Die Frage nach dem Sinn des Lebens: Das zwiegespaltene Verhältnis des modernen Denkens zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit 9783787333264, 9783787331901

Die Frage nach dem Sinn des Lebens zählt zu den sogenannten »großen Fragen« der Philosophie. Anders als etwa die Frage n

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German Pages 335 [336] Year 2018

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Die Frage nach dem Sinn des Lebens: Das zwiegespaltene Verhältnis des modernen Denkens zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit
 9783787333264, 9783787331901

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Die Frage nach dem Sinn des Lebens Das zwiegespaltene Verhältnis des modernen Denkens zu den ­ Sinnentwürfen der Vergangenheit Thomas Kriza

Meiner

Thomas Kriza

Die Frage nach dem Sinn des Lebens Das zwiegespaltene Verhältnis des modernen Denkens zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3190-1 ISBN eBook: 978-3-7873-3326-4

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

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Inhalt 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Die moderne Zwiegespaltenheit als philosophischer Schlüssel zur Sinnfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Die Frage nach dem Sinn des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.3 Das zwiegespaltene Verhältnis des modernen Denkens zu den vormodernen meta­phy­sischen Sinnentwürfen . . . . 22 2.  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen . . . . 35

2.1 Die sinnvolle Ordnung der Welt und der Stellenwert der W ­ ahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1.1 Die Einbettung des Menschen in einen sinnerfüllten Kosmos: Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1.2 Das existentiell bedeutsame Wesen des Seienden: Aristoteles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2 Die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit . 73 2.3 Das geistig übende Streben nach dem Höheren . . . . . . . . . . 88 2.3.1 Die Praxis des geistigen Übens: Marc Aurel. . . . . . . . . . . . 89 2.3.2 Moderne Bezugnahmen auf die Idee des geistigen Übens. 101 2.3.2.1 Der Antagonismus zur Welt und die Transformation der ­Existenz: Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.3.2.2 Wahrheit und Geistigkeit: Michel Foucault . . . . . . . . . . . 114 2.3.2.3 Das übende Streben nach dem Höheren: Peter Sloterdijk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.  Sinnvorstellungen in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

3.1 Die Ursprünge moderner Sinnvorstellungen und ihre heutige Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

3.1.1 Die Selbstbestimmtheit des Individuums im Denken der ­Renaissance: Pico della Mirandola . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.1.2 Die inhärente Konflikthaftigkeit moderner ­Sinnvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3.2 Das wissenschaftliche Denken und die Frage nach dem Sinn des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3.3 Der Bruch als paradoxe Kontinuität – Die destruktive Kraft von Wahrheit und Wahrhaftigkeit: Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3.4 Das moderne Ringen mit vormodernen Sinngehalten . . . . 213 3.4.1 Die Neuverortung des Höheren im Diesseits: Friedrich Nietzsche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.4.2 Die Metapher des Höheren unter den Bedingungen der ­Moderne: Gotthard Günther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3.4.3 Die Zurücknahme des Wahrheitsanspruches: Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.4.4 Die Wahl als Sinnfundament: Søren Kierkegaard. . . . . . . 233 3.4.5 Freie Sinnschöpfung in einer sinnfreien Welt: Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3.4.6 Einige Aspekte moderner Sinnvorstellungen: Freiheit, Lebenskomfort und Technik. . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3.4.7 Die Reflexion auf die Kontingenz der Fundamente: Kurt Hübner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.  Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

1. Einführung 1.1 Die moderne Zwiegespaltenheit als philosophischer Schlüssel zur Sinnfrage

Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist eine zentrale Frage der Philosophie, die auch für Menschen ohne ein ausgeprägtes philosophisches Interesse eine wichtige Bedeutung bekommen kann. Antworten auf diese Frage haben einen eigentümlichen Charakter, sie unterscheiden sich von Antworten auf andere Fragen. Heutiges Denken neigt eher dazu, die Frage nach dem Sinn des Lebens als eine Bemühung um ein Verständnis für die jeweils eigene, individuelle Existenz aufzufassen, anstatt sie als ein lösbares und zu lösendes Rätsel zu interpretieren. Das Verständnis für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens erstreckt sich auf die Grundlagen und die Ursprünge dieser Existenz, auf ihre Ziele und auf die Voraussetzungen ihres Gelingens. Nach heutiger Auffassung ist ein solches Verständnis von jedem einzelnen Menschen selbst zu erringen und nur in sehr engen Grenzen kommunizierbar und auf andere Menschen übertragbar. Wie Ludwig Wittgenstein an einer wirkungsreichen Stelle bemerkt hat, lässt eine echte Antwort auf die Sinnfrage die Frage eher verschwinden, als dass sich eine deutlich artikulierbare und pro­blemlos mitteilbare Antwort ergäbe, die kraft ihres Erkenntnisgehaltes das zugrundeliegende Pro­blem auflösen könnte.1 Muss man aufgrund der Schwierigkeit, über diese Frage mit klaren und eindeutig wahren Sätzen zu sprechen und sie durch wissenschaftliche Erkenntnisse zu beantworten, stattdessen darüber schweigen? Wittgenstein spielt sehr hintergründig mit der Möglichkeit, dass die Beschaffenheit unseres Denkens uns zu einem prinzipiellen Verzicht bei der Beantwortung dieser Frage nötigt.2 Ist dies tatsächlich notwendig oder existieren Möglichkeiten, um in einer angemessenen Weise denkend auf die Frage nach dem Sinn des Lebens Bezug zu nehmen? Welche Rolle spielen die Eigenheiten der condition moderne bei der Beantwortung der Sinnfrage?   |  9

Es scheint so zu sein, dass gegenwärtiges philosophisches Denken es in seinen Hauptströmungen prinzipiell erschwert, ein Verständnis für die Sinnhaftigkeit des Lebens zu gewinnen, das die Tiefe der menschlichen Existenz nicht verflacht und zugleich den Maßstäben des Denkens gerecht wird, die Menschen in anderen Bereichen an sich selbst anlegen. Das war nicht immer so: Das Denken der Gegenwart steht unter dem Einfluss einer reichen kulturellen Tradition, die es in weiten Teilen als eine zentrale philosophische Aufgabe betrachtete, die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz zu artikulieren. Hierzu gehörte das Bestreben, das menschliche Leben und die Welt, in der sich dieses Leben vollzieht, verstehend zu durchdringen. Zugleich gehörte dazu aber auch die Forderung, zu einer Unterscheidung zwischen dem guten und dem schlechten Leben zu gelangen. In den meisten Sinnentwürfen der Vergangenheit hing all das miteinander zusammen: Aus dem Verständnis für die Welt und für die Stellung des Menschen in der Welt entsprangen Vorstellungen darüber, wie das menschliche Leben in einer guten Weise zu führen sei. Hiervon wird heute in der Philosophie zumeist Abstand genommen. Ein Verständnis des guten Lebens wird in der Regel nicht mehr primär auf Grundlage von Vorstellungen über die Welt herausgebildet. Die Welt kann heute dem Menschen den Weg zum Glück nicht mehr aufzeigen. Deskriptive Vorstellungen von dem, was ist, haben sich von normativen Vorstellungen über das, was sein soll, in einer prinzipiellen Weise abgekoppelt.3 Damit zusammenhängend wird Wahrheit in erster Linie als eine wissenschaftliche Wahrheit verstanden, die in einer prinzipiellen Weise an den Lebenspro­blemen des Menschen vorbeigeht.4 Hierbei entsteht nicht einfach eine Parallelität; die Vorstellungen über die Welt lösen sich nicht einfach von den Vorstellungen über das gute Leben ab – sie treten vielmehr in ein Konfliktverhältnis zueinander: Aus dem Verständnis für die Zusammenhänge der Welt erwächst die Forderung, über die Glücksbedingungen des menschlichen Lebens nunmehr zu schweigen. Diese Untersuchung wird durch eine Gegenüberstellung von verschiedenen charakteristischen Herangehensweisen an die Frage nach dem Sinn des Lebens verdeutlichen, mit welchen Schwierigkeiten die Herausbildung eines philosophisch fundierten Verständnisses für existentielle Sinnhaftigkeit heute konfrontiert ist und 10  |  Einführung 

inwiefern Gegensätze und Widersprüche zu bestimmten historisch wirkungsmächtigen Positio­nen darauf Einfluss haben. Der umgreifende kosmische Sinnhorizont, mit dem Menschen über lange Jahrhunderte und über verschiedene Epochen hinweg ihren Lebenssinn artikuliert und mit einem Anspruch auf Wahrheit verbunden haben, vermag in der heutigen Zeit in vielerlei Hinsicht nicht mehr zu überzeugen. Statt den Sinn des Lebens aus den Zusammenhängen des Kosmos abzuleiten, geht man heute in der Regel davon aus, dass der Sinn des Lebens autonom vom Menschen selbst, unabhängig von der Beschaffenheit der Welt, gewonnen wird. Die moderne Vorstellung einer prinzipiellen Sinn­auto­no­mie ist der Gegenpol zur Idee einer kosmischen Ordnung als Orientierungspunkt für das gute Leben. Die traditionelle Vorstellung von einem kosmischen Sinnhorizont ist jedoch, offen oder verdeckt, auch heute noch wirksam. Die Sinnleere, die durch die Abkoppelung existentieller Sinnhaftigkeit von den Zusammenhängen der Welt entsteht, stellt nach wie vor eine unbewältigte Herausforderung dar. Das menschliche Bedürfnis nach einem angemessenen Verständnis für den Sinn mensch­ licher Existenz ist nicht verschwunden, und aus den Schwierigkeiten, dieses Bedürfnis zu stillen, erwachsen nicht unerhebliche philosophische Pro­bleme. Das Streben nach einem Verständnis für die Zusammenhänge der Welt und für die Grundlagen des menschlichen Lebens ist für den Menschen kennzeichnend und berührt die wichtigsten Bereiche menschlichen Existierens: Es geht hierbei auch um die Frage nach dem, was über das Gelingen oder Scheitern der Existenz entscheidet. Die Abtrennung dieser Frage vom Streben nach Erkenntnis bedeutet ein methodisches Absehen von entscheidenden Momenten der condition humaine. Warum dieser Ausschluss erforderlich wird und welche Pro­bleme damit einhergehen, zeigt diese Untersuchung durch eine Gegenüberstellung von modernen und vormodernen Vorstellungen. Zu den heutigen, spezifisch modernen Haltungen und Denkweisen gehören der Gedanke einer radikalen Freiheit und Sinn­ auto­no­mie des Individuums, die Herangehensweisen und Erkenntnisse der neuzeitlichen Wissenschaften, die moderne Sichtweise auf die Welt als Entfaltungsraum technischer Umgestaltung, der rückhaltlose Drang zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit auch angeDie moderne Zwiegespaltenheit  |  11

sichts existentiell unbequemer Einsichten, die Trennung zwischen deskriptiven und normativen Aussagen sowie die Fokussierung des Menschen auf die diesseitige, sinnlich gegebene Wirklichkeit. Methodisch werden diese Vorstellungen im Folgenden mit dem Sinnhorizont vormoderner meta­phy­sischer Sinnentwürfe kontrastiert – denn spezifisch modern ist auch eine gewisse existentielle Sinnleere, die zu einer Zurückwendung zu vergangenen Sinnhorizonten veranlasst, woraus eine tiefgreifende Zwiegespaltenheit hervorgeht. Unser Verhältnis zur kulturellen Überlieferung ist heute durch eine gebrochene Kontinuität bestimmt, und daraus entspringen die Schwierigkeiten im Umgang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Einerseits steht unser Streben nach einem Verständnis für die Sinnhaftigkeit des Lebens in einer direkten Kontinuität zum kosmischen Sinnhorizont des antiken Denkens. Andererseits liegt im wissenschaftlichen Absehen von der Sinnfrage ein Bruch mit dieser Traditionslinie, und dieser Bruch entspringt aus maßgebenden Positio­nen des spezifisch modernen Denkens. Ich werde die Frage nach dem Sinn des Lebens weder als eine objektiv beantwortbare noch als eine sich auf die Subjektivität des Individuums beschränkende Frage interpretieren, sondern mein Augenmerk auf die Zwiegespaltenheit im Umgang mit dieser Frage richten: Aus meiner Sicht gibt es heute nicht die eine angemessene philosophische Herangehensweise an die Sinnfrage, es existieren vielmehr disparate Anforderungen, die aus der gebrochenen Kontinuität zu den umgreifenden Sinnentwürfen der kulturellen Überlieferung hervorgehen und die zu den heutigen Schwierigkeiten mit der Sinnfrage führen. Meine Arbeit wird zeigen, warum ein Verständnis für die unauflösbare Gegensätzlichkeit der relevanten Einflussfaktoren bei der Artikulation existentieller Sinnhaftigkeit erhellender ist als die Ausarbeitung einer konkreten Antwort auf die Sinnfrage und die anschließende Diskussion ihrer Vor- und Nachteile. Mit dieser Herangehensweise setze ich mich vom weiten Feld der aktuellen Literatur zur Frage nach dem Sinn des Lebens ab. 5 Neuere philosophische Ansätze umfassen etwa sprachanalytische Untersuchungen, 6 psychologische Herangehensweisen,7 Herleitungen aus den Sozialstrukturen8 oder auch Anlehnungen an die Literatur.9 Es gibt hierbei auch Herangehensweisen, bei denen der Kon12  |  Einführung 

trast zwischen dem vormodernen und modernen Umgang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens eine wichtige Rolle spielt: Durch Beschreibungen von unterschiedlichen historischen Positio­nen können verschiedene Aspekte der Sinnfrage beleuchtet und vernünftige Wahlmöglichkeiten erörtert werden – mit dem Ergebnis durchaus nicht unorigineller Antworten auf die Sinnfrage aus heutiger Perspektive.10 Woran es aber mangelt, sind Ansätze, die unsere Schwierigkeiten im Umgang mit der Sinnfrage direkt als strukturelle Konsequenz aus der gebrochenen Kontinuität zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit interpretieren: Ansätze, bei denen die Zwiegespaltenheit der heutigen Situation im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht und in denen es darum geht, die gegensätzlichen Kräfte in ihrer Gegensätzlichkeit zu verstehen, ohne sie vorschnell zu einer unvollkommenen Lösung zusammenzuführen. Erst aus diesem Verzicht auf eine inhaltlich eindeutige, substantielle Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens kann eine Antwort auf die Sinnfrage hervorgehen, die die bestimmenden Haltungen des modernen Denkens konsequent ernst nimmt. Die Herausforderung besteht darin, den Zugang zur Frage nach dem Sinn des Lebens als eine unaufgelöste Gespanntheit zwischen den weiterhin präsenten Sinnentwürfen der Vergangenheit und modernen Gegenbewegungen zu verstehen. Thesen über die ungebrochene Präsenz und Wirksamkeit der tradierten Sinnentwürfe insbesondere mit religiöser Ausprägung sind in aktuellen Debatten omnipräsent.11 Ich werde in meiner Arbeit zeigen, auf welch brüchigem argumentativen Fundament derartige Thesen und Forderungen stehen, indem ich die sehr weitreichende Fremdheit von meta­phy­sischen Transzendenzbezügen in den Vordergrund rücken werde. Es werden hierbei auch Positio­nen diskutiert werden, die die Vernünftigkeit derartiger Sinnvorstellungen in einer philosophisch ergiebigen Weise verteidigen.12 Insbesondere durch modernes naturwissenschaftliches Denken wird der entscheidende Bruch mit den existentiellen Sinnentwürfen der Vergangenheit vollzogen. Obwohl gerade im radikalisierten Streben nach Wissen eine wichtige Kontinuität beispielsweise zum antiken Denken liegt, entsteht mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft eine neuartige Denkweise, eine auf andersartigen Die moderne Zwiegespaltenheit  |  13

Grundkategorien beruhende Ontologie,13 die sich grundlegend von den Fundamenten des antiken Denkens unterscheidet und in einer tiefgreifenden Weise die antiken existentiellen Sinnentwürfe unterminiert. In einer paradoxen Weise bildet das wissenschaftliche Denken heute eine Barriere zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit und veranlasst zugleich zur Beschäftigung mit diesen nunmehr fremd gewordenen geistigen Welten. Aber jeder moderne Rückbezug auf vergangene Sinnentwürfe bringt immer auch eine weitgehende Veränderung der neuinterpretierten Sinngehalte mit sich: Die Ontologie des wissenschaftlichen Denkens und die konstituierende Idee menschlicher Selbstbestimmung verändern die wiederkehrenden Sinngehalte der Vergangenheit, häufig auf eine sehr subtile Weise. Moderne Sinnvorstellungen beziehen, im Unterschied etwa zum kosmischen Sinnhorizont des antiken Denkens, ihre Gültigkeit nicht aus dem Wahrheitsgehalt, sondern aus dem Gewähltsein der Sinngehalte. Es findet eine entscheidende Verschiebung des Sinnfundamentes von der Wahrheit zur individuellen Wählbarkeit statt. Das Sinnfundament des modernen Denkens ist die freie Wahl: Vor dem Hintergrund einer sinnfreien, existentiell irrelevanten Welt, deren Zusammenhänge sich über das wissenschaftliche Denken erschließen, bildet sich die spezifisch moderne Vorstellung heraus, dass in einer sinnfreien Welt der Sinn des Lebens frei gewählt werden muss. Ich werde im Folgenden zeigen, warum mit dieser Auffassung prinzipielle Schwierigkeiten einhergehen und warum die Vorstellung, dass es im Menschen eine Sinnquelle jenseits seiner Bezüge auf eine sinnfreie Wirklichkeit geben könne, eine verzerrte Interpretation der menschlichen Existenz darstellt: Die Idee einer freien Sinnstiftung in einer sinnfreien Welt ist mit prinzipiellen Schwierigkeiten behaftet. Ähnlich pro­blematisch ist die Übertragung tradierter Sinngehalte auf das moderne Fundament der Wählbarkeit: Hierdurch werden die ursprünglich als Sinnwahrheiten konzipierten Vorstellungen so grundlegend verändert, dass damit eine starke Schmälerung ihrer Sinngebungskraft einhergeht. Durch einen Rückgang auf vergangene Sinnvorstellungen können die strukturellen Schwierigkeiten der Moderne im Umgang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens nicht aufgelöst werden. 14  |  Einführung 

Das Streben nach einem Verständnis für die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens gelangt im Denken der Moderne zu keiner philosophischen Klarheit. Der wissenschaftliche Zugang zur Welt konfrontiert den Menschen mit einer umfassenden existentiellen Irrelevanz, und mit einer modernen Sicht auf die Welt gehen nur sehr eingeschränkt neue und genuin moderne Sinnvorstellungen einher. Die Wiederbelebung der Sinngehalte der Vergangenheit stößt auf prinzipielle Schwierigkeiten, da die trennende historische Barriere nicht ohne weiteres zu überwinden ist: Sowohl die Transformation der vormodernen Sinngehalte in die moderne Ontologie als auch der Versuch ihrer Wiederbelebung auf der Grundlage der ursprünglichen Ontologie sind zum Scheitern verurteilt. So ist das moderne Denken, auch wenn es noch tief in seinen vormodernen Ursprüngen verhaftet ist, von diesen grundlegend abgeschnitten. * Die vorliegende Untersuchung besteht aus zwei Hauptteilen. Im ersten Teil werden einige zentrale Vorstellungen des antiken Denkens analysiert, die maßgebend und traditionsbildend für die trans­ zendenzbezogenen Sinnentwürfe der Vergangenheit gewesen sind. In jeweils eigenen Kapiteln werden drei grundlegende Sinnvorstellungen herausgearbeitet: Zum einen wird in den einflussreichsten Strömungen des antiken Denkens der Mensch als Teil eines sinnvoll geordneten Kosmos betrachtet, der die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens als eine erkennbare Wahrheit vorzeichnet. Zum anderen und damit direkt zusammenhängend wird die Sinnhaftigkeit der Existenz im antiken Denken häufig durch die Bezugnahme auf eine höherwertige und direkt existentiell relevante, transzendente Wirklichkeit artikuliert. Und schließlich besitzt die Wahrheit im antiken Denken eine unmittelbare lebenspraktische Relevanz, insofern sie geistige Übungen in Gang setzen soll, um das mensch­ liche Leben durch eine Ausrichtung an etwas Höherem grundlegend zu transformieren. Der zweite Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit modernen Sinnentwürfen. Von Anfang an stellt sich dabei die Frage nach ihrem Verhältnis zu den Sinnvorstellungen früherer Epochen. Es wird gezeigt, wie eng die zentrale moderne Vorstellung einer radikalisierten menschlichen Selbstbestimmtheit in den Anfängen des Die moderne Zwiegespaltenheit  |  15

neuzeitlichen Denkens mit dem kosmischen Sinnhorizont früherer Sinnentwürfe verbunden war und inwiefern Pro­bleme der heutigen Philosophie hinsichtlich der Frage des Lebenssinns bereits in den Ursprüngen des neuzeitlichen Denkens angelegt waren. Die neuzeitliche Wissenschaft ist die bestimmende Denkweise, die in der Moderne die Wahrheit über die Zusammenhänge der Welt artikuliert – ihre prinzipielle existentielle Irrelevanz bildet das Zen­ trum aller heutigen Pro­bleme mit der Sinnfrage. Wissenschaftliches Denken bricht mit den überlieferten Sinnvorstellungen, paradoxer­weise geht dieser Bruch selbst aber aus einer Kontinuität zu eben diesen Sinnvorstellungen hervor. In der Moderne wird auf verschiedene Weise auf diesen unvollständigen Bruch reagiert, wovon die folgende Arbeit handelt: Eine Reaktionsmöglichkeit liegt in dem Versuch, selektiv zumindest die attraktivsten Sinngehalte mit Transzendenzbezug – in erster Linie das übende Streben nach dem Höheren – in der diesseitigen, sinnlich gegebenen Wirklichkeit neu zu verorten und so mit dem wissenschaftlichen Denken in Einklang zu bringen. Eine andere Möglichkeit ist das Bestreben, an den tradierten Sinnvorstellungen durch eine Zurücknahme ihres Wahrheitsgehaltes festhalten zu wollen. Wichtig ist der Versuch, die Sinngehalte der Vergangenheit auf der Grundlage individueller Wählbarkeit neu zu interpretieren. Aber auch das prinzipielle Verwerfen aller transzendenzbezogenen Sinnentwürfe mit der Annahme, dass der Mensch in einem sinnfreien Universum den Lebenssinn frei aus sich selbst heraus schöpfen könnte, ist eine naheliegende Möglichkeit modernen Denkens. Den Abschluss meiner Überlegungen bildet eine radikale Hinterfragung der modernen Denkfundamente: Kann durch die Infragestellung der kontingenten Grundlagen der wissenschaftlichen Weltsicht die Ontologie des kosmischen Sinnhorizontes wiederbelebt werden? Bei der Auswahl der Autoren spielen verschiedene Kriterien eine Rolle. Für den ersten Teil stellte sich die Frage, durch welche Denker der kosmische Sinnhorizont der philosophischen und religiösen Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug maßgeblich und traditionsbildend artikuliert wird. Philosophen wie Platon und Aristoteles spielen eine zentrale Rolle, aber auch ein Denker wie Marc Aurel, weil bei ihm ein zentraler Aspekt des antiken Denkens mit großer 16  |  Einführung 

Wirkungsmacht mit einer besonderen Deutlichkeit zum Vorschein kommt. Moderne Interpreten der Antike wie Wolfgang Picht können helfen, die antiken Autoren so zu lesen, dass ihre Relevanz für die Fragestellung dieser Untersuchung deutlich sichtbar wird. Auch bei der Auswahl der neuzeitlichen Autoren spielt ihre Bedeutsamkeit für die Geistesgeschichte eine Rolle, aber noch wichtiger ist ihre Fähigkeit, paradigmatische Positio­nen in einer originellen und klaren Weise artikulieren zu können: Durch Philosophen wie Pico della Mirandola, Søren Kierkegaard oder Friedrich Nietzsche werden zentrale Positio­nen des neuzeitlichen und modernen Denkens so zum Ausdruck gebracht, dass sie sich pro­blemlos als Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem Sinn des Lebens interpretieren lassen. Nietzsche spielt eine hervorgehobene Rolle, weil bei ihm die Zerrissenheit des modernen Denkens im Verhältnis zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit in einer besonders fruchtbaren Weise reflektiert wird. Relevant sind aber auch bekannte oder weniger bekannte zeitgenössische Autoren wie Bernulf Kanitscheider, Peter Sloterdijk oder Kurt Hübner, weil bei ihnen wichtige einzelne Aspekte der Sinnfrage mit einer besonderen Deutlichkeit, Originalität oder Prägnanz zum Ausdruck kommen.

1.2  Die Frage nach dem Sinn des Lebens

Was ist unter dem »Lebenssinn« zu verstehen? Als Begriff ist der Ausdruck »Sinn des Lebens« relativ neu: Frühe explizite Verwendungen finden sich bei Wilhelm Dilthey und Friedrich Nietzsche, sinngemäß sehr ähnliche Ausdrücke seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Aber der moderne Begriff verweist auf Fragen, die sich auch schon in der Antike gestellt haben: auf Fragen nach dem Warum und Wozu des menschlichen Existierens.13 a In der mensch­ lichen Existenz ist die Möglichkeit angelegt, nach dem Sinn dieser Existenz zu fragen. Der Mensch kann sich die Frage nach dem Ziel, Zweck oder Wert der einzelnen Lebensmomente und der Existenz im Ganzen in Grundsatzfragen wie »Wozu lebe ich? Wozu begehre ich? Wozu handele ich?« stellen.14 Antworten auf diese Fragen bestimmen das Denken, Handeln und Streben des Menschen, und auch wenn er die Sinnfrage nicht explizit aufgeworfen hat, beantDie Frage nach dem Sinn des Lebens  |  17

wortet er sie performativ durch den Vollzug seines Lebens. Woraus ergeben sich derartige Fragen? Das Leben des Menschen verläuft nicht in von sich selbst ergebenden, festgelegten Bahnen; der Mensch muss sich um sein Leben kümmern, weil sein Leben gelingen oder scheitern kann. Das menschliche Leben vollzieht sich nicht als ein Automatismus: Der Mensch muss etwas aus seinem Leben machen, er muss sein Leben führen und sich darum bemühen, dass sich sein Leben zu einem guten Leben entwickelt. Der Mensch strebt danach, dass sein Leben gelingt, und fortlaufend ist er dabei vom Scheitern bedroht. Ob ein Leben gelingt oder scheitert, hängt von ganz unterschiedlichen Umständen ab – Armut, Krankheit oder Krieg, aber auch ein falscher Freundeskreis, eine kaputte Familie oder eine unglückliche Berufswahl können die Wurzel eines missglückten Lebens bilden. Der Mensch spielt dabei nicht die Rolle eines passiven Zuschauers, der einem vorprogrammierten Ablauf beiwohnt: Der Mensch kann auf den Verlauf seines Lebens aktiv Einfluss nehmen. Durch Entscheidungen kann er sein Leben in verschiedene Richtungen lenken und so mit einem eigenen Beitrag auf das Gelingen seiner Existenz hinwirken. Auch wenn sich die äußeren Einflüsse in vielen Fällen seiner Verfügbarkeit entziehen, ist es dennoch so, dass sich der Mensch stets in irgendeiner Weise zu seinem Leben verhalten kann: Zum menschlichen Leben gehört wesenhaft die Bezugnahme auf dieses Leben. Der Mensch kann denkend oder handelnd auf sich selbst und auf die einzelnen Facetten seiner Existenz Bezug nehmen, er kann die mannigfaltigen Momente seiner selbst und der Welt, in der er lebt, betrachten, bewerten und in Grenzen auch beeinflussen. Durch die Weise seiner Bezugnahme auf sein Leben nimmt der Mensch Einfluss auf das Gelingen oder Scheitern seiner Existenz. Damit der Mensch auf sein Leben Bezug nehmen kann, muss er für seine Existenz ein Verständnis entwickeln, und sei es auch nur auf der Ebene von Stimmungen. Der Mensch muss ein Verständnis herausbilden für seine Wünsche und Bedürfnisse, für seine Ziele und Fähigkeiten, für seine Präferenzen, Ängste und Abneigungen. Bei all dem ist er auf seine Welt bezogen, denn sein Leben vollzieht sich in der Welt, und alle seine Wünsche, Bedürfnisse, Ziele, Fähigkeiten, Präferenzen, Ängste und Abneigungen beziehen sich 18  |  Einführung 

in irgendeiner Weise auf die Welt. Ein Verständnis für das eigene Leben erfordert daher wesenhaft auch ein Verständnis für die Zusammenhänge der Welt. Erst durch ein angemessenes Verstehen der Welt können die Möglichkeiten und Grenzen des Lebens in der Welt erfasst werden. Erst auf dieser Grundlage kann der Mensch eine Unterscheidung zwischen dem guten und dem schlechten Leben herausbilden: Indem er die entscheidenden Aspekte seiner Person und seiner Welt denkend durchdringt, kann der Mensch vor dem Hintergrund dieses Verständnisses sein Leben aktiv zu einem Zustand des Gelingens hinlenken. Ob der Einzelne ein in weiten Teilen eigenständiges Verständnis vom Leben entwickelt oder die Vorstellungen seiner Mitmenschen übernimmt, ändert zunächst nichts an der Tatsache, dass der Mensch sein Leben wesenhaft im Lichte eines Verständnisses vollzieht. Wichtig an dieser Stelle ist eine klare Unterscheidung zwischen dem guten Leben und dem Sinn des Lebens. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, wie die Vorstellungen des Menschen über das gute Leben mit seinen Vorstellungen über die Welt zusammenhängen. Zum menschlichen Leben gehört wie erwähnt die Herausbildung von Vorstellungen über das gute und über das schlechte Leben. Mit diesen Vorstellungen steht der Mensch in einer bestimmten Beziehung zu seiner Welt. Die Vorstellungen des Menschen über die Welt können direkt mit seinen Vorstellungen über das gute Leben zusammenhängen: Nicht alle Aspekte der Welt sind unmittelbar existentiell relevant, aber einige schon. Daher kann nach dem beiderseitigen Verhältnis gefragt werden: Besteht zwischen den Vorstellungen über die Welt und den Vorstellungen über das gute Leben ein Zusammenhang oder nicht? Und wenn einer besteht: Ist dieser Zusammenhang ein harmonischer oder ein widersprüch­ licher und pro­blematischer? Passen die Vorstellungen des Menschen über das gute Leben zu seinen Vorstellungen über die Welt? Aus diesen Fragen kann eine Unterscheidung zwischen dem guten und dem sinnvollen Leben entspringen: Beim guten Leben geht es um die Art und Weise der Lebensführung in der Welt, beim sinnvollen Leben geht es um den Zusammenhang des guten Lebens mit der Welt. Bei einem sinnvollen Leben stehen die Vorstellungen des Menschen über das gute Leben in einem harmonischen Zusammenhang zu seinen Vorstellungen über die Welt – bei einem Die Frage nach dem Sinn des Lebens  |  19

sinnlosen Leben sind sie voneinander abgetrennt oder stehen gar in einem widersprüchlichen oder unvereinbaren Verhältnis zueinander. Ein gutes Leben ist aus der Sicht des Menschen dann sinnvoll, wenn es einen stimmigen Ort im Zusammenhang der Welt einnimmt. Daher muss ein gutes Leben nicht unbedingt auch ein sinnvolles Leben sein. Ein Mensch kann sein Leben als ein im Prinzip gutes, aber dennoch sinnloses Leben empfinden: Beispielsweise kann ein Mensch Glück und Freude durch eine liebevolle Familie, durch soziale Anerkennung oder beruflichen Erfolg erfahren, aber dennoch unter der Sinnlosigkeit seines Lebens leiden, wenn er es unter dem Blickwinkel eines grenzenlosen Universums betrachtet, aus dem alle Anstrengungen und Errungenschaften seines Lebens sowieso keine Bedeutung besitzen.15 Der Mensch kann sich denkend von seinem unmittelbaren Lebensvollzug distanzieren und sein Leben aus einer übergreifenden Perspektive, die durch seine Vorstellungen über die Welt aufgespannt wird, reflektieren. Hierbei kann es vorkommen, dass ihm sein Leben, das er im Lebensvollzug als bedeutsam und erfüllend wahrnimmt, auf einmal klein und bedeutungslos vorkommt: Denn was ist schon das kleine menschliche Glück, wenn man es zur Grenzenlosigkeit des Universums in eine Beziehung stellt? Derartige Diskrepanzen können insbesondere dann entstehen, wenn zentrale Momente der Vorstellungen über die Welt den Vorstellungen über das gute Leben in dieser Welt zuwiderlaufen. Thomas Nagel formuliert anhand einer solchen Diskrepanz das spezifisch philosophische Pro­blem der Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens: Aus der Außenbetrachtung des Menschen heute ist seine kosmische Bedeutungslosigkeit unübersehbar. Aus der existentiellen Innensicht kann das jeweilige menschliche Leben jedoch nicht ohne Selbstachtung und damit ohne ein Bewusstsein für seine unhintergehbare Wichtigkeit geführt werden. Beide Per­spek­ti­ven sind aber miteinander unvereinbar, zwischen der Außen- und der Innenperspektive besteht eine unauflösbare Kluft, aus der nach Nagel die Frage nach dem Sinn des Lebens als ein prinzipielles philosophisches Pro­blem jenseits lebensinterner Schwierigkeiten erwächst: In seeing ourselves from outside we find it difficult to take our lives seriously. This loss of conviction, and the attempt to regain it, is the pro­ 20  |  Einführung 

blem of the meaning of life. […] Serious pro­blems about the meaning of a life can arise entirely within it, and these should be distinguished from the completely general philosophical pro­blem of the meaning of life, which arises from the threat of objective detachment. A life may be absurd, and felt to be absurd, because it is permeated by trivia or dominated by a neurotic obsession or by the constant need to react to external threats, pressures, or controls. […] But all these forms of meaninglessness are compatible with the possibility of meaning, had things gone differently. The philosophical pro­blem is not the same, for it threatens human life even at its subjective best with objective meaninglessness, and with absurdity if it cannot stop taking itself seriously.16

In Nagels Sichtweise stellt sich die philosophische Sinnfrage jenseits der eigentlichen Lebensfragen. Dass die Sinnfrage und die Lebensfragen wirklich voneinander unabhängig sind, kann jedoch bezweifelt werden: Die Sinnfrage, verstanden als Frage nach dem Verhältnis zwischen den Vorstellungen über das gute Leben und den Vorstellungen über die Welt, ist eine Frage, die sich aus der Konstellation des menschlichen Lebens in der Welt ergibt. Selbstverständlich kann der Mensch von dieser Frage absehen oder diese Frage auch gezielt aus seinem Leben ausblenden, es wäre aber falsch zu sagen, dass die Sinnfrage eine fachspezifische Frage für Philosophen darstellt – die Sinnfrage erwächst aus der Struktur menschlichen Lebens in der Welt. Dies berücksichtigend weisen die Gedanken Nagels auf einen wichtigen Umstand hin: Je nachdem, aus welcher Perspektive der Mensch sein Leben reflektiert, kann ihm dieses Leben als etwas Sinnvolles oder als etwas Sinn­loses erscheinen. Präziser kann das Phänomen wie folgt beschrieben werden: Der Mensch kann sein Leben als gut oder schlecht erfahren. In diesem Zusammenhang kann er aus der übergreifendsten Perspektive, die ihm sein Wissen über die Welt zur Verfügung stellt, seine Stellung in der Welt reflektieren und auf dieser Grundlage sein Leben bewerten und hinterfragen. Das kann jedoch dazu führen, dass die umfassendste Perspektive, die der Mensch auf der Grundlage seines Wissens über die Welt einnehmen kann, seine Vorstellungen über das gute Leben unterminiert (diese Perspektive bieten insbesondere die modernen Naturwissenschaften, s. o.). Stimmen die Vorstellungen, die ein Mensch über das gute Leben hat, mit seinen Vorstellungen über die Welt zusammen, so erfährt Die Frage nach dem Sinn des Lebens  |  21

er sein Leben als etwas Sinnvolles – grobe Widersprüche oder Unvereinbarkeiten hingegen bewirken ein Gefühl der Sinnlosigkeit. Der Mensch versucht, über Sinnvorstellungen die Sinnhaftigkeit seines Lebens zu artikulieren: Durch Sinnvorstellungen bringt der Mensch zum Ausdruck, in welcher Weise seine Vorstellungen des guten Lebens in der Welt verortet sind. Die Sinnvorstellungen des Menschen können einen tendenziell eher harmonischen oder einen eher widersprüchlichen Charakter aufweisen. Ziel dieser Untersuchung ist es, die weitreichende Widersprüchlichkeit von heutigen Sinnvorstellungen herauszuarbeiten.

1.3 Das zwiegespaltene Verhältnis des modernen Denkens zu den vormodernen meta­phy­sischen Sinnentwürfen

Ein Verständnis für die Zwiegespaltenheit moderner Positionierungen in der Sinnfrage erfordert eine hinreichend klare Abgrenzung zwischen einer bestimmten Traditionslinie und dem, was nicht mehr zu ihr gehört und über sie hinausweist. In der Antike entspringt eine Traditionslinie des Denkens, die existentielle Sinnhaftigkeit über einen Transzendenzbezug artikuliert: Das menschliche Leben wird in einen übergreifenden kosmischen Sinnhorizont eingebettet, der die unbeständige und leidbehaftete, sinnlich gegebene Welt auf eine höherwertigere Wirklichkeit hin transzendiert. Zu dieser Traditionslinie gehören weite Teile der antiken meta­phy­ sischen Philosophie und der christlichen Religiosität. Heute stehen dieser Überlieferung starke Gegenkräfte entgegen. Hierzu gehören die radikalisierte Idee individueller Selbstbestimmung und die Denkweise der neuzeitlichen Wissenschaft, die in vielfältiger Weise das heutige Denken und damit auch die heutigen Vorstellungen über den Sinn des Lebens bestimmt. Das Verhältnis zwischen diesen beiden einander entgegengesetzten Seiten muss im Folgenden genauer bestimmt werden. Hierbei sind die gegenwärtigen Wirkungen der antiken Sinnentwürfe keineswegs klar von den modernen Gegenbewegungen trennbar. Weil in der heutigen Situation das überlieferte Alte und das moderne Neue eng miteinander verbunden zugleich präsent sind, ist sowohl eine inhaltliche als auch eine zeitliche Abgrenzung beider mit Schwierigkeiten behaftet: Die 22  |  Einführung 

Sinngehalte der umgreifenden, aus der Antike überlieferten Sinnentwürfe sind bis in die heutige Zeit hinein wirksam, aber auch die Absetzbewegungen von dieser Traditionslinie entfalten sich ihrerseits bereits seit Jahrhunderten und bilden dabei eigene Überlieferungen. Für ein angemessenes Verständnis ist die trennende Gegenüberstellung der tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe und der spezifisch modernen Herangehensweisen an die Sinnfrage von entscheidender Bedeutung: Erst wenn die entscheidenden Unterschiede zwischen beidem klar herausgearbeitet sind, können die Ursachen der Konflikte zwischen ihnen verstanden werden, und erst dann wird auch klar, warum selbst im modernen Denken noch starke Motive vorhanden sein können, um an den Sinngehalten festzuhalten, die auf die großen transzendenzorientierten Sinnentwürfe der Antike zurückgehen. Durch die Gegenüberstellung wird zugleich auch deutlicher werden, was überhaupt unter der philosophischen Frage nach dem Sinn des Lebens zu verstehen ist. An dieser Stelle ist jedoch eine kurze Reflexion über die Reichweite dieser Untersuchung vonnöten. Dieses Buch bewegt sich vollständig innerhalb des Denkens der westlichen Kultur: Untersucht wird der Einfluss der abendländischen Überlieferung auf das heutige Denken und die Kluft, die die heutige westliche Kultur von der eigenen philosophischen und religiösen Tradition trennt. Es wird nicht der Anspruch erhoben, Phänomene außerhalb dieser Traditionslinie erklären zu wollen, auch wenn beispielsweise einem Menschen aus einem arabischen Land nicht alle hier aufgeworfenen Fragestellungen vollständig fremd vorkommen dürften. Der Kampf zwischen der kulturellen Überlieferung des Westens und den modernen Gegenkräften wird vermutlich in nichtwestlichen Teilen der Welt in einer ähnlichen Weise gekämpft werden. Die Berücksichtigung der Frage der Übertragbarkeit auf nichtwestliche Kulturen würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zugleich wird hier darauf verzichtet, eingehend zu untersuchen, ob die Aussagen über das Leben des Menschen, die in dieser Arbeit eine Rolle spielen, allgemeingültig oder historisch kontingent sind. Dass viele Aussagen über das Leben des Menschen historisch kontingent sind, ist leicht zu zeigen und stellt kein besonderes Pro­blem dar. Anders liegt der Fall jedoch bei der Frage, ob es sich bei einer scheinbar unbezweifelbaren Aussage über die menschliche ExisDas zwiegespaltene Verhältnis  |  23

tenz17 um eine allgemeingültige Aussage handelt. Derartige Fragen können, selbst nach ausführlichem Reflektieren, nur schwer beantwortet werden: Die Pro­blematik liegt darin, dass der Fragende selbst immer einen Standpunkt einnimmt, der durch die Denkweisen seiner Zeit beeinflusst ist, und nicht alle Facetten dieses Standpunktes liegen bewusst vor Augen. Bei evident erscheinenden Aussagen über die menschliche Existenz kann nie mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Allgemeingültigkeit einer Positionierung nicht doch eine nur scheinbare ist, bei der die entscheidenden historischen Kontingenzen unbeachtet bleiben. Ob eine philosophische Beschreibung der menschlichen Situation eine objektive oder nur eine historisch relative Gültigkeit hat, ist jedoch in dieser Pauschalität für diese Untersuchung gar nicht relevant, da eine Antwort auf diese Frage nichts am Verlauf der Untersuchung ändern würde. Folgende Fragen stehen im Fokus dieses Buches: Welche Reichweite hat eine Fragestellung innerhalb der Traditionslinie der westlichen Zivilisation, die von der Antike über das Mittelalter bis in die heutige Zeit reicht? Beschränkt sich eine Interpretation der menschlichen Situation auf die Weltsicht der antiken Sinnentwürfe oder auf die spezifisch moderne Weltsicht – oder umschließt sie beides und stellt in diesem Sinne eine umgreifende, wenngleich innerhalb der Traditionslinie des Westens verbleibende Beschreibung dar? Mit einer übergreifenden Beschreibung, die sowohl die überlieferten meta­phy­sischen Sinnvorstellungen als auch spezifisch moderne Sichtweisen umschließt, kann die Brücke zu einer Tradition geschlagen werden, die in der heutigen Situation fremd geworden ist. Mit einer Beschreibung, die sich auf eine der beiden gegensätzlichen Pole beschränkt und die jeweils entgegengesetzte Seite nicht umfasst, kann der grundlegende Unterschied zwischen den Per­spek­ti­ven antiker Sinnentwürfe und spezifisch moderner Positionierungen hervorgehoben werden. Umgreifende Beschreibungen ermöglichen ein Verständnis für die Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten zwischen der kulturellen Überlieferung und der Moderne, partikulare Beschreibungen hingegen rücken die Unterschiede und Brüche in den Vordergrund. Für ein angemessenes Verständnis der heutigen Situation ist beides vonnöten: sowohl eine philosophische Beschreibung der menschlichen Situation, 24  |  Einführung 

die antike Sinnentwürfe und deren Fortwirkung mit modernen Sichtweisen verschmilzt, als auch eine Beschreibung, die die Unterschiede zwischen beiden klar auf den Begriff bringt. Für beides werde ich in meiner Untersuchung Beispiele vorstellen. In welchem Sinne kann man im Zusammenhang der Frage nach dem Sinn des Lebens von einer philosophischen und religiösen »Tradition« sprechen? Im antiken philosophischen und religiösen Denken artikulierte sich die Idee eines kosmischen Sinnhorizontes, die über verschiedene kulturelle Strömungen weitergegeben bis heute eine starke Wirkung entfaltet: Es geht um die Vorstellung, dass der Mensch in eine existentiell sinntragende Wirklichkeit eingebettet ist, die hinter dem unbeständigen Schein der sinnlich gegebenen Wirklichkeit erkennbar ist und die dem Menschen den Weg zum guten Leben vorzeichnet. Im Laufe der Kulturgeschichte tauchte diese Idee immer wieder in unterschiedlichen Ausprägungen auf. Wurde sie noch in der Antike von der überwiegenden Mehrheit der Denker geteilt, so sind derartige Vorstellungen in der heutigen Zeit viel umstrittener, sie werden in einer offen formulierten, reinen Form von den meisten nichtreligiösen Philosophen und Wissenschaftlern abgelehnt. Die Idee einer höherwertigen Sphäre, die dem Menschen den Weg zu einer gelingenden Existenz aufzeigen könnte, ist den bestimmenden Strömungen des heutigen Denkens sehr fremd geworden. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Weltsicht fällt es schwer, sich in die Vorstellungswelt eines existentiell bedeutsamen Kosmos hineinzudenken. Dennoch sind solche Vorstellungen heute keineswegs verschwun­ den – in vielfältigen, häufig sehr subtilen und manchmal unbemerkten Ausprägungen sind sie selbst im modernen Denken noch am Wirken. Die oft unterschwellige, manchmal auch offene, aber stets nur schwer fassbare Wirksamkeit von sehr alten Sinnvorstellungen kann man mit einigem Recht als das Wirken einer »Tradition« bezeichnen: Aus dem Bedürfnis, die Sinnhaftigkeit der Existenz in Worte zu fassen, entspringt ein »Übergeben, Weiterleiten, Übertragen« von zentralen Vorstellungen, ein Weiterwirken von sinngebenden Ideen über die Zeit hinweg, das eine »Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufrechterhält«.18 Man kann von einer zwar fremd gewordenen, aber weiterhin wirksamen und durchaus faszinierenden Traditionslinie von bestimmten Vorstellungen Das zwiegespaltene Verhältnis  |  25

sprechen, die über die Zeit ihre Gestalt wandeln, aber nicht verschwinden. Im Begriff »Tradition« kommt insbesondere auch die Fremdheit dieser Vorstellungen zum Ausdruck: In die großen meta­ phy­sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit kann sich das Denken aus spezifisch modernen Per­spek­ti­ven heraus nur schwer hineinversetzen. Die Sinnvorstellungen der philosophischen und reli­giö­ sen Tradition erschließen sich heute nur unter Schwierigkeiten. Das Verständnis muss nicht nur durch aufwendige Interpretatio­ nen erschlossen werden, häufig bleiben die Sinngehalte aufgrund der Unterschiedlichkeit der Denkweisen weitgehend versperrt. Das moderne Unverständnis für die Sinngehalte der Vergangenheit kann hierbei mit einer Ablehnung der Sinngehalte einhergehen, nicht selten üben die fremd gewordenen Sinnentwürfe trotz des getrübten Verständnisses eine beharrliche Attraktivität aus, die dazu führt, dass sie nicht einfach verschwinden, sondern weiterhin präsent bleiben. Die Attraktivität entspringt aus zentralen Charakteristika des modernen Denkens: Insbesondere durch die wissenschaftliche Weltsicht wird existentielle Sinnhaftigkeit aus den Zusammenhängen der Welt eliminiert und in die individuelle Subjektivität des Menschen verlagert. Eine Haltung der Wissenschaft­ lichkeit, mindestens in Form einer generellen Offenheit für die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft, bildet verbunden mit der Idee individueller Selbstbestimmung den unbestrittenen Hintergrund der meisten heutigen philosophischen Positionierungen zu der Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Haltung der Modernität äußert sich heute nicht zuletzt durch Bekenntnisse zu pluralistischen und individualistischen Lebensweisen, die sich nicht mehr über die Heilswahrheiten der Vergangenheit, sondern gerade durch eine Abkehr von eben diesen konstituieren.19 Die wissenschaftliche Weltsicht und die Idee des selbstbestimmten Individuums sind Fundamente des modernen Denkens, die häufig als unhinterfragte und nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeiten erscheinen. Es sind vertraute Positio­nen, die das prägende Selbstverständnis einer überwiegenden Mehrheit von Menschen maßgeblich zum Ausdruck bringen. In diesen Positio­nen liegt zugleich eine Abkehr von vergangenen Denkweisen. Die Sinngehalte der Vergangenheit erscheinen heute keineswegs als vertraute Selbstverständlichkeiten. Der meta­phy­ 26  |  Einführung 

sische Charakter und der Transzendenzbezug der antiken Sinnentwürfe ist dem modernen Denken sehr fremd geworden, und das gleiche gilt für den Wahrheitsanspruch der Aussagen über das gute Leben. Es sind gerade diese Unterschiede, die die Fremdheit der vormodernen Sinnentwürfe ausmachen, und gerade in diesen Momenten liegt auch deren mögliche Anziehungskraft. Die Attraktivität überlieferter Sinnvorstellungen entspringt aus ihrer Andersartigkeit gegenüber dem modernen Denken: Weil vor dem Hintergrund der modernen wissenschaftlichen Weltsicht die Artikulation von existentieller Sinnhaftigkeit in einer prinzipiellen Weise erschwert wird und weil die moderne Idee menschlicher Sinn­auto­no­mie die Verankerung der Sinnvorstellungen in den Zusammenhängen der Welt behindert, stellt sich heute die Frage, was die Sinnentwürfe der Vergangenheit zu einer heutigen Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens beitragen können. Das berechtigte philosophische Interesse an den fremd gewordenen tradierten Sinnentwürfen kontrastiert mit den entgegengerichteten Grundpositionierungen des modernen Denkens, die einen vertrauten, häufig sogar selbstverständlichen Charakter besitzen. Der Gegensatz zwischen Fremdheit und Vertrautheit bildet eine wichtige Trennlinie zwischen den weiterhin wirkungsmächtigen tradierten Sinngehalten und den modernen Gegenkräften, die in einer paradoxen Weise gerade die Hinwendung zu scheinbar überwundenen Sichtweisen befeuern. Die Herausarbeitung dieser Zwiegespaltenheit gehört zur Kernaufgabe dieser Untersuchung. Zwischen der modernen wissenschaftlichen Weltsicht sowie deren philosophischen Konsequenzen auf der einen Seite und den überlieferten Sinngehalten der philosophischen und religiösen Tradition auf der anderen Seite öffnet sich eine tiefe Kluft. Die Pro­­blematik kann an dieser Stelle mit Hilfe eines vorgreifenden Beispiels umrissen werden: Das Christentum gehört zu den bedeutendsten Einflüssen unserer kulturellen Tradition. In der christlichen Religiosität artikuliert sich ein umfassender Sinnentwurf, ein umgreifender Entwurf des guten und sinnerfüllten Lebens. Im Ursprung war das Christentum einer der großen antiken Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug, und aus dem antiken Denken heraus überlieferten sich dessen Sinngehalte über das Mittelalter und die frühe Neuzeit bis in die heutige Zeit hinein. Im Kern als Das zwiegespaltene Verhältnis  |  27

eine umfassende Weltdeutung mit Wahrheitsanspruch konzipiert, kann das christ­liche Denken seinen ursprünglichen Anspruch im Umfeld der Moderne nicht mehr aufrechterhalten, auch wenn es seine Relevanz keineswegs verloren hat. Heutiges Denken kann die tradierten christlichen Sinngehalte nicht auf die Weise aneignen und weitergeben, wie es beispielsweise für den mittelalterlichen Menschen noch selbstverständlich war. Wie lässt sich die heutige Lebenssitua­tion reflektiert in eine Beziehung zur christlichen Überlieferung setzen? Hier sind ganz unterschiedliche Standpunkte möglich – die Bandbreite der Möglichkeiten veranschaulichen im Folgenden zwei entgegengesetzte, sehr extreme, aber dennoch charakteristische Standpunkte, in denen zeitgenössische Bezugnahmen auf die christliche Überlieferung zum Ausdruck kommen und die zugleich Sichtweisen auf die heutige Lebenswirklichkeit widerspiegeln. Die vollständige Befürwortung der christ­ lichen Tradition bildet die eine Position, Joseph Ratzinger vollzieht sie in einer philosophisch aufschlussreichen Weise wie folgt: Wir hatten vorhin gesehen, daß in der Konzeption der frühen Christenheit die Begriffe von Natur, Mensch, Gott, Ethos und Religion unlösbar ineinander verknotet waren […]. Die Orientierung der Religion an einer vernünftigen Sicht der Wirklichkeit überhaupt, das Ethos als Teil dieser Vision und seine konkrete Anwendung unter dem Primat der Liebe verbanden sich miteinander. […] Der kosmische Aspekt der Religion, die den Schöpfer in der Macht des Seins verehrt, und ihr existentieller Aspekt, die Erlösungsfrage, traten ineinander und wurden ein einziges. Tatsächlich muß jede Erklärung des Wirklichen ungenügend bleiben, die nicht auch ein Ethos sinnvoll und einsichtig begründen kann. […] Der Versuch, in dieser Krise der Menschheit dem Begriff des Christentums als religio vera wieder einen einsichtigen Sinn zu geben, […] wird […] darin bestehen müssen, daß Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen zusammenfallen […].20

Die Gegenposition dazu bildet die reflektierte programmatische Ablehnung des christlichen Denkens, wie sie etwa Bernulf Kanitscheider formuliert: So gibt es wohl viele Richtungen, aber keine Ziele in der Natur. […] Die Idee, dem Kosmos ein Ziel zuzuweisen und dann noch ausgerechnet dem denkenden Primaten auf dem dritten Planeten eines 28  |  Einführung 

unspezifischen Sonnensystems in einer typischen Spiralgalaxis diese Ausnahmerolle zuzuschreiben, ist nur durch die jüdisch-christliche Anthropozentrierung erklärbar, die aber im naturwissenschaftlichen Weltbild der Gegenwart keinen Rückhalt mehr besitzt.21

Das erste Zitat von Joseph Ratzinger ist eine paradigmatische Positionierung des zeitgenössischen Christentums. Den tradierten christlichen Sinngehalten wird hier die Rolle des zentralen Orien­ tierungspunktes für heutige Menschen zugewiesen. Die bestimmende Vorstellung in diesem Beispiel ist die Idee, dass im christlichen Denken die Erklärungen des Wirklichen mit dem Ethos eine Einheit bilden: Das Verhalten des Menschen, und hierbei insbesondere sein moralisches Verhalten, sollen sich hier mit dem Bild des Menschen von der Welt im Einklang befinden. Die deskriptiven Vorstellungen des Menschen über die Welt sollen mit seinen normativen Vorstellungen über das gute Leben harmonieren und einen einheitlichen Sinnentwurf bilden. Ratzinger sieht diesen Zustand im frühen Christentum realisiert – ganz im Gegensatz zur heutigen Zeit, in der der Mensch mit der sinnfreien Welt der neuzeitlichen Naturwissenschaft konfrontiert ist. Nach Ratzinger kann gerade heute die christliche Überlieferung den Weg zeigen, um die Sinnvorstellungen des Menschen wieder harmonisch in der Welt zu verankern. Die Relevanz der christlichen Überlieferung für heutige Menschen sieht Ratzinger darin, dass ein wieder zum Leben erwachtes Christentum dem Menschen die existentielle Sinnerfülltheit ermöglichen kann, die im modernen wissenschaftlichen Denken verlorengegangen ist. Die geforderte Lebendigkeit des Christentums zeigt sich für ihn in dessen Fähigkeit, sich im vollen Angesicht der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse als existentiell verstandene Wahrheit präsentieren zu können. In dieser christlichen Positionierung weisen die tradierten Sinnentwürfe der Vergangenheit auch in der Moderne noch den Weg zu einem sinnerfüllten Leben. Eine derartige Positionierung enthält jedoch gravierende Schwierigkeiten, die im Laufe dieser Untersuchung ausführlich zur Sprache kommen werden. Im Zitat von Bernulf Kanitscheider kommt eine entgegengesetzte Anschauung zum Vorschein: Hier erscheint die christliche Tradition als etwas hoffnungslos Überholtes und Absurdes. ZuDas zwiegespaltene Verhältnis  |  29

rückgewiesen wird die Vorstellung, dass das Universum auf den Menschen hin ausgerichtet ist und eine zielgerichtete Struktur aufweist, aus der der Mensch Erkenntnisse über den Sinn seiner eigenen Existenz gewinnen könnte. Die leitende Vorstellung des Christentums – die Einbettung des Menschen in eine von Sinnhaftigkeit durchzogene heilsgeschichtliche Wirklichkeit – wird hier vehement abgelehnt. Die Ablehnung der christlichen Überlieferung entspringt aus der Perspektive des modernen wissenschaftlichen Weltbildes, das in prinzipieller Weise auf die Kategorie der Teleologie verzichtet und den Menschen an einem gänzlich dezentralen Standort im Universum verortet. Diese Perspektive sieht den Menschen in eine tendenziell eher feindliche, sinnleere Welt eingebettet. Im Rahmen einer derartigen Positionierung besitzen die überlieferten Sinngehalte des Christentums für heutige Menschen überhaupt keine direkte Relevanz mehr. Auch ein solcher Standpunkt birgt Schwierigkeiten, die im Laufe dieser Arbeit noch ausführlich zu thematisieren sind. An diesen Beispielen deutet sich bereits an, was unter dem Gegensatz zwischen den überlieferten Sinnvorstellungen der Vergangenheit und den spezifisch modernen Positionierungen zur Frage nach dem Sinn des Lebens zu verstehen ist. Eine wichtige Konfliktlinie verläuft zwischen dem modernen wissenschaftlichen Weltbild und den zentralen Grundannahmen des traditionellen Christentums: Ist das Weltall auf den Menschen abgestimmt? Ist das Weltall von einer Sinnhaftigkeit durchwaltet, die mit dem Sinn der menschlichen Existenz in einem Zusammenhang steht? Kann der Mensch aus dem, was er über die Welt weiß, die Ziele seines Handelns und Lebens ableiten? Können Vorstellungen wie Gott, Liebe oder Erlösung in irgendeinem Sinne als wahr angesehen werden? Diesen Fragen würden die beiden skizzierten Geisteshaltungen sehr unterschiedlich begegnen. Die hieraus entstehenden, diametral entgegengesetzten Positio­nen spiegeln zentrale Pro­ bleme des modernen Denkens in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens wieder. So steht als grundlegende Wirkkraft auf der einen Seite das wissenschaftliche Denken, das maßgeblich das heutige Weltbild bestimmt und in Verbindung mit den technischen Errungenschaften, die aus ihm entspringen, eine kaum zu widerstehende Anziehungskraft ausübt. Das wis30  |  Einführung 

senschaftliche Denken bringt aber Konsequenzen mit sich, die für nicht wenige Menschen unannehmbar sind: Es hinterlässt ein existentielles Vakuum.22 Auf der anderen Seite stehen die überlieferten Sinnentwürfe der Vergangenheit, deren Attraktivität in vielen Bereichen nachlässt, sich aber nicht vollständig auflöst, weil sich deren Sichtweise auf die Welt genau mit den existentiell relevanten Aspekten des menschlichen Lebens befasst, von denen sich die modernen Gegenkräfte abwenden. Diese Erkenntnisse vor Augen kann nun nach denjenigen bestimmenden inhaltlichen Vorstellungen gefragt werden, die als Kernvorstellungen der meta­phy­sischen Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug das heutige Denken von der kulturellen Überlieferung entfremden. Welche bestimmenden geistigen Strömungen gehören zunächst zur Überlieferung der heutigen westlichen Kultur? Wenn man sich dieser Frage aufzählend nähert und dabei den Begriff der Tradition sehr weit fasst, indem man die gesamte kulturelle Überliefe­ rung dazuzählt, können die unterschiedlichen Traditionslinien unserer Kultur wie folgt umrissen werden: Den Grundstock legten zweifellos die antike griechische Dichtung und Philosophie sowie die christliche und die jüdische Religion. In der Antike ihren Ursprung nehmend überlieferten und transformierten sich diese Einflüsse über das Mittelalter und die Neuzeit bis hin zum Heute. Eine unvollständige Aufzählung der Eckpfeiler der philosophischen und religiösen Tradition beinhaltete etwa das vorsokratische Denken, die Philosophie von Platon und Aristoteles, die Stoiker und Epikureer, die vortalmudischen Schriften des Judentums, die frühchristlichen Kirchenväter und die mittelalterliche Scholastik – aber auch vielfältige Strömungen der Neuzeit wie etwa das Denken der Renaissance, den Protestantismus, Rationalismus, Empirismus oder auch den Idealismus. Eine derartige lose Aufzählung verlangt zum einen nach einer Konkretisierung und Systematisierung, zum anderen muss eine wichtige Unterscheidung hinzukommen: Ab der frühen Neuzeit entfalten sich Gegenkräfte zu den Sinnentwürfen der Vergangen­ heit als Gegenbewegungen zur Weltsicht der transzendenzorien­ tierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Antike und des Mittelalters. Diese Gegenkräfte sind anfangs noch eng mit den überlieferten Sinngehalten der Vergangenheit verbunden, von denen sie sich aber Das zwiegespaltene Verhältnis  |  31

im Laufe der Zeit immer mehr verselbständigen. Ab der frühen Neuzeit lassen sich innerhalb der kulturellen Überlieferung die Momente, die auf die Denkwirklichkeit der antiken Sinnentwürfe zurückgehen, von der sich entfaltenden spezifisch modernen Sichtweise auf die Welt abgrenzen. Diese Abgrenzung von einander entgegengesetzten Tendenzen im Denken lässt sich bis in die heutige Zeit hinein fortführen, und für das Verständnis der heutigen Schwierigkeiten in der Artikulation von existentieller Sinnhaftigkeit ist sie von entscheidender Bedeutung, wie im Verlauf dieser Untersuchung noch deutlich werden wird. Die Frage muss daher lauten: Welche kulturellen Gehalte zählen aus der heutigen Perspektive zur vormodernen Sichtweise der antiken Sinnentwürfe und welche nicht, weil sie darüber hinausgehen und zu den modernen Gegenbewegungen zu dieser Traditionslinie gehören? Gesucht ist somit nicht nur ein Verständnis für die Grundideen der bestimmenden geistigen Strömungen der kulturellen Überlieferung, sondern insbesondere auch ein Verständnis für die Unterschiede zwischen dem lebendigen und vertrauten Denken der heutigen Zeit und den überlieferten, aber fremd gewordenen Denkwirklichkeiten der Vergangenheit. Ziel ist es, auf der Grundlage dieser Unterscheidung verstehen zu können, mit welchen Schwierigkeiten die heutigen philosophischen Herangehensweisen an die Frage nach dem Sinn des Lebens konfrontiert sind. Was also gehört im engeren Sinne zur Traditionslinie der umfassenden meta­phy­sischen Sinnentwürfe, von denen sich heutige Denkweisen in einer sehr weitgehenden Weise entfremdet haben? In welchen markanten Positionierungen kommt die Artikulation einer umgreifenden existentiellen Sinnerfülltheit zum Vorschein? Einer großen Mehrzahl der wirkungsmächtigen geistigen Entwicklungen der Antike23 und des Mittelalters liegen Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug zugrunde: Hierzu gehören etwa die Ideenlehre Platons, der Entelechiegedanke von Aristoteles oder die christliche Gottesvorstellung. Die Traditionslinie der umgreifenden existen­ tiellen Sinnentwürfe ist daher sowohl eine philosophische als auch eine religiöse. In der Neuzeit hingegen muss stärker differenziert werden: So enthält beispielsweise das Denken von Descartes neben den radikal neuen Gedanken wie der Auffassung, dass feste, evidente Gewissheit nur aus dem menschlichen Ich entspringen kann, 32  |  Einführung 

noch viele Rückgriffe auf tradierte Sinngehalte – man denke an sein Festhalten an der christlichen Gottesvorstellung und an sein zumindest vorläufiges Festhalten am christlichen Moralsystem.24 Eine ähnliche Differenzierung muss auch bei Immanuel Kant vorgenommen werden. Kant entfernt sich von den Kernpositio­nen der überlieferten Sinnentwürfe, wenn er als Fundament der Ethik allein die vernünftige Autonomie des Individuums bestimmt und auf eine Untermauerung durch göttliche Autorität verzichtet.25 Er entfernt sich von den Denkweisen der Überlieferung, wenn er die konstitutive Rolle der menschlichen Eigenleistung beim Erkenntnisprozess heraushebt und so den Menschen zum Mitschöpfer der Erkenntnisgegenstände erhebt, was gemeinhin als kopernikanische Revolution der Denkart bezeichnet wird.26 Andererseits bleibt aber Kant den zentralen Sinngehalten der tradierten Sinnentwürfe verbunden, wenn er Vorstellungen wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit für existentiell unverzichtbar hält und deren Glaubbarkeit zumindest als regulative Vernunftideen rational untermauern möchte.27 Und selbst bei Friedrich Nietzsche besteht noch ein Zwiegespaltensein, wenn er der zu Grabe getragenen Religiosität seinen Respekt bekundet 28 und die durch den Verlust entstandene existentielle Sinnleere durch irdische Sinnhaftigkeit wieder vollständig ausfüllen möchte. Diese Ambivalenzen werden im Rahmen dieser Arbeit noch ausführlich untersucht werden.29 Eine derartige aufzählende Herangehensweise bringt jedoch generelle Schwierigkeiten mit sich. Die Abgrenzung der vormodernen Sinnentwürfe von den modernen Gegenkräften ist die eine Herausforderung dieser Untersuchung, die andere ist die Systematisierung der in Frage kommenden Materialfülle. Mehr oder weniger alle zeitgenössischen Sinnvorstellungen können bis zu ihren Ursprüngen in der kulturellen Überlieferung zurückverfolgt werden, und diese Überlieferung umfasst mindestens zweieinhalb Jahrtausende. Die Fülle des Materials verwehrt dieser Untersuchung eine aufzählende, kulturhistorisch aufsummierende Herangehensweise, zumal ein solcher Weg stets die Gefahr mit sich brächte, den Blick auf das Relevante zu trüben. Insbesondere wenn es um eine hinreichend klare Unterscheidung zwischen den tradierten Sinngehalten der Vergangenheit und den spezifisch modernen Positionierungen geht, ist eine stärker systematisierende Herangehensweise Das zwiegespaltene Verhältnis  |  33

erforderlich. Ein solcher Ansatz muss danach streben, diejenigen grundlegenden Vorstellungen zu identifizieren, die unterschied­ lichen Strömungen der Vergangenheit gemeinsam zugrunde liegen und die sich zugleich auf das Selbstverständnis des Menschen im Heute auswirken. Hierbei soll es jedoch nicht darum gehen, durch generalisierende Aussagen historisch ganze Epochen abschließend zu bestimmen – vielmehr sollen markante, für bestimmte Zeiten charakteristische Positionierungen herausgearbeitet und mitein­ ander kontrastiert werden, damit in der Gegenüberstellung die moderne Zwiegespaltenheit gegenüber gewissen meta­phy­sischen Sinnvorstellungen der Überlieferung klar zum Vorschein kommen kann. Im Verlauf der Untersuchung wird deutlich werden, dass bestimmte Vorstellungen in zeitlich weit auseinander liegenden geistigen Strömungen in Erscheinung treten und dabei prägnante philosophische Haltungen konstituieren, dass aber diese Vorstellungen zu bestimmten heutigen Positio­nen harsche Gegensätze bilden, wobei die entstehenden Kontraste dann als Gegensätze unsere heutige Sichtweise auf Welt und Mensch bestimmen. Die Annäherung an die philosophische und religiöse Überlieferung muss darin bestehen, grundlegende existentielle Sinnvorstellungen zu identifizieren, die als Kern unterschiedlicher geistiger Strömungen markante philosophische Positionierungen bilden und sich in einer sehr grundlegenden Weise von den heute vorherrschenden Überzeugungen unterscheiden, sich dabei aber dennoch in einer komplexen Weise auf das heutige Selbstverständnis auswirken. Eine derartige zentrale Sinnvorstellung der Überlieferung, die weiter oben im Zusammenhang mit dem Christentum bereits zur Sprache kam 30 und die eine weitreichende und kaum zu unterschätzende Relevanz besitzt, ist die Idee, dass die menschliche Existenz in eine sinnvoll geordnete Wirklichkeit eingebettet ist.

34  |  Einführung 

2. Zentrale Sinngehalte von vormodernen ­Sinnentwürfen 2.1 Die sinnvolle Ordnung der Welt und der Stellenwert der W ­ ahrheit

Die überwiegende Mehrheit der vormodernen Sinnentwürfe interpretiert den Menschen als Teil einer sinnvoll geordneten Wirk­ lichkeit. Diese Vorstellung gehört zu den wirkungsmächtigsten Sinnvorstellungen der kulturellen Überlieferung und bildet insbesondere auch die Grundlage des Denkens von Platon und Aristoteles, den beiden einflussreichsten Denkern der antiken Traditions­linie meta­phy­sischer Sinnentwürfe. Es ist wichtig, sich die zentralen Thesen dieser Denker vor Augen zu führen, um zu verstehen, worin die entscheidenden Unterschiede zu modernen Sichtweisen auf die Welt und auf den Menschen liegen. Dadurch eröffnet sich zudem ein Verständnis für die heutigen Schwierigkeiten mit der Frage nach dem Sinn des Lebens.

