung in diesem Leben, für den Theisten in der universalen Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen. Ganz gleich wie sich der Atheist oder der Theist in seinem Leben tatsächlich verhält, wie widersprüchlich er vielleicht mit Bezug auf die metaphysischen Überzeugungen, die er eigentlich vertritt, handelt, lautet somit die Antwort auf die Frage, für welche Lebensform es angesichts der ihr zugrunde liegenden metaphysischen Überzeugungen sinnvoll ist, sich konsequent vom Interesse der praktischen Vernunft in Richtung auf die universale Verwirklichung des Guten um seiner selbst willen leiten zu lassen: Für den Atheisten gleich welcher Art ganz sicher nicht, für ihn wäre es tatsächlich ein – wie Stanovich es ausdrückt – thinking error, für den Theisten aus Vernunftgründen schon, aber nur bedingt, für den Theisten auch aus Offenbarungsgründen durchaus.
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John Cottingham
13 Das gute Leben, die menschliche Natur und das Transzendente* 13.1 Gutes Leben und menschliche Ruhelosigkeit Wenn wir die Bestandteile eines dem Menschen angemessenen guten Lebens näher untersuchen wollen, scheinen sich einige quasi von selbst anzubieten. Offenkundige Voraussetzungen schließen etwa die Befriedigung unserer tierischen Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Sicherheit vor äußeren Eingriffen ein. Substantieller betrachtet hat sich eine langwährende, von Aristoteles ausgehende Tradition für das gute Leben als tugendhaftes Leben stark gemacht. Der Mensch soll seine Talente entwickeln, seine Möglichkeiten ausschöpfen und nach Vortrefflichkeit streben, um ein lohnenswertes Leben zu führen. Eine solche Leistung fällt uns nicht einfach zu, sondern wir müssen dafür arbeiten – förmlich darum ringen. Wie Benedictus de Spinoza einmal bemerkte: „Aber alles, was vortrefflich ist, ist ebenso schwierig wie selten.“¹ Obgleich dies zunächst wie ein Problem erscheinen mag, zeigt doch die weitere Überlegung, dass das Schwierige und Mühevolle oftmals den Wert unseres Tuns steigert und das Erreichen der in ihm angelegten Ziele unsere Zufriedenheit erhöht. Zudem gibt es ja Vieles zu erstreben. Wir mögen nicht alle unsere Ziele erreichen; wenn jedoch die Ziele, die wir uns selbst setzen, gut sind, wenn sie uns zu besseren Menschen machen und das Leben unserer Mitmenschen bereichern, sind wir wenigstens auf dem besten Wege, ein gutes Leben zu führen. Soweit scheint die Suche nach dem guten Leben, wenn auch nicht unproblematisch, so doch innerhalb ziemlich klar gesetzter Rahmenbedingungen vor sich zu gehen. Es gibt viel Lohnenswertes; es gibt das Schöne und Gute. Wenn wir nur danach streben, können wir uns innerhalb der Chancen und Risiken unseres sterblichen Lebens die berechtigte Hoffnung machen, selbiges nicht zu verschwenden.
* Der Artikel basiert auf meinem Aufsatz „Human Nature and the Transcendent“, veröffentlicht in C. Sandis und M. Cain 2012 (Hg.), Human Nature, Royal Institute of Philosophy Supplement 70 (Cambridge: Cambridge University Press, 2012), 233 – 245. © The Royal Institute of Philosophy und Beitragende, 2012. Ich danke Sebastian Muders, Matthias Hoesch und Markus Rüther von der Universität Münster für ihre aufmerksamen redaktionellen Kommentare, die mir beim Schreiben dieser Version des Aufsatzes enorm geholfen haben. 1 Spinoza 2010 [ca. 1665], 595.
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Doch ist das längst nicht alles. Sehr schematisch gesprochen würde ich behaupten, dass es zusätzlich zum Schönen und Guten noch eine dritte Dimension eines guten menschlichen Lebens gibt: das Sinnvolle. Der Bereich des Sinnvollen erschöpft sich nicht im Erreichen desjenigen, was schön und gut ist. Man betrachte Blaise Pascals schillerndes Diktum „l’homme passe l’homme“ – „der Mensch geht unendlich über den Menschen hinaus“;² „der Mensch transzendiert sich selbst“. Was bedeutet das? – Nach einer einleuchtenden Deutung spielt Pascal hier auf die merkwürdige Ruhelosigkeit des menschlichen Geistes an, die so viele Philosophen zum Nachdenken angeregt hat, von Augustinus, der lange vor Pascal lebte, bis hin zu Kierkegaard und vielen anderen späteren Denkern.³ Ein Mensch zu sein heißt demnach zu erkennen, dass wir in einem bestimmten Sinne unvollständig sind. Wir befinden uns auf einer Reise zu einem vor unserer Sichtweite stets zurückweichenden Horizont. Anders als die übrigen Tiere, die für ihr Streben und Gedeihen nichts weiter benötigen als eine ihnen zugeneigte Umwelt, zeigen Menschen selbst dann noch einen gewissen Widerstand gegen die sich einstellende Zufriedenheit mit ihrer sich innerhalb gegebener Parameter abspielenden Existenz, wenn für alle ihre physischen und biologischen, sozialen wie kulturellen Bedürfnisse gesorgt ist, sie in einer absolut sicheren und bereichernden Umwelt leben und der Pfad der Tugend für sie vorgezeichnet ist: Selbst dann noch spüren sie den ruhelosen Antrieb nach etwas Größerem in sich. Menschliche Wesen sind kurzgefasst von etwas besessen, was wir als „transzendentes Drängen“ (transcendent urges)⁴ bezeichnen können. Augustinus und Kierkegaard waren wie Pascal der Überzeugung, dass diese Form der Ruhelosigkeit ein Drängen nach dem Transzendenten ist. Auch wenn sie es sehr verschieden ausdrückten, dachten doch alle drei, dass die Ruhelosigkeit und Unvollständigkeit unserer Natur von einer noch unausgereiften Sehnsucht nach Gott ausgeht. Der Begriff dieses Verlangens wird von diesen und anderen Autoren häufig mit der Vorstellung verknüpft, dass die Menschen gelegentliche Einblicke in eine tiefer reichende Wirklichkeit erhalten, die reichhaltiger ist als all das, was durch unsere gewöhnliche alltägliche Wahrnehmung der Welt sichtbar wird. Williams Wordsworths berühmte Ode über die „Hinweise auf die Unsterblichkeit“ beklagt die Vergänglichkeit dieser sporadischen Einblicke in das Transzendente: Er be-
2 Pascal 1997 [ca. 1660], Nr. 131 nach Lafuma bzw. Nr. 434 nach Brunschvicg. 3 Augustinus 1950 [ca. 398], Buch I, Kap. 1; Kierkegaard 1997 [1849]. 4 Die meines Wissens beste Besprechung dieser Thematik findet sich in Kerr 1997. Man vergleiche auch Iain McGilchrists Begriff der Sehnsucht (longing) – eine Art ruhelosem Verlangen, das uns in Goethes Worten „hinanzieht“, im Gegensatz zum bloßen Wollen, bei dem man gleichsam „von hinten“ hin zu etwas Trägem getrieben wird. Siehe McGilchrist 2009, 367 – 8.
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schreibt, wie sie, abgestumpft von den Sorgen des alltäglichen Lebens, den „Glanz im Licht des Alltags ganz verliert“.⁵ Wie er allerdings ebenso andeutet, verweist dieses alltägliche Gefühl von Flachheit und Unvollständigkeit, welches einen Großteil unseres gewöhnlichen Daseins umgibt, selbst auf ein angeborenes Verlangen nach etwas, was es transzendiert – ein Verweis, der ein unauslöschlicher Bestandteil unseres Menschseins ist. Wie Wordsworth unter Rückgriff auf die religiöse Sprache (mit platonischem Beiklang) schreibt, sind wir alle als „Wolkenglanz und Glorienschein“⁶ geboren, und entstammen „Gott […], er ist unser Heim“.⁷ Möglicherweise ist das alles nur eine schöne dichterische Idee; oder vielleicht eher eine etwas irritierende, je nach Perspektive. Jedenfalls sollte der Schluss von einem „transzendenten Verlangen“ hin zu einem ebenso transzendenten Gegenstand dieses Verlangens jeden hartgesottenen analytischen Philosophen (dessen Rolle wir alle einnehmen, wenigstens von Zeit zu Zeit) mehr als skeptisch machen. Könnte es nicht auch andere Wege geben, dieses Verlangen zu erklären, die wir immanentistisch nennen können, da sich in ihnen keinerlei Bezug zu Dingen außerhalb der natürlichen, von uns bewohnten Welt findet? Beispielweise könnte eine darwinistische Erklärung die Ruhelosigkeit einfach als Nebenprodukt einer den Menschen auszeichnenden Form von nicht-zielgerichteter Kraft und Neugierde ansehen, welche sich als großer Vorteil für das evolutionäre Überleben unserer Art erwiesen hat. Ein Stamm, der sich beständig darum bemühte, die Grenzen und Bedingungen des eigenen Lebens neu auszuloten, war für den Kampf um knappe Ressourcen vermutlich viel besser aufgestellt, besonders in Zeiten auftretender Umweltkatastrophen oder tiefgreifender Veränderungen des eigenen Lebensraums. Mithin könnte gemäß dieser Ansicht der sogenannte „Drang zu Transzendieren“ einfach aus der natürlichen und höchst vorteilhaften Anlage entstanden sein, stets einen Schritt weiter zu gehen, ohne dass dabei ein letztes transzendentes Objekt (als das Transzendente) angenommen werden muss. Der Theist könnte an dieser Stelle einwenden, dass die hier infrage stehende Ruhelosigkeit nicht einfach ein Verlangen nach beständigem Vorwärtsschreiten sei, sondern ein Hunger nach der letzten Antwort, nach etwas, was sich ganz außerhalb des Reichs natürlicher Ursachen und Bedingungen befindet. Aber selbst wenn man zugesteht, dass das diagnostizierte Verlangen tatsächlich von dieser speziellen, transzendenten Art ist, kann immer noch in Zweifel gezogen werden, ob es ein tatsächliches – oder auch nur mögliches – transzendentes Objekt gibt, das ihm gegenübersteht. Thomas von Aquin mag ein entsprechendes
5 Wordsworth 2003 [1807], V, 19. 6 A.a.O., V, 7. 7 A.a.O., V, 8.
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Prinzip der Art nullum desiderium naturae inane – kein unserer Natur inhärentes Begehren kann leer oder vergeblich sein – angenommen haben; jedenfalls aber ist ein solches Prinzip weit davon entfernt, als selbstverständlich betrachtet werden zu können.⁸ Selbst wenn den meisten menschlichen Antrieben reale Gegenstände entsprechen, die sie befriedigen – sexuelles Verlangen richtet sich auf ein sexuelles Objekt, bei unserem Hungertrieb sind es tatsächliche oder mögliche Mahlzeiten, und unsere Sehnsucht nach Zuneigung richtet sich auf Freunde und Gefährten⁹ – scheint daraus nicht zu folgen, dass alle unsere natürlichen Bestrebungen diesem Muster entsprechen müssen. Wir mögen nach einer allerletzten Antwort verlangen, die unserer menschliche Ruhelosigkeit den Frieden bringt, doch könnte diese Art von Antwort schlicht nicht verfügbar sein; so sehr wir uns auch einen letzten Grund des Seienden und Guten herbeiwünschen, mag dieser dennoch nicht existieren.¹⁰ Dessen ungeachtet könnten wir immerhin bereit sein, mit Thomas von Aquin die „Natürlichkeit“ unseres „transzendenten“ Verlangens als weitverbreitetes Merkmal menschlicher Erfahrung in der einen oder anderen Form anzuerkennen. Auch ohne eine petitio principii hinsichtlich ihres Gegenstandes zu begehen, kann man zumindest zugestehen, dass es von allen Philosophen, die sich um ein Verständnis der conditio humana bemühen, ernsthafte Beachtung verdient. In diesem Artikel möchte ich drei Aspekte des sichtbaren menschlichen Verlangens nach dem Transzendenten näher beleuchten, nämlich dessen kosmologische, ästhetische und moralische Dimension. Die allgemeine Richtung meines Arguments wird dahin gehen, dass es die Erfordernisse der Integrität, also der Tugend, sich gegenüber dem Charakter der eigenen gelebten menschlichen Erfahrung
8 „Dem Menschen wohnt nämlich die natürliche Sehnsucht inne, die Ursache kennenzulernen, wenn er eine Wirkung vor Augen hat: und daraus entsteht in dem Menschen die Bewunderung. Falls also der Verstand der Vernunftnatur nicht zur ersten Ursache der Dinge durchfühlen kann, bleibt die Sehnsucht der Natur unerfüllt.“ (Thomas von Aquin 1985 [1266 – 73], Teil I, 12. Untersuchung, Art. 1, 91) 9 Eine vereinfachte Version dieses Arguments zugunsten der „Nicht-Vergeblichkeit natürlicher Begierden“ wird von C. S. Lewis vertreten: „Creatures are not born with desires unless satisfaction for these desires exists. A baby feels hunger; well, there is such a thing as food. A duckling wants to swim; well, there is such a thing as water. Men feel sexual desire; well, there is such a thing as sex. If I find in myself a desire which no experience in this world can satisfy, the most probable explanation is that I was made for another world.“ (Lewis 1960 [1952; beruht auf Radiovorträgen von 1941 – 44], Buch III, Kap. 10: „Hope“). Siehe auch Haldane 2006, wiederabgedruckt in Cottingham 2007. 10 In der Tat gehen einige Philosophen noch einen Schritt weiter und stellen bereits die bloße Denkbarkeit unserer Idee vom Transzendenten in Frage, als einer Wirklichkeit „jenseits“ oder „hinter“ der natürlichen Welt. Vgl. Bede 2004.
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aufrichtig und wahrhaftig zu verhalten, notwendig machen, deflationistische oder reduktionistische Strategien, unsere transzendenten Antriebe wegzuerklären, abzuweisen. Dadurch sind die Optionen für deren Verständnis stark eingeschränkt – zumindest wenn es darum geht, ihre Bedeutung und Rolle in einer plausiblen Theorie des guten Lebens für den Menschen angemessen abzubilden.
13.2 Die kosmologische Dimension Als erstes möchte ich also kurz die kosmologische Dimension näher betrachten – wie also das menschliche Verlangen nach dem Transzendenten auf unsere Vorstellung vom Kosmos Einfluss nimmt. Folgt man dem Urknall-Szenario, dem gegenwärtig besten Ansatz zur Frage, was vor dreizehn oder vierzehn Milliarden Jahren genau passierte, brachte eine Singularität von unendlicher Energie alles Seiende hervor: Materie, Raum, Zeit, all dies kam gleichsam aus dem Nichts. Tatsächlich, so mag man jetzt denken, klingt das doch ganz nach einer göttlichen Schöpfung. Jedoch wird der zunehmend die Oberhand gewinnende Naturalismus unserer Zeit solch ein theistisches Weltbild natürlich nicht einmal in Betracht ziehen. Stattdessen sieht die herrschende Vorstellung unser Universum als einen geschlossenen Kosmos an, als in sich geschlossenes Ganzes – ein Universum, das in den unsterblich gewordenen Worten Bertrand Russells „einfach da“ ist. (In einer Radiodiskussion mit Frederick Copleston wurde Russell gefragt, ob er wirklich akzeptieren könne, dass das Universum vollkommen zufällig und grundlos entstanden sei; er erwiderte „I should say that the universe is just there, and that’s all.“¹¹) Der Naturalist oder auch Säkularist glaubt also an keine Wirklichkeit jenseits der Gesamtmenge an Ereignissen und Eigenschaften, die wahlweise direkt aus dem Urknall heraus entstanden sind oder sich aus seinen Trümmern entwickelt haben. Diese Totalität, pulsierend, zitternd, sich ausdehnend bis sie schlussendlich abkühlt, ist einfach da. Für uns bleibt nichts als die rohe Faktizität, wie Jean-Paul Sartre gesagt haben könnte – etwas, dass uns erschaudern, in Übelkeit ausbrechen oder in existentiellem Schrecken erzittern lässt, wenn wir darüber nachdenken. Wie Albert Camus es hätte formulieren können (und tatsächlich so gesagt hat), leben wir in einem von Natur aus absurden Universum. Wir können versuchen, uns wie Sisyphos gegen die Bedeutungslosigkeit des Ganzen trotzig aufzulehnen; aber das Unwohlsein, das erschaudernde Gefühl der Absurdität lauert beständig unter der Oberfläche. Es ist kein Zufall,
11 „The Existence of God“. Diskussion mit Father Fredrick Copleston, ausgestrahlt 1948 im Dritten Programm der BBC. Wiederabgedruckt in Russell 1957, Kap. 13, 152.