2.1.1 Die Einbettung des Menschen in einen sinnerfüllten Kosmos: Platon

Bestimmend für die Philosophie Platons ist die Vorstellung einer sinnvoll geordneten Wirklichkeit. Platon ist einer der einflussreichsten Denker der kulturellen Überlieferung, die vielzitierte Aussage von Alfred North Whitehead ist nicht übertrieben: »Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, dass sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.«31 Der Dialog Timaios ist das wirkungsmächtigste Werk Platons und »das einflussreichste philosophische Werk der antiken Welt«, dessen Wirkung sich kontinuierlich und ungebrochen von der Antike über die Spätantike, das Mittelalter und die Renaissance bzw. die frühe Neuzeit bis in unsere Zeit hinein ent  |  35

faltet hat.32 In der Philosophie Platons artikuliert sich eine sehr markante philosophische Positionierung zu der Frage nach dem Sinn des Lebens: Platon entwirft im Timaios eine Weltsicht, die den Menschen in einem geordneten Kosmos verortet, dessen Ordnungsprinzip mit dem ordnenden Prinzip der menschlichen Existenz übereinstimmt. In diesem Sinne ist der Mensch bei Platon Teil einer sinnerfüllten Wirklichkeit. Worin genau besteht bei Platon die besondere Stellung des Menschen im Kosmos? Die Grundlage der Weltsicht Platons im Timaios bilden einige wesentliche Differenzierungen. Da Platons Denken von enormem Einfluss auf die philosophische und religiöse Überlieferung ist, liefert eine kurze Darstellung dieser Grunddifferenzierungen nicht nur einen wichtigen Einblick in seine Weltsicht, sondern zeichnet auch ein erstes Bild der begrifflichen Fundamente der Sinnentwürfe der Vergangenheit. Die grundlegenden Unterscheidungen Platons hängen so zusammen, dass sich aus ihrem Zusammenhang eine umfassende Weltsicht ergibt. Zen­trum dieser systematischen Beziehung von Unterscheidungen ist die Gegenüberstellung von Beständigkeit und Unbeständigkeit und zwischen Sein und Werden. Der Grundgedanke Platons liegt darin, dass er das Beständige dem Unbeständigen vorzieht und die sinnlich gegebene Wirklichkeit, in die der Mensch eingebunden ist, als defizient ansieht, da es sich im ständigen Werden befindet. Dem stellt er eine Wirklichkeit des beständigen Seins entgegen, die alles Wertvolle in sich birgt. Was genau ist hierunter zu verstehen? Platon unterscheidet zum einen das, was »Entstehen nicht an sich hat«, von dem, was »entstehend und vergehend, nie aber wirklich seiend« ist – er unterscheidet also das Seiende vom Werdenden.33 Er trennt das, was »durch Vernunft mit Denken zu erfassen« ist, von dem, was nur »vermittels vernunftloser Sinneswahrnehmung vorstellbar« ist.34 Das gut Begründete und durch Über­redung nicht zu Erschütternde bildet bei Platon einen Gegensatz zum Unbegründeten.35 Er unterscheidet die beharrlichen, unerschütter­ lichen Aussagen des Menschen von den Aussagen mit Wahrscheinlichkeitscharakter und grenzt die Wahrheit und das Wissen von der Meinung ab.36 Platon unterscheidet das Schöne und Vollkommene vom Unschönen und Unvollkommenen und baut darauf den Gegensatz zwischen der guten und schönen Ordnung und der 36  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

regel­losen und zufälligen Unordnung auf.37 Bei den Ursachen unterscheidet Platon zwischen Erzeuger und Erzeugtem, wobei der Erzeuger stets ein Vorbild vor Augen hat, aus dem das Erzeugte als Abbild hervorgeht.38 Hiermit zusammenhängend unterscheidet Platon zwischen notwendigen und göttlichen Ursachen39 sowie zwischen Notwendigkeit und Vernünftigkeit.40 Wie der Begriff der Notwendigkeit (ἀνάγκη) bei Platon zu verstehen ist, ist in der Forschung umstritten. Notwendigkeit wird hier von einigen Interpreten als prinzipielle Kontingenz und Regellosigkeit, als »notwendige stoffliche Voraussetzung der göttlichen Ordnungsverwirklichung« interpretiert, von manchen wird sie aber auch als eine eigenständige, der vernünftigen Geordnetheit widerstrebende und dem Guten entgegengesetzte Kraft verstanden, die den Ursprung aller verworrenen Bewegung und Unvollkommenheit der Natur darstellt und die Quelle der physischen Übel bildet.41 In jedem Fall aber bildet bei Platon die Notwendigkeit den Gegenpol zur vernünftigen, göttlichen Geordnetheit. Die hier aufgezählten Gegensätze stehen bei Platon in einer bestimmten Beziehung zueinander. Die beiden Seiten der Gegensätze werden von Platon jeweils miteinander verknüpft und in einen asso­ziativen Zusammenhang gebracht, der wie folgt veranschaulicht werden kann:

Beständigkeit – Unbeständigkeit   Sein – Werden Vernunft  –  Sinneswahrnehmung Wahrheit – Meinung sicheres Wissen – Wahrscheinlichkeit Schönheit – Unschönheit Ordnung – Unordnung Vollkommenheit    Unvollkommenheit

Platon  |  37

Auf der einen Seite stehen Sein, Beständigkeit, Vernunft und Wahrheit in einer engen Beziehung zueinander, auf der anderen Seite Werden, Vergänglichkeit, Sinneswahrnehmung, Meinung und Wahrscheinlichkeit. Die jeweiligen miteinander zusammenhän­ gen­den Begriffspaare verweisen auf den Zusammenhang der Phänomene: In der Welt stehen einander zwei grundlegend verschiedene Sphären gegenüber – die Sphäre der Beständigkeit und des Seins auf der einen, die Sphäre der Unbeständigkeit und des Werdens auf der anderen Seite. Dieser Gegensatz manifestiert sich nach Platon auch mitten im Menschen selbst: Mit seiner Vernunft nimmt der Mensch teil an der Sphäre des Seins, mit seinen Sinnen an der Sphäre des Werdens. Diese Zweiteilung bringt Platon beispielsweise zum Ausdruck, wenn er über die Reichweite menschlicher Aus­ sagen reflektiert: Die Aussagen von dem Beharrlichen, Gewissen, der Vernunft Offenbaren müssen beharrlich und unveränderlich sein – soweit möglich ist und es Reden zukommt, unwiderlegbar und unerschütterlich zu sein […]; die aber von dem jenem Nachgebildeten, welches ein Abbild ist, die müssen wahrscheinlich sein und im Verhältnis zu jenen stehen; denn wie das Sein zum Werden, so verhält sich die Wahrheit zum Glauben.42

In der Beziehung dieser Gegensätze zueinander kommt zugleich eine grundlegende Wertung zum Ausdruck: Das beharrende Sein wird dem vergänglichen Werden vorgezogen. Hat ein Werk sein Vorbild im beharrlichen Seienden, so liegt darin seine Schönheit, so wie andererseits in einem vergänglichen, werdenden Vorbild die Unschönheit eines Werkes angelegt ist. Ist der Urheber eines Werkes vernünftig, erschafft er eine gute und schöne Geordnetheit, ist er hingegen unvernünftig, so entsteht eine regellose und zufällige, unschöne Ungeordnetheit.43 Die Aufwertung des Beständigen bei gleichzeitiger Abwertung des Vergänglichen ist eine entscheidende Wertung, die in der Traditionslinie der Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug allgegenwärtig und bestimmend ist. Diese Grundpositionierung der kulturellen Überlieferung wird dem Leser dieses Buches noch häufig begegnen. Mit Hilfe dieser zusammenhängenden Unterscheidungen interpretiert Platon die Welt und die Stellung des Menschen in der 38  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Welt. Zentral ist für Platon die Überzeugung, dass die Welt einen göttlichen Charakter besitzt. Diese Überzeugung verankert Platon in folgender Argumentationskette: Alles sinnlich Wahrnehmbare, Körperliche ist ein Entstandenes, und alles Entstehende muss aus einer Ursache entstehen. Die Welt ist sinnlich wahrnehmbar und damit aus einer Ursache entstanden.44 Die Erscheinungen der Welt verweisen darauf, dass der Welt eine schöne und gute Geordnetheit zugrunde liegt. Weil dies so ist, muss die Welt eine göttliche Ursache, einen Erzeuger haben. Diesen Erschaffer der Welt bezeichnet Platon als Demiurg und überträgt dabei die Vorstellung der Gestaltung durch einen Handwerker auf den gesamten Kosmos. Dem Urheber der Welt wird ein vollkommenes Gutsein zugeschrieben. Weil er gut war, gestaltete er die Welt so, dass sie ihm ähnelte: Er fand das Seiende in ordnungsloser Bewegung vor, und weil Ordnung schöner und besser ist als Unordnung, ordnete er die Welt auf Grundlage der Vernunft, durch »Gestaltungen und Zahlen«: Ehe das aber geschah, sei alles dies ohne Maß und Verhältnis gewesen; als jedoch Gott das Ganze zu ordnen unternahm, haben sich anfangs Feuer, Wasser, Luft und Erde, die aber bereits gewisse Spuren in sich selbst besaßen, durchaus in einem Zustande befunden, wie er bei allem, über welches kein Gott waltet, sich erwarten läßt. Diese von Natur also Beschaffenen formte zunächst Gott durch Gestaltungen und Zahlen. Daß er aus einem nicht so beschaffenen Zustande auf das möglichste schönste und beste sie zusammenfügte, diese Behauptung stehe uns durchgängig in allem fest.45

All diese Aussagen verbindet Platon mit einem gewissen Wahrheitsanspruch, nichtsdestotrotz ist er sich der prinzipiellen Beschränktheit der menschlichen Erkenntniskraft bewusst: Er sieht, dass aufgrund der Begrenztheit des Menschen menschliche Erkenntnis niemals den Status einer absoluten Wahrheit erreichen kann – auch wenn der Mensch seine Erkenntnisse immer besser durch gute Gründe zu untermauern vermag, um so immer höhere Grade der Wahrscheinlichkeit zu erreichen.46 Dies steht jedoch für Platon dem Streben nach dem Vernünftigen keineswegs entgegen. Zur Natur des Urhebers, des Schöpfergottes, gehört nach Platon wesenhaft das Denkvermögen, die Vernunft. Der Urheber erschuf Platon  |  39

nach seinem Vorbild den vernünftigen Zusammenhang des Seienden, hierbei orientierte er sich von vornherein am Beständigen und Unvergänglichen: Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick auf das Unvergängliche gerichtet, bei der Voraussetzung dagegen, die auch nur auszusprechen frevelhaft wäre, auf das Gewordene. Jedem aber ist gewiß offenbar, auf das Unvergängliche, denn sie ist das Schönste alles Gewordenen, er der beste aller Urheber.47

Dies impliziert nach Platon, dass die Welt, so wie sie dem Menschen begegnet, in sich ein Abbild von etwas darstellt. Daraus geht die Idee einer jenseitigen Wirklichkeit hervor, die in dieser Arbeit weiter unten ausführlich thematisiert werden wird.48 An dieser Stelle ist entscheidend, dass bei Platon das Seiende in der Welt durch das Göttliche eine Geordnetheit erfährt und dass diese Ordnung aus der Vernünftigkeit entspringt. Die Vernunft ist das ordnende Prinzip, das in den Bereich der ungeordneten Notwendigkeit eindringt und das Ungeordnete ordnet. Die Unordnung entweicht jedoch nicht vollständig aus der Welt, da die Welt als sinnlich gegebene Wirklichkeit wesenhaft den Charakter des Werdens, des unaufhörlichen Entstehens und Vergehens beibehält. Nichts in der Welt kann diesen Charakter vollständig abstreifen. Die sinnlich gegebene Wirklichkeit wird somit von Platon als defiziente Sphäre beschrieben, die aber die Möglichkeit des Aufschwunges in sich trägt: Die Vernunft ist das ordnende Prinzip, und Vernünftigkeit findet sich sowohl auf der göttlichen als auch auf der weltlichen und menschlichen Seite. Die Vernünftigkeit eröffnet dem Menschen als Teil der Welt den Zugang zum Göttlichen. Die Seele ist die Stätte der Vernünftigkeit im Menschen; mit der unsichtbaren und unkörperlichen Seele nimmt der Mensch Teil am Göttlichen. Durch die Seele wird das Körperliche und Vergängliche im Menschen mit dem unvergänglich Beständigen in eine Verbindung gebracht. Der Ur­heber der Welt verlieh dem Körper des Menschen die Seele und der Seele die Vernunft. Überhaupt beseelte er die Welt, indem er der Vernünftigkeit in der Welt eine Entfaltungsmöglichkeit bot. Die Welt selbst wird von Platon als etwas Lebendiges gedacht, insofern es von göttlicher Vernünftigkeit durchdrungen ist. Die so entstandene, beseelte Welt bildet auf dem Fundament göttlicher 40  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Vernünftigkeit eine Harmonie – eine schöne und gute, vollkommene und ungeteilte Einheit: So also sei, müssen wir der Wahrscheinlichkeit nach annehmen, durch Gottes Fürsorge diese Welt als ein beseeltes und in Wahrheit mit Vernunft begabtes Lebendes entstanden.   Als nun die ganze Zusammenfügung der Seele der Weisheit des Zusammenfügenden gemäß gediehen war, gestaltete er darauf alles Körperliche innerhalb derselben und brachte es, die Mitte der Mitte verbindend, mit ihr in Einklang. [… Es] begann ihr der göttliche Anfang eines endlosen und vernünftigen Lebens für alle Zeit. Und der Leib des Himmels ward ein sichtbarer, die Seele aber unsichtbar, doch des Denkens und Einklanges teilhaftig, indem der Beste alles Denkbaren und immer Seienden zum Besten alles Gewordenen sie werden ließ.49

Im ordnenden und Einheit bildenden Prinzip der Vernünftigkeit liegt zugleich eine vertikale Hierarchisierung – eine Unterordnung des Werdenden unter das Seiende, des Körperlichen unter das Geistige. So bezeichnet Platon die Seele als »Gebieterin und Beherrscherin des ihr unterworfenen Körpers«.50 Die Zeit ist für ihn ein bewegliches, in Zahlen fortschreitendes Abbild der Unvergänglichkeit.51 Die Vernünftigkeit ist der Notwendigkeit entgegengesetzt und übergeordnet; in der Unterwerfung der Notwendigkeit durch die göttliche Vernunft konstituiert sich im Ursprung der geordnete Kosmos: Denn das Werden dieser Weltordnung wurde als ein gemischtes aus einer Vereinigung der Notwendigkeit und der Vernunft erzeugt. Indem aber die Vernunft der Notwendigkeit dadurch gebot, daß sie dieselbe vermochte, das meiste des im Entstehen Begriffenen dem Besten entgegenzuführen: auf diese Weise und demgemäß, durch Notwendigkeit, unterworfen von besonnener Überredung, so trat am Anfang dieses Weltganze zusammen.52

Generell steht das, was die Grundlage der Einheit des Mannigfaltigen bildet, hierarchisch über dem Einzelnen als Teil dieser Einheit. Die göttliche Vernünftigkeit schließt das Seiende in der Welt zu einer Einheit zusammen und begründet dadurch eine vertikale Rangordnung: Das vereinende Prinzip steht über dem Vereinigten. Diese Hierarchie kann dem Menschen als existentielle Orientierung dienen. Der im Irdischen verhaftete und dadurch unvollkomPlaton  |  41

mene Mensch kann sich an der göttlichen Geordnetheit der Welt, die sich in ihrer vernünftigen Struktur offenbart, orientieren, um eine Aufwärtsbewegung vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, vom Ungeordneten zum Geordneten zu vollziehen: Gott habe das Sehvermögen uns ersonnen und verliehen, damit wir beim Erschauen der Kreisläufe der Vernunft am Himmel sie für die Umschwünge unserer eigenen Denkkraft benutzten, welche jenen, die regellosen den geregelten, verwandt sind, und, nachdem wir sie begriffen und zur naturgemäßen Richtigkeit unseres Nachdenkens gelangten, durch Nachahmung der durchaus von allem Abschweifen freien Bahnen Gottes unsere eigenen, dem Abschweifen unterworfenen danach ordnen möchten.53

Dies ist eine sehr aussagekräftige Stelle bei Platon. Hier zeigt sich, was unter einer Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz verstanden werden kann: Der Mensch bei Platon ist in eine Welt eingebunden, die in einer vernünftigen Weise geordnet ist, wobei diese Ordnung dem menschlichen Erkenntnisvermögen zugänglich ist und den Weg für eine gelingende Existenz vorzeichnet. Der vom Menschen erkennbare vernünftige Aufbau der Welt bildet den Orientierungspunkt für die menschliche Existenz: Aus der Beschaffenheit der Welt kann die Richtung einer gelingenden Existenz mit Hilfe der Vernunft abgeleitet werden. Die Fundamente der Welt bestim­ men bei Platon über das Gelingen der menschlichen Existenz. Genau in diesem Sinne ist der Mensch bei Platon in eine sinnerfüllte Welt eingebettet, und genau in diesem Sinne kann man bei Platon von der Möglichkeit einer sinnerfüllten menschlichen Existenz sprechen. Die Verknüpfung der Sinnhaftigkeit der Welt mit der existentiellen Sinnhaftigkeit im Menschen ist eine zentrale Positionierung der umgreifenden Sinnentwürfe der Vergangenheit, und bei ihrem maßgebenden Denker tritt sie offen zu Tage. Die gelingende Existenz hat sich nach Platon an der Geordnetheit des Kosmos zu orientieren: Das sinngebende Prinzip, die göttliche Vernünftigkeit, durchdringt und ordnet sowohl die Welt als auch die menschliche Existenz. Durch seine Seele und insbesondere durch seine Fähigkeit zum vernünftigen Denken besitzt der Mensch die Möglichkeit, sich in Einklang mit dem Ordnungsprinzip des Kosmos zu setzen und so seine ursprünglich defizi42  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

ente Existenz in eine gelingende Existenz zu verwandeln. Damit ist noch kein Automatismus in Gang gesetzt, der Mensch muss seine Existenz selbst in die Hand nehmen: Orientiert er sich am Innerweltlichen und gehört er zu denen, »die von anderen in Bewegung gesetzt werden und aus Notwendigkeit anderes in Bewegung setzen«, so ist sein Leben ausgefüllt mit dem Streben nach Ursachen, »welche stets ohne Überlegung und regellos das Zufällige bewirken« – strebt der Mensch hingegen »nach Vernunft und Erkenntnis«, strebt er mithin nach dem Höheren und Göttlichen, wird er selbst zum »Urheber des Schönen und Guten«.54 Der Mensch muss sich nach Platon am Göttlichen orientieren, um ein gelingendes Leben zu führen, sprich um Glückseligkeit zu erlangen. Dies bedeutet nicht, dass eine Beschäftigung mit dem Innerweltlichen nutzlos ist, dies bedeutet aber, dass ein Interesse an und ein Umgang mit dem Innerweltlichen immer nur Mittel zu einem höheren Zweck, aber kein Selbstzweck sein kann, insofern der Mensch primär das Gelingen seiner Existenz anstrebt: Demnach müssen wir zwei Arten von Ursachen unterscheiden, das Notwendige und das Göttliche; dem Göttlichen aber muß man, um zu einem glückseligen Leben zu gelangen, in allem, soweit unsere Natur es gestattet, nachspüren, doch um dessentwillen auch dem Notwendigen, in Erwägung, daß es ohne dieses nicht möglich ist, eben jenes, dem wir ernstlich nachstreben, allein zu begreifen und zu erfassen oder seiner sonst irgendwie teilhaftig zu werden.55

Dadurch, dass sich die göttliche Vernünftigkeit in der Welt manifestiert, ist eine Beschäftigung mit innerweltlichen Vorgängen unverzichtbar, um die Aufwärtsbewegung zum Höheren in Gang zu setzen. Das eigentliche Ziel aber ist etwas, was die Welt als sinnlich gegebene Wirklichkeit transzendiert. Durch übendes Streben56 nach einem vernunftgemäßen Leben ist dem Menschen der Weg zur Glückseligkeit als ein Aufschwung zum Göttlichen möglich: [W]ir behaupten, daß [die Seele] in unserem Körper die oberste Stelle einnehme und uns von der Erde zu dem im Himmel uns Verwandten erhebe, sofern wir ein Gewächs sind, das nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt. Und das behaupten wir mit vollem Recht, denn indem dort, wo die Seele zuerst ihren Ursprung nahm, das Göttliche unser Haupt und unsere Wurzel befestigt, richtet sie den ganzen Körper nach oben. Wer nun also in seinen Begierden und ehrgeizigen BestrePlaton  |  43

bungen lebt und webt, auf sie seine Bemühungen richtet, in dem müssen sich notwendig nur sterbliche Meinungen erzeugen, und er muß durchaus, soweit es überhaupt möglich ist, sterblich zu werden, darin es an nichts fehlen lassen, weil er Derartiges in sich wuchern läßt. Wer dagegen auf Erweiterung seiner Kenntnisse und Erlangung wahrer Einsichten ernstlich bedacht, diesen Teil seiner selbst vorzüglich übt, von dem ist es, wenn er die Wahrheit berührt, durchaus notwendig, daß er Göttliches und Unsterbliches denkt, und soweit die menschliche Natur es gestattet, der Unsterblichkeit teilhaftig zu werden, daß er davon keinen Teil versäumt; und da er ständig das Göttliche in sich pflegt und den ihm innewohnenden Schutzgeist im besten Zustand erhält, so muß er notwendig vor allen anderen glückselig sein.57

An dieser aufschlussreichen Stelle zeigt sich sehr deutlich ein Denkmuster, das sowohl das Denken Platons als auch allgemein die Denkweise der wichtigsten meta­phy­sischen Sinnentwürfe der kulturellen Überlieferung charakterisiert: Der Ausgangszustand des Menschen – das unreflektierte Leben, das sich primär an der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung orientiert – wird als ein defizienter Zustand betrachtet. Eine derartige Existenzweise ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie das verfehlt, was als Kern des Menschseins angesehen wird. Um das drohende Scheitern abzuwenden, muss sich der Mensch an höheren Zielen orien­ tieren. Dieses Höhere steht über dem Menschen und seiner Lebenswelt, ist aber dem Menschen dennoch zugänglich, weil es sich in der Reichweite seines Erkenntnisvermögens befindet. Wenn nun der Mensch die durch seine Geisteskraft erkannten höheren Ziele durch praktische Einübung in seine Lebenswirklichkeit aufnehmen, wenn er durch Arbeit an sich selbst sein Leben am Höheren ausrichten kann, so wird es ihm möglich, das Scheitern seiner Existenz abzuwenden und glückselig zu werden. Der lebenspraktische Aspekt dieser Konstellation, das Streben nach dem Höheren durch geistiges Üben, wird in einem eigenen Kapitel weiter unten ausführlich erörtert werden.58 An dieser Stelle ist der Erkenntnisaspekt der Konstellation von Bedeutung. Was bedeutet es genau, dass der Mensch den ordnenden Sinn seiner Welt mittels seiner Vernunft erkennen kann, und worin genau liegt die direkte existentielle Relevanz dieser Erkenntnis? Auch Aristoteles geht von einem direkten Zusammenhang 44  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

zwischen der Sinnhaftigkeit der Welt und der Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens aus. An seiner Philosophie lässt sich deutlich zeigen, welch zentrale Rolle die Vorstellung einer existen­tiell rele­ vanten Wahrheit für die umgreifenden Sinnentwürfe der Vergangenheit spielt und wie fern dies aus heutiger Perspektive erscheinen muss.

2.1.2 Das existentiell bedeutsame Wesen des Seienden: Aristoteles

Mit einigen Grundgedanken der aristotelischen Philosophie kann die Weltsicht und das Menschenbild der antiken Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug herausgearbeitet und der Abstand dieser Vorstellungswelt von heutigen Denkweisen verdeutlicht werden. Aristoteles bildet neben Platon wie kaum ein anderer das Zen­trum der Traditionslinie meta­phy­sischer Sinnentwürfe. Wie für Platon ist auch für Aristoteles der Gedanke der göttlichen Ordnung des Kosmos von zentraler Bedeutung. Bei Aristoteles kommt deutlich zum Ausdruck, auf welche Weise die großen antiken Sinnentwürfe sowohl die Zusammenhänge der Welt als auch das Lebensglück des Menschen durch das Walten einer allumfassenden göttlichen Vernünftigkeit bestimmt sahen und welche Rolle dabei die Vorstellung einer existentiellen Wahrheit spielte. Auch im Denken von Aristoteles entfaltet sich eine markante Positionierung zur Frage nach dem Sinn des Lebens, und gerade am Denken von Aristoteles lässt sich deutlich zeigen, wie fremd das Denken der überlieferten meta­phy­sischen Sinnentwürfe in der heutigen Situation geworden ist. Um die Kluft in einer unverschleierten Weise angemessen verstehen zu können, ist eine ausführlichere Darstellung des aristotelischen Denkens vonnöten. Sehr hilfreich ist hierbei die Aristotelesinterpretation von Georg Picht, die einen scharfen Blick auf die zentralen Grundlagen des aristotelischen Denkens und auf die entscheidenden Unterschiede zum modernen wissenschaftlichen Denken wirft.59 Ausgangspunkt bei Aristoteles ist die Art und Weise, wie er prinzipiell das Seiende begreift: Das Seiende konstituiert sich für ihn dadurch, dass in ihm ein Wesen angelegt ist, das zum VorAristoteles  |  45

schein kommen kann und unter bestimmten Umständen auch zum Vorschein kommt. Es konstituiert sich, indem die Einzelteile, aus denen es zusammengesetzt ist, eine Einheit bilden: Das Seiende wird bei Aristoteles stets als eine Ganzheit aufgefasst, dessen wesenhafter Ursprung die einzelnen Glieder zu einer Einheit ordnet und zusammenfügt. Das Wesen des Seienden und damit den Inbegriff dessen, wodurch sich ein Seiendes konstituiert und von anderem Seienden abgrenzt, bezeichnet Aristoteles als οὐσία. 60 Wenn Aristoteles ein Phänomen philosophisch untersucht, richtet er sein Augenmerk in erster Linie auf diese οὐσία und auf die Weise, wie diese in der Welt erscheint. Seine Vorgehensweise zeigt sich paradigmatisch am Beginn seiner Untersuchung über die Seele – ein Werk, in dem Aristoteles die Frage nach den konstituierenden Momenten des Menschseins thematisiert: Wenn wir das Wissen für etwas Schönes und Ehrwürdiges halten […], so dürften wir […] die Forschung über die Seele mit Recht an die erste Stelle setzen. Die Erkenntnis von ihr trägt, wie es scheint, auch für die Wahrheit im Ganzen viel bei, am meisten für die über die Natur; denn sie (die Seele) ist gleichsam Prinzip [ἀρχή] der Lebewesen. Wir suchen ihre Natur [φύσις] und ihr Wesen [οὐσία] zu betrachten und zu erkennen, ferner alle Eigenschaften, die ihr zukommen.61

Jedes Seiende hat neben den Elementen, aus denen es besteht, ein konstituierendes Prinzip – Aristoteles spricht hier von ἀρχή –, aus dem dieses Seiende hervorgeht, und dieses konstituierende Prinzip ist selbst kein Element, sondern Ursprung und Grund des Seienden. Es ist die Wesenheit, die οὐσία, die die Einzelbestandteile des Seienden zu einem Ganzen organisiert und so erst das Seiende zu einem Seienden macht. 62 Die οὐσία ist der Inbegriff der konstitutiven Merkmale des Seienden63 und in diesem Sinne sein Wesen. Dieses Wesen ist aber kein transzendentes Seiendes, keine Idee im Sinne Platons, es ist vielmehr die Verbindung der ideellen Form (εἶδος) mit der Materie (ὕλη), durch deren Zusammenschluss die Einheit des konkreten Seienden begründet wird. 64 Alles Seiende geht nach Aristoteles aus einem Ursprung, seinem Wesen, hervor und kommt dadurch zum Sein, dass sich das εἶδος, das der Zeitlichkeit und Veränderlichkeit nicht unterworfen ist, sich innerhalb des Werdens manifestiert, indem es in der Materie als Gestalt 46  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

(μορφή) in Erscheinung tritt. Das Seiende konstituiert sich damit dadurch, dass in der vergänglichen, werdenden Materie etwas erscheint, das der Unbeständigkeit des Werdens enthoben ist. Der fundierende Ursprung des Seienden liegt außerhalb des Werdens, aber zugleich wird das Seiende zum Seienden erst dadurch, dass sein Wesen im Medium des Werdens, der vergänglichen Materie, zum Vorschein kommt. In diesem Sinne sind bei Aristoteles sowohl Vergänglichkeit als auch Unvergänglichkeit konstituierende Momente des Seienden. 65 Für das menschliche Denken entsteht eine Differenz zwischen dem konkreten Seienden und dem, was das Sein dieses konkreten Seienden in einer charakteristischen Weise ausmacht. Aristoteles verwendet für Letzteres den Ausdruck τὁ τί ἦν εἶναι, das häufig mit »Wesenswas« übersetzt wird. Er bezeichnet damit das, was für das konkrete Seiende die wesenhafte Seinsweise definitorisch abgrenzend kennzeichnet. Dabei geht es nicht um die individuellen Eigenheiten des konkreten Seienden, sondern um die spezifischen Charakteristika seiner Artnatur, wobei das Wesen des Seienden bei Aristoteles nicht als abtrennbares Allgemeines, sondern immer als dem Konkreten innewohnend verstanden wird.66 Auf den Menschen als Forschungsgegenstand bezogen heißt das, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem konkreten Menschen und dem, was das spezifische Menschsein jenseits aller konkreten Individualität ausmacht. Georg Picht beschreibt diese onto­logische Position wie folgt: Damit ist deutlich geworden, daß der Begriff τὁ τί ἦν εἶναι die οὐσία in der Zusammenfassung ihrer beiden Momente 67 bezeichnet. Τὁ τί ἦν ἀνθρώπῳ εἶναι bedeutet: das in der sinnlichen Erscheinung zu sein, was für den Menschen von vornherein sein Sein ist. Alles, wovon wir überhaupt sagen können, daß es ist, ist nach Aristoteles nur in der Form seiend, daß es in der Materie zur Erscheinung bringt, was sein wahres Sein von vornherein schon war. 68

Wenn Seiendes dadurch entsteht, dass im vergänglichen Werden ein beständiges Wesen zum Vorschein kommt, dann stellt das Werden das Medium dar, in dem das Beständige und Unvergängliche erscheint. Aristoteles versteht das Werden, im Unterschied zum wissenschaftlichen Denken der Neuzeit, in erster Linie nicht als Ortsbewegung der Materieteilchen, sondern als Veränderung, als Aristoteles  |  47

Wechselspiel des Entstehens und Vergehens von Seiendem. Picht formuliert dies wie folgt: Bewegung ist nicht ein in sich richtungsloser Transport von MaterieTeilchen, Bewegung ist immer die Ausbildung oder der Zerfall von strukturierten Zuständen. Sie ist also immer Entstehen und Vergehen. Und Entstehen und Vergehen können wir nur definieren durch die Strukturen, die dabei zur Erscheinung kommen oder sich auflösen. Οὐσία ist […] die in der Bewegung der Materie zum Vorschein kommende Struktur, aus der in ihrer Verbindung mit der bewegten Materie das Seiend-Sein in jener Einheit, die es zu einem Ganzen macht, im Logos aufgewiesen wird. 69

Auch Aristoteles wertet, ganz so wie Platon, das Beständige höher als das Vergängliche. Auf dieser Grundlage bekommt die Materie bei ihm den Charakter der Möglichkeit (δύναμις): In der formlosen Materie ist das Wesenhafte potentiell als Möglichkeit angelegt und kann Wirklichkeit (ἐνέργεια) werden, insofern es sich als Seiendes konstituiert. Zugleich bekommt das Werden so eine Gerichtetheit: Aristoteles nimmt an, dass im Werden die Tendenz existiert, dass angelegte Möglichkeiten sich verwirklichen, sprich: dass Seiendes sich herausbildet. Hieraus geht die für Aristoteles zentrale und für die Geistesgeschichte sehr einflussreiche Vorstellung der Entelechie als Grundlage alles Seienden hervor. Was genau ist darunter zu verstehen? Zunächst sei eine Passage zitiert, in der Aristoteles begründet, warum unter dem Gesichtspunkt der Wesenheit die Wirklichkeit der Möglichkeit vorrangig ist: [… A]uch der Wesenheit [οὐσία] nach ist sie es. Erstens weil das, was der Entstehung nach später ist, der Form [εἶδος] und der Wesenheit nach früher ist, z. B. der Mann früher als das Kind, der Mensch früher als der Same; denn das eine hat schon die Form, das andere aber nicht. Ferner darum, weil alles, was entsteht, auf ein Prinzip [ἀρχή] und ein Ziel [τέλος] hingeht; Prinzip nämlich ist das Weswegen, und um des Zieles willen ist das Werden [γένεσις]. Ziele aber ist die Wirklichkeit, und um ihretwillen erhält man das Vermögen; denn nicht, um den Gesichtssinn zu haben, sehen die Tiere, sondern um zu sehen, haben sie den Gesichtssinn.70

Entscheidend ist hier die Aussage, dass alles Seiende in der Welt auf ein Ziel gerichtet ist, wobei dieses Ziel das Prinzip des Seienden in 48  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

dem Sinne darstellt, dass es die Grundlage, das »Weswegen« seiner Existenz, bildet. Der aristotelische Ausdruck des Telos (τέλος) wird hier häufig mit »Ziel« oder »Zweck« übersetzt. Dabei muss man aber beachten, dass einige Konnotatio­nen des heutigen Sprachgebrauches in der aristotelischen Vorstellung des Telos gerade nicht enthalten sind. Eine Übersetzung mit »Ziel« führt in die Irre, wenn sie impliziert, dass sich ein Ziel außerhalb und jenseits des Weges dahin befindet. Das gleiche gilt für eine Übersetzung mit »Zweck«, wenn darunter die menschliche Vorstellung eines angestrebten Ziels gemeint ist.71 Das aristotelische Telos ist keine Zweckvorstellung im menschlichen Bewusstsein, sondern die Seinsgrundlage von allem, was ist. Es liegt auch nicht außerhalb des Seienden als äußerliches Ziel seiner Entwicklung, sondern ist das ihm innewohnende, anleitende Prinzip. Aristoteles geht von der Vorstellung aus, dass sich das Seiende auf der Grundlage eines ihm innewohnenden Telos bildet und sich im Fluss des Werdens, von diesem Telos geleitet, zielgerichtet bewegt und verändert. Dies ist der Kern des aristotelischen Entelechiebegriffs. Die Entelechie ist das Telos, das dem Seienden innewohnt. Dies gilt für alles, was ist: Entelechie ist nach Aristoteles die Grundlage des Seienden. Die Entelechievorstellung des Aristoteles hat einen dynamischen Charakter, sie beschreibt die Bewegung des Seienden aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit und soll damit das ausdrücken, was das Sein des Seienden in der Wirklichkeit des Werdens ausmacht. Im Entelechiegedanken wird die Herausbildung des Seienden als Entfaltungsprozess der Form in der Materie, als Verwirklichung des Unvergänglichen im Medium der Vergänglichkeit begriffen. Entelechie ist die ursprüngliche, wirkende und verwirklichende Kraft, die das Seiende dabei leitet, das zu sein, was in ihm als wesenhafte Möglichkeit angelegt ist.72 Entelechie wird in der Literatur häufig mit »Vollendung« oder »Vollkommenheit« übersetzt – diese Übersetzungen vernachlässigen aber die Tatsache, dass zwar jedes Seiende bei Aristoteles durch ein innewohnendes Telos, durch eine Entelechie gekennzeichnet ist, dass damit aber keineswegs eine verwirklichte und ausgebildete Vollkommenheit impliziert ist. Dies zeigt sich beispielsweise an einer Stelle, bei der Aristoteles Bewegung überhaupt als ἐντελέχεια ἀτελής, als unvollständige Entelechie des Beweglichen bestimmt.73 Relevant ist dies Aristoteles  |  49

insbesondere, wenn es um die aristotelische Bestimmung der Seele geht: Aristoteles definiert in einer einflussreichen Definition die Seele als die Entelechie eines natürlichen Körpers,74 der, mit entsprechenden Organen ausgestattet, die Möglichkeit zum Leben hat.75 Leben wiederum bestimmt er als das Vermögen der natürlichen Körper, sich selbst zu ernähren und zu wachsen und zu schwinden.76 Dieser Aufzählung liegt nach Picht ein Prinzip zugrunde: Das lebendige Seiende, eingebettet im Werden als Wechselspiel von Entstehen und Vergehen, besitzt das Vermögen, sich selbst zu bewegen – es trägt den Ursprung der eigenen Bewegung in sich.77 Diese Fähigkeit zur Selbstbewegung ist Merkmal alles Lebendigen. Wenn nun die Seele die Entelechie des sich selbst bewegenden Körpers ist und Bewegung als unvollkommene Entelechie des Beweglichen bestimmt wird, dann liegt es nahe, gerade in Bezug auf den Menschen und seine Seele das onto­logische Fundament der Entelechie nicht als Vollkommenheit zu verstehen, sondern von einer grundsätzlichen Unabgeschlossenheit auszugehen. Picht interpretiert die dem Menschen innewohnende Entelechie genau in diesem Sinne: »Sie ist ein In-sich-Haben des Zieles, das dieses Ziel noch nicht erreicht hat und sich deshalb auf das Ziel hin bewegen muss.«78 Um einer Verwirrung vorzubeugen, seien die zentralen aristotelischen Begriffe zur Charakterisierung des Menschen kurz reka­ pi­tuliert und in Beziehung zueinander gesetzt. Die Seele ist die En­telechie des Körpers: In dieser Aussage kommt zum Ausdruck, dass dem Menschen ein Telos, ein inneres Ziel innewohnt, dem die Instanz der Seele zugeordnet ist. Die Seele bestimmt als innewohnendes Telos die Bewegungsrichtung des menschlichen Lebens. Die Entelechie des Menschen, die einen ideellen Charakter besitzt, bildet bei Aristoteles das Wesen des Menschseins – und damit das, was den Menschen als Menschen ausmacht. Die Entelechie als das Wesen des Menschen entfaltet sich in der materiellen Sphäre des Werdens. Die Entelechie des Menschen ist das konstituierende Fun­ dament des Menschseins, das die Mannigfaltigkeit des individuel­ len Menschen in einer Ganzheit zusammenhält, dem menschlichen Leben in der Welt eine Richtung verleiht und so den Menschen als Menschen abgrenzend bestimmt. Das bisher Dargelegte verdeutlicht bereits, in welchem Sinne man bei Aristoteles von einer Einbettung des Menschen in eine von 50  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Sinnhaftigkeit durchzogene Wirklichkeit sprechen kann. Das Seiende hat bei Aristoteles ein onto­logisches Fundament im Beharrlichen jenseits der Unbeständigkeit des Werdens. Im Wesen des Seienden liegt der Ankerpunkt, der über die Vergänglichkeit der sinnlich gegebenen Wirklichkeit hinausreicht und die einzelnen Teile des Seienden zu einer Ganzheit ordnend zusammenfügt. Seiendes entsteht, indem die beständige Form in der unbeständigen Materie erscheint und so ein Seiendes in der Welt herausgestaltet. Der Materie wird der Status der Möglichkeit zugewiesen, sie ist bei Aristoteles das Medium für das Erscheinen des Wesenhaften und daher nicht das onto­logisch Erstrangige – erst durch das Hervortreten des Immateriellen in der Materie entsteht Wirklichkeit. Das Wesenhafte besitzt den Charakter eines Ziels und bestimmt die Richtung der Bewegung, die das Seiende im Verlauf seines Seins vollzieht. Das innewohnende zielhafte Telos, die Entelechie, leitet das Seiende in seiner Bewegtheit im Fluss des Werdens. All diese Momente eröffnen eine Sicht auf die Wirklichkeit, bei der das Sein eines jeden Seienden einen Grund hat, aus dem er hervorgeht. Die einzelnen Teile des Seienden sind von diesem Seinsgrund her zu einer Ganzheit geordnet. Die Bewegtheit des Seienden in der Welt hat zugleich ein Ziel, und dieses Ziel entspringt direkt aus dem Seinsgrund. Um des Telos willen ist die Genesis – in dieser paradigmatischen Aussage79 kommt zum Ausdruck, dass das Entstehen und Werden des Seienden in einer prinzipiellen Weise zielgerichtet ist. Die Weltsicht des Aristoteles ist eine teleologische, und in all ihren bisher beschriebenen Charakteristika kommt bereits zum Ausdruck, worin ihre Fremdheit für heutige Per­spek­ti­ ven des Denkens, die in einer prinzipiellen Weise nichtteleologisch operieren, besteht. Doch um die Fremdheit in ihrem vollen Ausmaß verstehen zu können, muss genauer erläutert werden, inwiefern gerade in dem teleologischen Charakter der aristotelischen Weltsicht ihre Sinnhaftigkeit, gerade auch in einem existentiellen Sinne, angelegt ist. Um des Telos willen ist die Genesis – diese Aussage besitzt eine Struktur, die bei Aristoteles häufig an besonders aufschlussreichen Stellen mit onto­logischem Charakter auftaucht. Etwas existiert um etwas willen – diese Denkformel gebraucht Aristoteles beispielsweise, um die onto­logische Struktur zu artikulieren, die in seiner Aristoteles  |  51

Weltsicht ein Seiendes zu einem lebendigen Seienden macht: Das »um etwas willen« bestimmt die Weise, wie sich die Teile des Lebendigen zu einem Ganzen zusammenfügen und auf diese Weise ein lebendiges Seiendes konstituieren. Ausgangspunkt dieser Vorstellung ist die Praxis des Werkzeuggebrauchs: Alles, was für einen Gebrauch bestimmt ist, hat die allgemeine onto­ logische Struktur, daß es »um etwas willen« da ist, und daß in diesem »um etwas willen« die Gesamtheit seiner Gestalt in allen Stücken vorgezeichnet ist. Das »um etwas willen« bestimmt die Form, in der seine Teile sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Der griechische Begriff, den Aristoteles dafür verwendet, heißt σύστασις – der Zusammenstand, lateinisch constitutio – die Konstitution. 80

Die Vorstellung des in Gebrauch befindlichen Werkzeugs wird auf den belebten Körper metaphorisch übertragen: Aristoteles geht davon aus, dass jeder Teil des Körpers eine bestimmte Funktion für das Lebewesen in seiner Ganzheit besitzt; er geht davon aus, dass dies auch für den Körper selbst gilt und dass der Körper um der Seele willen existiert. 81 Aristoteles nimmt, wie überhaupt der überwiegende Teil der tradierten Sinnentwürfe mit Transzendenz­ bezug, – im Unterschied zum modernen Denken – eine Wertung vor, nach der der Seele eine wichtigere Bedeutung beigemessen wird als dem Körper: Der Körper wird bei Aristoteles zum – allerdings unverzichtbaren – Mittel der Verwirklichung dessen, was in der Seele als Möglichkeit angelegt ist. Die Ganzheit, um deren willen bei Aristoteles die einzelnen Teile des Lebendigen existieren, ist der Vollzug des Lebens. Dieser Lebensvollzug, von Aristoteles als Praxis (πρᾶξις) charakterisiert, entspringt aus der Seele als Entelechie und ist dadurch direkt mit einem Telos verknüpft. Picht beschreibt das onto­logische Konzept wie folgt: Seele ist der Ursprung des Lebens des Körpers. Leben aber ist jener Vollzug, in dem sich die Teile des Körpers als die Organe seiner Selbstbewegung ausbilden und die in der Nahrung aufgenommene Materie so organisieren, daß die Gestalt des Körpers als einheitliches Ganzes allmählich hervortritt. Es gibt nicht den kleinsten Teil des Körpers, der nicht seine Gestalt aus der […] Entelechie des Lebens, also aus der Seele, empfinge. In jedem Organ des Körpers manifestiert sich durch seine Funktion die Einheit der Gestalt. Deshalb ist die Gestalt des Kör52  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

pers die Form, wie sich sein εἶδος, nämlich die Seele, in der Sinnlichkeit präsentiert. Das Sein des natürlichen Körpers ist σύστασις seiner Glieder zu einem Ganzen. Aber diese Konstitution, dieser Zusammenstand, der das Sein ausmacht, ist nicht statisch zu denken. Er ist jener Bewegungsvollzug, den wir »Leben« nennen. Sein wird als Leben interpretiert, und nur als Leben ist es Einheit. 82

Die Seele organisiert die Teile des Lebewesens zu einer Ganzheit und bestimmt die Bewegungsrichtung des Lebendigen – die Seele ist die Entelechie des Körpers. Die einzelnen Teile des Lebendigen sind um der Seele willen da. Der Vollzug des Lebens ist auf sein Telos gerichtet. Das Leben hat ein Wozu, um dessen willen es vollzogen, sprich: gelebt wird. Die existentielle Relevanz dieser onto­logischen Positio­nen erwächst aus der Tatsache, dass der Mensch denkend darauf Bezug nehmen kann. Das Besondere am Lebewesen Mensch ist seine Fähigkeit, sich zum Fundament seiner Existenz in eine Erkenntnisbeziehung setzen zu können. Zwar wirkt nach Aristoteles selbst im niedrigsten Tier eine göttliche Entelechie als richtunggebende Kraft, aber nur der Mensch vermag es, eine Erkenntnisbeziehung zum Ursprung seines Seins aufzubauen. Das, was die Mannigfaltigkeit seiner einzelnen Teile zu einer Einheit zusammenfasst, ist zugleich das, um dessen willen der Mensch existiert. Diesen fundierenden Grund seines Lebens kann der Mensch mit seiner Vernunft erkennend durchdringen: Der Mensch kann nach Aristoteles das Telos seines Lebens und Strebens erkennen. Die Bedeutung dieser für Aristoteles zentralen Vorstellung bringt Picht klar zum Ausdruck: Bei den Lebewesen, die das Vermögen des νοῦς nicht besitzen, vollzieht sich das Leben (also das Streben, das immanente τέλος voll auszubilden) so, daß sie sich der vollen Verwirklichung des τέλος zubewegen, ohne daß sie dieses τέλος erkennen. […] Der Mensch hingegen kann das »Worum-willen« seines Lebens, also die Einheit, die als organisierendes Prinzip die Gesamtheit seiner psycho-physischen Konstitution trägt, und der er nachstreben muß, um leben zu können, mittelbar oder unmittelbar erkennen. […] Diese Erkenntnis ist bei Aristoteles nicht äußerliche Reflexion über das Leben, sondern sie wird als ἐντελέχεια gedacht. Der νοῦς πρακτικός ist die Form, wie im Zen­t rum des menschlichen Lebens als höchste Möglichkeit nicht das verborgene In-sich-Tragen des τέλος sondern das erkennende In-sichHaben des τέλος enthalten ist. 83 Aristoteles  |  53

Hier wird das menschliche Leben als ein Prozess der Herausbildung der im Menschen angelegten Entelechie aufgefasst. Die Entelechie konstituiert den Menschen als eine Einheit und bestimmt das Ziel seines Strebens: Das Leben des Menschen ist strukturell immer auf ein Ziel gerichtet, weil die Zielgerichtetheit überhaupt den Menschen als Menschen konstituiert. Dies gilt sowohl für das Leben des einzelnen Menschen als auch für das Zusammenleben von Menschen in sozialen Strukturen. Eine menschliche Existenz gelingt in dem Maße, wie sich die Entelechie im Leben des Menschen entfalten und vervollkommnen kann. Der Mensch selbst muss aktiv darum bemüht sein, der ihm innewohnenden Entele­chie nachzustreben, insofern er am Gelingen seiner Existenz interessiert ist. Ein aktives Bemühen des Menschen um die He­ rausbildung des in ihm angelegten Telos setzt aber voraus, dass er sich denkend eine Vorstellung von diesem Telos bilden kann. Das Erkennen der Entelechie gehört beim Menschen selbst zur Entelechie: Zur größtmöglichen Vollkommenheit der Entfaltung der Entelechie im menschlichen Leben gehört ein Wissen um diese Entelechie, eine denkende Bezugnahme auf das Fundament der eigenen Existenz. In diesem Sinne ist bei Aristoteles das Leben des Menschen von einem Sinn durchzogen: Die menschliche Existenz gründet sich auf ein Fundament, das den Menschen als geordnete Einheit ins Leben ruft und der Bewegtheit des Lebens eine Richtung gibt; und dieses Fundament befindet sich in der Reichweite des menschlichen Denkens – ja der Mensch ist sogar aufgefordert, den Ursprung seiner Existenz in sein Selbstverständnis einzubinden, denn nur, wenn er den Zweck seines Lebens verstehend vor Augen hat, kann er den Verlauf seines Lebens so steuern, dass er sich in die richtige Richtung entwickelt. Das Leben des Menschen gelingt nie einfach so und von selbst, sondern nur, wenn der Mensch nach dem guten Leben strebt. Dies kann er nur tun, wenn er erkennt, worin das gute Leben besteht. Das gute Leben ist aber bei Aristoteles keine freischwebende, frei gewählte menschliche Vorstellung, es ist vielmehr im Seinsgrund, im natürlichen Wesen des Menschen verankert und steht in einer direkten Beziehung zum ordnenden Prinzip der Welt. Das gute Leben ist strukturell ein Teil der Welt. So lässt sich sagen, dass es für den Menschen bei Aristoteles von zentraler 54  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Bedeutung ist, den Sinn des Lebens zu erkennen. In diesem Sinne hat das menschliche Leben bei Aristoteles einen Sinn, und genau in diesem Sinne handelt es sich bei der Philosophie des Aristoteles um einen Sinnentwurf, bei dem der menschlichen Existenz ein klarer, in der Welt verankerter Sinn zugewiesen wird. Doch inwiefern handelt es sich bei der Bezugnahme auf das sinnstiftende Fundament des menschlichen Lebens um ein Erken­ nen? Erkennen ist stets auf Wahrheit gerichtet. Aristoteles unterscheidet verschiedene Vermögen, mit denen der Mensch auf die Wahrheit Bezug nehmen kann: Es sei angenommen, daß es fünf Dispositio­nen gibt, mit denen die Seele durch Bejahen und Verneinen die Wahrheit trifft: Herstellungswissen [τέχνη], Wissenschaft [ἐπιστήμη], Klugheit [φρόνησις], Weisheit [σοφία], intuitives Denken [νοῦς]. Vermutung [ὑπόληψις] und Meinung [δόξα] schließen wir nicht ein, weil bei ihnen Täuschung möglich ist. 84

Eine kurze Erörterung dieser Vermögen ist hilfreich, um einen wichtigen Unterschied zwischen heutigen Denkweisen und den umfassenden antiken Sinnentwürfen zu erkennen. Das Herstellungswissen (τέχνη) bezieht sich bei Aristoteles – genau wie die Klugheit (φρόνησις) – auf etwas, das »so oder anders sein kann«, 85 und damit »weder auf das, was mit Notwendigkeit ist oder entsteht, noch auf das, was von Natur aus entsteht, weil dies seinen Ursprung in sich selbst hat«. 86 Beide Vermögen beziehen sich auf den menschlichen Umgang mit kontingenten, vergänglichen Dingen in der Welt, erstrecken sich aber nicht auf das, was darüber hinausgeht, wie etwa den konstituierenden Kern von Lebendigkeit. Das Erkennen des sinntragenden Fundamentes der menschlichen Existenz ist bei Aristoteles kein Ergebnis eines planmäßigen Herstellungsprozesses (ποίησις), bei dem sich der Mensch überlegend etwas ausdenken würde, was, aus ihm selbst hervorgehend, sich in der Welt als sein Werk verwirklichen könnte: Der Mensch bei Aris­ toteles erschafft den Sinn seines Lebens gerade nicht aus sich selbst heraus. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zum heutigen Denken, und dieser Unterschied wird noch ausführlich in dieser Arbeit thematisiert werden. 87 Den erkennenden Zugang zum sinntragenden Fundament erringt der Mensch bei Aristoteles nicht durch die Aristoteles  |  55

Herausbildung von Herstellungswissen, sondern durch die Entfaltung des in ihm angelegten νοῦς, der in der obigen Übersetzung mit »intuitives Denken« übersetzt wird. Der Aristotelische Nous (νοῦς) wird häufig mit Begriffen wie Intellekt, Verstand, Vernunft oder Geist übersetzt, 88 bezeichnet aber nicht das Denken im Sinne eines argumentierenden Operierens mit Begriffen, sondern ein Denkvermögen, das eher den Charakter eines geistigen Anschauens besitzt und die Prinzipien (ἀρχή) des Seienden zum Gegenstand hat. 89 Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zum sinnlichen Wahrnehmen (αἴσθησις): So wie die Wahrnehmung die materielle Seite des Seienden in seiner Gestalt (μορφή) erfasst, so erfasst der Nous bei Aristoteles die formgebende Grundlage des Seienden – das εἶδος, »die reine Struktur dessen, was ein Seiendes immer schon war«.90 Picht beschreibt die Wirkung des Aristotelischen Nous wie folgt: Wo das Licht des göttlichen νοῦς erstrahlt, treten für die menschliche Seele, die die Empfänglichkeit für solche Anblicke besitzt, die reinen und unvergänglichen Strukturen dessen, was das Seiende als solches ist, für ihre geistige Anschauung hervor.91

Mit dem Nous besitzt der Mensch ein Vermögen, mit dem er den konstituierenden intelligiblen Ursprung des Seienden aufnehmen kann; und auch wenn dieses Vermögen mit dem Aufgenommenen nicht identisch ist, ist es doch von der gleichen Beschaffenheit – nicht dem Werden unterworfen, nicht mit der Materie vermischt und daher nicht körperlich.92 Dieser Zugang zum ursprünglichen Wesen des Seienden durch geistige Anschauung eröffnet dem Menschen die Möglichkeit, das innerweltlich Seiende zu dessen wesenhaften Fundamenten denkend in eine Beziehung zu setzen. Die geistige Anschauung des Ursprungs bildet die Grundlage für eine argumentierende Verknüpfung der Wahrnehmungen des Seienden mit dem Wesen des Seienden, das durch Wahrnehmung allein nicht erfassbar ist. Die deduktive oder induktive, denkende Inbezugsetzung des Seienden mit seinem Wesen nennt Aristoteles Wissenschaft (ἐπιστήμη): [D]enn Wissenschaft [ἐπιστήμη] findet bei einem jeden Gegenstande dann statt, wenn wir sein Wesenswas erkannt haben.93 56  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Von zentraler Bedeutung ist hierbei, dass Wissenschaft nach Aristoteles erst durch die geistige Anschauung des Ursprung gebenden Prinzips ermöglicht wird – nur auf dieser Grundlage kann ein argumentierendes Zurückführen des konkreten Seienden auf sein Wesen stattfinden: Ferner gilt jede Wissenschaft [ἐπιστήμη] als lehrbar und ihr Gegenstand als lernbar. Jede Lehre geht aber von bereits Bekanntem aus […]; denn sie geschieht teils durch Induktion [ἐπαγωγή], teils durch deduktives Schließen [συλλογισμός]. Die Induktion nun führt zur Erkenntnis des Ausgangspunkts [ἀρχή], das heißt des Allgemeinen [καθόλου], während der deduktive Schluß vom Allgemeinen ausgeht. Es gibt demnach Ausgangspunkte, die Prämissen von Schlüssen, aber keine Folgerungen von Schlüssen sind; also werden sie durch Induk­ tion gewonnen. Die Wissenschaft ist folglich eine Disposition, die sich im Beweisen betätigt […].94 Da die wissenschaftliche Erkenntnis ein Urteil [ὑπόληψις] über das Allgemeine und Notwendige ist, da es aber für alles Beweisbare und für jede Wissenschaft Prinzipien [ἀρχή] gibt – denn die Wissenschaft enthält Begründung –, wird der Ausgangspunkt [ἀρχή] des Wiss­baren weder Sache der Wissenschaft noch des Herstellungswissens noch der Klugheit sein. [… D]ann bleibt nur, daß es die intuitive Vernunft [νοῦς] ist, welche die Prinzipien erfaßt. 95

Die Tätigkeit der Wissenschaft als denkende Inbezugsetzung des Seienden mit seinem Wesen beruht demnach für Aristoteles auf dem geistigen Erblicken der Grundlagen dieser Inbezugsetzung, die jedoch nicht über das argumentierende Denken, sondern nur durch geistige Anschauung erfasst werden können, weil sie jenseits des kontingenten Werdens liegen. Doch inwiefern hat der Mensch, der durch seine irdische Unvollkommenheit, durch sein Eingebettetsein in das unbeständige Werden prinzipiell beschränkt ist, überhaupt die Fähigkeit, das Werden zu transzendieren und das beständige Wesenhafte zu erblicken? Dass der Mensch tatsächlich das Vermögen besitzt, ungetrübt die Wahrheit zu erkennen, zeigt sich an den Erkenntnissen der Mathematik. Die mathematischen Erkenntnisse besitzen eine Gültigkeit, die von der Vergänglichkeit der sinnlich gegebenen Wirklichkeit nicht tangiert wird, und mathematische Strukturen lassen sich bei ganz unterschiedlichen Phänomenen der Welt als Grundlage identifizieren. Spätestens Aristoteles  |  57

seit Platon dient die Mathematik als Orientierungspunkt für die Philosophie und verheißt durch die Tatsache, dass mathema­tische Erkenntnisse von der Unvollkommenheit des Erkennenden und von der Unbeständigkeit des Werdens nicht betroffen sind, dem Menschen in Analogie dazu die Möglichkeit, auch in anderen Bereichen unerschütterlich beständige Erkenntnisse gewinnen zu können. Die Verheißung einer solchen Möglichkeit ist befeuert von der Überzeugung, dass insbesondere die zentralen existentiell rele­ vanten Erkenntnisse, von denen das Gelingen oder das Scheitern des menschlichen Lebens abhängen, von dieser Reinheit beschaffen sind. Genau in diesem Sinne ist auch Aristoteles davon überzeugt, dass der Mensch mit dem Nous ein Vermögen besitzt, mit dem er ungetrübt die existentiell entscheidende Wahrheit erkennen kann. Der Einblick des Menschen in existentiell relevante Wahrheiten hat einen eigentümlichen Charakter. Weiter oben wurde gezeigt, dass Aristoteles beim innerweltlichen Seienden die Unterscheidung zwischen dem Seienden selbst und dem Sein dieses Seienden, seinem Wesen zieht. Für manches Seiende gilt aber diese Unterscheidung nicht, weil manchmal das Seiende mit seinem Wesen zusammenfällt. In diesem Fall ist das Seiende nur als reine Idee (εἶδος) erfassbar, und damit dem Menschen nur über das Vermögen des Nous zugänglich. Hierzu gehören auch nicht zuletzt die existentiell entscheidenden Ideen des Guten und des Schönen.96 Das Wesen des Menschen beruht auf seinem Telos, und das Telos ist dem Menschen in seiner geistigen Anschauung zugänglich. Wenn der Mensch über seine konkrete Lebenssituation reflektiert, kann er die einzelnen Momente seiner Situation denkend auf sein eigenes Wesen, seine Entelechie, zurückbeziehen und so sicheres Wissen über das erlangen, was zu tun ist, um glückselig zu werden. Dies ist der zentrale Kern des aristotelischen Sinnentwurfs. Doch inwiefern hängt der Einblick in das Wesen des Menschen mit seiner Glückseligkeit zusammen? Der Zusammenhang zwischen dem Einblick in das Wesen des Menschseins und dem Glückseligwerden ergibt sich bei Aristoteles direkt aus der menschlichen Natur. Dieser Zusammenhang ist auch für den zeitgenössischen Aristoteliker Alasdair MacIntyre das, worin sich im Kern die Philosophie des Aristoteles von heutigen Denkweisen unterscheidet.97 Entscheidend ist bei Aristoteles, dass der Mensch die Frage, wie er 58  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

leben soll, mit Hilfe seiner Vernunft so beantworten kann, dass die Antwort den Charakter einer Wahrheit besitzt. MacIntyre weist auf eine wichtige Struktur im aristotelischen Denken hin: Aristoteles unterscheidet zwischen dem Menschen, wie er faktisch ist und wie er sein könnte, wenn er das in ihm angelegte Ziel realisierte. Die Ethik weist dem Menschen den Weg, mit Hilfe seiner Vernunft das in ihm angelegte Ziel von der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu überführen.98 Bei Aristoteles besitzt der Mensch eine wesenhafte Natur, die als Möglichkeit stets in ihm angelegt ist und die es zu verwirklichen gilt, um den defizienten faktischen Zustand der menschlichen Unvollkommenheit zu überwinden und Glückseligkeit als höchstes Gut zu erlangen. Die aristotelische Sinnsetzung basiert auf der Vorstellung eines essentiellen menschlichen Wesens, das es innerhalb der menschlichen Existenz mit Hilfe der Vernunft von der Potentialität in die Aktualität zu überführen gilt. Die Methodik, die den Menschen in die Lage versetzen soll, diesen Übergang zu vollziehen, ist die Ethik: Die wahre Natur, der wahre Zweck des Menschen kann nur durch die konsequente Kultivierung von Tugenden und Unterdrückung von Lastern realisiert werden. Sich dem zu widersetzen heißt, frustriert und unvollkommen zu sein und das Gut des rationalen Glücks zu versäumen, das dem Menschen offen steht. Die menschliche Vernunft spielt hierbei eine mehrfach entscheidende Rolle: Sie verkörpert bei dem rationalen Vernunftwesen Mensch das spezifisch Menschliche, sie begründet den Zustand des höchsten Glücks als einer auf nichts anderes mehr verweisenden, reinen und vollkommenen, vernünftigen Einsicht und sie enthüllt zugleich dem Menschen den Sinn seiner Existenz – das oberste Ziel seines Daseins – und den Weg, ihn zu realisieren. Formal bestimmt Aristoteles Glückseligkeit als das Telos des menschlichen Handelns,99 inhaltlich als ein Leben, das der reinen Betrachtung gewidmet ist: Glück ist für ihn das Aufgehen in der Kontemplativität der reinen Theorie. Nach Aristoteles ist dieser bios theoretikos diejenige Lebensweise, die am ehesten durch Kontinuität, Reinheit und Dauerhaftigkeit gekennzeichnet ist.100 Sie ist auch die Lebensweise, die im höchsten Maße Autarkie, also Selbstbestimmtheit oder Unabhängigkeit, realisiert.101 Auch Aristoteles erkennt, dass der Mensch in einer prinzipiellen Weise von unbeAristoteles  |  59

ständigen äußeren Gütern wie Nahrung oder Kleidung abhängig ist.102 Diese Abhängigkeit ist für ihn ein defizientes Merkmal der menschlichen Existenz; für ihn sind Unbeständigkeit, Unvollkommenheit und Veränderlichkeit negativ belegt. Darin stimmt er mit den meisten Denkern der großen Sinnentwürfe der Überlieferung überein. Der Wert der Autarkie liegt in der Unabhängigkeit vom Unbeständigen. Folgende Passage zeigt, wie sich Aristoteles das Glück konkret vorstellt und welche Maßstäbe er an ein glückliches Leben ansetzt: Wenn nun unter den Handlungen aus den Tugenden die politischen und kriegerischen Handlungen an Werthaftigkeit […] und Größe hervorragen, diese aber ohne Muße sind, nach einem bestimmten Ziel streben und nicht ihrer selbst wegen wählenswert sind, wenn andererseits gilt, das sich die Tätigkeit der intuitiven Vernunft [νοῦς] als eine betrachtende [θεωρητικὴ] durch ihre Ernsthaftigkeit […] auszeichnet, daß sie nach keinem weiteren Ziel außer sich selbst strebt, daß sie eine ihr eigentümliche Lust besitzt (welche die Tätigkeit verstärkt), daß ferner die Autarkie sowie die Muße und das Freisein von Mühe, soweit es dem Menschen möglich ist, und alles andere, was dem Glückseligen […] zugeschrieben wird, offensichtlich mit der Tätigkeit verbunden sind – wenn das so ist, dann wird das vollkommene Glück des Menschen also diese Tätigkeit sein, falls sie die vollständige Länge eines Lebens einnimmt; denn nichts, was zum Glück gehört, ist unvollständig.103

Nur die betrachtende Tätigkeit der »intuitiven Vernunft« des Nous erfüllt alle Anforderungen, die Aristoteles an das gute Leben stellt. Hierbei gehen diese Vorstellungen über das gute Leben direkt aus der aristotelischen Auffassung der menschlichen Natur hervor – sie sind im Wesen des Menschen angelegt: Es wäre daher seltsam, wenn der Mensch nicht sein eigenes Leben wählte, sondern das eines anderen Wesens. […] Was einem Lebewesen von Natur eigentümlich ist, das ist jeweils für es das Beste und Lustvollste. Für den Menschen ist dies also das Leben in der Betätigung der intuitiven Vernunft, wenn der Mensch gerade diese am meisten ist. Dieses Leben ist daher auch das glücklichste.104

In der Bestimmung des menschlichen Wesens als Vernünftigkeit liegt auch die Grundlage der Abgrenzung vom Tierischen, vom bloß Animalischen im Menschen. Hierzu gehört neben reiner Triebhaftigkeit insbesondere auch die ausschließliche Fokussierung auf die 60  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Befriedigung von Bedürfnissen, selbst wenn diese sich im Rahmen menschlicher Rationalität entfalten sollte. Maximilian Forschner beschreibt die aristotelische Positionierung gerade auch im Hinblick auf die Unterschiede zu heutigen Sichtweisen sehr treffend: Und die Fähigkeit zur Vernunft geht für Aristoteles gerade nicht in einer Fähigkeit zur Ausbildung von Funktio­nen des Instinktersatzes im Dienst der Selbst- und Arterhaltung auf. Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist vielmehr die Fähigkeit, objektiv gültigen Vorstellungen von wahr und falsch, von schön und häßlich, von gerecht und ungerecht zu entwickeln, die den Horizont menschlicher Bedürfnisbefriedigung übersteigen. Im Vollzug von Handlungen, die diesen Vorstellungen entsprechen, liegt das den Menschen vom Tier Unterscheidende; und nur im exzellenten Vollzug solcher Handlungen, nicht aber in Akten überlegter, gesteigerter und künstlich vermittelter Bedürfnisbefriedigung ist das dem Menschen mögliche, artspezifische Glück zu finden.105

Der Mensch gelangt zur Glückseligkeit nicht, indem er das Tierische in sich kultiviert, und auch nicht, indem er raffinierte Weisen der Bedürfnisbefriedigung ersinnt, sondern indem er das spezifisch Menschliche in sich, die in ihm angelegte Entelechie, entfaltet. Aus heutiger Perspektive mutet eine solche Position eher fremd an – nicht nur, weil in den bestimmenden Strömungen des modernen Denkens die Vorstellung von einem menschlichen Wesen fallengelassen wurde, sondern auch, weil die Fokussierung auf Bedürfnisbefriedigung zum Kern vieler moderner Lebensweisen gehört.106 Bei all diesen Positio­nen des Aristoteles handelt es sich nicht um isolierte Konzepte des guten Lebens, bei denen das Gute aus Einzelmomenten oder Einzelbedürfnissen des menschlichen Lebens entspringen würde, sondern um einen umfassenden Sinnentwurf, bei dem die Vorstellungen über das gute Leben mit den Vorstellungen über Natur, Welt und Mensch eine innere Einheit bilden. Zentraler Teil dieses Sinnentwurfs ist die Vorstellung, dass im Menschen und in der Welt etwas Göttliches waltet, wobei dieses Göttliche als etwas Höheres verstanden wird, das über dem bloß Menschlichen und Weltlichen steht. Dieses Höhere verleiht dem Menschen und seiner Welt Richtung und Bedeutsamkeit. Die Vorstellung des Göttlichen, die in den meisten umgreifenden Sinnentwürfen mit Transzendenzbezug in irgendeiner Form Aristoteles  |  61

präsent ist, spielt auch bei Aristoteles eine zentrale Rolle. Die inhaltliche Bestimmung der höchsten Glückseligkeit als ein Leben, das der theoretischen Betrachtung gewidmet ist, beruht strukturell auf der Vorstellung des Göttlichen: Ein so beschaffenes Leben aber ist wohl höher, als es dem Menschen entspricht. Denn so wird er nicht leben, insofern er Mensch ist, sondern insofern etwas Göttliches [θεῖον] in ihm vorhanden ist. Und in dem Maß, in dem dieses dem Zusammengesetzten [σύνθετον] überlegen ist, in dem Maß ist auch seine Tätigkeit derjenigen überlegen, die aus der anderen Gutheit [der des Charakters, Anm. d. Übers.] hervorgeht. Wenn also die intuitive Vernunft [νοῦς] im Vergleich mit dem Menschen göttlich ist, dann ist auch das Leben in der Betätigung dieser Vernunft göttlich im Vergleich mit dem menschlichen Leben.107

Im Menschen sind nach Aristoteles zwei Arten des Guten angelegt: das ausschließlich menschliche Gute und das im Menschen waltende göttliche Gute. Im tätigen, politisch-praktischen Leben kann der Mensch seine charakterlichen Tugenden entfalten und so das menschliche Gute in sich zur Geltung bringen. Eine solche Lebensweise äußert sich in erster Linie im sittlichen Zusammenleben mit anderen Menschen: In zweiter Linie glücklich ist das Leben im Sinn der anderen Gutheit [der des Charakters, Anm. d. Übers.]. Denn die Betätigungen [ἐνέργεια] dieser Gutheit sind menschlicher Art: Das Gerechte, das Tapfere sowie das Übrige, worin sich die Tugenden betätigen, üben wir gegeneinander aus, indem wir im vertraglichen Umgang […], in Notlagen […], in Handlungen [πρᾶξις] aller Art und bei den Affekten [πάθος] das beachten, was einem jeden angemessen […] ist. Dies alles aber sind offenbar menschliche Dinge.108

Aristoteles erkennt durchaus die Berechtigung einer derartigen Lebensweise an, aber für ihn ist – zumindest in seiner Nikomachischen Ethik – ein solches Leben nur die zweitbeste Lebensweise. Sie ist eine Entfaltung des rein Menschlichen im Menschen. Für Aristoteles ist aber der Mensch noch zu etwas Höherem befähigt, deswegen kann für ihn ein Leben, das sich nur am rein Menschlichen orientiert, nie die Vollkommenheit erreichen, die sich am Göttlichen ausrichtet. Das theoretisch-kontemplative Leben ist die Lebensweise, die 62  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

sich am Göttlichen orientiert. Sie ist es, die das Vermögen der geistigen Anschauung, den aristotelischen Nous im Menschen entfaltet. Dieses Vermögen ist aber kein rein menschliches Vermögen wie etwa das Wahrnehmungsvermögen. Der Nous ist nicht das subjektive Erkenntnisvermögen des Menschen, nicht die individuelle menschliche Vernunft – der Nous ist der Nous Gottes, die göttliche Vernunft, die im Menschen wirkt. Gott selbst ist die höchste Ausprägung des Seins, seine Aktivität besteht in der Entfaltung des Nous, in der erkennenden Schau seiner selbst, und dies ist zugleich die höchste Ausprägung von Glückseligkeit. Auch im Menschen wirkt der Nous Gottes, und indem der Mensch den Nous in sich zur Geltung kommen lässt, entfaltet er nicht seine eigene Individualität, sondern die allgemeine göttliche Vernünftigkeit, an der er teilhat.109 Aristoteles steht mit dieser Vorstellung noch stark unter dem Einfluss des mythischen Denkens.110 Picht beschreibt das Wirken des Nous bei Aristoteles wie folgt: – Auch wo vom νοῦς des Menschen die Rede ist, muß dieser νοῦς als göttlicher νοῦς verstanden werden. – Der göttliche νοῦς ist kraft derselben Eigenschaften, kraft derer er die Wahrheit erkennt, der Beweger des Kosmos.111

Die erste Feststellung scheint relativ klar zu sein: Das Vermögen des Nous ist die überindividuelle Teilhabe des Menschen an der göttlichen Vernünftigkeit. Der Sinn der zweiten Feststellung ist, insbesondere für das neuzeitliche Denken, schwerer zugänglich. Verständlich wird er durch einen Hinweis auf eine Beziehung, die vor dem Hintergrund der bisherigen Erörterungen klarer vor Augen liegt: Bei Aristoteles gibt es einen starken immanenten Zusammenhang zwischen Wahrheit, Göttlichkeit und Glückseligkeit. In diesen Zusammenhang gehört aber auch das Sein. Die miteinander verknüpften Phänomene »Wahrheit«, »Göttlichkeit« und »Glückseligkeit« können bei Aristoteles weder als subjektive Phänomene des menschlichen Geistes noch als eine seelische Beziehung zwischen Mensch und Gott unter Ausklammerung der Welt interpretiert werden. Glückseligkeit ist eine Hervorbringung der göttlichen Wahrheit, und die Wahrheit selbst ist ein Zugang zum wesenhaften Sein. So bilden Wahrheit, Göttlichkeit und Glückseligkeit zusammen mit dem Sein einen unauflöslichen Zusammenhang. Eine traAristoteles  |  63

gende Säule des aristotelischen Gedankengebäudes ist hierbei der Unterschied zwischen dem sinnlich zugänglichen Seienden und dem dahinterliegenden wesenhaften Sein dieses Seienden. Das Sein bildet den wesenhaften Ursprung und das Fundament des Seienden. Das Seiende, eingebettet in das Werden, ist dem Menschen sinnlich zugänglich, das Sein des Seienden hingegen ist unmittelbar nur mit der intuitiven Anschauung des Nous zu erfassen. Die Beziehung zwischen dem Seienden und seinem Sein kann der Mensch durch Wissenschaft reflektieren – er kann durch ἐπιστήμη das sinnlich zugängliche Seiende denkend auf sein wesenhaftes Sein zurückführen. Hierbei gilt: Je mehr sich der Mensch der Beschäftigung mit dem wesenhaften Sein hingibt, je mehr er das Göttliche in sich selbst entfaltet, desto wirksamer ist die Wahrheit in ihm und desto glückseliger wird er. Insbesondere zwischen dem Sein und der Wahrheit, die bei Aristoteles eine unmittelbare existentielle Relevanz besitzt, besteht eine wechselseitige Beziehung, und darauf bezieht sich die zweite Aussage von Picht im vorangehenden Zitat. Aristoteles vertritt nach Picht eine Sicht auf die Wirklichkeit, die auf Parmenides zurückgeht und in der Aussage »denn das Selbe ist zu schauen und zu sein«112 zum Ausdruck kommt.113 Das Sein wird hier onto­logisch mit der Wahrheit verknüpft: Das Sein wird als ein Sich-Manifestieren aufgefasst, bei dem ein Verborgenes, nur der Möglichkeit nach Seiendes ans Licht der Wirklichkeit und damit in die Sphäre der Wahrheit tritt.114 Es gilt: Ohne das Sein gibt es kein Schauen, und ohne das Schauen gibt es kein Sein. Der erste Teil des Satzes leuchtet intuitiv ein, der zweite hingegen nicht: Der Mensch kann das Seiende nur wahrnehmen, weil es ihn und das Seiende gibt – aber das Seiende gibt es unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung, die Welt würde auch ohne den Menschen weiterexistieren. Wenn vom Schauen als Bedingung des Seins die Rede ist, ist daher nicht das sinnliche Wahrnehmen des Menschen gemeint, sondern das geistige Schauen des göttlichen Nous, an dem der Mensch partizipieren kann. In dieser Vorstellung ist ein Sei­ endes nur ein Seiendes, insofern es vom Licht der göttlichen Ver­ nunft beschienen wird und so in den Bereich der Wahrheit eintritt. Damit konstituiert das göttliche Schauen die zusammenhängende Gesamtheit des Seienden, die Welt als eine geordnete Einheit. Das Seiende wird zum Seienden durch die Einbettung in die göttliche 64  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Ordnung: Die Welt hat einen göttlichen Charakter, weil sie vom Göttlichen zusammengehalten wird. Die Einheit der Welt ist damit gerade keine Synthese des Menschen, wie es Kant, im Geiste des modernen Denkens, sehr einflussreich formuliert hat – die Position von Aristoteles ist das genaue Gegenteil davon. Picht bringt es prägnant auf den Punkt: Das Wesen der Einheit, die die Welt zusammenhält, ist die Wahrheit, ist die Zusammengehörigkeit von Schauen und Sein.115

Hierbei muss noch bedacht werden, dass Aristoteles nicht wie das Christentum von einem Schöpfergott ausgeht, der die Welt aus dem Nichts erschaffen hätte. Aristoteles bezieht die Position, dass die Welt bereits ewig besteht. Worin sich bei Aristoteles die Göttlichkeit des Gottes äußert, ist die Geordnetheit des Weltzusammenhangs. Zu dem göttlichen Ursprung der Weltordnung hat der Mensch Zugang, insofern in ihm derselbe Nous – wenn auch mit einem etwas anderen Charakter – wirkt. Der tätige Nous Gottes spiegelt sich in dem empfangenden Nous des vergänglichen Menschen wieder. Im Aufleuchten des tätigen Nous wird das spezifisch Menschliche im Menschen transzendiert und der Zugang des Menschen zum Göttlichen geöffnet. Der Mensch kann in sich selbst den göttlichen Nous zur Wirkung kommen lassen und so Zugang zur tragenden Wahrheit des Lebens erlangen. In diesem Schauen des Urgrundes liegt das höchste Glück des Menschen. Picht beschreibt diesen Zusammenhang wie folgt: [W]ir [haben] gesehen, daß der Mensch kraft des Vermögens des νοῦς so leben kann, daß das in seiner Entelechie enthaltene τέλος nicht nur verborgen in ihm wirkt wie bei den übrigen Lebewesen, sondern ihm offen vor Augen liegt. Dieses Sich-Offenbaren der tragenden Einheit des Lebens, also seine Wahrheit, ist zugleich der höchste Vollzug von Leben. […] Der Mensch aber hat durch das Vermögen des νοῦς παθητικός als seine höchste Möglichkeit das Vermögen, die in der ­Seele als Erster Entelechie noch verborgene Wahrheit dieser Entelechie zu erkennen. Er kann mit jeder Wahrheit, die er erkennt, zugleich das Licht des νοῦς ποιητικός erkennen, in dem sie sichtbar wird. Im Augenblick eines solchen Erkennens ist auch das Denken des Menschen […] die höchste Form des Lebens überhaupt. Sie trägt bei Aristoteles den Namen εὐδαιμονία.116 Aristoteles  |  65

Ein menschliches Leben, das im Bewusstsein des eigenen Telos vollzogen wird, ist nach Aristoteles ein glückseliges Leben. Die Wahrheit zeigt dem Menschen den Weg zur Glückseligkeit auf, in diesem Sinne hat die Wahrheit bei Aristoteles eine direkte existentielle Relevanz. Ein Bewusstsein von der eigenen Situation, ein Wissen um die eigene Entelechie, gehört zum Wesen des Menschen und ist stets der Möglichkeit nach im Menschen angelegt. Der Mensch ist aufgefordert, diese Möglichkeit zu realisieren und Wissen über die eigene Existenz zu erlangen. Wissen besteht da­ mit nicht aus einer Ansammlung von einzelnen Informatio­nen oder Fertigkeiten, sondern bewirkt eine fundamentale Veränderung der Seinsverfassung des Menschen:117 Echtes Wissen ist bei Aristoteles existentiell relevant, es bewirkt die Entfaltung der im Menschen angelegten Entelechie und bildet damit die Grundlage der Glückseligkeit. Existentiell relevantes Wissen kann es aber nur geben, weil die Welt eine göttliche Ordnung bildet und weil die ordnende Kraft des Göttlichen auch im Menschen wirksam ist, wobei zwischen dem göttlichen Ordnen und dem Schauen der Wahrheit eine innere Verbindung besteht. Die selig machende Wahrheit ist ein Einblick in die Ordnungsprinzipien der Welt und des Menschen. Bei Aristoteles äußert sich die Göttlichkeit des Gottes in der Geordnetheit der Welt – im Kosmos als geordnete Ganzheit des Seienden im Großen und im Seienden selbst als geordnete Ganzheit seiner Teile im Kleinen. Auf beiden Ebenen gilt, dass der geordnete Zusammenhang der Teile mehr ist als ihre Summe, und dieses Mehr ist die ordnende Kraft des Göttlichen. Das ordnende, Einheit gebende Prinzip besitzt einen göttlichen Charakter. Auf der Ebene des Seienden bildet sich, insbesondere bei dem lebendigen Seienden, eine geordnete Einheit der aus Materie bestehenden Teile. Auf der Ebene der Gesamtheit des Seienden bildet sich ebenso eine Einheit – der Kosmos als das geordnete All des Seienden. Der göttliche Nous durchdringt ordnend das Seiende, stellt es ins Licht der Wahrheit und fügt es so in die Ordnung der Welt ein. Die Seele bildet im Menschen den Ort, an dem sich der göttliche Nous entfalten kann. So zeigt sich dem Menschen über die Seele der reine Anblick des Seienden, der sonst durch das Werden getrübt ist. Auf diesem Weg kann der Mensch das erkennen, was über das Gelingen oder Schei66  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

tern seiner Existenz entscheidet: sein Wesen als das ordnende und Einheit gebende Prinzip der Mannigfaltigkeit seiner körperlichen und geistigen Existenz. Die Seele als Entelechie des Körpers ist die Verbindung des Menschen zum Göttlichen. In der Seele waltet dieselbe ordnende Kraft, die auch die Welt und das Seiende in der Welt ordnet. Die Welt ist nicht der Schauplatz des Zufalls, sondern der göttlichen Ordnung, die sich in der Schönheit der Natur offenbart: Denn in allem ist etwas Naturgemäßes und Schönes. Denn in den Werken der Natur und gerade in ihnen ist enthalten, was nicht auf zufällige Weise sondern um einer immanenten Struktur willen ist. Die vollendete Gestalt, um derentwillen etwas seine Konstitution hat und ans Licht getreten ist, hat ihren Platz im Bereich des Schönen.118

Die Sinnhaftigkeit der geordneten Welt, zusammengehalten und konstituiert von einer existentiell relevanten, göttlichen Wahrheit, wird dem Menschen in der Schönheit der Natur bewusst. In ihrer Schönheit manifestiert sich die Göttlichkeit der Welt. An dieser Stelle der Untersuchung steht die Befremdlichkeit der meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit bereits in einer größeren Klarheit vor Augen: Heutigen, durch das wissenschaftliche Denken geprägten Per­spek­ti­ven ist die Vorstellung einer geordneten Welt mit göttlichem Ursprung genauso fremd wie der Gedanke, dass der Mensch durch ein Erkennen der gött­ lichen Ursprungsprinzipien der Welt den Weg zu einer gelingenden Existenz erblicken könnte. Ebenso fremd ist die Vorstellung eines menschlichen Wesens, worin das gute Leben bereits vorgezeichnet wäre. Nur mit Schwierigkeiten lässt sich mit dem modernen Begriffsapparat eine Lebensweise beschreiben, das der Form nach durch ein Streben nach etwas Höherem als das bloß Menschliche und Weltliche gekennzeichnet ist. Da eine moderne Lebensweise, die in erster Linie durch Wissenschaft und Technik bestimmt wird, »die Rechtfertigung ihres Tuns überwiegend aus der Dienst- und Nutzenfunktion für die menschliche Praxis der Leidbehebung und Bedürfnisbefriedigung bezieht«,119 liegt es eher fern, die Erfüllung des menschlichen Lebens in der theoretischen Kontemplation zu suchen. Doch genau diese fremd gewordenen Vorstellungen sind die tragenden Säulen der umgreifenden Sinnentwürfe der Vergangenheit. Hierin liegt der große Abstand, den Menschen heute Aristoteles  |  67

empfinden können, wenn sie sich den Sinngehalten der Vergangenheit zuwenden. Zwar heißt dies nicht, dass es keine Momente gäbe, bei denen man sich in der Lektüre antiker Texte wiedererkennen könnte – man muss sich jedoch klarmachen, wie immens die Kluft zu den überlieferten meta­phy­sischen Sinnenwürfen, trotz möglicher Nähe und Vertrautheit, in Wirklichkeit ist. Die Sinnentwürfe der Vergangenheit und nicht zuletzt auch die Fremdheit der ihnen zugrundeliegenden Denkweisen können jedoch auch in der heutigen Situation eine außerordentliche Relevanz besitzen. Das heutige Interesse an den überlieferten meta­ phy­sischen Sinnentwürfen geht über das Gelehrteninteresse an ver­ gangenen Kulturen hinaus. Dies zeigt sich in der Philosophie von Georg Picht, dessen Reflexionen über die Philosophie des Aristoteles mit einer interessanten Zeitdiagnose einhergehen. Diese beruht im Kern auf einer Kontrastierung von heutigen Denkweisen mit den fremd gewordenen Kerngedanken der aristotelischen Philosophie. Eine kurze Vorstellung dieser Zeitdiagnose kann Aufschluss darüber geben, inwiefern heute das antike Denken gerade in seiner Fremdheit bedeutsam sein kann. Wie in diesem Kapitel dargelegt richtet Aristoteles sein Augenmerk in erster Linie auf das Wesen dessen, was ist. Dieses Wesen ist das konstituierende Prinzip des Seienden, die Grundlage seiner Existenz als eine Ganzheit. Um ein Seiendes zu erforschen, muss nach Aristoteles zuerst dessen Wesen ins Auge gefasst werden: Erst nachdem ein Verständnis für das Seiende in seiner Ganzheit entwickelt wurde, ist es angebracht, die einzelnen Eigenschaften des Seienden zu ergründen. Diese Vorgehensweise wendet Aristoteles paradigmatisch bei der Untersuchung der Seele an, wenn er primär nach dem Wesen und erst sekundär nach den einzelnen Eigenschaften fragt: Wir suchen ihre Natur [φύσις] und ihr Wesen [οὐσία] zu betrachten und zu erkennen, ferner alle Eigenschaften, die ihr zukommen.120

Nach Picht beruht der Erfolg der neuzeitlichen Wissenschaften darauf, dass genau diese Herangehensweise abgelehnt wird, dass die Frage nach dem Wesen oder nach der übergreifenden Ganzheit methodisch ausgeblendet wird und dass statt dessen einzelne, isolierte Fragestellungen aufgeworfen und erforscht werden: 68  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Der große Aufschwung der neuzeitlichen Naturwissenschaft beginnt in dem Augenblick, wo Galilei und seine Zeitgenossen sich in einer Revolte gegen den Aristotelismus der Scholastik von dieser aristotelischen Forderung abkehren und nicht mehr von Definitio­nen des Wesens der Dinge sondern von Experimenten ausgehen, die über streng isolierte Aspekte von bestimmten Naturprozessen Auskunft geben. […] Die staunenswerte Entwicklung der Naturwissenschaften hat uns darüber belehrt, welche Erkenntnismöglichkeiten sich eröffnen, wenn man bewußt darauf verzichtet, wissen zu wollen, was das, was hier untersucht wird, eigentlich ist.121

Die neuzeitliche Wissenschaft gewinnt ihre Erkenntnisse, indem sie eng eingegrenzte Ausschnitte der Natur so isoliert, dass einzelne Aspekte von Naturprozessen im Laborexperiment geprüft, gemessen und durch mathematische Gleichungen beschrieben werden können. Diese Vorgehensweise ist nur mit genau definierten Teilmomenten von Naturphänomenen durchführbar. Eine Reflexion über das Wesen des untersuchten Phänomens oder gar über die Natur als Ganzes findet nicht statt, ja wird sogar methodisch ausgeblendet, und nur auf Grundlage dieser Ausblendung funktioniert das Projekt der neuzeitlichen experimentellen Wissenschaft. In der Fülle und Reichweite ihrer Resultate ist die neuzeitliche Wissenschaft der aristotelischen Naturwissenschaft zweifellos überlegen, und in ihrem Zusammenwirken mit der neuzeitlichen Technik hat sie dem Menschen eine so noch nie dagewesene Stufe der Naturbeherrschung und des Lebenskomforts ermöglicht. Daher lässt sich der neuzeitlichen Wissenschaft nicht vorwerfen, dass sie mit ihrer methodischen Ausblendung den Zugang zur Natur von Grund auf verfehlte – ihr Funktionieren zeigt, dass die Natur in einer bestimmten Hinsicht offen ist für einen derartigen Umgang mit ihr. Aber nach Picht liegt gerade in dem Verzicht der Wissenschaft auf die Frage nach Wesen und Ganzheit der Phänomene ihr größtes Pro­blem – der Grund für die von ihr angestoßenen Naturzerstörung. Picht gibt folgende Zeitdiagnose: Weil wir aufgehört haben zu fragen, was Natur überhaupt und im Ganzen ist, zerstören wir die Natur durch unser nicht mehr gebundenes Wissen, durch unsere ungezügelte Technologie. Wir verstehen nicht mehr die Einheit des Systems, innerhalb dessen wir uns befinAristoteles  |  69

den. Was ich eben »die Einheit des Systems« genannt habe: das ist die aristotelische οὐσία.122

Nach Picht entfaltet der neuzeitliche Verbund von Wissenschaft und Technik eine Dynamik der Naturbeherrschung und Naturzerstörung, und beide Seiten dieses Vorganges beruhen darauf, dass das Wesen der Naturphänomene und die Natur als Ganzes methodisch aus dem Blickfeld des Menschen verbannt werden. Nur als Abkehr von einer ganzheitlichen Betrachtung der Natur und ihrer Phänomene kann der Mensch nach Picht in eine Situation geraten, in der die Naturbeherrschung keine innere Grenze besitzt, die sie vor dem Umkippen in eine Naturzerstörung bewahren könnte. Picht vertritt die These, dass die neuzeitliche Naturerkenntnis die Natur zerstört, »weil sie die Natur nicht so erkennt, wie sie von sich aus ist«; und weil sie die Natur zerstört, kann sie keine wahre Erkenntnis der Natur sein.123 Die Aussage, dass eine Erkenntnis nicht wahr sein kann, wenn sie sich dadurch bezeugt, dass sie das zerstört, was erkannt werden soll,124 hat mehr den Charakter einer Intuition als eines gültigen Argumentes. Getragen wird die Intuition Pichts von der Tatsache, dass im Zeitalter der aristotelischen Wissenschaft die Natur nicht in dem Ausmaß zerstört wurde wie in der Neuzeit, und von der Annahme, dass dies an grundlegenden Vorstellungen der jeweiligen Weltbilder liegen müsse. Verständlich wird diese Intuition vor dem Hintergrund der aristotelischen Philosophie: Wahrheit ist dort zum einen stets die Herstellung eines Verhältnisses zum Ganzen, zur Gesamtheit dessen, was ist. Zum anderen äußert und entfaltet sich in der Wahrheit die Natur als göttliche Vernünftigkeit. Wahrheit ist so strukturell mit der harmonischen Ordnung des Seienden und mit dem Heiligen verbunden. Diese Aspekte fehlen im Denken der neuzeitlichen Wissenschaft, die sich einzelnen Ausschnitten der Welt zuwendet und Göttlichkeit von vornherein ausschließt. Picht arbeitet eine Kontrastierung heraus, bei der das antike aristotelische Denken dem modernen neuzeitlichen Denken in seiner Unterschiedlichkeit gegenübersteht. Bei Aristoteles befinden sich das Wesen des Seienden und überhaupt die Ganzheit von Zusammenhängen im Zen­trum der Aufmerksamkeit – im modernen wissenschaftlichen Denken werden sie methodisch ausgeblendet. 70  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Das Werden ist bei Aristoteles der Schauplatz, an dem das ideell Wesenhafte in der Materie zur Erscheinung kommt, wodurch sich die Göttlichkeit in der Welt entfaltet. Der Mensch ist ein integraler Teil dieses Prozesses, auch er selbst ist eine Manifestation des Göttlichen in der Welt, und durch Erkenntnis setzt er sich in eine Beziehung zu dem Wesenhaften. Im neuzeitlichen Denken hingegen ist der Mensch in einer gewissen Weise ein Kontrahent der Natur: Als freies denkendes Individuum stellt sich der Mensch den faktischen Naturprozessen entgegen, die durch Notwendigkeit bestimmt sind. Um zu erkennen, stülpt der Mensch nach Picht die Gesetze seines Denkens der Natur über und fängt sie so ein, zwingt sie in das Korsett des Experiments und abstrahiert mathematisierend von ihrer Individualität. Hierdurch entsteht zwischen dem Menschen und der Natur ein Herrschaftsverhältnis, die Natur kann sich nur im Rahmen dieses Verhältnisses entfalten und wird so in einer wichtigen Hinsicht verfälscht, auch wenn ein wahrer Aspekt von ihr zum Vorschein kommen mag. Um diese Situation zu verdeutlichen, verwendet Picht die Analogie eines Fließbandarbeiters: Damit, daß ich einen Menschen an einem Fließband in die Zwangslage bringen kann, sich zu verhalten, als ob er ein Automat wäre, ist noch nicht bewiesen, daß dieser Mensch in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Automat. Damit, daß ich ein Phänomen der Natur durch eine bestimmte Versuchsanordnung so zur Erscheinung bringen kann, wie die Konsistenz einer mathematisch aufgebauten Theorie es erfordert, ist noch nicht bewiesen, daß dieses »Faktum« uns das Phänomen so zeigt, wie die Natur es uns von sich her gibt. Ein »Faktum« ist, der korrekten Wortbedeutung nach, etwas »Gemachtes«. Jedes »Machen« verändert das Gegebene. Der homo faber führt sich selbst hinters Licht, wenn er sich nachträglich weismachen will, das Gemachte sei mit dem Gegebenen identisch und sei die primäre Gestalt des Wahren.125

Picht verwendet den Kontrast zwischen heutigen Denkweisen und der Philosophie des Aristoteles, um zu artikulieren, worin die Verengung der neuzeitlichen Sichtweise auf die Natur besteht – getragen von der Hoffnung, dass eine Erweiterung der Sichtweise die Naturzerstörung eindämmen könnte. Picht will den heutigen Wahrheitsbegriff pro­blematisieren und »nach Dimensionen des Wortes ›wahr‹ fragen, die wir aus dem Auge verlieren, wenn wir uns damit zufriedengeben, festzustellen: Eine Erkenntnis sei Aristoteles  |  71

›wahr‹, weil sie durch Experimente ›verifiziert‹ werden kann.«126 Diese Dimensionen von Wahrheit finden sich, wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, in der Philosophie des Aristoteles: Wahrheit ist bei ihm das ordnende Prinzip der Welt und das Fundament des Seienden, das sich konstituiert, indem es im Sichtfeld der göttlichen Vernunft erscheint. Die Wahrheit ist die Verbindung des Menschen zum ursprünglichen Wesen des Seienden, und die Wahrheit weist dem Menschen den Weg zu einer gelingenden Existenz. All dies sind Positio­nen, die in der Weltsicht der modernen Wissenschaft keinen Platz haben, die nicht in ihrem Vokabular formuliert werden können und wenn sie doch formuliert werden, auf Unverständnis stoßen und im besten Fall als individuelle, spleenige Sicht auf die Welt toleriert werden. Bei Aristoteles hingegen sind sie Teil eines artikulierten Sinnentwurfes. Pichts Interpretation des antiken Denkens und die mit ihr verbundene Zeitdiagnose sind ein aufschlussreiches Beispiel dafür, dass das Denken der kulturellen Überlieferung – gerade durch ihre Fremdheit – dabei helfen kann, heutige Denkweisen und damit einhergehende Lebensweisen zu hinterfragen. Die Beschäftigung mit Platon und Aristoteles zeigt, inwiefern sich das antike Denken grundlegend von Denkweisen der Moderne unterscheidet. Sie zeigt, was es heißt, dass in den antiken Sinnentwürfen der Mensch in eine sinnvoll geordnete Wirklichkeit eingebettet ist und dass die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz in einem direkten Bezug zur Sinnhaftigkeit der Welt steht. An diesen fremd gewordenen Vorstellungswelten zeigt sich, in welcher Weise Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gegeben werden können: In markanten und einflussreichen Positionierungen der kulturellen Überlieferung entfalten sich umfassende Sinnentwürfe, die einen Anspruch auf Wahrheit erheben. Es ist gerade die Sinnorientierung dieser Denkweisen, die in der heutigen Situation fremd geworden ist, die aber auch heute noch eine Anziehungskraft ausüben kann. Für ein angemessenes Verständnis der meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit müssen jedoch noch weitere Aspekte zur Sprache kommen. Einige Spuren, die bereits angedeutet wurden, müssen genauer untersucht werden: So ist in der Analyse der Entelechievorstellung bereits deutlich geworden, dass Aristoteles davon 72  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

ausgeht, dass die Erscheinungen der sinnlich gegebenen Wirklichkeit auf etwas Ideelles und Beständiges zurückgehen, das sich in der Unbeständigkeit des Werdens materialisiert. Selbst wenn Aristoteles nicht so eine radikale Trennung zwischen der Sinnenwelt und der Ideenwelt vollzieht wie Platon, ist auch bei ihm die Vorstellung präsent, dass den unbeständigen Erscheinungen etwas Beständiges zugrunde liegen muss, das deren wesenhaftes Fundament bildet und seinerseits der Unbeständigkeit des Werdens enthoben ist. Die großen vormodernen Sinnentwürfe enthalten – in unterschiedlichen Ausprägungen, aber in einer stets präsenten Weise – die Idee einer jenseitigen, transzendenten Gegenwirklichkeit. Von dieser Vorstellung handelt der folgende Abschnitt.

2.2  Die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit

Die Abschnitte über Platon und Aristoteles haben die weitreichende Bedeutung der Gegenüberstellung von Beständigkeit und Unbeständigkeit vor Augen geführt. Die Höherbewertung des Beständigen bildet den Ausgangspunkt der großen transzendenz­orien­ tierten Sinnentwürfe der Vergangenheit. Platon und Aristoteles sind paradigmatische und maßgebende Denker einer Traditionslinie, bei der aus diesem Gegensatz eine eigenständige Wirklichkeit hervorgeht, die das Fundament von umfassenden Sinnentwürfen bildet. Was genau ist hierunter zu verstehen? An dieser Stelle sei der graphisch dargestellte assoziative Zusammenhang der grundlegenden Gegensätze auf S. 37 dieser Arbeit in Erinnerung gerufen. Entlang dem Gegensatz zwischen Beständigkeit und Unbeständigkeit sind auf der einen Seite die Phänomene Sein, Vernunft, Wahrheit, sicheres Wissen, Schönheit, Ordnung und Vollkommenheit miteinander verbunden. Auf der Gegenseite steht der Zusammenschluss der Phänomene Werden, Sinneswahrnehmung, Meinung, Wahrscheinlichkeit, Unschönheit, Unordnung und Unvollkommenheit. Diese einander gegenüberstehenden assoziativen Verbünde definieren in meta­phy­sischen Sinnentwürfen zwei einander gegenüberstehende Wirklichkeitsbereiche. Unbeständigkeit und die mit ihr zusammenhängenden Phänomene charakterisieren die sinnlich gegebene Wirklichkeit. Die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit  |  73

Die mit Beständigkeit verbundenen Phänomene kennzeichnen die Gegenseite: eine transzendente jenseitige Wirklichkeit, die sich als Gegenwirklichkeit zum sinnlich gegebenen Werden konstituiert. Faktisch ist der Mensch ein Teil des Werdens. In der Weltsicht der großen antiken Sinnentwürfe sieht sich der Mensch jedoch auch mit einer anderen Wirklichkeit konfrontiert, die als das genaue Gegenteil dieser sinnlich gegebenen Wirklichkeit charakterisiert wird. Insofern diese Sphäre sich als Gegenpol zur sinnlich gegebe­ nen Wirklichkeit konstituiert, kann sie als eine im weitesten Sinne jenseitige Wirklichkeit bezeichnet werden: Dem Diesseits steht eine transzendente Sphäre des Jenseits gegenüber. Auch wenn der Gegensatz nicht immer schroff ausgeprägt ist und das Jenseitige – wie etwa bei Aristoteles – als wirkende Kraft im Diesseitigen aufgefasst werden kann, zieht sich dennoch die Präsenz einer Gegenwirklichkeit wie ein roter Faden durch weite Teile der philosophischen und religiösen Überlieferung. Die omnipräsenten Konzepte einer transzendenten Gegenwirklichkeit können ganz unterschiedliche, manchmal auch in den Hintergrund tretende Ausprägungen annehmen, wie Günter Abel betont: Die weitgefaßte Rede von der wahren Welt bedarf der Präzisierung. […] Die Idee der ›wahren Welt‹ umfaßt die Welt der Platonischen Ideen, das Reich der formalen Logik, das der übersinnlichen wissen­ schaftlichen Naturgesetze, die Welt religiöser Transzendenz, die Welt der Kunst im Sinne des apollinischen »schönen Scheins« und die Welt absoluter Werte, eines ewigen Sittengesetzes und der christlichen Moral sowie alle sich aus diesen Bereichen herleitenden und/oder auf sie beziehenden Formen »wahrer« Welten und »objektiver« Wahrheiten, kurz: jede Version eines an-sich-seienden Wahren, Guten und Schönen. Die Selbstauflösung der Idee der ›wahren Welt‹ betrifft also die Philosophie, die Wissenschaft, die Religion, die Kunst und die Moral in ihren welt- und lebensverneinenden Voraussetzungen, Konstruktio­ nen und Konsequenzen.127

Vielen heutigen Menschen ist die Vorstellung einer wie auch immer gearteten jenseitigen Gegenwirklichkeit eher fremd geworden. Gerade bei derartigen Sinnvorstellungen der kulturellen Überlieferung ist es wichtig, von Anfang an die Perspektive des modernen Zweifels zu berücksichtigen, um ihre Fremdheit angemessen verstehen zu können. Der Zweifel an Jenseitsvorstellungen ist in der 74  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

heutigen Situation sehr präsent, und dafür existieren gewichtige Gründe. Insbesondere der Wahrheitscharakter einer jenseitigen Wirklichkeit wird grundsätzlich in Frage gestellt, dabei drängt sich beispielsweise die Frage in den Vordergrund, ob es das Jenseits wirklich gibt oder ob es bloß ersonnen wurde, weil es bestimmten Bedürfnissen des Menschen entgegenkommt. Solche Zweifel äußern sich beispielsweise im Denken Friedrich Nietzsches, der in einer prominenten und für das moderne Denken sehr einflussreichen Weise derartige Positio­nen bezieht. Für eine angemessene Darstellung der Kluft, die die heutige Zeit von der der meta­phy­ sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit trennt, müssen deren Jenseitsvorstellungen aus dem Blickwinkel des modernen Zweifels interpretiert werden – wohl wissend, dass damit ein Standpunkt eingenommen wird, der keineswegs neutral ist, der vielmehr die Innenperspektive der überlieferten Sinnentwürfe aus einer modernen Perspektive heraus verbiegt. Diese Beugung der Innensicht antiker Sinnentwürfe ist gesondert zu reflektieren.128 An dieser Stelle geht es aber zunächst um die Darstellung der Grundlagen und der Motive wichtiger philosophischer und religiöser Jenseitsvorstellungen, die aber bereits aus dem Blickwinkel des modernen Zweifels zu interpretieren sind, um ihre Fremdheit in der heutigen Situation angemessen verstehen zu können. Ausgangspunkt für das Verständnis einer Jenseitsvorstellung ist eine existentielle Erfahrung des Menschen. Der Mensch lebt in einer Welt, in der ihm Seiendes begegnet: Einzeldinge mit bestimmten Eigenschaften stehen in Beziehung zu anderen Einzeldingen. Die Beschaffenheit der Einzeldinge und ihre Beziehung zueinander in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit ist durch eine prinzipielle Veränderlichkeit und Unbeständigkeit gekennzeichnet: Seiendes entsteht, ändert sich und vergeht wieder. Alles Seiende in der Welt kann vergehen und vergeht irgendwann tatsächlich. Hierbei treten graduelle Unterschiede auf: Gegenstände aus Seifenschaum verändern sich sehr viel eher als Gegenstände aus Stahl. In einem grundlegenden Gegensatz hierzu scheinen manche menschlichen Vorstellungen, die dem menschlichen Denken ebenfalls als Gegenstände begegnen können, eine prinzipielle Unveränderlichkeit und in diesem Sinne eine Vollkommenheit aufzuweisen: Die Winkelsumme eines Dreiecks zum Beispiel beträgt 180 Grad – diese EiDie Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit  |  75

genschaft des Dreiecks unterliegt keiner Veränderung, auch wenn Einzelgegenstände in der Welt, die die Form eines Dreiecks realisieren, sehr wohl der Veränderlichkeit anheimfallen. Die prinzipielle Unbeständigkeit des innerweltlich Seienden ist für die menschliche Existenz, die sich in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit vollzieht, eine Quelle des Schmerzes und des Leidens und gewinnt insbesondere durch die menschliche Sterblichkeit als einem besonderen Fall der Unbeständigkeit eine existentielle Dramatik. In den transzendenzorientierten Sinnentwürfen der Vergangenheit ist diese Erfahrung des Menschen durchweg präsent. Prägnant und berühmt ist die Formulierung des biblischen Salomo aus dem Buch Prediger: Es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt immer bestehen. […] Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben alle einen Odem, und der Mensch hat nichts voraus dem Vieh; denn es ist alles eitel. Es fährt alles an einen Ort. Es ist alles aus Staub geworden und wird wieder zu Staub.129

Auf zentrale Momente der menschlichen Existenz hat die prinzi­ pielle Vergänglichkeit des innerweltlich Seienden eine schmerzhafte Wirkung: Die eigene Existenz ist endlich, kann jederzeit enden und wird es mit Sicherheit irgendwann; genau das gleiche gilt für die Existenz der geliebten Mitmenschen. Die eigene Sterblichkeit ist für den Menschen ein besonders bedeutsamer Moment der omnipräsenten Vergänglichkeit. Doch auch darüber hinaus ist eine gelingende menschliche Existenz an vielfältige materielle und immaterielle Bedingungen wie Freiheit von Einflüssen wie Krieg, Krankheit, Hunger, Unmenschlichkeit, Einsamkeit und vieles weitere mehr geknüpft und dabei stets von einem Wegfall dieser Bedingungen bedroht. Auch die Früchte des eigenen irdischen Tätigseins sind prinzipiell der Veränderbarkeit anheimgegeben und müssen irgendwann vergehen. Nach Friedrich Nietzsche wurzelt in der beschriebenen existentiellen Erfahrung des Menschen ein Bedürfnis nach Beständigkeit: Aus dem Leiden an der Unbeständigkeit erwächst der Hang, Zu­ stände des Beharrens auf eine prinzipielle Weise höher zu bewerten 76  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

als Zustände der Veränderung. Kaum ein Denker hatte ein feineres Gespür für die Fremdheit von Jenseitsvorstellungen in der Moderne als Nietzsche.130 Seine Philosophie kreist um den Zwiespalt, in dem das moderne Denken mit einer fremd gewordenen Überlieferung verbunden ist. Die Höherbewertung des Beständigen gegenüber dem Veränderlichen interpretiert Nietzsche als eine zentrale, grundlegende und folgenreiche Wertung der Sinnentwürfe der Vergangenheit: In weiten Teilen dieser Traditionslinie wird nach Nietzsche Veränderlichkeit als Vergänglichkeit gefasst, auf den Bereich der sinnlich gegebenen Wirklichkeit bezogen und in einen Gegensatz zu einer nicht unmittelbar sinnlich zugänglichen Sphäre der Unvergänglichkeit gestellt. Über die Sinne nimmt der Mensch teil an der fließenden, sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Weil diese Wirklichkeit durch ihre unhintergehbare Unbeständigkeit der menschlichen Existenz immer auch Schmerz und Leid zufügt, wird sie als ein Schein, als eine Täuschung des Menschen aufgefasst. Auf dieser Grundlage entsteht eine Wirklichkeitsteilung: Hinter der fließenden, sinnlich gegebenen Wirklichkeit wird eine jenseitige Wirklichkeit angenommen, die durch eine prinzipielle Beständigkeit, Dauerhaftigkeit und Unvergänglichkeit – und insofern durch Vollkommenheit – gekennzeichnet ist. Sie verheißt dem Menschen die Möglichkeit einer Freiheit vom Leiden am Vergänglichen. Die tradierten Jenseitsvorstellungen beruhen nach Nietzsche auf dem menschlichen Bedürfnis, das Leiden an der Unbeständig­ keit der sinnlich gegebenen Wirklichkeit zu überwinden. Dem Gegensatzpaar Werden und Beharren werden jeweils voneinander getrennt existierende Wirklichkeitsbereiche zugesprochen, die dem Menschen über unterschiedliche Wege zugänglich sind. Nietzsche beschreibt die Motive und die Vorgehensweise hinter derartigen Denkweisen wie folgt: Der Mensch sucht »die Wahrheit«: eine Welt, die nicht sich widerspricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt – eine Welt, in der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel – Ursachen des Leidens! […] Die Verachtung, der Haß gegen Alles, was vergeht, wechselt, wandelt: – woher diese Werthung des Bleibenden? Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden. Die Sinne täuschen, die Vernunft corrigirt die Irrthümer: folglich, schloß man, ist die Vernunft der Weg zu dem BleibenDie Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit  |  77

den, die unsinnlichsten Ideen müssen der »wahren Welt« am nächsten sein. – Von den Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge – sie sind Betrüger, Bethörer, Vernichter: Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge.131

Aus der onto­logischen Entgegensetzung des Veränderlichen mit dem Beständigen entsteht nach Nietzsche die Idee einer jenseitigen Wirklichkeit als einer »wahren Welt«: Die jenseitige Wirklichkeit, die prinzipiell der Veränderlichkeit enthoben ist, fungiert als Garant für eine gesicherte Wahrheit. Die Wahrheit verbindet den Menschen mit der jenseitigen Wirklichkeit des Vollkommenen. In den antiken Sinnentwürfen mit Transzendenzbezug geht die Wahrheit nicht im pragmatischen Umgang des Menschen mit den veränderlichen Prozessen des Werdens auf, sie richtet sich nicht auf das Diesseitige, sondern auf das beständige Wesenhafte hinter dem innerweltlich Seienden. Aus der Verhaftung in Schein und Täuschung, aus der Unvollkommenheit des Vergänglichen hat sich der Mensch zu befreien und emporzuschwingen in die Wirklichkeit des Unvergänglichen und eigentlich Wahren. Der Mensch bekommt Zugang zur Welt des Beharrenden, indem er das sinnlich gegebene Seiende daraufhin untersucht, was es in Wahrheit ist: Das sinnlich Gegebene wird als eine unbeständige Oberfläche betrachtet, hinter dem das beständige Wesenhafte und in diesem Sinne Wahre zwar verborgen ist, aber vom Menschen entdeckt werden kann. Das prinzipiell Beständige begegnet dem Menschen nicht über die Sinne, sondern in Akten des nichtsinnlichen Denkens oder Glaubens. Je stärker der Stellenwert der jenseitigen Wirklichkeit in den Vordergrund rückt, desto eher wird die Vorstellung der transzendenten Gegenwirklichkeit mit der Vorstellung der Vollkommenheit verknüpft. Die dem Jenseits zugeschriebene Vollkommenheit wird dann in dem weitest möglichen Sinne verstanden und umfasst insbesondere auch Vollkommenheit im moralischen Sinne. Ganz im Gegensatz zur sinnlich gegebenen Wirklichkeit, wo das Böse, das Übel, die Schuld und die Ungerechtigkeit allgegenwärtig sind und häufig sogar triumphieren, wird die jenseitige Wirklichkeit als frei vom moralischen Makel gedacht. Auf dieser Grundlage wird in den Sinnentwürfen der Vergangenheit dem Jenseits häufig eine 78  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Vollkommenheit in jeglichem moralischen oder auch ästhetischen Sinn zugeschrieben. Eine derart durch Beständigkeit und Vollkommenheit gekennzeichnete jenseitige Wirklichkeit wird dann als die ursprüngliche und eigentlich bedeutsame Sphäre betrachtet und in einen Gegensatz zur unvollkommenen und nachrangigen Sphäre der diesseitigen, sinnlich gegebenen Wirklichkeit gestellt. Das Gelingen der menschlichen Existenz wird mit der transzendenten Gegenwirklichkeit verknüpft. Solche Positio­nen sind heute vielen Menschen sehr fremd geworden: Vielen fällt es schwer, eine hinreichend genaue Vorstellung von einer unvergänglichen jenseitigen Wirklichkeit zu artikulieren, und erst recht fällt es schwer, Wahrheit in irgendeiner Form auf eine derartige jenseitige Wirklichkeit zu beziehen. Auch die Verknüpfung des menschlichen Glücks mit dem Jenseits bereitet Unbehagen. Welche Gründe spielen hier eine Rolle? Zum einen ist mit der heutigen, stark von den Naturwissenschaften beeinflussten Denkwirklichkeit eine ganz andere Auffassung von Wahrheit verknüpft, die Wahrheit ausschließlich auf das Diesseits bezieht. Zum anderen erscheint aus modernen Per­spek­ti­ven die Verflechtung der Auffassungen über das Jenseits mit den Wünschen des Menschen verdächtig. Im modernen Denken nach Nietzsche und Freud existiert ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Macht von unbewussten Wunschvorstellungen, und die überlieferten Jenseitsvorstellungen scheinen direkt aus dem Wunsch zu entspringen, das Leiden an der Vergänglichkeit der Welt zu überwinden. Aus einem derartigen Blickwinkel konfligiert das Entspringen von Jenseitsvorstellungen aus menschlichen Bedürfnissen mit dem Wahrheitsanspruch dieser Vorstellungen. Diese Zusammenhänge werden im zweiten Teil dieser Arbeit im Zusammenhang mit den modernen Sinnvorstellungen noch ausführlich zur Sprache kommen,132 an dieser Stelle ist insbesondere die Fremdheit der tradierten Jenseitsvorstellungen für heutige Per­spek­ti­ven des Denkens relevant. Einige der wichtigsten vormodernen Jenseitsvorstellungen seien im Folgenden kurz vorgestellt. Das Denken Platons bildet den prototypischen Inbegriff der Jenseitsvorstellungen der Vergangenheit. In einer klaren und sehr schroffen Weise kontrastiert Platon die sinnlich gegebene Wirklichkeit mit einer Gegenwirklichkeit, die nicht den Sinnen, sondern Die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit  |  79

nur der Vernunft zugänglich ist. Veränderlichkeit und Unbeständigkeit sind die Charakteristika der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, die entgegengesetzte Gegenwirklichkeit bestimmt sich durch Beständigkeit und Unvergänglichkeit. Diese transzendente Wirklichkeit ist das Fundament der sichtbaren Welt, sie ist das Urbild, von dem die sinnlich gegebene Wirklichkeit das unvollkommene Abbild darstellt. Die Welt des Menschen ist damit in zwei entgegengesetzte Wirklichkeitsbereiche aufgeteilt – in den des sinnlich Sichtbaren und in den des durch die Vernunft Erkennbaren.133 Eindrucksvoll und wirkungsmächtig formuliert Platon diese Position in seinem Höhlengleichnis, wo die Verhaftung des Menschen in der Sinnlichkeit mit dem Zustand von Gefangenen verglichen wird, denen die eigentliche Wirklichkeit nur in unvollkommenen Abbildern zugänglich ist. Die Sinnlichkeit wird als ein Gefängnis betrachtet, das den Menschen die Möglichkeit eines höherwertigeren Zugangs zum Seienden vorenthält. Bei Platon können sich die Gefangen jedoch befreien und vermittels der Vernunft Zugang bekommen zu der eigentlichen Wirklichkeit des Seins, der Ideenwelt: [D]ie durch das Gesicht uns erscheinende Raumwelt setze der Wohnstätte der Gefesselten gleich, den Lichtschein des Feuers aber in ihr der Kraft der Sonne; den Aufstieg nach oben aber und die Betrachtung der oberen Welt mußt du der Erhebung der Seele in das Reich des nur Denkbaren vergleichen […].134

Die Abwertung der sinnlich gegebenen Wirklichkeit zugunsten einer beständigen und vollkommenen Gegenwirklichkeit zeigt sich auch im ebenfalls einflussreichen Sonnengleichnis Platons, in dem das Werden als vernunftlose Finsternis dem Licht des ewig wahren und wesenhaften Seins gegenübergestellt wird: So denke dir denn auch das Verhältnis der Seele folgendermaßen: wenn sie fest gerichtet ist auf das, worauf das Licht der Wahrheit und des Seienden fällt, dann erfaßt und erkennt sie es und scheint im Besitze der Vernunft zu sein; wenn aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende, dann fällt sie dem bloßen Meinen anheim, wird stumpfsichtig, wirft die Meinungen herüber und hin­über und macht nunmehr den Eindruck, als sei sie aller Vernunft bar. 135

Eine derartige Trennung der Wirklichkeiten geht in den meta­phy­ sischen Sinnentwürfen der kulturellen Überlieferung stets mit ei80  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

ner korrespondierenden Trennung innerhalb des Menschen einher: Eine Instanz im Menschen wird mit der jenseitigen Wirklichkeit in Verbindung gebracht und aufgewertet, alles andere im Menschen wird durch den Bezug zur sinnlich gegebenen Wirklichkeit abgewertet. Dies ist die Grundlage für die zentrale Unterscheidung zwischen Seele und Körper. Platon formuliert sie im Phaidon wie folgt: Sieh nun zu, sprach er, o Kebes, ob aus allem Gesagten uns dieses hervorgeht, daß dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, Eingestaltigen, Unauflöslichen und immer einerlei und sich selbst gleich sich Verhaltenden am ähnlichsten ist die Seele, dem Menschlichen aber und Sterblichen und Unvernünftigen und Vielgestaltigen und Auflöslichen und nie einerlei und sich selbst gleich Bleibenden, diesem wiederum der Leib am ähnlichsten ist?136

Mit der Seele nimmt der Mensch Teil an der transzendenten Wirklichkeit des beständigen Seins, mit dem Körper bleibt er aber stets in der Vergänglichkeit des Werdens verhaftet. Durch eine Lebensweise, die sich an der jenseitigen Wirklichkeit orientiert, kann sich der Mensch dieser zwar graduell annähern, er wird aber sein Verwurzeltsein im Werden nicht gänzlich auflösen können. Für diese zwiegespaltene Situation existiert eine Auflösung in Form einer Positionierung, die im Verlauf der kulturellen Überlieferung immer wieder eingenommen wird: Die transzendente Wirklichkeit des beständigen Seins wird oft als die Heimat der unvergänglichen menschlichen Seele nach dem Tod des Körpers aufgefasst. Das, was der Mensch im Leben nicht zu erreichen vermag – das vollständige Abstreifen der Unbeständigkeit und Vergänglichkeit – wird als eine Möglichkeit betrachtet, die sich nach dem Tod des Menschen tatsächlich einstellen kann. Metaphysische Sinnentwürfe bieten häufig Raum für die Vorstellung, dass die menschliche Seele nach dem Tod weiter Bestand hat und in der jenseitigen Wirklichkeit eine Heimat findet. Auch bei Platon selbst tauchen derartige Positionierungen auf, wenn auch nicht kontinuierlich. So bezieht er im Phaidon die Posi­ tion, dass die Seele dem ewigen Sein ähnlicher ist als dem unbeständigen Werden und dass eine Seele, die im Leben nach dem Unvergänglichen strebt, nach dem Tod in einen Zustand der beständigen und unvergänglichen Glückseligkeit eintreten kann: Die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit  |  81

[K]ommt nicht dem Leibe wohl zu, leicht aufgelöst zu werden, der Seele hingegen, ganz und gar unauflöslich zu sein oder wenigstens bei­ nahe so?137 Also welche sich so verhält, die geht zu dem ihr Ähnlichen, dem Unsichtbaren, zu dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, wohin gelangt ihr dann zuteil wird, glückselig zu sein, von Irrtum und Unwissenheit, Furcht und wilder Liebe und allen andern menschlichen Übeln befreit, indem sie […] wahrhaft die übrige Zeit mit Göttern lebt.138

Die von Platon im Phaidon vertretene Auffassung, die transzendente, jenseitige Wirklichkeit als eine Heimat für die Seele nach dem Tode aufzufassen, ist eine weitverbreitete Positionierung innerhalb der philosophischen und religiösen Überlieferung. Aber sie ist keine notwendige Folgerung, die Vorstellung einer jenseitigen Wirklichkeit beinhaltet nicht automatisch die Idee, dass die menschliche Seele nach dem Tod dort weiterexistieren könnte. So wechselt auch Platon im Laufe seines Philosophierens seine Position, im Timaios beispielsweise nimmt er den Standpunkt ein, dass die Seele eine Zwischenstufe zwischen der Wirklichkeit des Seins und der Wirklichkeit des Werdens darstellt, dass sie aber die jenseitige Wirklichkeit nie dauerhaft erreichen kann, weil sie um der vergänglichen Lebewesen willen geschaffen wurde.139 Die Vorstel­ lung einer jenseitigen Wirklichkeit bedeutet in erster Linie, dass die jenseitige Transzendenz in einer bestimmten Weise im Diesseits zur Wirkung kommt – sie bedeutet nicht von vornherein, dass sie auch der Ort sein muss, an dem sich die menschliche Existenz nach dem Tode fortsetzt. Die Wirksamkeit des Jenseitigen im Diesseitigen bildet die Grundlage des Aristotelischen Sinnentwurfs. Der Gegensatz zwischen dem diesseitigen Werden und dem transzendenten Sein ist bei Aristoteles jedoch nicht so schroff wie bei Platon, weil Aristoteles der Gegenwirklichkeit des Seins keine unabhängige Existenz zuschreibt: Der Bereich des Werdens ist bei ihm keine Verfälschung des transzendenten Seins, sondern der Entfaltungsraum, in dem das beständige und vollkommene Ideelle unter den Bedingungen des Materiellen zum Vorschein kommt.140 Aristoteles versteht, anders als Platon, das immaterielle Wesen des Seienden nicht als Teil einer ins Ideelle gespiegelten Parallelwirklichkeit, die prinzipiell 82  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

vom Materiellen unabhängig existieren könnte: Der Bereich der Materie ist bei Aristoteles eine strukturelle Bedingung für das Erscheinen des Ideellen. Die Materie bildet den unverzichtbaren Möglichkeitsraum, innerhalb dessen sich das Ideelle als Entelechie entfalten kann. Auch in dieser Vorstellung besteht für den Menschen eine Trennung zwischen dem sinnlich zugänglichen Seienden und dem dahinterliegenden wesenhaften Sein dieses Seienden. Auch bei Aristoteles existiert die Trennung der Welt in eine Sphäre des Beständigen und eine Sphäre des Vergänglichen, selbst wenn bei ihm diese beiden Sphären nur als gegenseitige Verbindung, nicht aber unabhängig voneinander existieren können. Der irdischen Körperlichkeit und Veränderlichkeit steht eine immaterielle Beständigkeit mit göttlichem Charakter gegenüber, wobei dieses nur in jenem zum Vorschein kommen kann. Das Diesseits ist vom Jenseits nicht durch eine Kluft getrennt, sondern bildet dessen Erscheinungsfläche. Bei Aristoteles zeigt sich daher noch deutlicher als bei Platon, dass es in den überlieferten transzendenzbezogenen Sinnentwürfen in erster Linie um die Vorstellung einer Präsenz des Jenseitigen im Diesseitigen geht. Im paradigmatischen existentiellen Sinnentwurf des Aristoteles bildet die Trennung zwischen dem Beständigen und dem Unbeständigen die Grundlage für die Vorstellungen über das gute Leben. Im Immateriellen, das in der Materie zum Vorschein kommt, sieht Aristoteles das Göttliche am Wirken, und zu diesem Göttlichen muss sich der Mensch durch eine Entfaltung seiner Geistigkeit in Bezug setzen, damit sein Leben gelingen kann. Auch bei Aristoteles zieht es den Menschen hin zum selig machenden Beständigen und fort von der leidbehafteten Vergänglichkeit des Werdens. Jenseitsvorstellungen bilden auch die Grundlage des Christentums, das im Kern auf einer ausgeprägten Polarität von Diesseits und Jenseits beruht. Die christliche Heilsgeschichte sieht in der menschlichen Existenz eine unvollkommene, diesseitige, leibliche und erlösungsbedürftige Vorstufe des eigentlich relevanten, jenseitigen und nach dem physischen Tod beginnenden ewigen Lebens. Die sinnlich gegebene Wirklichkeit wird zwar als Schöpfung Gottes betrachtet, dabei aber in einen fundamentalen Gegensatz zu dem Geistigen, Himmlischen und Göttlichen gestellt und so als Quelle des Irrtums und der Sünde abgewertet. Dies verdeutlicht etwa die folgende Stelle im Korintherbrief: Die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit  |  83

Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. […] Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allzeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn.141

Zwar gibt es Interpretatio­nen des Christentums, die die Präsenz des Göttlichen im Diesseits stärker betonen und in ihr sogar eine Diesseitsaufwertung erkennen;142 und selbst ein Kritiker des Christentums wie Nietzsche konnte, wenn er nach dem ursprünglichen Geist der Lehre Jesu fragte, Aspekte erkennen, unter denen die Vorstellung der Transzendenz die menschliche Existenz im Diesseits erhöht.143 Aber derartige Positio­nen entsprechen nicht den historisch entscheidenden Strömungen, aus denen sich die christliche Überlieferung herausgebildet hat. Einflussreicher waren Positio­ nen, die das Diesseits als unvollkommene Vorstufe des Jenseits und das Leben im Diesseits als Vorbereitung auf das Jenseits betrachtet haben. In der christlichen Heilsgeschichte ist strukturell eine Abwertung des Diesseits angelegt, insofern der Mensch nach dem Fall Adams sein diesseitiges Leben in Sünde lebt, wovon er erlöst werden muss und wovon er auch erlöst werden kann, da Christus als fleischgewordener Gott die Möglichkeit einer Erlösung von den Einflüssen der Welt in die Welt hineingetragen hat. Eine Lebensweise, die sich rein auf das Diesseits – oder christlich gesprochen auf das Fleisch – richtet, hat keine Aussicht auf ein Gelingen, aber der Mensch kann sein Streben auf den Geist richten und so von dem diesseitigen Leben erlöst werden; und sobald die Zeit des Jüngsten Gerichtes anbricht, kann die Seele, sofern sie dazu erwählt ist, in das göttliche Jenseits eintreten. Mit der christlichen Vorstellung der Erbsünde ist das faktische Leben des Menschen im Diesseits ein defizienter Zustand und insofern abgewertet. Die Vorstellung des Jenseits und des aus ihm entspringenden Heils bildet im Christentum den Horizont für die gelingende menschliche Existenz, denn auch wenn durch Christus die Möglichkeit zur Erlösung in die Welt getragen wurde, so ist das irdische Dasein g­ erade durch 84  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

seine Erlösungsbedürftigkeit etwas Defizientes. Ein Leben, das sich am Irdischen und Vergänglichen orientiert, ist in der Vorstellungswelt des Christentums zum Scheitern verurteilt, nur ein Leben, das sich am Himmlischen orientiert, hat die Aussicht auf ein Gelingen. Nur das Himmlische kann für den Menschen in Wahrheit wertvoll sein, und dieses Himmlische ist etwas, das der Welt transzendent ist – der Wert alles Irdischen ist ein bloßer Schein. Im Christentum und bei Platon stehen der Gegensatz zwischen bloßem Schein und wahrem Sein in direkter Beziehung zum Gegensatz zwischen einer diesseitigen und einer jenseitigen Wirklichkeit. So hat Martin Heidegger recht, wenn er, unter dem Einfluss Nietzsches stehend, dem Christentum und dem Platonismus attestiert, durch die Bestimmung des sinnlich gegebenen Werdens als »scheinbares Sein« das Diesseits abzuwerten: Erst in der Sophistik und bei Platon wird der Schein zum bloßen Schein erklärt und dadurch herabgesetzt. In einem damit wird das Sein als ἰδέα an einen übersinnlichen Ort hinaufgesetzt. Die Kluft, χωρισμός wird aufgerissen zwischen dem nur scheinbaren Seienden hier unten und dem wirklichen Sein irgendwo droben, jene Kluft, in der dann die Lehre des Christentums unter gleichzeitiger Umdeutung des Unteren zum Geschaffenen und des Oberen zum Schöpfer sich ansiedelt, mit den also umgeschmiedeten Waffen sich gegen die Antike (als das Heidentum) stellt und sie verstellt. Nietzsche sagt daher mit Recht: Christentum ist Platonismus fürs Volk.144

Die Vorstellung einer Gegenwirklichkeit zur irdischen Unbeständigkeit ist in der kulturellen Überlieferung sehr präsent, aber nicht immer steht sie so deutlich im Vordergrund wie etwa bei Platon oder im Christentum. Gerade in der Tradition des Judentums wird das Augenmerk des Menschen auf die Präsenz des Göttlichen im Diesseits gelenkt. Im Buch Prediger zeigt sich diese Haltung direkt vor dem Hintergrund der Klage über die Unbeständigkeit alles Irdischen. Die Grundlage ist auch hier eine klare Teilung der Wirklichkeit: »Gott ist im Himmel und du auf Erden«.145 Alles Irdische ist vergänglich, eitel und potentiell auch ungerecht.146 Und dennoch zieht das Buch Prediger daraus nicht den Schluss, dass der Mensch sein Augenmerk auf das Jenseits richten sollte: Mit dem Tod vergeht zwar der Körper des Menschen und sein Geist geht wieder zu Gott,147 aber über das Jenseits kann der Mensch im Diesseits nichts Die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit  |  85

Genaues wissen.148 Deswegen ist der Mensch aufgefordert, das Leben im Diesseits zu genießen – durch die Gegenwart des transzendenten Göttlichen im Diesseits wird der Fromme in die Lage versetzt, ein gutes Leben dadurch zu realisieren, dass er die Früchte des Diesseits im Diesseits genießt:149 Ist’s nun nicht besser für den Menschen, daß er esse und trinke und seine Seele guter Dinge sei bei seinen Mühen? Doch dies sah ich auch, dass es von Gottes Hand kommt. Denn wer kann fröhlich essen und genießen ohne ihn?150 So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. […] Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn bei den Toten, zu denen du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit.151

Dies ist ein Beispiel dafür, dass eine Aufteilung der Wirklichkeit in göttliche Transzendenz und profane Weltlichkeit nicht mit einer uneingeschränkten Abwertung des Diesseitigen einhergehen muss. Das Diesseitige ist hier zwar auch Quelle vielfältiger Übel und Leiden, aber – durch die Präsenz des Göttlichen – auch die einzige Quelle der Freude, die dem Menschen vor seinem Tod offensteht. In weiten Strömungen des Judentums orientiert sich der Mensch nicht am Leben nach dem Tod im Jenseits, sondern an den Quellen der Freude im Diesseits. Die onto­logische Grundlage der diesseitigen Quellen der Freude ist aber dennoch nicht das grenzenlose Werden, es ist nicht die Unbeständigkeit und Veränderlichkeit als solche, sondern die Präsenz des transzendenten Göttlichen im Diesseits, das sich in der Möglichkeit des diesseitigen Genießens offenbart. Die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit taucht in vielerlei Formen und Schattierungen auf, und nicht immer wird die Entgegensetzung so schroff durchgeführt wie bei Platon und im Christentum. Die Trennung zwischen dem jenseitig Göttlichen und dem diesseitig Weltlichen kann ins Diesseits zurückgewendet werden. Bei Jenseitsvorstellungen geht es in erster Linie um das 86  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Wirken des Göttlichen im Diesseits: Es geht darum, der unbegrenzten Unbeständigkeit des diesseitigen Werdens eine sinngebende Kraft entgegenzusetzen, die diese grenzenlose Unbeständigkeit transzendiert, auf etwas Höheres zurückführt und dadurch ihre niederdrückende Kraft bricht. Die Vorstellung einer jenseitigen Wirklichkeit bildet eine Sinn­ vorstellung, insofern sie dem Menschen eine artikulierbare Perspektive auf das Gelingen seiner Existenz eröffnet und dies mit einer Sichtweise auf die Welt verbindet, die alles Seiende umschließt. Mal wird die jenseitige Wirklichkeit als eine »als real geglaubte ›wahre‹ und ›objektive‹ Welt einheitlicher, fester und an-sich-seiender Strukturen«152 verstanden, mal nur als die Präsenz des grundlegend andersartigen Göttlichen in dem für sich betrachtet defizienten Irdischen – aber stets bildet die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit die Grundlage von existentiellen Sinnvorstellungen. Die Vorstellungen des guten Lebens verschmelzen mit der Sicht auf die sinnlich gegebene Wirklichkeit und begründen eine umfassende Wirklichkeitsinterpretation, die die Welt in zwei gegensätzliche Sphären aufteilt: das Diesseits und das Jenseits. Die Einbettung des Menschen in einen sinnvoll geordneten Kosmos vollzieht sich als Zweiteilung der Wirklichkeit in eine defiziente niedere und in eine sinntragende höhere Sphäre. Das höhere Jenseits verkörpert das Sinntragende der menschlichen Existenz und eröffnet dem Menschen die Perspektive, das Scheitern der Existenz, das unweigerlich mit einer Orientierung an der Unbeständigkeit des Werdens einherginge, abzuwenden, um sich zum göttlichen Sein emporzuschwingen. In Jenseitsvorstellungen artikuliert sich der Sinn der menschlichen Existenz. In all diesen Charakteristika wurzelt die heutige Fremdheit der tradierten Jenseitsvorstellungen. Im zweiten Teil dieser Arbeit werden die Fundamente der heutigen Weltsicht ausführlich zur Sprache kommen und es wird verständlich werden, warum sie sich mit den überlieferten Jenseitsvorstellungen nur schwer vereinbaren lassen. Die Jenseitsvorstellungen in diesem Abschnitt wurden bereits aus der Perspektive des heutigen Zweifels vorgestellt – im zweiten Teil dieser Arbeit wird die Kritik Nietzsches an den meta­ phy­sischen Sinnentwürfen der Vergangenheit zur vollen Geltung kommen.153 Um jedoch die Fremdheit der vormodernen SinnentDie Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit  |  87

würfe angemessen verstehen zu können, muss noch ein weiterer wichtiger Aspekt zur Sprache kommen, der eng mit der Einbettung des Menschen in eine sinnvoll geordnete Wirklichkeit und auch mit Jenseitsvorstellungen zusammenhängt, der aber gesondert und in größerer Ausführlichkeit behandelt werden muss, da er in mehrfacher Hinsicht eine ausschlaggebende Rolle spielt: das übende Streben nach dem Höheren.

2.3  Das geistig übende Streben nach dem Höheren

Dieser Abschnitt untersucht das Verhältnis der bisher herausgearbeiteten Charakteristika der tradierten Sinnentwürfe zur menschlichen Lebenspraxis. Die umfassenden meta­phy­sischen Sinnentwürfe verorten den Menschen in einer sinnvoll geordneten Welt, in der die Weltordnung einen göttlichen Charakter besitzt. Hierdurch wird eine vertikale Hierarchie aufgespannt, in der das göttliche Höhere dem Menschen als Orientierung für eine gelingende Existenz dient. Die Erörterung der aristotelischen Philosophie rückte bereits eine wichtige Unterscheidung ins Blickfeld: Den Unterschied zwischen dem Menschen, wie er faktisch ist, und dem Menschen, wie er sein könnte, wenn er die in ihm angelegten höheren Möglichkeiten realisierte.154 Bei Aristoteles wird der Mensch durch die ihm innewohnende Entelechie konstituiert, und aus diesem Fundament der Existenz erwächst die Forderung an den Menschen, durch die Ausübung seiner Vernunft die in ihm angelegten höheren Möglichkeiten zu verwirklichen. Derartige Vorstellungen kennzeichnen nicht nur das aristotelische Denken: Die meisten Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug interpretieren das menschliche Leben als eine Gespanntheit zwischen einem Ausgangszustand und einem Zielzustand, bei dem die Lebensführung darüber entscheidet, inwieweit sich der Mensch dem Zielzustand annähern und eine gelingende Existenz realisieren kann. Diese Gespanntheit wird in der Beschaffenheit der Welt verankert. Der Ausgangszustand des Menschen, der seiner Glück­seligkeit entgegensteht, wird als ein Verwurzeltsein in der irdischen Unbeständigkeit interpretiert. Der irdischen Vergänglichkeit wird eine transzendente Sphäre der Unvergänglichkeit und Vollkommen88  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

heit gegenübergestellt.155 Zwischen beiden Sphären besteht eine vertikale Rangordnung: Das Beständige und Unvergängliche ist das Höhere, weil es dem Menschen Glückseligkeit verspricht, das Vergängliche hingegen ist das Niedrigere, weil es das Scheitern der Existenz befördert. Der Mensch hängt zwischen beiden Sphären, er kann sich aufschwingen zum Beständigen, er kann aber auch hinabsinken zum Vergänglichen. In diesem Sinne handelt es sich nicht um isolierte Vorstellungen über das gute Leben, sondern um umfassende Sinnentwürfe, bei denen die Vorstellungen über die Beschaffenheit der Welt mit den Vorstellungen über das gute Leben zu einer Einheit verschmelzen. Diese Sinnentwürfe stellen keine theoretischen Gedankengebäude dar, sondern besitzen eine unmittelbare praktische Relevanz, da sie mit dem Anspruch formuliert sind, das Leben des Menschen direkt zu beeinflussen: Die tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe sind als geistige Übungen konzipiert, die das Ziel haben, das Leben des Menschen umfassend zu verändern. Dies soll im Folgenden am Beispiel des Denkens von Marc Aurel genauer erläutert werden. In der antiken stoischen Philosophie verdeutlicht sich eine charakteristische antike Sichtweise auf den Antagonismus zwischen Mensch und Welt, und es konkretisieren sich insbesondere auch die Konsequenzen für die menschliche Lebenspraxis.