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dass Camus bei all seinem zur Schau getragenen Trotz verkündete, dass das einzig ernstzunehmende philosophische Problem, das in einer solchen Welt noch für uns übrig bleibt, die Frage ist, ob wir nicht Selbstmord begehen sollten.¹² Um es gleich klarzustellen: Ich denke nicht, dass wir philosophisch beweisen können, dass die von uns bewohnte Welt nicht das rohe und nur zufällig bestehende Universum der Naturalisten ist. In diesem Punkt stimme ich mit dem derzeitigen philosophischen Konsens überein. Nur wenige Denker nehmen heutzutage an, dass die eine oder andere Variante des kosmologischen Arguments in seiner traditionellen Form einen wasserdichten Beweis für eine transzendente göttliche Ursache der Welt liefert. Meiner eigenen Ansicht nach besteht das Problem dieses Arguments nicht so sehr darin, dass es nicht schlüssig ist, sondern eher in seiner mangelnden Überzeugungskraft aufgrund der in ihm eingebauten petitio principii: Das traditionelle kosmologische Argument beginnt mit der Suche nach einer rationalen Erklärung für die vorfindbare Kontingenz des Seins, und findet sie schließlich (nach den Worten des Thomas von Aquin) in „etwas, das wir Gott nennen“, als dem letztgültigen, nicht-kontingenten Seienden.¹³ Offenkundig macht sich ein solches Vorgehen einer petitio principii schuldig, da es die Frage offen lässt, weshalb wir nicht einfach die wahrgenommene Kontingenz als das akzeptieren, was sie ist – eben diese Linie scheint der Säkularist zu verfolgen. Die rohe Natur des Universums als letztmöglichen Ausweg anzuerkennen mag grauenhaft, furchterregend, sogar ekelhaft sein: Jedoch folgt aus all dem sicherlich nicht, dass es sich nicht genau so verhält.¹⁴
12 Camus 2000, letztes Kapitel. 13 „Also muss man etwas hinstellen, das durch sich notwendig ist, ohne die Ursache der Notwendigkeit anderswoher zu haben, das vielmehr für die anderen die Ursache der Notwendigkeit ist: das heißen alle Gott.“ (Thomas von Aquin 1985 [1266 – 73], Teil I, 2. Untersuchung, Art. 3., 25) Es gibt einige Komplikationen in Thomas von Aquins „drittem Weg“, ausgehend „von der Kontingenz der Welt“, die ich hier nicht verfolgen werde. An dieser Stelle bin ich für Brian Davies’ Hilfe dankbar, mir einige Aspekte dieses Arguments einsichtig zu machen. Ich sollte hinzufügen, dass er selbst meine Vorbehalte gegenüber dem Argument von der Kontingenz als fehlgeleitet betrachtet; wenn ich auch anderer Auffassung bin, würde eine Änderung meiner Einstellung meine Überlegungen den Rest dieses Artikels jedoch nicht berühren. 14 Um Missverständnisse zu vermeiden: Meine Vorbehalte gegenüber dem Argument von der Kontingenz implizieren keineswegs eine allgemeine Ablehnung der Möglichkeit natürlicher Theologie, d. h. eines „vernunft-begründeten“ Wissens über Gott. Im Gegenteil beinhalten die Überlegungen, die ich in den verbleibenden Abschnitten dieses Aufsatzes vorstelle, meiner Meinung nach eine substantielle rationale Unterstützung für einen Theismus (wenn auch einem sehr speziellen). Für eine überzeugende Kritik an der Kierkegaard’schen Position, wonach Glaube sich über die Vernunft hinwegsetzt oder diese gar auf den Kopf stellt, siehe Davies 2009.
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Dennoch denke ich, dass kosmologische Argumente gerade soviel leisten können: Sie zeigen, dass die Sinnlosigkeitsannahme des Säkularismus etwas mit Füßen tritt, was tief in unserer Natur verankert ist. Wir Menschen haben ein tiefes Verlangen nach Sinnhaftigkeit und Erklärungen: In keinem anderen Lebensbereich akzeptieren wir bloße Faktizität. Die gesamte großartige Geschichte der Wissenschaft ist die Geschichte von menschlichen Wesen, die wieder und wieder darauf bestehen, dass es für dasjenige, was zunächst gänzlich verwirrend und mysteriös erscheint, einen Grund gibt, ja einen Grund geben muss. ¹⁵ Erstaunlicherweise (und wir gestehen uns m. E. nicht hinreichend ein, wie erstaunlich das tatsächlich ist) stimmt dieses vermeintlich unvernünftige und absurde Universum mit den großartigsten und kompliziertesten logischen und mathematischen Mustern überein. Das gilt selbst für die Quantenebene. Denn ungeachtet der Implikationen des Heisenberg‘schen Unsicherheitsprinzips, oder besser, dank des Auslotens von dessen Reichweite, hat die Quantenmechanik es geschafft, uns mit Gesetzen von atemberaubender und geprüfter Genauigkeit zu versorgen, welche uns ermöglichen, sogar die Mikrowelt in den Bereich mathematischen Verstehens zu bringen. Die Prozesse in der Mikrowelt und insbesondere ihre Verhältnisse zur Makrowelt mögen sich immer noch unserem vollen Verständnis entziehen; aber es verbleibt die Tatsache, dass die Wissenschaft, die größte Errungenschaft des modernen Menschen, in den Verhaltensweisen der kleinsten Partikel und der größten Galaxien eine komplexe mathematische und logische Ordnung vorfindet, einen logos, der zum tiefsten Kern der Wirklichkeit gehört.¹⁶ Nun kann es der Fall sein, dass all diese rationale Verständlichkeit auf eine unvernünftige Entität zurückgehen kann, einer rohen Singularität, deren Existenz einer Erklärung trotzt.
15 Die Wendung „es muss einen Grund geben“ ist in diesem Kontext vielleicht mehrdeutig (ich verdanke diesen Hinweis Peter Dennis). Nach der seit der Aufklärung dominanten wissenschaftstheoretischen Auffassung macht die Wissenschaft Dinge nur in dem relativ schwachen Sinne verständlich, dass sie diese unter kausale Gesetzmäßigkeiten subsumiert, nicht aber in dem Sinne, dass sie rationale Erklärungen dafür anführt. Siehe für weitere Details zu dieser Unterscheidung McDowell 1994, 70 f. Auf die ,Aufklärungs‘-Sichtweise bezüglich der Grenzen der Wissenschaften werde ich im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen. 16 Die kantische Tradition würde diese Ordnung natürlich als bloße Funktion eines Rasters deuten, das uns durch den menschlichen Verstand aufgezwungen wird. Aber selbst wenn man diese Ansicht akzeptieren würde (wenngleich sie unserer common sense- Intuition zuwiderläuft, dass die Wissenschaft eine Ordnung in den Dingen entdeckt, und sie ihnen nicht zuallererst auferlegt), verlagert das den Fokus der Verwunderung lediglich von den Partikeln und Galaxien zu den menschlichen Wesen, die aus diesen Materialien hervorgegangen sind: Wie kann das Wunder des logos im menschlichen Geist aus unvernünftiger Faktizität entstehen?
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Aber ich glaube nicht, dass es mit der menschlichen Natur vereinbar ist, sich mit einer bloßen Faktizität zufriedenzugeben, und noch weniger mit einer Faktizität, die selbst als ein unvernünftiges Faktum einfach so geschieht, und dabei doch einen Kosmos von solch großartiger Verständlichkeit hervorbringt. Der kosmologische Säkularismus, das bewusste Beharren auf einer geschlossenen Welt, die sich gleichgültig gegenüber allem verhält, was sich hinter ihrem eigenen bloßen Selbst befindet, stellt eine Idee dar, die im Akt ihrer Verkündung sich beinahe selbst zu widerlegen scheint. Man könnte einwenden, dass der gerade gemachte Vorschlag ein Schlag ins Gesicht der säkularen Revolution in der Philosophie wäre, wie sie in der Aufklärung stattgefunden hat. Hat nicht David Hume ein für alle Mal gezeigt, dass mit einem absoluten Ende der Erklärung rein gar nichts falsch ist? Wie er in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand sagt: „Es gilt als höchstes Bestreben der menschlichen Vernunft, die Prinzipien, welche die Naturphänomene erzeugen, einfacher zu gestalten. […] Aber die Ursachen dieser allgemeinen Ursachen würden wir vergeblich zu entdecken suchen. […] Die vollkommenste Naturwissenschaft schiebt nur unsere Unwissenheit ein wenig weiter zurück“.¹⁷ Mit anderen Worten: Ganz gleich wie weit die Wissenschaft fortschreitet, sie kann niemals die Frage nach den ,Ursachen der Ursachen‘, den Grund für die letzten Gesetze beantworten: Wir sollten sie besser einfach als bloße Fakten akzeptieren. Ich denke jedoch, dass wir hier sehr vorsichtig sein müssen, wie wir Hume lesen. Aus meiner Sicht ist es ein schwerwiegender Fehler, wenn man Humes Überlegungen kosmologisch oder ontologisch ausdeutet, obgleich er sie lediglich epistemologisch intendierte. Hume sprach (wie in der Tat m. E. nach alle Philosophen der Aufklärung) über die Grenzen unseres Wissens, nicht über die Grenzen der Wirklichkeit. Diese epistemologische Lesart Humes wurde vor einigen Jahren überzeugend von John Wright in seinem Buch The Sceptical Realism of David Hume verteidigt.¹⁸ Nehmen wir zum Beispiel den Fall der Kausalität. Wright (und später auch Galen Strawson¹⁹) argumentierte, dass Hume die Verständlichkeit und die Möglichkeit von unterliegenden Verbindungen in der Natur nicht leugnet, sondern lediglich für den epistemischen Punkt eintritt, dass unser Wissen notwendigerweise auf Beobachtung und Erfahrung basiert und wir daher niemals etwas über sie wissen können. Dies gilt selbst dann nicht, wenn solche Verbindungen existieren würden. Diese Ansicht ergibt vor dem Hintergrund, was Hume im Allgemeinen über Wissenschaft und ihre Grenzen vertreten muss, durchaus Sinn. Als
17 Hume 2007 [1748], Abschnitt IV, Teil 1, vorletzter Paragraph. 18 Wright 1983. 19 Strawson 1989.
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guter Empirist würde Hume niemals so weit gehen wie der moderne dogmatische Säkularist und behaupten, dass die Wissenschaft uns auf die Annahme eines geschlossenen Kosmos verpflichtet. Denn wie kann uns die Wissenschaft, die (wie Hume glaubte) in der phänomenalen Welt wurzelt, möglicherweise darüber Aufschluss geben, was jenseits oder diesseits der Grenzen dieser Welt liegt? Es ist weitaus angebrachter, Hume als eine bestimmte Art von Skeptiker aufzufassen, und für Skeptiker ist charakteristisch, dass sie Zurückhaltung pflegen; sie formulieren nicht das Gesetz für die letzte Wirklichkeit. Der Skeptiker Hume ist nicht in der Lage, etwas darüber zu verkünden, ob, wie er sagt, einige letzte Quellen und Prinzipien existieren – und er tut das auch nicht. Zugegeben, er weist den theistischen Glauben an ein höchstes Prinzip zurück – an eine mysteriöse erste Ursache, die, wie Thomas von Aquin sagt, „alle Menschen Gott nennen“²⁰; aber Humes Empirismus und Skeptizismus implizieren, dass er diese Annahme auch nicht logisch ausschließen kann. Sein Standpunkt ist vielmehr, dass selbst in dem Fall, dass ein solches Prinzip existieren würde, dieses aufgrund der gegebenen Grenzen unseres Wissens – wie er bildlich ausführt – „ganz und gar der menschlichen Wißbegierde und Forschung verschlossen“²¹ wäre. Das Ergebnis dieses kurzes Exkurses zu Hume (den ich als paradigmatisches Beispiel für die Aufklärung im Allgemeinen sehe) ist, dass nichts in der Philosophie der Aufklärung die Annahme eines ,geschlossenen‘ Kosmos unterstützt. Die Grenzen unseres Wissens können die Grenzen der Wirklichkeit sein, aber es kann nach allem, was wir wissen auch sein, dass die Wirklichkeit unser empirisches Wissen transzendiert. Und man mag mit Rückgriff auf meinen eingangs erwähnten Punkt ergänzen, dass es ein unabänderlicher Teil unserer menschlichen Natur bleibt, sich niemals mit den vorgeschlagenen Grenzen zufriedenzugeben, sondern sich danach zu sehnen, sie hinter sich zu lassen.Wenn also nichts hinter diesen Grenzen gibt, wenn das Universum einfach „da ist“, dann finden wir uns in einer Sackgasse wieder, einer ausweglosen Situation, von der unsere ureigenste Natur voll Widerwillen zurückschreckt. Natürlich kann ein solcher Widerwille den Säkularisten nicht logisch widerlegen; aber er zeigt m. E., dass die Annahme der säkularistischen Sichtweise eine bestimmte interne Unstimmigkeit und Spannung erzeugt, welche die rückhaltlose und konsistente Einnahme dieses Standpunktes härter macht, als im Allgemeinen angenommen wird. Dies wird noch offensichtlicher, wenn wir über die moralischen und ästhetischen Aspekte unseres Triebs, dem Unendlichen näherzukommen, nachdenken. Diese sollen im übrigen Teil des Beitrages in den Mittelpunkt gerückt werden.
20 Siehe Fn. 13. 21 Hume 2007 [1748], a. a. O.
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13.3 Die Erfahrungsdimension Betrachten wir zunächst die ästhetische Dimension unseres Drangs nach dem Transzendenten – obgleich das Wort ,ästhetisch‘ in der Tat aufgrund seiner eher schwammigen zeitgenössischen Konnotation sehr irreführend sein kann (wir denken sogleich an den Kunstkritiker, der Reden über die letzte Ausstellung schwingt, oder den Weinliebhaber, der auf die gute Weinernte anstößt). Ich habe demgegenüber eher den Gesichtspunkt im Auge, auf den ich zu Beginn des Beitrages angespielt habe, nämlich die ,transzendenten‘ Momente, die viele Menschen von Zeit zu Zeit erfahren, wenn die düsteren, alltäglichen Muster unserer gewöhnlichen Routinen etwas Lebhaftem und Strahlendem weichen und wir etwas von der Schönheit und Bedeutsamkeit der Welt erblicken, in die wir hineingeboren wurden. Wordsworth hat dies in einer berühmten Passage wie folgt ausgedrückt: Es gibt in unserm Leben Inseln in Der Zeit Verströmen: Daseinsaugenblicke, Die – stärker als das übrige Erleben – Die Eigenschaft besitzen, unser Selbst Verjüngend zu erquicken. Wenn der Geist Durch falsche Meinung oder innern Hader Bedrückt ist; oder wenn ihn – sei’s bei seinen Gewöhnlichen Geschäften, sei’s bei den Begegnungen, wie sie der Alltag bringt –, Wenn irgendwas ihn mit noch schwererem, Ja lebensfeindlichem Gewicht bedroht, Dann wird durch diese Augenblicke er Gelabt, genährt und unsichtbar erneuert. Ihr Wirken macht, dass wir das Glück des Seins Viel intensiver fühlen und empfinden; Daß alles es durchdringt und uns befähigt, Noch höher aufzusteigen, wenn wir schon Auf Höhen wandeln, und wenn wir gefallen Am Boden liegen, leicht uns zu erheben.²²
Ordnen wir dasjenige, auf das hier Bezug genommen wird, als ästhetische, moralische oder mystische Erfahrung ein? Keine dieser Kategorien ist ganz angemessen; in jedem Fall ist auch die damit implizierte Einteilung unserer Erfahrung in eigenständige Komponenten irreführend. Sicherlich können große Kunstwerke diese Art höhere Bewusstseinszustände hervorrufen, allerdings ist diese Erfah-