2.3.1  Die Praxis des geistigen Übens: Marc Aurel

Bezeichnend für die antiken Sinnentwürfe mit Transzendenz­bezug ist das Verschmelzen der theoretisch-deskriptiven Aussagen über die Welt mit den praktisch-normativen Aussagen über das gute Leben. Die Herausarbeitung dieser Einheit der theoretischen und praktischen Momente ist in besonderer Deutlichkeit dem Philosophen und Historiker Pierre Hadot gelungen.156 Hadot zeigt überzeugend, dass es der antiken Philosophie nicht primär darum ging, theoretische Systeme des Denkens, sondern umfassende Lebensentwürfe zu entwickeln. Die Einheit von antiker Theorie und Lebenspraxis legt Hadot an vielen Beispielen der nachsokratischen Philosophie dar. Am deutlichsten äußert sie sich im Denken des römischen Kaisers und Philosophen Marc Aurel, dem HauptverMarc Aurel  |  89

treter der jüngeren Stoa. Bei Marc Aurel zeigt sich die Einheit der antiken Philosophie und der dazugehörigen Lebenspraxis, die spätestens seit Sokrates die Grundlage des antiken Philosophierens bildet, in einer klaren und paradigmatischen Weise. Im Denken des Marc Aurel kommt ein generelles Charakteristikum der antiken Sinnentwürfe zum Ausdruck, und Pierre Hadot weist in seinen Arbeiten darauf hin:157 Das philosophische Denken vollzieht sich als geistiges Üben mit dem direkten Ziel, das menschliche Leben durch zielgerichtete Formung zum Besseren zu verändern. Die phi­ losophischen Theorien der Antike stehen im Dienst einer bestimmten Praxis: Die wahre Philosophie ist also in der Antike geistige Übung. Die philosophischen Theorien werden entweder ausdrücklich in den Dienst der Praktik der geistigen Übungen gestellt, wie es im Stoizismus und Epikureismus der Fall ist, oder aber sie werden zu Gegenständen intellektueller Übungen, zu einer Betätigung des kontemplativen Lebens, die selbst schließlich nichts anderes ist als eine geistige Übung. […] Wir sind somit dazu angehalten, die Werke der antiken Philosophen mit gesteigerter Aufmerksamkeit für die existentielle Haltung zu lesen, welche die einzelnen Lehrgebäude begründet.158

Ausgangspunkt insbesondere der nachsokratischen antiken Philosophie ist nach Hadot die Ansicht, dass sich der Mensch um den Verlauf seines Lebens aktiv kümmern muss, damit er eine gelingende Existenz führen kann. Strukturell befindet sich der Mensch zunächst in einem defizienten Ausgangszustand, ein Verbleib in diesem Zustand würde zu einem verfehlten Leben führen. Nur eine zielgerichtete Formung des Selbst kann dies abwenden und den Zielzustand einer gelingenden Existenz herbeiführen. Die Philosophie versetzt den Menschen in die Lage, seine Situation zu artikulieren. Durch Philosophie kann der Mensch das Abzulehnende an seiner faktischen Situation identifizieren, er kann den anzustrebenden Zielzustand bestimmen und geistige Übungen etablieren, die das eigene Selbst so umformen, dass das ins Auge gefasste Ziel realisiert werden kann: Das in diesen Übungen von allen Philosophenschulen angestrebte Ziel ist die Veredelung, die Verwirklichung des Ich. Alle Schulen sind sich darüber einig, daß sich der Mensch vor seiner philosophischen Bekeh90  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

rung in einem Zustand unglückseliger Unruhe befindet, ein Opfer der Sorge und durch Leidenschaften innerlich zerrissen ist, daß er nicht wirklich lebt, sich selbst entfremdet ist. Sie vertreten auch übereinstimmend die Meinung, daß der Mensch aus diesem Zustand befreit werden, am wahren Leben teilhaben, sich bessern, sich umformen und einen Zustand der Vollkommenheit anstreben kann. Die geistigen Übungen sollen gerade dieser Formung des Ich, dieser paideia, dienen, die uns lehrt, nicht gemäß menschlichen Vorurteilen und gesellschaftlichen Konventio­nen zu leben (denn das Sozialleben ist selbst Produkt von Leidenschaften), sondern im Einklang mit der Natur des Menschen, die nichts anderes als die Vernunft ist.159

Mit Hilfe der Argumentation von Hadot und durch eine Betrachtung der Primärquellen kann gezeigt werden, dass Sinnvorstellungen die Grundlage der antiken Formung des Selbst durch geistige Übungen bilden, indem sie die Sicht des Menschen auf seine Welt mit seinen Vorstellungen über das gute Leben verbinden. Erst auf der Basis dieser Einheit können die anzustrebenden Ziele und die zu beschreitenden Wege im Streben des Menschen nach einer gelingenden Existenz zum Ausdruck gebracht werden. Eine herausragende Stellung nimmt dabei die Verortung des Menschen in einem sinntragenden Kosmos ein. Am Denken Marc Aurels zeigt sich, inwiefern diese Sinnvorstellung direkt auf die Formung des menschlichen Selbst durch Philosophie bezogen ist. Nach Hadot dienen die Selbstbetrachtungen von Marc Au160 rel dazu, eine bestimmte Haltung gegenüber der Welt und den Mitmenschen einzuüben. Die geistigen Übungen des Marc Aurel entspringen aus einigen grundlegenden Sinnvorstellungen, die aus Auffassungen über die Stellung des Menschen zu seiner Welt bestehen. Die tragenden Fundamente der stoischen Weltsicht sind der sinnhaft geordnete Kosmos als Ort des Menschen und der Raum der Freiheit, der sich in den Möglichkeiten, auf den Kosmos Bezug zu nehmen, aufspannt. Die Sinnhaftigkeit des Kosmos besteht in der Stellung der einzelnen Dinge zueinander: Sie bilden eine geordnete Ganzheit.161 Die harmonische Ordnung des Seienden stellt den zentralen Bezugspunkt der menschlichen Existenz dar. Die Ordnung des Kosmos wird durch die göttliche Vernunft, die ihn durchwaltet, zustande gebracht – so wie die Vernunft das Leben des Menschen im Kleinen ordnet, so ordnet sie den Kosmos im Großen. Marc Aurel formuliert das wie folgt: Marc Aurel  |  91

Ehre das stärkste aller Dinge im Kosmos. Es ist das, was alle Dinge gebraucht und alles in seiner Ordnung hält. Ebenso halte aber auch das stärkste in dir in Ehren. Es ist das, was jenem verwandt ist. Denn auch bei dir ist es das, was alles andere gebraucht, und dein Leben wird von ihm geordnet.162

Die Ordnung des Seienden im Kosmos geht mit der Zielgerichtetheit des Werdens, das der Vervollkommnung zustrebt, einher. Einzelereignisse bilden eine geordnete Ganzheit, die dem Menschen als Schicksal begegnet. Zwischen dem Werden im kosmischen Maßstab und der Entwicklung des menschlichen Lebens besteht eine Parallele: Und wie das Seiende harmonisch zusammengefügt ist, so läßt auch das Werdende keine bloße Abfolge, sondern einen wunderbaren inneren Zusammenhang erkennen.163 Denn überhaupt ist alles eine einzige Harmonie, und wie sich der Kosmos als allumfassender Körper aus allen Einzelkörpern zusammensetzt, so setzt sich das Schicksal als die allumfassende Ursache aus allen Einzelursachen zu einem Ganzen zusammen. […] Die Vollendung und Verwirklichung der Dinge, die die allgemeine Natur beschlossen hat, soll dir als ein Ziel erscheinen, das deiner Gesundheit vergleichbar ist. Und in diesem Sinne begrüße alles, was geschieht, weil es dorthin führt: zur Gesundheit des Kosmos und zum Glück und zum guten Wirken des Zeus. Denn alles, was geschieht, würde niemanden etwas bringen, wenn es nicht dem Ganzen etwas brächte.164

Auch wenn Marc Aurel den Kosmos als harmonischen und geordneten Zusammenhang des Seienden beschreibt, ist hier keine vollkommen ungetrübte Harmonie gemeint, die ohne einen strukturellen Antagonismus zwischen dem Menschen und seiner Welt einherginge. Marc Aurel reflektiert die Vergänglichkeit in der Welt und das Leid, das notwendigerweise damit einhergeht: Alles ist dem Wandel ausgesetzt. Auch du selbst befindest dich in dauernder Veränderung und gewissermaßen in einem Prozeß des Vergehens wie auch der gesamte Kosmos.165 Wie schnell alles verschwindet: In der Welt die Lebewesen selbst, in der Ewigkeit die Erinnerung an sie. So ist es mit allem Wahrnehmbaren und vor allem dem, was mit der Erwartung auf Lust lockt oder mit Mühsal abschreckt oder mit Eitelkeit überall verbreitet wird: Wie 92  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

billig, verächtlich, schmutzig, vergänglich und tot diese Dinge sind – das zu verstehen, liegt im Bereich unseres vernünftigen Denkens.166

Das Bewusstsein der allumfassenden Vergänglichkeit ist bei Marc Aurel vorhanden, eine ausführliche Klage über den Schmerz, der dadurch verursacht wird, findet sich bei ihm jedoch nicht. Auch bei Marc Aurel steht der Mensch einer Leid verursachenden Vergänglichkeit gegenüber, aber in der Weise seiner geistigen Bezugnahme auf diese Vergänglichkeit ist er frei. Das Leiden an der Vergänglichkeit ist nichts, was der Mensch einfach so ausblenden könnte, weil es ein zentrales und zuweilen überwältigendes Moment seiner Existenz darstellt: Der Mensch leidet an seiner Welt. Nach Marc Aurel ist dies aber nur der überwindbare Ausgangszustand der menschlichen Existenz. Der Mensch muss sich dem nicht hingeben, er kann sich aus diesem Ausgangszustand befreien, indem er sich vor Augen führt, dass er in seiner Bezugnahme auf die Vergänglichkeit frei ist und dass er, wenn er die Wahrheit über die Welt genauer erkundet, in Wirklichkeit einer harmonischen und beständigen Ordnung gegenübersteht. Diese göttliche Geordnetheit befindet sich jedoch nicht von vornherein im Blickfeld des Menschen, der Mensch muss sich erst für sie öffnen. Wahrheit ist hier nicht das Resultat eines rein kognitiven Erkenntnisprozesses, der im Prinzip von jedem Menschen zu jeder Zeit vollführt werden könnte. Wahrheit als Einblick in die Zusammenhänge der Welt ist hier etwas, auf das sich der Mensch vorbereiten muss, sie ist das Ziel eines Einübungsprozesses, der eine grundlegende Transformation der menschlichen Existenz bewirken soll. Der Mensch kann sich nach Marc Aurel durch geistige Exerzitien für die Wahrheit öffnen und übend zur Einsicht gelangen, dass das Leben in der Welt nur auf den ersten Blick durch leidvolle Vergänglichkeit bestimmt ist, dass es aber in Wirklichkeit Teil einer harmonischen, beständigen Ordnung ist. Diese Wahrheit über die Situation seiner Existenz muss sich der Mensch erst erringen, er muss sich den umfassenden Blick auf die Eingebundenheit in eine beständige göttliche Geordnetheit durch geistige Übungen aktiv angewöhnen. Den entscheidenden Ausgangspunkt hierfür bildet das Bewusstsein für die Freiheit, die der Mensch in seiner Einstellung zur Welt und zu den Übeln in der Welt besitzt: Marc Aurel  |  93

Was es auch sei, es mag die Dinge von außen treffen, die aufgrund dessen leiden können. Die davon betroffenen Dinge werden sich, wenn sie wollen, beklagen, ich aber habe noch keinen Schaden erlitten, wenn ich nicht in mein Bewußtsein aufnehme, daß das Ereignis ein Übel ist. Es ist mir aber möglich, dies nicht in mein Bewußtsein aufzunehmen.167 Der Schmerz ist entweder für den Körper ein Übel – dann soll er es zeigen – oder für die Seele. Doch sie hat die Möglichkeit, sich die ihr eigentümliche Heiterkeit und Ruhe zu bewahren und nicht anzunehmen, daß er ein Übel ist. Jedes Urteil, jeder Wunsch, jedes Verlangen und jede Ablehnung entsteht in uns, und nichts kommt von außen herein.168

Die Freiheit liegt demnach darin, dass der Mensch einen Einfluss auf die Weise seiner Bezugnahme auf die Welt besitzt. Die Vergänglichkeit der Welt ist ein Faktum, aber die Übel werden nur zu Übeln, wenn der freie Mensch sie als solche auffasst. Nach Marc Aurel steht der Mensch vor der Aufgabe, sich zur harmonischen Ganzheit des Kosmos in einen Bezug zu setzen. Diese Bezugnahme vollzieht der Mensch in der Einstellung, die er gegenüber dem Ganzen und seiner Teile einnimmt. Hierin liegt die Freiheit des Menschen: Er kann seine Einstellung zur Welt aktiv beeinflussen. Vieles, was dem Menschen widerfährt, entzieht sich seiner Herrschaft. Wenn sich Dinge in der Welt im Einflussbereich des Menschen befinden, dann tun sie dies kontingenterweise. Was aber der Mensch notwendigerweise in seiner Macht hat, ist seine Einstellung gegenüber dem innerweltlich Seienden. Deswegen hat sich sein Streben insbesondere hierauf zu fokussieren. Er soll sich bemühen, sich von dem, was er nicht in der Hand hat, unabhängig zu machen, indem er eine Haltung der Gleichgültigkeit diesen Dingen gegenüber einübt: Das schönste Leben führen: diese Möglichkeit liegt in der Seele, wenn einem die gleichgültigen Dinge gleichgültig sind. Sie werden einem gleichgültig sein, wenn man jedes gleichgültige Ding in seine Einzelheiten zerlegt und als Ganzes betrachtet und daran denkt, daß uns keines von ihnen eine Auffassung über sich aufzwingt und auch nicht auf uns zukommt, sondern daß die Dinge ohne Bewegung bleiben und wir selbst diejenigen sind, die die Urteile über sie erzeugen und gleichsam in uns selbst aufschreiben […].169 94  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Marc Aurel will das aber nicht als ein Zurechtlügen der Wirklichkeit verstanden wissen: In seiner Sichtweise wird der Mensch von den Launen der Welt unabhängig, indem er sich die Wahrheit über die Welt vor Augen führt. Er wird frei, indem er erkennt, dass das, was nicht wesenhaft von seinem Willen abhängt – also alles Innerweltliche –, gleichgültig ist. Zu dieser Erkenntnis kann der Mensch dadurch gelangen, dass er die Dinge in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt und die Einzelteile gesondert für sich betrachtet, was zur Folge hat, dass der Eindruck ihrer Bedeutsamkeit schwindet und die Nichtigkeit selbst der erhabensten Dinge erkennbar wird.170 Noch entscheidender ist aber der Vollzug eines Perspektivwechsels: Es gilt, die Dinge von falschen menschlichen Wertungen zu befreien, sie aus der kleinlichen menschlichen Perspektive he­ raus­zuheben, um sie aus der kosmischen Perspektive zu betrachten. Das meiste, was dem Menschen aufgrund seiner Emotio­nen oder gesellschaftlichen Konventio­nen als bedeutsam erscheint, ist aus dem kosmischen Blickwinkel lediglich ein kleiner, wenig entscheidender Teil des Ganzen. Indem der Mensch die Dinge aus dem menschlichen Blickwinkel heraushebt und in den Bereich der Naturordnung einordnet, kann er ihren wahren Wert erkennen und auf dieser Grundlage eine Haltung der Gleichgültigkeit ihnen gegenüber einnehmen.171 Der Schmerz, der durch etwas Gleichgültiges verursacht wird, ist leichter zu ertragen als der Schmerz, der von etwas Wichtigem ausgeht. So erwächst aus der Haltung der Gleichgültigkeit die Unabhängigkeit des Menschen von den Dingen als die zentrale Bedingung zur Erlangung von Seelenruhe. Die Bezugnahme auf Seiendes in der Welt ist von der Bezugnahme auf das Weltganze zu unterscheiden. Entgegengesetzt zur Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Seienden steht bei Marc Aurel die Haltung gegenüber dem Ganzen des Seienden und Werdenden. Der Mensch ist aufgefordert, eine harmonische, einstimmige Haltung zur Weltordnung einzunehmen: Dies ist mit Marc Aurels Aufforderung, in »freiwilliger Übereinstimmung« mit dem »Schicksal« und mit der »Natur« zu leben, gemeint.172 Der Mensch soll in Anlehnung an die Ordnung des Seienden und an die Zielgerichtetheit des Werdens in seinem Inneren eine analoge zielgerichtete Ordnung entfalten. Die Möglichkeit hierzu trägt er in sich, insofern er zur Vernunft fähig ist. Der Marc Aurel  |  95

Zusammenhang der Dinge ist das Entscheidende, ja »Heilige«, und der vernünftig geordnete Zusammenhang des Kosmos ist der zentrale Orientierungspunkt für den Menschen: Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd. Denn es ist zusammengefügt und bildet gemeinsam denselben Kosmos. Es gibt nämlich nur einen Kosmos, der aus allem, was existiert, besteht, nur einen Gott, der in allem ist, nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft, nur eine Wahrheit unter der Voraussetzung, daß es auch nur eine Vollkommenheit der Wesen gibt, die alle diese Herkunft haben und an derselben Vernunft teilhaben.173

Die Wahrheit eröffnet dem Menschen einen Blick auf die kosmische Ordnung, die das Vorbild darstellt für die Geordnetheit einer menschlichen Existenz, die sich auf vernünftige Prinzipien gründet. Die Wahrheit zeigt dem Menschen, wie er in sich eine Vernünftigkeit entfalten kann, die in seinem Inneren eine ähnliche Ordnung erzeugt, wie sie auch im Kosmos um ihn herum anzutreffen ist. Nur durch geistige Übungen kann der Mensch in sich eine derartige Ordnung etablieren. Um zu wissen, auf welche Weise er seine Existenz umzubilden hat, muss er eine Einsicht in die Ordnungszusammenhänge des Kosmos bekommen. Genau in diesem Sinne bildet die Wahrheit, die als die Erkenntnis der kosmischen Ordnung verstanden wird, das Fundament der geistigen Übungen des Marc Aurel. Nur auf der Grundlage der Wahrheit kann sich der Mensch ein Bewusstsein über den Zielzustand bilden, der das Ergebnis seiner Transformation durch geistige Übungen darstellen soll. Die Wahrheit gibt den Anstoß für die Übungsbewegung und bestimmt zugleich ihre Richtung. Sie bildet die Grundlage der geistigen Übungen: Wenn mich jemand widerlegen und mir beweisen kann, daß meine Annahmen nicht stimmen und daß ich nicht recht handele, werde ich mich mit Freuden ändern. Denn ich suche die Wahrheit, durch die noch nie jemand geschädigt wurde; einen Schaden hat jedoch derjenige, der bei seinem Selbstbetrug und bei seiner Unwissenheit bleibt.174

Hier zeigt sich erneut, in welchem Sinne das antike Denken auf Sinnvorstellungen beruht, bei denen die Vorstellungen über das gute Leben direkt auf die Erkenntnisse über die Welt bezogen sind. 96  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Die Aussagen über das, was sein soll, beruhen auf den Aussagen über das, was ist. In dieser Vorstellungswelt zeichnet der Kosmos den Weg des Menschen zu einer gelingenden Existenz vor. Sinnvorstellungen bilden die Grundlage von umfassenden Weltsichten, sie eröffnen dem Menschen einen Möglichkeitsraum der Bezugnahme auf die Welt. Was also hängt bei Marc Aurel von der Sinnvorstellung des geordneten Kosmos ab? Nichts weniger als der gesamte Lebensentwurf eines durch geistige Übungen zum Besseren strebenden Lebens. Die Sinnvorstellung bestimmt das Ziel der geistigen Übungen und den Weg dahin: Es ist offensichtlich, dass für Marc Aurel nur eine sinntragende, nicht aber eine sinnfreie Weltganzheit eine Einstellungsänderung gegenüber den Einzeldingen bewirken kann: Entweder ist es ein Gemisch, eine Verknüpfung und Wiederauf­lösung oder Einheit, Ordnung und Planung. Wenn nun das erste zutrifft – warum will ich da noch in einem zufälligen Gebilde und einem solchen Durcheinander verweilen? Wieso soll ich mich da um etwas anderes kümmern als darum, »daß ich einmal zu Erde werde«, d. h. daß ich einigermaßen durchkomme? Warum soll ich mich noch aufregen? Denn auf mich wartet ja die Wiederauflösung, was immer ich tue. Wenn aber das zweite richtig ist, dann empfinde ich Ehrfurcht, genieße innere Ruhe und vertraue auf die alles lenkende Vernunft.175

Alles hängt hier an der Sinnvorstellung eines geordneten Kosmos: Ohne eine kosmische Ordnung gäbe es kein Vorbild, an dem sich das Streben des Menschen nach Vernünftigkeit orientieren könnte. Ohne eine Ordnung im Großen hätte die Ordnung im Kleinen – die durch Vernünftigkeit geleitete menschliche Existenz – keine Grundlage in der Welt. Die Vorstellung einer Harmonie mit dem Kosmos wäre dann obsolet. Die Auffassung, dass die Übel in der Welt in Wahrheit keine sind und dass sich das Leiden an der Welt durch eine übergreifende Perspektive in ein anderes Licht rücken ließe, wäre schlicht Selbstbetrug. Fehlt die Vorstellung einer zielgerichteten kosmischen Ordnung, bricht auch die Unterscheidung zwischen sinnerfüllter Seelenruhe und beklemmender Sinnlosigkeit in sich zusammen. Für Marc Aurel beruht die übende Transformation des Selbst darauf, dass der Mensch seine »bloß menschlichen« Maßstäbe transzendiert, indem er sie durch die höheren Maßstäbe des Kosmos ersetzt und so eine Bewegung des Menschen Marc Aurel  |  97

von seinem vorgefundenen faktischen Zustand zu etwas Höherem in Gang setzt. Diese Bewegung wird wesentlich von der Vorstellung getragen, dass die Herausbildung einer inneren Ordnung sich als Angleichung an eine kosmische Ordnung zu vollziehen hat – die zielgerichtete Umformung des Selbst wird auf diese Weise in der Welt verortet. Zur artikulierten Sinnvorstellung gehören somit die Verortung in der Welt und die Ingangsetzung einer Bewegung, deren Ziel der Zustand sinnerfüllter Seelenruhe darstellt. So wird am Denken von Marc Aurel deutlich, inwiefern Sinnvorstellungen für eine durch geistige Übungen bestimmte Lebensweise eine strukturelle Bedeutung besitzen. Notwendige Bedingung für ein geistig übendes Leben ist die Einbettung der Übungen mit all ihren Momenten in einen Raum der Artikulierbarkeit. Insofern das übende Arbeiten am Selbst ein Arbeiten an der Lebenspraxis ist – am Verhalten, an den Wünschen und an den Bestrebungen –, muss es auch ein Arbeiten an den Vorstellungen sein: Zu einer Lebenspraxis gehört unumgänglich auch eine passende Theorie. Eine solche Einheit von Praxis und Theorie sieht Hadot generell bei den Stoikern realisiert: Die Disziplinierung des Begehrens und die Disziplinierung der Strebungen lassen sich beide auf eine Disziplinierung der Vorstellung zurückführen, das heißt auf eine Veränderung der Art und Weise, die Dinge zu sehen: Es geht genau gesagt darum, wie wir eben gesehen haben, die Dinge in die allgemeine Perspektive der Allnatur oder der vernünftigen menschlichen Natur zurückzustellen; es geht auch darum, die Vorstellung vom Gefühl zu trennen (d. h. von der falschen Vorstellung), das sie begleitet, und in uns Verwirrung, Traurigkeit oder Angst hervorruft.176

Sinnvorstellungen bestimmen den Bezugspunkt, an dem sich das menschliche Denken in seiner übenden Veränderung orientiert. Stoiker wie Marc Aurel üben sich explizit darin, Seiendes in der Welt in einer bestimmten Weise zu erfahren: bereinigt von konventionellen Vorstellungen, aufgeteilt in die quantitativen und wesent­ lichen Bestandteile und eingeordnet in die »Allnatur« als Totalität des Seienden.177 Indem Stoiker dies tun, vollziehen sie eine Objek­ tivierung. Wahrheit und Objektivität gewinnen Urteile über Seiendes durch die Einnahme einer kosmischen Perspektive: 98  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

[N]ur die »physikalischen« (d. h. vom Standpunkt der Allnatur her gewonnenen) Vorstellungen von den Dingen sind objektiv, die Urteile also, mit denen wir den Dingen ihre wahren, natürlichen, mithin »physikalischen« Attribute zuteilen, anstatt falsche Eigenschaften in sie hineinzuprojizieren, welche nur ein Spiegelbild der menschlichen Leidenschaften und Konventio­nen sind.178

Zur beschriebenen Lebensweise, die durch geistiges Üben bestimmt ist, gehört eine reflektierte Artikulierung ihrer zentralen Momente. Hier reicht es nicht, den Lebensentwurf auf der Ebene der Implizitheit – der Gestimmtheit und des Gefühls – zu belassen. Zu einem Sinnentwurf, der auf geistigen Übungen basiert, gehört als integraler Bestandteil die Ausformulierung dieses Sinnentwurfes. Bei den Stoikern vollzieht sich die Artikulierung des guten Lebens als Verortung im geordneten Kosmos. Der Mensch verortet explizit sich selbst, seine Mitmenschen und das innerweltlich Seiende im geordneten Zusammenhang der kosmischen Ganzheit. Indem er dies tut, vollzieht er die geistige Übung. Diese Verortung besitzt einen objektivierenden, die menschlichen Kontingenzen transzendierenden Charakter. Die Sinnvorstellung des geordneten Kosmos bildet damit das Fundament der geistigen Übung und begründet eine eigene Wahrheitsauffassung: Menschliche Vorstellungen sind wahr aufgrund ihrer Bezogenheit auf die geordnete Ganzheit des Seienden. Der Weg zur gelingenden Existenz ist nicht unabhängig von den Zusammenhängen der Welt, sondern direkt mit ihnen verwachsen. In den Dingen erscheint eine unmittelbar existentiell relevante Wahrheit – was sich in dieser Wahrheit in erster Linie offenbart, ist die Beziehung des Seienden zum Ganzen, sein Ort im Kosmos. All dem misst Marc Aurel eine entscheidende Bedeutung bei: Wer nicht weiß, was der Kosmos ist, weiß nicht, wo er ist. Wer nicht weiß, wozu er geschaffen worden ist, weiß nicht, wer er ist und auch nicht, was der Kosmos ist. Wer aber eins davon nicht erfaßt, könnte auch nicht sagen, wozu er da ist. Wie also kommt dir derjenige vor, der auf den Beifall oder das Mißfallen von Theaterbesuchern achtet, die weder erkennen, wo sie sind, noch wer sie sind?179

Die geistigen Übungen der Antike schließen das menschliche Denken und Handeln zu einer Einheit zusammen. Diese Einheit Marc Aurel  |  99

ist aber keine, die sich von selbst einstellen würde, diese Einheit ist etwas, worum sich der Mensch aktiv bemühen muss. Der Mensch steht zunächst in einem antagonistischen Verhältnis einer Welt gegenüber, die eine Quelle des Übels und des Leidens zu sein scheint. Der Mensch kann aber zu dieser Welt ein harmonisches Verhältnis aufbauen, indem er forschend des göttlichen Charakters der Welt gewahr wird und indem er das so erzeugte Bewusstsein tief in seinem Selbst verinnerlicht. Das harmonische Verhältnis zu einer Welt, die dem Menschen zunächst feindselig erscheint, ist das Resultat der geistigen Übung und damit etwas Erzeugtes. Vollzogen werden kann die geistige Übung aber nur deswegen, weil in dem denkenden Aufschwung des Menschen eine Annäherung an eine Wahrheit stattfindet. Die geistigen Übungen eines Marc Aurel ergeben nur einen Sinn, wenn der Kosmos tatsächlich die beschriebene Ordnung aufweist. In diesem Sinne beruhen die geistigen Übungen der Antike auf Sinnvorstellungen, die eine umfassende Sicht auf die Welt und auf das menschliche Leben in dieser Welt begründen. Genau dies ist gemeint, wenn Hadot das Denken der Antike als geistiges Üben charakterisiert, das auf eine umfassende Umwandlung des inneren Lebens gerichtet ist – Hadot spricht in diesem Zusammenhang von einem Verschmelzen von ethischen und onto­logischen Bedeutungen: Wie schon oben gesagt, halten wir es für besser, auf die Wurzel Geist zurückzugreifen, um zu verstehen zu geben, daß die antiken Philosophen mit diesen Übungen eine totale Umwandlung des inneren Lebens, eine radikale Veränderung der Sicht aller Dinge, eine Metamorphose der Persönlichkeit, ein Sich-Aufschwingen des Individuums zur Höhe des objektiven Geistes hervorrufen wollten. Diese Übungen haben daher nicht nur ethische, sondern auch onto­logische Bedeutung, und aus diesem Grunde werde ich mich letztlich des Ausdrucks geisti­ ge Übung im Zusammenhang mit der antiken Philosophie bedienen.180

Am Denken von Marc Aurel zeigt sich ein weiteres zentrales Merkmal der meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Antike: Diese sind als geistige Übungen konzipiert, die darauf abzielen, das Leben des Menschen umfassend zu verändern. Diese geistigen Übungen beruhen darauf, dass sich die theoretische Sicht auf die Welt mit der praktischen Frage nach dem guten Leben zu einer Einheit verbindet. Durch die geistigen Übungen wird der Antagonismus 100  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

zwischen dem Menschen und seiner Welt aufgelöst: Der Mensch schwingt sich aus einem defizienten Ausgangszustand, bei dem sein Lebensglück durch die Widrigkeiten der Welt niedergedrückt wird, zu einem höheren Zustand hinauf, bei dem die überwältigende Vehemenz des Weltlichen überwunden ist und der Mensch deswegen eine gelingende Existenz realisieren kann. In dieser Vorstellungswelt führt der Weg zur gelingenden Existenz über geistige Übungen. Gerade bei diesem Merkmal vormoderner Sinnentwürfe liegen für den heutigen Betrachter Vertrautheit und Fremdheit eng beieinander, und gerade dieses Merkmal kann auch unter den Bedingungen der Moderne noch eine große Anziehungskraft ausüben. Deswegen muss an dieser Stelle das Verhältnis der antiken geistigen Übungen zur heutigen Situation gesondert untersucht werden.

2.3.2  Moderne Bezugnahmen auf die Idee des geistigen Übens

Der vorangegangene Abschnitt hat gezeigt, in welchem Sinne vormoderne Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug mit einer direkten lebenspraktischen Relevanz einhergehen. In diesem Abschnitt geht es um moderne Bezugnahmen auf die Idee des geistigen Übens. Vielen heutigen Menschen sind die großen antiken Sinnentwürfe sehr fremd geworden – insbesondere der Wahrheitscharakter der Sinngehalte entzieht sich den Per­spek­ti­ven des modernen Denkens. Das folgende Kapitel wird jedoch zeigen, inwiefern die Vorstellung des geistigen Übens auch heute noch eine große Anziehungskraft entfalten kann und warum diese Anziehungskraft direkt mit der Fremdheit der tradierten Sinngehalte konfligiert. Daraus entstehen verschiedene moderne Strategien mit dem Ziel, an den Eckpfeilern der vormodernen meta­phy­sischen Sinnentwürfe durch eine Umund Neuinterpretation festzuhalten. Die folgenden Abschnitte ana­ lysieren das komplexe Verhältnis des modernen Denkens zu den geistigen Übungen der Antike und hierbei insbesondere das charakteristische Schwanken zwischen Entfremdung und Anziehung.

Moderne Bezugnahmen auf die Idee des geistigen Übens  |  101

2.3.2.1 Der Antagonismus zur Welt und die Transformation der ­Existenz: Martin Heidegger

Über das Gelingen oder Scheitern der menschlichen Existenz entscheidet in den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Antike das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt. Es findet sich immer wieder folgende Strukturbeschreibung des menschlichen Lebens: Im Ausgangszustand der faktischen Existenz befindet sich der Mensch in einem antagonistischen Verhältnis zu seiner Welt – die Beschaffenheit der Welt steht dem Gelingen seiner Existenz entgegen. Durch eine grundlegende innere Transformation kann der Mensch sein Verhältnis zur Welt jedoch auf eine andersartige Grundlage stellen und so das Scheitern seiner Existenz abwenden. In der Weise der Bezugnahme auf die Welt entscheidet sich, ob der Mensch ein harmonisches oder ein antagonistisches Verhältnis zur Welt eingeht. Dies wiederum gibt den Ausschlag über das Scheitern oder Gelingen seiner Existenz. Eine derartige Strukturbeschreibung findet sich in vielen Denkrichtungen, die der Artikulation des Lebenssinns einen zentralen Platz einräumen. Solche Auffassungen sind sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles erkennbar, sie finden sich auch im Christentum wieder und sie bilden, wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, auch das Gerüst der geistigen Übungen Marc Aurels. Bei all diesen Denkern entspringt der Antagonismus des Menschen zu seiner Welt aus dem Vergänglichkeitscharakter der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, die dem Glück des Menschen entgegensteht. Da eine derartige Entgegensetzung dem modernen Denken sehr fremd geworden ist, stellt sich die Frage, ob die Kluft zwischen Mensch und Welt notwendigerweise aus der Vergänglichkeit des Werdens entspringen muss und ob sich die angestrebte Harmonie zwischen Mensch und Welt nur an der Beständigkeit einer göttlichen kosmischen Ordnung orientieren kann. Es stellt sich die Frage, ob die obige Strukturbeschreibung der Existenz mit der Vorstellung einer transzendenten Sphäre der Beständigkeit untrennbar verbunden ist oder ob sie, als eine formale Beschreibung der menschlichen Situation, ein Stück weit von den inhaltlichen Sinngehalten der überlieferten meta­phy­sischen Sinnentwürfe abgelöst werden kann. Eine solche Abgrenzung findet sich im Denken Martin Hei­deg­ gers. Zu Beginn dieses Buches wurde die Frage, ob die hier behandelten Interpretatio­nen der menschlichen Situation einen objek102  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

tiven oder nur einen historisch kontingenten Charakter besitzen, zugunsten einer anderen Frage zurückgewiesen: Beschränkt sich eine Interpretation der menschlichen Existenz auf die Denkweise der antiken Sinnentwürfe und deren Traditionslinie, beschränkt sie sich auf spezifisch moderne Per­spek­ti­ven oder umgreift sie beides?181 Wenn man diese Frage auf den Sinnentwurf des Marc Aurel aus dem vorangegangenen Kapitel bezieht, muss man feststellen, dass sich Marc Aurels Denken in entscheidenden Aspekten dem modernen Verständnis entzieht. Aber die obige Strukturbeschreibung der menschlichen Existenz, die für das antike Denken sehr charakteristisch ist und die sich auch bei Marc Aurel wiederfindet, kann so umformuliert werden, dass sie sich auch für das Verständnis von heutigen Menschen öffnet. Die Existenzanalyse Heideggers kann als der Versuch aufgefasst werden, das antagonistische Verhältnis des Menschen zu seiner Welt durch eine Interpretation zu verstehen, die sowohl die moderne als auch die antike Weise des Denkens umschließt. Den Ausgangspunkt bildet die Interpretation der menschlichen Existenz, wie sie Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit entwirft.182 Heidegger ist in seinem Denken stark von der antiken, insbesondere aristotelischen Philosophie beeinflusst, zugleich ist er aber bestrebt, die Vorstellungen der Antike außerhalb von tradierten Begrifflichkeiten darzustellen, um Missdeutungen zu vermeiden, die aus einem Begriffsapparat entspringen, der sich über die Jahrhunderte mit immer neuen Bedeutungen aufgeladen hat. So entwickelt Heidegger eine existenzphilosophische Analyse des menschlichen Lebens, die in weiten Teilen mit modernen Denkweisen im Einklang steht und sowohl moderne als auch vor­moderne Per­spek­ti­ven des Denkens umgreift. Den Begriff des Übens verwendet Heidegger nicht explizit, jedoch geht es bei ihm um eine grundlegende Umwandlung der faktischen Existenz, weswegen seine Reflexionen pro­blemlos um den Übungsaspekt erweitert werden können. Ein entscheidendes Merkmal der menschlichen Existenz ist nach Heidegger die Geworfenheit des Menschen. Der Mensch findet sich in eine Welt gestellt, und sein Verhältnis zur Welt ist nicht durch eine von selbst und unwillkürlich sich herausbildende Harmonie, sondern von Reibungen und Widerständen geprägt. Heidegger Martin Heidegger  |  103

spricht in diesem Zusammenhang von der Unheimlichkeit der Welt und von dem Un-zuhause des Menschen in dieser Welt.183 Die Welt ist dem Menschen unvertraut: Er weiß nicht von vornherein, woher er kommt und wofür er zu leben hat, aber in seiner Situiertheit in der Welt ist sich der Mensch überantwortet in dem Sinne, dass er sein Leben führen muss, dass er etwas aus seinem Leben machen muss. Er muss sich aktiv darum kümmern und sich darum bemühen, dass sein Leben gelingt, weil dies nicht von selbst geschieht. Ganz im Gegenteil droht sein Leben zu scheitern, wenn er sich den Einflüssen seiner Welt einfach hingibt. Der Vollzug des menschlichen Lebens in der Welt ist dadurch geprägt, dass sich der Mensch mit verschiedenen Möglichkeiten des Handelns und Verhaltens konfrontiert sieht, zwischen denen er sich entscheiden muss. Heidegger spricht hier vom Entwurfscharakter der menschlichen Existenz:184 Aus den sich ihm eröffnenden Möglichkeiten muss der Mensch wählen, indem er bestimmte Möglichkeiten verwirklicht und bestimmte andere verwirft. Geleitet wird er hierbei, abstrakt gesprochen, von dem Bestreben, etwas aus seinem Leben zu machen, und zwar derart, dass er das Ergebnis als eine erfüllte und gelingende Existenz erleben kann. Für die Möglichkeiten, die sich ihm in seiner Welt bieten, entwickelt der Mensch ein Verständnis185 – wenn auch nicht immer begrifflich explizit artikuliert. Zu seiner Situiertheit in der Welt gehört, dass der Mensch stets in eine Gemeinschaft mit anderen Menschen hineingeboren wird, in dieser Gemeinschaft heranwächst und dabei sehr grundlegend von ihr geprägt wird.186 Von seiner Mitwelt erlernt der Mensch seine Denkweisen und Handlungsmuster. Er ist auf die Interaktion mit seinen Mitmenschen angewiesen, um überhaupt einen Zugang zu seiner Welt herauszubilden. In seinem Leben muss er es in vielen Bereichen dabei belassen, die Weltdeutung seiner Mitmenschen zu übernehmen, nur in wenigen Bereichen kann es ihm gelingen, sich die Welt in einer genuin eigenen Beziehung selbst zu erschließen. Aber wenn sich der Mensch vollständig der Führung durch die Welt und durch die Mitmenschen überlässt, wenn er vollständig in den Meinungen und Forderungen seiner Gesellschaft aufgeht, wenn er nur so lebt, wie man so lebt, kann er sich fast sicher sein, dass dies zu einem verfehlten Leben führt.187 Dies ist die Verfallenheit an das Man,188 die nach Heidegger einer gelingenden, eigent­lichen Existenz entgegensteht. Die Essenz von Heideggers 104  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Interpretation der menschlichen Existenz lautet damit – in seiner eigenen Terminologie – wie folgt: Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins kann demnach bestimmt werden als das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der »Welt« und im Mitsein mit Anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht.189

Bei dieser kurzen Zusammenfassung der Heidegger’schen Interpretation der menschlichen Existenz geht es nicht um eine vollständige Darstellung von Heideggers Philosophie, es geht vielmehr darum zu zeigen, dass es möglich ist, Phänomene, die die Fundamente der menschlichen Existenz betreffen, philosophisch in einem heute verständlichen Vokabular190 so zu beschreiben, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den überlieferten Sinnentwürfen der Vergangenheit und der heutigen Zeit in den Vordergrund rücken. Eine ähnliche Beschreibung hätte auch die antike Philosophie geben können – wenn auch in anderen Worten. Selbstverständlich finden sich bei Heidegger auch Gedanken, für die das nicht gilt und die nur vor dem Hintergrund des modernen Denkens verständlich sind. An dieser Stelle ist jedoch die Fähigkeit des Heidegger’schen Denkens, antike und heutige Denkperspektiven zu umgreifen, relevant.191 In Heideggers Interpretation der menschlichen Existenz kommen Ansichten über die Stellung des Menschen zur Welt zum Ausdruck, die sich sowohl mit dem Vokabular der antiken Sinnentwürfe als auch mit dem Vokabular des modernen Denkens im Einklang befinden. In Heideggers Deutung steht der Mensch seiner Welt in einem bestimmten Sinne antagonistisch gegenüber: Die menschliche Existenz, so wie sie zunächst von jedem Menschen vollzogen wird, orientiert sich an ihrer Umwelt und Mitwelt und geht vollständig in dieser Beziehung auf. Ein Verharren in den Routinen, die von der Welt und von den Mitmenschen vorgezeichnet werden, ist jedoch gefährlich: Wenn der Mensch vollständig in den Weltbezügen aufgeht, die ihm seine Lebenssituation darbietet, muss seine Existenz scheitern. Oder im Vokabular von Heidegger: Eine Existenz, die vollständig im besorgenden Umgang mit dem innerweltlich Seienden und im Man aufgeht, verfällt an die »Welt« und verfehlt das eigenste Seinkönnen, die eigentliche Existenz, und verbleibt in der Martin Heidegger  |  105

Uneigentlichkeit. Weil sich der Mensch überhaupt nur mit Hilfe der Weltbezüge seiner Mitmenschen zu einem Menschen herausbilden kann, handelt es sich dabei nicht um einen behebbaren Makel, sondern um ein Strukturmoment der menschlichen Existenz. Aber dieses Strukturmoment hat den Charakter einer Vorläufigkeit, es beinhaltet die Aufforderung, sie zu überwinden. Deswegen kann es als ein Ausgangszustand der menschlichen Existenz aufgefasst werden, als ein Ausgangspunkt für eine Bewegung, die zu einer gelingenden Existenz führen soll. Faktisch jedoch verbleiben Menschen häufig in diesem Ausgangszustand, indem sie ihr Leben vollständig so leben, wie es ihre Welt ihnen vorgibt. Genau in diesem Sinne besteht innerhalb dieser Sichtweise zunächst ein antagonistisches Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Welt. In Heideggers Interpretation der menschlichen Existenz muss der Mensch einiges an Anstrengungen unternehmen, um sich aus diesem Zustand herauszuarbeiten: Die Welt, mit der der Mensch konfrontiert ist, entfaltet als Um- und Mitwelt eine starke Sogwirkung. Sie nimmt die Tätigkeiten des Menschen und auch seine Aufmerksamkeit in Anspruch und drängt den Menschen zu einer Lebensweise, die seinem inneren Drang nach Glückseligkeit entgegensteht. Die Welt als zusammenhängende Gesamtheit der Beziehungen zu den Dingen und zu den Mitmenschen entfaltet in Heideggers Deutung der menschlichen Situation eine Anziehungskraft, die zugleich eine Verlockung ist, die aber den Menschen zu einer verfehlten Lebensweise herunterzieht. Heidegger spricht hier von dem versucherischen In-der-Welt-sein, das den Menschen in einem Wirbel verfängt, entfremdet und zu einem Absturz in die Uneigentlichkeit, in die »Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der un­ eigent­lichen Alltäglichkeit« niederreißt.192 Es ist klar, dass das keine wertfreie Beschreibung der menschlichen Existenz ist. Was in dieser Wertung zum Ausdruck kommt, ist ein Gegensatz zwischen dem Menschen und seinen Weltbezügen, in denen er sich herausbildet. Diese sind für den Menschen in einer paradoxen Weise zugleich unentbehrlich und gefährlich. Dieser Antagonismus wird von Heidegger als unhintergehbare Charakteristik des mensch­ lichen Daseins beschrieben: Der Mensch kann seine Existenz nur so leben, dass er sich in eine Beziehung setzt zu dem Seienden in der Welt und zu seinen Mitmenschen; und seine Bezüge, in denen er 106  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

zunächst und zumeist lebt, bekommt er über die Kultur von seinen Mitmenschen vermittelt. Der heranwachsende Mensch wächst in die kulturellen Weltbezüge seiner Gesellschaft hinein. Daran kann und soll auch nichts geändert werden. Der Antagonismus liegt in dieser Interpretation darin, dass der Mensch es nicht dabei belassen kann, ohne das höchste Ziel seines Lebens zu verfehlen: Um sein Leben als gelingende Existenz zu führen, muss er sich aus dem Ausgangszustand seiner Existenz mühsam herausarbeiten. Er muss sich von den kulturellen Weltbezügen, in die er hineingewachsen ist, distanzieren. Er muss sich verändern, er muss an sich selbst arbeiten, um Glückseligkeit zu erringen. Er muss sich aus den Weltbezügen der Alltäglichkeit befreien und eigene, »eigentliche« Weltund Selbstbezüge herausbilden.193 Diese gehören nicht mehr zur Alltäglichkeit des Man, auch wenn es immer noch Weltbezüge in dem Sinne sind, dass sie sich auf die diesseitige, sinnlich gegebene Wirklichkeit beziehen. Heidegger entwickelt hier einen Antagonismus zwischen Mensch und »Welt«, ohne auf eine transzendente jenseitige Wirklichkeit zurückzugreifen und ohne den Menschen mit seinen höchsten Möglichkeiten außerhalb der sinnlich gegebenen Wirklichkeit zu verorten. Der Mensch ist immer schon in der Welt: Als In-der-Welt-sein steht er nie außerhalb seiner Welt,194 jedoch kann er an die Welt verfallen, indem er vollständig in dem Umgang mit der Welt aufgeht, den er von seinen Mitmenschen aufgeprägt bekommt. Heidegger spricht von einem Verfallensein an die Welt, das »den Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man« trägt:195 Im »alltäglichen Miteinanderaufgehen […] bei der besorgten ›Welt‹«196 ist der Mensch »zunächst und zumeist […] an seine ›Welt‹ verloren.«197 Der Mensch ist immer mehr als die Weltbezüge, die er von seinen Mitmenschen vermittelt bekommt, in denen er heranwächst und mit denen er »zunächst und zumeist« auf seine Welt Bezug nimmt. Um dem Scheitern zu entgehen, muss der Mensch der Sogwirkung seiner Weltbezüge entgegenarbeiten. Er muss sich in den existentiell entscheidenden Gesichtspunkten seines Lebens von den Einflüssen seiner Welt befreien, um Glück­ seligkeit zu erlangen. Der Mensch muss seine Existenz grund­ legend verändern, er muss an sich selbst arbeiten, um das antagonistische Verhältnis zu seinen Weltbezügen aufzulösen und durch ein harmonischeres Verhältnis zu ersetzen. Heidegger interpretiert Martin Heidegger  |  107

hier das Leben des Menschen durch einen grundlegenden Antago­ nismus zwischen Mensch und Welt, auch wenn er den Menschen zu keinem Zeitpunkt außerhalb der Welt verortet. Die Stellen, an denen Hei­deg­ger das Verwurzeltsein des Menschen im Man beschreibt, gehören zu den eher luziden Stellen im sonst häufig opaken Denken Heideggers, was darauf hindeutet, dass auch aus spezifisch modernen Per­spek­ti­ven des Denkens ein fundamentaler Gegensatz zwischen dem Menschen und der Welt artikulierbar ist. Nicht zuletzt diese Beschreibungen haben entscheidend zur Popularität und dem Einfluss von Heidegger im 20. Jahrhundert beigetragen. Hierbei ist es wichtig zu sehen, wie nahe Heidegger in diesen Beschreibungen der Traditionslinie der antiken Sinnentwürfe steht: Hier wie dort ist die Vorstellung vorherrschend, dass sich der Mensch zunächst in einem Ausgangszustand befindet, in dem das Scheitern seiner Existenz droht und aus dem er sich herausarbeiten muss, damit er seine Existenz als eine gelingende führen kann. Heideggers Existenzanalyse ist eine Interpretation der mensch­ lichen Existenz, die die antiken Sinnentwürfe und die heutige Zeit umgreift. In ihren Grundpfeilern bewegt sich die Heidegger’sche Existenzanalyse nahe an den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Überlieferung, mögen sich auch die einzelnen Inhalte Heideggers davon stark unterscheiden. So spielt das Leiden an der Vergänglichkeit bei Heidegger keine große Rolle, auch wenn die Interpretation des Todes ein Kernmoment seiner Existentialanalyse bildet. In seiner Interpretation bleibt er frei von jeglicher Klage über die irdische Vergänglichkeit, womit er im Einklang mit modernen Denkweisen liegt, denen jede Abwertung des Diesseits verdächtig geworden ist.198 Heideggers Denken zeigt, dass ein grundlegender Antagonismus zwischen Mensch und Welt auch ohne eine Abwertung der irdischen Unbeständigkeit gedacht werden kann. Der Antagonismus zwischen Mensch und Welt muss nicht aus der Unbeständigkeit des diesseitigen Werdens hervorgehen, er muss sich nicht auf eine trans­zendente jenseitige Sphäre richten und muss auch nicht mit der Annahme eines göttlich geordneten Kosmos einhergehen. Heutige Denkweisen können sich durchaus den Beschreibungen der antiken Sinnentwürfe annähern, ohne sofort an deren Fremdheit zu stranden: Auch wenn viele Momente dieser Sinnentwürfe heute verschlossen bleiben müssen, gilt dies eben nicht für alle. 108  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Aber nicht alle Aspekte der Traditionslinie der antiken meta­ phy­sischen Sinnentwürfe lassen sich mit dieser Klarheit in das moderne Denken übertragen. Die moderne Adaptation tradierter Sinngehalte führt nicht selten zu einem schwer zu verstehenden, aber für das moderne Denken durchaus charakteristischen Gewirr von alten und neuen Sinngehalten. Genau dies ist der Fall bei Heideggers Versuch, die überlieferten Vorstellungen des gelingenden Lebens mit modernen Vorstellungen zu verschmelzen. Heidegger thematisiert das gelingende Existieren mit dem Begriff der Eigentlichkeit und verknüpft dabei Positio­nen, die auf die antiken Sinnentwürfe zurückgehen, mit genuin modernen Positio­nen – was zu einer für das moderne Denken charakteristischen Unklarheit führt, die im Folgenden genauer zu betrachten sein wird. Der Gedanke der Eigentlichkeit entspringt bei Heidegger unmittelbar aus seiner Beschreibung des Antagonismus zwischen Mensch und Welt: Eine eigentliche Existenz ist für Heidegger eine Existenz, die sich in entscheidenden Momenten von den Einflüssen und der Weltdeutung der Mitmenschen frei macht, eigene Bezüge zur Welt und zum innerweltlichen Existieren aufbaut und so die ihm eigensten Möglichkeiten zur Entfaltung bringt. Nach Heidegger entfaltet der Mensch dann seine wertvollsten Möglichkeiten, wenn er sein Leben nicht vollständig der Führung durch die Mitmenschen überlässt, sondern wenn er sein Leben selbst in die Hand nimmt. In existentiell bedeutsamen Momenten ist der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen und mit der Gefahr einer verfehlten Existenz konfrontiert – das Gefühl der Angst führt ihm das unausweichliche Scheitern vor Augen, falls er sich gänzlich den Fügungen der Welt überlässt: In der Angst versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende. Die »Welt« vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitdasein Anderer. Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der »Welt« und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft.199 Martin Heidegger  |  109

Der Mensch kann sich »aus der ›Welt‹ und den Anderen her verstehen oder aus seinem eigensten Seinkönnen«.200 Wenn Heidegger hier von ›Welt‹ spricht und dabei den Begriff in Anführungszeichen setzt, klingt seine Verwurzelung in den überlieferten meta­ phy­sischen Sinnentwürfen an, die mit dem Gegensatz zwischen der Welt und der gelingenden Existenz operieren. Jedoch verortet Heidegger die gelingende Existenz nicht in einer transzendenten Sphäre, sondern in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Er plädiert nicht für eine Überwindung des Verhaftetseins im Man, sondern für dessen Modifikation: Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifi­ kation des Man als eines wesenhaften Existenzials.201

Auf der Vorstellung einer Entgegengesetztheit von Mensch und Welt aufbauend versucht Heidegger, die eigentliche Existenz als eine Modifikation des alltäglichen Existierens zu bestimmen: Umgekehrt ist die eigentliche Existenz nichts, was über der verfallenden Alltäglichkeit schwebt, sondern existenzial nur ein modifiziertes Ergreifen dieser.202

Die eigentliche Existenz vollzieht sich nach Heidegger in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit und in der Alltäglichkeit menschlichen Existierens, aber dennoch in einem Antagonismus zur Welt und zum alltäglichen Leben in der Welt. Der Unterschied zwischen dem guten und dem schlechten Leben wird bei Heidegger nicht durch einen inhaltlich ausgedeuteten Gegenentwurf zum Leben in der Vergänglichkeit und Alltäglichkeit bestimmt, sondern nur formal umrissen und – ganz im Sinne der Moderne – in der radikalisierten Individualität des Menschen, in der »Jemeinigkeit« verortet. Einerseits begreift Heidegger – so wie die antiken Sinnentwürfe – die Existenz des Menschen als eine Möglichkeit, bei der die Art und Weise ihrer Herausbildung über das Gelingen oder Scheitern der Existenz bestimmt. Andererseits interpretiert Heidegger diese Möglichkeit ganz modern als eine höchst individuelle Möglichkeit im Menschen, die den Menschen keineswegs in eine höhere Sphäre hinaushebt: Dasein ist je seine Möglichkeit und es »hat« sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes. Und weil Dasein wesenhaft je seine 110  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen. Verloren haben kann es sich nur und noch nicht sich gewonnen haben kann es nur, sofern es seinem Wesen nach mögliches eigentliches, das heißt sich zueigen ist. Die beiden Seinsmodi der Ei­ gentlichkeit und Uneigentlichkeit – diese Ausdrücke sind im strengen Wortsinne terminologisch gewählt – gründen darin, daß Dasein überhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist.203

Der Mensch wird nach Heidegger nicht dadurch eigentlich, dass er eine Beziehung zu etwas Höherem als er selbst eingeht, sondern indem er seine ihm individuell zugehörige alltägliche Existenz so modifiziert, dass seine innersten und eigensten Möglichkeiten zur Entfaltung kommen können. Hierin liegt die Transformation der Existenz. Die gelingende Existenz ist nicht eine Überwindung, sondern nur eine Modifikation der Alltäglichkeit: Das kann jedoch nicht heißen, das Dasein aus einer konkreten möglichen Idee von Existenz konstruieren. Das Dasein soll im Ausgang der Analyse gerade nicht in der Differenz eines bestimmten Existierens interpretiert, sondern in seinem indifferenten Zunächst und Zumeist aufgedeckt werden. […] Was ontisch in der Weise der Durchschnittlichkeit ist, kann onto­ logisch sehr wohl in prägnanten Strukturen gefaßt werden, die sich strukturell von onto­logischen Bestimmungen etwa eines eigentlichen Seins des Daseins nicht unterscheiden.204

Das Fundament der gelingenden Existenz ist nicht etwas Höheres über dem Menschen, sondern die Alltäglichkeit des Menschen. Dies ist eine genuin moderne Positionierung. Worin das »eigenste Seinkönnen«205 liegt, kann nicht weiter inhaltlich spezifiziert werden, weil es keinen allgemeinen, sondern einen höchst individuellen Charakter hat: Was das jeweils eigenste Seinkönnen ist, muss jeder für sich selbst herausfinden – den Maßstab für die Modifikation der alltäglichen Existenz bildet das jeweils eigene Selbst. Diese genuin modernen Positio­nen werden jedoch bei Heidegger mit Vorstellungen verknüpft, die auf die Traditionslinie der antiken Sinnentwürfe zurückgehen. Insbesondere sieht Heidegger eine direkte innere Beziehung des eigensten Seinkönnens zum konkreten Sein, aus dem es entspringt, und spricht deswegen von einer »Wahrheit der Existenz«: Martin Heidegger  |  111

Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit.206 Dasein kann sich als verstehendes aus der »Welt« und den Anderen her verstehen oder aus seinem eigensten Seinkönnen. Die letztgenannte Möglichkeit besagt: das Dasein erschließt sich ihm selbst im eigen­sten und als eigenstes Seinkönnen. Diese eigentliche Erschlossenheit zeigt das Phänomen der ursprünglichsten Wahrheit im Modus der Eigentlichkeit. Die ursprünglichste und zwar eigentlichste Erschlossenheit, in der das Dasein als Seinkönnen sein kann, ist die Wahrheit der Exis­ tenz.207

Heidegger lässt das eigenste Seinkönnen, die Eigentlichkeit der Existenz inhaltlich unbestimmt, weist ihr aber dennoch einen Wahrheitscharakter zu. Er sieht eine strukturelle Bindung zwischen dem guten Leben und dem Sein, aus dem dieses entspringt, verortet aber dennoch die gelingende Existenz in der radikal individuellen, intersubjektiv nicht mitteilbaren Jemeinigkeit. Nach Heidegger ist das Verstehen des jemeinigen eigensten Seinkönnens eine Bedingung der Möglichkeit für Eigentlichkeit. Im Verstehen des eigensten Seinkönnens liegt für ihn die Wahrheit der Existenz. Erst dadurch wird es dem Menschen möglich, sich auf das eigenste Seinkönnen zu entwerfen und damit im eigentlichen Sinne zu existieren.208 Das Verstehen dieser »Wahrheit« vollzieht sich jedoch in der absoluten Vereinzelung, die Wahrheit ist daher nicht intersubjektiv teilbar. Ähnlich zu den Sinnentwürfen der Antike verbindet sich in dieser Wahrheit die existentielle Relevanz mit einem Verständnis der Welt und des Lebens in der Welt, so dass man von einer existentiellen Sinnhaftigkeit sprechen kann – aber diese Sinnhaftigkeit entspringt nicht aus einer kosmischen Ordnung, die den Menschen in irgendwelche Höhen hinaufheben könnte. Sie entspringt im Menschen selbst und in seinem In-derWelt-sein. Der Unselbständigkeit des unentschlossenen Verfallens stellt Heidegger die selbständige Standfestigkeit des eigentlichen Selbst entgegen.209 Heidegger spricht von einer Wahrheit, die die Existenz und die Welt, in der diese sich entfaltet, umfasst – will sie aber als eine höchst individuelle Möglichkeit des konkreten einzelnen Menschen verstanden wissen. Heidegger will damit einige Implikatio­nen des antiken Verständnisses von Wahrheit in das moderne Denken übernehmen: Er will am Möglichkeitscharakter 112  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

der gelingenden Existenz und insbesondere an der existentiellen Sinnrelevanz der Wahrheit festhalten, er will damit jedoch eine individuelle, nicht inhaltlich spezifizierbare und letzten Endes auch nicht artikulierbare individuelle Möglichkeit des Menschen charakterisieren. Heidegger selbst meint, damit uralte, im Laufe der Jahrhunderte verschüttete Einsichten wieder aufzudecken; in Wirklichkeit versucht er jedoch, sehr moderne Positio­nen mit einigen zentralen Positio­nen der antiken Sinnentwürfe zu verbinden. Dadurch wird seine Darstellung höchst unklar: Immer wenn er positiv das gelingende Leben thematisiert und über Eigentlichkeit spricht, bleiben seine Ausführungen vage und inhaltsleer. Getragen sind seine Gedanken von der Hoffnung, dass eine angemessene Befreiung von den Verdeckungen und Verdunkelungen des Man die in jedem Menschen angelegte individuelle Möglichkeit zu einer gelingenden Existenz zwangsläufig zur Entfaltung bringen muss. Dies kann als eine moderne, radikal individualistische Deutung der aristotelischen Entelechievorstellung interpretiert werden. Worin aber der Unterschied zwischen der gelingenden und der scheiternden Existenz genau liegt, kann nur negativ-formal umrissen werden, und selbst dann bleibt es fraglich, ob Heideggers Thesen so stimmen können. Interessant ist beispielsweise folgende Aussage: Die in der Angst erschlossene Unbedeutsamkeit der Welt enthüllt die Nichtigkeit des Besorgbaren, das heißt die Unmöglichkeit des Sichentwerfens auf ein primär im Besorgten fundiertes Seinkönnen der Existenz. Das Enthüllen dieser Unmöglichkeit bedeutet aber ein Aufleuchten-lassen der Möglichkeit eines eigentlichen Seinkönnens.210

Ist das wirklich so? Lässt die Einsicht, dass ein Leben, das vollständig im Umgang mit der Welt aufgeht, scheitern muss, bereits die Möglichkeit eines gelingenden Lebens aufleuchten? Nichts deutet auf einen diesbezüglichen Automatismus hin. Heidegger ist von dem Glauben beseelt, dass eine grundlegende Neuinterpretation des überlieferten Denkens die für das moderne Denken unzugängliche existentielle Sinnhaftigkeit der antiken Sinnentwürfe zugänglich machen könnte. Diese Hoffnung ist jedoch eine trügerische Hoffnung. Zwar können durchaus einige der Positio­nen für das moderne Denken einsichtig gemacht werden, wie Heideg­ gers eigene Philosophie zeigt. Dies führt aber keineswegs dazu, Martin Heidegger  |  113

dass die überlieferten antiken Sinnentwürfe sich in ihrem Kern dem modernen Denken öffnen könnten. Heideggers Denken zeigt damit auch, dass der moderne Versuch, sich an die Sinnentwürfe der Überlieferung anzulehnen und zugleich sich von ihnen abzugrenzen, zu einem inhaltsleeren und tautologischen Charakter der Aussagen führen kann. Besonders deutlich ist dies im letzten Satz des folgenden Auszugs: Das Dasein ist ihm selbst hinsichtlich seiner Existenz eigentlich oder uneigentlich erschlossen. Existierend versteht es sich, so zwar, daß dieses Verstehen kein pures Erfassen darstellt, sondern das existenzielle Sein des faktischen Seinkönnens ausmacht. Das erschlossene Sein ist das eines Seienden, dem es um dieses Sein geht. Der Sinn dieses Seins, das heißt der Sorge, der diese in ihrer Konstitution ermöglicht, macht ursprünglich das Sein des Seinkönnens aus. Der Seinssinn des Daseins ist nicht ein freischwebendes Anderes und »Außerhalb« seiner selbst, sondern das sich verstehende Dasein selbst.211

Eine zentrale Schwierigkeit liegt gerade in der Wahrheitsauffassung der vormodernen Sinnentwürfe, die aus den Per­spek­ti­ven des modernen Denkens unzugänglich bleiben muss, egal wie originell die Neuinterpretatio­nen ausfallen. Das moderne Denken erreicht sehr schnell einen Punkt, an dem die Kluft zur Weltsicht der antiken Sinnentwürfe unüberbrückbar wird. Spätestens, wenn es um den Wahrheitsanspruch der Sinnvorstellungen geht, die durch geistiges Einüben die Existenz des Menschen transformieren sollen, müssen die Grenzen des modernen Verständnisses reflektiert werden. Eine derartige Reflexion findet sich in der Philosophie Michel Foucaults. 2.3.2.2  Wahrheit und Geistigkeit: Michel Foucault

Zentral für das Verständnis des Gegensatzes zwischen antiken und modernen Denkweisen ist die Rolle der jeweiligen Wahrheitsauffassung. Die antiken geistigen Übungen werden durch den Wahrheitscharakter ihrer Vorstellungsinhalte in Gang gesetzt und befeuert. Die Wahrheit über die Welt übt in der Vorstellungswelt der antiken meta­phy­sischen Sinnentwürfe eine formende, ja transformierende Wirkung auf den Menschen aus und beeinflusst unmittelbar das Gelingen oder Scheitern der menschlichen Existenz. Diese existentielle Wirkung der Wahrheit hat Michel Foucault auf 114  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

eine sehr erhellende Weise so auf den Begriff gebracht, dass ihre heutige Fremdheit klar hervortreten kann. In den geistigen Übungen der Antike bildet die Wahrheit die Grundlage des geistigen Übens. Durch sie wird die Absetzbewegung vom faktischen Zustand des Menschen hin zu einem umrissenen Zielzustand in Gang gebracht. Die Wahrheit eröffnet dem Menschen in einer unverstellten Weise die Zusammenhänge der Welt, und in der Vorstellungswelt der antiken Sinnentwürfe artikuliert sich gerade darin der Orientierungspunkt des menschlichen Strebens: Die existentiell unmittelbar relevante Wahrheit über die Welt bildet das Fundament des geistigen Übens. Foucault analysiert die direkte existentielle Relevanz der antiken Wahrheitsauffassung insbesondere anhand des spätantiken Denkens. Bei seiner Analyse der hellenistischen Philosophie spricht er von einer Fokussierung der Antike auf das »ethopoietische« Wissen und bezeichnet damit ein Wissen, das die Fähigkeit besitzt, ein Ethos hervorzubringen. Dieses Wissen beschränkt sich nicht darauf, die Kenntnisse des Menschen zu erweitern, sondern hat »die Eigenschaft […], die Seinsweise, die Lebensweise eines Individuums zu verändern«.212 Dieses Wissen ermöglicht, dass der Mensch seine Lebensweise zielgerichtet ändern und sein Selbst aktiv gestalten kann. Foucault weist auf eine wichtige Differenzierung der antiken Philosophie hin: Unterschieden wird das Wissen, das die Weise des menschlichen Existierens grundlegend so verändert, dass eine gelingende Existenz ermöglicht wird, vom Wissen, dem derartige Wirkungen abgehen und das daher eher als entbehrlicher Luxus zu betrachten ist. Es geht um den Unterschied zwischen zwei verschiedenen »Wissensmodi: der eine schmückend und kennzeichnend für die Kultur des gebildeten Mannes, der nichts anderes mehr zu tun hat; und der andere, dessen derjenige noch bedarf, der sein eigenes Ich zu bilden hat, der sich dies als Lebensziel setzt.«213 Das ethopoietische Wissen war in der Antike dem Wissen über die Welt keineswegs entgegengesetzt, es war wesenhaft ein Wissen von der Natur. Nicht alles Wissen über die Natur hatte einen ethopoietischen Charakter, das eigentlich entscheidende Wissen aber schon. Die existentielle Relevanz der Naturerkenntnis zeigt sich nach Foucault sehr schön in der Philosophie des Epikur, der die wahre Erkenntnis über die Welt in den direkten Dienst des StreMichel Foucault  |  115

bens nach Glückseligkeit stellt. Bei Epikur besitzt das Wissen über die Natur die Funktion, dem Menschen zu einer autarken Lebensweise zu verhelfen: Nicht Prunkredner, nicht Sprachkünstler, nicht Menschen, welche die in den Augen der Masse aufsehenerregende »Bildung« zur Schau stellen, formt die Naturforschung [φυσιολογία], sondern selbstbewußte und selbstgenügsame [αὐτάρκεις] Menschen, die nur auf ihre persönlichen Werte, nicht auf Sachwerte stolz sind.214

Oberstes Ziel ist der Umbau des menschlichen Selbst, bei dem der Mensch sein Leben, das von Unglückseligkeit bedroht wird, so umwandelt, dass er ein gelingendes Leben führen kann. Die Welt des Menschen spielt hierbei eine doppelte Rolle: Zum einen sind es die äußeren Umstände, die Eingebundenheit in die Zwänge der Welt, die die Existenz des Menschen scheitern zu lassen drohen. Zugleich ist es aber die Welt, die dem Menschen die Orientierung an die Hand gibt, sein Leben so umzugestalten, dass er sich von den Zwängen der Welt frei machen kann. In den Sinnentwürfen der Antike ist es die Welt, die der Glückseligkeit des Menschen entgegensteht, aber dem Menschen zugleich den Weg zur Glückseligkeit aufzeigt. Letzteres betont Foucault, wenn er auf die Wichtigkeit der Welterkenntnis für die antike Philosophie hinweist: Die Kenntnis der Meteore, die Kenntnis der Dinge der Welt, die Kenntnis des Himmels und der Erde, die spekulativste physikalische Erkenntnis wird keinesfalls abgelehnt, im Gegenteil. Aber die Kenntnis dieser Dinge wird in der physiologia in der Weise präsentiert und modalisiert, daß die Kenntnis der Welt innerhalb des Umgang des Subjekts mit sich selbst ein Element ist, das die Veränderung des Subjekts durch sich selbst bewirkt, zu dieser beiträgt und in ihr wirksam ist.215

Nach Foucault existiert in der antiken Philosophie kein Gegensatz zwischen dem Wissen über das Innere des Menschen und dem Wissen über die äußere Natur. Zwar ist das Innere des Menschen das, was umgebildet werden muss, jedoch entspringt das ethopoie­ tische Wissen gerade nicht aus einer reflektierenden Auslotung des menschlichen Innenlebens, es entspringt nicht im Menschen selbst, sondern aus der Welt, die den Menschen umgibt: Das erforderliche, gültige und akzeptable Wissen für den Weisen und seinen Schüler besteht nicht in einem Wissen, das sich auf sie selbst 116  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

bezieht, das die Seele und das Selbst zum Gegenstand der Erkenntnis macht, sondern es ist ein Wissen, das sich auf die Dinge, auf die Welt, auf die Götter und die Menschen bezieht, dessen Wirkung und Funktion aber darin besteht, das Sein des Subjekts zu verändern.216

Hinter dem antiken Streben nach Welterkenntnis liegt nach Foucault in erster Linie das Interesse, das Selbst des Menschen zu verändern und zu gestalten: die »Sorge um sich selbst«. Als Quelle für das Wissen um die Bildung des Selbst dient in erster Linie die Naturerkenntnis. Dies zeigt sich sehr deutlich bei Marc Aurel, der rhetorisch fragt, wo man denn die Erkenntnis des Guten verankern könnte, wenn nicht in Erkenntnissen über die Welt und den Menschen: Was ist deine Kunst? Gut zu sein. Doch wie kann dies gelingen, wenn nicht aufgrund von Einsichten über die Natur des Weltganzen und der spezifischen Erscheinungsform des Menschen?217

Philosophie wird demnach als geistiges Üben zur Erlangung von Wahrheit verstanden, der Weg dahin führt über die Erkenntnis der Welt. Das Wissen über die Welt muss jedoch eine geistige Form annehmen, um eine Umwandlung des Menschen bewirken zu können. Nach Foucault besteht »die Notwendigkeit, das Wissen von der Welt derart abzuwandeln, dass es für das Subjekt, in der Erfahrung des Subjekts, für das Wohl des Subjekts eine bestimmte geistige Form und einen bestimmten geistigen Wert annimmt«.218 Insbesondere ist es wichtig, dass sich der Mensch selbst für die Wahrheit vorbereitet. Der Zugang des Menschen zur Wahrheit wird erst durch eine Arbeit des Menschen an sich selbst ermöglicht. Ein Begriff, der genau dieses Phänomen bezeichnet, heißt »Geis­ tigkeit«: Geistigkeit ist für Foucault »jene Suche, Praxis und Erfahrung […], durch die das Subjekt an sich selbst die notwendigen Veränderungen vollzieht, um Zugang zur Wahrheit zu erlangen«.219 Nach Foucault ist in der meta­phy­sischen Traditionslinie der antiken Sinnentwürfe die Wahrheit dem Menschen nie selbstverständlich gegeben, sie ist nicht durch einen einfachen Erkenntnisakt zu erlangen, zu dem der Mensch bereits durch seine faktische Subjektstruktur fähig wäre. Stattdessen wird angenommen, dass sich das Subjekt durch geistige Aktivität im Kern verändern und umgestalten muss, um einen Zugang zur Wahrheit zu bekommen. Es Michel Foucault  |  117

ist eine wesenhafte Transformation des Subjektseins erforderlich, sie umfasst ein aktives Arbeiten am eigenen Selbst und eine Auf­ wärtsbewegung des Menschen zu etwas Höherem. Die Aufwärtsbewegung zum Höheren fasst Foucault als eine Bewegung der Liebe, die Arbeit am eigenen Selbst als Askese im ursprünglichen Sinne des Wortes. Die Verbindung beider bildet nach Foucault das Fundament der abendländischen Geistigkeit: Eros und askesis sind meines Erachtens die beiden bedeutenden Formen, in denen in der abendländischen Geistigkeit die Modalitäten gedacht worden sind, denen gemäß das Subjekt sich zu wandeln hat, um schließlich ein der Wahrheit fähiges Subjekt zu werden.220

Askese ist eine am Selbst vollzogene Übung und zugleich eine Wahrheitspraxis, sie stellt »eine Art und Weise dar, das Subjekt an die Wahrheit zu binden«.221 Durch Arbeit an sich selbst verändert sich der Mensch zielgerichtet, um die Wahrheit über die Welt und über das menschliche Leben in der Welt aufnehmen zu können. In diesem Sinne konstituiert die Einübung der Wahrheit den Menschen.222 Die erkannten Wahrheitsgehalte bestimmen, wie der Mensch sein soll, wenn er eine gelingende Existenz führen will. Sie definieren den Zielzustand, den der übend sich selbst verändernde Mensch anzustreben hat. Die Wahrheit konstituiert die Existenzweise, die durch die geistigen Übungen etabliert werden soll, und in diesem Sinne konstituiert sie den Menschen, der sich übend auf ein Ziel hin bewegt. Die auf diesem Wege erlangte Wahrheit übt seinerseits eine Rückwirkung auf den Menschen aus, indem sie in ihm Zustände der Glückseligkeit, Seelenruhe oder Vollkommenheit erzeugt: Die erkannte Wahrheit strahlt auf den Menschen zurück, die Erlangung der Wahrheit bewirkt das Gelingen der menschlichen Existenz. Das wechselseitige Verhältnis des übenden, Askese praktizierenden Menschen zur Wahrheit formuliert Foucault wie folgt: Es ging [nicht um die Selbstaufgabe, sondern] im Gegenteil darum, durch die askesis sich selbst zu konstituieren. Genauer gesagt: Es ging darum, ein bestimmtes Selbstverhältnis herauszubilden, das erfüllt, vollkommen, selbstgenügsam und dazu angetan war, jene Läuterung zu sich selbst durchzumachen, die in dem Glück besteht, das man im selbstgenügsamen Verhältnis zu sich selbst erlebt. Dies war das Ziel der askesis.223 118  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Die Einübung der Wahrheit konstituiert nach Foucault in den Sinnentwürfen der Antike den Menschen. Wie im Kapitel über Marc Aurel deutlich wurde,224 beruht die Wahrheit, die die Grundlage der antiken geistigen Übungen bildet, auf einigen zentralen Sinnvorstellungen, die die Stellung des Menschen zu seiner Welt und überhaupt den Charakter seiner Welt definieren. Die Sinnvorstellungen eines harmonischen, geordneten Kosmos und eines zielgerichteten Werdens bilden die Grundlage der Weltsicht und der geistigen Übungen des Marc Aurel: Sie sollen dem Menschen die Sicht auf die wahre, hinter der Oberfläche der Erscheinungen liegende Welt eröffnen. Auf den Erkenntnissen Foucaults aufbauend kann man somit sagen, dass im antiken Denken der Mensch als Mensch durch zentrale, weitreichende und umfassende Sinnvorstel­ lungen konstituiert wird, insofern diese Sinnvorstellungen geistige Übungsprozesse in Gang setzen, die eine zielgerichtete Umformung des menschlichen Selbst zur Aufgabe haben. Vor diesem Hintergrund wird auch Foucaults These über die antike Auffassung des menschlichen Lebens als Kunstwerk deutlich. Die antike Philosophie verstand sich nach Foucault als Lebenskunst, als eine Kunst, die sich auf die Umbildung des Selbst bezieht: In dem Maße nun, wie das Selbst sich als der angemessene Gegenstand einer Sorge bestätigt […], werden Lebenskunst (techne tou biou) und Sorge um sich – oder anders gesagt, Existenzkunst und auf sich selbst bezogene Kunst – immer deutlicher miteinander identifiziert. [… Die] Frage »Wie lebe ich angemessen?« gleicht sich immer mehr der Frage an bzw. geht immer mehr in der Frage auf: »Was ist zu tun, damit das Selbst wird und bleibt, was es zu sein hat?«225

Wenn der Mensch seine Lebensweise durch Lebenskunst verändert, liegt es nahe, die menschliche Existenz, die sich mit Hilfe der Lebenskunst herausbildet, als Kunstwerk aufzufassen. So wie der bildende Künstler, mit einem Bild des Idealen vor Augen, aus dem Marmorblock ein Kunstwerk herausmeißelt, gestaltet der übende Asket aus seinem Selbst, das er roh und ungebändigt vorfindet, zielgerichtet eine lebendige Existenz, die den Charakter eines Kunstwerks trägt. Auch das Kunstwerk der menschlichen Existenz stellt das Ergebnis eines Arbeitsprozesses dar, und auch hier manifestiert sich im unvollkommen Materiellen etwas Ideelles und Michel Foucault  |  119

Geistiges. Die Moralität des antiken Menschen bestand nach Foucault in der »Ausarbeitung seines eigenen Lebens als ein persön­ liches Kunstwerk«:226 Es ging […] darum, ihrem Leben bestimmte Werte zu geben (bestimmte Beispiele zu reproduzieren, einen außergewöhnlichen Ruf zu hinterlassen oder ihrem Leben den größtmöglichen Glanz zu verleihen). Es ging darum, aus seinem Leben das Objekt einer Erkenntnis oder einer techne, ein Kunstobjekt zu machen.227

Foucault ist sich zwar einerseits bewusst, dass die antike Lebenskunst nur auf Grundlage der Wahrheit praktiziert werden kann: Die in diesem Zusammenhang relevante Wahrheit ist das ethopoietische Wissen, das aus dem vergeistigten Weltwissen hervorgeht.228 Aber Foucault lässt in die Vorstellung der Existenz als Kunstwerk auch spezifisch moderne Vorstellungen einfließen – insbesondere, wenn er von einer Ästhetik der Existenz spricht –, und dadurch wird seine Analyse an dieser Stelle in einer aussagekräftigen Weise unscharf. Hier zeigt sich, wie durch eine moderne Perspektive die Fremdheit früherer Denkweisen ausgeblendet werden kann, weswegen die Argumentation Foucaults in dieser Hinsicht eine besondere Beachtung verdient. Die Fähigkeit, aus dem Leben ein Kunstwerk machen zu können, wurzelt in der Antike nicht im Willen des Individuums, sondern letztendlich in der Welt, die vom Menschen als sinnvoll geordnete Wirklichkeit erfahren wird. Aber die Antike kannte auch das Ziel, ein schönes Leben zu führen. Zu den Merkmalen des Ästhetischen im Zusammenhang mit der Existenz gehörten Glanz, Beständigkeit und Schönheit. Foucault stellt die auf dem ethopoietischen Wissen beruhende antike Lebenskunst in einen direkten Zusammenhang zum Ästhetischen und spricht auf dieser Grundlage von der menschlichen Existenz als Kunstwerk. Hierauf begründet er die Frage nach der Revitalisierbarkeit des antiken Denkens in der heutigen Zeit: Wir haben in unserer Gesellschaft kaum mehr eine Erinnerung an diese Idee, die Idee, wonach das Hauptkunstwerk, für das man Sorge zu tragen hat, die wesentliche Zone, auf die man ästhetische Werte anzuwenden hat, man selbst, das eigene Leben, die Existenz ist.229

Die Forderung nach einer Auffassung des Lebens als Kunstwerk auch in der heutigen Zeit unterstreicht Foucault explizit mit einem 120  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Aphorismus Nietzsches aus der »Fröhlichen Wissenschaft«. Dort entwirft Nietzsche das Bild eines Existenz-Künstlers, der ausgehend von der Stärke seines Willens sein Leben zu einem Kunstwerk formt: Eins ist Noth. – Seinem Charakter »Stil geben« – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran. […] Es werden die starken, herrschsüchtigen Naturen sein, welche in einem solchen Zwange, in einer solchen Gebundenheit und Vollendung unter dem eigenen Gesetz ihre feinste Freude genießen; die Leidenschaft ihres gewaltigen Wollens erleichtert sich beim Anblick aller stilisirten Natur, aller besiegten und dienenden Natur; auch wenn sie Paläste zu bauen und Gärten anzulegen haben, widerstrebt es ihnen, die Natur frei zu geben.230

Diese sehr aussagekräftige Stelle bei Nietzsche zeigt eine spezifisch moderne Sicht auf den Menschen, die mit der Vorstellungswelt des antiken Denkens nur entfernt etwas gemein hat. Nietzsche entwirft hier den Gedanken, dass die Fähigkeit, das eigene Leben als Kunstwerk aufzufassen, auf dem Willen des Menschen beruht, der die Natur besiegt, sie sich dienstbar macht und so verändert, dass sie sich in den künstlerischen Plan des Menschen einfügt.231 Die Quelle der Kunst des Menschen ist hier der Mensch selbst, die Natur liefert lediglich das Material für die menschliche Selbstentfaltung. Foucault verbindet seine Vorstellung der Ästhetik der Existenz mit eben diesen Auffassungen und versucht damit, das antike Denken zu interpretieren. Nietzsches Sichtweise ist jedoch der Perspektive des antiken Denkens diametral entgegengesetzt. Im modernen, durch die wissenschaftliche Weltsicht geprägten Denken manifestiert sich keineswegs eine göttliche Ordnung im Irdischen – weder manifestiert sich das wesenhaft Ideelle der Natur in der Materie,232 noch offenbart sich eine göttliche Ordnung, der sich der Mensch angleichen könnte.233 Die Wahrheit im antiken Sinne spielt hier keine Rolle, hier entspringt der Sinn direkt dem Menschen selbst, der einer sinnfreien Natur gegenübersteht. Diese Michel Foucault  |  121

spezifisch moderne Sichtweise unterscheidet sich stark von der Gedankenwelt der Antike. Dennoch setzt Foucault den Gedanken Nietzsches, dem eigenen Leben »Stil« zu geben, in einen direkten Zusammenhang zur antiken Lebenskunst mit genau dem Wunsch, etwas Entsprechendes in der heutigen Zeit wiederzubeleben. Die Kluft, die beide Sichtweisen trennt, verliert Foucault an dieser Stelle aus den Augen, so dass die Kritik Hadots berechtigt ist, die den Begriff einer »Ästhetik der Existenz« in Bezug auf das antike Denken zurückweist: Nichtsdestoweniger würde ich zögern, mit Foucault von einer »Ästhetik der Existenz« zu sprechen, sowohl was die Antike als auch was die Aufgabe des Philosophen im allgemeinen anbelangt. Michel Foucault […] versteht diesen Ausdruck in dem Sinne, daß wir unser eigenes Ich als Kunstwerk zu gestalten haben.234 Im Platonismus, aber auch im Epikureismus und Stoizismus, vollzieht sich also die Befreiung von den Ängsten durch eine Bewegung, in welcher man von individueller und leidenschaftsbedingter Subjektivität zur Objektivität der universalen Perspektive gelangt. Es handelt sich nicht um eine Konstruktion des Ichs im Sinne eines Kunstwerkes, sondern im Gegenteil um ein über sich selbst Hinauswachsen, oder zumindest doch um eine Übung, mit Hilfe derer sich das Ich in der Totalität ansiedelt und als ein Teil derselben fühlt.235

Wenn Foucault auf die Antike bezogen von einer »ästhetischen Existenz« spricht und wenn er die hellenistische Selbstsorge als eine »Setzung des Selbst durch sich als Zweck«236 charakterisiert, dann suggeriert seine Interpretation der Antike eine viel größere Nähe zur heutigen Zeit, als angemessen wäre. Verallgemeinert lässt sich sagen: Die heutige Nähe zu den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Vergangenheit ist häufig nur eine scheinbare Nähe, bei der die in Wirklichkeit vorherrschende Ferne verschleiert ist. Die Ferne des antiken Denkens zeigt sich nicht zuletzt auch in Foucaults eigener Charakterisierung der antiken Selbstsorge – insbesondere in seiner Darstellung des ethopoietischen Wissens. Wie Hadot im obigen Zitat zutreffend anmerkt, bilden das Einnehmen einer universellen Perspektive und die Ansiedelung des Menschen in einer übergreifenden Totalität die Grundlagen der geistigen Übungen der Antike. Dies mit dem Ausdruck »Setzung des Selbst durch sich als Zweck« 122  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

zu beschreiben verfehlt den Kern dessen, was die geistigen Übungen der Antike wesenhaft ausmacht. Der dadurch erzeugte Schein einer Nähe führt in die Irre. Es ist genau die Vorstellung einer Einbettung in eine sinnvoll geordnete Wirklichkeit, die die heutigen Per­spek­ti­ven des Denkens von den antiken Sinnentwürfen trennt. Der Mensch kann heute sein Leben nicht pro­blemlos durch Lebenskunst so formen, wie es in der Antike praktiziert wurde, weil ihm die zentralen Sinnvorstellungen der Antike und damit die Grundlagen der antiken geistigen Übungen sehr fremd geworden sind. Diese Fremdheit entspringt aus der Unterschiedlichkeit der Wahrheitsauffassungen. Geistige Übungen der Art, wie sie in der Antike praktiziert wurden, benötigen die Wahrheitsauffassung der Antike, um funktionieren zu können.237 Doch diese Wahrheitsauffassung ist heute in weite Ferne gerückt. Die Schwierigkeiten der Positio­nen Foucaults verdeutlichen, mit welchen Pro­blemen moderne Per­spek­ti­ven des Denkens bei einer Zurückwendung zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit konfrontiert werden können. Aber Foucaults Analysen werfen zugleich einen sehr scharfen Blick auf die Kluft zwischen der antiken und der modernen Wahrheitsauffassung. Aus der Perspektive des antiken Denkens muss der Mensch große Anstrengungen unternehmen, um sein Selbst so zu transformieren, dass er die existentiell entscheidende Wahrheit über die Welt und über das menschliche Leben in der Welt in sich aufnehmen kann. Sobald sich der Mensch aber durch geistige Übungen für die Wahrheit geöffnet hat, entfaltet die Wahrheit in seinem Leben eine existentiell entscheidende Wirkung, indem sie das Gelingen des Lebens ermöglicht. In dieser Vorstellungswelt ist die Wahrheit nur durch eine grundlegende Verwandlung des Menschen und nur nach langen Bemühungen zu erringen – doch einmal erlangt, gewährt sie dem Menschen sein Seelenheil. Diese Auffassung von Wahrheit erfährt in der Neuzeit und der Moderne eine bedeutende Veränderung. Die Wahrheit ­bekommt einen vollständig anderen Charakter, sie verliert ihre ­direkte Sinnrelevanz. Es ändern sich nicht nur die Inhalte, für deren Erkenntnis ein Wahrheitsanspruch erhoben wird, es ändert sich auch das Verständnis des Anspruchs auf Wahrheit und seiner Einlösung: Im Rahmen des modernen Denkens können die Einblicke in die GlücksbedinMichel Foucault  |  123

gungen der gelingenden Existenz aus prinzipiellen Gründen keinen Wahrheitscharakter mehr haben. Die Erkenntnis, und hierbei insbesondere die Welterkenntnis, besitzt aus prinzipiellen Gründen keine direkte existentielle Relevanz mehr. Dadurch ändern sich auch die Inhalte, für die ein Wahrheitsanspruch erhoben werden kann: Für die Sinngehalte der antiken Sinnentwürfe lässt sich der Wahrheitsanspruch auch durch moderne Neuinterpretatio­nen nicht aufrechterhalten. Überhaupt kann für keine Aussage über das gute Leben im Rahmen moderner Denkweisen ein Anspruch auf Wahrheit erhoben werden. Derartige Ansprüche und die Wege zu ihrer Einlösung werden heute durch die modernen Geistes- und Naturwissenschaften definiert. Es ist nunmehr die Erkenntnis als existentiell neutrale wissenschaftliche Erkenntnis, die dem Subjekt Zugang zur Wahrheit verschafft – eine prinzipielle und wesenhafte Umgestaltung des Subjektseins ist hierfür nicht erforderlich. Das Wissen von der Welt ist kein vergeistigtes ethopoietisches Wissen mehr, sondern eine sinnneutrale Erkenntnis dessen, was ist. Die Erkenntnis der Welt wird um ihrer selbst willen angestrebt und hängt nicht mehr direkt am Streben des Menschen nach einer gelingenden Existenz. Die erlangte Wahrheit übt keine sinnrelevante Rückwirkung mehr auf das Subjekt aus – mag sie zwar ein immer weiter kumuliertes Wissen und mannigfaltigen materiellen, psychologischen und sozialen Nutzen mit sich bringen, das Seelenheil gewährt sie dem Menschen nicht mehr. Diese Umkehrung des Verhältnisses zur Wahrheit bringt Foucault präzise auf den Punkt: Wird die Geistigkeit als jene Form von Praktiken definiert, die voraussetzen, daß das Subjekt, so wie es ist, der Wahrheit nicht fähig ist, daß aber die Wahrheit, so wie sie ist, das Subjekt zu läutern und zu retten fähig ist, dann sagen wir, daß die moderne Epoche der Beziehungen von Subjekt und Wahrheit an dem Tag beginnt, an dem wir voraussetzen, daß das Subjekt, so wie es ist, der Wahrheit fähig ist, daß aber die Wahrheit, so wie sie ist, das Subjekt nicht länger retten kann.238

Der direkten existentiellen Relevanz der Wahrheit im antiken Denken steht hier die existentiell neutrale Wahrheit im modernen Denken gegenüber. Die Wahrheit im antiken Denken ist nur durch eine wesenhafte Transformation des menschlichen Selbst zu erreichen, die Wahrheit im modernen Denken stellt sich als Ergebnis eines 124  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Erkenntnisprozesses ein. Das, was dem Menschen nunmehr den Zugang zur Wahrheit verschafft, ist alleine die Erkenntnis. Zwar stellt sich auch in der Moderne die Erkenntnis nicht von selbst ein, auch hier müssen vielfältige Bedingungen erfüllt werden, damit der Mensch die Wahrheit erkennen kann. Zum einen müssen die formalen Bedingungen, die aus der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens entspringen, erfüllt sein. Daneben bestehen andere, akzidentelle Voraussetzungen: Der Mensch muss eine geeignete Ausbildung durchlaufen haben, er muss sich auf den wissenschaftlichen Konsens einlassen, er muss strebsam sein und sich persönlich anstrengen und auch andere moralische Voraussetzungen erfüllen.239 Jedoch ist eine wesenhafte Transformation des Menschseins, so wie es noch die antiken geistigen Übungen erfordert haben, in der Moderne für das Erkennen der Wahrheit nicht vonnöten: [A]ll das sind Bedingungen, die dem Erkenntnisakt zum Teil inhärent, zum Teil äußerlich sind, aber keinesfalls das Subjekt in seinem Sein betreffen: sie betreffen nur das Individuum in seiner konkreten Existenz, nicht aber die Struktur des Subjekts als solches.240

Als Kehrseite entfaltet die moderne wissenschaftliche Wahrheit keine existentielle Wirkung mehr auf den Menschen. Weder kann die Einsicht in die Wahrheit den Menschen vor dem Scheitern seiner Existenz bewahren, noch kann sie das Gelingen seiner Existenz strukturell begünstigen oder gar herbeiführen. Nach Foucault ist der alleinige Verdienst des Erkennens nunmehr die Erkenntnis selbst, und ob sie überhaupt irgendwelche positiven Früchte abwirft, entscheidet sich anhand von kontingenten äußeren Umständen. Auch wenn man dies ein wenig relativiert und auf den Lebenskomfort hinweist, der aus den Erkenntnisprozessen der modernen Wissenschaft und den Errungenschaften der modernen Technik entspringt, 241 so stimmt die Aussage von Foucault dennoch, dass die Wahrheit keinen direkten Bezug mehr auf das Seelenheil des Menschen besitzt: Jener Punkt der Erleuchtung, jener Punkt der Vollendung, jener Moment der Läuterung des Subjekts durch die »Rückwirkung« der erkannten Wahrheit auf es selbst, die sein Sein ergreift, durchfährt und läutert, all das darf es nicht mehr geben. Es ist jetzt undenkbar geworMichel Foucault  |  125

den, daß der Zugang zur Wahrheit, die Arbeit oder das Opfer – der für den Zugang zu ihr gezahlte Preis – wie eine Krönung oder eine Belohnung im Subjekt sich vollendet. Die Erkenntnis öffnet sich einfach auf ein unbegrenztes Fortschreiten, dessen Ende man nicht kennt […].242

Bereits die Antike kannte die Aufforderung des »Erkenne dich selbst«. Diese Forderung an den Menschen bildete jedoch keinen Selbstzweck, nach Foucault stand sie vielmehr in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Sorge um sich selbst.243 Nur im Dienst der Selbstsorge erlangte die Selbsterkenntnis in der Antike einen zentralen Stellenwert. Die Neuzeit jedoch vollzieht eine entschiedene Hinwendung zum Erkenntnisakt – Foucault spricht hier von einem »cartesianischen Moment«,244 wodurch die Selbsterkenntnis in den Vordergrund rückt und die Sorge um das eigene Selbst mehr und mehr aus dem Blickfeld menschlicher Aufmerksamkeit verdrängt wird. Im Descartes’schen Cogito ergo sum bildet die Selbsterkenntnis das alleinige Fundament von Wahrheit und Gewissheit, die Sorge um das Selbst spielt für das Erkennen überhaupt keine Rolle mehr. Für Foucault demonstriert diese Positionierung die paradigmatische Haltung des Menschen in der Neuzeit. Die ehedem entscheidenden Wirkungen des geistigen Wissens werden »allmählich eingeschränkt, überdeckt und schließlich ausgelöscht […] von einem Wissensmodus, den man das Erkenntniswissen nennen könnte«.245 Der Mensch verliert die Denkform der Geistigkeit, er verliert die Fähigkeit, sich eine existentiell relevante und das Leben transformierende Wahrheit überhaupt vorstellen zu können. In der Situation der Moderne ist der Mensch mit der Sinnleere eines Erkenntniswissens konfrontiert, das die wichtigsten Schichten seiner Existenz nicht mehr berühren kann. Die Pro­blematik wird nach Foucault am eindringlichsten von Goethes Faust in Worte gefasst, wenn dieser beklagt, dass er Philosophie, Juristerei, Medi­zin und auch Theologie studiert, jedoch die transformierenden und heilenden Wirkungen der Geistigkeit dadurch gerade nicht erfahren habe.246 Die Auseinandersetzung mit der Philosophie Foucaults wirft ein deutlicheres Licht auf das heutige Verhältnis zu den geistigen Übungen der antiken Sinnentwürfe. Dieses Verhältnis ist durch eine charakteristische Ambivalenz geprägt. Weil die geistigen Übungen der Antike auf einer grundlegend andersartigen Wahr126  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

heitsauffassung beruhen und von dieser Wahrheitsauffassung auch nicht pro­blemlos abgelöst werden können, liegen sie für das moderne Denken in einer schier unerreichbaren Ferne. Geistige Übungen im antiken Sinne können nur auf Grundlage einer überholten Wahrheitsauffassung vollzogen werden, in die sich heutige Menschen nur mit Schwierigkeiten überhaupt hineindenken können.247 Und dennoch ist die tradierte Vorstellung von Geistigkeit heute keineswegs obsolet geworden. Auch in der Moderne hat sich an der existentiellen Situation des Menschen wenig geändert: Der Mensch strebt nach einem gelingenden Leben. Die menschliche Existenz ist vom Scheitern bedroht und die Gefahr, dass sich dieses Scheitern unweigerlich einstellen muss, wenn keine Anstrengungen dagegen unternommen werden, ist auch unter den Bedingungen der Moderne nicht von der Hand zu weisen. Auch in der Moderne wird die Glückseligkeit des Menschen durch die Widrigkeiten und Zwänge seiner Welt und seines Zusammenlebens mit seinen Mitmenschen herausgefordert, und auch in der Moderne muss sich der Mensch dem aktiv entgegenstemmen, um eine gelingende Existenz zu erreichen.248 Auch im Zeitalter der Moderne kennt der Mensch das Bedürfnis, sich aktiv, überlegt und gezielt um sein Leben zu bemühen; darin besteht die ungebrochene Nähe zu den überlieferten meta­phy­sischen Sinnentwürfen. Das Bedürfnis, das die geistigen Übungen der Antike ehedem befriedigt haben, ist in der Moderne nicht entfallen – ganz im Gegenteil ist dieses Bedürfnis präsent wie eh und je. An die Stelle der geistigen Übungen der Antike ist nicht etwas Neues und genuin Modernes getreten. Sie haben eine Leerstelle hinterlassen, die bisher nicht angemessen gefüllt werden konnte: Die Moderne konnte keine spezifisch modernen geistigen Übungen etablieren, die das menschliche Streben nach einer gelingenden Existenz methodisch begleiten und stützen könnten. So verbleibt das moderne Denken in einer ambivalenten Haltung zu den überlieferten Sinnentwürfen, die gleichzeitig den Charakter der Fremdheit und Vertrautheit aufweisen und die eine unerfüllte Möglichkeit vor Augen führen – die Möglichkeit, das Streben nach einer gelingenden Existenz auf die Grundlage einer in der Wahrheit verankerten Lebenskunst zu stellen. Genau diese Ambivalenz scheint auch zum Ausdruck zu kommen, wenn Foucault etwas opak von der gleichzeitigen Notwendigkeit und der UnmöglichMichel Foucault  |  127

keit spricht, »heute eine Ethik des Selbst zu begründen«.249 Einige moderne Reaktionsweisen auf diese Situation werden im folgenden Abschnitt thematisiert. 2.3.2.3  Das übende Streben nach dem Höheren: Peter Sloterdijk

In seinem Werk »Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik«250 entwirft der Philosoph Peter Sloterdijk eine Sicht auf die menschliche Existenz, die die Rolle des Übens stark in den Vordergrund rückt. Auch wenn sich viele seiner Gedanken bereits bei Hadot und Foucault wiederfinden, enthält die Analyse von Sloterdijk einige wichtige Differenzierungen und Überlegungen, die das heutige Verhältnis zu den geistigen Übungen der antiken Sinnentwürfe und überhaupt zu bestimmten Denkweisen und Existenzformen der Vergangenheit erhellen können. Sloterdijk unterscheidet grundlegend zwei Möglichkeiten der Ausrichtung der menschlichen Existenz. Nach Sloterdijk kann die Lebensführung zum einen durch ein Streben nach etwas Höhe­ rem als das faktische Ich bestimmt sein. Zum anderen kann sich der Mensch in seinem Leben darauf fokussieren, sich von seinen Mitmenschen so deutlich wie möglich abzugrenzen. Die Lebensführung des Menschen kann somit nach Sloterdijk durch eine Vertikalspannung oder aber durch das horizontale Streben nach Individualisierung gekennzeichnet sein. Während sich die meta­ phy­sischen Sinnentwürfe der antiken Traditionslinie durch Vertikalität auszeichnen, bestimmt sich nach Sloterdijk heutiges Denken durch einen Hang zur Horizontalität. Diese wichtige Differenzierung muss im Folgenden konkretisiert werden. »Vertikalität« bezeichnet bei Sloterdijk eine existentiell bedeutsame Beziehung des Menschen zu etwas Höherem als er selbst. Dieses Höhere erzeugt im Menschen eine Spannung und setzt so ein Streben in Gang, das als eine übende Bewegung zum Höheren hin vollzogen wird. Wirkungsmächtig formuliert ist diese Vorstellung im Traum Jakobs von der Himmelsleiter in der Genesis, wo Jakob die Vision einer Leiter hat, die den Aufstieg zum Göttlichen aufzeigt, wobei das Göttliche als eine unendlich wertvolle, weit über dem Menschlichen liegende Sphäre erfahren wird.251 Entscheidend für die Vorstellung der Vertikalität ist, dass der Mensch ein Bewusstsein ausbildet für eine höhere Region, die etwas Wertvolle128  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

res als seine faktische Existenz verkörpert und die dadurch eine Anziehung auf den Menschen ausübt. Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von einer »Vertikalspannung«. Der Einfluss des Höheren wird als eine überwältigende Forderung erlebt, die Sloterdijk zum Titel seines Buches wählt: »Du mußt dein Leben ändern.« Sloterdijk verweist damit auf ein Sonett Rilkes, das die übermächtige Anziehungskraft eines Kunstwerks beschreibt.252 Das Gedicht schildert, wie ein Betrachter des antiken Torso Apollos von dem Kunstwerk überwältigt wird. Der Betrachter im Gedicht erfährt in einer fast mystischen Erfahrung, wie im Kunstwerk ein Blick lebendig ist, der ihn ergreift und eine Forderung in ihm entstehen lässt, die sich im letzten Satz des Gedichtes ausdrückt: »Du mußt dein Leben ändern.« Nach Sloterdijk kommt im Gedicht Rilkes zum Ausdruck, wie der Mensch den Einfluss der Vertikalspannung erfährt: Eine übermächtige, höhere Kraft überkommt den Menschen und stellt seine faktische Lebensweise so grundlegend in Frage, dass ein Verbleib bei diesem Ausgangszustand unmöglich wird. Aus diesem inneren Druck, erzeugt durch die Begegnung mit dem Höheren, entsteht die Übungsbewegung, die das Leben des Menschen von Grund auf transformiert. Hierin liegt das Interessante an Sloterdijks Gedanken: Er beschreibt, wie der Mensch das Phänomen des Höheren als eine Forderung erlebt, die seine Existenz als Ganzes ergreift: »Du mußt dein Leben ändern« – das scheint aus einer Sphäre herzustammen, in der keine Einwände erhoben werden können. Auch ist nicht zu entscheiden, von wo aus der Satz gesprochen wird, allein seine absolute Vertikalität steht außer Zweifel [… Rilke] hat einen Stein entdeckt, der den Torso der »Religion«, der Ethik, der Askese überhaupt verkörpert: Ein Gebilde, das einen Anruf von oben abstrahlt, reduziert auf den puren Befehl, die unbedingte Weisung, die durchlichtete Äußerung des Seins, das verstanden werden kann – und das nur in Imperativen spricht.253

Die Autorität, aus der diese Forderung entspringt, ist nach Sloterdijk die onto­logische Autorität eines privilegierten Seienden.254 Das Höhere hat einen Ort, an dem es sich manifestiert und von dem aus es sich an den Menschen wendet, um in ihm die Vertikalspannung zu erzeugen. In Rilkes Gedicht ist das privilegierte Seiende ein Kunstwerk. Aus ihm entspringt nach Sloterdijk eine onto­logische Peter Sloterdijk  |  129

Autorität: Die Autorität entspringt aus etwas, das ist und dabei vom Menschen verstanden werden kann und das dem Menschen eine Lebensweise und eine Sichtweise auf die Welt vermittelt. In diesem Sinne ist die Autorität des privilegierten Seienden eine onto­ logische. Man könnte mit anderen Worten sagen, dass der Mensch mit einer Sinnhaftigkeit konfrontiert wird, die seine Existenz als Ganzes, sein gesamtes Denken und Handeln, ergreift, umwandelt und in eine zielgerichtete Übungsbewegung versetzt. Das Sein des Menschen wird durch die Begegnung mit dem Höheren in etwas Höherwertiges verwandelt und erfährt eine Zielgerichtetheit – in diesem Sinne hat das Höhere, von dem die Vertikalspannung ausgeht, eine onto­logische oder sinngebende Kraft. Die mit der Vertikalspannung einhergehende Sinngebung eröffnet dem Menschen eine existentiell relevante Wahrheit. Sloterdijk benutzt zwar diesen Ausdruck nicht, wenn er aber im obigen Zitat in der Sprache Heideggers von einer »durchlichtete[n] Äußerung des Seins, das verstanden werden kann« spricht, meint er, dass sich die Autorität des Höheren in einer vom Menschen verstehbaren Wahrheit gründet. In den Sinnentwürfen der antiken Traditionslinie bildet die sinnhaft geordnete Welt des Kosmos die onto­logische Autorität einer höheren Sphäre, aus dem die Vertikalspannung entspringt, die die geistigen Übungen des Menschen in Gang setzt.255 Sloterdijk wählt bewusst Rilke als Beispiel, da in der Moderne gerade die Natur diese Rolle nicht mehr übernehmen kann, weil sie vom Menschen wissenschaftlich entzaubert und technisch überboten wurde.256 Nach Sloterdijk bleibt in der Moderne dem Menschen nunmehr das Kunstwerk als Möglichkeit für ein privilegiertes Seiendes, aus dem die onto­logische Autorität einer Vertikalspannung entspringen kann. Eines aber steht für Sloterdijk fest: Es bedarf dieser onto­logischen Autorität – auf Beliebigkeit kann sich keine Vertikalspannung und damit kein Übungsprozess gründen. Eine Spannung kann es nur dort geben, wo eine Forderung im Raum steht. Eine Forderung wiederum muss eine Grundlage haben, auf der sie erhoben wird. Hier berührt Sloterdijk einen wunden Punkt der Moderne: Jede Übungsbewegung des Menschen und überhaupt jede Gerichtetheit des menschlichen Lebens ist in der Moderne durch Beliebigkeit bedroht. Um eine Übungsbewegung zu vollziehen, braucht es aber eine Verbindlichkeit. Eine sinnrelevante Ver130  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

bindlichkeit kann sich nach Sloterdijk in der Moderne nicht mehr in der Natur, sondern allenfalls im Kunstwerk manifestieren. Hierbei stellen sich einige wichtige Fragen: Woraus bezieht das Kunstwerk letzten Endes seine sinngebende Autorität? Und in welcher Weise kann ein Kunstwerk eine solche Autorität im Umfeld einer sinnneutralen Natur entfalten? Diese Fragen lässt Sloterdijk vollständig offen. Die Frage nach der Möglichkeit einer menschlichen Sinngebung in einer sinnfreien Natur wird im zweiten Teil dieser Untersuchung noch ausführlich zur Sprache kommen.257 Wichtig an dieser Stelle sind folgende Feststellungen: Vertikalspannungen stellen unbedingte Forderungen an den Menschen und setzen so Übungsprozesse in Gang. Die Unbedingtheit der Forderungen entspringt aus einer onto­logischen Autorität, die das Leben des Menschen mit einem übergreifenden existentiellen Sinn erfüllt und die wiederum eine Grundlage haben muss. In den antiken Sinnentwürfen bot die sinnvolle Ordnung des Kosmos diese Grundlage, in der Moderne vermag dies allenfalls noch die Kunst zu leisten. Dass es sich bei den Vertikalspannungen Sloterdijks um Sinnvorstellungen im umfassendsten Sinne des Wortes handelt, zeigt sich auch an deren Reichweite. Nach Sloterdijk kommt den Vertikalspannungen eine konstitutive Bedeutung für die Seele des Menschen zu. Die Vertikalspannung ist als paradoxe Forderung angelegt – als eine Forderung, die weder ignoriert noch abgewiesen, noch erfüllt werden kann. Diese Paradoxie erzeugt im Menschen eine Gespanntheit, die seine Seele entstehen lässt. Die Herausbildung der Seele deutet Sloterdijk als Reaktion auf die Begegnung mit dem Höheren: Die Seele emergiert als die Instanz, in der das Unmögliche wie eine ständig zu bedenkende Möglichkeit vergegenwärtigt werden muß. »Seele« im Sinne eines innenweltlichen oder mikrokosmischen Organs zur Verdoppelung des Seienden im ganzen ist keineswegs eine überzeitliche Instanz, in der sich das Für-sich-Sein der Menschen aller Zeiten und Völker manifestiert hätte. Sie entsteht erst als das Symptom einer Überreizung durch ein unausweichliches Paradoxon – durch eine Forderung, die sich weder erfüllen noch ignorieren läßt.258

Es ist das Bewusstsein des Höheren, das als Horizont des Unerreichbaren den Menschen als Menschen erzeugt – damit ist der Peter Sloterdijk  |  131

Mensch von vornherein und wesenhaft jemand, der eine aufwärtsgerichtete, unabschließbare Übungsbewegung vollzieht. In diesem Sinne kann Sloterdijk das Üben als das Wesen des Menschlichen bestimmen: Der Mensch ist ein Lebewesen, »das nicht nicht üben kann«.259 Kultur selbst ist bei Sloterdijk nichts anderes als ein Mittel zur Artikulation und Reproduktion von Vertikalspannungen.260 Die vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit zeigen, in welchem Sinne Sloterdijk mit dieser Beschreibung zumindest die Perspektive der transzendenzorientierten Sinnentwürfe der Vergangenheit angemessen charakterisiert. Zum übenden Streben nach dem Höheren existiert aber nach Sloterdijk ein Gegenentwurf: das Streben nach einer Abgrenzung von den Mitmenschen. Die Fokussierung auf die Herausbildung einer individuellen oder kollektiven Identität ist für Sloterdijk das genaue Gegenteil des Strebens nach dem Höheren.261 Er betrachtet allein das Streben nach dem Höheren als Übungsprozess im eigentlichen Sinne und geht so weit, die Hinwendung zur Identität mit Faulheit zu assoziieren. Darin begeht Sloterdijk jedoch einen Fehler, da auch Identitätsbildungsprozesse den Charakter des Übens haben können – insbesondere, wenn es sich um das Streben des Einzelnen nach Individualisierung handelt. Individualisierungsprozesse sind gerade in der Moderne zuweilen raffinierte Vollzüge von Übungsvorgängen – man denke etwa an die Energie, die Menschen aufwenden, um eine einzigartige und unverwechselbare Persönlichkeit zu entwickeln oder zu einer exklusiven Subkultur dazuzugehören. Es ist zwar einleuchtend, dass bestimmte Formen der Abgrenzung, so wie etwa die Fokussierung auf kulturelle, beispielsweise nationale Identitäten, als die Verweigerung von individuellen Übungsanstrengungen interpretiert werden können – allein der Anschluss an eine bestimmte Gruppe begründet noch kein Übungsverhalten, und gerade in diesem Fall verdeutlicht sich eine häufige Fehleinschätzung: Wenn jemand meint, allein durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine Garantie für eine gelingende Existenz bekommen zu können, befindet er sich im Irrtum, und zu Recht kann eine derartige Haltung als Faulheit charakterisiert werden. Und dennoch schließen Abgrenzungsprozesse Übungsprozesse nicht per se aus: Das abgrenzende Streben nach einer individuellen oder kollektiven Identität kann mit 132  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Übungsvorgängen verbunden sein oder auch nicht. Die eigentlich interessante Frage bei Sloterdijks Differenzierung bezieht sich auf das primäre Ziel des Übens: Strebt der Mensch nach etwas Höhe­ rem als er selbst oder will er sich nur von seinesgleichen abgrenzen? Hier steht eine vertikale Zielsetzung einer horizontalen gegenüber. Sloterdijk selbst benutzt die Unterscheidung zwischen horizontal und vertikal in diesem Kontext, er verbindet jedoch Übungsprozesse nur mit vertikalen Zielsetzungen. Dies ist wie gesagt eine Fehleinschätzung – auch nach horizontalen Zielen kann übend gestrebt werden. Recht hat Sloterdijk jedoch mit der Position, dass es grundlegende Unterschiede zwischen horizontalen und vertika­ len Zielsetzungen gibt. Im Streben nach dem Höheren strebt der Mensch nach etwas, das über seinen faktischen Zustand hinausgeht. Er muss in sich ein Bewusstsein über den Zielzustand ausbilden, für den er sich grundlegend verwandeln muss, um sich ihm anzunähern. Hier existiert ein qualitativer Unterschied zwischen dem Anfangszustand und dem Endzustand, und dieser qualitative Unterschied bewirkt – zumindest der Intention nach – das Gelingen der menschlichen Existenz. Bei einer horizontalen Abgrenzung von den Mitmenschen verbleibt der Mensch im Prinzip in seinem Ausgangszustand, er transformiert sich nicht grund­legend, sondern etabliert nur Weisen, sich von seinen Mitmenschen zu unterscheiden. Die Unterscheidung ist hier das Hauptziel, es gibt keinen inneren Zusammenhang zum Gelingen der Existenz, und es findet auch keine wesenhafte Umgestaltung des Existierens statt. Allenfalls besteht die irrige Annahme, dass eine erfolgte Abgrenzung automatisch zu einer gelingenden Existenz führt. Nach einer erfolgten Abgrenzung ist jedoch der Mensch immer noch so nah oder fern von einer gelingenden Existenz wie davor. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen einer horizontalen und einer vertikalen Zielsetzung. Sloterdijk Differenzierung zwischen der Vertikalität und Horizontalität ist damit nur fruchtbar, wenn man seine Aussagen modifiziert: Einander gegenüber stehen das übende Streben nach dem Höheren, das seiner Anlage nach auf eine gelin­ gende Existenz gerichtet ist, und das Streben nach einer Abgrenzung von den Mitmenschen, das zuweilen auch übend vollzogen wird, das aber keinen strukturellen Zusammenhang zur Frage nach der gelin­ genden Existenz aufweist. Peter Sloterdijk  |  133

Doch ist das übende Streben nach einer gelingenden Existenz immer ein vertikales Streben nach dem Höheren? Liegt in Identi­ tätsbildungsprozessen stets ein Ausweichen vor der Frage nach der gelingenden Existenz? Welche Perspektive steht hinter der Aussage, dass nur eine vertikale Zielsetzung einen inneren Zusammenhang zum Streben nach einer gelingenden Existenz aufweist, die horizontale aber nicht? Ist das nicht eine Sichtweise, die den transzendenzorientierten Sinnentwürfen der Vergangenheit verhaftet bleibt – und steht dahinter nicht letztendlich die Abwertung einer im Weltlichen verbleibenden Lebensweise zugunsten einer Jenseitsorientierung im weitesten Sinne? Bei der Beantwortung dieser Fragen können die weiter oben ausgeführten Gedanken über Heideggers Interpretation der menschlichen Existenz weiterhelfen.262 Heidegger beschreibt, wie umfassend der Mensch in seinen Bezügen zur Welt und zu seinen Mitmenschen verwurzelt ist und wie stark es darauf ankommt, sich daraus herauszuarbeiten, um eine gelingende Existenz führen zu können. Es ist einsichtig, dass in einer derartigen Interpretation die Zugehörigkeit zu einer Menschengruppe zunächst keine Herauslösung aus den Bezügen der Alltäglichkeit bedeutet und auch die Eigentlichkeit des Einzelnen nicht zur Entfaltung bringt: Durch einen identitätsbildenden Beitritt zu einer Gruppierung mag der Mensch die Einflüsse des »Man« modifizieren, eine Befreiung davon vollzieht er dabei nicht.263 Allerdings kann ein Prozess der Individualisierung, bei dem ein Mensch eine individuelle Identität herausbildet und sich dabei von seinen Mitmenschen abgrenzt, durchaus auf das Gelingen der Existenz abzielen: Das Streben nach Abgrenzung kann von der Absicht getragen sein, die kulturell durch die Mitmenschen vermittelten Weltbezüge abzustreifen, sich also aus dem »Man« zu befreien, um in den entscheidenden Momenten eigene und damit »eigentliche« Bezüge zur Welt und zu den Mitmenschen herzustellen.264 Dies kann aber nicht mehr als ein Streben nach »etwas Höherem« interpretiert werden, auch wenn das menschliche Selbst hierbei nicht unwesentlich transformiert wird. Trotzdem muss dies als eine Arbeit am eigenen Selbst aufgefasst werden – auch wenn Heidegger auf den Übungscharakter des Strebens nach Eigentlichkeit nicht eingeht, können seine Positio­nen ohne große Verzerrung um den Übungsaspekt erweitert werden. Das Streben des Men134  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

schen nach Eigentlichkeit ist so nichts anderes als das übende He­ rausarbeiten aus den Zwängen der Alltäglichkeit mit dem Ziel, eine gelingende Existenz zu verwirklichen. In diesem Sinne kann auch Abgrenzungsprozessen das übende Streben nach einer gelingenden Existenz zugrunde liegen. Das vollständige Verbleiben im Innerweltlichen und das vollständige Fehlen der Vorstellung eines »Höheren« ist noch kein Zeichen dafür, dass hier kein Übungsvorgang im eigentlichen Sinne vorliegt. Der Übungsgedanke kann durchaus von Transzendenzvorstellungen abgelöst werden: Das übende Arbeiten am eigenen Selbst kann so verstanden werden, dass der Mensch dadurch einen Anfangszustand, der zum Scheitern der Existenz führen würde, überwindet, indem er sich selbst transformiert und so einen Endzustand oder Zielzustand herstellt, der ein Gelingen seiner Existenz ermöglicht. Auch für einen genuinen Übungsvorgang, der auf die gelingende Existenz abzielt und der den Charakter eines Abgrenzungsprozesses haben kann, ist die Vorstel­ lung eines onto­logisch verstandenen »Höheren« im Prinzip entbehr­ lich. Nicht jeder Abgrenzungsprozess muss damit ein Übungsprozess in diesem Sinne sein, und häufig führen Abgrenzungsprozesse den Menschen nicht wesentlich über seinen faktischen Ausgangszustand hinaus, aber es zeigt sich, dass das Üben mit Vertikalität im Sinne einer Transzendenz nicht intrinsisch verbunden ist. Nur wenn man das »Höhere« innerweltlich und vollständig immanent interpretiert, ihm also keinen grundlegend verschiedenen onto­logischen Standort zuschreibt, kann man die Position einnehmen, dass jede echte Übungsbewegung eine vertikal gerichtete Bewegung ist. Sloterdijk scheint dies zuweilen zu tun, wenn er über das übende Existieren in der Moderne schreibt, dass die vertikale Übungsbewegung darauf ausgerichtet ist, die physischen und psychischen Fähigkeiten des Menschen zu steigern.265 Hierbei geht es um die Fähigkeiten des Menschen, innerhalb der diesseitigen Welt tätig zu werden. Somit ist keine onto­logisch höhere Sphäre im Spiel, und weil es sich um eine Steigerungsbewegung handelt, die zudem auf die gelingende Existenz gerichtet sein kann, ist der Begriff »vertikal« nicht vollständig unangemessen. Trotzdem erzeugt eine derartige nichtonto­logische Verwendung des Begriffs »vertikal« eine Konfusion, und zwar nicht nur, weil Sloterdijk sie häufig mit einer onto­logischen Verwendung des Wortes vermengt, sondern Peter Sloterdijk  |  135

weil er die Implikatio­nen und Konnotatio­nen der meta­phy­sischtranszendenten Vertikalspannungen auf diese Verwendung überträgt. Sloterdijk erkennt nicht, dass eine derartige innerweltliche, auf die vitalen Fähigkeiten des Menschen beschränkte Vertikalitätsvorstellung gerade nicht mit den quasimystischen Empfindungen einhergehen kann, die das Imperativ »Du mußt dein Leben ändern« im für Sloterdijks Werk so zentralen Rilke-Gedicht beschreibt. Somit zeigt sich: Die Position, dass nur eine vertikal auf das Höhere gerichtete Übungsbewegung ein Üben im eigentlichen Sinne darstellt, ist nicht richtig und wird der Situation in der Moderne nicht gerecht. Die Moderne kennt horizontale Weisen des menschlichen Existierens, die als Abgrenzungsprozesse vollzogen werden und die auf eine gelingende Existenz gerichtet sind, die aber dennoch einen genuinen Übungscharakter haben können und bei all dem nicht durch Vertikalität im onto­logischen Sinne gekennzeichnet sind. Mit Heidegger und auch mit Foucault kann man die Arbeit am eigenen Selbst in der Moderne als die Bemühung auffassen, das wahre Selbst von sozialen und kulturellen Verdunkelungen und Entfremdungen zu befreien und auf diese Weise zur Entfaltung kommen zu lassen.266 Diese Bemühung kann als ein genuiner Übungsvorgang mit nichtvertikalem Charakter voll­zogen werden. Sloterdijks Position, dass echte Übungsbewegungen Vertikalität beinhalten müssen, lehnt sich damit sehr stark an die Denkweise der antiken Sinnentwürfe an und wird der Moderne nicht vollständig gerecht. Die bisherigen Erkenntnisse können wie folgt zusammengefasst werden: Die Übungsprozesse, um die es hier geht, zielen wesenhaft auf die Ermöglichung einer gelingenden Existenz ab. Übungsprozesse können onto­logisch vertikal oder horizontal gerichtet sein. Abgrenzungsprozesse können genuine Übungsprozesse darstellen oder auch nicht – entscheidend ist die Frage, ob sie in erster Linie die gelingende Existenz zum Ziel haben. Insbesondere kollektive kulturelle Identitätsbildungsprozesse können deswegen nicht als eigentliche Übungsprozesse aufgefasst werden, da sie primär auf Abgrenzung, aber nicht auf die gelingende Existenz abzielen und damit auch keine wesenhafte Transformation des menschlichen Selbst erfordern. 136  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Sloterdijk berührt mit seinen Thesen wichtige Aspekte des übenden Existierens in der Moderne: Nicht zuletzt seine Kritik an der heutigen Fixierung auf die kulturelle Identität hat ihre Berechtigung. Die Konfusion der Positio­nen Sloterdijks zeigt jedoch, wie undurchsichtig die heutige Beziehung zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit ist, die immer wieder unbemerkt und ungewollt das Fundament für heutige Denkprozesse bilden. Ein ständiges Reflektieren der eigenen Position ist deswegen unentbehrlich, um das eigene Verhältnis zu diesen fremd gewordenen Vorstellungswelten klar vor Augen zu haben. Diese Tücken der Herangehensweise berücksichtigend kann explizit nach dem übenden Existieren des Menschen in der Moderne gefragt werden. Sloterdijks Denken hat einiges zu dieser Frage beizutragen, auch wenn seine Positio­nen etwas entwirrt, präzisiert und auf ihren Bezug zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit hinterfragt werden müssen. Als erstes fällt ins Auge, dass nicht mehr, wie etwa bei der Auseinandersetzung mit Marc Aurel, vom geistigen Üben die Rede ist: Übendes Existieren in der Moderne bedeutet nicht mehr automatisch ein geistiges Üben. Das kann es auch gar nicht, wenn man die Veränderung der Wahrheitsauffassung berücksichtigt, durch die die Moderne eine existentiell relevante, spezifisch geistige Wahrheit gar nicht mehr kennt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Foucaults Aussagen über die Unterschiede zwischen antikem und modernem Denken.267 Auch bei Sloterdijk zeichnet sich die moderne Askese, das übende Leben in der Moderne dadurch aus, dass ihr der Charakter der Geistig­ keit abhanden kommt und sie sich nunmehr auf den Körper des Menschen richtet. Zugleich verliert – als Kehrseite dieser Entwicklung – die Geistigkeit des Menschen in der Moderne ihren Übungscharakter. Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von einer gleichzeitigen Somatisierung und Entspiritualisierung der Askese in einer Zeit, in der sich die Übungsbemühungen des Menschen auf seinen Körper konzentrieren und in der andererseits die Spiri­ tualität ihren Übungscharakter verliert und eine informelle und unverbindliche Natur bekommt: Die Entspiritualisierung der Askesen ist vermutlich das umfassendste, seiner Großformatigkeit wegen am schwersten wahrnehmbare, gleichPeter Sloterdijk  |  137

wohl spürbarste und atmosphärisch mächtigste Ereignis in der aktuellen Geistesgeschichte der Menschheit. Im Gegenverkehr entspricht dem die Informalisierung der Spiritualität – begleitet von deren Vermarktung in entsprechenden Subkulturen. Die Grenzwerte für beide Tendenzen liefern die geistigen Landmarken des 20. Jahrhunderts: für die erste Tendenz steht der Sport, der zur Metapher der Leistung überhaupt geworden ist, für die zweite die populäre Neo-Mystik […].268

Der Sport entwickelte sich im Laufe der Moderne nach Sloterdijk zur »umfassendsten Organisationsform für menschliches Anstrengungs- und Übungsverhalten […], die je außerhalb von Arbeitsund Kriegswelten zu beobachten war«.269 Der Sport ist ohne Zweifel ein Massenphänomen der Moderne. Im Sport vollzieht der Mensch eine Fokussierung auf seinen Körper und eine übende Formung und Entwicklung seiner körperlichen Fähigkeiten. Hierbei besitzt der Sport auch eine mentale Komponente, die sich auf Bereiche wie Motivation, Strategie oder Teamgeist erstreckt, so dass sich Körperlichkeit und Geistigkeit zu einer Einheit verbinden. Hierbei handelt es sich jedoch nicht mehr um Geistigkeit im Sinne der antiken Sinnentwürfe: Das Geistige bestimmt sich nicht als scharfer Gegensatz zur veränderlichen und vergänglichen Körperlichkeit, hier geht es nicht mehr um eine Überwindung des unbeständigen Werdens und es ist auch keine existentiell transformierende Wahrheit mehr am Wirken. Die moderne Verbindung des Körperlichen mit dem Mentalen hat mit den tradierten Vorstellungen von Geistigkeit wenig gemeinsam. Insbesondere liegt das Ziel des Übens in der Moderne im Aktivsein des Menschen und im bewussten Erleben seiner Körperlichkeit in den vielfältigsten Dimensionen 270 – und nicht in der geistigen, kontemplativen Schau des Göttlichen, wie etwa bei Platon. Deswegen spielt auch die Wahrheit und die Einsicht des Menschen in die Wahrheit für das Üben keine entscheidende Rolle mehr. Eine wesenhafte innere Transformation ist entbehrlich, da sich der Mensch nicht mehr für die Aufnahme des Geistigen verwandeln muss. Im Vordergrund steht nun die übend vollzogene Aktivität als solche, die sich, mehr oder weniger verhüllt, als Kunst, Bildung oder Arbeit und fast unverhüllt als Sport vollzieht, indem ein innerweltlicher Trainingsvorgang in Gang gesetzt wird.271 Das übende Existieren in der Moderne ist ein entspiritualisiertes Tätigsein in der Welt und geht vollständig im 138  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

diesseitigen Werden auf. Das Üben ist keine dem Werden entgegengerichtete Absetzbewegung mehr, es ist nicht mehr die Bewegung einer Seele, die sich aus den Niederungen des unvollkommenen und unbeständigen Werdens in eine beständige und vollkommene Sphäre der Geistigkeit emporschwingen würde. Das Üben ist eine Bewegung, die der Mensch mit seinem Körper und seiner Psyche in der Welt vollzieht. Diese Bewegung ist horizontal, insofern sie vollständig im diesseitigen Werden verbleibt, und sie ist vertikal, insofern es um eine Steigerung der körperlichen und mentalen Fähigkeiten des Menschen geht.272 Gesteigert wird letzten Endes die Fähigkeit des Menschen, sich innerhalb der Welt zu entfalten und seinen Machtbereich immer weiter auszudehnen. Dies ist gemeint, wenn Sloterdijk von einer »Veräußerlichung der ›Sorge um sich‹« und der »Umgehung des Subjekts bei der Definition seines FitnessStatus« spricht. Diese Aussagen müssen jedoch eingeschränkt werden: Es ist keineswegs so, dass die Entspiritualisierung mit einer Profanisierung einhergeht. Gerade im Bereich des Sports manifestieren sich in der Moderne soziale Prozesse, die strukturell als kollektive reli­giöse Erfahrungen gedeutet werden können. Der Sportphilosoph Gunter Gebauer interpretiert die moderne Fankultur sehr überzeugend mit Hilfe der soziologischen Kategorien Émile Durkheims273 als ein kollektives Erleben des Heiligen.274 Die Körperorientierung des modernen Sports verbindet sich durchaus mit Werten, Ritualen und mit der Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen sowie zwischen dem Alltäglichen und dem Außeralltäglichen. Gebauer hat somit recht, wenn er das Aufgehen des Individuums in der Gemeinschaft als das Aufgehen in einer höheren sozialen Instanz interpretiert, die sich in der Kategorie des Heiligen manifestiert.275 Das ist deswegen ein Einwand gegen Sloterdijk, weil gerade das Phänomen des Sports nicht uneingeschränkt als eine Manifestation der modernen Abwendung von vormodernen Denkweisen interpretiert werden kann: Nicht zuletzt im Bereich des Sports ist das alte, insbesondere mythische Denken und Erleben lebendig geblieben. Recht hat Sloterdijk jedoch darin, dass die Hinwendung zur Körperlichkeit mit einer Entspiritualisierung einhergeht in dem Sinne, dass die Abwertung des Körperlichen zugunsten des unkörperlich Geistigen fallengelassen wird. Der Peter Sloterdijk  |  139

Sport ist eine Feier der Körperlichkeit und gerade kein Übungsprogramm zu ihrer Überwindung.276 Ein weiterer Unterschied zwischen dem Asketen der Vergangenheit und dem modernen Übenden liegt nach Sloterdijk darin, dass unter den Bedingungen der Moderne der Mensch nicht mehr nur direkt auf sich selbst einwirkt, um sich selbst zu transformieren, sondern dass er die Welt um sich herum verändert, wobei die Ände­ rungen dann wieder auf ihn zurückwirken.277 Der Übende arbeitet nicht mehr unmittelbar nur am eigenen Selbst, statt dessen fokussiert er sich auf isolierte Vorgänge und Bereiche in der Welt, um dort einzelne Veränderungen zu bewirken. Die erzielten Veränderungen wirken wiederum auf ihn zurück, beeinflussen und verändern ihn, so dass der Mensch nicht nur durch übende Veränderung seiner selbst, sondern wichtiger noch über die Folgen seiner Eingriffe in die Welt verwandelt wird. Die Veränderung der Welt ist ein Projekt, das der Mensch nicht als Einzelner in Angriff nimmt, sondern im Verbund mit seinen Mitmenschen, arbeitsteilig und spezialisiert, bewältigt. Deswegen ist der Einzelne in der Moderne in vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen zu seinen Mitmenschen eingebettet. Hierbei übt er nicht nur deswegen nicht alleine, weil er die Welt nicht alleine verändert, er übt auch insofern mit anderen gemeinsam, als er gezielt andere auf sich selbst einwirken lässt, um sich selbst zu verändern. Nach Sloterdijk ist das gezielte Geformtwerden durch andere ein Kennzeichen der Moderne: Moderne Verhältnisse zeichnen sich dadurch aus, daß die für sich selbst kompetenten Einzelnen in steigendem Maß die operative Kompetenz der anderen für ihre Einwirkungen auf sich selbst in Anspruch nehmen. […] Wer anderen erlaubt, direkt etwas an ihm zu tun, tut mittelbar etwas für sich. […] Das kompetente Subjekt muß nicht nur auf die Erweiterung des Radius seiner eigenen Handlungen achten, er ist zugleich gehalten, seine Zuständigkeit für »Behandlungen« durch andere auszubauen. […] Die Einzelnen sind nicht nur außerstande, die ganze Arbeit der Weltveränderung auf sich zu nehmen, sie vermögen nicht einmal alles zu ihrer persönlichen Optimierung Nötige in eigener Regie hervorzubringen.278

In seinen Übungstätigkeiten ist der Mensch auf vielfältige Weise mit seiner Welt und seinen Mitmenschen verbunden. Die Einge140  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

bundenheit in weltliche Zusammenhänge wird in der Moderne jedoch nicht als etwas zu Überwindendes betrachtet, es wird noch nicht einmal als ein in Kauf zu nehmendes Ärgernis aufgefasst: Das Angewiesensein auf Einflüsse, die der Einzelne nicht selbst in der Hand hat, ist hier ein integraler Bestandteil der Übungsbewegung. Im Unterschied zu den antiken Sinnentwürfen geht es nicht mehr um die Befreiung von der Unbeständigkeit der Welt, es geht auch nicht um eine Entfaltung einer Freiheit als innere Loslösung von allem individuell Unverfügbaren, wie beispielsweise im Stoizismus:279 Das, was der Mensch nicht selbst in der Hand hat, ist in der Moderne mitnichten etwas Defizientes oder bestenfalls Gleichgültiges, sondern etwas essentiell Notwendiges und Unverzichtbares, um die Existenz als übende Existenz vollziehen zu können. Das Erleiden von äußeren Umständen bedeutet nicht mehr automatisch eine unwillkommene Unfreiheit, sondern ist in wichtigen Fällen eine erwünschte Teilhabe an Fremdkompetenz. Das übende Leben erzeugt auch in der Moderne stets eine Absetzbewegung. An der formalen Struktur des Übens ändert sich wenig: Es gibt einen Anfangszustand, der überwunden werden muss, und einen Endzustand, dem sich der Mensch zielgerichtet und übend annähert. Der Asket der Antike vollzieht dabei eine Absetzbewegung vom diesseitigen Werden: Er versucht, sich grundlegend von der Welt als sinnlich gegebener Wirklichkeit zu distanzieren, indem er nach dem strebt, was darüber oder dahinter liegt. In dieser Abkehrbewegung liegt immer auch eine Abwendung von den alten Gewohnheiten und Trägheiten, und es ist eine Abwendung von dem, was der Übende in seinem Ausgangszustand als alltäglich und gewöhnlich ansah. Der Übende in der Moderne vollzieht keine grundlegende onto­logische Abtrennung von der Welt, das Ziel seines Übens liegt nicht im jenseitig Göttlichen – doch auch der moderne Asket vollzieht eine Sezessionsbewegung, durch die er sich von der Alltäglichkeit seiner Mitmenschen loslöst und eine Steigerungsbewegung in Gang setzt: Alle Steigerungen geistiger und leiblicher Art beginnen mit einer Sezes­ sion von der Gewöhnlichkeit.280

Zwischen der im pejorativen Sinne als gewöhnlich empfundenen alltäglichen Lebensweise der Mitmenschen und der zu etabliePeter Sloterdijk  |  141

renden Übungsbewegung zieht der Asket eine scharfe Trennung, die eine Absetzbewegung ermöglicht. Nach Sloterdijk entspringen sowohl die Trennung als auch die daraus resultierende Abkehrbewegung aus einer vertikal gerichteten Gespanntheit, die in diesem Sinne das Fundament der Übungsbewegung bildet: Die Vertikalspannung erzeugt eine Trennung zwischen dem übenden Einzelnen und der ihn umgebenden Alltäglichkeit, die er als »korruptes Trainingslager, in dem bei Tag und Nacht umfassende Falschheitsübungen« ablaufen,281 wahrnimmt. Die Übungsbewegung ist eine Absetzbewegung von diesen als verfehlt empfundenen Gewohnheiten der Mitmenschen. So entsteht eine Differenz zwischen der übenden Existenz, die auf das Gelingen der Existenz abzielt, und der übrigen Welt, die dem entgegensteht. An diesen Stellen haben die Positio­nen Sloterdijks eine große Nähe zum Denken von Heidegger. Es ist ohne weiteres möglich, die Philosophie Heideggers um den Übungsgedanken, der bei ihm selbst nicht auftaucht, zu erweitern: Der Mensch existiert, indem er übend nach Eigentlichkeit strebt und sich dabei vom Man abgrenzt.282 Aus diesem Blickwinkel zeigt sich ein entscheidender Unterschied zu den geistigen Übungen der Antike: In den umfassenden antiken Sinnentwürfen unterscheidet sich das Übungsziel in seiner Seinsweise grundlegend von der gemiedenen Alltäglichkeit, dem Ausgangspunkt des Übens. Mit der übenden Abgrenzung von der Alltäglichkeit des sozialen Umfeldes geht eine onto­ logische Trennung zwischen dem Ort dieser Alltäglichkeit – der sinnlich gegebenen Wirklichkeit – und dem Ort, in dem das Ziel der Übungsbewegung verankert ist, einher. Die Übungsbewegung ist auf ein transzendentes Höheres gerichtet, das jenseits oder hinter der unbeständigen sinnlich gegebenen Wirklichkeit liegt. Die Gespanntheit entspringt aus der onto­logischen Andersartigkeit des Übungsziels. Nur auf dieser Grundlage kann die Seinsweise des Übenden durch das Üben wesenhaft transformiert werden: Das onto­logisch Andersartige – in den meta­phy­sischen Sinnentwürfen in aller Regel als Göttlichkeit verstanden – färbt auf den Menschen ab und verwandelt ihn substantiell. So kann derjenige, der übend nach dem Göttlichen strebt, selbst von der Göttlichkeit durchdrungen werden. Die Gespanntheit, die zum Üben führt, entspringt aus der onto­logischen Disproportionalität zwischen dem Mensch­ 142  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

lichen und dem Göttlichen, die sich in der Metapher der »Höhe« ausdrückt. Dies ist die Bedeutung der Vertikalspannung. Diese onto­logische Andersartigkeit des angestrebten Übungsziels fehlt jedoch in der Moderne vollständig. Die Abgrenzung von der Alltäg­ lichkeit der Mitmenschen ist stets der Ausgangspunkt der Übungs­ bewegung, aber in der Moderne kann sie nicht mehr mit einer onto­ logisch verstandenen Vertikalität einhergehen. Die Kategorien des modernen Denkens lassen kaum mehr Raum für eine Sphäre, die sich vom Werden der sinnlich gegebenen Wirklichkeit grundlegend onto­logisch unterscheidet. Derartige Vorstellungen stellen im Grunde Rückgriffe auf die Sinnentwürfe der Vergangenheit dar. Das Ziel des spezifisch modernen Übens liegt nicht mehr in einer wesenhaft anderen Sphäre als der Ausgangspunkt des Übens, die Übungsbewegung vollzieht sich horizontal in der Unbeständigkeit des diesseitigen Werdens. Aus diesen Gründen ist es mehr als fraglich, ob in der Moderne Vertikalspannungen, die den gleichen phänomenalen Charakter wie in den Sinnentwürfen der Vergangenheit besitzen, wirksam Übungsbewegungen in Gang setzen können. In der Moderne fehlt die Vorstellung einer in ihrer Seinsweise andersartigen Sphäre, die den Menschen durch ihre Andersartigkeit erschüttern und die ihm die Möglichkeit einer grundverschiedenen Seinsweise vor Augen führen könnte. Wenn der Mensch in der Moderne übt, ist ihm klar, dass er damit keinen onto­logisch wesensverschiedenen Zustand anstrebt und dass er damit auch keine fundamentale Verwandlung zu erwarten hat. In seinen Übungen modifiziert er die Gewohnheiten, die ihn geprägt haben, er vollzieht eine Abgrenzung von seinen Mitmenschen und steigert dabei seine physischen und psychischen Fähigkeiten – möglicherweise in einem nicht unbedeutenden Grad –, und vielleicht erreicht er dabei sogar einen Zustand, den er als eine gelungene Existenz empfindet. Aber eine wesenhafte Verwandlung kann er nicht vollziehen, wenn er keine Vorstellung einer wesenhaften Andersartigkeit besitzt. Erlebt der Mensch in der heutigen Zeit ein Ereignis subjektiv dennoch als eine derartige fundamentale Transformation, so fällt es ihm schwer, dies angemessen in einem modernen Vokabular zu beschreiben; er kann dann den Eindruck haben, dass das überlieferte Vokabular der Vergangenheit hierfür geeigneter ist. Eine Vertikalspannung gibt Peter Sloterdijk  |  143

es nur mit einer hinreichend klaren Vorstellung von Vertikalität im onto­logischen Sinne, und genau dies fehlt unter den Bedingungen der Moderne. Deswegen kann auch ein Kunstwerk den Menschen nicht mehr mit einem »Du mußt dein Leben ändern« überfallen, wenn ihm die Vorstellung abhandengekommen ist, dass eine onto­ logische Andersartigkeit eine wesenhafte Verwandlung seines Selbst bewirken könnte. Sloterdijk irrt somit, wenn er denkt, dass die Vertikalspannungen der antiken Traditionslinie umfassender Sinnentwürfe sich pro­blemlos in eine diesseitige Weltlichkeit übersetzen lassen. Worin dieser Irrtum besteht, zeigt sich in Sloterdijks Umgang mit Nietzsche. Nietzsche beschreibt in der Genealogie der Moral, 283 wie die Jenseitsorientierung der philosophischen und religiösen Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug zu einer grundlegenden und weitreichenden Abwertung des Diesseits führt.284 Diese Abwertung wird nach Nietzsche als ein Prozess der konsequenten Einübung, als Askese vollzogen. Sloterdijk hat recht, wenn er die Position bezieht, dass sich die Aussagen von Nietzsche über die übende Lebensweise verallgemeinern lassen, dass sie nicht nur die diesseitsverneinende Askese, sondern das übende Existieren überhaupt beschreiben und dass sich die Ablehnung Nietzsches nur auf die Diesseitsverneinung, nicht aber generell auf das übende Leben richtet.285 Nietzsches gesamtes Werk kann als der Versuch interpretiert werden, die Sinnerfülltheit früherer Sinnentwürfe von ihrer Diesseitsabwertung abzutrennen und sie in die mit dem Diesseits versöhnte Moderne zu übersetzen. Nietzsches Denken kreist um die Frage, wie ein Aufschwung zum Höheren vollzogen werden kann, ohne die unbeständige, sinnlich gegebene diesseitige Wirklichkeit abwerten und überwinden zu wollen. Für Sloterdijk ist das Pro­blem Nietzsches einfach beantwortet: Die Vertikalspannung, die in der Tradition aus einem onto­logisch höherem Ort entsprang, muss in der Moderne im sinnlich gegebenen Diesseits entspringen, und der naheliegende Ort hierfür ist die Steigerungsfähigkeit der Vitalkräfte des menschlichen Organismus. Das, wofür früher das Göttliche zuständig war, hat der Mensch selbst zu übernehmen – er muss übend seine körperlichen und mentalen Fähigkeiten in eine Steigerungsbewegung versetzen: 144  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Wenn die athletische und somatische Renaissance bedeutet, daß entspiritualisierte Askesen wieder möglich, wünschenswert und vital plausibel sind, dann beantwortet sich Nietzsches aufgeregte Frage am Ende seiner Schrift Zur Genealogie der Moral, woran sich das menschliche Leben nach der Götterdämmerung noch orientieren könne, ganz mühelos. Die Vitalität, als somatische wie geistige verstanden, ist selbst das Medium, das ein Gefälle zwischen Mehr und Weniger enthält. Sie hat daher das vertikale Moment, das Aufstiege orientiert, in sich, sie braucht keine zusätzlichen externen oder meta­phy­sischen Attraktoren. Daß Gott tot sein soll, macht in diesem Zusammenhang nichts. Mit oder ohne Gott kommt jeder nur so weit, wie seine Form ihn trägt. […A]lle Aufstiege beginnen beim Basislager des gewöhn­ lichen Lebens. Seine Fragen: Transzendieren, aber wohin?, aufsteigen, aber in welche Höhe?, hätten sich von selbst beantwortet, wäre er ruhig auf dem Boden der asketischen Tatsachen geblieben. Er war zu krank, um seine wichtigste Erkenntnis zu befolgen: daß es die Hauptsache im Leben sei, die Nebensachen ernst zu nehmen. Wo Nebensachen erstarken, wird die Gefahr, die von der Hauptsache ausgeht, gezügelt. Im Nebensächlichen höher steigen heißt dann in der Hauptsache vorankommen.286

In dieser Kritik äußert sich eine für heutige Denkweisen charakteristische Zwiegespaltenheit. Ausgangspunkt bildet die Erkenntnis, dass in der Moderne wichtige Gehalte der überlieferten Sinnentwürfe, etwa die Vorstellung einer wesensmäßig verschiedenen Sphäre über oder hinter der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, weggefallen sind. Hieraus entspringt die Fragestellung Nietzsches: Was kann statt dieser weggefallenen Vorstellung eine entsprechende Übungsbewegung in der Moderne auslösen? Worin könnte das Fundament eines ähnlich kraftvollen, aber rein diesseitigen Aufschwunges liegen? Mit diesen Fragen kämpfte Nietzsche, aber in seinem Denken und im Denken nach ihm zeigt sich, dass eine Beantwortung dieser Fragen nur schwer möglich ist: Es fehlt eine hinreichend klar artikulierbare Grundlage für eine rein diesseitige, aber vertikal in die Höhe gerichtete Gespanntheit, die in ihrer Kraft an die Vertikalspannungen vergangener Sinnentwürfe heranreichen könnte. Die neuen und genuin modernen Ziele, die einen übenden Aufschwung des Menschen in neue Höhen ermöglichen könnten, entziehen sich in der Moderne. Die früheren Ziele erscheinen aus der heutigen Perspektive unsinnig, nicht aber einige Peter Sloterdijk  |  145

der Früchte, die diese Ziele abgeworfen haben: Auch in der heutigen Zeit können Menschen den Wunsch entwickeln, eine kraftvolle Übungsbewegung analog zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit zu vollziehen. Die Übungsziele können zunächst nicht als Orientierung dienen, weil sich die Ziele der Vergangenheit nicht durch gleichartige moderne Ziele ersetzen lassen. Deswegen liegt eine Hinwendung zur Übungsbewegung selbst nahe: Abstrahierend von den Zielen kann de facto eine Außenperspektive auf das Üben eingenommen und dessen Form untersucht werden. Dies kann zu der Einsicht führen, dass sich das Üben stets als eine Steigerung der vitalen Kräfte des Menschen im Diesseits vollzieht und dass es – aus dieser Außenperspektive – nicht so sehr auf die Wahrheit der Übungsziele ankommt, sondern in erster Linie auf ihre Wirksamkeit. Die diesseitigen Lebenskräfte lassen sich durch eine von Vertikalspannungen in Gang gesetzte Übungsbewegung steigern. Die Steigerung der physischen oder psychischen Fähigkeiten des Menschen kann auch unter den Bedingungen der Moderne als ein attraktives Ziel erscheinen.287 Weil sich die Übungsziele der Vergangenheit nicht durch neue Ziele ersetzen lassen, weil die Ziele, die aus der Innenperspektive des Übens als die Hauptsache erscheinen, sich aus der Außenperspektive eher als Nebensächlichkeiten darstellen und weil die eigentliche Hauptsache die Steigerungsbewegung selbst ist, liegt es nahe, die Frage nach den Zielen zurückzustellen und sich der diesseitigen Übungsbewegung zuzuwenden. Daraus kann die Hoffnung entstehen, dass die Untersuchung der vitalen Ausgestaltungen innerweltlicher Übungsabläufe aus der Außenperspektive einen Einblick aufzeigen könnte in das, worauf es ankommt, die Übungsabläufe tatsächlich in Gang zu setzen. Oder genauer: In der Situation der Moderne kann der Wunsch entstehen, dass allein der Wille nach den erwünschten diesseitigen innerweltlichen Folgen des Übens die Übungsbewegung selbst in Gang setzen möge. Diese Haltung drückt sich bereits bei Nietzsche aus – in einem Gedanken, den Sloterdijk als Motto für sein Buch ausgewählt hat: Vor Allem und zuerst die Werke! Das heisst Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige »Glaube« wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert!288 146  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

Es zeigt sich jedoch, dass sich der dazugehörige Glaube keineswegs automatisch einstellt. Das Üben selbst kann nur vollzogen werden, wenn – nun aus der Innenperspektive – eine Vertikalspannung wirksam ist, die eine Forderung an den Menschen richtet. Eine derartige Forderung, die den Menschen als unbedingte Aufforderung überkommt, ist jedoch etwas anderes als der Wunsch nach bestimmten Übungsfolgen. Die Vertikalspannung entsteht aus der Bewusstwerdung eines Übungsziels. Das, was die Übungsbewegung konstituiert, ist direkt abhängig von Zielen, deren Diskussion in der Moderne jedoch pro­blematisch geworden ist, weil sich die Ziele der fremd gewordenen meta­phy­sischen Sinnentwürfe nicht durch ähnlich verbindliche diesseitige Ziele ersetzen lassen. Aus diesem Dilemma geht ein Schwebezustand hervor. Auch in der Moderne kann eine Existenzweise, die übend in die Höhe strebt, als attraktiv erscheinen – selbst wenn ihr ursprüngliches meta­ phy­ sisches Fundament abgelehnt wird. Ein gleichartiges modernes Fundament fehlt hingegen, und es ist unklar, wie eine Übungsbewegung ohne ein neues Fundament vollzogen werden könnte. Zugleich ist unklar, ob der Mensch auf die Idee eines übenden Strebens überhaupt verzichten kann oder sollte. Die Möglichkeit einer prinzipiellen Lösung dieses Pro­blems zeichnet sich nicht ab, und daraus entsteht ein moderner Schwebezustand zwischen einer Sehnsucht nach und einer Ablehnung der verlorengegangenen Vergangenheit. Der Mensch kann zwar weiterhin versuchen, seine Existenz als eine übende zu vollziehen und dabei die äußerlich erkennbaren und erwünschten Folgen der Übungsbewegung als Motivator des Übens verwenden. Die Vorstellungen der Vertikalität müssen jedoch in einer Vagheit belassen werden,289 weil sie einer strengen Prüfung durch das kritische Denken nicht standhalten würden. Und selbst das kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass der Auslöser einer genuinen Übungsbewegung nur in einer klaren, innerlich erlebten und erlittenen Vertikalspannung liegen kann. Diese Zwiespältigkeit zeigt sich auch direkt bei Sloterdijk, in seiner Interpretation des heutigen Neuerstarkens von Religiosität. Der Kern von Religiosität liegt für Sloterdijk in der Formung des Selbst durch Übung.290 Der Religion geht es um die ethische Unterscheidung zwischen guten und schlechten Gewohnheiten und Peter Sloterdijk  |  147

Automatismen. Ziel ist die Befreiung von den Automatismen, von den Routinen und Trägheiten des Denkens und Handelns, in die der Mensch geworfen wurde und von denen er beherrscht wird. Es geht darum, die schlechten Routinen durch gute zu ersetzen.291 Weil Religion im Kern ein ethisches Übungsprogramm ist, liegt nach Sloterdijk eine Verfremdung vor, wenn der Mensch die Reli­ giosität in den Dienst der Herausbildung seiner Identität stellt. In der Moderne stellt dies ein weit verbreitetes Phänomen dar, hierin liegt nach Sloterdijk eine Verfälschung genuiner Religiosität.292 So kann Sloterdijk mit einiger Plausibilität behaupten, dass von einer echten Rückkehr von Religiosität überhaupt nicht die Rede sein kann, da gerade nicht die ursprüngliche Religiosität als Formung des Selbst durch geistige Übungen zurückkehrt. Die tradierte Reli­ giosität bekommt ein neues Kleid, sie erhält eine neue Funktion, wenn sie verwendet wird, damit sich Gruppen von Menschen zusammenschließen, um sich von anderen Gruppen zu unterscheiden.293 Religiosität, die in erster Linie zur Etablierung einer Identität dient, hat mit dem ursprünglichen Ziel von Religiosität nicht mehr viel gemeinsam, da es nicht mehr um das übende Streben des Menschen zur Transformation seines Selbst geht. Überhaupt kann Religiosität nach Sloterdijk nicht rein funktional über die vita­len Bedürfnisse des Menschen als biologischer Organismus ­erklärt werden: Religiosität ist für ihn ein Übungsprogramm, und der Ausgangspunkt der Übungsbewegungen liegt in der Eigenheit von Religiosität, die Einzelnen mit ihrem status quo unzufrieden [zu] machen und in ihnen eine Willensreaktion hervorzurufen, dem trivialen Dasein einen nicht-trivialen Sinn zu geben. Seit Nietzsche kann man wissen, warum funktionale Erklärungen des »religiösen« Phänomens unvollständig bleiben: Wie das Übungssystem Kunst reagiert das Übungssystem »Religion« nicht bloß auf Defizite. Sie löst keine Pro­bleme, sie manifestiert Überschüsse, die sich in keiner realen Aufgabe verbrauchen lassen.294

Auch nach Sloterdijk ist Religiosität mehr als eine funktionale Lösung eines bestehenden Pro­blems: Der Religion geht es darum, »dem trivialen Dasein einen nicht-trivialen Sinn zu geben«. Religion muss mehr sein als ein Handlungsvorwand, sie muss auf der 148  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

kognitiven Ebene Wahrheit offenlegen. Nach Sloterdijk ist eine echte Religion mehr als die Verbesserung menschlicher Lebensfähigkeit durch Anthropotechnik – sie ist mehr als »die mentalen und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewißheiten zu optimieren.«295 Die Aussagen von Sloterdijk scheinen folgende Position auszudrücken: Echter Religion geht es um mehr als um die Steigerung der Überlebens- und Lebensfähigkeit, es geht ihr um eine transformierende Wahrheit des Denkens, um die grundlegende Verwandlung der Weise menschlichen Existierens und insbesondere um das Ziel einer gelingenden Existenz jenseits der Frage nach der Stärke der vitalen menschlichen Lebensfunktio­nen und auch jenseits von Identitätsbildungsprozessen.296 An dieser Stelle zeigt sich der oben beschriebene Schwebezustand des modernen Denkens bei Sloterdijk. Nietzsches Ringen mit dem Ziel des übenden Strebens nach dem Höheren weist Sloterdijk an anderer Stelle mit dem Hinweis auf die vitalen Steigerungsprozesse des menschlichen Lebens in der Welt zurück.297 Die Vertikalität verortet er im Bereich der Entfaltung der Lebensfunktio­nen in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Hier jedoch kritisiert er die Unzulänglichkeit einer Zurückführung des menschlichen Übens auf die vitalen Bedürfnisse des Menschen. Der Widerspruch liegt nicht nur in der mangelnden Kohärenz des Sloterdijk’schen Denkens, hier zeigt sich auch eine generelle Zwiegespaltenheit des modernen Denkens im Verhältnis zu den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der kulturellen Überlieferung. Es ist kein Zufall, dass Sloterdijk brüsk jede Klage über den Verlust von Transzendenz zurückweist, auf eine radikale Hinwendung zur Diesseitigkeit besteht, hierbei aber eine Unzulänglichkeit verspürt und deswegen in einem Widerspruch dazu eine neue Vertikalität fordert, die, mit dem gleichen Charakter wie im transzendenzorientierten Denken der Vergangenheit, als unbedingtes Imperativ zur Geltung zu kommen hat.298 Bei solchen Überlegungen zeigt sich, dass die transzendenzorientierten Sinnentwürfe der Vergangenheit für das moderne Denken keineswegs ein bewältigtes und erledigtes Thema darstellen. In diesem Sinne betont auch Sloterdijk die Notwendigkeit, aus den jenseitsorientierten Askesen der Vergangenheit zu lernen: Peter Sloterdijk  |  149

Alte Formen sind auf ihre Wiederverwendbarkeit zu prüfen, neue Formen zu erfinden. Ein anderer Zyklus von Sezessionen mag beginnen, um Menschen erneut herauszuführen – wenn schon nicht aus der Welt, so doch aus der Stumpfheit, der Niedergeschlagenheit, der Verranntheit, vor allem aber aus der Banalität, von der Isaac Babel sagte, sie sei die Konterrevolution.299

Derartige Forderungen sind einfach aufgestellt und stellen auch in der Moderne nichts Ungewöhnliches dar. Viel schwieriger ist jedoch die Beantwortung der Fragen, die sich unmittelbar aus ihnen ergeben. Auf welcher Grundlage sollen die Formen des neuen Übens stehen, wenn das Jenseits, aber auch die vitalen Bedürfnisse des Diesseits als Fundamente einer von Vertikalspannungen geleiteten Existenz ungeeignet sind? Was ist das Kriterium für die Wiederverwendbarkeit eines überholten Sinnentwurfes? Können überhaupt die Sinngehalte der Vergangenheit so umformuliert werden, dass sie den bestimmenden Maßstäben des modernen Denkens gerecht werden? Was genau kennzeichnet unsere Zeit, die Moderne, und was genau trennt sie von der Traditionslinie der antiken meta­phy­sischen Sinnentwürfe?