22 Wordsworth 1974 [1805], 12. Buch, 315 – 33.
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rung nicht ästhetisch in einem engeren, abgrenzungsfähigen Sinne. Denn in solchen Momenten des „Aufsteigens“, auf die hier und in vielen anderen Passagen in Wordsworth abgestellt wird, liegt, genauso wie in den Arbeiten von vielen anderen poetischen und religiösen Autoren, eine Art von integrierter Vorstellung der Bedeutung des Ganzen. Was uns erhöht, ist genau das Gefühl, dass unsere Leben nicht einfach eine unorganisierte Verkettung von kontingenten Episoden ist; sie sind im Gegenteil imstande, sich in ein Muster von Bedeutung einzupassen, in dem Freude, Dankbarkeit, Mitgefühl und Liebe für andere Mitwesen ineinandergreifen. Innerhalb dieses Musters ergeben sie Sinn, weil sie eine Pracht und einen Reichtum widerspiegeln, der nicht von uns selbst gemacht ist. Eine solche Vorstellung ist offenkundig in der Beschreibung einer verwandelten Wirklichkeit am Werk, wie sie im siebzehnten Jahrhundert von Thomas Traherne niedergeschrieben wurde: The corn was orient and immortal wheat, which never should be reaped nor was ever sown. I thought it had stood from everlasting to everlasting. The dust and stones of the street were as precious as gold […] and young men glittering and sparkling angels, and maids strange seraphic pieces of life and beauty! […] eternity was manifest in the light of the day, and something infinite behind everything appeared: which talked with my expectation and moved my desire.²³
Es ist anzumerken, dass diese Art von Verwandlung keine religiöse Erfahrung darstellt, zumindest dann nicht, wenn der letztgenannte Begriff, wie in unserer Kultur durchaus üblich, in einem engeren Sinn verstanden wird und Philosophen beispielsweise vom „Argument der religiösen Erfahrung“ reden. Unter dieser letzten Überschrift wird häufig eine Art von Offenbarung verhandelt, die als Beleg oder Bestätigung für die angenommene Wahrheit eines bestimmten Glaubens oder eines Kults dient – etwa eine Vision der Jungfrau Maria oder auch das, was William James ein „Gefühl der Anwesenheit“ (a sense of presence) eines mächtigen Wesens nannte. Im Gegensatz dazu beinhaltet die Erfahrung der ,Transzendenz‘, auf die ich mich eben bezogen habe – und wie sie auch von Wordsworth oder Traherne beschrieben wurde – nicht so sehr eine Offenbarung von übernatürlichen Entitäten, sondern eher eine Erhöhung, eine Intensivierung, die die Art verändert, wie wir die Welt erfahren. Sobald man in diesen Begriffen denkt, ist es für die meisten von uns sehr viel schwieriger, redlich zu verneinen, dass unsere menschliche Erfahrung jemals solche Momente umfasst hat – vorausgesetzt, wir hinterfragen uns aufrichtig. Der Begriff der ‚Transzendenz‘ scheint dabei nicht deshalb angemessen, weil damit notwendigerweise eine explizite Annahme eines metaphysi-
23 Traherne 1958 [ca. 1670], §3, zitiert nach Taylor 1992, 33.
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schen Objekts verbunden wäre, das unsere gewöhnliche Erfahrung transzendiert, sondern darum, weil die Begriffe unseres alltäglichen Lebens eine radikale Umdeutung erfahren: Nun wird eine plötzliche Strahlkraft ersichtlich, die uns eine Form von Schönheit und Gutheit erschließt, eine Bedeutung, die vorher verschlossen war. Der Bereich der Musik stellt ein anderes Beispiel dar, das in gewisser Weise eindeutiger ist, weil wir es hier nicht mit einem bildlichen Medium zu tun haben; daher ist die Verführung nicht so groß anzunehmen, dass transzendente Erfahrungen die Vorstellung einer übernatürlichen Entität involvieren. So lädt uns etwa Roger Scruton im Zuge seiner Arbeit über Richard Wagner dazu ein, daraus die Lehre zu ziehen that you could substract the gods and their stories […] and still the most important thing would remain. This thing hast its primary reality not in myth but […] in moments that stand outside time, in which the deep loneliness and anxiety of the human individual is confronted and overcome. By calling these moments ,sacred‘ we recognize both their complex social meaning and also the respite that they offer from alienation. Forget theology, forget doctrine and belief, forget all the ideas about an after-life–for none of these have the importance […] that attaches to the moment […] when the human world is suddenly irradiated from a point beyond it.²⁴
Abhängig vom eigenen Musikgeschmack mag man das Wagner-Beispiel ansprechend finden oder stattdessen das Werk eines anderen Komponisten vorziehen. Aber ich denke, dass jeder, der eine überwältigende Erfahrung eines großartigen musikalischen Werkes gemacht hat, die Überzeugungskraft von Scrutons Behauptung nicht verkennen kann. Dadurch wird gleichsam eine „respite from alienation“ ermöglicht. Indem Scruton den Begriff „sacred“ verwendet, um die Momente zu beschreiben, in denen wir die relevanten Arten von transzendenten Erfahrungen haben, bezieht er sich zum Teil auf die Weise, wie sie uns hinter die eintönige Welt unserer gewöhnlichen Transaktionen geleiten und neue Ebenen von Bedeutung eröffnen. Gleichwohl könnte ein Teil von Scrutons Ansatz selbst für diejenigen, die der von mir skizzierten Idee einer „Verwandlung“ und „Strahlkraft“ positiv gegenüberstehen, sehr problematisch erscheinen. Der Säkularist mag sich über das tiefe menschliche Bedürfnis nach Bedeutung und Werthaftigkeit in unseren Leben völlig im Klaren sein und auch empfänglich für die transformative und verwandelnde Kraft von großartigen künstlerischen und musikalischen Schöpfungen, die es uns ermöglichen, einen flüchtigen Blick auf solche Bedeutung und Werthaftigkeit zu werfen. Dennoch wird er den Vorschlag ablehnen, dass in solchen Fällen
24 Scruton 2010.
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die menschliche Welt – in Scrutons Worten – „suddenly irradiated from point beyond it.“ Können wir nicht einen vollständig immanenten Ansatz des Sinns und der Werthaftigkeit geben, die in solchen Erfahrungen zum Vorschein kommen – einen Ansatz, der ausdrücklich innerhalb der Grenzen der menschlichen Welt verbleibt? Um diese Frage anzugehen, die entscheidend für meine Auseinandersetzung ist, wird es hilfreich sein, sich die Phänomenologie unserer Werterfahrung näher anzusehen. Dies soll sowohl in den beiden schon besprochenen Fällen geschehen, als auch im Bereich der zwischenmenschlichen Moral, in dem die Sachlage in ihren Konturen noch deutlicher hervortritt.
13.4 Die Phänomenologie der Werte Bis hierher habe ich von transzendenten „Sehnsüchten“ und „Antrieben“ gesprochen; und der Gebrauch dieser und ähnlicher Begriffe mag den Eindruck erwecken, dass es hier um etwas vollständig Endogenes und Internes geht, wie ein obsessiver Drang, sich zu kratzen, oder ein wehmütiges Verlangen, ein Fernsehstar zu werden. Jemand, der ein ruheloses Verlangen von dieser Sorte eingesteht, kann begründeterweise erwarten, dass ihm entgegnet wird: „Komm darüber hinweg!“, oder „Werde erwachsen!“. Aber ein solch direkter Fingerzeig wird nicht in allen Fällen helfen. Versucht man, alle unsere menschlichen Sehnsüchte zu psychologisieren oder zu subjektivieren, wird in vielen Fällen der betroffenen Phänomenologie Gewalt angetan. Im Fall der verwandelten Erfahrung, den wir eben diskutiert haben, präsentiert sich die Offenbarung des Reichtums und der Schönheit eines Kunstwerkes oder der Natur auf unwiderstehliche Weise nicht lediglich als ein endogenes Widerfahrnis, sondern als eine Erwiderung: Sie entsteht, so viel ist sicher, aus etwas tief in unserer Natur liegenden, aber sie ist auch verursacht und gestützt von etwas außerhalb unserer selbst; etwas, dem sich zu fügen wir in einem bestimmten Sinn gezwungen sind – in Erstaunen oder Ehrfurcht. René Descartes, der oft als Paradigma des unparteiischen Forschers angesehen wird, beschrieb seine Begegnung mit der unendlichen Quelle des Guten und der Wahrheit in den Meditationen auf eine Weise, die nur in Begriffen der Unterwerfung charakterisiert werden kann: „[Es ist] angebracht, an dieser Stelle eine Zeitlang […] zu verweilen“, sagt er am Ende der dritten Meditation, „und die Schönheit seines unermeßlichen Lichtes zu erblicken, zu bewundern und zu verehren, so weit die Schärfe meiner vernebelten Geisteskraft es erlaubt.“²⁵ Die heutigen Universitätsgelehrten neigen dazu, solche Passagen nicht zu berück-
25 Descartes 2009 [1641], AT 52, 10.
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sichtigen, vielleicht aus Verlegenheit, oder weil sie nicht zu ihrem bevorzugten Bild von Descartes als unparteiischem akademischen Epistemologen passen, sondern ihn stattdessen eher als betenden Verehrer zeigen. Aber Descartes’ Überlegungen zur Reaktion des Meditierenden sind, denke ich, ziemlich ernst gemeint und sollen der involvierten Phänomenologie gerecht werden. Die transzendente Quelle, an die sich der Meditierende im Zuge seiner rationalen Untersuchungen herangetastet hat, verursacht, sobald sie auch nur schwach erkannt wird, eine leidenschaftliche cartesische Erwiderung von Erstaunen und Bewunderung. Diese Art von Passivität oder Unterwerfung ist sehr charakteristisch für das, was ich transzendente Erfahrung genannt habe. Sie ist augenscheinlich auffindbar in unserer Erfahrung von außergewöhnlichen Kunstwerken. Martha Nussbaum spricht in ihrer Betrachtung der Reaktionen auf bedeutende Gedichte und literarische Texte von einer Erkenntnis, die eine „überlegte Nachgiebigkeit“ (deliberate yielding) beinhaltet. Der jeweilige Text enlists us in […] a trusting and loving activity […] we allow ourself to be touched by the text, by the characters as they converse with us over time […] Before a [great] literary work […] we are humble, open, active yet porous.²⁶
Ich denke, dass jedem, der über die Natur der transzendenten Erfahrung nachdenkt, Nussbaums Konjunktion „active yet porous“ besonders erhellend erscheinen wird. Es muss auf der Seite des Subjekts eine Betätigung geben, einen freiwilligen Akt der Aufmerksamkeit und der Bereitschaft offen zu sein für dasjenige, was vor sich geht; jedoch gibt es auch eine passive Empfänglichkeit für die Kraft von etwas, was vollständig von einem selbst verschieden ist. Die gleiche Kombination kann m. E. auch bei der Ausübung unserer moralischen Fähigkeiten erkannt werden. Der dänische Philosoph Knud Løgstrup spricht von einer „ethischen Forderung“ im Zusammenhang mit Vertrauen und Selbstaufgabe, die einen wesentlichen Teil des menschlichen Lebens ausmachen.²⁷ Sein spezieller Fokus liegt dabei in der Offenheit und Empfänglichkeit für eine andere Person, die für jede menschliche Begegnung und Beziehung moralisch verpflichtend ist. Aber ein phänomenologisch ganz ähnlicher Vorgang scheint mir auch in unserer Empfänglichkeit für zentrale moralische Werte zum Vorschein zu kommen. Was Philosophen inzwischen „Normativität“ nennen, ist ein Weg, uns auf ein bemerkenswertes Merkmal moralischer Werte hinzuweisen, wie zum Beispiel die Falschheit von Grausamkeit oder die ethische Qualität des
26 Nussbaum 1990, 281 f. (Hervorhebungen hinzugefügt) 27 Løgstrup 1997 [1959].
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Mitgefühls: Solche Werte formulieren eine Forderung an uns, sie verlangen nach Gefolgschaft, ungeachtet unserer Neigungen und Wünsche. Wenn wir über solche Eigenschaften mit der erforderten Kombination von aktiver Aufmerksamkeit und passiver Rezeptivität nachdenken, transzendieren wir uns in den Worten von Pascal selbst: Wir werden über unsere eigenen Neigungen und endogenen Einstellungen zu etwas geführt, was eine höhere und verbindlichere Autorität besitzt. Ganz egal, was der Einzelne über Grausamkeit denken mag, sie ist und bleibt falsch, und das in allen möglichen Welten, selbst wenn wir plötzlich eine Neigung für sie entwickeln sollten. Und ganz gleichgültig wie schwer es uns fallen mag, Mitgefühl zu zeigen: Die besondere ethische Qualität des Mitgefühls behält ihre Autorität über uns und verlangt unsere Bewunderung und Befolgung, ob wir es mögen oder nicht. Das alles sind Wahrheiten, die wir nicht aufrichtigerweise verneinen können, wenn wir ehrlich mit uns selbst ins Gericht gehen. Integrität ist hier sehr wichtig: Wir können versuchen, diese Werte infrage zu stellen, oder wir können versuchen, als Teil eines intellektuellen Spiels irgendein philosophisches Argument zu formulieren, das sie widerlegen soll; aber wenn wir unsere Integrität erhalten wollen, wenn wir uns, wie Nussbaum empfiehlt, „active yet porous“ verhalten, dann können wir die autoritative Kraft dieser Werte nicht leugnen (was natürlich nicht impliziert, dass wir ihnen immer folgen, denn wir sind augenscheinlich schwache und innerlich zerrissene Wesen). Die Konflikthaftigkeit unserer Natur ist hier von mehr als nur zufälligem Interesse, denn sie ist mit einer „moralischen Lücke“ verbunden, wie der Theologe und Philosoph John Hare es genannt hat – die Lücke zwischen dem, was wir sind und dem, was wir sein können, oder auch was wir sein sollen. Dies passt gut mit unseren Überlegungen zur Transzendenz zusammen. Sowohl in unseren moralischen Antrieben als auch in den ersten beiden Bereichen, die wir besprochen haben, scheint uns irgendetwas über uns selbst hinaus in Richtung von etwas Allgemeingültigem und Unveränderlichem zu ziehen; etwas, das jenseits des Wandels unserer kontingenten und veränderlichen Neigungen und jenseits des widerfahrenen Bündels von ausgebildeten Eigenschaften und Merkmalen liegt. Dies ist natürlich dasjenige, was mit der traditionellen Idee der ,ewigen‘ Wahrheiten ausgedrückt wurde – zeitlose und autoritative Werte der Wahrheit, des Schönen und des Guten, die immun gegenüber den Unbeständigkeiten der Mode, Kultur und Neigung sind.