150  |  Zentrale Sinngehalte von vormodernen S ­ innentwürfen 

3.  Sinnvorstellungen in der Moderne An dieser Stelle der Untersuchung stellt sich die Frage nach spezifisch modernen Herangehensweisen an die Frage nach dem Sinn des Lebens. In charakteristisch modernen Denkpositio­nen artiku­ liert sich eine Abkehr von den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der antiken Traditionslinie. Diese Abwendung geht jedoch nicht mit einem vollständigen Bruch einher: In einer komplexen Weise beeinflussen die umfassenden Sinnentwürfe der Vergangenheit das moderne Denken insbesondere dann, wenn es um existen­tielle Fragestellungen geht. Der folgende Abschnitt handelt von den vielschichtigen Brüchen und Kontinuitäten zwischen den bestimmenden Sinnvorstellungen der Moderne und den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Antike sowie ihrer Traditionslinie. Den Ausgangspunkt bilden die frühesten Artikulatio­nen eines modernen Selbstverständnisses. Diese können als eine Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens interpretiert ­werden.

3.1 Die Ursprünge moderner Sinnvorstellungen und ihre heutige Relevanz 3.1.1 Die Selbstbestimmtheit des Individuums im Denken der ­Renaissance: Pico della Mirandola

Ein prinzipielles Abrücken von den Kernpositio­nen der antiken Sinnentwürfe artikuliert sich mit einer großen Klarheit bereits zu Beginn der Neuzeit. Schon im Denken der Renaissance sind diejenigen neuen Denkweisen erkennbar, die im späteren Verlauf der Geistesgeschichte die bestimmenden Haltungen des modernen Denkens markieren. Spätestens in der Renaissance zeigt sich dem Menschen eine gewisse Neuartigkeit in seiner Stellung zu sich selbst und der Welt – eine Neuartigkeit, die aus der Traditionslinie   |  151

der antiken Sinnentwürfe in einer entscheidenden Weise heraustritt, selbst wenn das Denken sehr weitgehend in den überlieferten Denkweisen verwurzelt bleibt. Im Blick auf die Anfänge wird deutlich, dass das Ringen um die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz ein zentrales Motiv für die Umwälzungen des Denkens bildet. Das in der Renaissance aufscheinende Neue wirkt als etwas Neues, Unbewältigtes und Herausforderndes bis in die heutige Zeit hinein. Einen wichtigen Einblick in eine Sicht auf den Menschen, die über das Menschenbild der meta­phy­sischen antiken Sinnentwürfe hinausgeht, bietet die um das Jahr 1486 herum verfasste Abhandlung »Über die Würde des Menschen« (oratio de hominis dignitate) von Giovanni Pico della Mirandola.300 Entscheidend ist hier, dass Pico den Menschen selbst zum Gestalter und Herrn seines Lebens bestimmt. Noch im Rahmen des christlichen Glaubens, aber in einer wesentlichen Hinsicht weit darüber hinaus, lässt Pico den christlichen Gott Folgendes zum Menschen sagen: Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.301

In dieser Sichtweise wird der Mensch nicht durch ein beständiges, feststehendes Wesen bestimmt, das in der Welt zum Vorschein kommt. Der lebendige Mensch bestimmt hier selbst, nach seinem Belieben, was in ihm und durch ihn zum Vorschein kommen soll. Die menschliche Existenz ist nunmehr weder von der Natur noch von Gott in bestimmte Bahnen gelenkt, die Welt lässt unbestimmt, was der Mensch aus seinem Leben zu machen hat – hierüber muss der Mensch nach seinem eigenen Belieben selbst entscheiden: Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen.302 152  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Die Vorstellung des Menschen als Geschöpf »ohne besondere Eigenart«303 existiert seit der Antike, 304 in der Moderne macht sie Gehlen zum Zen­trum seiner philosophischen Anthropologie305 – bei Pico bildet diese Vorstellung den Boden für die Freiheit des Menschen zur Bestimmung seiner eigenen Natur. Im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren schreibt die Natur dem Menschen den Verlauf seines Lebens nicht vor. Seine Unbestimmtheit stellt den Menschen vor die Wahl seiner Lebensweise, und das zu Wählende ist nichts Festes und Vorgefundenes; der Mensch ist vielmehr dazu bestimmt, in einem schöpferischen Akt seines Willens seine Lebensweise selbst hervorzubringen: Wir sind geboren worden unter der Bedingung, daß wir das sein sollen, was wir sein wollen.306

In dieser Sichtweise bestimmt der Mensch selbstständig und frei über die Weise seines Seins. Welchen Status hat diese Aussage? Offensichtlich handelt es sich hier nicht um eine faktische Aussage über faktische Fähigkeiten des Menschen, da der Mensch in seiner Welt in vielfältige Kausalbeziehungen eingebunden ist, aus denen er sich nicht immer befreien kann. Sicherlich ist Pico beflügelt von der Idee, dass sich der Mensch kraft seines Willens sehr weitgehend von diesen Einschränkungen der Welt loslösen kann, aber in erster Linie geht es hier um eine onto­logische Verortung des Menschen, um die Klärung, was den Menschen als Menschen ausmacht und welche Stellung der Mensch in der Welt einnimmt – oder genauer: Es geht um die Weise, wie sich der Mensch selbst in der Welt verortet sieht. Der Mensch soll zwar bei Pico der alleinige Herr über sein Leben sein und frei bestimmen, was aus ihm werden soll – das heißt aber nicht, dass das Individuum in einer Kausalbeziehung Herr über sich selbst und alles übrige Seiende in dem Sinne wäre, dass für seinen Umgang mit der Welt die Gesetzmäßigkeiten der Natur nicht gelten würden und dass er mit dem Seienden nach Belieben faktisch machen könnte, was er will. Hier geht es vielmehr um die konstitutiven Vorstellungen, mit deren Hilfe der Mensch seine Situation in der Welt artikuliert und so Weisen des Existierens und Strukturen des Handelns in der Welt etabliert. Pico entwirft eine Weltsicht, die die grundlegende Freiheit des Menschen, seine Lebensweise selbst zu bestimmen, in den Mittelpunkt rückt: Der Mensch kann in diePico della Mirandola  |  153

ser Sichtweise ein Leben nach der Art des Tierischen oder nach der Art des Göttlichen führen, und es liegt in erster Linie an seiner freien Entscheidung, welche prinzipielle Richtung sein Leben einschlägt. Und auch wenn der Mensch als körperliches Wesen kausal in die Welt eingebunden bleibt, kann er sich nach Pico durch seine Geistigkeit davon loslösen. Durch eine am Göttlichen ausgerichtete Lebensweise kann er die Macht des Irdischen brechen, das Tierische abstreifen und in sich eine himmlische Vollkommenheit zur Entfaltung bringen. In einer selbstbestimmten Weise entscheidet der Mensch frei, ob er die Bewegungsrichtung seines Lebens nach oben oder nach unten einschlägt und wie er sie konkret inhaltlich ausgestaltet. Die Weltsicht des Menschen hat direkte Auswirkungen auf seine Lebensweise: Ein Mensch, der sich in dieser Weise als Herr seiner selbst und der Welt versteht, lebt und handelt anders als ein Mensch, der sich demütig als Geschöpf Gottes oder als Spielball der Naturgewalten sieht, und jeweils unterschiedlich erscheint dem Menschen das ihm begegnende innerweltlich Seiende. Für den Sinnentwurf Picos gilt, dass über den Charakter des Seienden, also über die Weise, wie der Mensch sein eigenes Sein wie auch das Sein des übrigen Seienden erfährt, in erster Linie die Vorstellung der Selbstbestimmung entscheidet. In diesem Sinne kann man bei Pico von einer Ontologie der Selbstbestimmtheit sprechen.307 Interessant ist bei Pico insbesondere, wie sich neue und überlieferte Vorstellungen miteinander verbinden. Pico bewegt sich nicht nur rhetorisch im Rahmen des christlichen Denkens, wenn er die Wesensbestimmung des Menschen als das Wort Gottes, zu Adam gerichtet, entwickelt, er befindet sich auch strukturell im Einklang mit der christlichen Überlieferung, wenn er den Menschen in einer besonderen Beziehung zu Gott stehen sieht. Die Gottbezogenheit des menschlichen Lebens bildet bei Pico einen Sinnrahmen, der tief in überlieferten Denkweisen verwurzelt ist. Im Falle Picos umfasst diese Überlieferung insbesondere die antike Philosophie und die christliche Religion, sie erstreckt sich aber auch auf das Judentum und den Islam.308 Die Eigenmächtigkeit des Menschen ist bei ihm nicht gegen das Göttliche gerichtet, sondern gerade das, was den Menschen mit dem Göttlichen verbindet. Das Neue ist hierbei die Vorstellung, dass die Lebensweise des Menschen vollständig ein Produkt seines kreativen Willens ist und auch sein soll. Dies 154  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

hätte das antike oder mittelalterliche Denken kaum so deutlich affirmativ verteidigen können. Pico selbst ist in eine Auseinandersetzung mit der Kirche hineingeraten, was dazu geführt hat, dass sein späteres Denken, im Gegensatz zur oratio de hominis dignitate, die er als Vierundzwanzigjähriger verfasste, eine viel stärkere Hinwendung zu traditionellen christlichen Positionierungen aufweist.309 Das, was den jungen Pico von den überlieferten Kernpositio­nen des Christentums trennt, ist der Stellenwert des individuellen menschlichen Selbst: Im christlichen Denken insbesondere des Mittelalters gilt das Selbst als etwas, das überwunden werden muss und deswegen keinesfalls bestärkt werden sollte. Nicht so bei Pico – hier bildet das individuelle menschliche Selbst das sinngebende Fundament, aus dem alles Werthaltige hervorgeht und in dem auch das Gute als solches verankert ist. Die vollständige Überantwortung des menschlichen Lebens in die Verfügung des Menschen ist das Neue, das bei Pico aber noch in einen traditionellen religiösen Sinnrahmen eingebettet ist. Durch einen Blick auf Picos Denken kann der Kontrast zwischen den spezifisch neuen Positionierungen und den übernommenen Grundvorstellungen der antiken meta­phy­sischen Traditionslinie genauer herausgearbeitet werden. Aus den tradierten Sinnentwürfen übernimmt Pico die Kernvorstellung des Göttlichen: Pico verortet den Menschen in einer von Gott geschaffenen Welt und schreibt ihm darin eine privilegierte Stellung zu. Die Position des Menschen befindet sich in der Mitte zwischen dem Göttlichen und dem Tierischen. Die menschliche Freiheit zur Bestimmung der eigenen Lebensweise ist bei Pico eine Freiheit zum Vollzug einer vertikalen Bewegung. Pico unterscheidet das Pflanzliche, das durch die Abwesenheit von Verstand und Gefühl gekennzeichnet ist, und das Tierische, das er als vernunftloses Befolgen des Instinktes bestimmt, vom Göttlichen als dem Vermögen, eine vernunftmäßige Ordnung herauszubilden. Diese drei Sphären bilden bei ihm eine hierarchische Ordnung, wobei das Göttliche an der Spitze steht. Der Mensch gehört von Natur aus keiner dieser Sphären direkt an: Erst durch die freie Wahl seiner Lebensweise kommt eine Zugehörigkeit zu einem Bereich zustande. Picos Weltbild steht in der Tradition der mittelalterlichen Auffassung einer auf das Göttliche hin ausgerichteten, klar hierarchisierten Weltordnung. Der Mensch befindet sich bei Pico in der Pico della Mirandola  |  155

Mitte der hierarchisch strukturierten Welt, er kann sowohl eine Bewegung nach unten als auch nach oben vollziehen: Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.310

Diese beiden Pole des menschlichen Strebens stehen dem Menschen aber nicht wertfrei gegenüber, sie sind so gefasst, dass sie eine klare Aufforderung beinhalten, die Bewegung nach oben, zum Göttlichen zu vollziehen: Vielmehr soll jener Ausspruch des Propheten Asaph für uns gelten: »Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle«, damit wir nicht das gütigste Geschenk des Vaters, den freien Willen, den er uns verliehen hat, mißbrauchen und ihn gebrauchen statt zu unserem Heil, zu unserem Schaden. Geradezu heiliger Ehrgeiz soll uns befallen, daß wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmaß, nach dem Höchsten lechzen und, um es zu erreichen (was wir ja können, wenn wir wollen), mit allen Kräften uns bemühen. […] Wenn auch wir so leben (denn das können wir), haben wir ihren Rang schon erreicht. Es glüht der Seraph vom Feuer der Liebe; es strahlt der Cherub im Glanz des Geistes; es fußt der Thron auf der Festigkeit des Urteils.311

Die Aufforderung zum Streben nach dem Göttlichen begründet bei Pico den Sinn der menschlichen Existenz: Sie bestimmt die Stellung des Menschen in der Welt und die Richtung desjenigen menschlichen Strebens, das auf die höchste menschenmögliche Glückseligkeit gerichtet ist. Aus der Fähigkeit des Menschen zum Göttlichen ergibt sich seine privilegierte Position in der Welt. Die herausgehobene Stellung des Menschen verleiht der menschlichen Existenz Bedeutsamkeit, Ziel und Gewicht. Die konkreten inhaltlichen Bestimmungen des Göttlichen entnimmt Pico vollständig aus den überlieferten Sinnentwürfen. Das strukturierende Element der Welt, die Grundlage allen Seins – das Göttliche – ist bei ihm zugleich das, was das höchste Ziel menschlicher Möglichkeiten begründet. Genau in diesem Sinne greift Pico auf alte Sinnvorstellungen zurück: Die in der hierarchisch strukturierten Welt verankerte Vorstellung eines zum Göttlichen strebenden Lebens ist eine Sinnvorstellung, die vollständig innerhalb der Traditionslinie der großen antiken Sinnentwürfe zu verorten ist. 156  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Der Mensch steht bei Pico unter einer Vertikalspannung, die aus den Fundamenten seiner Weltlichkeit entspringt.312 Der Mensch sieht sich in eine göttliche Ordnung eingebettet – er steht als gottähnliches Geschöpf einem Gott gegenüber und kann durch eine freie Existenzwahl eine Aufwärtsbewegung zum Göttlichen vollziehen. Dies bewahrt ihn vor dem sonst unweigerlich eintretenden Abrutschen ins bloß Tierische. Durch die Vorstellung göttlicher Transzendenz sind die Konzepte des gelingenden und scheiternden Lebens in das Weltbild eingebettet, im Gesamtbild ergibt sich eine rational hinreichend klar erfassbare Einheit. In diesem Sinne kann man bei Pico von einem Sinnrahmen sprechen, der aufgrund seiner jenseitsorientierten Form und seiner inhaltlichen Ausformulierung ein traditionell christlicher ist. In diesen Sinnrahmen ist bei Pico ein neues Menschenbild eingebettet: die Vorstellung, dass die Lebensweise des Menschen seine freie Schöpfung zu sein hat. Die radikalisierte Vorstellung menschlicher Selbstbestimmtheit ist das Neue, das bei Pico paradigmatisch zum Vorschein kommt und bewusst, explizit und programmatisch als ein Sinnentwurf formuliert wird. Als christliches, transzendenzorientiertes Weltbild beruht dieser Sinnentwurf zwar noch in zentralen Teilen auf dem Alten, beinhaltet jedoch mit der unbeschränkten Selbstbestimmung etwas grundlegend Neues. Im Gesamtbild ergibt sich eine – auf den ersten Blick nicht unharmonische – Einheit zwischen dem Alten und dem Neuen, die der Philosoph Volker Gerhardt wie folgt beschreibt: [Der Mensch] hat keinen vorgegebenen Bestand an körperlichen Fähigkeiten, kein vorbestimmtes Verhaltensrepertoire. Er hat auch keinen durch die Naturordnung vorgeschriebenen Platz. Und weil ihm alle diese natürlichen Bestimmungen fehlen, kommt der Mensch gleichsam kompensatorisch in den Mittelpunkt der Welt – also an den angestammten Platz Gottes! Und in dieser Position hat er die gött­ liche Vollmacht, sich selbst vollkommen frei überlassen zu sein. Gottes Gesetzgebung läßt ihm einen freien Raum, den er – das ist die naheliegende Konsequenz – nur durch eigene Gesetzgebung ausfüllen kann. Die Selbstbestimmung durch Selbstgesetzgebung folgt hier aus dem göttlichen Gebot.313

Der strukturellen Gottbezogenheit des Menschen steht eine wesenhafte Unabhängigkeit vom Göttlichen gegenüber: Im Sinnentwurf Pico della Mirandola  |  157

Picos spielt die Belastung des Menschen durch die Erbsünde und damit auch die Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes keine zentrale Rolle, beherrschend ist stattdessen die Vorstellung der »Selbsterlösung des Menschen, begründet auf dem humanistischen Vertrauen in die Perfektibilität der menschlichen Natur aus eigener Kraft«.314 Indem in Picos Sinnentwurf die menschliche Eigenmächtigkeit das Fundament bildet und das Glück des Menschen von seiner eigenen schöpferischen Kraft abhängt, geht Pico über seine Verwurzelung im überlieferten Christentum hinaus. Dieses Neue, die Vorstellung, dass der Mensch frei über sein Sein bestimmen kann und zu bestimmen hat, übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus und beflügelt den jungen Pico zu einer überschwänglichen Apologie des Menschen: Schließlich glaubte ich erkannt zu haben, warum der Mensch das glücklichste und demgemäß das Lebewesen ist, das jegliche Bewunderung verdient, und worin schließlich jene Stellung besteht, die er in der Ordnung des Universums erhalten hat, um die ihn nicht allein die Tiere, sondern auch die Gestirne und auch die überweltlichen Geister beneiden? Die Sache übersteigt den Glauben und scheint wunderbar. […] Welch übergroße Freigebigkeit des Vatergottes, welch übergroßes und bewundernswertes Glück des Menschen, dem gegeben ist zu haben, was er wünscht, und zu sein, was er zu sein verlangt. […] Dem Menschen hat bei der Geburt der Vater Samen jedweder Art und Keime zu jeder Form von Leben mitgegeben […] Wer wollte dieses unser Chamäleon nicht bewundern? Oder wer sollte überhaupt etwas anderes mehr bewundern?315

Pico ist überwältigt vom Staunen über die wundersame onto­ logische Verfasstheit der menschlichen Situation, die eine berückende Faszination bei ihm auslöst. Die Vorstellung menschlicher Selbstbestimmtheit, die Pico derart euphorisiert, ist für die heutige Zeit deswegen von hoher Relevanz, weil das, was bei Pico als Neues aufscheint – die unbeschränkte Selbstbestimmung des Menschen –, in der Moderne das Kernfundament der Selbstauffassung des Menschen bildet. Volker Gerhardt spricht treffend von einer geistesgeschichtlichen Entwicklung, in deren Verlauf die Vorstellung der menschlichen Selbstbestimmung den Charakter einer Selbstverständlichkeit annimmt: 158  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Es wäre ein Leichtes, an Machiavelli, Montaigne, Hobbes, Spinoza, Leibniz oder Rousseau (um wirklich nur die exemplarischen Denker zu nennen) darzutun, wie dieses Selbstverständnis des sich selbst bestimmenden Menschen zur modernen Selbstverständlichkeit wird.316

Um die Grundlagen von heutigen Sichtweisen auf den Menschen angemessen beurteilen zu können, ist es wichtig, die Entstehungsmomente dieser Grundlagen zu beleuchten. Es ist wichtig, bei dem Erscheinen des Neuen die Verflechtung mit dem Alten und die Gründe für die Herausentwicklung aus dem Alten zu verstehen. Hierbei ist das Neue, das in der Renaissance und der aufkommenden Neuzeit zum Vorschein kommt, nicht ganz einfach vom Alten abzugrenzen, zumal es sich graduell und allmählich aus ihm he­ rausentwickelt und noch als Neues im Alten tief verwurzelt ist – wie die Beschäftigung mit Pico zeigt. Mag die Beschreibung und zeitliche Lokalisierung des spezifisch Neuen diffizil sein, so ist dabei doch klar, dass es im Kern etwas mit dem aufkommenden Selbstverständnis des Menschen zu tun hat. Ernst Cassirer hat sich in der Schrift »Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance«317 eingehend mit der Frage beschäftigt, worin das Neue im Denken der Renaissance besteht. Seine sehr lebendige und intellektuell kreative Interpretation der Renaissancephilosophie erhellt, wie die Fundamente des heutigen Denkens in der frühen Neuzeit aus der religiös geprägten Überlieferung des mittelalterlichen Christentums und der antiken Philosophie hervorgehen. Wie schon Jakob Burkhardt, der kulturhistorisch den Begriff der »Renaissance« entscheidend prägte, 318 erkennt Cassirer die herausgehobene Stellung von Picos Rede über die Würde des Menschen an und schreibt ihm ein »spezifisch modernes gedankliches Pathos« zu:319 Wenn Pico in seiner Meta­phy­sik, in seiner Theologie, in seiner Naturphilosophie noch durch unzerreißbare Bande mit der Vergangenheit verknüpft ist, so ist er in der Ethik zu einem der ersten Verkünder und Bahnbrecher des echten Renaissancegeistes geworden.320

Das Neue bei Pico bestimmt Cassirer als eine andersartige Stellung des Menschen zur Welt: Die Lebensweise des Menschen wird nicht mehr durch die Welt – das Diesseits und das Jenseits – bestimmt, Pico della Mirandola  |  159

sondern frei durch den Menschen gesetzt. Auch wenn das Gött­ liche den Orientierungspunkt des menschlichen Strebens bildet, so ist doch der Mensch selbst der eigentliche Herr über sein Leben, und bestimmend ist seine Schaffenskraft. Nicht das Sein bestimmt den Menschen, sondern der Mensch bestimmt über das Sein: Nicht das Sein schreibt hier der Art der Gestaltung eine ein für allemal feststehende Richtung vor – sondern die ursprüngliche Richtung der Gestaltung bestimmt und setzt erst das Sein. Das Sein des Menschen folgt aus seinem Tun: Und dieses Tun geht nicht lediglich in der Energie des Willens auf, sondern umfaßt die Gesamtheit seiner bildenden Kräfte.321

Und noch ein anderer, sehr moderner Gedanke findet sich nach Cassirer bei Pico: Zwar hat bei Pico der Kosmos, ganz im Geiste der mittelalterlichen Tradition, eine klar hierarchische Gliederung, im Groben bestehend aus dem Göttlichen, dem Menschlichen und dem bloß Weltlichen. Das menschliche Streben zum Göttlichen ist jedoch kein abschließendes Erklimmen von diskreten Hierarchieebenen, sondern eine Bewegung ins Unendliche, die prinzipiell nie vollendet werden, nie zum Abschluss gelangen kann. Hierbei liegt das Augenmerk nicht auf der prinzipiellen Beschränktheit des Menschen durch die Einflüsse der Welt und nicht auf der einschränkenden Eingebundenheit des Menschen in die Unbeständigkeit des Diesseits, sondern auf der prinzipiellen Unabgeschlos­ senheit des menschlichen Wollens und Strebens. Hiermit geht Pico über seine Verhaftung in der mittelalterlichen Tradition hinaus: Denn jetzt zeigt sich, daß weder die Kategorie der Schöpfung noch die der Emanation hinreicht, um das Verhältnis zu bezeichnen, das zwischen Gott und dem Menschen wie zwischen dem Menschen und der Welt besteht. Die Schöpfung im gewöhnlichen Sinne kann nicht anders verstanden werden, als daß durch sie dem Geschaffenen nicht nur ein bestimmt abgegrenztes Sein mitgeteilt, sondern daß ihm zugleich ein bestimmter Umkreis des Wollens und Vollbringens vorgeschrieben wird. Der Mensch durchbricht jede derartige Schranke: Sein Wirken wird ihm nicht durch seine neue Wirklichkeit schlechthin diktiert, sondern schließt immer neue, über jeden endlichen Kreis prinzipiell hinausgehende Möglichkeiten in sich. Dies ist das Geheimnis seiner Natur, um das ihn nicht nur die niedere Welt, sondern auch die Welt der Intelligenzen beneidet.322 160  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Picos Sicht auf die Welt ist wesenhaft durch sein Menschenbild bestimmt. Cassirer weist darauf hin, dass beispielsweise Picos Ablehnung der Astrologie im Kern auch eine ethische Positionierung ist.323 Dies bedeutet, dass bei Pico die Vorstellungen über den Menschen die Auffassungen über die gesamte Wirklichkeit entscheidend mitprägen. Nicht die Erkenntnis über die Welt, sondern das Selbstverständnis des Menschen gibt den Ausschlag für die Einstellung gegenüber der Welt. So ist für Pico der Kerngedanke der Astrologie – die Vorstellung, dass himmlische Entitäten, seien sie materieller oder geistiger Art, das menschliche Leben beherrschen – unannehmbar, weil er impliziert, dass der Mensch einer »Bestimmung unterworfen wird, die er nicht selbst gesetzt hat«.324 Hier entfernt sich Pico von den Einflüssen der antiken meta­phy­ sischen Sinnentwürfe, in denen die Beschaffenheit der Welt den Weg zur gelingenden Existenz vorzeichnet. Derartige Positio­nen weist Pico als Fremdbestimmtheit zurück. Das Entscheidende bei Pico ist der Freiheitsbegriff, den er in seiner Rede über die Würde des Menschen entwickelt, wie Cassirer treffend bemerkt: Das eben bezeichnete den Vorrang, den der Mensch nicht nur vor den übrigen Naturwesen, sondern den er selbst im »Reich der Geister«, im Reich der Intelligenzen behauptet, daß er sein Wesen nicht von Anfang an fertig empfängt, sondern daß er es kraft freier Entscheidung gestaltet. Diese Gestaltung widerspricht jeder Determination von außen – mag diese selbst nun als »stofflich« oder als »geistig«, als materiell oder spirituell angesehen werden. Der Glaube an die reine Schöpferkraft des Menschen und an die Autonomie dieser Schöpferkraft: dieser echt humanistische Glaube ist es daher, der bei Pico die Astrologie besiegt.325

Picos Menschenbild lehnt jede von außen kommende Fremdbestimmung ab. Die antike Scheu vor allem, was der Mensch nicht selbst in der Hand hat, 326 radikalisiert sich bei Pico derart, dass selbst die Abhängigkeit des Menschen von einer göttlichen Geordnetheit des Kosmos zurückgewiesen wird. War in der Antike noch die göttliche Ordnung der Welt die Quelle menschlicher Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit, übernimmt diese Rolle in der Neuzeit der Mensch selbst, insofern er nach einer in jeder Hinsicht uneingeschränkten Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen trachtet. In diesem Sinne ist es nunmehr der Mensch selbst, der zum Pico della Mirandola  |  161

Fundament von Sinnhaftigkeit erhoben wird. Für den jungen Pico della Mirandola ist der Mensch vorbehaltlos Herr über sein Leben, und als ein solcher strebt er nach dem Göttlichen. Pico bricht keineswegs mit der christlichen Religion, vielmehr erweitert er sie um die Vorstellung einer radikalisierten Selbstbestimmtheit. Das Neue geht bei Pico mit dem Alten eine strukturelle Verbindung ein, beides ist aber relativ deutlich unterscheidbar und deswegen ist Pico ein gutes Beispiel, um den Kontrast zwischen dem Neuen und dem Alten zu verdeutlichen. Pico ist aber nicht der erste Denker, bei dem sich dieses Neue manifestiert. Das neuzeitlich Neue erwächst graduell aus dem mittelalterlich Alten und taucht bereits vor Pico auf, wenn auch nicht in der gleichen Klarheit. Bereits das Denken des Nikolaus von Kues (1401 – 1464), latinisiert Nicolaus Cusanus, enthält Momente, die über das mittelalterliche Denken hinausgehen und auf spätere Phasen der Geistesgeschichte und auch auf unsere Zeit hindeuten. Das Neue steht bei Cusanus aber nicht so unmittelbar und deutlich da wie bei Pico, sondern ist noch um einiges stärker in den mittelalterlichen Ursprüngen verwurzelt. Ernst Cassirer beschreibt in seiner Interpretation des Nikolaus von Kues das allmähliche Auftauchen des Neuen aus dem Denken des Mittelalters in einer anschau­ lichen Weise.327 Eine eingehende Behandlung der Cassirer’schen Interpretation ist an dieser Stelle erhellender als eine Analyse der Primärtexte von Cusanus, weil bei Cusanus das Neue noch nicht hinreichend explizit formuliert, aber dennoch angelegt ist und sich als konsequente Weiterentwicklung des Alten in einem neuen Geist zeigt. Da Cassirer diese Gespanntheit zwischen neuen und alten Elementen sehr überzeugend herausgearbeitet hat, stützen sich die folgenden Überlegungen zu einem großen Teil auf seine Analyse.328 Nach Cassirer ist Nikolaus von Kues ein einflussreicher Wegbereiter der Renaissance, weil er früh maßgebliche philosophische Positio­nen artikuliert, die wichtige spätere Renaissancedenker beeinflussen.329 Maßgeblich sind diese Positio­nen insbesondere deswegen, weil das, was in der frühen Neuzeit das Neue gegenüber dem Mittelalter darstellt und später zum bestimmenden Fundament der Moderne wird, in seiner Entstehung ganz bewusst als Sinnvorstellung formuliert ist und seine primäre Bedeutung daher bezieht, dass es den Sinn menschlicher Existenz artikuliert. 162  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Cassirers Cusanusinterpretation verdeutlicht, wie sich die heute bestimmende Sichtweise auf den Menschen schrittweise aus dem mittelalterlichen religiösen Menschenbild herausgeschält hat. Die moderne Individualität bildet sich in der Renaissance he­ raus, sie ist dort aber, im Unterschied zu heute, strukturell mit dem christlichen Glauben verknüpft. So bildet für Cusanus die menschliche Individualität den Ausgangspunkt und das Fundament für den Aufschwung des Menschen zum Göttlichen. Auf die Frage, wie der Mensch zu Gott gelangen kann, lässt Cusanus Gott wie folgt antworten: »Sei du dein und ich werde dein sein.« In der Reaktion des Menschen hierauf beschreibt Cusanus die Situation des Menschen mit folgenden Worten: O Herr, Du Wonne aller Süßigkeit, Du hast es in meine Freiheit gelegt, daß ich mein sein kann, wenn ich es nur will. […] Und weil Du das in meine freie Entscheidung gelegt hast, zwingst Du mich nicht, sondern erwartest, daß ich mein eigenes Sein erwähle. Es steht also bei mir und nicht bei dir, Herr, der Du Deine übergroße Güte nicht einschränkst, sondern reichlich ausgießt in alle, die sie aufnehmen können.330

In diesem Zitat ist das Entscheidende bereits angelegt: In einer freien Entscheidung hat der Mensch sein eigenes Sein zu erwählen, die Freiheit hierzu ist ihm von Gott verliehen. Der Ausgangspunkt der menschlichen Bewegung hin zum Göttlichen liegt für Cusanus in der Seele selbst. Nach Cassirer ist die ganze Philosophie des Cusanus von einer Grundstimmung beherrscht, die dem paulinisch-augustinischen Dogma der Gnadenwahl die Kraft der menschlichen Individualität entgegenstellt.331 Die ­Individualität ist hier nicht etwas Zufälliges und Akzidentelles, sondern ein Kernmerkmal des menschlichen Geistes, der mit dem Körper eine Einheit bildet. Durch die Verbundenheit des Seelischen mit dem Körper­lichen kommt die wesenhafte Individualität und Einzig­ artigkeit des menschlichen Intellektes und damit auch des Denkens zustande. Das Geistige bedarf des Körperlichen zur Entfaltung und ist für sich genommen bereits der Ausdruck der körperlichen Mannigfaltigkeit des einzigartigen menschlichen Individuums.332 Die Gegenposition hierzu wäre die Auffassung, dass der Mensch durch Erlangung von Wissen über das Individuelle hinausgeht und dass das Geistige eine überindividuelle Kraft ist, die von außen an Pico della Mirandola  |  163

den Menschen herantritt – eine Position, die über den mittelalterlichen Averroismus und den Neuplatonismus auf Aristoteles zurückgeht.333 Bei Cusanus ist aber der menschliche Geist als solches etwas Individuelles und bildet mit dem Körper eine strukturelle Einheit. Das Individuum bildet bei Cusanus keinen »Gegensatz zum Allgemeinen, sondern vielmehr erst dessen wahrhafte Erfüllung«, wie Cassirer bemerkt.334 In dieser emphatisch hervorgehobenen Individualität liegt das Bindeglied des Menschen zum Göttlichen: Jedes geistige Sein ist in sich zentriert: Aber gerade in dieser Zentrie­ rung, in dieser seiner unaufheblichen Individualität hat es einen Anteil am Göttlichen. Die Individualität bildet keine bloße Schranke, sondern sie stellt einen eigentümlichen Wert dar, der nicht nivelliert und nicht ausgelöscht werden darf, weil nur durch ihn das Eine, das »jenseits des Seins« ist, für uns erfaßbar wird. Dieser Gedanke vermag nach Cusanus allein die Theodizee der religiösen Formen und Gebräu­ che zu leisten; denn kraft seiner erscheint die Vielheit, der Unterschied und die Heterogenität dieser Formen nicht mehr als Widerspruch zur Einheit und Allgemeinheit der Religion, sondern als notwendiger Ausdruck ebendieser Allgemeinheit selbst.335

Individualität ist bei Nikolaus von Kues zwar noch kein Selbstzweck, aber dennoch ein zentraler Wert, weil alleine sie dem Menschen den Zugang zum Göttlichen eröffnet. Die heute so bestimmende Vorstellung menschlicher Individualität ist bereits in den frühesten Anfängen neuzeitlichen Denkens präsent. Der Aufschwung zum Göttlichen durch das Individuum erfordert für Cusanus ein Wissen des Göttlichen. Nach Cassirer ist Cusanus deswegen der erste moderne Denker, weil er »nicht sowohl nach Gott, als nach der Möglichkeit des Wissens von Gott fragt«.336 Die Erkenntnis des Göttlichen ist für Cusanus eine Bedingung für das Lieben des Göttlichen, denn »niemand vermag zu lieben, was er nicht zuvor in irgendeinem Sinne erkannt hätte«.337 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass für Cusanus überhaupt das zentrale Motiv hinter dem Streben nach Wissen die Erkenntnis Gottes ist – eine alles andere als moderne Vorstellung, die aber dennoch den Keim für den modernen Forscherdrang in sich trägt. In der Natur spiegelt sich Gott, und durch ein forschendes Erkennen der Natur durch die menschliche Vernunft eröffnet sich dem Menschen ein Zugang zum Göttlichen. Die Natur ist ein geordneter 164  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Zusammenhang, dessen Sinn nicht nur mystisch gefühlt, sondern denkend und erkennend erforscht werden kann. Eine geordnet zusammenhängende Natur erfordert eine Auslegung durch die Vernunft in Form einer systematischen Interpretation. Das Göttliche ist aber im Sichtbaren nicht unmittelbar, sondern nur in Symbolen zugänglich. Deswegen muss der Mensch nach Cusanus danach streben, zumindest aus dem Symbol die Elemente der Ungewissheit zu eliminieren. Das Mittel hierzu ist für Cusanus die Mathematik, weil diese allein die unsichere und schwankende Meinung in etwas Beständiges und Gesichertes verwandeln kann. Die Aufmerksamkeit des Menschen hat sich den Zahlen hinter den Erscheinungen und der mathematischen Struktur der Wirklichkeit zuzuwenden. Das hat nach Cassirer bemerkenswerte Konsequenzen: So ergibt sich jetzt das merkwürdige, in der Geschichte der Philosophie einzigartige Schauspiel, daß die Exaktheit der Mathematik nicht um ihrer selbst willen noch zur Begründung der Naturerkenntnis, sondern zur Begründung und Vertiefung der Gotteserkenntnis gesucht wird.338

Das Streben nach Wissen, nach dem mathematisch erfassbaren Gesicherten, ist als Forscherdrang ein Teil des menschlichen Strebens nach dem Höheren. Dieses Streben ist etwas prinzipiell Unabschließbares. Nach Cusanus liegt die Vollkommenheit des menschlichen Geistes darin, dass es bei keiner vollbrachten Aufgabe, bei keinem erreichten Ziel einen Abschluss findet, sondern beständig nach dem darüber Hinausgehenden strebt. Die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Menschen ist bei Cusanus ein Zeichen für seine Göttlichkeit, doch nach Cassirer zeigt sich darin bereits ein Wesenszug der Moderne: An dieser Stelle hat vielleicht die Faustische Grundstimmung der Renaissance ihren klarsten philosophischen Ausdruck und ihre tiefste philosophische Rechtfertigung erhalten. Der Drang ins Unendliche, das Nichtverharrenkönnen bei irgendeinem Gegebenen und Erreichten, ist keine Schuld, keine Hybris des Geistes, sondern er ist das Siegel seiner göttlichen Bestimmung und seiner Unzerstörbarkeit.339

So bilden die christlichen Sinnvorstellungen des Cusanus mit seinem entgrenzten Tätigsein als Forscher eine zusammenhängende Einheit. Cusanus’ Forscherdrang geht aus seinem Glauben hervor Pico della Mirandola  |  165

und stellt keinen isolierten Selbstzweck dar, sondern ist eine innere Konsequenz aus seinen Sinnvorstellungen, die in seiner christlichen Religiosität verwurzelt sind. Von diesem Ausgangspunkt gelangt Cusanus zu Positio­nen, die recht modern anmuten, die aber zumindest der Intention nach nur seinen Glauben artikulieren. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie in der frühen Neuzeit das Neue aus dem Boden der überlieferten Sinnentwürfe erwächst und wie stark es in den Anfängen noch mit dem Alten verbunden ist. Dies zeigt sich auch daran, dass Cusanus die Überzeugung vertritt, dass der Kosmos keine privilegierten Orte aufweist, da alles vom Göttlichen unendlich weit weg ist und dass damit der Mensch in einer unmittelbaren, nicht mehr räumlich-hierarchischen Beziehung zu Gott steht. Kosmologische Positio­nen gehen bei Cusanus mit religiösen Auffassungen einher und bilden eine Einheit: Die Erde ist bewegt und hat kein örtlich bestimmbares Zen­trum, vielmehr ist Gott »das Zen­trum der Erde und aller himmlischen Sphären, wie überhaupt all dessen, was es in der Welt gibt«.340 Diese damals neuartigen Positionierungen gehen mit einer neuen Grundstimmung einher. Im Gesamtblick ergibt sich nach Cassirer ein Zusammenhang aus einer neuen Kosmologie und einer neuen religiösen Gestimmtheit: Diese Grundeinsicht aber schließt nun für Cusanus zugleich einen natürlichen wie einen geistigen, zugleich einen physischen und einen »spirituellen« Sinn in sich. Wenn die neue Form der Kosmologie uns darüber belehrt, daß es in der Ordnung des Kosmos kein absolutes Oben oder Unten gibt, daß kein Körper dem göttlichen Urquell des Seins ferner oder näher steht, sondern daß jeder »unmittelbar zu Gott« ist – so entspricht diesem Gedanken jetzt eine neue Form der Reli­ gion und der religiösen Gesamtstimmung. […] Wie das Weltall sich in eine unendliche Mannigfaltigkeit unendlich verschiedenartiger Bewegungen auflöst, deren jede um ihren eigenen Mittelpunkt kreist und die doch alle durch die Beziehung auf eine gemeinsame Ursache und durch den Anteil an ein und derselben universalen Gesetzlichkeit zusammengehalten werden, so gilt das gleiche auch vom geistigen Sein.341

Für Cusanus ist die Tatsache, dass der Mensch ein Teil der Welt ist, nichts Negatives, da der Mensch auch und nur als ein Teil der Welt zum Göttlichen aufsteigen kann: Der Mensch wird mit der 166  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

irdischen Welt zusammengebunden. Diesen Gedanken greifen Renaissancepersönlichkeiten wie Marcilio Ficino und Leonardo da Vinci auf und führen ihn weiter: Ein Aufschwung des Menschen zum Göttlichen kann bei ihnen nur in Verbindung mit einem Aufschwung der Welt einhergehen. Dank seiner Geistigkeit kann sich der Mensch als weltliches Wesen zum Göttlichen erheben – aber auch die Natur selbst ist vom Geist Gottes durchzogen. Dies offenbart sich in ihrer Schönheit: Die Schönheit ist das Bindeglied der Natur zum Göttlichen, sie erscheint als etwas, das der mensch­ lichen Vernunft, und sei sie noch so ungebildet, zugänglich ist. Die Schönheit erscheint nach Cassirer als etwas Objektives: Die Schönheit des Universums ist es, die den Hinweis auf seinen göttlichen Ursprung und die letzte und höchste Beglaubigung für seinen geistigen Wert in sich schließt. Sie erscheint als ein durchaus Objektives: als Maß und Form, als Verhältnis und Harmonie an den Dingen selbst – aber ebendies Objektive erfaßt der Geist als sich selbst angehörig, als aus seinem Wesen hervorgegangen.342

Wenn nun sowohl im Menschen als auch in der Welt – und gerade auch in der Unbeständigkeit des Werdens – der göttliche Geist präsent ist, erfolgt der Aufschwung des Menschen nicht durch eine Abwertung und Zurückweisung des Weltlichen, sondern in Verbundenheit mit der Welt: Indem der Mensch seiner eigenen Göttlichkeit bewußt wird, indem er das Mißtrauen gegen seine Natur überwindet, schwindet damit auch das Mißtrauen gegen die Welt. In seiner Menschwerdung hat Gott erklärt und bewirkt, daß es in der Welt nichts Formloses, nichts schlechthin Verächtliches mehr gibt. Er vermochte den Menschen nicht zu sich erheben, ohne in ihm auch die Welt zu adeln.343

Das Entscheidende ist hier das Wirken des Geistigen sowohl im Menschen als auch in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit als Brücke zum Göttlichen. So sagt Cassirer über Leonardo: Wenn Leonardo sich der Erfahrung zuwendet, so geschieht es, um in ihr selbst die ewige und unwandelbare Gesetzlichkeit der Vernunft aufzuweisen. Den eigentlichen Gegenstand bildet auch für ihn nicht sowohl die Erfahrung selbst als die Vernunftgründe, die »ragioni«, die in ihr verborgen und gewissermaßen verkörpert sind.344 Pico della Mirandola  |  167

Mit diesen Auffassungen ist der Mensch im Zeitalter der Renaissance nahe an der antiken Philosophie: In der Unbeständigkeit des Werdens manifestiert sich das Geistige mit vernünftigem und göttlichem Charakter. Im Unterschied zur Antike rückt in der Renaissance die Abwertung der irdischen Unbeständigkeit jedoch in den Hintergrund: Das Diesseits wird nicht mehr als Region der defi­ zienten Unvollkommenheit betrachtet, in der das Vollkommene hier und dort durchscheint. Das Werden selbst, die Veränderlichkeit und Unbeständigkeit des Diesseits nimmt nun den Charakter des Göttlichen an, und dieses Göttliche ist nur als Verbindung des Geistigen mit dem Körperlichen von Bedeutung. Der Mensch richtet sein Augenmerk auf das Geistige in der Materie und nicht so sehr auf die Geistigkeit jenseits der Materie. Auf diese Weise wird das diesseitige Werden als etwas wesenhaft Göttliches begriffen, Mensch und Welt werden gemeinsam aufgewertet. So bildet sich in der Renaissance die Auffassung heraus, dass Mensch und Natur aus der gleichen Substanz bestehen, dass sie onto­logisch auf derselben Ebene liegen. Der Mensch ist nicht mehr eine Zwischenstufe der Hierarchie zwischen dem bloß Weltlichen und dem Göttlichen wie im Mittelalter, sondern vollständig von der gleichen Seinsart wie die Welt. Diese Auffassung hat bis heute ungebrochen ihre Relevanz behalten. Aber in dieser Verknüpfung liegt nicht nur die Möglichkeit, Mensch und Welt durch eine Bezugnahme auf ihre göttliche Geistigkeit aufzuwerten, in ihr liegt auch die Möglichkeit, beide durch eine Fokussierung auf ihre Materialität als Sinnloses abzuwerten. Wenn Mensch und Natur onto­logisch zusammengebunden werden, dann vollziehen sie zwar bei einer Aufwertung die Aufwärtsbewegung zusammen – bei einer Abwertung sind sie aber ebenfalls aneinandergefügt und verbunden im Absturz. Cassirer formuliert diese Gefahr wie folgt: Je tiefer der Mensch seine eigene Natur erfaßt, je mehr er sich in der reinen Geistigkeit seines Ursprungs begreift, um so höheren Wert muß er demnach der Welt verleihen – wie andererseits die Erschütterung seines Glaubens an sich selber ihn wie den gesamten Kosmos wieder ins Nichts, in die Sphäre der Sterblichkeit, zurückstoßen würde.345

Die Intention der Renaissance war eine gleichzeitige Aufwertung der Welt und des Menschen. Doch es dauerte es nicht lange, bis 168  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Gegenkräfte aufkamen, die sich dem Aufschwung des Menschen und der Natur zum Göttlichen entgegenrichteten. Dies begann nach Cassirer schon bei Cusanus selbst und verschärfte sich später bei Ficino und Pico della Mirandola: Aber der religiöse Optimismus des Cusanus, der sich getraute, das Ganze der Welt zu umspannen, der den Menschen und den Kosmos, der die Natur wie die Geschichte in sich hineinzog und in sich zu versöhnen suchte, hatte die Gewalt der Gegenkräfte, die hier bewältigt und gebunden werden sollten, unterschätzt. So erkennt man schon bei ihm selbst, wie die widerstreitenden Gewalten, die er in seinem Denken zu verknüpfen und zu einer systematischen Einheit und Harmonie zusammenzuschließen versucht, im Leben, in der unmittelbaren Wirklichkeit, in der er steht, wieder auseinanderstreben. […] Er zeigte, daß die neuen Mächte, die jetzt das klare Bewußtsein ihrer selbst zu erringen begannen, sich in ihrer Entwicklung nicht mehr beschränken und einengen ließen, daß jede von ihnen die volle Selbständigkeit für sich in Anspruch nahm. Die Philosophie wird zur Schutzwehr gegen die von allen Seiten andrängenden weltlichen Kräfte.346

Die niederdrückende Kraft der unbeständigen und wechselhaften diesseitigen Welt lässt sich nicht auflösen. Das Leiden am irdischen Diesseits, aus dem die Vorstellung einer jenseitigen Wirklichkeit hervorgegangen war, 347 bleibt auch in der Neuzeit im Blickfeld der Aufmerksamkeit. Da sich der Mensch nun nicht mehr in eine onto­ logische Opposition zum Werden stellt, sondern vollständig darin aufgeht, steht und fällt sein eigener Status mit dem Stellenwert der Welt. Ein Bewusstsein dieser Gefahr ist bereits in den Anfängen präsent, so geht bereits bei dem jungen Pico der grenzenlose Optimismus bezüglich der schöpferischen Kraft des Menschen mit einer Abwehrtendenz gegen das Weltliche, gegen das unvollkommen Irdische einher, wenn er sagt: Laßt uns das Irdische verschmähen, laßt uns, was unterhalb des Himmels ist, für unbedeutend halten, und laßt uns, indem wir alles, was zur Welt gehört, endlich hinter uns lassen, in den überweltlichen Palast eilen, der sich in nächster Nähe der hocherhabenen Gottheit findet.348

Beim älteren Pico gewinnen die Abwehr- und Abwertungstendenzen gegen das profane Weltliche dann vollständig überhand, in Pico della Mirandola  |  169

den letzten Jahren seines Lebens gerät er unter den Einfluss von Savonarola. Ausgehend von den hier beschriebenen Denkern Pico della Mirandola und Nikolaus von Kues und mit Hilfe von Cassirers Interpretation der Renaissancephilosophie lassen sich einige generelle Momente identifizieren, die die Renaissancedenker mit späteren Philosophen teilen und mit deren Hilfe auch die heutige Situation der Sinnfrage mit ihren Spannungen charakterisiert werden kann.

3.1.2  Die inhärente Konflikthaftigkeit moderner Sinnvorstellungen

Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Spannungen zwischen einem tradierten Sinnhorizont und einem neuartigen Verständnis des Menschseins im Denken der Renaissance sind nicht so verschieden von gegenwärtig aktuellen Fragestellungen, wie der lange zeitliche Abstand und die Fremdheit mancher konkreter Vorstellungsinhalte vermuten lassen könnten. Die strukturellen Charakteristika der besprochenen Sinnvorstellungen zeigen sich auch in bestimmenden zeitgenössischen Positio­nen zur Frage nach dem Sinn des Lebens. Um das verdeutlichen zu können, müssen diese Charakteristika genauer herausgearbeitet werden. In der Philosophie der Renaissance wird die Konfrontation einer noch lebendigen Überlieferung mit grundlegend neuartigen Sinnvorstellungen sichtbar. Moderne Interpretatio­nen beispielsweise von Pico della Mirandola fokussieren sich häufig auf die innovativen Momente und lassen das Verhaftetsein in den überlieferten antiken und mittelalterlichen Sinnentwürfen in den Hintergrund rücken. Zwar ist es falsch, Pico vollständig in der mittelalterlichen Denkwelt zu verorten, 349 aber die Erkenntnisse des vorangegangenen Abschnitts führen dennoch vor Augen, wie weitgehend Picos Denken im Christentum und in der antiken, insbesondere platonischen Philosophie verwurzelt ist. Mit der Vorstellung der radikalen Selbstbestimmung des Menschen geht Pico jedoch über diese Traditionslinie hinaus. Die menschliche Eigenmächtigkeit bekommt bei ihm eine fundamentale, ja konstitutive Rolle. Und dennoch steht diese Vorstellung bei Pico in einem direkten inneren Zusammenhang zu den antiken und mittelalterlichen Sinnvorstellungen: 170  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Die Selbstbestimmtheit des Menschen ist bei ihm der Ausgangspunkt für den Aufschwung zum Göttlichen und damit der Weg zu einer gelingenden Existenz. Zwischen den überlieferten und neuen Vorstellungen besteht eine Interdependenz in mehr­facher Hinsicht. Zum einen sind die neuen Vorstellungen direkt auf die alten bezogen – sie sollen die alten nicht ablösen, sondern ihnen zu einer neuen Blüte verhelfen. Zumindest der Intention nach sollen die alten und die neuen Vorstellungen ein harmonisches Verhältnis miteinander eingehen. Aber noch wichtiger ist die Interdependenz in einer umfassenderen Hinsicht. Hierfür muss auf eine grund­ legende Differenzierung aufmerksam gemacht werden. Im ersten Teil dieser Arbeit kam zur Sprache, was unter einem umfassenden existentiellen Sinnentwurf zu verstehen ist. Es zeigte sich, dass mit einem Sinnentwurf stets eine bestimmte Sichtweise des Menschen auf sich selbst und auf seine Welt einhergeht. Zu einem Sinnentwurf gehört zum einen eine Ontologie, die bestimmt, wodurch sich das Seiende in der Welt konstituiert und was den Menschen als Menschen ausmacht. Zum anderen gehört zu einem Sinnentwurf immer ein Konzept des guten Lebens, eine artikulierte Vorstellung der gelingenden menschlichen Existenz. Zu einem Sinnentwurf gehört eine existentielle Zielsetzung, die eine Bewegung des Strebens hin zu einem anvisierten Ziel in Gang setzt. Entscheidend ist hierbei die Erkenntnis, dass bei den umgreifenden meta­phy­ sischen Sinnentwürfen der Antike die zugehörige Ontologie und Zielsetzung nie zwei voneinander unabhängige Bereiche bilden, sondern dass zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang besteht. In einem der­artigen Sinnentwurf besteht eine enge Interdependenz zwischen der zugehörigen Ontologie und der Zielsetzung. Diese Interdependenz kann beispielsweise bei dem Stoiker Marc Aurel gut veranschaulicht werden.350 Fällt bei einem solchen Sinnentwurf die Ontologie weg, bricht auch das Konzept der existentiellen Zielsetzung in sich zusammen. Die Zielsetzung kann von der Ontologie nicht abgekoppelt werden, eine Veränderung der Ontologie führt auch zu einer veränderten Zielsetzung. Welche Relevanz hat das für spätere Herangehensweisen an die Frage nach dem Sinn des Lebens? Auch bei den Sinnentwürfen der frühen Neuzeit zeigt sich die enge Interdependenz von Ontologie und Zielsetzung, und in dieser Interdependenz liegt eine grundlegende und auch heute noch rele­ Inhärente Konflikthaftigkeit  |  171

vante Pro­blematik. Bei Pico äußert sie sich als Konflikt zwischen der Ontologie der Selbstbestimmung und der christlich geprägten existentiellen Zielsetzung. Der Mensch bestimmt in Picos Sinnentwurf frei über sein Sein, und auch das Sein des Seienden richtet sich nach dem selbstbestimmten Menschen.351 Auf der Grundlage dieser Ontologie soll der Mensch sich zum göttlichen Höheren aufschwingen und das niedere Tierische hinter sich lassen. Die Onto­ logie der Selbstbestimmung geht bei Pico mit einer christlichen Zielsetzung einher. Der Intention nach will er die Zielsetzung seiner christlichen Tradition beibehalten und durch eine veränderte neue Ontologie untermauern und intensivieren. Doch passt die existentielle Zielsetzung zur neuen Ontologie? Entsteht daraus ein harmonischer Sinnentwurf? Dem steht ein grundlegender Widerspruch zwischen der Ontologie und der existentiellen Zielsetzung entgegen. Das konstitutive Moment einer Ontologie der Selbstbestimmtheit ist der Mensch selbst. Der Mensch, so wie er faktisch ist, bestimmt allein über sein Sein und prägt auch das Sein des Seienden entscheidend mit. Das konstitutive Moment der Zielsetzung Picos hingegen ist die christliche Gottesvorstellung. Das Göttliche bildet den Zielhorizont des menschlichen Strebens und ist der Anlage nach etwas, das über dem Menschen, so wie er faktisch ist, hinaus liegt. Nur dadurch, dass das Göttliche etwas ist, was der Mensch zunächst nicht ist, kann es ein Verhältnis der Vertikalität begründen: Erst auf der Grundlage eines Göttlichen, das außerhalb und oberhalb des Menschen liegt, kann eine strebende, aufwärtsgerichtete Übungsbewegung des Menschen hin zu diesem Höheren in Gang gesetzt werden. Die ursprüngliche Vorstellung von Vertikalität umfasst die Vorstellung einer grundlegenden Andersartigkeit, die in den Bereich des Menschlichen hineinwirken und den Menschen wesenhaft verwandeln kann.352 Die Pro­blematik bei Pico liegt darin, dass die Grundlage einer solchen Zielsetzung – die bestimmende Instanz außerhalb des Menschen – der Struktur nach etwas ist, das durch die Ontologie der Selbstbestimmtheit eigentlich ausgeschlossen wird. Pico artikuliert über die Vorstellung des Gött­lichen eine Vertikalspannung ganz im Sinne der platonisch-christlichen Tradition. Er bezieht sich auch explizit auf das Gleichnis der Jakobsleiter: Die Leitermetapher versinnbildlicht den Aufstieg des 172  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Menschen aus den Niederungen des materiell Irdischen hinauf zum Himmlischen; die Leiter hat der Mensch nach dem Vorbild der Engel zu erklimmen, bis er »im Schoß des Vaters, der oben an der Leiter sitzt, endlich zur Ruhe kommen und im Glücke der Erkenntnis Gottes Vollendung finden« kann.353 Mit dieser geradezu klassischen Positionierung im Geiste der meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Antike und des Mittelalters artikuliert Pico die existentiellen Zielvorstellungen seines Sinnentwurfs. Seine Ontologie ist dem jedoch entgegengerichtet, weil in ihr jegliche Fremdbestimmtheit des Menschen programmatisch abgelehnt wird. Wie soll jedoch ein Aufschwung zu etwas, das nicht durch den Menschen konstituiert wird und das sich nicht im Einflussbereich des Menschen befindet, dem stattdessen ein prinzipieller Rangunterschied zum Menschen zugrunde liegt – wie soll ein Aufschwung zu einer so gearteten Instanz auf der Grundlage einer Ontologie der unbegrenzten Selbstbestimmtheit vollzogen werden? Pico lehnt die Astro­logie aus dem Grund ab, dass ein Kosmos, der die Geschicke des Menschen steuert, mit der Selbstbestimmtheit des Menschen unvereinbar ist 354 – müsste er dann nicht auch die Vorstellung des christlichen Gottes mit der gleichen Argumentation ablehnen? In den transzendenzorientierten Sinnentwürfen ist die menschliche Existenz in einer doppelten Weise in Weltbezüge eingebunden: Die Körperlichkeit des Menschen ist eingebunden in das Werden der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, seine Geistigkeit ist bestimmt durch seine Bezüge zum jenseitig Göttlichen. Mit beidem ist der Mensch auf etwas bezogen, das er nicht selbst gesetzt hat. In Picos Sinnentwurf jedoch wird der Mensch auf der Seite der Ontologie aus seinen Außenbezügen herausgelöst, er ist nunmehr primär auf sich selbst bezogen – auf der Seite der Zielsetzung hingegen wird er in den überlieferten Bezügen zur Göttlichkeit belassen. Der innere strukturelle Zusammenhang zwischen der Ontologie und der Zielsetzung, der in den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Antike noch vorhanden war, ist hier verlorengegangen, an seine Stelle ist ein Konflikt getreten. Der Sinnentwurf Picos ist durch einen grundlegenden inneren Widerspruch zwischen der Ontologie und der existentiellen Zielsetzung gekennzeichnet. Von einer modernen Perspektive aus erscheint die Idee menschlicher Selbstbestimmtheit sehr vertraut und attraktiv, sie hat fast Inhärente Konflikthaftigkeit  |  173

den Charakter einer Selbstverständlichkeit: Picos Ontologie der Selbstbestimmung ist pro­blemlos mit dem modernen Verständnis des Menschseins vereinbar. Die traditionell christliche Zielsetzung Picos mutet hingegen aus dieser Perspektive fast wie ein fremdes Relikt der kulturellen Überlieferung an, das nicht aus einer inneren Notwendigkeit des Sinnentwurfs hervorgeht, sondern einen eher arbiträren Charakter hat und primär aus dem Verwurzeltsein Picos in seiner kulturellen Tradition zu erklären ist. Handelt es sich bei diesem Widerspruch um eine spezifische Eigenheit des Denkens von Pico della Mirandola, oder auch nur um eine Besonderheit des frühneuzeitlichen Denkens? Hat die seitdem vollzogene Entwicklung des Denkens die hier beschriebenen inneren Widersprüche auflösen können? Der weitere Verlauf der Untersuchung wird zeigen, dass auch die heutige Zeit durch derartige Konflikte charakterisiert werden kann. Auch heute verlaufen die Konflikte zwischen bestimmten Sinnvorstellungen der kulturellen Überlieferung und einer neuen Sichtweise auf den Menschen und die Welt, und auch heute können die Konflikte als ein innerer Widerspruch zwischen einer Ontologie und den dazugehörigen existentiellen Zielsetzungen charakterisiert werden. Es ist die Ontologie des modernen wissenschaftlichen Denkens, die den Denkweisen der Vergangenheit entgegengerichtet ist, die eine harmonische Wiederbelebung vergangener Sinnentwürfe in der heutigen Zeit verhindert und die zugleich die Herausbildung von spezifisch modernen Sinnvorstellungen erschwert. Wie verhält sich das Denken der modernen Wissenschaft zur Frage nach dem Sinn des Lebens?

3.2 Das wissenschaftliche Denken und die Frage nach dem Sinn des Lebens

Wenn sich Menschen heute die Frage nach der Wahrheit über die Welt und über das menschliche Leben stellen, erwarten sie Antworten in erster Linie von den Natur- und Geisteswissenschaften. Die Denkweise der Wissenschaften bestimmt darüber, wie Seiendes in der Welt verstanden wird: Die Ontologie der heutigen Zeit ist vorrangig eine wissenschaftliche Ontologie.355 Zwar gibt es etliche Bereiche der Lebenswelt, in denen sich Menschen eher nicht 174  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

nach den Grundsätzen der Wissenschaft richten, und es ist richtig, dass die meta­phy­sisch-religiöse Tradition auch in der heutigen Zeit noch präsent bleibt. Aber wenn es darum geht, die Wahrheit über das Seiende und über die Stellung des Menschen zur Welt zu arti­kulieren, führt heute kein Weg an den Denkweisen, Methoden und inhaltlichen Erkenntnissen der neuzeitlichen Geistes- und Naturwissenschaften vorbei. Durch Wissenschaft bringen Menschen zum Ausdruck, wie Seiendes in der Welt beschaffen ist und warum es so beschaffen ist: Es ist das wissenschaftliche Denken, in dessen Rahmen sich die Wahrheit über die Welt artikuliert. Was ist aus der Perspektive des wissenschaftlichen Denkens ein Seiendes? Alles, was ist, konstituiert sich aus der Sichtweise der neuzeitlichen Wissenschaft durch das Eingebundensein in die sinnlich gegebene Wirklichkeit. Dieses Eingebundensein wird insbesondere durch die materielle Beschaffenheit des Seienden, durch seine Position in Raum und Zeit und durch seine Bezüge der kausalen Wechselwirkung zu anderem Seienden bestimmt. Seiendes wird erst zu einem Seienden durch sein Eingebettetsein in das Werden, in die Prozesse der Veränderung in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Diese Prozesse sind durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt, deren Artikulation das Ziel der wissenschaftlichen Tätigkeit ist, und in der Artikulation dieser Gesetzmäßigkeiten erscheint die Wahrheit über das Seiende. Auch der Mensch selbst ist, in erster Linie durch seine Körperlichkeit, ein vollwertiger, kausal eingebundener Teil der sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Das Geistige im Menschen, und hierbei insbesondere sein Denken, wird durch die Wissenschaft zurückbezogen auf seine Körperlichkeit in der materiellen Welt. Als neuronale Vorgänge werden die mentalen Prozesse im Menschen auf die materiellen Körperfunktio­nen zurückgeführt, auch wenn dabei die geistigen Phänomene im Menschen nicht mit der Klarheit auf den Begriff gebracht werden können, die die Wissenschaft von den Erklärungen der rein materiellen Vorgänge der sinnlich gegebenen Wirklichkeit gewohnt ist.356 Die moderne Wissenschaft vollzieht eine systematische und prinzipielle onto­logische Beschränkung auf die sinnlich gegebene Wirklichkeit: Jede Möglichkeit einer Verortung von Phänomenen außerhalb, in transzendenten jenseitigen Wirklichkeiten, wird a pri­ori ausgeschlossen. Die Vorstellung, dass der Mensch mit seiDas wissenschaftliche Denken  |  175

nem Denken an einer jenseitigen beständigen Wirklichkeit teil­ haben könnte – mit und nach Platon eine Grundvorstellung der philosophisch-religiösen Überlieferung357 –, ist im wissenschaftlichen Denken von vornherein undenkbar. Ausschließlich die diesseitige, sinnlich gegebene Wirklichkeit definiert den Bereich, in dem sich mögliches Seiendes herausbilden kann. Der Mensch und das Seiende, mit dem er in Verbindung treten kann, gehen vollständig in der diesseitigen Wirklichkeit des Werdens auf. Eine transzendente Gegenwirklichkeit des beständigen Seins ist in den Kategorien des wissenschaftlichen Denkens nicht artikulierbar. Die zentrale Methode insbesondere der Naturwissenschaften, die Wahrheit über die Zusammenhänge des Seienden im Universum herauszufinden, ist das Experiment.358 In einem Labor wird ein stark eingegrenzter Teilbereich der Welt so isoliert, dass durch menschliches Handeln und mit Hilfe von Apparaturen eine Situation erzeugt wird, in der sich einzelne Phänomene relativ ungestört von kausalen Störfaktoren beobachten und messen lassen. Diese eingegrenzten, zielgerichtet strukturierten und wiederholt durchgeführten Beobachtungen und Messungen werden mit Hilfe von möglichst einfachen mathematischen Gleichungen beschrieben, woraus wissenschaftliche Theorien entstehen. Diese Theorien bilden die Erklärung der Vorgänge in der Welt; sie entstehen, indem die Wissenschaft das Geschehen in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit in einzelne Ausschnitte aufteilt, unter Gesetzmäßigkeiten subsumiert und diese wiederum argumentativ miteinander in Verbindung bringt. Hierdurch werden immer umfassendere Erklärungen der Wirklichkeit ermöglicht, auch wenn auftauchende Unvereinbarkeiten und der Disziplincharakter der einzelnen Wissenschaften selbst nie vollständig beseitigt werden können. Die durch menschliche Eingriffe innerhalb einer künstlich hergestellten Umgebung erzielten Beobachtungen werden als Vorgänge der Natur interpretiert: Die Künstlichkeit des Experimentiervorgangs wird nicht als ein Einwand gegen die Natürlichkeit des Beobachteten betrachtet, weil sich die Natur erst durch die künstlich hergestellte Umgebung des Experimentierens für den Menschen so zeigen kann, dass er die den Naturvorgängen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen vermag. Es bedarf sogar eines künstlichen Eingriffes durch den Menschen, um die Unvollkom176  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

menheit der sinnlichen Erfahrung auszugleichen. Die neuzeitliche Wissenschaft vollzieht eine onto­logische Beschränkung auf die sinnlich gegebene Wirklichkeit – dem unbestreitbar unzuverlässigen Charakter der menschlichen Sinne begegnet sie hierbei nicht mehr mit einer pauschalen Abwertung der Sinnlichkeit, sondern sie versucht, die mögliche Sinnestäuschung durch eine Beherrschung des Wahrgenommenen im wissenschaftlichen Experiment methodisch in den Griff zu bekommen. Francis Bacon formuliert im frühen 17. Jahrhundert diese Vorgehensweise programmatisch: Um [die Sinnestäuschung] zu vermeiden, habe ich mit vieler und getreulicher Mühe auf allen Seiten Hilfe für die Sinne gesucht und herbeigeholt, damit Heilmittel gegen Irrtümer, Berichtigungen gegen das Schwankende angewandt werden können. Das versuche ich durch Experimente, nicht durch Instrumente zu erreichen. Denn die Feinheit der Experimente ist weit größer als die der Sinne, selbst wenn sie durch gute Instrumente unterstützt werden […]. Deshalb lege ich auf die unmittelbare und eigentliche Wahrnehmung der Sinne nicht viel Gewicht, sondern ich halte die Sache so, daß der Sinn nur über das Experiment, das Experiment aber über die Sache das Urteil spricht. Deshalb halte ich mich gleichsam für einen treuen Priester der Sinne (aus denen alle Kenntnis in den Dingen der Natur geschöpft werden muß, wenn man nicht irre werden will) […].359

Bacon bezieht die Position, dass die Sinne des Menschen zwar oft ungenaue, widersprüchliche und täuschende Ergebnisse liefern, dass dies aber kein Grund ist, sie zu verwerfen, da sie der einzige Weg zu Wissen und Erkenntnis sind. Die neuzeitliche Wissenschaft begegnet der Mangelhaftigkeit des Sinnlichen nicht durch eine prinzipielle Abwertung, sondern durch den Versuch der methodischen Beherrschung im Experiment. Welchen Status hat hierbei die Mathematik für die neuzeit­ lichen Wissenschaften? Das wichtigste Beschreibungs- und Analyseinstrument der Naturwissenschaften ist die Mathematik. Das wissenschaftliche Denken versucht, die Vorgänge der Wirklichkeit mit Hilfe von mathematischen Gleichungen zu beschreiben. Die mathematischen Objekte selbst bilden jedoch kein Seiendes in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, sie sind zunächst gedankliche Abstraktio­nen des Menschen. Zudem muss die Wissenschaft auch auf theoretische Begriffe zurückgreifen, die Entitäten beschreiben, Das wissenschaftliche Denken  |  177

die sich prinzipiell nicht beobachten lassen, die einen rein theoretischen Charakter haben, die aber für die Formulierung einer wissenschaftlichen Theorie und damit für die Erklärung von Vorgängen in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit notwendig sein können.360 Zur Frage, ob die von der wissenschaftlichen Forschung verwendeten mathematischen und theoretischen Entitäten tatsächlich existieren oder nur fiktive gedankliche Werkzeuge des Menschen darstellen, können unterschiedliche – realistische oder antirealistische – Positio­nen eingenommen werden,361 aber unabhängig davon lässt sich sagen, dass keine mögliche wissenschaftliche Positionierung von einer transzendenten Gegenwirklichkeit Gebrauch macht, die unabhängig von der sinnlich gegebenen Wirklichkeit existieren und die dem Menschen in irgendeiner Weise als existentielle Orientierung dienen könnte. Hier unterscheidet sich das wissenschaftliche Denken sehr grundlegend von der Denkweise hinter den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Antike:362 Der Mathematik wird keinerlei existentielle Relevanz mehr zugeschrieben, sie wird nicht mehr als Hinweis auf die Existenz einer Gegenwirklichkeit zum irdischen Werden aufgefasst, die das Glück oder gar die Seele des Menschen nach dem Tod seines Körpers beheimaten könnte. Genauso, wie das wissenschaftliche Denken die Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit prinzipiell ausschließt, verwirft es auch von vornherein die Vorstellung einer Zielgerichtetheit des Werdens. Die Veränderungen des Seienden, das unaufhörliche Werden des Universums verfolgen in der wissenschaftlichen Weltsicht kein umgreifendes Ziel. Das Werden verfolgt insbesondere kein Ziel, aus dem der Mensch irgendwelche Schlüsse über die gelingende menschliche Existenz ableiten könnte. Überhaupt fehlt im wissenschaftlichen Denken die Vorstellung, dass ein Seiendes in der Welt und außerhalb des Menschen den Weg zu einer gelingenden Existenz aufzeigen könnte. Die Wissenschaft bezieht die Position, die sich bereits in der Renaissance bei Pico artikuliert: Nur der Mensch selbst kann bestimmen, wie er leben soll – die Vorstellung des guten Lebens kann sich in der Weltsicht der modernen Wissenschaft auf keine Fundamente im Seienden außerhalb des Menschen stützen. Aus den rein deskriptiven Feststellungen der Wissenschaft lassen sich keine normativen Beurteilungen herleiten; jede Ableitung eines Sollens aus dem Sein wird als ein naturalisti178  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

scher Fehlschluss zurückgewiesen.363 Das wissenschaftliche Denken beschränkt sich in seinen Aussagen auf das, was in der Welt der Fall ist. Deswegen kann die Wissenschaft zur Frage, wie der Mensch leben soll, unmittelbar nichts beitragen. Die entsprechende existentielle Haltung und die Konsequenzen aus dieser Haltung hat kaum jemand prägnanter beschrieben als Max ­Weber in seinem Vortrag »Wissenschaft als Beruf«, gehalten im Jahr 1917.364 Nach Weber kann die Wissenschaft zwar dem Menschen »dabei helfen, sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns«, 365 indem sie die Implikatio­nen und Konsequenzen einer Sinnsetzung erhellt – den Sinn selbst kann Wissenschaft weder setzen noch stützen: Daß Wissenschaft heute ein fachlich betriebener »Beruf« ist im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt –, das freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation, aus der wir, wenn wir uns selbst treu bleiben, nicht herauskommen können.366

Da sich die Sinnvorstellungen des Menschen prinzipiell außerhalb der Reichweite der wissenschaftlichen Wahrheit befinden, können Menschen in der heutigen Situation unterschiedliche normative Vorstellungen über sich selbst und ihre Situation in der Welt haben, und diese können miteinander konfligieren. Dies ist auch faktisch der Fall, so dass Weber nicht untertreibt, wenn er feststellt, »daß die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen«.367 Dieser Kampf der sich einander widersprechenden Wertsetzungen kann durch die Wissenschaft in einer prinzipiellen Weise nicht entschieden werden. Die Wissenschaft kann die Implikatio­nen und Auswirkungen einer normativen Positionierung deskriptiv darlegen und in diesem Sinne für Entscheidungsprozesse von großem Nutzen sein. Aber sie kann dem Menschen die Entscheidung selbst nicht abnehmen.368 In den existentiell relevanten Fragen des Lebens enthält sich die Wissenschaft prinzipiell einer Antwort: Alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob Das wissenschaftliche Denken  |  179

wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich einen Sinn hat: – das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus.369

Die Sinnvorstellungen des Menschen sind daher nicht mehr in der Welt als dem Zusammenhang des Seienden verankert. In genau diesem Sinne lässt die Wissenschaft die Sinnvorstellungen des Menschen unberührt.370 Und insofern sich die Wahrheit über die Zusammenhänge des Seienden durch die wissenschaftliche Denkweise erschließt, koppeln sich in der Moderne die Sinnvorstellungen des Menschen im gleichen Maße von der Wahrheit ab, wie sie sich aus den Bezügen des Seienden herauslösen. Der exis­ tentiell irrelevanten wissenschaftlichen Wahrheit wird in der Mo­ derne keine existentiell relevante nichtwissenschaftliche Wahrheit gegenübergestellt. Über die Sinnvorstellungen entscheidet statt dessen die individuelle Wahl des Menschen, die nicht mehr direkt aus der Vernunft entspringt und auch keinen strukturellen Bezug zur Wahrheit mehr hat. Es ist nunmehr die freie Entschluss- und Schaffenskraft des Menschen, die das alleinige Fundament seiner Sinnvorstellungen bildet. Das Fundament der Sinnvorstellungen verschiebt sich von der Wahrheit zur Wahl.371 Diese Sichtweise spiegelt sich auch in den inhaltlichen Ergebnissen der Wissenschaft wieder. Die neuzeitliche Wissenschaft verortet den Menschen in einem vollkommen sinnleeren und überwiegend lebensfeindlichen Universum als nebensächliche, kontingente und vorübergehende Randerscheinung. So ist es heute aus einer wissenschaftlichen Perspektive kaum noch vorstellbar, dass der Mensch eine herausragende oder gar zentrale Stellung im Kosmos haben und durch Einsicht in die kosmischen Zusammenhänge den Sinn seines Daseins bestimmen könnte: In einem harschen Gegensatz hierzu zeichnen sich wissenschaftliche Erkenntnisse geradezu durch eine grundsätzliche Irrelevanz in Bezug auf die Sinnfrage aus. Die Aussagen über das Seiende haben sich heute auf eine prinzipielle Weise von den Aussagen über das sinnvolle und gute Leben abgekoppelt. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird nicht mehr über eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Seienden, und hierbei auch nicht über eine geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Untersuchungsobjekt »Mensch«, zu 180  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

beantworten versucht. Die Welt ist zu einer sinnfernen Sphäre geworden – nicht nur, weil die Wissenschaft in einer prinzipiellen Weise die Sinndimension der menschlichen Existenz ausblendet, sondern weil auch die einzelnen wissenschaftlichen Erkenntnisse dem Gefühl der Bedeutsamkeit der menschlichen Existenz entgegenstehen. Dies kommt deutlich zum Ausdruck, wenn etwa der zeitgenössische Physiker Steven Weinberg konstatiert, dass das stetig wachsende wissenschaftliche Verständnis für die Zusammenhänge des Universums mit einer wachsenden Einsicht in dessen Sinnlosigkeit einhergeht: [W]hichever cosmological model proves correct, there is not much of comfort in any of this. It is almost irresistible for humans to believe that we have some special relation to the universe, that human life is not just a more-or-less farcical outcome of a chain of accidents reaching back to the first three minutes, but that we were somehow built in from the beginning. […] It is very hard to realize that this all is just a tiny part of an overwhelmingly hostile universe. It is even harder to realize that this present universe has evolved from an unspeakably unfamiliar early condition, and faces a future extinction of endless cold or intolerable heat. The more the universe seems comprehensible, the more it also seems pointless.372

Nicht nur der Aufbau des Kosmos, auch die Beschaffenheit des Menschen selbst ist aus der Sichtweise der Wissenschaft kein Funda­ ment, auf dem sich Sinnvorstellungen gründen könnten. Die Faktizität des Menschen bereitet keinen Boden mehr für ein Bewusstsein menschlicher Bedeutsamkeit, seit sich mit der Evolutions­theorie Darwins die Einsicht durchgesetzt hat, dass sich der Mensch graduell aus tierischen Lebensformen herausentwickelt hat. Aus dieser Sichtweise ist der Mensch ein Teil der sinnfreien tierischen Natur und innerhalb dieser in keiner Weise prinzipiell herausgehoben. Laut Evolutionstheorie verändern sich Tier- und Pflanzenarten über lange Zeiträume, indem sie sich durch Variation und Selektion an ihre Umgebung anpassen: Durch Mutation der Erbanlagen erzeugen Lebewesen eine Nachkommenschaft mit unterschiedlichen Eigenschaften, wobei diese Eigenschaften darüber entscheiden, wie gut sich die nachfolgenden Lebewesen in ihrer Umwelt durchsetzen können. Lebewesen vererben ihre Eigen­schaften an ihre Nachkommen weiter, und weil die Zahl der Nachkommen grundsätzlich Das wissenschaftliche Denken  |  181

größer ist als die Zahl der Über­lebensfähigen, bestimmen die Eigenschaften derjenigen Lebewesen, die sich durchsetzen und fortpflanzen können, über die weitere evolutionäre Entwicklung der Art. In langen Zeiträumen gabeln sich die Arten auf und trennen sich, manche Zweige sterben ab und manche entwickeln sich weiter – entscheidend ist, wie gut sich die jeweiligen Lebewesen in ihrer Umgebung bewähren können. Höherentwicklungen treten auf, es existieren aber auch Stagnations- und Rückbildungsprozesse, so dass in der evolutionären Entwicklung keine Zielhaftigkeit, insbesondere nicht auf den Menschen hin, erkennbar ist. Der Mensch unterscheidet sich nicht wesenhaft vom Tier, er stammt vom Affen ab und ist über die Vorfahren der Primaten mit viel niedrigeren Lebensformen verwandt, als eine Ähnlichkeit auf den ersten Blick vermuten lassen würde. In der Forschung setzt sich die Meinung durch, dass überhaupt alles Lebendige in den Anfängen aus der unbelebten Materie entstanden ist. Die treibende Kraft hinter den evolutionären Entwicklungen ist die Zufälligkeit genetischer Mutatio­nen und die natürliche Auslese durch die kausale Eingebundenheit in die Zusammenhänge der Welt.373 Die Sonderrolle des Menschen im Vergleich zu den übrigen Lebewesen löst sich im Nichts auf – weder mit seinem Körper noch mit seinem Geist steht der Mensch außerhalb dessen, was die Evolutionstheorie erklären zu können beansprucht. Soziobiologen behaupten sogar, die Moralität des Menschen vollständig durch das wissenschaftliche Denken erklären zu können, indem sie die altruistischen Vorstellungen und Verhaltensweisen des Menschen auf den verschleierten Egoismus seiner Gene zurückführen. Der Anthropologe und Soziobiologe Volker Sommer artikuliert diese Position in einer deutlichen Weise: Kühler Wind weht Lesern der vorliegenden Abhandlung entgegen: die Kühle des Reduktionismus. Der Autor räumt ein, mit Eifer und größtmöglicher Konsequenz das Ziel zu verfolgen, Sozialverhalten von Tieren – einschließlich des Menschen – auf möglichst »einfache« Weise zu erklären. Hinter allen Verhaltensäußerungen wird zunächst das Walten des Egoismus vermutet. Dem Eigennutz bringen wir freilich keine Sympathie entgegen; es fällt schwer, ihn nicht sogleich und demonstrativ moralisch zu verurteilen. Wäre von der Effizienz der Selbstlosigkeit, des Altruismus die Rede – es fiele uns leichter, zustim182  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

mend zu nicken und ein wohliges Gefühl zu entwickeln. Daß wir Egoismus emotional ablehnen, hat gute Gründe. Denn mit ziemlicher Sicherheit sind wir alle Egoisten, wenngleich wir uns beflissen bemühen, uns davon nichts anmerken zu lassen. Wissen müssen wir das nicht einmal. Im Gegenteil: Unser Egoismus ist erfolgreicher, wenn wir der festen Überzeugung sind, selbstlos zu handeln – überzeugt unsere Überzeugung so doch auch andere. Der hier vertretene Reduktionstyp ist ein Arbeitsprinzip der modernen Evolutionstheorie.374

Derartige Vorstellungen können auch aus moderner Perspektive mit Argumenten zurückgewiesen werden, 375 aber es besteht kein Zweifel daran, dass das wissenschaftliche Denken einen zunehmend höheren Druck auf Standpunkte ausübt, die sich außerhalb dieses Denkens befinden. Unter Druck geraten insbesondere Positio­nen, die auf Kernvorstellungen der tradierten meta­phy­ sischen Sinnentwürfe beruhen. Welche existentiellen Haltungen gehen mit der Ontologie der Wissenschaftlichkeit einher? Prinzipielle Zurückweisungen tradierter Vorstellungswelten sind heute weit verbreitet und in öffentlichen Debatten präsent.376 Ein weniger prominentes, aber philosophisch aufschlussreiches Beispiel ist hier das Denken des zeitgenössischen Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Bernulf Kanitscheider. Das Bewusstsein der Sinnlosigkeit des Universums geht bei ihm mit einer unbeschwerten Apologie menschlicher Sinnschöpfungskraft einher. Kanitscheider führt sich die prinzipielle Sinnferne und die kosmische Sinnlosigkeit, die das wissenschaftliche Denken dem Menschen vermittelt, deutlich vor Augen, sieht in ihr aber keinerlei Dramatik, sondern primär die Chance für den Menschen, sich in einer Abkehrbewegung von umfassenden meta­phy­sischen Sinnentwürfen – durch die Haltung der Bescheidenheit – in ein angemesseneres Verhältnis zum Universum zu setzen, als es im Denken der Vergangenheit der Fall war: [S]o zwingt uns die Wissenschaft dadurch, dass sie alle Spezifika des Menschen in den Naturzusammenhang einordnet, die überdehnten kosmischen Sinnerwartungen abzubauen und auf die uneinlösbaren Wunschvorstellungen der Vergangenheit zu verzichten. Diese grundsätzliche Neuorientierung auf den kleinen irdischen Sinn ist zweifellos der einzige Weg für denjenigen, dem die meta­phy­sischen Versprechungen der Vergangenheit trügerisch erscheinen. […] Auf der Suche Das wissenschaftliche Denken  |  183

nach dem Sinn wird also dem Menschen zunächst eine Lehre in Bescheidenheit erteilt. Er erfährt, wo er in der Ordnung der Dinge steht, und er lernt davon abzusehen, seine anthropomorphen Kategorien auf den Kosmos zu übertragen. Auf der Suche nach dem Sinn wird der Mensch auf sich selbst zurückgewiesen. Er darf nicht auf eine Führung durch die Welt warten, er muß sich selber seine Ziele setzen und durch die Vernunft leiten lassen, die Erfüllung seiner Ideale zu erstreben.377

In der durch das wissenschaftliche Denken vollzogenen Zurückführung aller Phänomene der menschlichen Existenz auf die materiellen Vorgänge in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit sieht Kanit­scheider kein Pro­blem. Seine Haltung der Gelassenheit bei der Erklärung von mentalen Zuständen – von Gefühlen, Stimmungen und Vorstellungen – durch materielle Körperfunktio­nen drückt er wie folgt aus: In eindrucksvoller Weise bemächtigen sich heute neue Disziplinen wie die Psychobiologie auch der geheimsten und intimsten Regungen unseres Gefühlslebens. So ist etwa die richtige Serotoninkonzentration (chemisch: 5-Hydroxytryptamin) für das Wohlfühlen, die Ausgeglichenheit und das Selbstbewußtsein verantwortlich, genau jene Stimmungslage, die Demokrit mit Athambie bezeichnet und als erstrebenswerten Seelenzustand angesehen hatte.378

Aus der wissenschaftlichen Weltsicht heraus sträubt sich Kanitscheider gegen die philosophischen und religiösen Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug, und auch wenn er sich antiken, insbesondere atomistischen und hedonistischen Positio­nen zuwendet, vollzieht er die Hinwendung zur Vergangenheit aus einer genuin modernen Perspektive. Hier zeigt sich deutlich die Ferne, die sein Denken vom Denken der kulturellen Überlieferung trennt: Im obigen Zitat wird ein Gefühlszustand, der durch eine chemische Verbindung hervorgerufen wird und durch einen biochemischen Eingriff beeinflusst werden kann, mit dem antiken seelischen Zustand der Angstfreiheit gleichgesetzt. Dabei wird ausgeblendet, dass die antiken Vorstellungen der Seelenruhe stets als Ziele von aktiven geistigen Übungsprozessen verstanden wurden, die da­rauf angelegt waren, die Haltung der Vernünftigkeit im Menschen herauszubilden.379 Die Gleichsetzung, die Kanitscheider aus der Perspektive des wissenschaftlichen Denkens vollzieht, eliminiert die geistige 184  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Haltung des Strebens nach der Wahrheit und die gesamte dazugehörige Lebensweise. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch eine moderne Interpretation die Sinnvorstellungen der Vergangenheit im Kern verfälscht und die Ferne von vergangenen Denkweisen verdeckt werden können. Aber Kanitscheider geht es auch nicht primär um die Wiederaneignung vergangener Sinnentwürfe, sondern um ihre Überwindung. Die Sinngehalte der vormodernen Sinnentwürfe – insbesondere diejenigen, um die es im ersten Teil dieser Arbeit ging – weist er sehr weitgehend zurück. Sie sind für ihn falsch und überheblich zugleich. So lehnt er nicht nur die Vorstellung eines kosmischen Zwecks ab, er merkt auch an, dass wegen der radikalen kosmischen Dezentralität des menschlichen Lebens ein eventuell vorhandener globaler Zweck mit dem Sinn des lokalen menschlichen Lebens überhaupt nichts zu tun haben dürfte.380 Die prinzipielle Ablehnung von Anthropozentriertheit drückt sich bereits in seiner Wortwahl aus, wenn er vom Menschen als dem »denkenden Primaten auf dem dritten Planeten eines unspezifischen Sonnensystems in einer typischen Spiralgalaxis« spricht.381 Der Wegfall der Vorstellungen der Vergangenheit ist für ihn eine Befreiung aus Irrtum und Aberglaube, aber zugleich auch eine Befreiung von grausamer Unmenschlichkeit im Namen Gottes. All dies zeigt, dass für ihn der Abschied von Sinnentwürfen mit Transzendenzbezug mit keinerlei Schmerz verbunden ist – eher mokiert er sich über den Verlust Gottes, als dass er ihn bedauern würde: [H]eute [wird] wohl nur noch jemand mit ausgesprochen spirituellen Neigungen einem Zeitalter nachtrauern, das zwar eine globale Sinnorientierung besaß, auf der anderen Seite aber mit lebensverachtender Gleichgültigkeit mit humanen Lebensqualitäten umging, wobei Unwissenheit und mangelnde Humanität sich die Hand gaben.382 Nur durch frühkindliche Suggestion können sich dann seelische Verklemmungen ergeben, die sich darin äußern, daß später das Leben als sinnlos betrachtet wird, wenn Gott nicht existiert.383

Die Haltung Kanitscheiders ist damit das genaue Gegenteil der Haltung eines zentralen Denkers der Moderne, der wie kein Zweiter unter dem Verlust existentieller Sinnhaftigkeit litt: Friedrich Nietzsche. Statt einer Unbeschwertheit steht bei Nietzsche das Lei­ Das wissenschaftliche Denken  |  185

den an der Loslösung von vergangenen Sinnentwürfen im Vordergrund. Noch heute berührt Nietzsches Klage über den Verlust existentieller Sinnerfülltheit, die er in unüberbotener Dramatik in einem Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft der Figur des »tollen Menschen« in den Mund legt: »Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! […] Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«384

Sowohl Nietzsche als auch Kanitscheider vollziehen ihre philosophische Abkehrbewegung von Sinnentwürfen mit Transzendenzbezug vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Denkens, aber ihre Schlüsse könnten unterschiedlicher nicht sein. Nietzsche ist hierbei kein Zeitgenosse mehr, er steht den tradierten Sinnentwürfen näher als die meisten heutigen Denker – auch wenn die Grundpro­bleme seines Denkens bis heute relevant geblieben sind. Kanitscheider repräsentiert viel eher eine heute verbreitete Haltung der Gelassenheit zu den Fragen, die Wissenschaftlichkeit für die menschliche Existenz aufwirft. Es stellt sich daher die Frage, ob in der heutigen Situation der Verlust der philosophischen und reli­g iösen Sinnentwürfe der Vergangenheit wirklich verarbeitet und überwunden werden konnte – ob sich nur ein toll geworde­ ner Außenseiter zu einer Klage über den Tod Gottes hinreißen lassen kann – oder ob der unbewältigte Verlust lediglich verdrängt wird, so dass der »tolle Mensch« Nietzsches eine aus dem Blickfeld geratene, unbequeme Pro­blematik vor Augen führt. Gerade 186  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

die Philosophie Nietzsches wirft einen aufschlussreichen Blick auf das vielschichtige Verhältnis des modernen Denkens zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit, indem sie sowohl die Entfremdung als auch die versteckte Kontinuität reflektiert, durch die heutige Denkweisen – aller Opposition zum Trotz – mit dem Denken der Vergangenheit verbunden sind. Diese Gleichzeitigkeit des Bruches und des Verbundenseins muss an dieser Stelle ausführlich untersucht werden. Die Grundlagen der wissenschaftlichen Weltsicht und damit der modernen Ontologie werden in einem separaten Kapitel an einer späteren Stelle der Arbeit weiter vertieft werden.385

3.3 Der Bruch als paradoxe Kontinuität – Die destruktive Kraft von Wahrheit und Wahrhaftigkeit: Friedrich Nietzsche

Es stellt sich hier erneut die Frage nach dem, worin die heutige Zeit über die meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit hinausgeht. Diese Frage stellt sich insbesondere im Hinblick auf die existentiellen Auswirkungen für das menschliche Leben: Was bedeutet es für den Menschen, auf die Vorstellung eines sinnvoll geordneten Kosmos zu verzichten? Welche existentiellen Folgen hat ein Verzicht auf die Idee eines zielgerichteten Werdens oder einer beständigen, jenseitigen Wirklichkeit hinter dem Werden? Kann sich der Mensch von der Vorstellung, dass die menschliche Existenz, damit sie gelingen kann, von etwas Höherem transformiert werden muss, ohne weiteres loslösen? Die Philosophie Friedrich Nietzsches kann als eine direkte Auseinandersetzung mit diesen Fragen interpretiert werden. Hierbei ist es nicht zuletzt die Weltsicht der Wissenschaft, die Nietzsche zu einem Bruch mit vergangenen Sinnvorstellungen veranlasst. Nietzsche konstatiert eine weitreichende Loslösung des modernen Denkens von den meta­phy­sischen Sinnvorstellungen der Vergangenheit. Den Bruch verortet Nietzsche genau entlang derjenigen Fundamente vergangener Sinnentwürfe, die im ersten Teil dieser Arbeit untersucht wurden. Was genau unter diesem Bruch zu verstehen ist, verdeutlicht sich sehr komprimiert im späten Nachlassfragment »Kritik des Nihilism«.386 Entscheidend ist insbesondere die Loslösung von der Vorstellung, dass der Mensch in eine sinnvoll Friedrich Nietzsche  |  187

geordnete Wirklichkeit eingebettet ist. Dies bringt nach Nietzsche schmerzhafte Konsequenzen mit sich: »Im Grunde hat der Mensch den Glauben an sein Werth verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich werthvolles Ganzes wirkt«. Der Mensch begreift nunmehr, »daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird«, und diese fehlende Zielhaftigkeit seiner Welt enttäuscht ihn, insofern er »nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens« ist. Versperrt ist zudem die Ausflucht, »diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt«. In einer derartigen Sichtweise beschränkt sich der Mensch vollständig auf die sinnlich gegebene Wirklichkeit und »verbietet sich jede Art Schleichwege zu Hinterwelten und Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will«. In der Situation der Moderne entfaltet sich nach Nietzsche die Einsicht, dass das, was bisher der menschlichen Existenz Wert verliehen und dessen Streben bestimmt hatte, eine menschengemachte Fiktion war: Die Einsicht, dass die Sinnfundamente der menschlichen Existenz »sich auf eine rein fingirte Welt beziehen«, führt nach Nietzsche zu einem Wegfall dieser Sinnfundamente. Nietzsche sieht die Schmerzhaftigkeit dieses Verlustes von einem tiefen Gefühl der Wertlosigkeit begleitet: Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Werthlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit« der Gesammtcharakter des Daseins interpretirt werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch …, man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden … Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«, mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt werthlos aus … […] Schluß-Resultat: Alle Werthe, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwerthet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – alle diese Werthe sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Per­spek­ ti­ven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projicirt in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivetät des Menschen, sich selbst als Sinn und Werthmaß der Dinge 〈 a nzu­setzen 〉…387 188  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Worin genau liegt die existentielle Pro­blematik bei der Loslösung von vergangenen Sinnvorstellungen? Die Auslöser des Bruchs liegen in der wissenschaftlichen Weltsicht als einer radikal diessei­tigen, nichtteleologischen Sichtweise auf die Welt und den Menschen.388 Warum aber kann die Loslösung als schmerzhaft empfunden wer­ den? Nietzsche hat auf diese Frage eine frappante Antwort. Die moderne Abkehr von den meta­ phy­ sischen Sinnvorstellungen der Vergangenheit wird deswegen als schmerzhaft empfunden, weil sie nicht durch einen von außen kommenden Moment getragen wird – es ist letzten Endes keine neue und den tradierten Sinnent­ würfen fremde Idee, die diesen Sinnentwürfen entgegenwirkt: Die Abkehr von der meta­phy­sischen Tradition entspringt aus einem zentralen Bestandteil eben dieser Traditionslinie. Die Destruktion meta­phy­sischer Sinnentwürfe ist in Wirklichkeit eine Selbstdestruk­ tion. Und weil es ein Moment dieser Traditionslinie ist, das ihr selbst den Boden entzieht, entsteht durch die Abkehr eine Leerstelle, die nicht ohne weiteres wieder aufgefüllt werden kann. Nach Nietzsche entspringt die Abwendung von meta­phy­sischen Sinnentwürfen aus einem zentralen Wert dieser Sinnentwürfe, und die besondere Entfaltung dieses Wertes im Denken der Moderne führt dazu, dass den Sinnfundamenten der Vergangenheit der Boden ent­zogen wird. Es ist die Idee der Wahrhaftigkeit, die nach Nietzsche in ihrer säkularisierten Form der intellektuellen Redlichkeit die vergangenen Sinnvorstellungen so radikal untergräbt, dass diese in der Moderne kaum noch die Rolle spielen können, die ihnen ursprünglich zugedacht war. Die so wegfallenden Sinnvorstellungen werden nicht durch etwas angemessen Gleichwertiges ersetzt, stattdessen verursacht ihr Fehlen den Schmerz, der in der Philosophie Nietzsches seinen beredten Ausdruck findet. Nietzsches Inter­preta­tion der Situation des Menschen in der Moderne ist im Folgenden genauer darzulegen. Die Essenz der Argumentation Nietzsches läuft auf Folgendes hinaus: Der Denkweise der tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe lag immer schon ein direkter und wesenhafter Bezug zur Wahrheit zugrunde. Dies verbindet die Vergangenheit mit der heutigen Zeit und insbesondere auch mit der Weltsicht der Wissenschaft. Das Streben nach Wahrheit bildet hierbei nicht einfach Friedrich Nietzsche  |  189

einen Wert unter vielen, sondern das Fundament einer Existenzweise. Die neuzeitliche Wissenschaft selbst geht aus der Wahrheitsbezogenheit der vergangenen Sinnentwürfe hervor. Der in diesem Zusammenhang ebenfalls präsente Wert der Wahrhaftigkeit, der gegen Selbst- und Fremdtäuschung in jeglichem Sinne gerichtet ist, bekommt in der Neuzeit und der Moderne in Verbindung mit der neuzeitlichen Wissenschaft einen hervorgehobenen Stellenwert. Als intellektuelle Redlichkeit richtet sie sich in einer umfassenden Weise gegen Täuschung und Unwahrheit und untergräbt auf dieser Grundlage die zentralen meta­phy­sischen Sinnvorstellungen der Vergangenheit. Die tradierten Sinngehalte können innerhalb der wissenschaftlichen Weltsicht auf eine intellektuell redliche Weise nicht mehr aufrechterhalten werden, und je konsequenter die überlieferten Sinnvorstellungen einer kritischen Prüfung unterzogen werden, desto weitgehender muss ihre Geltung zurückgenommen werden. In diesem Sinne stellt die moderne Loslösung von den Sinnentwürfen der Vergangenheit eine Selbstdestruktion eben dieser Sinnentwürfe dar. Dieser Gedanke bildet die Grundlage von Nietzsches Zeitdiagnose, er interpretiert die Moderne als Resultat »einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet …«: Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretiren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vor­ bei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit, – mit dieser Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung.389 190  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

In der skizzierten Argumentation spielt die enge Verflechtung der tradierten Sinnentwürfe mit dem modernen Denken eine zentrale Rolle – deswegen ist es wichtig, die einzelnen Schritte genauer zu explizieren, um die enge Verbundenheit des modernen Denkens mit den vormodernen Ursprüngen sowie dessen gleichzeitige Losgelöstheit angemessen verstehen zu können. Die Bezugnahme des Menschen auf die Wahrheit bildet das Zen­trum der religiösen und philosophischen Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug. Wie der erste Teil dieser Arbeit gezeigt hat, erfährt in dieser Vorstellungswelt der Mensch über die Wahrheit die göttliche Geordnetheit der Welt. Mit der Wahrheit gelangt er über die Unbeständigkeit der sinnlich gegebenen Wirklichkeit hinaus zur göttlichen Vollkommenheit. Die wahre Einsicht in die Zusammenhänge der Welt weist den Weg zu einer gelingenden Existenz. Der Mensch bringt durch eine Existenzweise, die sich in geistigen Übungen vollzieht, die Wahrheit in sich selbst zur Entfaltung. In diesem Sinne bildet in den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Vergangenheit die Wahrheit das Sinnfundament des menschlichen Existierens.390 Hierbei lässt sich durchaus feststellen, dass die heutige Zeit die Fixierung auf die Wahrheit mit den Sinnentwürfen der Vergangenheit teilt – selbstverständlich muss dabei aber berücksichtigt werden, dass die Wahrheit selbst ganz unterschiedlich aufgefasst wird. Aber in einer formalen Hinsicht verbindet dennoch das Streben nach Wahrheit die heute vorherrschenden, durch die wissenschaftliche Weltsicht bestimmten Denkweisen mit deren kulturellen Ursprüngen. Insbesondere im Christentum spielt die Bezugnahme auf Wahrheit eine zentrale Rolle: In der christlichen Vorstellungswelt offenbart sich dem Menschen durch den transzendenten Gott der Unterschied zwischen dem bloß irdischen Schein und dem wahren, göttlichen Sein.391 Für Nietzsche ist dies deswegen in einer besonderen Weise relevant, weil nach ihm die neuzeitliche Wissenschaft selbst aus einer im Christentum angelegten Haltung des unbedingten Wissenwollens hervorgegangen ist. Nach Nietzsche kann die Haltung eines radikalen Strebens nach der Wahrheit um jeden Preis nicht einfach aus Nützlichkeitserwägungen erwachsen, weil die Wahrheit dem Menschen schlicht nicht immer von Nutzen ist. Die Wahrheit der Wissenschaft kann zuweilen grausam, lähmend Friedrich Nietzsche  |  191

und bitter sein, wohingegen die Unwahrheit mitunter sehr nützliche Konsequenzen mit sich zu bringen vermag. An die prinzipielle und letzten Endes positive Kraft der Wahrheit muss der Mensch glauben, damit er radikal und rückhaltlos nach ihr streben kann: [W]oher dürfte dann die Wissenschaft ihren unbedingten Glauben, ihre Ueberzeugung nehmen, auf dem sie ruht, dass Wahrheit wichtiger sei als irgend ein andres Ding, auch als jede andre Ueberzeugung? Eben diese Ueberzeugung könnte nicht entstanden sein, wenn Wahrheit und Unwahrheit sich beide fortwährend als nützlich bezeigten: wie es der Fall ist. Also – kann der Glaube an die Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar da ist, nicht aus einem solchen Nützlichkeits-Calcul seinen Ursprung genommen haben, sondern vielmehr trotzdem, dass ihm die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des »Willens zur Wahrheit«, der »Wahrheit um jeden Preis« fortwährend bewiesen wird. […] Folglich bedeutet »Wille zur Wahrheit« […] »ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht«: – und hiermit sind wir auf dem Boden der Moral.392

Der rückhaltlose Glaube an die Wahrheit zeichnet sich nach Nietzsche durch eine Lebensfeindlichkeit aus, er entspringt gerade nicht aus lebenspragmatischen Haltungen, da auch die lebensdienliche Unwahrheit abzulehnen ist. Der verabsolutierte Glaube an die Wahrheit entstammt vielmehr der meta­phy­sischen, diesseitsverneinenden Haltung der überlieferten Sinnentwürfe: Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht da­ mit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese »andere Welt« bejaht, wie? muss er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsere Welt – verneinen? … Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein meta­phy­sischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, – dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist …393

Der Glaube, der die moderne Wissenschaft befeuert, ist für Nietzsche im Prinzip der gleiche Glaube, der bereits das Christentum und auch schon das Denken Platons befeuert hat. In dieser Sicht192  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

weise zeichnet sich die neuzeitliche Wissenschaft durch eine direkte Kontinuität zu den Sinnentwürfen der kulturellen Überlieferung aus. Doch kann aus einer gewissen Ähnlichkeit von grundlegenden Motiven überzeugend auf die Genese von geistesgeschichtlichen Strömungen geschlossen werden? Nietzsche zieht diesen Schluss – nach ihm erwächst der Drang zum Wissen um jeden Preis aus Motiven des Christentums und verbindet sich mit anderen, historisch kontingenten Aspekten derart, dass sich in der frühen Neuzeit die moderne Wissenschaft herausbilden kann. Für sich genommen wäre Nietzsches Argumentation für das, was er damit belegen will, zu dürftig. Karl Jaspers hat die Argumente Nietzsches in einer interessanten und fruchtbaren Weise systematisiert und erweitert und dadurch ihre Plausibilität gesteigert.394 Ein Blick auf die Gedanken von Jaspers ist in diesem Zusammenhang aufschlussreicher als eine Analyse neuerer Literatur zu Nietzsche, da sich Jaspers in einer überzeugenden Weise genau auf die existentiell relevanten Aspekte des radikalisierten Wissenwollens fokussiert, die für die vorliegende Untersuchung des Umgangs mit der Sinnfrage in der Moderne entscheidend sind. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass dem Drang zum radikalen Wissenwollen Motive zugrunde liegen, die sich, zumindest näherungsweise, einzeln identifizieren und beschreiben lassen. Das erste von Jaspers erwähnte Motiv betrifft die Reichweite des menschlichen Interesses, die eine entscheidende Ausweitung erfährt. Im Christentum ist der Bereich des Wissenswerten umfassend auf alles Seiende, sei es noch so gering, hässlich oder bedeutungslos, ausgedehnt, insofern alles in der Welt als ein Teil der Schöpfung Gottes betrachtet wird.395 Dem Seienden in der Welt begegnet der Mensch in der Liebe zu dem von Gott Geschaffenen. Jedoch wird das Seiende in der Welt als eine nachgelagerte Stufe zu dem eigentlichem Sein, der jenseitigen, außerweltlichen, göttlichen Wirklichkeit, aufgefasst, die dem Menschen in der Welt nur unvollkommen begreiflich ist, die aber dennoch das Streben und Denken des Menschen herausfordert, weil zwischen der Güte Gottes und der Schlechtigkeit der Welt ein fundamentaler Widerspruch besteht, der die Rechtfertigung Gottes verlangt und der »zu einem Ringen um die wahre Gottheit im Wissen um die Weltwirklichkeit« führt.396 An Gott kann nach Jaspers nur wahrhaft geglaubt Friedrich Nietzsche  |  193

werden, wenn die ganze von Gott geschaffene Welt in unbegrenztem Ausmaß als gute und göttliche Wirklichkeit aufgefasst und geliebt werden kann. Hierzu sind das schrankenlose Erkennen der Welt und zugleich die absolute Lauterkeit des Erkennenden gefordert, dem das Göttliche nur in Freiheit von Irrtum, Lüge, Illusion und Verschleierung zugänglich ist. In einem radikalisierten Zusammentreffen dieser Motive – der unbedingten Liebe zu allem Seienden, dem kognitiven Ringen um das Gottesbild und dem absoluten Wahrheitsanspruch, der die Wahrhaftigkeit des Erkennenden wesenhaft einschließt – entsteht, unter bestimmten sozialen Bedingungen, in einer historisch kontingenten Entwicklung die neuzeitliche Wissenschaft: Daher ist diese Wissenschaft keineswegs schon mit dem Christentum entstanden, auch nicht etwa schon mit dem Eintritt der nordischen Völker in die Geschichte, sondern erst in einer geistigen Constellation, in der die verschiedenen Motive zusammentrafen in einer Verwicklung, die sie aufeinander wirken ließ. Das geschah nach einer langen Zucht des Denkens unter den hinzukommenden Bedingungen materieller Art und persönlicher Veranlagung seit dem 14. Jahrhundert in der Zeit, als der Glaube schwankend wurde, ohne als Kraft schon gelähmt zu sein. Gerade aus der damals sich vollziehenden letzten Vertiefung der christlichen Antriebe in Folge des spannungsreichen Ringens im Innersten der Seele entfaltete sich die Wissenschaft.397

Jaspers interpretiert hier in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche die neuzeitliche Wissenschaft als ein Ringen des Menschen mit den überlieferten meta­phy­sisch-religiösen Sinnvorstellungen, wobei die inneren Motive dieser Traditionslinie selbst das Ringen in Gang setzen. Interessant ist Jaspers’ Hinweis auf die Tatsache, dass sich die Wissenschaft in einer Zeit herausbildete, in der der christliche Glaube schwankte, aber immer noch lebendig war. So konnte am Anfang der Entwicklung die Haltung der Wissenschaftlichkeit noch relativ pro­blemlos mit einer tief empfundenen Frömmigkeit einhergehen. Zu den angesprochenen historischen Kontingenzen gehören ganz unterschiedliche Umstände. In der frühen Neuzeit verbanden sich akademische Gelehrsamkeit und handwerkliche Empirie im Zusammentreffen verschiedener sozialer Strömungen. Der Humanismus als eine Bewegung zur Wiederaneignung der Kultur­inhalte 194  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

der Antike war weltlicher Bildung gegenüber aufgeschlossen und traf auf die Herausbildung des Frühkapitalismus. Es entstand ein Denken und Handeln, das sich weder auf das Religiöse noch auf das Militärische beschränkt sah, das technischen Neuerungen und geistigen Umwälzungen gegenüber aufgeschlossen war, das die Gebundenheit und Geborgenheit des Mittelalters durch individualistischen Wettbewerb und kritische Hinterfragung von Phänomenen ersetzte und sich wesenhaft durch Rationalität und Methodik auszeichnete. Das Verhältnis zur kulturellen Überlieferung war sowohl durch Kontinuitäten als auch durch Brüche gekennzeichnet. Das methodische Argumentieren nach systematischen Gesetzmäßigkeiten der aristotelischen Logik, mit der Euklid’schen Geometrie als Paradebeispiel eines wissenschaftlichen Systems aus gesetzten Definitio­nen, evidenten Axiomen und argumentativ abgeleiteten Theoremen, wurde von der Antike übernommen, aber dabei in den Dienst der zentralen Neuerung des Experiments gestellt. Die systematische Erforschung der Natur über die menschlichen Sinne, mit Hilfe von menschengemachten Apparaten und anhand von technisch erzeugten Phänomenen, war eine entscheidende Neuerung. Die antike Trennung zwischen natürlichen und künstlichen Vorgängen wurde zugunsten der Erkenntnis fallengelassen, dass jeder beobachtbare Prozess gleich natürlich ist, ungeachtet der Frage, ob er vom Menschen initiiert wurde oder nicht. Handwerkliche Tätigkeiten wurden nicht mehr, wie bei den alten Griechen, als Sklavenarbeit abgewertet, sondern als notwendiger Bestandteil der Forschung betrachtet. Der Mensch sah sich in der Lage, die Vorgänge in der Welt zu erkennen und zu erklären, er war außerdem bereit, sich die gewonnenen Erkenntnisse aktiv für das irdische Leben zunutze zu machen. Die Verschmelzung akademischer Gelehrsamkeit mit handwerklicher Empirie verkörperten insbesondere die Künstler-Ingenieure der Renaissance wie Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer sowie die ersten Naturwissenschaftler wie Galileo Galilei.398 Auf diesem Boden entsteht die neuzeitliche Wissenschaft. Hierbei ist es wichtig zu bemerken, dass im Ursprung die Wissenschaft keine isolierte menschliche Tätigkeit unter vielen, sondern eine den ganzen Menschen umfassende existentielle Haltung darstellt. Auch und gerade Nietzsche und Jaspers reduzieren WissenschaftFriedrich Nietzsche  |  195

lichkeit nicht auf ein soziales Phänomen, das rein funktional erklärt werden könnte, sie interpretieren sie als ein persönliches existentielles Bedürfnis von menschlichen Individuen. Jaspers drückt dies wie folgt aus: Der christlichen Welt eigentümlich ist die geschichtlich nur in ihr erwachsene Weite des Wissenwollens, diese Unerbittlichkeit des Wahrheitssuchens, das in der Wissenschaft sich auswirkt. Die Tatsache ist nicht zu bestreiten, daß diese Wissenschaft in ihrer Universalität, in ihrer Grenzenlosigkeit und in der Weise ihrer Einheit nur im Abendland und nur auf christlichem Boden entstanden ist. Nur hier gab es – wenigstens in einzelnen Menschen – den Geist der Wissenschaftlichkeit als ein alles Bewußtsein und Tun durchdringendes Medium.399

Die Wissenschaftlichkeit entspringt in der frühen Neuzeit direkt aus einer existentiellen Haltung des Christentums: dem Drang zum unbedingten Wissenwollen. Wie plausibel ist die Argumentation von Nietzsche und Jaspers für diese These? Tatsache ist, dass die moderne Wissenschaft im frühneuzeitlichen Abendland entstanden ist. Unbestreitbar sind auch die Bezüge der frühen Wissenschaft zur Traditionslinie des Abendlandes, die durch die christliche und jüdische Religion und die antike Philosophie bestimmt wird. Tatsache ist auch, dass der neuzeitlichen Wissenschaft neben ihrem Herrschaftsmotiv in gleicher Weise auch ein Erkenntnismotiv zugrunde liegt: Die neuzeitliche Wissenschaft mit dem unbedingten Drang zum Wissen ist nach dem Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Büchel in einer historisch kontingenten Situation »aus dem philosophisch-spekulativen Verlangen nach Selbst- und Weltverständnis und aus dem praktisch-technischen Interesse der Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse« entstanden. 400 Dieses weitreichende Verlangen nach einem Selbst- und Weltverständnis teilt die Wissenschaft zweifellos mit den vorneuzeitlichen meta­phy­sischen Sinnentwürfen. Bei den frühen Protagonisten geht zudem die Haltung der Wissenschaftlichkeit mit einer tief empfundenen religiösen Frömmigkeit einher. So wie bei dem Renaissancedenker Pico della Mirandola Altes und Neues eng miteinander verbunden sind, 401 so besteht auch bei den frühen Wissenschaftlern der Renaissance ein enger Zusammenhang zwischen ihrer tradi­tionsgebundenen Frömmigkeit und ihrer Haltung der Wis196  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

senschaftlichkeit.402 Daher ist die These einer Kontinuität zwischen den Motiven von Wissenschaftlichkeit und den Grund­motiven der tradierten philosophisch-religiösen Sinnentwürfe durchaus plausibel, und auch die historischen Entwicklungen sprechen dem nicht entgegen. Einhergehend mit dem Drang zum Wissen und zur Wahrheit existiert in den antiken meta­phy­sischen Sinnentwürfen und insbesondere im Christentum der Wert der Wahrhaftigkeit. Dieser Wert bildet in einer abgründigen Weise ebenfalls eine Kontinuität zur Moderne. Aus dieser Kontinuität heraus entfaltet sich eine besondere destruktive Kraft, bei der Motive, die den Sinnentwürfen der Vergangenheit entspringen, sich grundlegend gegen eben diese wenden. Auf welche Weise dies geschieht, zeigt sich mit einer besonderen Deutlichkeit in der Philosophie Nietzsches. Einer der vehementesten Kritikpunkte Nietzsches am Christentum ist seine Fundamentalkritik an der strukturellen Verlogen­heit des Christentums, die er in seiner berühmt-berüchtigten Ressentiment-These formuliert. Nietzsche sieht das Christentum durch eine grundlegende Diskrepanz, durch einen strukturellen inneren Widerspruch zwischen den propagierten Werten und den dahinterstehenden unbewussten Motiven charakterisiert. Die christlichen Wertsetzungen haben nach Nietzsche ihren Ursprung in unbewussten Motiven, die diesen Wertsetzungen genau entgegenstehen. Diese unbewussten Motive sind nach Nietzsche die Motive des Ressentiments.403 Nietzsche interpretiert die Geschichte des Christentums als eine Folge des Ressentiments, wobei das Ressentiment von ihm als psychische Grundhaltung behandelt wird, die sich einerseits bei menschlichen Individuen beobachten lässt, andererseits aber auch zum zentralen Antrieb von kollektiven sozia­len Entwicklungen werden kann. Unter Ressentiment versteht er den Willen und das Streben zur Macht aus der Position der Schwäche und Ohnmacht heraus. Eine hiervon bestimmte Existenz wird durch Motive wie Hass, Neid, Missgunst, Argwohn und Rache geleitet. In Nietzsches Interpretation des Christentums geht die christliche Wertsetzung, die Partei ergreift für die Schwachen und Ausgestoßenen, aus ganz und gar unchristlichen Motiven hervor: Die christliche Existenz als eine schwache Existenz, der Reichtum, Schönheit, Glück und Macht versagt sind, trachtet danach, diese Schwäche zu Friedrich Nietzsche  |  197

überwinden, indem sie durch eine Umwertung ihre Schwäche als eigentliche Stärke definiert. Nietzsche sieht hinter dieser Bewegung ein verschleiertes Streben nach Macht und eigener Stärke am Werk. Er sieht seine These insbesondere bei Paulus belegt.404 Ob diese Beschreibung das Christentum angemessen charakterisiert, kann bezweifelt werden – was jedoch beim Christentum sofort ins Auge fällt, ist die große Diskrepanz zwischen den Werten des Christentums und den faktischen Handlungen der Christen: Auf der einen Seite werden Nächsten- und Feindesliebe, Demut und Duldsamkeit als Werte hochgehalten, auf der anderen Seite ist über den ganzen Verlauf der Geschichte im Christentum die Gewalt im Namen Gottes allgegenwärtig.405 Diese Gewalt wird nicht nur von zynischen Schurken, 406 sondern auch von tiefgläubigen Menschen mit scheinbar besten Absichten begangen oder propagiert.407 Dabei ist das unchristliche Handeln der Christen von Christen zwar reflektiert, jedoch nie dauerhaft überwunden worden. Es ist daher naheliegend anzunehmen, dass der Widerspruch zwischen christlichen Werten und christlichem Handeln nicht allein in einer Verfehlung von Werten durch unvollkommene Menschen liegen kann, sondern tiefere Ursachen haben müsse. Und hierbei ist Nietzsches Herangehensweise durchaus fruchtbar, insofern er auf das Walten von unbewussten und verdrängten Motiven hinweist, die ein Verhalten erklären können, das, oberflächlich betrachtet, durch einen offensichtlichen Widerspruch gekennzeichnet ist: Der »Christ«, das, was seit zwei Jahrtausenden Christ heisst, ist bloß ein psychologisches Selbst-Missverständniss. Genauer zugesehn, herrschten in ihm, trotz allem »Glauben«, bloß die Instinkte – und was für Instinkte! – Der »Glaube« war zu allen Zeiten, beispielsweise bei Luther, nur ein Mantel, ein Vorwand, ein Vorhang, hinter dem die Instinkte ihr Spiel spielten –, eine kluge Blindheit über die Herrschaft gewisser Instinkte … Der »Glaube« – ich nannte ihn schon die eigentliche christliche Klugheit, – man sprach immer vom »Glauben«, man that immer nur vom Instinkte …408

Die Freud’sche Psychoanalyse wird insbesondere an solchen Stellen von Nietzsche vorweggenommen. Was Nietzsche dabei am Christentum kritisiert, ist dessen Verlogenheit – das Propagieren von Werten auf Grundlage von uneingestandenen, verschleierten Motiven, die offen eingestanden unannehmbar wären. Dies ist nach 198  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Nietzsche als Unwahrhaftigkeit abzulehnen. Das Entscheidende hierbei ist jedoch, dass Nietzsche den Wert der Wahrhaftigkeit nicht von außen an das Christentum heranträgt. Es ist das Christentum selbst, das diesen Wert hervorbringt. In einer scheinbar paradoxen Weise wendet sich eine Haltung genau gegen sich selbst. Doch inwiefern bildet die Wahrhaftigkeit einen genuin christlichen Wert? Die Wahrhaftigkeit als bestimmender Wert des Christentums, verkörpert in der biblischen Beschreibung des Leben Jesu, wird im Neuen Testament explizit in Abgrenzung zu falsch verstandener jüdischer Gesetzgläubigkeit formuliert, so zum Beispiel im Matthä­usevangelium: Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln; denn sie sagen’s zwar, tun’s aber nicht. […] Ihr verblendeten Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier! Du blinder Pharisäer, reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch das Äußere rein wird! […] So auch ihr: von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, aber innen seid ihr voller Heuchelei und Unrecht.409

Diese Abgrenzung ist eher eine erkünstelte, da Wahrhaftigkeit als Wert bereits im Judentum fest verankert ist410 und weil das Gegenteil der Wahrhaftigkeit, die neutestamentarisch gegeißelte Heuchelei, sehr schnell zu einem charakteristischen Wesenszug des gelebten Christentums geworden ist. Aber die Bedeutung dieses Wertes kann nicht unterschätzt werden. Denn das christliche Streben nach Wahrhaftigkeit richtet sich explizit auch auf Selbsttäuschung und Selbstbetrug: Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!411

Ein lauteres Auge kann hier als Metapher für unverschleierte, ein böses Auge als Metapher für verschleierte Motive aufgefasst werden. Der Zustand der Verblendung als Selbst- und Fremdbetrug, hier als Finsternis begriffen, ist das Gegenteil einer Wahrheit, wie Friedrich Nietzsche  |  199

sie insbesondere im Johannesevangelium im existentiellen Sinne als eine neue, erhellte Lebenswirklichkeit entwickelt wird. Wahrheit im christlichen Sinne ist die durch das »göttliche Licht« überwundene Finsternis der Illusion über sich selbst, sie wird als die Eröffnung der Möglichkeit, das vom Christentum nicht angetastete jüdische Gesetz wahrhaftig erfüllen zu können, begriffen. Das Leben Jesu ist für den Christen die menschliche Inkarnation dieser Wahrheit und genau dadurch der Weg zur gelingenden Existenz.412 Der katholische Theologe Hans Küng beschreibt die Rolle der Wahrhaftigkeit in der christlichen Religion ähnlich wie Nietzsche und auch Jaspers: Das ist die große Botschaft Jesu, und sie sollte ihm rasch zahlreiche Feinde verschaffen. Denn sie war gerade durch ihre positive Forderung eines wahrhaftigen Menschseins vor Gott ein leidenschaftlicher Protest gegen des Menschen Unwahrhaftigkeit […] Jesu Protest ist ein Protest nicht nur gegen die Lüge im Sinne kasuistischer Moraltheologie, sondern gegen alles das, was die Evangelien »Heuchelei« nennen[: …] jedes heuchlerische Sichverstellen, sein wahres Wesen, Sinnen und Denken Verstellen und sich unter einer Maske Aufführen und Darstellen: vor Gott, vor den Menschen, vor sich selbst.413

Dieser christlich-jüdische Wert der Wahrhaftigkeit, wirkungsmächtig entwickelt an zentralen Stellen des Alten und Neuen Testa­ mentes und radikalisiert insbesondere im Protestantismus, ist ein Wert, an dem die Moderne selbst nach einer Abwendung von der Religion festgehalten hat. Küng sieht zu Recht, aus einer katholischen Perspektive, gerade im Streben nach Wahrhaftigkeit einen entscheidenden Wesenszug der heutigen Zeit: Aber nicht nur Literatur, Künste und Wissenschaften des 20. Jahrhunderts, auch das Verhalten der Menschen im Alltag ist durch den Drang zu einer neuen Wahrhaftigkeit gekennzeichnet, die manche Heucheleien des viktorianischen und wilhelminischen Zeitalters abgestreift hat. Die Menschen von heute, es mag einem gefallen oder nicht, verzeihen fast alle Sünden, wenn sie wenigstens aus einer ehrlichen Überzeugung heraus getan wurden. Sie fühlen ein instinktives Mißtrauen gegenüber allen großen und schönen Worten, gegenüber allem Phrasenhaften und Pompösen, gegenüber allem, was irgendwie nach Kitsch, Fassade und Staffage, nach Unechtheit in Rede, Kleidung und Lebensstil riecht. Sie akzeptieren keine Autorität mehr nur we200  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

gen ihrer formalen Autorität, die nur beansprucht, Autorität zu sein, hinter deren Titel oder Stellung aber keine innere Autorität sichtbar wird; sie akzeptieren nur die Autorität, die sich durch ihre sachliche Kompetenz in ihrem Tun und Handeln als Autorität erweist, bei der sich Äußeres und Inneres decken. […] Ja, es ist keine Übertreibung: das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch ein Pathos der Wahrhaftigkeit.414

In der Tugend der Wahrhaftigkeit besteht eine ungebrochene Kontinuität zwischen den überlieferten Sinnentwürfen und der Moderne. Doch wie hängt die Haltung der Wahrhaftigkeit mit dem Streben nach Wahrheit zusammen? Wahrhaftigkeit in einem engeren Sinne bedeutet als äußere Wahrhaftigkeit die Übereinstimmung der eigenen Überzeugungen mit den eigenen Aussagen sowie als innere Wahrhaftigkeit die Bereitschaft, sich ehrlich und selbstkritisch mit den eigenen Motiven auseinanderzusetzen.415 Derart eng verstanden umfasst Wahrhaftigkeit zwar Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit gegenüber anderen und sich selbst, beinhaltet jedoch nicht das Bestreben, das menschliche Denken von Willkür, Inkonsequenz und insbesondere Irrtum zu befreien.416 Erst wenn Wahrhaftigkeit im weitesten Sinne als das Bestreben, Selbst- und Fremdtäuschung in jeglicher Form zu überwinden verstanden wird, erstreckt sich das Streben nach Wahrhaftigkeit zugleich auch auf das Streben nach Wahrheit in der Haltung der intellektuellen Redlichkeit. Diese Haltung richtet sich nicht nur gegen Dummheit oder Unwissenheit, sondern vor allem auch gegen Positio­nen, bei denen durch eine unsaubere, selektive oder falsche Argumentation uneingestandene und uneingestehbare Motive verschleiert werden. Ein Mensch, der die Autorität der vernünftigen Begründung anerkennt, kann am Wert der Wahrhaftigkeit nur dann festhalten, wenn er mit intellektueller Redlichkeit einhergeht. Intellektuelle Redlichkeit ist das Bestreben, als Maßstab für Begründungen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern die überindividuelle und überparteiliche, objektivierte Wahrheit, die den eigenen Bedürfnissen nicht notwendigerweise entgegenkommen muss, anzuerkennen. Eine solche Haltung setzt sich zum Ziel, vorbehaltlos die Wahrheit gelten und den Irrtum fallenzulassen – insbesondere dann, wenn das Anerkennen der Wahrheit oder das Friedrich Nietzsche  |  201

Fallenlassen des Irrtums unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Intellektuell unredlich wäre demnach jede Position, bei der »ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch« mit »hinterher gesuchten Gründen vertheidigt wird«.417 Wenn ein Mensch grundsätzlich anerkennt, dass zu einer Argumentation mit dem Anspruch auf Objektivität die Unabhängigkeit von persönlichen Motiven gehört, aber die Motivbestimmtheit der eigenen Argumentation ausblendet und verdrängt, obwohl seine intellektuellen Fähigkeiten diese Verschleierung aufheben könnten, ist er nicht nur intellektuell unredlich, sondern zugleich auch unwahrhaftig. Intellektuelle Redlichkeit ist die Übertragung des Wertes der Wahrhaftigkeit auf den Bereich des Denkens und Argumentierens. In ihr liegt die Bemühung, die Positio­nen des Denkens von Lüge und Wunschdenken jeglicher Form zu bereinigen. Genau hier liegt der Moment, wo die Werte und Haltungen, die aus den Sinnentwürfen der Vergangenheit entspringen, sich gegen ihren Ursprung selbst wenden. Das unbedingte Streben nach Wahrheit und die existentiellen Haltungen der Wahrhaftigkeit und der intellektuellen Redlichkeit mögen zwar aus der Denkwelt der überlieferten Sinnentwürfe entstanden sein, sie sind aber keineswegs an die ursprünglichen Denkinhalte gebunden. Insbesondere besteht keinerlei Abhängigkeit von den Sinnvorstellungen, die im ersten Teil dieser Arbeit als Fundamente der Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug herausgearbeitet wurden. Ein Mensch kann nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit und intellektueller Redlichkeit streben, auch wenn er nicht an einen sinnvoll geordneten Kosmos, an die Zielhaftigkeit des Werdens oder an eine, wie auch immer geartete, jenseitige Wirklichkeit glaubt. Unter den Bedingungen der Moderne fällt es zunehmend schwerer, an den tradierten Sinnvorstellungen festzuhalten – insbesondere vor dem Hintergrund der Weltsicht der neuzeitlichen Wissenschaft und ihrer einzelnen Erkenntnisse. Es wird immer pro­blematischer, in einer intellektuell redlichen Weise, ohne sich etwas vorzumachen, die überlieferten Sinnvorstellungen aufrechtzuerhalten. Gerade in der Philosophie Nietzsches zeigt sich die Aufforderung der Moderne, mit den tradierten meta­phy­sischen Sinnvorstellungen zu brechen, um in einer wahrhaftigen und intellektuell redlichen Weise unter dem Einfluss der Wahrheit bleiben zu können. Zur modernen Herausforderung, 202  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

mit der Sinn­erfülltheit der überlieferten Weltsichten zu brechen, gehört auch die Notwendigkeit, die schmerzhaften Konsequenzen dieses Bruches auszuhalten und beim Streben nach Wahrheit keinerlei Rücksichten auf die eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse zu nehmen, um stattdessen der teilweise unbequemen, existentiell unbefriedigenden Wahrheit in einer intellektuell redlichen Weise standzuhalten. Die Paradoxie bei diesem Bruch liegt darin, dass zentrale Werte der zurückgewiesenen Sinnentwürfe in einer radikalisierten Weise weitergeführt und vertieft werden. Dies zeigt sich in der Philosophie Nietzsches deutlicher als bei jedem anderen Denker der Moderne. Nietzsche hält am Wert der »Wahrhaftigkeit als oberste Tugend«418 explizit und sehr entschieden fest – insbesondere in seiner säkularisierten Variante der intellektuellen Redlichkeit: »Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt, – unsere Redlichkeit!«419 Ihm ist sehr bewusst, dass er sich damit von grundlegenden Sinnvorstellungen verabschieden muss, und zugleich ist ihm bewusst, dass er mit seiner Haltung genau die Traditions­linie, gegen die er sich wendet, fortführt und weiterentwickelt.420 Die Loslösung von den Sinnentwürfen der Vergangenheit verläuft alles andere als reibungslos. Die Pro­bleme entstehen, wenn bestimmte Vorstellungen oder Wertungen beibehalten werden, aber ihr Fundament ausgewechselt wird. An dieser Stelle ist die weiter oben eingeführte Unterscheidung zwischen den onto­ logischen und den zielsetzenden Dimensionen von Sinnentwürfen entscheidend.421 Wie bereits erwähnt, zeichnet sich die Situation der Moderne dadurch aus, dass die Sinnvorstellungen auf eine andere onto­logische Basis gestellt werden als in den Sinnentwürfen der Antike und des Mittelalters. Die Ontologie der Moderne wird durch die neuzeitliche Wissenschaft geprägt: Der Blickwinkel der Wissenschaft bestimmt, was das Seiende als Seiendes und was den Menschen als Menschen ausmacht. Das Seiende im Allgemeinen und der Mensch im Besonderen konstituieren sich nicht dadurch, dass sie sich in die göttliche Weltordnung einfügen, und auch nicht dadurch, dass sie durch ihre Entwicklungen und Veränderungen in der Welt göttliche Pläne realisieren. Das Seiende konstituiert sich durch seine Einbettung in die kausalen, naturgesetzlich bestimmten und wissenschaftlich erforschbaren Zusammenhänge der sinnFriedrich Nietzsche  |  203

lich gegebenen Wirklichkeit. Der Drang zur Wahrheit und zur intellektuellen Redlichkeit erzeugt einen Druck, die Vorgänge in der Welt so weit wie möglich auf wissenschaftliche Zusammenhänge zurückzubeziehen und jeden Rückgriff auf Vorstellungen wie göttliche Absichten, Wunder, schicksalhafte Fügungen und ähnliches zu vermeiden. Positionierungen, die den Verdacht erregen, aus dem Wunschdenken des Menschen zu entspringen, werden auf eine prinzipielle Weise abgelehnt. Aus all dem entsteht eine für die Moderne charakteristische Haltung als tiefes, inneres Bedürfnis des Menschen. Jedoch geht mit der veränderten Ontologie zunächst keine passende neue existentielle Zielsetzung einher. Daraus entsteht die für die Moderne gar nicht fremde Möglichkeit eines einstweiligen Verbleibens bei den überlieferten Sinnvorstellungen. In der frühen Neuzeit gingen führende Denker noch davon aus, dass die neue Ontologie die tradierten Zielvorstellungen besser stützen könnte als die ursprüngliche Ontologie.422 Aber im Verlauf der Neuzeit und der Moderne entfaltet sich die Erkenntnis, dass die neue Onto­ logie, die sich auf die wissenschaftliche Denkweise gründet, mit den tradierten Vorstellungen des guten Lebens nicht harmoniert. In den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der antiken Traditions­ linie wird das gute Leben als eine Befreiung von der wechselhaften und unbeständigen sinnlich gegebenen Wirklichkeit interpretiert. Diese Diesseitsabwertung wird jedoch durch eine wissenschaftliche Onto­logie prinzipiell unterhöhlt. Eine derartige Abwendung von der sinnlich gegebenen Wirklichkeit wird zunehmend unmöglich, da kaum noch ein onto­logischer Ort jenseits des irdischen Werdens mehr vorstellbar ist, an dem die tradierten Vorstellungen des guten Lebens verankern werden könnten. Das Festhalten an diesen Zielvorstellungen wird dann zu einem gravierenden Pro­blem. Der Zustand, der sich ergibt, wenn der Mensch an den tradierten meta­phy­sischen Vorstellungen des guten Lebens auf der Grundlage der modernen Ontologie festhalten möchte, bezeichnet Nietzsche als Nihilismus. Nach Nietzsche läuft das Pro­blem auf Folgendes hinaus: Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie 204  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

existirt nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn […].423

Der Nihilismus als Zustand gefühlter Sinnlosigkeit ergibt sich, wenn der Mensch nur die Unbeständigkeit des Diesseits als real betrachtet, aber das Gelingen seiner Existenz in der Überwindung dieser Unbeständigkeit sieht. Die Vorstellung der gelingenden Existenz verliert so ihr Fundament und bekommt einen irrealen, illusionären Charakter. Die sinnlich gegebene Wirklichkeit als einzige Wirklichkeit begegnet dem Menschen als etwas Minderwertiges – und das, was er als wertvoll erachtet, entpuppt sich als etwas Unwirkliches. Der Nihilismus ist ein Zustand der »Werthlosigkeit« und »Sinnlosigkeit«, der sich ergibt, wenn die wichtigsten Überzeugungen des Menschen – die Vorstellungen, wie er sein Leben führen soll, damit er es als ein gutes Leben erfahren kann – ihre Grundlage verlieren und sich entwerten, weil der Mensch nicht mehr in einer intellektuell redlichen Weise an ihnen festhalten kann, obwohl er das gerne tun würde: Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, 〈 handelt 〉, hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das »göttlich«, das leibhafte Moral sei. Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«: somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral.424

Nach Nietzsche können die tradierten Vorstellungen über das gute Leben vor dem Hintergrund der modernen Vorstellungen über die Welt nicht mehr aufrechterhalten werden. Es schält sich die Erkenntnis heraus, dass die tradierten Sinnvorstellungen aus einem Leiden an der Unbeständigkeit der Welt hervorgegangen sind425 und dass die dazugehörige Ontologie auf menschlichen Wunschvorstellungen beruht: Diese Welt ist scheinbar – folglich giebt es eine wahre Welt. Diese Welt ist bedingt – folglich giebt es eine unbedingte Welt. Diese Welt ist widerspruchsvoll – folglich giebt es eine widerspruchslose Welt. Diese Welt ist werdend – folglich giebt es eine seiende Welt. Lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein). Zu diesen Schlüssen inspirirt das Lei­ Friedrich Nietzsche  |  205

den: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginirt wird, eine werthvolle: das Ressentiment der Meta­phy­siker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch.426

Aus dem modernen Streben nach Wahrhaftigkeit und intellektueller Redlichkeit erwächst die Forderung, die Ontologie der vergangenen Sinnentwürfe zurückzuweisen. Dies ist auch pro­blemlos erfüllbar, da das moderne Denken in der neuzeitlichen Wissenschaft eine sehr mächtige onto­logische Grundlage gefunden hat. Das Pro­blem liegt vielmehr darin, dass mit der wegfallenden Onto­ logie auch viele tradierte Vorstellungen des guten Lebens wegzufallen drohen, da sie nicht mehr zu der modernen Ontologie passen. Diesseitsverneinende Konzepte des guten Lebens harmonieren nicht mit einer radikal diesseitigen Ontologie. Der Wunsch, dennoch an diesen tradierten Zielvorstellungen festzuhalten, führt zu einem »Rückschlag von ›Gott ist die Wahrheit‹ in den fanatischen Glauben ›Alles ist falsch‹«.427 Dieser Wunsch führt geradewegs in den Nihilismus, in die erlebte und erlittene Sinnlosigkeit. Aus dieser Konstellation heraus entsteht die moderne Forderung, neben der überlieferten und obsolet gewordenen Ontologie auch die tradierten Vorstellungen des guten Lebens aufzugeben. Nach Nietzsche besteht in der Moderne die Aufforderung, von jeglicher Diesseitsabwertung Abstand zu nehmen und die Vorstellungen des guten Lebens rückhaltlos im diesseitigen Werden, in der wechselhaften und unbeständigen sinnlich gegebenen Wirklichkeit zu verankern: Der Mensch sucht »die Wahrheit«: eine Welt, die nicht sich widerspricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt – eine Welt, in der man nicht leidet. Widerspruch, Täuschung, Wechsel – Ursachen des Leidens! […] Woher nimmt hier der Mensch den Begriff der Rea­ lität? – Warum leitet er gerade das Leiden von Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück?428

Im Zusammenhang mit der Ontologie stellt die Selbstbeschränkung des Menschen auf die diesseitige, sinnlich gegebene Wirklichkeit kein Pro­blem dar. Die neuzeitliche Wissenschaft vollzieht diese Beschränkung sehr erfolgreich, und auch ohne eine Bezugnahme auf eine beständige Welt hinter der sinnlich gegebenen 206  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Wirklichkeit vermag sie es, überindividuell gültige Erkenntnisse mit Wahrheitscharakter zu formulieren: Es liegt ein tiefes und gründliches Glück darin, dass die Wissenschaft Dinge ermittelt, die Stand halten und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittelungen abgeben: – es könnte ja anders sein!429 Herrliche Entdeckung: es ist nicht alles unberechenbar, unbestimmt! Es giebt Gesetze, die über das Maaß des Individuums hinaus wahr bleiben!430

Die Wahrheit der Wissenschaft ist auf eine Beherrschung des Werdens ausgerichtet, sie entsteht durch die Identifizierung von Beständigem als Gesetzmäßigem aus dem mannigfaltigen Fluss der sinnlich gegebenen Phänomene. Dieses Beständige ist keine absolute, endgültige und unhinterfragbare Wahrheit, gewonnen durch einen Zugang zu einer jenseitigen Wirklichkeit. Die neuzeitliche Wissenschaft ist wesenhaft nicht auf die Gewinnung absoluten, ewigen Wissens, aber ebenso wenig auf die willkürliche und beliebige Meinung von menschlichen Individuen angelegt: Wissenschaft hat die methodische Beherrschung des Wissbaren in seiner Relativität zum Ziel.431 Wissenschaftliche Erkenntnisse sind prinzipiell immer widerlegbar. Sie sind gerade deswegen keine ewigen, unantastbaren Wahrheiten, 432 weil der letzte Horizont des wissenschaftlichen Strebens nach Erkenntnis die sinnlich gegebene Wirklichkeit ist. Deswegen ist die Beschränkung auf das diesseitige Werden für eine Ontologie, die auf der wissenschaftlichen Denkweise beruht, kein Pro­blem. Pro­bleme ergeben sich beim Rückbezug der Vorstellungen des guten Lebens auf die sinnlich gegebene Wirklichkeit. Vor dem Hintergrund einer wirkungsmächtigen kulturellen Überlieferung fällt es in der heutigen Situation schwer, sich von der umfassenden Abwertung des unbeständigen Werdens frei zu machen, zumal das ursprüngliche Motiv dieser Abwertung keineswegs weggefallen ist. Die Unbeständigkeit und Vergänglichkeit des Diesseits bringen immer noch Leid mit sich: Auch heute leiden Menschen daran, dass alles, worum sie sich bemühen, irgendwann vergehen muss und dass alles Wertvolle im Leben durch Zerstörung bedroht ist. Auch heute leiden Menschen an Krankheit, Krieg und dem unumgänglichen Sterbenmüssen. Deswegen tragen auch heute Menschen Friedrich Nietzsche  |  207

den Wunsch in sich, diesem Leiden zu entgehen: Das Bestreben, das Glück außerhalb der Unbeständigkeit zu verorten, hat seine Grundlage in den menschlichen Bedürfnissen keineswegs verloren. Jedoch kann aufgrund der veränderten Ontologie die Verortung in einer transzendenten Wirklichkeit, jenseits des irdischen Werdens, nicht mehr mit Wahrheit verknüpft werden. In der Situation der Moderne kann das Streben nach Wahrheit, verbunden mit einem radikalisierten Verständnis von intellektueller Redlichkeit, kaum mit jenseitsbasierenden Vorstellungen des guten Lebens harmonieren. Die existentiellen Zielvorstellungen sind unter den Voraussetzungen der Moderne in der unbeständigen, sinnlich gegebenen Wirklichkeit zu verankern: Menschen müssen es aushalten, dass ihr Glück am gleichen onto­logischen Ort verwurzelt ist wie ihr Leid. In genau diesem Sinne ermahnt Nietzsches Figur des Zarathustra die Menschen, der Erde treu zu bleiben.433 Der Bruch mit den Sinnentwürfen der Vergangenheit wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die neuzeitliche Wissenschaft die tradierten Sinnvorstellungen zwar untergräbt, aber selbst kein ihr strukturell zugehöriges, explizites Konzept des guten Lebens mit sich bringt. Der zerstörenden Kraft der Wissenschaft korrespondiert keine konstruierende Kraft im Bereich der existentiellen Lebensentwürfe. Wie bereits weiter oben im Zusammenhang mit den Thesen Max Webers über die Wissenschaft erwähnt, 434 kann die Wissenschaft die Frage, wie der Mensch leben soll und wie das gute menschliche Leben beschaffen ist, prinzipiell nicht beantworten, weil das außerhalb ihrer Reichweite liegt. Die Wissenschaft kann dem Menschen seine eigene Situation erhellen und ihm insbesondere vor Augen führen, mit welchen Konsequenzen er zu rechnen hat, wenn er sich für eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben entscheidet – aber die Entscheidung selbst kann der Mensch nicht auf der Grundlage des wissenschaftlichen Denkens fällen. Nietzsche selbst zögert, dies als das letzte Wort über die Kraft der Wissenschaft gelten zu lassen. Auch er verweist auf die immensen Leistungen der Wissenschaft bei der Erforschung der verschiedenen Lebensweisen, die der Mensch im Laufe der Geschichte realisiert hat. Hierbei hält er jedoch an der Hoffnung fest, dass eine gründliche wissenschaftliche Erforschung der mannigfaltigen Ausgestaltungen menschlichen Lebens in der Welt – man könnte 208  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

hier von einer Anthropologie im weitesten Sinne sprechen – am Ende die Wissenschaft in die Lage versetzt, Antworten auf die wichtigste Frage überhaupt zu geben: Gesetzt, alle diese Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann – und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen-Bauten noch nicht gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen.435

Für Nietzsche ist es nicht, wie etwa für Max Weber, bereits von vornherein ausgeschlossen, dass die Wissenschaft explizite und wohlreflektierte Antworten auf die Frage nach dem guten Leben geben könnte. Eine diesseitsbejahende und existentiell relevante Wissenschaft ist eines der Hauptziele des Nietzsche’schen Philosophierens: Eine fröhliche Wissenschaft im Sinne Nietzsches ist eine Wissenschaft, die die Sinnvorstellungen des Menschen mit einer genuin wissenschaftlichen Wahrheit verbinden kann, wobei sich dann die Wahrheit auch auf die Zielsetzung der Sinnentwürfe erstreckt. Nietzsche hält es für möglich, dass der Mensch durch die Wissenschaft nicht nur in die Lage versetzt wird, das Seiende in der Welt in seinen mannigfaltigen Zusammenhängen bestimmen zu können, sondern dass der Mensch auch sich selbst, in allen seinen Facetten, ohne ein Moment des menschlichen Existierens auszulassen, mit dem wissenschaftlichen Denken zu durchdringen vermag. Er denkt, dass es im Prinzip möglich ist, die Wissenschaft derart auszuweiten, dass sie auch die Ziele menschlichen Existierens in den Blick fassen kann, ohne die Tiefe menschlichen Existierens zu verflachen. An dieser Stelle lebt etwas von der aufklärerischen Hoffnung, dass die Wissenschaft die wahre Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz enthüllen könnte, in Nietzsche weiter.436 Jedoch deutet nichts darauf hin, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen könnte. Nichts spricht dafür, dass die moderne Wissenschaft je die unmittelbare existentielle Relevanz erlangen könnte, die die Sinnentwürfe der Vergangenheit auszeichnete. Derartige Stellen im Denken Nietzsches verweisen nicht so sehr auf reale MöglichFriedrich Nietzsche  |  209

keiten der Moderne, sie verdeutlichen viel eher die enge Verbundenheit des modernen Denkens mit seinen kulturellen Ursprüngen und die Schwierigkeiten, sich vollständig davon abzulösen. In der Traditionslinie meta­phy­sischer Sinnentwürfe stellt sich auch in der Moderne die Frage nach dem Fundament der Wahrheit von existentiellen Sinnvorstellungen. Von einer Beantwortung dieser Frage muss jedoch das philosophische Denken unter den Bedingungen der Moderne in einer prinzipiellen Weise Abstand nehmen. Das Fundament der modernen Sinnvorstellungen verschiebt sich von der Wahrheit zur individuellen Wahl.437 An einem direkt hiermit zusammenhängenden Gedanken Nietzsches zeigt sich, inwiefern der moderne Bruch mit den meta­ phy­sischen Sinnvorstellungen der Vergangenheit kein vollständiger ist. Das wissenschaftliche Denken löst die Bindungen des Menschen zu seiner Tradition, zugleich führt es ihm, beispielsweise durch geschichtliche Forschung, die verschiedensten Möglichkeiten menschlichen Existierens vor Augen. Deswegen zeichnet sich die Situation des Menschen in der Moderne dadurch aus, dass sich ganz unterschiedliche Möglichkeiten des Existierens eröffnen, die tatsächlich ausprobiert werden können. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einem »Zeitalter der Vergleichung«: Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit.438