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13.5 Ewige Werte versus Darwin und Nietzsche Die traditionelle Vorstellung von ewigen Werten kommt vielen sehr unplausibel vor: Gegen sie kann eingewendet werden, dass sich mit Änderung der Lebensumstände auch entsprechend ändert, wie wir handeln sollen. (Zum Beispiel mag Loyalität mit den Stammesgenossen in einer früheren Phase der menschlichen Entwicklung von hohem Wert gewesen sein, wogegen Umweltschutzmaßnahmen weitgehend unbedeutend waren; heute ist indessen das Gegenteil der Fall.)²⁸ Natürlich möchte ich nicht bestreiten, dass es viele Regeln gibt, die sich ständig und berechtigterweise im Lauf der Zeit verändern, wenn sich die Lebensumstände wandeln. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass es keinen Kernbereich moralischer Werte gibt, die sich nicht ändern – und nicht einmal ändern können.Wer das zurückweist und damit abstreitet, dass unsere tiefsten und zentralsten moralischen Antriebe uns ein Fenster zum Transzendenten eröffnen, wird typischerweise dazu neigen, den Bereich moralischer Werte als letztendlich abhängig von bestimmten strukturellen Charakteristiken der menschlichen Natur anzusehen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. Aber bevor wir in Versuchung geraten, diesen Weg einzuschlagen, sollten wir uns die Risiken der moralischen Anarchie bewusst machen, die mit dieser Kapitulation vor der Kontingenz einhergehen.Was uns nämlich letztlich erwartet, wenn wir diesen Weg einschlagen, ist eine zerstörerisch deflationistische Konzeption der Moral. Ist die historische und entwicklungsgeschichtliche Beliebigkeit moralischer Werte einmal zugestanden, wird unsere Fähigkeit, moralisch zu urteilen, anstatt uns einen Einblick in letzte Fragen über Sinn und Wert zu verschaffen, zu einem Produkt (oder Nebenprodukt) der Frage degradiert, wie sich unsere Vorfahren im ständigen Überlebenskampf nach und nach entwickelt haben. Im Kapitel 4 und 5 der Abstammung des Menschen, in denen es um die Evolution unserer moralischen Vermögen geht, prägt Charles Darwin einen äußerst aufmerkenswerten Ausdruck – er spricht vom „sogenannte[n] moralischen Sinn“.²⁹ In seinem reduktionistischen Ansatz erscheinen das Gewissen und andere sogenannte „höhere“ Triebkräfte lediglich als einige natürliche Gefühle unter vielen anderen, die sich unter Selektionsdruck entwickelt haben. Altruismus und Aufopferungsfähigkeit etwa – um ein Beispiel heranzuziehen, das Darwin diskutiert – könnten entstanden sein, weil ein Stamm, in dem diese Charaktereigenschaften ausgeprägt sind, „siegreich über die meisten anderen sein [wird], und das wäre natürliche Selektion“.³⁰
28 Vgl. Holland 2009 und meine Antwort in Cottingham 2011. 29 Darwin 2012 [1871], Kap. 4, 93. 30 Darwin 2012 [1871], Kap. 5, 114. Moderne Evolutionstheoretiker würden diese scheinbare Befürwortung einer Gruppenselektion kritisch sehen. Mithilfe der Genetik lässt sich der
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Aber dieser Ansatz untergräbt am Ende alles, was traditionell mit der Vorstellung ewiger moralischer Werte verbunden wurde – ihre Objektivität, Universalität, Notwendigkeit und (letztlich) ihre Normativität. Objektivität bedeutet hier, dass zur Idee der Moralität wesentlich gehört, dass sie nicht bloß von unseren subjektiven Trieben und Vorlieben abhängt (die sich ändern oder manipuliert werden können). Die Universalität besagt, dass es, obwohl ethische Konzeptionen selbstverständlich in verschiedenen Epochen und Gesellschaften voneinander abweichen – worüber Darwin viel Aufhebens macht –, dennoch einen Kernbereich moralischer Werte geben kann, die immer und überall gelten. Zum Beispiel werden die Ungerechtigkeit der Sklaverei oder die ethische Qualität des Mitleids vielleicht nicht in allen Ländern und allen historischen Zeitspannen universell anerkannt. Aber dies ändert nichts daran, dass sie absolut objektive und universelle Wahrheiten widerspiegeln. (Man kann das mit naturwissenschaftlichen Gesetzen vergleichen, die universell gelten, aber sicherlich nicht immer und überall anerkannt sind.) Zu ihrer Notwendigkeit gehört, dass die Verwerflichkeit der Grausamkeit keine zufällige Gegebenheit ist; vielmehr ist Grausamkeit in allen möglichen Welten verwerflich. Selbstverständlich können wir gegen solche fundamentalen Normen verstoßen, und machen das auch oft. Die Normen sind aber – wie Gottlob Frege es in einem anderen Zusammenhang, nämlich bezüglich logischer und mathematischer Wahrheiten, ausgedrückt hat – wie „Grenzsteine“, die „von unserem Denken überfluthbar […], doch nicht verrückbar“³¹ sind. Schließlich umfasst ihre Normativität, dass moralische Prinzipien – wie ich oben betont habe – eine gebietende Forderung oder einen gebietenden Ruf an uns richten, gleich ob wir wollen oder nicht. Darwin möchte sich davor drücken, diese besondere Art der Autorität anzuerkennen, indem er deflationär von dem „gebieterischen“ Wort sollen spricht. „Das gebieterische Soll“, heißt es in der Abstammung des Menschen, „scheint bloß das Bewusstsein der Existenz einer Verhaltungsregel zu umfassen, wie immer sie auch entstanden sein mag“.³² Man sollte sich allerdings die beunruhigenden Implikationen dieser Vorstellung vor Augen führen. Wenn unsere ethischen Begrifflichkeiten das Produkt einer bloß zufälligen Verkettung von Ereignissen sind, wenn sie auch hätten anders ausfallen können, dann scheint nichts mehr dagegen zu sprechen, sie je-
Gedanke jedoch auch als Vorteil des Vorkommens eines oder mehrerer Gene, die altruistisches Verhalten begünstigen, reformulieren. 31 Frege dachte an die Gesetze der Logik, die er für völlig objektiv hielt, weil sie unabhängig von kontingenten Fakten der Psychologie gelten. Sie sind deshalb „Grenzsteine in einem ewigen Grunde befestigt, von unserem Denken überfluthbar zwar, doch nicht verrückbar“. (Frege 1962 [1893], Bd. 1, XVI) 32 Darwin 2012 [1871], Kap. 4, 88.
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derzeit außer Kraft setzen zu können. Haben wir einmal begonnen, über die Umstände nachzudenken, unter denen der Mensch die Wertkategorien gut und böse erfunden hat, können wir uns – wie Friedrich Nietzsche es in der Genealogie der Moral getan hat, die nicht lange nach Darwins Abstammung erschien – zu fragen beginnen, welchen Wert diese Werturteilen selbst haben.³³ Nicht zufällig war Bernard Williams Theorie der Ethik und sein Skeptizismus gegenüber dem, was er „das Moralsystem“ (the morality system) nannte, stark von Nietzsche beeinflusst – und von dessen Vorstellung, dass uns mit dem Zugeständnis, dass Ethik eine Genealogie, eine kontingente Entstehungsgeschichte hat, freigestellt ist, ob wir die Autorität sogenannter ewiger Werte anerkennen wollen.³⁴ Williams hat sich in seinem Spätwerk mit diesem Problem der „radikalen Kontingenz“ (radical contingency) des Ethischen, wie er es nannte, durchaus schwer getan. Die Meinungen darüber, ob er es geschafft hat, das Problem zu entschärfen, gehen auseinander. Nietzsche zog daraus jedenfalls den unheimlichen Schluss, dass wir uns, wenn wir nur stark genug sind, entscheiden können, ewige moralische Werte umzuwerten. In einem gottlosen Universum, in dem Gott „tot“ ist, sind wir demnach keiner höheren Autorität mehr unterworfen. Fragen nach dem Wert von etwas werden dadurch zu einer bloßen Funktion der Vorhaben, die voranzutreiben wir uns autonom entschieden haben. Auf diese Weise könnte es (wie Nietzsche in einer Passage vorschlägt, die zu denjenigen in der westlichen Philosophie zählt, die große Unruhen gestiftet haben und zugleich sehr häufig fehlinterpretiert wurden) schlüssige Gründe geben, uns den Antrieben der Liebe und des Mitgefühls zu verschließen und unsere Herzen gegenüber Mitleid und Versöhnlichkeit zu verhärten. Solche Gefühle könnten nämlich unserem Willen zur Macht – oder unserem Streben nach Selbstverwirklichung als eine neue und mächtigere Art von Wesen – im Weg stehen.³⁵
13.6 Zugeständnisse an den Naturalisten Bevor die verschiedenen Fäden der Argumentation zu einer abschließenden Stellungnahme zusammengeführt werden, möchte ich dem naturalistischen An-
33 Vgl. Nietzsche 1968 [1887], Vorwort, §3, 261 f. 34 „[A] truthful historical account is likely to reveal a radical contingency in our current ethical conceptions. Not only might they have been different from what they are, but also the historical changes that brought them about are not obviously related to them a way that vindicates them against possible rivals.“ (Williams 2002, 20) 35 Vgl. Nietzsche 1968 [1886], §202 und zur „Umwerthung der Werthe“ §203. Für eine weitergehende Diskussion der angesprochenen Thematik vgl. Cottingham 2008.
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satz, den ich mit meiner Rede von ewigen Werten komplett zurückzuweisen scheine, bezüglich unseres Selbstverständnisses ein paar Zugeständnisse machen. Gewiss sind wir Menschen Geschöpfe, die der physischen Welt angehören, und jeder plausible Zugang zur menschlichen Natur muss dies anerkennen. Die Existentialisten des 20. Jahrhunderts gingen freilich so weit abzustreiten, dass es überhaupt so etwas wie eine menschliche Natur gäbe; stattdessen wäre da nur das existierende Subjekt mit der Freiheit, die unbeschriebene Tafel seines für sich selbst hinreichenden und autonomen Daseins nach Belieben auszufüllen. Aber trotz aller seiner Fehler hatte Darwin sicher recht, darauf zu bestehen, dass wir Menschen ein Teil der Natur sind – geformt und geprägt vom dynamischen Fluss der physikalischen Welt. Zunächst mag es so aussehen, als würden die Ideen Darwins der existentialistischen Ablehnung einer menschlichen Natur entgegenkommen, indem sie die Vorstellung von feststehenden, unveränderlichen Beschaffenheiten in Frage stellen.³⁶ Aber jede plausible Entwicklungstheorie der Ursprünge des Menschen muss sicherlich zulassen, dass es konstante Charakteristika des Menschen gibt, die über weite Strecken der Zeit so gut wie unverändert geblieben sind. Diese konstanten Merkmale werden selbstverständlich in der Ethik reflektiert. Die aristotelische Ethik etwa zielte darauf ab, solche Charaktervorzüge herauszuarbeiten, die uns in die Lage versetzen, als das Geschöpf ein gutes Leben zu führen, das wir sind – Trieben und Bedürfnissen ausgeliefert, die wir mit anderen Tieren teilen, aber zugleich mit der Fähigkeit rationaler Reflexion ausgestattet. Es ist durchaus auffallend, wie viele Elemente aristotelischer Ethik
36 Die Bewegung, die Existenz von feststehenden Wesenseigenschaften zunehmend in Frage zu stellen, ist mit komplexen philosophischen Problemen verbunden, die ich hier nicht diskutieren kann. Ich möchte aber zumindest darauf hinweisen, dass sie weit über den Bereich der Naturwissenschaften hinausgehen und wichtige Implikationen für die Ethik und für die generelle Konzeption der prekären Situation menschlichen Daseins mit sich bringen. Wenn etwa die Eigenschaften des Menschen, darunter unsere tiefsten Antriebe, Neigungen und Intuitionen, nicht auf etwas basieren, was jenseits des kontingenten Verlaufs der Evolution liegt, der selbst von blinden, moralisch-indifferenten physikalisch beschreibbaren Mechanismen vorangetrieben wird, ist es deutlich schwerer, an der Art von Teleologie festzuhalten, von der philosophische Reflexionen über das für den Menschen Gute in der Vormoderne geprägt wurden. In der theistischen Weltsicht des Thomas von Aquin und vorher bereits in der griechischen Philosophie, von der er sehr beeinflusst war, bestand das für den Menschen Gute darin, dem Telos oder Ziel nachzugehen, das uns unsere Natur vorgibt. Was für Geschöpfe wie den Menschen erstrebenswert ist, kann man demnach herausfinden, indem man die menschliche Natur und seine Stellung in der Gesamtordnung der Dinge untersucht. En tô ergô to agathon, wie der Platonische und Aristotelische Wahlspruch es ausdrückt: in der Tätigkeit liegt das Gute. Die Tätigkeit ist auf das telos, und das telos ist auf das Wesen bezogen. Die ethische Debatte bewegt sich auf diese Weise innerhalb einer sehr stabilen metaphysischen Landschaft.
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uns heute noch etwas zu sagen haben. Natürlich ist auch sie nicht völlig unveränderlich: Man kann sich darüber streiten, welche Tugenden hinzugefügt oder von der Liste gestrichen werden müssen. Aber obwohl unser Leben von dem des klassischen Griechenlands in vielerlei Hinsicht abweicht, gibt es deutliche Belege aus der Literatur, der Geschichte und der Biologie, dass unsere menschliche Natur sich, wenn überhaupt, nur sehr wenig verändert hat; und in der Tat ist die gesamte Geschichte des Menschen seit dem prähistorischen Zeitalter in Begriffen der Evolutionstheorie nur der geringste Wimpernschlag. Deshalb ist es sehr plausibel zu behaupten, dass jede Theorie des menschlichen Wohlergehens auf relativ konstanten, grundlegenden Tatsachen über die menschliche Natur aufbauen muss, und dass sie trotz aller Veränderungen dieser Theorien von Epoche zu Epoche bzw. von Kultur zu Kultur notwendigerweise einen riesigen Umfang an Gemeinsamkeiten aufweisen. Die menschliche Natur ist also ein Teil eines relativ konstanten, sich langsam entwickelnden Geschehens, das sich als Teil der Entwicklungsgeschichte der physischen Welt allmählich entfaltet. Nichts von dem, was ich oben gesagt habe, sollte als Zurückweisung dessen aufgefasst werden: Wir Menschen sind tatsächlich „Staub der Erde“, wie das Buch Genesis es ausdrückt,³⁷ und wir müssen uns als Teil des gewaltigen natürlichen Entstehungsprozesses des Kosmos auffassen. Und doch übersteigen wir, wenn mein Argument überzeugen kann, diesen physikalischen Prozess zugleich in einer bestimmten Weise, die wir vielleicht nicht vollständig verstehen können. Wir haben, wie ich anfangs vorgeschlagen habe, transzendente kosmologische Antriebe. Die Vorstellung, das Gegebene einfach zu akzeptieren und innerhalb eines schlicht vorhandenen, völlig geschlossenen Kosmos eine Heimat zu finden – diese Vorstellung weckt tief in uns ein fundamentales Gefühl der Unstimmigkeit. Wie ich ebenfalls vorgeschlagen habe, sind wir auch in unserem gewöhnlichen Leben, in der Bewältigung der alltäglichen Erfordernisse des Lebens, von Zeit zu Zeit von machtvollen Anzeichen des Schönen und Guten gepackt, die uns über den Bereich des Beliebigen hinaus zu führen scheinen. Gegen diesen letzten Schritt kann man Einwände vorbringen. Warum sollten unsere ethischen Antriebe nicht einfach bestimmte fundamentale und relativ konstante kontingente Tatsachen über unsere biologische und soziale Natur widerspiegeln, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt hat? An dieser Stelle möchte ich das phänomenologische Argument wiederaufgreifen. Gehen wir zurück zu Descartes: Der Meditierende stößt in der Dritten Meditation auf etwas, das Reaktionen der Bewunderung und Ehrfurcht hervorruft – etwas, von dem er erkennt,
37 Gen 2,7 (Übersetzung nach Schlachter 2000).
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dass es außerhalb dessen liegt, was er vollständig begreifen kann. Mein Vorschlag lautet, dass unsere Reaktionen auf Werte von ganz ähnlicher Art sind: Wenn wir uns durch unser Leben kämpfen, scheinen wir gezwungen zu sein, früher oder später den Aufruf anzuerkennen, uns an Werten auszurichten, die wir nicht geschaffen haben und deren Normativität nicht bloß als Funktion einer gegebenen Menge unserer natürlichen Triebe erklärt werden kann. Liebe, Mitleid, Erbarmen, Wahrheit, Gerechtigkeit, Courage, Geduld, Treue – das alles gehört zum Kern der entscheidenden Tugenden, die alle Weltreligionen (und die modernen säkularen Kulturen, die aus ihnen entsprungen sind) anerkennen, und die uns in die Pflicht nehmen, ob wir wollen oder nicht. Wir mögen versuchen, uns ihnen entgegenzustellen und ein Leben zu führen, das sie nicht miteinbezieht. Aber wenn wir ehrlich sind, können wir ihre Autorität nicht abstreiten. Und genau diese Autorität scheint sich als die Achillesferse aller reduktionistischen Werttheorien zu erweisen, welche Werte auf den Status bloß natürlicher Phänomene zurückdrängen. Der „erweiterte“ Naturalismus John McDowells scheint auf den ersten Blick einen Ausweg anzubieten. Seiner Ansicht nach ist der Begriff der „Natur“ doppeldeutig: Er kann lediglich das bedeuten, was ich die rohe Faktizität der natürlichen Abläufe und Ereignisse genannt habe, die von der Physik beschrieben wird; aber in einem umfassenderen Sinn kann er sich auch auf die Erzeugnisse menschlicher Kultur beziehen, zu denen auch unsere moralischen Normensysteme gehören. Diese sind in dem Sinne vollkommen natürlich, dass sie sich aus unseren gewöhnlichen kontingenten Aktivitäten als biologische und soziale Kreaturen einer bestimmten Art entwickelt haben. Folglich erfordern sie nicht die Annahme transzendenter oder übernatürlicher Eigenschaften oder Entitäten. Aber sie sind dennoch Tatsachen einer besonderen Art, zu denen wir Zugang bekommen, indem wir als Kinder in eine bestimmte ethische Kultur eingeführt werden; und aufgrund dieses Zugangs werden wir tatsächlich zu Adressaten der moralischen Gebote und Forderungen. McDowell formuliert diesen Gedanken wie folgt: The rational demands of ethics are not alien to the contingencies of our life as human beings […] Ordinary upbringing can shape the actions and thoughts of human beings in a way that brings these demands into view.³⁸
Es würde den Rahmen dieses Essays sprengen, in eine eigene Diskussion der komplexen und subtilen Position McDowells einzusteigen. Aber vielleicht wird aus dem Gesagten bereits ausreichend deutlich, warum ich sie für wenig aussichtsreich halte. Für McDowell ist die ‚Wirklichkeit‘ moralischer Gebote, denen wir unterliegen, letztlich nur eine Funktion einer gegebenen Kultur mit einer ge-
38 McDowell 1994, 83.
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gebenen biologischen und sozialen Geschichte. Es gibt keine weitergehende, keine endgültige moralische Wirklichkeit, die ihr als Maßstab entgegengesetzt werden könnte. Dies erinnert wiederum an die Schwierigkeit, die oben in Zusammenhang mit Nietzsche und Williams diskutiert wurde. Die Geschichte unserer ethischen Kultur ist kontingent; sie hätte anders verlaufen können, und wenn sie anders verlaufen wäre, so scheint auch in McDowells angereichertem Bild der Natur zu folgen, dass die relevanten ethischen ‚Tatsachen‘ und ‚Forderungen‘ vielleicht andere wären. Ich sehe keinen Weg, die zersetzenden Konsequenzen dieser Überlegungen für das zu vermeiden, was Bernard Williams als „merkwürdige Institution“ (peculiar institution) der Moral bezeichnet hat³⁹ – wobei sein vernichtender Tonfall seinen Nietzscheanischen Überlegungen über die Kontingenz dieser Institution sicher angemessen war. Ist die Katze dann erst einmal aus dem Sack und die Vorstellung akzeptiert, dass die Autorität und Macht moralischer Gebote, die uns auffordern, uns ihnen zu unterwerfen, lediglich eine Funktion der sie hervorbringenden kontingenten Kultur ist, in die wir zufällig hineingewachsen sind, dann löst sich Normativität im eigentlichen Sinne in Luft auf. Das bestehende System moralischer Normen wird eines unter anderen möglichen Systemen; eine „merkwürdige Institution“, deren Joch wir – wie bei Nietzsche – auf der Suche nach Selbstverwirklichung aus vermeintlich guten Gründen abschütteln können. Natürlich können wir uns in diesen destruktiven Ansatz hineindenken. Mein Argument besteht aber in der Behauptung, dass wir bei einer solchen Vorgehensweise der Tiefe und Reichhaltigkeit unserer menschlichen Erfahrung nicht gerecht werden, die wir nicht abstreiten können, ohne unsere Integrität zu verletzen.
13.7 Fazit Wenn wir über die empirischen Tatsachen über den Menschen nachdenken, auf die ich mich in diesem Text bezogen habe, so scheinen mir diese sehr beachtenswert und wichtig zu sein. Wir sind abhängige Mängelwesen, die zugleich von Antrieben bestimmt werden, die in uns das Verlangen auslösen, uns an bestimmten dauerhaften Werten auszurichten. Wenn wir uns das vor Augen führen und mit dem Bewusstsein der unverkennbaren Tatsache unserer menschlichen Schwäche und der hartnäckigen Schwierigkeit verbinden, die Menschen wahrnehmen, wenn sie unerschütterlich das Gute, nach dem sie streben, verwirklichen möchten, dann ist man erstaunt, in welchem Ausmaß der religiöse Glaube unseren
39 Williams 1985, Kap. 10.
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Bestrebungen eine Heimat bietet. Der Theismus,wie er sich in seiner traditionellen Form in den großen Abrahamitischen Religionen findet, beinhaltet die Vorstellung des Zusammenpassens unserer Bestrebungen und unseres letzten Ziels. In diesem Bild ist die schöpferische Macht, die letzten Endes für unsere Eigenschaften verantwortlich ist, selbst die Quelle der Werte, die anzuerkennen wir uns gezwungen sehen. Diese Macht hat unsere Natur derart eingerichtet, dass wir wahre Erfüllung nur im Nachspüren dieser Werte finden können. In den viel zitierten Worten Augustinus‘: „Denn zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir.“⁴⁰ Die natürliche Reaktion darauf – nämlich die schöpferische Quelle des Guten mit Freude anzuerkennen, und aus ihr Kraft für die Mühen des Lebens zu schöpfen – ist so elementar, dass sie dem Gläubigen als fundamentale und notwendige Art, sein Leben zu bestreiten, erscheint. Dies alles ist freilich kein Gegenstand kluger Hypothesen über die genauen Abläufe im Makro- und Mikrobereich, die zur Entstehung unseres Planeten und unserer Gattung beigetragen haben, sondern eher ein notwendiger Antrieb des Vertrauens. Ich habe meine Überlegungen als phänomenologisches Argument bezeichnet. Diese Benennung kann aber missverstanden werden, weil sie die Behauptung nahelegen könnte, dass verschiedene Aspekte der Erfahrung Indizien für eine Form des theistisch fundierten ethischen Objektivismus liefern. In einer gewissen Weise sage ich genau das, aber man muss es richtig verstehen. Ich habe nicht behauptet, ein zwingendes Argument vorzulegen – nicht einmal ein probabilistisches, wenn man die Standardauffassung des Probabilismus als einer für alle gleichermaßen und intersubjektiv zugänglichen Evidenz voraussetzt. Ich habe stattdessen versucht, die Integrität des Lesers herauszufordern, und an sie zu appellieren. Natürlich ist Integrität selbst eine moralische Kategorie. Das weist auf eine Besonderheit der Art von ‚Evidenz‘ hin, von der wir hier sprechen. Gerade wie die Cartesische ‚Begegnung‘ des Endlichen mit dem Unendlichen eine Unterwerfung einfordert, so kann die Kraft, die von den Werten der Schönheit und des Guten ausgeht, nach einem moralischen Sinneswandel verlangen, wenn sie einmal in ihrem ganzen Umfang erkannt worden ist. Moralische und ästhetische Tatsachen gehören ebenso wie religiöse vielleicht zu denjenigen Wahrheiten, die an das geknüpft sind, was ich an anderer Stelle ‚Zugangsbedingungen‘ genannt habe: Sie zeigen sich nicht einfach so, sozusagen unvorbereitet, sondern erfordern eine bewusste und aufrichtige Aufnahmebereitschaft.⁴¹
40 „fecisti nos ad te, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.“ (Augustinus, Confessiones, Buch I, Kap. 1; deutscher Text nach der Ausgabe Augustinus 1950 [ca. 398], 29) 41 Vgl. Cottingham 2009, Kap. 5, Abschnitt 2.
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Daraus folgt nicht die naive Annahme, dass der Erfolg garantiert wäre; die Lebensbedingungen des Menschen sind derart, dass der Versuch, ein gutes Leben zu führen, immer mit Risiken behaftet ist. Aber ohne die Hoffnung auf eine nichtkontingente Struktur, die der menschlichen Existenz zu Grunde liegt und die unsere moralischen Ambitionen unterstreicht, wäre die drohende Sinnlosigkeit und Absurdität kaum vollständig zu bewältigen. Einige unserer Aktivitäten könnten dann sicherlich noch Zufriedenheit hervorrufen oder zu etwas nützlich sein; und vielleicht ist das ja auch wirklich alles, was wir uns zum Ziel setzen können oder sollten. Aber vorausgesetzt, Menschen finden keinen Weg, ihre transzendenten Bestrebungen zu betäuben, bleibt die Angst bestehen, dass all die hektischen Bemühungen dieser „schwachen Erdenwürmer“, wie Pascal uns genannt hat,⁴² unserem Leben als Ganzem keinen Sinn geben können. Und mit der Sinnhaftigkeit wird uns einer der wichtigsten Bestandteile eines guten und glücklichen Lebens fehlen. Übersetzt von Matthias Hoesch, Sebastian Muders und Markus Rüther.
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42 „Welches Trugbild ist denn der Mensch? Welches noch nie dagewesene Etwas, welches Monstrum, welches Chaos, welcher Hort von Widersprüchen, welches Wunderding! Ein Richter über alle Dinge, ein schwacher Erdenwurm, ein Hüter der Wahrheit, eine Kloake der Ungewißheit und des Irrtums, Ruhm und Abschaum des Weltalls.“ (Pascal 2004 [ca 1660], Nr. 131 nach Lafuma bzw. Nr. 434 nach Brunschvicg)
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Sigrid Müller
14 ‚Wie im Himmel, so auch auf Erden‘ Lebensfülle, Erlösung und Seligkeit als christliche Dimensionen guten Lebens „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden“, beten die Christen in ihrem wichtigsten Grundgebet, dem Vaterunser. Doch was heißt es aus christlicher Sicht, „den Himmel zu erden“, ein gutes Leben zu führen und dabei die „Fülle des Lebens“ (vgl. Joh 10,10) zu erlangen, selig zu werden?¹ Zunächst bedarf es einer Vorbemerkung, ehe diesen Begriffen nachgespürt werden kann. Die Zuordnung von „Himmel“ und „Erde“ und die damit anklingende Deutung, dass der „Himmel“ als Leitbild für ein sinnvolles irdisches Leben fungieren könne, lässt sich nicht einengen auf die Vorstellung, diese Verbindung konkretisiere sich in einem Katalog von Vorgaben, die „von religiösen Führern, Institutionen und Texten“ gemacht werden. Der deutsche Philosoph Peter Bieri thematisiert nämlich mit scheinbarer Klarheit das Besondere der religiösen Betrachtungen von Sinn und Glück gegenüber säkularen mit folgenden Worten: Diesen Unterschied zwischen religiöser und säkularer Kultur kann man auch anders ausdrücken. Jede Kultur ist auch eine Definition von dem, was wichtig ist. Wenn es eine religiöse Kultur ist, wird das festgelegt von religiösen Führern, Institutionen und Texten. Es kann eine Kluft geben zwischen dem, was mir wichtig ist oder wäre, und dem, was die religiösen Instanzen als wichtig verkünden. In einer säkularen Kultur ist das anders. Hier bestimmen einfach ihre Mitglieder, was wichtig ist, und es gibt, anders als in einem religiösen Zusammenhang, keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem, was wir für wichtig halten, und dem was wichtig ist. Wir sind, was Sinn, Glück und Wichtigkeit anlangt, keiner höheren Instanz gegenüber verantwortlich; verantwortlich sind wir nur uns selbst und den Anderen gegenüber.²
Hinter der klaren Unterscheidung verbergen sich jedoch komplexe Fragen, so dass diese Trennung zwischen dem, was in einer religiösen Kultur wichtig ist – nach Bieri das, was von religiösen Autoritäten festgelegt wurde – und dem, was in einer säkularen Welt wichtig ist – alles, was nicht von religiösen Autoritäten festgelegt wurde, sondern zwischen mir und einem anderen Menschen ausgehandelt wurde – doch zu undifferenziert erscheint. Zum einen scheint diese Darstellung im 1 Mein Dank gilt Cornelia Schweiger und Alexander Gaderer – im Gespräch mit ihnen wurden zahlreiche der folgenden Gedanken formuliert – und Slavomír Dlugoš für seine kritischen Anmerkungen. 2 Bieri 2011, 79 – 80.
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Hinblick auf die säkulare Sicht zu eng gefasst. Jeder Mensch kann in einer bestimmten Lebensphase Dinge für wichtig halten, die er später aufgrund von weiterer Lebenserfahrung als nicht so wichtig beurteilen würde: In jedem Menschenleben kann daher das, was subjektiv für wichtig gehalten wird, und das, was sich dann als tatsächlich wichtig herausstellt, auseinanderfallen, und zwischen dem, was in der Gesellschaft als wichtig gilt und dem, was der einzelne für wichtig hält, kann es durchaus auch zu Spannungen kommen. Im Hinblick auf die religiöse Perspektive ist zu betonen, dass als Glück und Sinn im Leben nur angesehen werden kann, was als Zielsetzung, die glücklich machen soll, auch wirklich eine Person innerlich berührt und was diese vor sich und den Nächsten verantworten kann. In diesem Sinn hat die Theologie ebenso wie die Philosophie die Wende zum Subjekt vollzogen.³ Es ist daher auch im Bereich des Religiösen vorausgesetzt, dass jeder Mensch Wertigkeiten und Sinndeutungen als seine eigenen erkennt, sie in Freiheit annimmt und im Leben vollzieht.⁴ Ungeachtet seiner kritischen Bemerkungen verweist Bieri tatsächlich auf ein Charakteristikum der religiösen Lebensführung: auf die Suche nach dem wirklich Wichtigen, nach dem, was unter der Oberfläche liegt oder über den Horizont hinausgeht, nach dem „Mehr“. Diese Suche gestaltet sich unter den gegenwärtigen spät- oder postmodernen Lebensbedingungen nicht in Uniformität. Daher muss man sich fragen, ob es aus christlicher Sicht überhaupt das gute Leben gibt, das sich beschreiben, definieren und verallgemeinern lässt. Es ist zielführender, wenn man sich darüber Gedanken macht, was ein Leben aus christlicher Sicht zu einem „guten Leben“ werden lässt.
3 Ein in starkem Maße normatives Verständnis lässt sich noch in Handbüchern der Moraltheologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisen. 4 Ähnlich stellt Bieri 2011, 81, das Verhältnis von Bildung und Gelehrsamkeit dar. Die Notwendigkeit, dass bestehende Sinnvorstellungen persönlich angenommen werden – die meines Erachtens ebenso auch für Sinnangebote im säkularen Bereich gilt – formuliert Bieri an anderer Stelle treffender: „Und ähnlich ist es mit den religiösen Elementen einer Kultur: Sie zu kennen, reicht nicht; es geht darum, sich an ihnen zu reiben und im Sinne einer inneren Stellungnahme auch hier eine eigene Stimme zu entwickeln.“ (Bieri 2011, 82 – 83) Dieser Zugang ist aus theologischer Sicht im Verständnis der Freiheit begründet, die Gott dem Menschen gegeben hat: „Nicht obwohl, sondern weil er frei ist, ist der Mensch auf Gott hingeordnet und kann dies eben im Maße der Bewußtheit seiner Freiheit als eigene Bestimmung erfahren. Und er wird dann, wenn er Gott findet, indem er zu sich selbst findet, Gott auch näher sein, ‚als wenn er Gott nur faktisch anerkennt, ohne sein Menschsein erschlossen zu haben‘.“ (Pröpper 2011, Bd. 2, 734 mit einem Zitat von Möller 1982, 279) Vgl. insgesamt zu diesem Thema Schockenhoff 2007. Zum postmodernen Kontext der Lebensführung und zu seiner ethischen Dimension im Allgemeinen vgl. Laubach 1999.
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Unter diesen Prämissen ist verständlich, dass im Folgenden keine detaillierte Beschreibung erfolgt, sondern Perspektiven und Elemente bedacht werden, die als solche Charakteristika eines „guten Lebens“ aus christlicher Sicht angesehen werden können. Die konkrete Ausdrucksform eines von solchen Elementen geprägten „guten Lebens“ kann es nur in der Gestaltung durch den einzelnen gläubigen Menschen gewinnen und findet daher in einer Fülle von Lebensentwürfen Ausdruck, auch wenn, die Überlieferung des biblischen Glaubens in Texten und kirchlichen Verlautbarungen dabei eine Orientierung gibt, die, wie Bieri zu Recht bemerkt, freilich immer einer sorgfältigen Reflexion unterliegen muss.⁵ Was also ist das Gemeinsame der verschiedenen christlichen Lebensentwürfe in der Suche nach dem „guten Leben“, nach dem „wirklich Wichtigen“, nach Sinn und Glück? Es ist der Ausgangspunkt dieser Suche, nämlich eine Grundeinstellung zum Leben, die man als „Zugang geschenkten Daseins“ beschreiben kann. Grundlegend für diesen Zugang sind das Wissen, dass die Tatsache der eigenen Existenz sich nicht mir selbst verdankt, und die positive Annahme des Lebens, die zu einer Haltung der Dankbarkeit anleitet. Die Erkenntnis, dass weder die eigene Existenz noch die der Eltern selbst gemacht ist, verbindet sich mit dem Glauben, dass alles Leben von einem Grund getragen ist, der erfahrbar und doch transzendent ist, der alles Vermögen von Menschen und die in der Natur beobachtbaren Gesetze überschreitet. Dieser Grund, der als Gott bekannt wird, hat sich nach christlichem Glauben in der Geschichte des Jüdischen Volkes und dann mit letzter Gültigkeit in Jesus Christus zu erkennen gegeben: Gott ist Ursprung und Ziel der Welt und hat sich in Jesus Christus als der Gott der unbedingten Liebe zu jedem einzelnen Menschen erwiesen.⁶ Dieser Zugang, das Leben als geschenktes Dasein zu betrachten und darauf mit Dankbarkeit zu antworten, führt auch zu einem bewussten Umgang mit der menschlichen Begrenztheit, die vor allem in der Erfahrung von Fehlbarkeit im doppelten Sinn von menschlicher Unvollkommenheit und moralischer Verfehlung spürbar und im Wissen um die Sterblichkeit des Menschen schmerzlich bewusst wird. Der christliche Glaube antwortet auf das Wissen um die Fehlbarkeit mit der Botschaft von Erlösung des Unvollkommenen und Versöhnung im Angesicht von Schuld und Versagen. Dem Bewusstsein der Sterblichkeit setzt er die Hoffnung auf Auferstehung gegenüber. Beides stellt eine grundlegende Voraussetzung für eine positive Beschreibung dessen dar, was als „Sinn“, „Glück“ und „Himmel“ ein 5 Vgl. Päpstliche Bibelkommission (11. Mai 2008). 6 Zum Verständnis des Christentums als Offenbarungsreligion in den jüngeren Dokumenten der römisch-katholischen Tradition und zum Begriff von Offenbarung vgl. Schmitz 1985 und Seckler 1985.
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Leben zu einem „guten Leben“ machen kann. Diesen zwei grundlegenden Aspekten sollen daher die beiden folgenden Abschnitte gewidmet sein.
14.1 Die Erkenntnis der Fehlbarkeit und die Erfahrung von Erlösung Schuld und Sünde, praktisches Versagen des Menschen und Selbstverfehlung im Sinne der Abkehr von Gott und der alleinigen Konzentration auf sich selbst gehören zu den Möglichkeiten und zur Realität des Menschen. Der christliche Glaube gibt darauf die Antwort der grundsätzlichen Erlösung des Menschen durch das Leben und Sterben Jesu Christi und der konkreten Erfahrung von Erlösung im alltäglichen Leben des Einzelnen, unter anderem im Vollzug des Sakramentes der Versöhnung. An dieser Stelle sind nicht die unterschiedlichen christlichen Ausprägungen im Erlösungsverständnis und im Umgang mit Schuld und Sünde von Bedeutung,⁷ sondern die Frage, inwiefern die Anerkenntnis eigener Fehlbarkeit – als grundlegender, d. h. den Menschen als Menschen kennzeichnenden Unvollkommenheit – und eigener, konkret erfahrbarer Verfehlungen, d. h. einer auch nicht durch Tugendübung völlig auslöschbarer Sündhaftigkeit eine gute Ausgangsbasis für ein „gutes Leben“ ist. Welchen Beitrag kann die Vorstellung von Erlösung im Glauben an Gott leisten, um mit dieser Selbsterkenntnis des Menschen und mit den Folgen tatsächlich eingetretener Schuld umzugehen? Der erste Aspekt, das Bewusstsein der Fehlbarkeit, ist zugleich das Bewusstsein dessen, nicht selbst das höchste Wesen zu sein, „nicht Gott“ zu sein. Paul Ricoeur beschreibt diese Erfahrung aus philosophischer Perspektive ausführlich in seiner Phänomenologie der Schuld und benennt sie als „Disproportion“, die den Menschen charakterisiert: Er ist ein Wesen, das ein Verlangen nach dem Vollkommenen spürt und zugleich die Erfahrung seiner Kontingenz, seiner eigenen „Zufälligkeit“ und Begrenztheit macht,⁸ aufgrund derer es dann zu wirklichen Verfehlungen kommen kann.⁹ Der christliche Glaube trägt nun dazu bei, dass diese Begrenztheit des Menschen als eine Grundbedingung des Lebens bejaht werden kann – weil Gott den 7 Für einen kurzen Überblick vgl. Pesch 2010, 637 – 675. 8 Ricoeur 2002, 180: „[…] das ist es, was die Sprache in der rationalen Chiffre der NichtNotwendigkeit oder Kontingenz ausdrückt; ich bin da und es war nicht notwendig; […] und diese Nicht-Notwendigkeit läßt das Negative herausspringen, das in all den Gefühlen der Widerruflichkeit, der Abhängigkeit, des Mangels an Subsistenz, des existenziellen Schwindelgefühls steckt, die aus der Meditation über Geburt und Tod heraufkommen.“ 9 Vgl. Ricoeur 2002, 188.
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Menschen so geschaffen und „als gut“ anerkannt sowie ihm Verantwortung für die Welt übertragen hat (Perspektive der Schöpfung¹⁰); ebenso weil er jeden einzelnen Menschen liebt, so dass sich niemand selbst mehr in seiner Existenz rechtfertigen muss; er ist nur noch Rechenschaft schuldig für die Antwort, die er auf den Ruf Christi in seine Nachfolge, d. h. in ein Leben im Zeichen der Liebe, gibt (responsorische Perspektive). Gott lädt den Menschen ein, sich in seiner grundsätzlichen Begrenztheit selbst anzunehmen und als geliebt zu sehen und in Gott seine Erfüllung zu finden. Diese Einladung ist der Ausgangspunkt für das Gebot der Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe, ein Ermächtigungs- und Ermöglichungsgrund für sittliches Handeln.¹¹ Die sittliche Verpflichtung ist eine Erfahrung, die dem Menschen aufgrund seiner Begabung mit Vernunft und Freiheit eigen ist. Mit dieser Verpflichtung geht auch die Erfahrung einher, dass ich fehlerhaft bin und trotz eigenen Bemühens scheitern kann, dass ich in Schuldzusammenhänge, für die ich oft nur teilweise oder nicht verantwortlich bin, verstrickt werde oder dass ich auch in freier Wahl das Böse wählen kann, und sei es als das vermeintlich Gute. Aus christlicher Sicht sollen diese Erfahrungen des Menschen weder zu einer Selbstverdammnis führen, noch zu einem notwendigerweise erfolglosen Bemühen um Selbstrechtfertigung, die doch aufgrund des eigenen Fehlerbewusstseins nur in Selbstbehauptung und Verdrängung der eigenen Schuld enden kann. Stattdessen vermittelt die christliche Botschaft dem Menschen, dass ein Neuanfang möglich ist, dass die Anerkennung der eigenen Person durch Gott nicht erst durch Fehlerlosigkeit und erbrachte Leistung erwirkt werden muss, sondern dass Verzeihung möglich ist und Gott den Menschen trotz Fehlern und Schwächen längst angenommen hat. Dieses Bewusstsein, Mensch und fehlerhaft zu sein, aber von Gott immer wieder aufs Neue beim Straucheln „auf die Füße gestellt zu werden“, aus der ehrlichen Zerknirschung „zum aufrechten Gang erhoben zu werden“, stellt eine Grundlage dafür dar, am Lauf der Dinge nicht verzweifeln und trotz aller Anstrengung keine Perfektion von sich verlangen zu müssen – insofern diese einem Streben nach Selbsterlösung gleich kommen und mit solchen philosophischen
10 Für einen ausführlichen Überblick über die Schöpfungslehre vgl. Sattler/Schneider 2006; zu den Konsequenzen des Schöpfungsgedankens für das Selbstverständnis des Menschen als möglicher Partner und Freund Gottes und zur aktuellen Diskussion über das Verständnis von Transzendentalität und Freiheit des Menschen siehe Pröpper 2011, Bd. 1, 488 – 656. 11 Vgl. Pröpper 2011, Bd. 2, 785: „Erstens eröffnet der Glaube, wenn er praktisch bezeugt wird, die Möglichkeit, daß sich Menschen letztgültig anerkannt wissen können, sich dadurch zu ihrer Freiheit gerufen und zu ihrer verbindlichen Übernahme ermutigt erfahren und so als selbstverpflichtete Subjekte moralischen Handelns sich überhaupt zu konstituieren vermögen.“
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Konzepten verglichen werden kann, die eine „ideale Lebensweise“ durch eigene Leistung wie das Abtöten von Leidenschaften und Bedürfnissen bis zur Gefühllosigkeit als möglich erscheinen lassen.¹² Die aus dem Glauben an Gottes Güte entspringende Dynamik des Lebens angesichts und trotz der eigenen Begrenztheit entlastet von rigoristischen Fehlformen ethischer Ansprüche an sich selbst¹³ und vor dem Gefühl, über die eigenen Möglichkeiten hinaus für alles verantwortlich zu sein.¹⁴ Erlösung zeigt sich daher auch als Glaube daran, dass nicht der Mensch das letzte Wort hat, sondern Gott, dass das Gute das Böse besiegen kann, dass das Leben den Tod überwindet, dass alles Leid getröstet werden wird. Die Perspektive der Versöhnung und Erlösung ist daher eng verbunden mit der Perspektive der erneuerten Freiheit¹⁵ und der Hoffnung und leitet über zu einer weiteren Grunddimension des Menschen, nämlich seiner Sterblichkeit, und zur Antwort des Auferstehungsglaubens.
14.2 Das Wissen um die Sterblichkeit und die Hoffnung auf Auferstehung Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit, das nicht nur bei Begräbnisfeiern geweckt, sondern auch am Feiertag des Aschermittwochs jedes Jahr rituell ins Gedächtnis gerufen wird, indem jeder Christ ein Aschenkreuz auf die Stirn gezeichnet bekommt mit den Worten „Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst“ (vgl. Gen 3,19), prägt die Einstellung zum Leben. Keine
12 Diese Kritik wurde von christlicher Seite historisch an der Apatheia-Lehre der Stoa geübt. 13 Vgl. Pröpper 2011, Bd. 2, 785: „Zweitens begrenzt der Glaube die Ansprüche der Ethik, aber er tut es zugunsten der Ethik. Denn er entlastet sie von der letzten Sinnproblematik menschlichen Daseins und befreit sie von den Aporien des Rechtfertigungszwanges. Weil es Gott ist, der unser Dasein gutheißt und nur er es mit begründeter Endgültigkeit gutheißen kann, entscheidet über Gewinn und Verlust wahren menschlichen Lebens zuerst und zuletzt nicht moralische Leistung oder moralische Schuld, sondern der Glaube.“ 14 Vgl. Pröpper 2011, Bd. 2, 785: „Drittens eröffnet der Glaube den Horizont der größeren Möglichkeiten Gottes und wahrt so die Unterscheidung zwischen dem, was verpflichtende Aufgabe des Menschen, und dem, was allein Sache Gottes sein kann: Gott steht ein für den Sinn unseres Daseins und wird es vollenden, wir verantworten unser Handeln und die Wege, zu denen wir selbst uns bestimmen. Und auch diese Unterscheidung kommt der Ethik zugute, weil sie uns ermutigt zu tun, was wir als Menschen tun können. Und weil Gott tut, was Menschen nicht können, ermutigt sie ethisches Handeln insbesondere dazu, dem lähmenden Anschein letzter Vergeblichkeit zu widerstehen und nicht aufzuhören, das gebotene Gute zu beginnen.“ 15 Zur Bedeutung des Glaubens für ein Handeln aus Freiheit vgl. Ernst 2009, 302 – 332.
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Wiedergeburt in dieser Welt, aber auch kein endgültiges „Aus“, sondern die Aufnahme in ein ewiges gemeinsames Leben mit Gott ist die Hoffnung, die den Umgang mit Leben und Tod im Christentum prägt. Das Wissen um die Endlichkeit des eigenen Lebens ist dabei eng verbunden mit dem Bestreben, dieses so zu leben und gestalten, dass es besonders das verwirklicht, was „am Ende“ Gültigkeit hat, was die Ewigkeit und das Leben mit Gott in diesem irdischen Leben vorwegnimmt und aufscheinen lässt, nämlich eine von Glauben und Hoffnung begleitete Liebe. Diese Liebe hat notwendigerweise sehr persönliche Züge, die von der persönlichen Entwicklung und Reife des Menschen abhängen. Dennoch weist diese Einübung in die Liebe immer über ein persönliches Wachsen hinaus. Das Beispiel Jesu Christi stellt konkrete Elemente des Ausdrucks solcher Liebe als Leitbilder vor Augen, die deutlich machen, dass sich die Liebe immer auch auf alle anderen Menschen und auf die Welt richtet und so in karitativem Engagement, im Einsatz gegen Hunger und Umweltzerstörung, Krankheit und unmenschliche Arbeitsverhältnisse sowie für geeignete Lebensbedingungen aller Menschen Ausdruck sucht.¹⁶ Die Liebe, die man übt, wie die Hoffnung, die man hegt, soll eine „moralisch akzeptable“ sein, „die sich dagegen sträubt, sich mit dem Leben einfachhin abzufinden und in eine Haltung des Stoizismus überzugehen“,¹⁷ womit in diesem Fall gemeint ist, der persönlichen „Seligkeit“ unter Ausblendung der Widerfahrnisse der Umgebung den Vorrang zu geben. Das Wachsen in der Liebe wird reflektiert in der Rechenschaft, die man sich für das eigene Denken und Handeln gibt und die ihren angestammten Platz in der täglichen „Gewissenserforschung“ hat: Entspricht das, was ich getan habe oder tun will, dem, was ich in der Gemeinschaft der Christen und in der Betrachtung des biblisch überlieferten Handelns Jesu als Liebe erkennen und verstehen kann? Doch geht es nicht nur um eine Besinnung auf das Handeln und seine Maßstäbe, sondern auch auf das existenzielle Sein: Entspricht, was ich tue, der Person, die ich bin; oder noch tiefer im Glauben reflektiert, der Person, die ich aus der Perspektive der erlösenden Botschaft Gottes sein könnte?
16 In diesem Sinn hat beispielsweise die 34. Generalversammlung der Jesuiten formuliert, dass der Einsatz für Gerechtigkeit eine Fülle von Bereichen umfasst: „die Bandbreite der Menschenrechte, die gegenseitige Abhängigkeit der Völker voneinander, den Einsatz für eine wahrhaft solidarische Weltordnung, den Respekt vor dem Menschenleben von seinem Anfang bis zu seinem Ende, die Sorge für die Umwelt etc.“ Diese Zusammenfassung des Dekrets 3, Nr. 5 und 12 der Generalversammlung gibt Theobald 2008, Bd. 1, 440 in französischer Sprache (übersetzt von der Verfasserin). Das Dekret 5 ist in deutscher Sprache im Internet verfügbar: http://www.jesuiten.at/index.php?id=114 (Stand 7. 9. 2012). 17 Striet 2011, 1494.
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Durch solche Momente der Rechenschaft und die entsprechenden Sinnerfahrungen dringt die Dimension des „Endgültigen“ in den Ablauf des Alltäglichen. Im Hinblick auf einen letzten Rückblick auf das eigene Leben ist jetzt das zu wählen, was Bestand haben wird. Durch diese Entscheidungen das Leben – mein eigenes und das der anderen – prägen zu können und zu sollen, gibt dem Leben insgesamt eine Ausrichtung und jedem Augenblick seinen besonderen Wert. Die Augenblicke erhalten etwas Entscheidendes, da es sich um die Momente handelt, in denen durch Mitwirken der Menschen Gott in diesem Leben spürbar werden kann.¹⁸ Das Gefühl wird bestärkt, das Leben nutzen zu sollen, es nicht „nutzlos“ verstreichen zu lassen – wobei dies keinen Aktivismus bedeutet; das Gefühl könnte auch zu einem Leben in Abgeschiedenheit führen und genau darin seinen „Nutzen“ haben. Freilich ist Nutzen hier in einem weiten Sinn zu verstehen, denn jeder rein instrumentelle oder ökonomische Nutzenbegriff muss sich angesichts der Dimension des „Endgültigen“ jeweils an Sinn und Bedeutung für das Leben der beteiligten Menschen messen lassen.¹⁹ Es geht also, zusammenfassend gesagt, darum, an dem Ort, an dem sich jemand bewegt, und mit den Fähigkeiten, die jemand besitzt (das Talente-Gleichnis Mt 25,14– 30 bzw. Lk 19, 12– 27 wird oft in diesem Sinn gedeutet) eine Spur des „Reiches Gottes“ zu hinterlassen.²⁰ Einerseits weckt das Bewusstsein der Endlichkeit also den Anspruch, das geschenkte Leben bewusst und verantwortungsvoll zu gestalten, andererseits schafft der Glaube an die Auferstehung einen Horizont über die Grenze des Todes hinaus. Die Hoffnung auf ein Leben „nach dem Tod“ bietet Trost angesichts der leidvollen Momente des Lebens. Trost darf freilich nicht im Sinne von Vertröstung missinterpretiert werden, als wäre es legitim, im Hinblick auf eine mögliche Wiedergutmachung im künftigen Leben jemandem in diesem Leben Hilfe zu
18 Theobald 2008, Bd. 1, 456 sieht den radikalen Einsatz für andere im konkreten Einzelfall und die Einrichtung „utopischer Orte“, an denen die Gerechtigkeit des Gottesreiches erfahrbar wird, als die angesichts der Komplexität der Sozialbereiche einzig mögliche Form, die notwendige Verbindung der Glaubensbotschaft und des sozialen Einsatzes praktisch zum Ausdruck zu bringen. 19 Vgl. Demmer 2008, 254: „Im Zugehen auf den Tod rücken alle angezielten humanen Güter in die Perspektive des letzten Zielgutes, nämlich die umfassende Erfüllung in Gott. Was zeitlebens gegolten hat, erfährt nun endgültige Verdichtung. Was der einzelne jeweils unter Selbstverwirklichung verstanden hat, bricht in letzter Deutlichkeit hervor. Auf diese Krise hin hat er entweder gelebt, oder er hat gar nicht gelebt und sein Leben von Grund auf verfehlt. Alle Abwägungen haben sich vor dieser Perspektive zu verantworten.“ 20 Das „Reich Gottes“, das Wirken Gottes als tragende Kraft der Welt, wurde von Jesus Christus verkündet und in seinen Taten und seiner Gegenwart zeichenhaft sichtbar (Lumen Gentium 5). Zur Geschichte der Deutung des Verhältnisses von „Reich Gottes“ und sichtbarer Kirche vgl. Pottmeyer 1986.
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verweigern, wo diese real möglich ist. Vielmehr ist Trost das Spenden von Hoffnung und Zuversicht, dass auch der mangelnde Sinn, das Fehlgeschlagene, das schlimme Schicksal, das Leiden, die Verzweiflung und die auf Erden unerfüllbare Sehnsucht aufgehoben sein werden in Gott, dass alles gut sein wird im Angesicht Gottes, der den Menschen im Leid jetzt schon nahe ist, so dass auch den Menschen mit dem traurigsten Schicksal das „Lächeln der Seligen“ zuteil werden wird. Diese Hoffnung ist, wie Magnus Striet unter Berufung auf Walter Benjamin hervorhebt, nicht pietätlos, sondern sogar moralisch geboten, und sie hat Auswirkungen auf die eigene Lebensgestaltung: „Denn gibt es das Versprechen eines Gottes, nichts unversucht sein zu lassen, die Tränen abzuwischen und am Ende der Tage zu vermitteln, so durchdringt dies als geglaubtes Versprechen und damit als Glaube an die Gerechtigkeit suchende Macht Gottes bereits das gegenwärtige Bewusstsein.“²¹ Den verheißenen Himmel zu erden kann daher bedeuten,Trost zu spenden und Wiedergutmachung in diesem Leben zu bewirken.²²
14.3 „Den Himmel erden“ – Lebensfülle als Erfahrung des Unendlichen im Endlichen Bedenkt man die Gebrechlichkeit und Sterblichkeit des Menschen als Grundvoraussetzungen des Lebens, so wird deutlich, dass aus christlicher Sicht ein „gutes Leben“ nicht notwendigerweise ein „perfektes“ Leben sein muss – im Sinne allgemeiner Vorstellungen von einem Leben ohne Krankheit, mit Nachkommenschaft, beruflichem Erfolg und finanziellem Wohlstand – auch nicht ein durchwegs glückliches, als mache der Glaube allein schon sorgenfrei.Vielmehr kann als „gutes Leben“ ein Leben angesehen werden, in dem auch Zeiten des Versagens und des Leids durchlitten und überstanden werden können im Bewusstsein, dass
21 Striet 2011, 1495 und 1505 zur These Walter Benjamins von der moralischen Gebotenheit dieser Hoffnung: „Nicht mehr ist es moralisch verboten, auf eine jede nachträgliche tröstende Versöhnung der Misshandelten und Gemordeten sowie der durch Krankheit und Naturgewalt Dahingerafften mit ihrem Schicksal zu hoffen. Vielmehr erklärt es Benjamin im Gegenteil zu einer moralischen Forderung, nicht mit der möglichen Hoffnung zu brechen.“ 22 In ihrer 34. Generalversammlung formulierten die Jesuiten die entsprechend den individuellen Möglichkeiten „überdimensionale“ Solidarität christlicher Gemeinschaften mit leidenden Menschen als Möglichkeit, der Herausforderung zu begegnen, welche die Situation marginalisierter Menschen in unseren Gesellschaften für die Vorstellung von der Existenz eines gerechten Gottes darstellt. Dazu Theobald 2008, Bd. 1, 451. Unter dem Stichwort der Compassion hat vor allem Johann Baptist Metz in seiner politischen Theologie ein weit rezipiertes Paradigma für eine leidsensible Theologie entwickelt.
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man nie alleine ist, weil Gott jeden Menschen begleitet. Leben kann trotz Scheitern in bestimmten Lebensbereichen ein „gutes Leben“ sein, weil Gottes Hilfe erfahren werden kann beim Tragik durchtragen, Leid durchleben, sich auf Verzicht und Loslassen einlassen, sich seine Wünsche nicht erfüllen können. Dabei handelt es sich aber nicht um eine masochistische Grunddisposition, um eine Leidensverliebtheit oder um eine generelle Opferbereitschaft aus falschen Motiven; der Regelkreis der Selbstliebe und Nächstenliebe ist eine Korrektur eines reinen Hedonismus ebenso wie eines Entsagungs- oder Aufopferungsdenkens, das entweder selbstgefällig interpretiert oder von außen als unfruchtbare, sinnlose Tätigkeit beurteilt werden kann.²³ Gemeint ist auch nicht eine Verherrlichung jedweden Leids, als hätte Leid und Leiden an sich schon einen Sinn und nicht erst in der Möglichkeit, es in mühsamer Arbeit zu bewältigen und daran zu wachsen, also im Durchgang durch den Schmerz, das Leid, die Trauer dem Leben einen Sinn abzuringen – soweit das möglich ist, denn es gibt auch Leid, vor dem man nur verstummen und das man nur noch einer eschatologischen Hoffnung anvertrauen kann. Dadurch kommt es zu der paradoxen Aussage, dass Glück nicht nur denkbar ist als Freisein von Unglück, sondern auch als Gehaltensein im Unglück, als Glück in der Verzweiflung. Das Gute des Lebens lässt sich also nicht an Quantitäten messen, auch wenn alttestamentlich gesehen ein langes, von Nachkommen gesegnetes und gottesfürchtiges Leben ein Ideal darstellt (Gen 25,8). Stattdessen geht es um die Qualität des Lebens, um das innere Erfülltsein von „Glück“: Glück meint hier nicht Glücksgefühle an sich, sondern das Gespür für das Glücken des Lebens, das erfahrbar ist, wenn Menschen aus der Mitte des Glaubens leben, also den Sinn des Lebens nicht allein aus sich selbst schöpfen wollen, ihre mangelnde Vollkommenheit annehmen, die der anderen ertragen und so ein Stück Himmel auf der Erde erfahren wird.²⁴ Die Fülle des Lebens ist es, in schlechten wie in guten Tagen im Bewusstsein der Präsenz Gottes zu leben, sein Leben mit der Hilfe Gottes so sinnvoll wie möglich zu leben und es am Ende vertrauensvoll Gott zu überlassen. Die christliche Sinnperspektive kennzeichnet aber nicht nur den Umgang mit Erlittenem, sondern auch das Handeln. Der Glaube motiviert dazu, Lebensbedingungen so zu verändern, dass sie zumindest „Bedingungen erlösten Daseins“
23 Zum Regelkreis von Selbstbejahung und Bejahung des anderen vgl. Hunold 1993, 191 – 195. 24 Ist dies vielleicht das, was der junge 16jährige Nietzsche gemeint hat, als er in einem Brief an G. Krug und W. Pinder in Naumburg vom 27 Apr. 1862 schreibt: „Daß Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, daß der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe.“ (Nietzsche 2003, 202)
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eröffnen, ohne selbst Erlösung im umfassenden Sinn geben zu können.²⁵ Die konkrete Interpretation dieser Spannung, dass nicht die Strukturen schon erlösen können, aber durchaus das Leben verbessern oder verschlechtern können, führt zu einer kultur- und zeitabhängigen Antwort auf ethische Fragen, wie deutlich an der Sklavenfrage bei Paulus und ihrer späteren Behandlung zu sehen ist: der Glaube kann sowohl ein „anderes“ Handeln in gegebenen Strukturen als auch einen Einsatz für die Veränderung von Strukturen erfordern; in beiden Fällen aber wird nicht von den veränderten Strukturen selbst Erlösung erwartet, sondern diese bleiben auf der Ebene der Ermöglichungsgründe.²⁶ Aus christlicher Sicht kann es nicht zu einer völligen Loslösung sozialer und politischer Dimensionen von kulturellen und religiösen kommen.²⁷ Das Bewusstsein der Fehlbarkeit des Menschen relativiert zwar jede verbissene Leistungsethik, stellt aber einen Bezug zwischen Glaubensleben und Handeln nicht grundsätzlich in Frage. Das Doppelgebot der Gottes- sowie der Selbstund Nächstenliebe sowie die Orientierung am Leben und Wirken Jesu Christi, wie es in den neutestamentlichen Schriften beschrieben und gedeutet wird, lässt unter einem „guten Leben“ immer ein Leben verstehen, in dem Menschen sich bemühen, zu sich und zu anderen gut zu sein. Der Glaube an Jesus Christus trägt diese Liebe zu sich und den anderen als eine ethische Perspektive in sich. Der gute Umgang mit sich selbst und mit anderen bestärkt die Freude am Leben, am Schönen, an der Natur und gibt dieser Freude in vielfacher Weise Ausdruck. Ebenso kann der gute Umgang mit sich und anderen zur Übernahme von Aufgaben und zur Annahme von Entbehrungen aus Liebe zu jemand anderem führen. In all diesen Fällen ist ein „gutes Leben“ ein Leben, das geprägt ist im Bemühen um gute Beziehungen – zu sich, zu den anderen Menschen und zu Gott.
25 Ratzinger 1986, 23: „In ihr [der katholischen und evangelischen Soziallehre] geht es darum, Glauben operativ zu machen, d. h. das Ethos des Glaubens auf die wirtschaftliche und politische Vernunft zu beziehen und aus dieser Beziehung heraus Handlungsmodelle zu entwickeln, die nicht Erlösung produzieren, aber Bedingungen erlösten Daseins eröffnen können.“ 26 Die Aufnahme des Begriffs der strukturellen Sünde in den kirchlichen Sprachgebrauch aber hat die Bedeutung der aufmerksamen Kritik an und Verantwortung für Strukturen bestärkt und so Christen ermutigt, sich nicht nur im persönlichen Bereich, sondern auch in der Gesellschaft und Politik für eine Verbesserung der Bedingungen erlösten Daseins einzusetzen. Vgl. Hilpert 2009, 112. Zu einem kurzen Überblick über aktuelle Zugänge zum Verständnis von Sünde und Schuld vgl. Dlugoš/ Müller 2012. 27 Theobald 2008, Bd. 1, 454: „Que les problèmes économiques, sociaux et politiques des sociétés soient fortement marqués par ces deux autres dimensions culturelle et religieuse de l’humanité nul n’en doute.“
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Das christliche „gute Leben“ wäre demnach ein Leben, das sich durch einen gewissen Stil kennzeichnet: Es orientiert sich an der Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe, räumt im Entscheidungsfall Beziehungen den Vorrang vor materiellen Gütern ein; es bemisst das alltägliche Leben an den Möglichkeiten des „Reich Gottes“ und lässt sich von der Not anderer Menschen in Anspruch nehmen; es hofft in dunklen Zeiten auf Gottes Hilfe und angesichts eigener Schwäche auf Vollendung durch Gott. Durch den Glauben selig werden heißt daher, dass nur das Herz, die innere Haltung des Glaubens, Hoffens und Liebens, nie das äußerlich Messbare allein, den Menschen wahrhaft glücklich machen und so den Himmel erden kann. In diesem Sinn ist ein „gutes Leben“ ein Leben, in dem das Unendliche im Endlichen erfahrbar wird.
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Ratzinger (1986): Josef Kardinal Ratzinger, Politik und Erlösung. Zum Verhältnis von Glaube, Rationalität und Irrationalem in der sogenannten Theologie der Befreiung (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 279), Opladen. Ricoeur (2002): Paul Ricoeur, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, Freiburg, München, 3. Aufl. Sattler/Schneider (2006): Dorothea Sattler und Theodor Schneider, „Schöpfungslehre“, in: Theodor Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 1, Düsseldorf, 3. Auflage, 120 – 238. Seckler (1985): Max Seckler, „Der Begriff der Offenbarung“, in: Walter Kern, Hermann Josef Pottmeyer, Max Seckler (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 2, Freiburg, Basel, Wien, 60 – 83. Schmitz (1985): Josef Schmitz, „Das Christentum als Offenbarungsreligion im kirchlichen Bekenntnis“, in: Walter Kern, Hermann Josef Pottmeyer, Max Seckler (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 2, Freiburg, Basel, Wien, 15 – 28. Schockenhoff (2007): Eberhard Schockenhoff, Theologie der Freiheit, Freiburg, Basel, Wien. Striet (2011): Magnus Striet, „Das Versprechen der Gnade. Rechenschaft über die eschatologische Hoffnung“, in: Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Freiburg, Basel, Wien, Bd. 2, 1490 – 1520. Theobald (2008): Christoph Theobald, Le christianisme comme style. Une manière de faire la théologie en postmodernité, Bd. 1, Paris.
Personenregister Anscombe, Gertrude E. M. 182 Aristoteles 13 – 16, 20 – 23, 26 f., 31 f., 46, 57, 63, 69 f., 93 f., 100, 143, 155 f., 159 f., 162, 170, 180, 182, 195, 208, 214, 219, 245, 265 Augustinus 105, 253, 266, 287 Baggini, Julian 113 Berlin, Isaiah 21, 62, 203 f., 207 Bloch, Ernst 262 Borges, José Luis 104 Bormann, Franz-Josef 219, 236 f. Camus, Albert 24, 96, 109, 113, 269 f. Cicero, Marcus Tullius 220 f. Colburn, Ben 197, 199 Dancy, Jonathan 162 f. Darwin, Charles 111, 280 – 283 Dawkins, Richard 247 – 249 Den Uyl, Douglas 200 f., 207 f., 211 f. Dennett, Daniel 248 Diener, Ed 38 – 40, 43 – 45 Dostojewski, Fjodor 111 Dworkin, Ronald 87, 194 Einstein, Albert 111 Foot, Philippa 20, 61, 65, 141, 150, 161 – 163, 178, 181 f., 194 Forst, Rainer 205, 235 Frankfurt, Harry 26, 92, 102 Gadamer, Hans-Georg 263 George, Robert P. 213 – 215 Gewirth, Alan 6, 183, 186 – 189 Haack, Susan 113 Halbig, Christoph 52, 68, 86 f., 144 Harman, Gilbert 209 Haybron, Daniel 147, 149, 160, 170 Heidegger, Martin 19, 91 Henrich, Dieter 236 Highsmith, Patricia 134
Hills, Allison 221, 231, 238 f. Hiob 226 Hoffmann, Thomas 65 Hooker, Brad 163, 165 Hume, David 140, 152, 181, 272 f. Hurka, Thomas 23, 144, 146 f., 168 – 171, 220 f., 238 f. Hursthouse, Rosalind 65, 143, 148 f., 154 f. James, William 100, 106, 275 Kagan, Shelley 51, 73, 78 Kant, Immanuel 16, 18, 29, 36, 40, 105, 220 – 229, 236 f., 251 f. Keller, Helen 116 Kesebir, Pelin 38 – 45 Kierkegaard, Sören 257, 266, 270 Lohmar, Achim 219, 224 f., 228, 231, 233 f. Long, Graham M. 196, 202, 204 f. Luther, Martin 19 MacIntyre, Alsdair 2, 178 – 180, 182, 196 Mackie, John L. 23 f., 60, 65 f., 139 f. Mandela, Nelson 111 Mann, Thomas 104 McDowell, John 65, 158 – 161, 271, 285 f. Mill, John Stuart 52, 128 – 130, 134, 196, 208, 220 Moore, George E. 23, 28, 181 Müller, Anselm 150, 154, 158 Mutter Theresa 111 Nagel, Thomas 29, 57, 141 Nietzsche, Friedrich 19, 22, 130, 143, 153, 178, 280, 282, 286, 300 Nussbaum, Martha 2, 17, 21 f., 29, 57, 61, 78, 185, 196, 200 f., 207 – 211, 215, 278 f. Parfit, Derek 51 – 53, 141, 171 Phillips, Dewi Zephaniah 158 Picasso, Pablo 111, 131 Pico della Mirandola 195 f., 199, 215
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Personenregister
Platon 13, 15 f., 20, 24, 30 f., 203, 283 Pröpper, Thomas 292, 295 f. Rasmussen, Douglas 200 – 202, 207 f., 211 f., 215 Ratzinger, Josef 301 Rawls, John 183 – 186, 188, 190, 196, 202 f., 205, 207 Raz, Joseph 212 – 214, 238 Ricoeur, Paul 93, 294 Rorty, Richard 24, 94 Russell, Bertrand 73, 269 Schaber, Peter 5, 56, 62, 68, 223, 230 – 233, 237 – 239 Scheler, Max 30, 171 Schockenhoff, Eberhard 238 Schopenhauer, Arthur 220 Sen, Amartya 21 Singer, Marcus 220, 229, 231 f., 234 Sisyphus/Sisyphos 24, 96, 111, 113, 269 Slote, Michael 159, 165 Sokrates 13, 16, 19, 35 f., 129 Solomon, Robert 113 Stanovich, Keith 246, 248, 251, 263
Steinfath, Holmer 2, 4, 28 Stemmer, Peter 54 f., 58, 61 Striet, Magnus 299 Sumner, Leonard W. 64, 153 Swanton, Christine 152 f. Taylor, Charles 2, 17 f., 24 – 26, 92, 99, 102, 105, 192 Thomas von Aquin 261, 268, 270, 273, 283 Thompson, Michael 20 Tiedemann, Paul 223 Timmermann, Jens 224, 227, 236 Tolstoi, Leo 117 Trisel, Brooke Alan 117, 123 Tugendhat, Ernst 13, 19 f. van Gogh, Vincent 122 von der Pfordten, Dietmar 224, 235 Wallace, Jay 150 Williams, Bernard 15 f., 196, 209, 282, 286 Wittgenstein, Ludwig 109, 113 Wolf, Susan 92 Wong, Wai-hung 113
Begriffsregister Absolutes/absolut 40, 131, 133 – 135, 261 f., 266 – Absolutheitshorizont 131 – 136 Altruismus 254, 280 Antike/antike Philosophie 1, 20, 35 f., 44 f., 61, 69, 72, 219 Antinaturalismus/antinaturalistisch 144, 181, 189 Atheismus/Atheist/atheistisch 7, 43, 246, 256 – 263 Auferstehung/Auferstehungsglaube 8, 95, 191, 293, 296, 298 Autonomie/autonom 6 f., 19, 32, 53, 55, 60 – 63, 66 – 69, 78, 94, 105 – 107, 133, 196 – 202, 206 – 216, 220 f., 228 f., 238, 240, 282 f. Bedeutsamkeit s. Bedeutung Bedeutung 32, 41f., 51, 69, 72, 84, 91 –99, 102–106, 111f., 198, 120–122, 131, 135, 143, 164f., 171, 179–182, 187–198,199, 220, 229, 232, 238, 245, 269, 274–276, 294, 296, 298, 301 – Bedeutung des Lebens 94 f. – Bedeutung des Todes 120 capability s. Vermögen/Fähigkeiten Caritas s. Liebe Christ/Christentum/christlich 8, 22 f., 129, 131, 190 – 192, 262, 291 – 302 Deontologie/deontologisch 183, 222, 225, 237 f. Dignität s. Würde Diskursethik 235 Einstellung 5, 22 – 25, 27 – 29, 52, 74 f., 77, 79 – 87, 122 f., 132, 148, 150, 164, 168, 181, 199, 209, 226, 231, 270, 279, 293, 296 – positive Einstellung 79 – 84, 122 f. Emotion s. Gefühl Empfindung 31, 53 f., 199, 121 f., 251
Erlösung 4, 8, 100, 131, 193, 291, 293 – 296, 301 Evolution/Evolutionstheorie/evolutionstheoretisch 27 f., 37 f., 137, 247, 249 f., 258, 260, 263, 267, 272, 280, 283 f. Externalismus/externalistisch 148 Fähigkeit s. Vermögen/Fähigkeiten Fakt s. Tatsache Fehlbarkeit 8, 283 – 294, 301 Formalismus/formalistisch 33, 177 f., 180 Freiheit 135, 158, 186 f., 198, 208, 211, 213, 221, 254, 258, 283, 292, 295 – 297 Funktion 20 – 22, 25, 28 f., 38, 96, 98, 102, 105, 133 f., 141, 155, 180, 183 – 185, 198, 210, 249 Gefühl 17, 19, 23, 27 f., 31, 37 f., 44, 52 – 54, 63, 87, 91, 99, 101, 111, 134, 141, 171, 181, 261, 267, 269, 275, 279 f., 282, 284, 294, 296, 198, 300 Gerechtigkeit 2 f., 7, 17, 22, 31 f., 96 f., 99, 105, 111, 133, 135, 138 f., 152, 184 f., 190, 195, 254, 258, 281, 285, 297 – 299 Glaube 7, 19, 24, 97, 133, 245, 262, 270, 273, 275, 287, 293 – 302 Glück – Glückseligkeit 36, 40, 224, 226, 260 – Glücksmaximierung 254 f., 257 – 259, 261, 263 Gott 19, 24 f., 31, 117, 127, 191, 195, 223, 225, 246, 259 – 262, 266 f., 271, 273, 282, 289, 292 – 302 Gottesgläubiger s. Theist (Handlungs‐)Grund 42, 62, 64, 74 f., 79, 83 – 87, 119, 133, 136, 141, 161 f., 164, 222 f., 258, 260, 262 – motivierender Grund 144 – normativer Grund 82 – 84 – pro tanto Grund 74 Gut/Güter 6, 13 – 15, 30 f., 37, 53, 75 f., 78, 80, 85, 104, 129, 145 f., 156 f., 159, 161 f., 164 – 167, 169 f., 177, 179 f., 185 – 188,
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Begriffsregister
195 – 201, 207 – 211, 251 – 253, 257 – 260, 298 – Grundgüter 184 f., 211 – höchstes Gut 13, 226 f., 261 – intrinsisches Gut/intrinsisch gut 85, 128 – 130, 135, 214 – instrumentelles Gut 166, 184, 187, 198 Handlungsfähigkeit 6, 177, 182, 186 – 189, 191, 221, 236 Hedonismus/Hedonist/hedonistisch 30 f., 52 f., 75, 93, 118, 121, 124, 127, 136 f., 148, 300 Heil 192 Himmel(reich) s. Reich Gottes Hoffnung 8, 106, 260 f., 288, 293, 296 – 300 Holismus/holistisch 27, 111, 151, 164 Ideal 6, 28 f., 31 f., 66, 80, 100, 127 f., 130 – 137, 139, 142, 152 – 154, 161, 203, 207, 237, 255, 296, 300 Identität 17, 19 f., 106, 109, 150 f., 179, 302 – Identitätsthese 113 Individualität/Individualismus/individualistisch/individuieren 62 f., 69 f., 92, 148 – 152, 178 f., 184, 190, 199, 207, 215 Integrität 55, 66, 158, 268, 279, 286 f. Internalismus/internalistisch 144, 148, 181 Intersubjektivität/intersubjektiv 27 f., 31, 228, 235, 287 Intuition/intuitionistisch 4, 6 f., 28, 61, 66, 73, 76, 91, 119, 160, 164, 182, 196 – 212, 234, 271, 283 Irrtum 41, 60, 65, 68, 160, 288 – evaluativer Irrtum 77 – 84 Kantianismus/kantianisch/kantisch 36, 208, 220 – 228, 236, 271 Kohärenz 95, 208 f. Kommunitarismus/kommunitaristisch 183 Kontraktualismus 235 Kosmos/kosmologisch 24, 29, 38, 96, 135, 268 – 273, 284 Laster/lasterhaft 21, 145, 154 – 167 Leben, ewiges 24, 95, 99, 296 – 298 Leben nach dem Tod s. Leben, ewiges
Lebensentwurf 29, 56, 62, 180, 204, 209, 212 f., 258, 293 Lebensform 14, 21 f., 32, 78, 85, 150 f., 182, 197, 246, 248, 255 – 263 Lebensplan 92 Lebensqualität 40, 248 lebenswert/das Lebenswerte 109 – 124 Liberalismus/liberalistisch/liberal 3, 7, 61, 128, 139, 183, 195 – 209, 213 f. Liebe 28, 101 – 103, 132 – 139, 166, 190 f., 275, 282, 285, 293, 297, 302 – Liebesgebot 111, 190 f., 295, 301 Lust 13, 117 f., 121 f., 129 – 133, 145, 156, 159, 164, 169, 247 Meinungsverschiedenheit 59 f. menschliche Natur s. Natur des Menschen Menschenwürde s. Würde Metaethik/metaethisch 2 – 4, 49 – 54, 58, 60, 66 – 69, 80, 91 – 93, 197 – 212, 237 Metaphysik/metaphysisch 4, 61, 65 – 67,105 f., 178, 245 f., 255 – 263, 275 f., 283 Moral/moralisch 14 – 18, 21, 29, 31, 40, 44, 49, 53 – 66, 74, 86, 91, 93 – 95, 102 – 105, 111 – 114, 127 – 141, 144 – 171, 177 – 190, 196 – 215, 223 – 226, 229 – 238, 268, 273 f., 277 – 288, 293 – 299 Moraltheologie/moraltheologisch 182 f., 220, 292 Mythos/mythisch 96, 100, 111, 139 Natur 21, 24, 27 f., 38, 61, 139 f., 200, 248, 272, 277, 283, 293, 301 – Natur des Menschen 21 – 29, 61, 141 – 150, 178, 181, 199, 205 – 211, 220 f., 225, 238, 255, 258, 265 – 287 – Natur des Guten 139 Naturalismus/naturalistisch/Naturalisierung 65, 67, 140 f., 144, 177 – 182, 269 f., 282 – erweiterter Naturalismus 285 f. Naturwissenschaft/naturwissenschaftlich 25, 27, 38, 46, 64 – 67, 91 f., 140, 263, 272, 281, 283 Objektivismus 91 f., 94, 101, 135, 140 – 142, 179 f., 184 – 189, 205 – 209, 287
Begriffsregister
– schwacher Objektivismus 87 f. – starker Objektivismus 87 – objektive Theorie des Glücks 36, 41, 44 f., 148 – 150, 238 – objektive Theorie des guten Lebens 3, 49 – 52, 56 – 69, 73, 77 – 88, 177, 195, 219, 221 – 228, 235 – 239 Offenbarung 97, 246, 261 – 263, 275, 293 Ökonomie/ökonomisch 21, 37, 42, 54, 172, 220, 298 Paternalismus/paternalistisch 190, 220, 233 f. Perfektionismus 6, 131, 146, 149, 177, 189 f., 212, 214, 220 f. Physik/physikalisch 38 f., 64, 135, 140, 263, 283 – 285 Platonismus/platonisch 65, 95 f., 165, 225, 267 Pluralismus/pluralistisch 14, 23, 63, 184, 203 – 207, 212 f. Präferenz 18, 215, 219, 225 – 228, 238 – Präferenzsubjektivismus/subjektive Präferenz 50, 52 – 57, 148, 238 Prozeduralismus 200 Psychologie/Psychologe/psychologisch 27, 37 – 39, 44 f., 100, 154, 248 – 250, 281 – Kognitionspsychologie 245, 248, 251 Rationalismus/rationalistisch 144 Rationalität/Rationalisierung 56, 140, 183 f., 204 Realismus/realistisch 25, 92, 127, 134, 177, 181 f., 205 Realität s. Wirklichkeit Reich Gottes 37, 191, 262, 293, 295, 298, 301 f., 304 Relativismus/relativistisch 196 – 198, 201 – 214 Schöpfung 27, 106, 261, 271, 295 Selbstbestimmung s. Autonomie Selbstentfaltung 247 f. Selbsterhaltung 247 f. Selbstgenügsamkeit 129, 132 Selbstmord s. Suizid Selbststeuerung 200, 208 f. Selbsttötung s. Suizid
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Selbstverwirklichung 123, 191, 211, 282, 286, 298 Self-Direction/self-directed s. Selbststeuerung Sexualmoral 237 Sinn – Anti-Sinn 120 – Sinn des Lebens 3 – 5, 91 – 94, 96, 100, 102, 104, 106 – 111, 114, 117, 121, 124, 138, 141, 264, 300 – sinnvolles Leben s. Sinn des Lebens Sterblichkeit 19 f., 266, 293, 296, 299 Stoa/stoisch 220 f., 157, 167, 226 Subjektivismus 44, 51 f., 91, 140 f., 148, 184, 225 – subjektive Theorie des Glücks 36 f., 44, 54, 58, 66, 68, 73, 148 – subjektive Theorie des guten Lebens 3, 5, 50 – 52, 76 – 86, 83, 219 Subjektrelativität/subjektrelativ 24, 62, 80 f., 85 – 87, 148, 226 Suizid 112, 118 – 120, 220, 229, 270 Talent 62, 85, 165, 190 f., 197, 212, 215, 219, 221, 223, 228, 230, 238 f., 265, 298 Tatsache 23, 46, 60, 64, 73, 76, 79 – 88, 91, 97, 135 f., 140, 178, 181, 272, 281, 284 – 287, 293 – normative Tatsache 64 Teleologie/teleologisch 61, 106, 178, 180, 183, 207, 209, 225, 236, 247, 283, Theist/Theistisch/Theismus 7, 25, 105, 223, 225, 246, 256, 259 – 263, 267, 269 f., 273, 283, 287 Tod 17, 24, 29, 37, 53, 73, 95, 100, 112 f., 117, 120, 133, 137, 150, 156, 158, 191, 197, 247, 254, 256, 260 – 264, 289, 294, 296 – 298 Transzendenz/transzendent 5, 7 f., 32, 99, 141 f., 188, 236, 243, 260, 265 – 271, 273 – 281, 283 – 285, 287 – 289, 293, 295 Unbedingtheit 132 Ungerechtigkeit 97, 138, 219, 281 Universum 24, 111, 256 – 259, 269 – 271, 273, 282
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Begriffsregister
Utilitarismus/Utilitarist/utilitaristisch 32, 70, 121, 128 f., 142, 183 Vermögen/Fähigkeiten 16 f., 21, 51, 61 f., 66 – 69, 78, 81, 85, 95, 101 – 103, 116, 147, 158, 161, 166, 182, 185, 187 – 190, 193, 195, 197, 200 f., 209 f., 213, 215, 221, 235 f., 248 – 255, 278, 280, 283, 293, 298 Vernunft, praktische 184, 224, 226, 240, 252 f., 262 f. Vervollkommnung 6, 130 f., 146, 220 f., 228 Vollkommenheit 131, 134 f., 153 f., 253, 260 – 262, 293 f., 300 well-being s. Wohlergehen Weltbild 269 Wert – intrinsischer Wert 61, 114, 127, 129, 133 f., 137, 139, 141, 146, 157, 168 f., 214, 221, 237 – Wertpluralismus 23, 238 – Wertrealismus 19, 23 – 25, 60, 227 Wesen 28, 61, 63, 105, 109, 111, 128, 132, 134 – 136, 138 f., 143, 149 f., 178, 181,
195, 224 f., 236, 246 f., 266, 271, 275, 279, 282 f., 286, 294 – Wesen des Menschen s. Natur des Menschen Wille 14, 27, 140, 180 f., 186, 200, 208, 233, 273, 282, 291 Wirklichkeit 25, 91, 246, 252 f., 257, 266, 268 f., 271 – 276, 285 f. Wohlbefinden 40, 50, 53 – 57, 116 f., 122 f., 129, 226, 258 Wohlergehen 22, 37 f., 40, 42 – 45, 53, 55, 73, 75, 122, 143, 147, 149, 152 – 154, 158, 165, 170, 187, 224, 226, 237 – 239, 259, 284 Wunsch 4, 17, 19, 23, 39, 50, 52, 56, 61, 63, 105 f., 131, 134, 148, 166, 181, 200, 210, 212, 215, 219, 223, 225, 238, 279, 300 Würde 17, 22, 97, 114, 135, 139, 183, 195 f., 220, 230 – 232, 236, 239 Zweck 22, 25, 52, 63, 95 – 97, 99, 105, 117, 150, 179, 186, 198, 215, 222, 226, 236, 247, 259, 261 – Endzweck 96 – Zweckmäßigkeit/zweckmäßig 95 f., 99