Weil die Bindungen zur Tradition stark gelockert sind, bieten sich dem Menschen in der Moderne verschiedenste Lebensweisen an: Der Unterschiedlichkeit der menschlichen Individuen korrespon210  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

diert eine Unterschiedlichkeit der Lebensformen. Das »Zeitalter der Vergleichung« begreift Nietzsche als ein »Auswählen aus den Sittlichkeiten« und geht damit der sehr modernen Idee nach, die Sinnvorstellungen des Menschen als etwas zu Wählendes aufzufassen.439 Statt der bindenden existentiellen Wahrheit ist es nunmehr die Wahl des Menschen, die seine Lebensweise bestimmt. Doch wodurch bestimmt sich die Wahl aus den sich darbietenden Möglichkeiten? Bei der Beantwortung dieser Frage existieren zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze, die sich beide auch im Denken Nietzsches wiederfinden. Der erste Ansatz ist eine naheliegende und heute häufig vertretene, relativ unpro­blematische Positionierung: Über die Wahl der Lebensweise bestimmt die charakterliche Beschaffenheit des mensch­ lichen Individuums. Der individuell verschiedenartige Charakter eines jeden Menschen und seine ihm eigentümlichen kontingenten Bedürfnisse leiten ihn auf der Suche nach der am besten zu ihm passenden Lebensweise. Den Ausschlag über die zu wählende Lebensweise gibt die faktische Persönlichkeit des Menschen – die individuelle und kontingente, physische und psychische Mannigfaltigkeit seiner Person. Genau dies meint Nietzsche, wenn er in diesem Zusammenhang von dem Beherrschtsein des Menschen von seinen Instinkten spricht: Der Mensch wird durch seine Instinkte geleitet: die Zwecke sind nur im Dienste der Instinkte gewählt. Instinkte aber sind alte Gewohnheiten des Handelns, Arten, seine vorhandene Kraft auszugeben. […] Also: wo Vorstellungen zur Aktion führen, da muß der Mensch der Vorstellung folgen, welche am meisten Lust verspricht: der stärkste Trieb entscheidet über die Wahl.440

Entscheidend bei dieser Position ist, dass der Mensch, so wie er faktisch ist, den Maßstab für die gewählte Lebensweise setzt. Jeder Mensch wählt die Lebensweise, die seinen Bedürfnissen am ehesten entgegenkommt. In der Vorstellung des guten Lebens spiegelt sich die tatsächliche Wirklichkeit des individuellen Menschen als Teil seiner Welt wieder. Diese Positionierung unterscheidet sich von den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Vergangenheit in einer mehrfachen Hinsicht. Zum einen wird das gute Leben individuell gewählt und nicht durch eine Einsicht in die vom Individuum Friedrich Nietzsche  |  211

unabhängige Wahrheit bestimmt. Zum anderen entspringt die Vorstellung des guten Lebens aus dem tatsächlichen Ist-Zustand des Menschen: Sie ist ein Resultat der faktischen Beschaffenheit des individuellen Menschen als psychische und physische Mannigfaltigkeit. Hierin liegt ein entscheidender Unterschied zu den Sinnvorstellungen mit Transzendenzbezug, die auf die Potentialität des Menschen bezogen sind und nicht auf seine Faktizität. Die vormodernen Sinnentwürfe sehen im Menschen stets einen Keim angelegt, der über seine faktischen Kontingenzen hinausgeht und den der Mensch ausbilden muss, um seine Existenz als eine gelingende führen zu können. Die Zielvorstellungen des Menschen entspringen hier nicht aus seiner bereits herausgestalteten Wirklichkeit, sondern aus den in ihm angelegten höheren Möglichkeiten. Der faktische Zustand des Menschen wird als ein defizienter Ausgangszustand betrachtet, aus dem sich der Mensch herausarbeiten muss, um das Scheitern seiner Existenz abzuwenden. In den meta­phy­ sischen Sinnentwürfen sind die Vorstellungen des guten Lebens als Vertikalvorstellungen konzipiert, die dem Menschen einen höherwertigeren Zustand des Existierens vor Augen führen, für den der Mensch sich grundlegend verwandeln und für den er hart an sich selbst arbeiten muss, damit er ihn erreichen kann. In dieser Vorstellungswelt hat der Mensch eine geistige Übungsbewegung weg von seinem faktischen Ausgangszustand und hin zu einem Endzustand zu vollziehen, wobei dieser Zielzustand als die Überwindung des Ausgangszustandes verstanden wird. Das Glück des Menschen liegt hier nicht in der faktischen Wirklichkeit des Menschen, sondern in den angelegten Möglichkeiten, deren Herausbildung die faktische Wirklichkeit des Ausgangszustandes grundlegend umgestaltet. Dies ist die genaue Gegenposition zu einer Vorstellung des guten Lebens, die auf der Grundlage der individuellen Präferenzen des faktischen Menschen durch eine Wahl zustande kommt. Während es in den Sinnentwürfen mit Transzendenzbezug darum geht, die Faktizität des Menschen zugunsten einer darüber hinausgehenden, im Menschen angelegten Möglichkeit zu überwinden, geht es in den modernen Gegenentwürfen häufig darum, die aktuelle, faktische Verfasstheit des Menschen zur vollen Entfaltung kommen zu lassen. Die Sinnvorstellungen des Menschen haben somit ihre Grundlage entweder in der Faktizität oder in der Potentia­lität des 212  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Menschen: In den vormodernen Sinnentwürfen werden die Sinnvorstellungen weitgehend in den angelegten Möglichkeiten verankert, die Moderne hingegen neigt eher zu einer Fundierung in der tatsächlichen menschlichen Wirklichkeit. Aber auch in diesem Punkt zeigt die Moderne eine Ambivalenz. Auch wenn die menschlichen Sinnvorstellungen in einer Wahl und nicht in einer Einsicht in die Wahrheit ihren Ursprung nehmen, so heißt dies nicht notwendigerweise, dass die Maßstäbe der Wahl aus der Faktizität der kontingenten Persönlichkeit des Menschen entspringen müssen. Auch in der Moderne besteht – zumindest prinzipiell – die Möglichkeit, von einer im Menschen angelegten Möglichkeit zu etwas Höherem auszugehen. Gerade im Denken Nietzsches findet sich ein sehr aufschlussreiches Ringen mit dieser Vorstellung, die den Sinnentwürfen der Vergangenheit entspringt. 3.4  Das moderne Ringen mit vormodernen Sinngehalten

An der bisherigen Beschäftigung mit der Philosophie Nietzsches zeigte sich die Zwiegespaltenheit der Moderne: Das moderne Denken ringt um die Artikulation von existentieller Sinnhaftigkeit, und in diesem Rahmen ringt es um die Sinngehalte der kulturellen Überlieferung und schwankt dabei zwischen Ablehnung und Befürwortung. Die unterschiedlichen Strategien des modernen Denkens im Umgang mit den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Vergangenheit sollen in diesem Kapitel ausführlich untersucht werden. Den Ausgangspunkt hierfür bildet weiterhin die Philosophie Nietzsches: Bei ihm zeigt sich eine wichtige Vorgehensweise der Moderne – das selektive Verwerfen von unhaltbaren Sinngehalten bei gleichzeitigem Kampf um die Möglichkeit, dennoch an einigen durch eine Anpassung an das moderne Denken festzuhalten. 3.4.1 Die Neuverortung des Höheren im Diesseits: Friedrich Nietzsche

In Nietzsches Philosophie vollzieht sich ein leidenschaftlicher Kampf um zumindest eine Sinnvorstellung der überlieferten meta­ phy­sischen Sinnentwürfe: In seinem Denken nimmt das Ringen Friedrich Nietzsche  |  213

um ein genuin modernes Existieren, das im Lichte von Vertikalspannungen, als aufwärtsgerichtete Bewegung hin zu etwas Höherem vollzogen wird, einen zentralen Platz ein. Nietzsche bemüht sich um eine intellektuell redliche Möglichkeit, die Vorstellung, dass der Mensch seine Existenz entweder als Aufschwung zum Göttlichen oder als Absturz zum Tierischen vollzieht, in die Moderne zu transformieren. Die Möglichkeit des Aufschwungs sieht er beim Menschen sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Dies zeigt sich bereits dadurch, dass Nietzsche in der weiter oben erwähnten Aussage über das »Zeitalter der Vergleichung« im »Auswählen aus den Sittlichkeiten« den unweigerlichen »Untergang der niederen Sittlichkeit« sieht.441 Die moderne Freiheit zur Wahl des guten Lebens sieht er in erster Linie unter dem Gesichtspunkt eines Aufstiegs des Menschen zu einer höherwertigeren Existenzform: Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten, – nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, – absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.442

Hier zeigt sich deutlich, wie bei Nietzsche eine gewisse Kontinuität zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit mit einem gleichzeitigen Bruch einhergeht. Bewahren will Nietzsche die Vorstellung einer Aufwärtsbewegung des Menschen. Zugleich verwirft er aber die tragenden Säulen der tradierten Sinnentwürfe, insbesondere wegen der Unredlichkeit der dazugehörenden Diesseitsabwertung. Er versucht, die Moderne, die er als »Zeitalter der Vergleichung« interpretiert, als den Abschnitt einer Aufwärtsbewegung des Menschen hin zu höherwertigeren Existenzweisen zu begreifen, die durch ein 214  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Versöhntsein mit dem irdischen Diesseits, aber zugleich durch den Drang zum Höheren gekennzeichnet sind. Die Bewegung des Menschen hin zum Höheren bezieht aber Nietzsche nicht nur auf kollektive geschichtliche Prozesse, sondern in erster Linie auch auf die individuelle menschliche Existenz. Wenn er in »Also sprach Zarathustra« den Menschen als »Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch« beschreibt, 443 ist die Anlehnung an meta­phy­sische Sinnvorstellungen offenkundig: Wie in den transzendenzorientierten Sinnentwürfen wird der Mensch in einer Zwischenposition zwischen dem Tierischen und dem Göttlichen verortet. Der Übermensch ist bei Nietzsche das ins Diesseitige gewendete Göttliche: Diese Vorstellung bezeichnet eine höhere Stufe des Menschseins, deren Möglichkeit den Menschen dazu anspornt, an sich selbst zu arbeiten, um immer höhere, immer intensivere und reichere Weisen des innerweltlichen Existierens zu realisieren. Nietzsche beschreibt den Aufschwung des Menschen zum Übermenschen als einen Übergang, als eine Bewegung weg vom niederen Tierischen hin zum Höheren. Dieses Höhere bestimmt er als eine im Menschen angelegte Möglichkeit, die durch die Arbeit des Menschen an sich selbst herausgebildet werden muss.444 Das Höhere liegt nicht jenseits der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, im Aufschwung des Menschen liegt keine Überwindung der Verbundenheit mit dem Irdischen. Die Bewegung hin zum Höheren vollzieht sich vollständig in der Unbeständigkeit und Veränderlichkeit des Diesseits. Das Bild des Seils, das zwischen dem Tier und dem Übermenschen geknüpft wird, ist im eigentlichen Sinne eine Metapher, da Nietzsche ausdrücklich die Wurzeln des Menschen im Tierischen anerkennt. Aber nach Nietzsche überwindet der Mensch, der die Aufwärtsbewegung hin zum Höheren vollzieht, dennoch in einem gewissen, wenn auch nur schwer fassbaren Sinne das bloß Tierische, selbst wenn er in seiner organischen Lebendigkeit immer mit dem Tier verwandt bleiben wird: »Der Mensch aber ist das muthigste Thier: damit überwand er jedes Thier.«445 Die Vorstellung des Höheren gehört zum Kern des Nietz­sche’­ schen Denkens. Es sind insbesondere diese Überlegungen Nietzsches, die den Thesen von Hadot, Foucault und Sloterdijk über das geistige Üben im Lichte von Vertikalspannungen zugrunde liegen.446 Das Denken Nietzsches kreist um die Frage, wie jenseitsFriedrich Nietzsche  |  215

orientierte Vertikalspannungen in das Diesseitige übersetzt werden können. Die Überzeugung, dass dies möglich sei, bildet die Grundlage von zentralen Aussagen wie dieser: Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen. Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntniss wird ihm im Mittage stehn. »Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.« – diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille!447

Gesucht ist ein Konzept des Höheren, das rückhaltlos im diesseitigen Werden verbleibt, aber dennoch im Menschen eine intensive Gespanntheit auslöst, die ihn dazu antreibt, über sich selbst hinauszuwachsen. Gesucht ist eine Vorstellung des Höheren, die im Menschen eine geistige Übungsbewegung in Gang setzt, wodurch seinem Denken, seiner Kunst und seinem Leben die Herausbildung von immer höheren Intensitätsstufen ermöglicht wird. Die Bewegung des Menschen zum Höheren muss jedoch mit der Bemühung des Menschen um intellektuelle Redlichkeit harmonisch einhergehen können. Bei Nietzsche ist stets die Überzeugung präsent, dass diese Bemühung eine Stärke erzeugen kann, die letzten Endes zu höheren Stufen des Existierens führt als das Verbleiben in bequemen Illusionen.448 Es ist wichtig hierbei zu sehen, dass Nietzsche sowohl die Vorstellung der Vertikalität als auch die Werte der Wahrhaftigkeit und intellektuellen Redlichkeit den überlieferten meta­phy­sischen Sinnentwürfen entnimmt und unter die neue Forderung der radikalen Diesseitigkeit stellt. Die Übersetzung dieser Vorstellungen in das moderne Denken bildet das Zen­trum der Philosophie Nietzsches. In dieser Aufgabe zeigt sich zugleich eine zentrale Herausforderung in der Situation der Moderne. Doch was genau ist dieses Höhere, das auf die beschriebene Weise den Menschen herausfordert, sich strebend darum zu bemühen? Hinreichend klar beschreibt Nietzsche lediglich die notwendigen Anforderungen, die das Höhere erfüllen muss: Als Vertikalspannung muss es das geistige Üben des Menschen befeuern können. 216  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Das Höhere muss im Diesseitigen verortet sein, der Mensch muss sich in einer intellektuell redlichen Weise eine klare Vorstellung von ihm bilden und er muss es in einer radikalen Weise uneingeschränkt bejahen können.449 Doch worin dieses Höhere konkret und inhaltlich besteht oder bestehen könnte, bleibt bei Nietzsche sehr vage – man könnte sogar sagen, es bleibt ungesagt. So wird die Vorstellung vom Übermenschen formal umrissen, aber nicht inhaltlich konkret ausgedeutet. Es bleibt unklar, wie das Höhere vom Tierischen und Triebhaften abgegrenzt werden kann. Klar ist, dass Nietzsche die Verortung des Menschen als Zwischenstufe zwischen dem Tierischen und dem Höheren beibehalten möchte. Diese strukturelle Konstellation will er jedoch ins Diesseitige verlagern, und dabei will er – mit den Erkenntnissen der Wissenschaft – die biologische Nähe des Menschen zum Tier anerkennen. Aber Nietzsche will dennoch an einer wesenhaften Abgrenzung des Menschen vom bloß Kreatürlichen und Instinktiven festhalten, und in dieser Abgrenzung will er die existentiellen Zielvorstellungen des Menschen verankern. Die Pro­blematik dieser Positionierung ist offensichtlich und läuft auf die weiter oben beschriebene Diskrepanz zwischen der Ontologie und der Zielsetzung hinaus:450 Das wissenschaftliche Denken drängt Nietzsche zu einer Ontologie, in der die Zielvorstellungen, die auch bei Nietzsche noch tiefgreifend in den Sinnentwürfen der Vergangenheit verwurzelt sind, nur schwer verankert werden können. Eine wesenhafte Abgrenzung der animalischen Seite des Menschen von dem, was darüber hinausgeht, ist vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Wissenschaft kaum durchführbar, 451 aber nach genau einer solchen Abgrenzung sucht Nietzsche, wenn er das Streben des Menschen nach dem Höheren ins Diesseitige transformieren möchte. Selbst eine rein auf das Geistige bezogene Abgrenzung wird jedoch durch das wissenschaftliche Denken der Neuzeit ausgehöhlt. Dennoch will Nietzsche an einer Differenz zwischen der tierhaften Seite des Menschen und dessen wertvollsten Möglichkeiten festhalten. Dies verdeutlicht sich in seiner Zurückweisung hedonistischer Positionierungen. Die biologisch-organische, materielle Seite der Eingebundenheit in die sinnlich gegebene Wirklichkeit erfährt der Mensch in erster Linie durch die Empfindungen von Lust und Leid. Nietzsche lehnt es jedoch ab, diese Empfindungen Friedrich Nietzsche  |  217

zur existentiellen Sinngrundlage des menschlichen Lebens zu erheben: Das »Übergewicht von Leid über Lust« oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser [zum Nihilismus], nihilistisch … denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung. Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: – für jede gesunde Art Mensch mißt sich der Werth des Lebens schlechterdings nicht am Maaße dieser Nebensachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben; ein Nöthig-haben dieses Übergewichts 452

Die Sinnvorstellungen des Menschen können nach Nietzsche nicht in dem verankert werden, was den Menschen mit dem Tier verbindet: die Lust- und Unlustempfindung im allgemeinsten Sinne. Denn die organische Seite des Menschen flieht die Unlust und sucht die Lust, aber eine menschliche Existenz im Ganzen kann auch dann als eine wertvolle, gelingende und erfüllte Existenz erfahren werden, wenn in ihr das Leiden über die Lust überwiegt. Das, was über das Gelingen oder Scheitern einer menschlichen Existenz entscheidet, muss über die Lust- und Unlustempfindung hinausgehen. Eine derartige Positionierung wirkt auch aus den Per­spek­ti­ven des heutigen Denkens nicht ganz fremd: Es ist nicht von vornherein gesagt, dass etwa Ludwig van Beethoven oder Nietzsche gescheiterte Existenzen waren, nur weil bei ihnen die Lustempfindung zu kurz kam und weil ihr Leben in erster Linie durch seelischen oder körperlichen Schmerz und durch das Leiden an der Welt oder an den Mitmenschen gekennzeichnet war. Auch wenn aus der heutigen Perspektive die Attraktivität von solchen, eher durch Heroismus als durch Hedonismus gekennzeichneten Lebensentwürfen als eine Frage des Geschmacks erscheint, ist dennoch einsehbar, dass in bestimmten Situatio­nen der Weg zur gelingenden Existenz nicht unbedingt über die Lustmaximierung führen muss. Hierbei wendet Nietzsche in einer plausiblen Weise gegen den Hedonismus ein, dass sich bei der Lustorientierung immer noch die Frage stellt, wozu die Lust gesucht und genossen wird. Nietzsche sieht Lust nicht als Selbstzweck – Lust wirft nach Nietzsche für den Menschen die Frage nach dem Wozu der Lust auf, beantwortet sie aber 218  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

nicht selbst, und bei einer fehlenden Antwort muss der Zustand des Menschen nach Nietzsche als Sinnlosigkeit und nicht als Sinnerfülltheit charakterisiert werden: Lust und Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werthurtheile zweiten Ranges, die sich erst ableiten von einem regierenden Werth; ein in Form des Gefühls redendes »nützlich«, »schädlich«, und folglich absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem »nützlich«, »schädlich« sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen.453

Die Zielvorstellungen des Menschen können nach Nietzsche nicht auf dem Streben nach Lustmaximierung und Unlustminimierung basieren. Das, was möglicherweise ein Tier in einem ausreichenden Maße anleiten mag, ist für den Menschen nicht hinreichend. Nach Nietzsche gehört zu einer gelingenden menschlichen Existenz ein Mehr, das über die rein kreatürlichen Grundlagen menschlichen Lebens hinausgeht. Diese Position ist im Denken Nietzsches stets präsent und bekommt zuweilen einen übertriebenen, grotesken und – wenn man die unrühmliche Wirkungsgeschichte Nietzsches im frühen 20. Jahrhundert berücksichtigt – einen furchterregenden Charakter: Der Pessimismus der Thatkräftigen: das »wozu?« nach einem furchtbaren Ringen, selbst Siegen. Daß irgend Etwas hundert Mal wichtiger ist, als die Frage, ob wir uns wohl oder schlecht befinden: Grundinstinkt aller starken Naturen — und folglich auch, ob sich die Anderen gut oder schlecht befinden. Kurz, daß wir ein Ziel haben, um dessentwillen man nicht zögert, Menschenopfer zu bringen, jede Gefahr zu laufen, jedes Schlimme und Schlimmste auf sich zu nehmen: die große Leidenschaft.454

In einer deutlichen Weise ist hier die Vorstellung präsent, dass in der intensivsten Ausprägung menschlichen Existierens der Mensch über das Kleinliche des Irdischen, bloß Menschlichen und in Wahrheit Tierischen hinaussteigen muss. Diese Vorstellung wird von Nietzsche unter die Prämisse gestellt, dass sich dieser Vorgang vollständig in der diesseitigen, sinnlich gegebenen Wirklichkeit abzuspielen hat. Nietzsches Positionierungen besitzen an diesen Stellen eine tiefgreifende Zwiespältigkeit. So verbindet Nietzsche im obigen Zitat die Orientierung des Menschen an einem Höheren, Friedrich Nietzsche  |  219

das über das Wohlbefinden hinausgeht, ausgerechnet mit der Verwendung eines biologischen Vokabulars, wenn er vom »Grundinstinkt aller starken Naturen« spricht – wo doch gerade die Biologie die tradierten Vorstellungen von Vertikalität unterminiert. Die Zwiespältigkeit, die hier zum Ausdruck kommt, zieht sich durch seine ganze Philosophie. Nietzsche stellt auf der einen Seite die Forderung auf, der Erde treu zu bleiben, aber gleichzeitig zieht es ihn zu Vorstellungen der Vertikalität, die stark im meta­phy­sischen Denken der Vergangenheit verwurzelt sind. Es ist hierbei kein Zufall, dass Nietzsche es nicht schafft, die Vorstellung des Höheren so mit Inhalt zu füllen, dass sie eine mit der Ontologie der Moderne im Einklang stehende Grundlage für die Zielvorstellungen des Menschen bieten könnte. Es stellt sich generell die Frage, ob die Sinnvorstellung des Strebens nach dem Höheren durch geistige Übungen überhaupt unter den Bedingungen der Moderne in einer intellektuell redlichen Weise artikuliert werden kann.

3.4.2 Die Metapher des Höheren unter den Bedingungen der ­Moderne: Gotthard Günther

In welchem Verhältnis steht das Denken der Moderne zur Bestimmung einer gelingenden menschlichen Existenz als einer aufwärtsstrebenden Bewegung zu etwas onto­logisch Höherem? Zwar kann diese Idee auch aus modernen Per­spek­ti­ven eine starke Anziehungskraft entfalten, aber es fällt schwer, diese Vorstellung ohne Rückgriff auf die Transzendenzvorstellungen tradierter Sinnentwürfe zu konkretisieren. Die dazugehörige Gegenposition bringt zunächst weniger Widersprüchlichkeiten mit sich. Die Ontologie der Moderne drängt den Menschen zu einem generellen Verzicht auf Vorstellungen der Vertikalität. Deswegen ist es nicht abwegig, die Moderne selbst als das Zeitalter der Abwesenheit von Vorstellun­ gen der Vertikalität zu charakterisieren und dies als einen entscheidenden und abgrenzenden Unterschied zur Vormoderne aufzufassen. Diese Positionierung wird in einer sehr pointierten Weise von Gotthard Günther vertreten, dessen Denken einen starken Einfluss auf die Thesen Sloterdijks zur Rolle der Vertikalspannungen ausgeübt hat.455 Gotthard Günther war ein Logiker und Philosoph des 220  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

20. Jahrhunderts, der im Rahmen einer Technikphilosophie auch eine interessante Zeitdiagnose entwickelt hat und dabei in besonderer Weise die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA in den Blick nahm. 456 Nach Günther ist die Denkweise der meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit – im Unterschied zum modernen Denken – von der Vorstellung bestimmt, dass der Mensch unter dem Einfluss einer transzendenten Sphäre steht, aus der Forderungen erwachsen, die von einer zentralen Wichtigkeit für sein Leben sind. Diese Vorstellung hängt nach Günther aber an einem Raumverständnis, das in der Moderne überholt ist. Durch die Übernahme des modernen Raumverständnisses wird es nach Günther unmöglich, an den tradierten Vorstellungen der Vertikalität festzuhalten. Günthers aufschlussreiche Argumentation ist im Folgenden genauer zu untersuchen, weil in ihr ein wichtiger Punkt enthalten ist, der nicht nur Nietzsches Bemühungen um eine moderne Vertikalität, sondern überhaupt dem modernen Streben nach einer Übersetzung tradierter Vertikalitätsvorstellungen entgegengerichtet ist. In der Vorstellungswelt der Antike kann nach Günther das Leben des Menschen nur gelingen, wenn es sich an einer transzenden­ ten, höheren Sphäre ausrichtet, die zentrale Forderungen an den Menschen stellt. Auch nach Günther ist die Vision Jakobs von der Himmelsleiter das Sinnbild dieser Geisteshaltung: Dieses Traumbild hat für eine ganze historische Epoche den geistigen Schlüssel abgegeben, vermittels dessen Wirklichkeit verstanden wurde. […] Denn die physische Existenz des Menschen und seiner Umwelt war nichts in sich selber. Man empfand und wertete sie nur als ein Sprungbrett zu Höherem oder als die gefährliche Klippe, von der der Absturz in unsagbare Abgründe drohte. Die natürlichen Eingebungen des Körpers erlebte man als phantastische Wege zum Nichts und zum Tode; und alle menschliche Tätigkeit, mit Ausnahme eines winzigen, sich dauernd verengenden Bereiches indifferenter Handlungen, stand entweder unter einem primordialen Fluch (wie die Wollust) oder entfaltete sich in der Würde höherer sakraler Bestimmung.457

In der mythischen Weltsicht der Antike befindet sich der Mensch in einem permanenten und quälenden Zustand der Gespanntheit zwischen den strukturell unerfüllbaren Ansprüchen von »oben« und »unten«: Gotthard Günther  |  221

[S]ein Leben war ein ständiger Kampf, die gefährlichen Ansprüche von unten abzuwehren und den unerfüllbaren Ansprüchen von oben wenigstens annähernd Genüge zu tun. Sein Versagen beiden Aufgaben gegenüber war chronisch und überdies konstitutionell unvermeidlich.458

An diesen Spannungen hängt das denkbar Wichtigste – das Gelingen der menschlichen Existenz –, und deswegen kann der Mensch den Forderungen nicht ausweichen, »ohne den Sinn seiner Existenz preiszugeben und sie meta­phy­sisch zu ruinieren«.459 In der Vorstellungswelt der antiken meta­phy­sischen Sinnentwürfe wird der Mensch durch eine höhere transzendente Sphäre in eine Gespanntheit zwischen oben und unten versetzt. Hierbei sind die Vorstellungen »oben«, »unten« und das »Höhere« Metaphern, die aus der Räumlichkeit des Menschen entspringen. Günther weist darauf hin, dass diese räumlichen Metaphern auf einem Raumverständnis basieren, das sich von dem heutigen Raumverständnis grundlegend unterscheidet. In der Weltsicht der antiken Sinnentwürfe ist der Lebensraum des Menschen auf einen sehr engen Bereich eingegrenzt, und an diesen Bereich schließt kein prinzipiell gleichartiges, aber faktisch unerreichbares Gebiet an, sondern eine grundlegend andersartige Sphäre: Wenn sich die menschliche Einbildungskraft aber vorstellte, dass sie sich räumlich aus der Erdlandschaft hinausbewegte, dann betrat sie in der Phantasie nicht andere materielle benachbarte Raumlandschaften von gleicher Existenzqualität wie die irdische, sondern dann drang sie unmittelbar aus der physischen Daseinsdimension in meta­phy­sische, transzendente Regionen ein. Für diese Vorstellungen grenzte das Physische räumlich an das Metaphysische.460

Der Wohnort des Menschen ist auf einen kleinen Bereich eingeschränkt und das, was aufgrund einer Barriere aus Wasser, Luft, Erde oder Dunkelheit unerreichbar ist, wird in einer mythischen Weise mit seelischen Qualitäten ausgestattet, die in einer positiven oder negativen Weise auf die menschliche Existenz Einfluss nehmen. Weil die Tiefe der Erde und des Meeres für den Menschen einen bedrohlichen, hingegen das Licht der Sonne, in Verbindung mit seinem eigenen Augenlicht, einen befreienden und belebenden Charakter haben, verknüpfen die Sinnentwürfe der Vergangenheit 222  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

das existentielle Glück mit dem räumlichen »Oben« und die existentielle Bedrohtheit mit dem räumlichen »Unten«: Für dieses Weltbild, dessen letzte theoretische und emotionale Konsequenzen wir erst heute langsam zu überwinden beginnen […] war die irdische Welt des Menschen nur eine hauchdünne Existenzebene zwischen dem dunklen Unten und dem erlösenden Oben. Menschliche Existenz haben und in einer menschlichen Landschaft wohnen, hieß auf der kritischen Grenzlinie zwischen entgegengesetzten meta­ phy­sischen Kräften sich bewegen.461

Nach Günther zeichnet sich die Weltsicht der antiken Sinnentwürfe dadurch aus, dass nur das Nahe einen physischen, alles Ferne jedoch einen meta­phy­sischen Charakter hat.462 Das für den Menschen Erreichbare hat eine grundlegend andere Qualität als das Unerreichbare. Die Thesen von Günther führen zu einer wichtigen Einsicht: Die tradierte Sinnvorstellung des geistig Höheren beruht auf einer räumlichen Metapher, die aus der räumlichen Eingegrenztheit der Lebensbedingungen und damit aus dem Raum­ verständnis vergangener vormoderner Lebensweisen hervorgeht. Wichtig ist dies deswegen, weil sich in dieser Hinsicht die Lebensbedingungen und auch das dazugehörige Raumverständnis des Menschen in der Moderne stark geändert haben. Hinter dem begrenzten Bereich der unmittelbaren Lebenswelt wird keine qualitativ andersartige Sphäre mehr vermutet. Günther beschreibt, wie das moderne Raumverständnis auf der Vorstellung des unend­ lichen Raumes beruht.463 Die Unendlichkeit des Raumes bedeutet in diesem Zusammenhang in erster Linie, dass der Raum, der sich jenseits der menschlichen Verfügbarkeit befindet, im Prinzip nicht anders aufgebaut ist als die direkte Umwelt des Menschen. Die Sphäre, in der der Mensch lebt, verlängert sich in das Unendliche. Die Welt, mit der sich der Mensch konfrontiert sieht, besteht räumlich gesehen aus einem unendlichen Raum und nicht mehr aus verschiedenen, qualitativ unterschiedlichen Sphären. Dies führt insbesondere dazu, dass es keinen wesenhaft andersartigen, transzendenten Ort mehr geben kann, der eine existentiell relevante Forderung aufstellen könnte. An seine Stelle ist der kontinuierliche und unendliche Raum getreten, der sich wissenschaftlich ergründen lässt. Es gibt kein »oben« und kein »unten« mehr, und Gotthard Günther  |  223

damit verliert auch die räumliche Metapher des »Höheren«, aus der die Gespanntheit der tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe entspringt, ihren Sinn. Dies führt nach Günther in der Moderne zu einer Entfremdung von derartigen Vorstellungswelten und zu einem weitgehenden Wegfall von vertikaler Gespanntheit464: Alle wichtigen Handlungen und Haltungen des Menschen waren meta­phy­sisch transsubstanziiert, und man macht sich heute in einer Zeit rapide nachlassender meta­phy­sischer Spannungen kaum mehr einen Begriff davon, wie phantastisch eingeengt, im Raum sowohl wie in Tätigkeit, das Leben des Menschen in erst jüngst vergangenen Epochen gewesen ist.465

Nach Günther ergibt sich in der Moderne eine völlig neue Situation, weil der Mensch zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht mehr unter einer Gespanntheit steht, die aus einer transzendenten Sphäre entspringt. Der Mensch steht nicht mehr unter dem Druck des Rangunterschiedes, der in vergangenen Weltsichten den Menschen vom Göttlichen trennte. Es besteht eine prinzipielle Gleichheit zwischen dem Menschen und dem Seienden in der Welt, die ihn umgibt. Daraus entspringt nach Günther »ein rätselhaftes Sicherheitsgefühl«, 466 das als genaues Gegenteil von Vertikalspannungen interpretiert werden muss. Auf dieser Grundlage entsteht ein diesseitsorientierter, individualistischer und hedonistischer Lebensstil, den Günther insbesondere im kalifornischen »Way of Life«, den er nach seiner Flucht aus Nazideutschland kennenlernen konnte, paradigmatisch herausgebildet sieht: Der Mensch ist auf der Erde »to have a good time«. Das heißt, der Zweck des Lebens ist, es so nett wie möglich zu haben. Von der Idee, dass die Geschichte vielleicht überpersönlichen Zielen zustrebt und dass der Mensch dazu da ist, diesen Zielen zu dienen, ja, dass Menschensein überhaupt vielleicht nur ein untergeordnetes Mittel zu höheren transzendentalen Zwecken ist, ist in die amerikanische Gefühlswelt auch nicht die leiseste Ahnung gedrungen. […] Der Mensch der unmittelbaren sinnlichen Gegenwart ist Selbstzweck, und alles, was geschieht, wird um seinetwillen unternommen.467

Nach Günther hat das Denken in der Moderne die Neuartigkeit der Situation in seiner Tiefe überhaupt noch nicht erfasst, weil hierzu die passende Theorie fehlt.468 Die Überlegungen Günthers verdeut224  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

lichen, dass das moderne Raumverständnis keine Grundlage mehr für eine Verankerung von vertikaler Gespanntheit bietet. Unter den Bedingungen der Moderne ist die Metapher des Höheren leer geworden. Tradierte Sinnvorstellungen der Vertikalität sperren sich gegen eine Übersetzung ins rein Diesseitige. Dies ist ein wichtiger Aspekt der Charakterisierung der heutigen Situation und hängt direkt mit einem weiteren zentralen Aspekt zusammen: der Beschränkung des Wahrheitsanspruches.

3.4.3 Die Zurücknahme des Wahrheitsanspruches: Immanuel Kant

Eine naheliegende Positionierung des modernen Denkens liegt im Bestreben, an den Sinnvorstellungen der Vergangenheit dadurch festhalten zu wollen, dass deren Wahrheitsanspruch zurückgenommen und die Reichweite der modernen Wahrheit beschränkt wird. Dies ist der zwiegespaltene Versuch, die Kontinuität zur Vergangenheit auf der einen Seite durch einen Bruch mit der Vergangenheit auf der anderen Seite zu bewahren. Um den Charakter dieses Rückzugsprozesses und die dahinterstehenden philosophischen Motive zu verdeutlichen, gibt es kein besseres Beispiel als das Denken Immanuel Kants. Kant möchte an Sinnvorstellungen mit Transzendenzbezug in einer intellektuell redlichen Weise festhalten. Hierfür versucht er, sie mit den Erkenntnissen sowie der generellen Sichtweise der neuzeitlichen Naturwissenschaften dadurch in Einklang zu bringen, dass er die Reichweite der wissenschaft­ lichen Wahrheit einschränkt. Ausdrücklich erkennt Kant – bestärkt nicht zuletzt durch die Attraktivität der neuzeitlichen Naturwissenschaften – die sinnlich gegebene Wirklichkeit als einzig legitime Quelle von Erkenntnis an. Dies bildet die Grundlage seiner Wahrheitsauffassung. Den menschlichen Umgang mit der sinnlich gegebenen Wirklichkeit sieht er wesenhaft durch eine Eigenleistung des Menschen bestimmt: Nur indem der Mensch die fließende Mannigfaltigkeit des Werdens begrifflich zu Seiendem verfestigt, kann er denkend mit dieser Wirklichkeit umgehen. Die menschliche Eigenleistung besteht nach Kant aus Begriffen und Kategorien, mit denen der Immanuel Kant  |  225

Mensch die Wirklichkeit einfängt – die Ausübung des menschlichen Erkenntnisvermögens bedingt die Erfahrungsgegenstände des Menschen.469 Das Zusammenspiel der menschlichen Sinne mit dem Denken des Menschen ermöglicht objektivierte Erkenntnis: Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. […] Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.470

Kant betrachtet damit die sinnlich gegebene Wirklichkeit als die unverzichtbare Grundlage der Erkenntnis – er bestreitet jegliche Möglichkeit eines Wissens über etwas, was darüber hinausgeht. Die Reichweite der Wahrheit erstreckt sich bei Kant ausschließlich auf den Bereich der sinnlich gegebenen Wirklichkeit selbst und auf die Stellung des Menschen zu ihr: Nach Kant kann der Mensch nur empirisches oder transzendentales Wissen erlangen. Doch gerade im Denken von Kant – tiefgreifend von einer Auseinandersetzung mit den geistigen Herausforderungen durch die neuzeitliche Wissenschaft geprägt – ist die Ansicht präsent, dass eine derartige Auffassung, radikal zu Ende gedacht, pro­blematische Konsequenzen beinhaltet, sobald das Ganze der menschlichen Existenz ins Auge gefasst wird. Denn nach Kant sind die Moralität und das Glück des Menschen als autonomes und vernünftiges Individuum in Gefahr, sobald zentrale Sinnvorstellungen wegfallen. Hierzu gehören für ihn insbesondere die Annahmen, dass der Mensch einen freien Willen besitzt, dass seine Seele unsterblich ist, dass Gott die letzte Ursache des Universums bildet und dass das Universum sinnvoll eingerichtet und auf den Menschen zugeschnitten ist.471 Kants Philosophie zeigt, inwiefern alle diese Vorstellungen – in erster Linie »Gott« und »Unsterblichkeit«, aber letzten Endes auch »Freiheit« und »Zweckmäßigkeit« – wesenhaft auf der Annahme einer jenseitigen Wirklichkeit beruhen. Kant will einerseits, bekräftigt durch die Attraktivität der neuzeitlichen Wissenschaften, an der sinnlich gegebenen Wirklichkeit als einziger Quelle der Erkenntnis festhalten. Andererseits will er aber bestimmte jenseitsbasierte und mit der Ontologie der Neuzeit nicht ohne weiteres in Einklang zu bringende Ideen beibehalten, die seiner Ansicht nach für eine geglückte moralische Existenz als 226  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

höchste Existenzform des Menschen vonnöten sind. Oder anders gesagt: Er will an existentiellen Zielvorstellungen der Vergangenheit auf der Grundlage einer modernen Ontologie festhalten und beides in einem philosophisch artikulierten Sinnentwurf zusammenfüh­ ren.472 Ein blindes Ausweichen in die tradierten philosophischen und religiösen Vorstellungen ist für ihn verbaut, weil er die Werte der Wahrhaftigkeit und intellektuellen Redlichkeit anerkennt. Eine Lösung sucht er in einer kritischen Bestimmung der Reichweite des menschlichen Erkenntnisvermögens. Kant verbietet sich, expli­zit und streng, jegliche Ausflucht zu konstruierten jenseitigen Wirklichkeiten: Die Kritik dieses reinen Verstandes erlaubt es also nicht, sich ein neues Feld von Gegenständen, außer denen, die ihm als Erscheinungen vorkommen können, zu schaffen, und in intelligibele Welten, sogar nicht einmal in ihren Begriff, auszuschweifen.473

Um an den obigen Annahmen als Bedingungen für menschliche Moralität und Glück festhalten zu können, muss er aber dennoch – wenn auch durch die Einsicht in die Grenzen der menschlichen Erfahrung sehr vorsichtig – mit einer Zweiteilung der Welt und mit einem Rekurs auf eine transzendente, hinter der sinnlich gegebenen Wirklichkeit liegende, intelligible Wirklichkeit operieren: Denn das in sich selbst ganz und gar nicht gegründete, sondern stets bedingte, Dasein der Erscheinungen fordert uns auf: uns nach etwas von allen Erscheinungen Unterschiedenem, mithin einem intelligibelen Gegenstande umzusehen, bei welchem diese Zufälligkeit aufhöre.474

Mit dieser Position befindet sich Kant sehr weitgehend innerhalb der Denkweise der meta­phy­sischen Sinnentwürfe, die der irdischen Unbeständigkeit eine transzendente Beständigkeit entgegensetzen. Auch in der Motivation decken sich beide: Kant versucht, die existentiell entscheidenden Konzepte des guten Lebens in einer Gegenwirklichkeit des Beständigen zu verankern. Insbesondere in Bezug auf die menschliche Vernunft und auf menschliche Handlungen muss Kant die Existenz einer transzendenten Welt der »Dinge an sich« annehmen, die zwar für den Menschen nicht erkennbar oder beweisbar, aber für die menschliche Vernunft zumindest widerspruchsfrei denkbar und wollbar ist und die die Grundlage bieImmanuel Kant  |  227

tet für die zentralen Annahmen, die nach Kant für eine geglückte und moralische menschliche Existenz unverzichtbar sind. »Gott«, »Freiheit« und »Unsterblichkeit« werden von Kant als regulative Ideen der reinen Vernunft interpretiert und als unverzichtbare, aber zugleich unerkennbare und unbeweisbare Bedingungen einer geglückten menschlichen Existenz in einer jenseitigen Wirklichkeit verankert: [Wir müssen] gestehen, daß die menschliche Vernunft nicht allein Ideen, sondern auch Ideale enthalte, die zwar nicht, wie die platonischen, schöpferische, aber doch praktische Kraft (als regulative Prinzipien) haben, und der Möglichkeit der Vollkommenheit gewisser Handlun­ gen zum Grunde liegen.475

Die Notwendigkeit der Verankerung in einer jenseitigen Wirklichkeit ergibt sich aus dem höchsten Ziel, nach dem der Mensch in Kants Augen notwendigerweise zu streben hat – dem gesicherten, tatsächlichen Zusammenfall von Moralität und Glückseligkeit, dessen Erringung in der diesseitigen, sinnlich gegebenen Wirklichkeit unmöglich ist: Dieses ist aber nur möglich in der intelligibelen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. Einen solchen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als ­leere Hirngespinste anzusehen […].476

Dies ist eine Position, die sich in einer deutlichen Weise an die Sinnentwürfe der meta­phy­sischen Traditionslinie anlehnt: Die Sinn­ bedingung der gelingenden Existenz wird in einer transzendenten Sphäre, jenseits der Kontingenz der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, verortet, weil sie mit dem unbeständigen Diesseits nicht harmoniert. Grundlage dieser Positionierung sind die tradierten Verknüpfungen von Beständigkeit mit Glück und von Unbeständigkeit mit Leid, an denen auch Kant festhält. Kants intellektuelle Anstrengungen und sein begründeter Unwille, sich rückhaltlos und radikal auf das Diesseits zurückzuziehen und auf die Annahme einer trans­zendenten Wirklichkeit komplett zu verzichten, sind wesenhaft durch die existentiellen Konsequenzen einer zu Ende gedachten, streng diesseitsorientierten Sicht auf die Welt verursacht. Eine radikale Orientierung am diesseitigen Werden entzieht Vorstellun228  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

gen wie »Gott«, »Freiheit«, »Unsterblichkeit« und »Zweckmäßigkeit« jegliche Grundlage.477 Hierbei ist insbesondere relevant, wie Kant versucht, sein Festhalten an den Sinnvorstellungen mit Transzendenzbezug in einer intellektuell redlichen Weise zu vollziehen: Er möchte an der Haltung der Wissenschaftlichkeit rückhaltlos festhalten und zugleich kämpft er dagegen, die Sinnvorstellungen aufzugeben, die mit dieser Haltung nicht harmonieren. Kant löst diese Pro­blematik durch die Annahme, dass eine Beschränkung auf das sinnlich gegebene Diesseits nur in Bezug auf menschliches Wissen, nicht aber für den Glauben des Menschen notwendig sei. In diesem Sinne vollzieht Kant bei den existentiellen Sinnbedingungen einer gelingenden Existenz einen Rückzug vom Wissen auf den Glauben. Die Notwendigkeit für diesen Rückzug ergibt sich aus den Ergebnissen der neuzeit­lichen Wissenschaften und aus Kants eigener Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens. Kant gelangt zu der Annahme, dass die für ihn so wichtigen Ideen wie »Gott« und »Unsterblichkeit«, die ohne Zweifel untrennbar mit der Vorstellung einer jenseitigen Wirklichkeit verbunden sind, immerhin eine praktische Wirkung entfalten können, da sie, obschon nicht gewusst oder bewiesen, dennoch wider­spruchsfrei gedacht und gewollt, und damit geglaubt und ge­ hofft werden können. Kant möchte die Vorstellungen des guten Lebens mit den Vorstellungen über die Beschaffenheit der Welt vereinbaren. Er möchte die existentielle Zielsetzung der tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe mit der Ontologie seiner Zeit in Einklang bringen und so die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz bewahren. Vor einer vollständigen Preisgabe der Vorstellungen, die auf einer jen­ seitigen Wirklichkeit beruhen, sträubt sich Kant insbesondere des­wegen, weil dies die in seinen Augen zentrale sinnstiftende Idee der menschlichen Existenz – die Vorstellung des höchsten menschlichen Gutes als geglückte moralische Existenz – vernichten würde.478 Die Argumentation Kants nimmt ihren Ausgangspunkt in der Unvollkommenheit der sinnlich gegebenen Wirklichkeit, in der Moralität nicht notwendigerweise mit Glückseligkeit zusammenfallen muss – der moralisch lebende Mensch kann unglücklich, der glücklich lebende Mensch kann unmoralisch sein. Die begründete Hoffnung auf eine tatsächlich realisierte moralische und Immanuel Kant  |  229

zugleich notwendig glückliche Existenz als höchstes menschliches Ziel ist aber für Kant ein nicht preisgebbares sinnstiftendes Moment einer vernünftigen menschlichen Existenz. Die Berechtigung dieser Hoffnung steht und fällt jedoch mit der Berechtigung der Annahme einer jenseitigen Wirklichkeit, da die sinnlich gegebene Wirklichkeit hierfür nicht in Frage kommt. Kant sah das Pro­blem durch eine kritische Begrenzung der Reichweite der menschlichen Erkenntnis gelöst: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«.479 Kants Denken ist ein eindrucksvolles Beispiel für das Ringen mit den Herausforderungen, die eine neue Zeit an tradierte Sinnvorstellungen heranträgt. Die konsequente und rückhaltlose Orien­tierung an der diesseitigen, sinnlich gegebenen Wirklichkeit ist eine echte existentielle Herausforderung – nicht nur, aber gerade bei einem Festhalten an den Grundvorstellungen vergangener Sinnhorizonte. Doch selbst mit einer Bereitschaft zu einem Abrücken von diesen Sinngehalten kann eine radikalisierte Diesseitigkeit zu Positionierungen führen, die nur schwer zu akzeptieren sind. Nicht jedes Festhalten an tradierten Sinnvorstellungen geht aus einer bloß nostalgischen, rückwärtsgewandten Schwäche eines Menschen hervor, der sich von der Vergangenheit nicht lösen möchte. Ganz im Gegenteil lenkt Kants Philosophie auch heute noch den Blick auf die philosophischen Schwierigkeiten, die mit einer radikalen Diesseitsorientierung einhergehen. Kants Frage lautet: Kann ich an den wertvollsten Möglichkeiten menschlichen Existierens festhalten, wenn ich mich vollständig auf die Unbeständigkeit der wissenschaftlich erschlossenen, sinnlich gege­benen Wirklichkeit beschränke? Er verneint diese Frage und kämpft um die Möglichkeit, in einer intellektuell redlichen und zugleich existentiell fruchtbaren Weise an der Vorstellung einer trans­zendenten Gegenwirklichkeit festzuhalten. Nietzsche hingegen geht einen anderen Weg. Er versucht, die obige Frage so weit wie möglich zu bejahen, gerät aber mit seiner radikalen Diesseitigkeit ebenfalls an die Grenzen dessen, was er bereit ist aufzugeben.480 Die Loslösung von den Denkweisen der Vergangenheit geht bei ihm viel weiter als bei Kant. Nietzsche ordnet Kants Bestreben, an einer Gegenwirklichkeit der Beständigkeit festzuhalten, vollständig in die meta­phy­sische Traditionslinie ein. Kants Rücknahme des 230  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Wahrheitsanspruches betrachtet er als ein wichtiges Teilmoment eines langen Rückzugsprozesses, bei dem der Wahrheitsanspruch von jenseitsorientierten Sinnvorstellungen stetig zurückgenommen wird, bis nur noch das Diesseits als einzig mögliches Fundament von Sinnvorstellungen übrig bleibt:481 Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde – Geschichte eines Irr­ thums 1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes »Ich, Plato, bin die Wahrheit«.) 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (»für den Sünder, der Buße tut«). (Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher – sie wird Weib, sie wird christlich …) 3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) 4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten? … (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Posi­ tivismus.) 5. Die »wahre Welt« – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! (Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Plato’s; Teufelslärm aller freien Geister.) 6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA .)482

In Nietzsches Beschreibung der Traditionslinie meta­phy­sischer Sinnentwürfe bildet die »wahre Welt« – als Gegenwirklichkeit zur bloß »scheinbaren«, sinnlich zugänglichen Lebenswelt des Menschen – den Zielpunkt menschlichen Strebens. Nach Nietzsche musste im Laufe der Geistesgeschichte der Wahrheitscharakter dieser Gegenwirklichkeit immer stärker zurückgenommen werImmanuel Kant  |  231

den, was dazu geführt hat, dass schließlich die Vorstellung einer »wahren Welt« ihre Anziehungskraft und ihren Verpflichtungscharakter vollständig verlor. Kants Rückzug von der Wahrheit auf den Glauben interpretiert Nietzsche als ein Kernmoment dieser Rückzugsbewegung: In einem letzten Schritt vor dem endgültigen Wegfall sollte das Sinnfundament der meta­phy­sischen Tradition wenigstens für den menschlichen Glauben – nunmehr als etwas Unerreichbares, Unbeweisbares und Unversprechbares – die ihr zugedachte Rolle erfüllen und dem Streben des Menschen ein Ziel und seinen Vorstellungen über das gute Leben einen Halt geben. Nietzsches Darstellung des Rückzugsprozesses von der Wahrheit ist jedoch deswegen unangemessen, weil dieser Prozess keineswegs in der von ihm beschriebenen sinnerfüllten Diesseitigkeit mündet, sondern auch die Grundlagen der existentiellen Sinnhaftigkeit mitreißt, die Nietzsche mit seinen diesseitsorientierten Vertikalitätsvorstellungen etablieren möchte. 483 Der von Nietzsche beschriebene Rückzugsprozess hört nicht bei Kant auf, er ist kein kulminierender, sondern stetig weiterlaufender Prozess. Wenn Nietzsche versucht, an der tradierten Vorstellung von Vertikalität so festzuhalten, dass er sie ins Diesseitige wendet, dabei jedoch im Unklaren verbleibt, liegt dem faktisch das gleiche zugrunde wie bei Kant: Auch Nietzsche vollzieht letzten Endes eine Zurücknahme des Wahrheitsanspruches, um an einer tradierten meta­phy­sischen Sinnvorstellung, nunmehr in einer Vagheit, festhalten zu können. Kant vollzieht den Rückzug gewollt und sehr reflektiert. Nietzsche will ihn nicht vollziehen, tut es jedoch de facto, da er es nicht schafft, die Vorstellung des diesseitig Höheren hinreichend klar mit Inhalt zu füllen: Die Zurücknahme des Wahrheitsanspruches hat bei Nietzsche eher den Charakter eines verlorenen Kampfes. Auch heute noch existiert keine hinreichend gute Grundlage für die Haltung der Euphorie und des Überschwangs, mit dem Nietzsche in der obigen Passage den Abschied von vergangenen Vorstellungswelten feiert und das neu anbrechende Zeitalter diesseitsorientierter und aufwärtsstrebender, artikulierter Sinnhaftigkeit begrüßt. Die fortschreitende Zurücknahme des Wahrheitsgehaltes von sämtlichen Sinnvorstellungen ist ein bis heute andauernder Prozess mit offenem Ausgang. Durch ihn zerbricht das moderne Denken die Kontinuität zu seinen kulturellen Wurzeln gerade 232  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

durch das Bestreben, an dieser Kontinuität festhalten zu wollen: Im Versuch, die Sinngehalte der Vergangenheit durch eine Zurücknahme ihres Wahrheitsgehaltes zu retten, liegt eine tiefgreifende Zwiegespaltenheit. Unter den Bedingungen der Moderne scheinen die Vorstellungen über das gute Leben mit dem Denken der neuzeitlichen Wissenschaft prinzipiell zu kollidieren – sie lassen sich nicht mehr angemessen in der Welt verorten, und sie lassen sich auch nicht jenseits der Welt, in einer transzendenten Gegenwirklichkeit verorten. Worauf können sich Sinnvorstellungen im Rahmen des modernen Denkens stattdessen gründen?

3.4.4  Die Wahl als Sinnfundament: Søren Kierkegaard

Das Fundament der Sinnvorstellungen in der Moderne ist in erster Linie der Mensch selbst. Über die Weltbezüge des Menschen wirken Sinnvorstellungen zwar hinaus in die Welt, ihren Ursprung nehmen sie jedoch im Menschen. Die modernen Sinnvorstellungen sind keine Heilswahrheiten, sondern vom Menschen gewählte und erschaffene Konzepte des guten Lebens, die zu den Vorstellungen über die Beschaffenheit der Welt keine innere Beziehung mehr haben. Hierin liegt der bestimmende Unterschied zu den vormodernen meta­phy­sischen Sinnentwürfen, die aber aufgrund der weitreichenden Sinnfreiheit der wissenschaftlichen Weltsicht keineswegs obsolet geworden sind. Die Hinwendung zu den Sinngehalten der Vergangenheit – auf der nunmehr modernen Grundlage einer selbstbestimmten Wahl – ist eine inhärente Möglichkeit der spezifisch modernen Situation, die jedoch mit bestimmten Schwierigkeiten einhergeht. Die Vorstellung, dass die Sinngrundlage des Menschen in der Wahl und nicht in der Wahrheit liegt, wurde in einer entscheidenden Weise durch Søren Kierkegaard entwickelt. Das Denken von Kierkegaard verdeutlicht die Motive hinter der Idee einer existen­ tiellen Wahl und auch die Schwierigkeiten, die aus einer Hinwendung zu den Sinngehalten der Vergangenheit auf dieser Grundlage entstehen. Kierkegaards Denken wirft daher ein aufschlussreiches Licht auf eine zentrale Möglichkeit des modernen Denkens, die Søren Kierkegaard  |  233

Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz zu artikulieren. Das bestimmende Charakteristikum des spezifisch modernen Selbstverständnisses ist das existentielle Wählenmüssen: Alasdair Mac­ Intyre demonstriert auf eine interessante Weise, inwiefern Kierke­ gaard diesen Gedanken als einer der ersten Denker mit einer voller Klarheit entwickelt. Was MacIntyre durch eine Interpretation von Kierkegaards Werk »Entweder-Oder« in Bezug auf das Ethische als das spezifisch Moderne herausarbeitet, kann pro­blemlos so verallgemeinert werden, dass es sich auf die menschlichen Sinnvorstellungen bezieht: What I earlier picked out as the distinctively modern standpoint was […] the expression of a criterionless choice […], a type of choice for which no rational justification can be given. This element of arbitrariness in our moral culture was presented as a philosophical discovery – indeed as a discovery of a disconcerting, even shocking, kind – long before it became a commonplace of everyday discourse.484

MacIntyre beschreibt, wie sich bei Kierkegaard der spezifisch moderne Standpunkt zum ersten Mal in einer reinen Form zeigt: Nach MacIntyre formuliert Kierkegaard mit der Position, dass der Mensch den Sinn seines Lebens dadurch konstituiert, dass er als Individuum eine grundlegende existentielle Wahl vollzieht, zum ersten Mal das spezifisch moderne Sinnfundament der Wahl. Ob Kierkegaard wirklich der erste war, kann hinterfragt werden. 485 Richtig ist jedoch, dass Kierkegaard das ethische Sinnfundament der Wahl als einer der ersten reflektiert in eine Opposition zur rationalen Vernünftigkeit des Menschen stellt. Die Wahl einer Sinnsetzung beruht bei Kierkegaard letzten Endes nicht auf Gründen, sie hat keinerlei Wahrheitscharakter – durch die Wahl muss das, was als sinnrelevanter Grund im Zusammenhang mit der menschlichen Existenz zählen soll, überhaupt erst gewählt werden. Auch hier lassen sich die Aussagen MacIntyres über das Ethische auf die allgemeinere Ebene der Sinnfrage ausweiten: [T]he principles which depict the ethical way of life are to be adopted for no reason, but for a choice that lies beyond reasons, just because it is the choice of what is to count for us as a reason.486

Die Interpretation MacIntyres trifft zwar den Kern der Philosophie Kierkegaards, sie wird seinem Denken aber dennoch nur teilweise 234  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

gerecht. Es stimmt zwar, dass Kierkegaard spezifisch moderne Positio­nen vertritt und dass er gerade in seiner Betonung des ethischen Wählenmüssens einen zentralen Standpunkt der Moderne artikuliert. Zugleich ist aber Kierkegaards Denken tief in den tradierten Sinnentwürfen mit Transzendenzbezug verwurzelt. Das jedoch macht ihn noch nicht zu einem nicht-modernen Denker: Gerade mit der widerspruchbehafteten Verwurzelung in den Sinnvorstellungen der Vergangenheit bringt Kierkegaard etwas zum Ausdruck, das auch noch die heutige Situation entscheidend bestimmt. Ganz im Sinne der tradierten Sinnvorstellungen geht Kierke­ gaard davon aus, dass der Mensch nur dann eine gelingende Existenz führen kann, wenn er die in ihm angelegten höheren Möglichkeiten ausbildet und eine Beziehung zum Göttlichen eingeht. In seinem Werk »Entweder-Oder« beschreibt er verschiedene existentielle Haltungen zum Leben: die ästhetische, die ethische und die religiöse.487 Nur eine ethische oder religiöse Lebensweise kann nach Kierkegaard zum Gelingen der Existenz führen. Die Grundlage einer Existenzweise ist die Wahl, und hierin liegt das Moderne im Denken Kierkegaards. Für das Gelingen der Existenz ist es nach Kierkegaard von entscheidender Bedeutung, dass »eine Wahl vor einem liegt, ein wirkliches Entweder – Oder«:488 In dieser Wahl bestimmt der Mensch, woran sich seine Existenz ausrichtet; er bringt »seine Persönlichkeit zur Reife«489 und wählt, ob er sich dem Ernst des Lebens stellen und ein ethisches Leben führen will oder ob er sich stattdessen den Zerstreuungen der sinnlichen Welt und den Verlockungen der Lust hingeben möchte. Ein Unterlassen dieser Wahl ist bereits selbst eine Wahl. Nur durch eine echte Wahl des Ethischen kann sich nach Kierkegaard der Mensch als eine einheitliche und ganzheitliche, nicht in die Mannigfaltigkeit des Sinnlichen zerstreute Persönlichkeit konstituieren, 490 und nur so kann das existentielle Scheitern abgewendet werden, das nach Kierkegaard notwendigerweise mit einer ästhetischen, an der Sinnlichkeit ausgerichteten Existenzweise einhergehen muss. An diesen Positio­nen wird klar, dass bei Kierkegaard die moderne Vorstellung des Wählens mit den Sinngehalten der meta­phy­sischen Tradi­ tionslinie eine enge Verbindung eingeht. Kierkegaards Denken wendet sich insbesondere gegen die Vorstellung, dass das Gelingen der menschlichen Existenz von einer Søren Kierkegaard  |  235

Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse abhängen könnte. Eine ästhetische Lebensweise, die sich ausschließlich an der Sinnlichkeit orientiert, gelangt nach Kierkegaard nie zu einem Zustand, der als Glück empfunden werden kann. Befriedigte Lust wird vom Menschen nie als ein Endzustand empfunden, sie erzeugt bereits der Anlage nach stets neue Unlust, so dass eine ausschließliche Fokussierung auf die sinnliche Lust den Menschen in nie endende Kreisläufe der Variierung und Intensitätssteigerung hineinzieht. Diese können aber nicht ins Unendliche fortgeführt werden, weil die menschlichen Fähigkeiten faktisch begrenzt und alle Manifestatio­ nen irdischen Lebens prinzipiell vergänglich sind: Ein primär lustorientiertes Leben führt nach Kierkegaard notwendigerweise zur Dominanz der Unlust. Lust und Unlust gehen nach Kierkegaard dialektisch miteinander einher, und eine Gleichsetzung des Glücks mit der Lust führt strukturell zu einem Zustand umfassenden Unglücks. Im ersten Teil von Entweder-Oder zeigt Kierkegaard eindrucksvoll und überzeugend die strukturellen Pro­bleme einer derartigen Existenzweise aus der Innensicht des ästhetisch Existierenden. Die gelingende Existenz kann demnach nicht primär durch das Streben nach Lustmaximierung gekennzeichnet sein. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern eine Position, für die es in den Sinnentwürfen der kulturellen Überlieferung einen breiten Konsens und nicht zuletzt in der antiken Lebenskunstphilosophie auch starke Argumente gibt. Kierkegaard formuliert hier grundlegende Erkenntnisse über die Beschaffenheit des menschlichen Lebens in einer Sprache, die sowohl die Sinngehalte der Vergangenheit als auch die moderne Sichtweise umschließt.491 In Kierkegaards Denken gehen spezifisch moderne Vorstellungen mit Rückgriffen auf die tradierten Sinnentwürfe eine verschlungene Verbindung ein. Mit der Verortung der gelingenden Existenz jenseits der Lustorientierung ist Kierkegaard eindeutig im überlieferten Denken verwurzelt: Die gelingende Existenz ist für Kierkegaard eine im Menschen angelegte Möglichkeit, die die Mannigfaltigkeit der menschlichen Persönlichkeit zu einer Ganzheit zusammenschließt und die sich an etwas Höherem orientiert als das alltägliche, durch die Bedürfnisse der Sinnlichkeit okkupierte Leben des Menschen. Der Bezugspunkt der gelingenden Existenz ist bei Kierkegaard das Göttliche. Das Moderne bei 236  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Kierke­gaard ist hingegen das Fundament, auf das die Sinngehalte gestellt werden: Dass die gelingende Existenz auf einer Wahl basiert und dass insbesondere die Bestimmungen des Ethischen aus einer Wahl hervorgehen und nicht auf der Grundlage einer Einsicht in die Wahrheit zustande kommen, sind spezifisch moderne Positionierungen. Kierkegaard formuliert sie wie folgt: Mein Entweder-Oder bezeichnet nicht zunächst die Wahl zwischen Gut und Böse, es bezeichnet die Wahl, durch die man Gut und Böse wählt oder sie ausschließt. Die Frage ist hier, unter welchen Bestimmungen man das ganze Dasein betrachten und selber leben will. Daß, wer Gut und Böse wählt, das Gute wählt, ist zwar wahr, aber das zeigt sich erst hinterher; denn das Ästhetische ist nicht das Böse, sondern die Indifferenz, und daher eben sagte ich, daß das Ethische die Wahl konstituiere.492

Die ethische Lebensweise, die sich an der Wertung Gut-Böse orien­­ tiert, kommt nicht durch eine Einsicht des Denkens in eine allgemeingültige Wahrheit zustande, sondern indem ein mensch­ liches Individuum die Wahl für sie trifft. Es geht nicht mehr um die Entfaltung eines allgemeinen menschlichen Wesens, sondern um die Etablierung eines konkreten und individuellen Selbst. Es geht darum, die konkrete individuelle Existenz so zur Entfaltung zu bringen, dass sich in ihr eine Sinnerfülltheit im ursprünglichen Sinne auf einer modernen Grundlage manifestiert: Es soll eine ganzheitliche, beständige, von den tierischen Wurzeln befreite und am Göttlichen ausgerichtete Weise des Existierens etabliert werden, die aus einer freien Wahl des Menschen hervorgeht. Warum bemüht sich Kierkegaard bei seinem Sinnentwurf um eine neue Grundlage? Wieso bezieht Kierkegaard beispielsweise nicht die Position, dass die Einsicht in das notwendige Scheiternmüssen der ästhetischen Existenz den Status einer existentiellen Wahrheit hat – zumal er starke und vernünftige Argumente hierfür vorbereitet? Täte er dies, befände er sich vollständig im tradierten Rahmen der meta­phy­sischen Sinnentwürfe. Dies tut er jedoch nicht und besteht darauf, dass es sich nicht um die Einsicht in eine Wahrheit, sondern um das Ergebnis einer Wahl handelt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Wahrheit im modernen Denken grundlegend anders aufgefasst wird. Kierkegaards Denken entSøren Kierkegaard  |  237

springt aus den onto­logischen Forderungen einer neuen Zeit: Mit der Vorherrschaft des wissenschaftlichen Denkens bestimmen sich das Seiende in der Welt und auch der Mensch selbst – einschließlich seines Denkens – in erster Linie durch die kausale Eingebundenheit in die Zusammenhänge der Welt, die sich dem Menschen über die Wissenschaft erschließen. Vor diesem Hintergrund verortet Kierke­gaard das argumentierende, rationale Denken in der Sphäre der Notwendigkeit.493 Weil sich jedoch die menschliche Existenz aus der Innensicht nicht als Automatismus mit Notwendigkeitscharakter vollzieht, muss sich die Vorstellung einer gelingenden Existenz auf etwas gründen, das die Freiheit der existen­ tiellen Innensicht zu tragen vermag. Aus diesem Grund bestimmt Kierkegaard die Freiheit der Wahl als das existentielle Fundament des menschlichen Lebens. Kierkegaard verortet die Wahrheit des reflektierenden und argumentierenden Denkens im Bereich kausaler Notwendigkeit und stellt sie der Freiheit der existentiellen Wahl gegenüber. Die Grundlage der gelingenden Existenz verschiebt sich so von der Wahrheit zur Wahl. Damit geht Kierkegaard weiter als Kant, der die Vernünftigkeit des menschlichen Denkens gerade mit der menschlichen Freiheit verbunden sehen wollte.494 Kierkegaard hingegen stellt das Denken des Menschen mit den Zwängen der materiellen Welt auf eine onto­logische Ebene, und zugleich versucht er, eine Schicht menschlicher Geistestätigkeit von dieser Eingebundenheit in innerweltliche Zwänge freizuhalten: Das Subjekt der existentiellen Wahl, onto­logisch nicht klar definiert, wird bei ihm zum Träger der Freiheit, die den Menschen aus der Bedingtheit der Weltzusammenhänge herauslösen und zum Höheren hinlenken soll. Die Distanz zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit zeigt sich bei Kierkegaard folgerichtig auch dadurch, dass er einen ganz anderen Begriff von Philosophie vertritt als beispielsweise Platon oder Marc Aurel. Für Kierkegaard weist die Wahrheit der Philosophie dem Menschen nicht mehr den Weg heraus aus den Zwängen irdischer Notwendigkeit, sie geht vielmehr selbst darin auf: Mit dem, was man innere Tat nennen könnte, hat die Philosophie gar nichts zu schaffen; die innere Tat aber ist das wahre Leben der Freiheit. Die Philosophie betrachtet die äußere Tat, und diese wiederum sieht sie nicht isoliert, sondern […] unter der Bestimmung der Notwendigkeit.495 238  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Ob Kierkegaard sein eigenes Denken als Philosophie betrachtet, bleibt bei ihm ironisch unaufgelöst. Klar ist, dass sich Kierke­gaard in seinem Denken eher um appellative »Erbaulichkeit«496 als um logisch-argumentative Unmissverständlichkeit bemüht. Das Entscheidende jedoch ist, dass bei ihm die Vorstellung der Notwendigkeit nicht mehr auf eine göttliche Geordnetheit verweist, sondern die sinnfreien Kausalzusammenhänge bezeichnet, mit denen das wissenschaftliche Denken die Zusammenhänge der Welt beschreibt. Dem stellt Kierkegaard die Freiheit menschlicher Wahl entgegen, die nunmehr zur primären Grundlage der Sinnerfülltheit erhoben wird. Die existentielle Sinnhaftigkeit wird nicht über die Weltbezüge des Menschen aufgenommen, sie wird auch nicht durch die Wahrheit seines Denkens getragen, sondern entsteht im Menschen selbst durch die existentielle Wahl. Ganz ähnlich zum kantischen Rückzug vom Wissen auf den Glauben vollzieht auch Kierkegaard diesen Rückzug, um die Freiheit und Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz zu bewahren. Die Position der religiö­ sen Existenz, die im Schlussteil von Entweder-Oder vorbereitet und in Werken wie »Furcht und Zittern«497 und »Die Krankheit zum Tode«498 genauer entwickelt wird, verwirft die existentiell irrelevante, »unerbauliche«499 Wahrheit und bezieht Position für einen Glauben, der »gerade da beginnt, wo das Denken aufhört«.500 Die Nähe zur protestantischen Theologie kann das tatsächlich Moderne dieser Positio­nen nicht verdecken: Der Wissensbegriff, von dem sich Kierkegaard abgrenzt, ist der auch heute noch relevante Wissensbegriff der Wissenschaft, dem die existentielle Relevanz bereits von der Anlege her fehlt und fehlen muss. Der Schwenk hin zur Wahl und weg von der Wahrheit ist eine Denknotwendigkeit, die Kierkegaards Denken stark in die Nähe des heutigen Denkens rückt. Das Subjekt der Wahl wird zum alleinigen Träger existentieller Sinnerfülltheit. Diese sehr modern anmutenden Positio­nen bezieht Kierkegaard jedoch, um bestimmte Aspekte der tradierten Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug bewahren zu können. In der Philosophie Kierkegaards zeigt sich der intellektuelle Kampf des modernen Denkens um die Artikulation von Sinnhaftigkeit auf einer angemessenen onto­logischen Grundlage. Das Fundament von Sinnvorstellungen muss sich von der überindividuellen Wahrheit zur freien Wahl des Søren Kierkegaard  |  239

Individuums verschieben. Ist dieser Fundamentwechsel vollzogen, stellt sich jedoch die Frage, wie die Konzepte des gelingenden und scheiternden Lebens – auf der nunmehr neuen Grundlage – konkret und inhaltlich auszuformulieren sind. Bei Kierkegaard zeigt sich eine wichtige Möglichkeit des modernen Denkens – der inhaltliche Rückgriff auf die Sinngehalte der Vergangenheit auf der Grundlage der modernen Ontologie. Die Vorgehensweise Kierke­ gaards ist deswegen charakteristisch, weil er seine Konzepte des gelingenden und scheiternden Lebens auf dem neuen Fundament der Wahl, aber mit Hilfe einer inhaltlichen Anlehnung an die tradierten transzendenzorientierten Sinnentwürfe artikuliert. Die überlieferten Sinngehalte bilden bei ihm weiterhin das intellektuelle Vehikel, um die Konzepte des gelingenden Lebens in Worte zu fassen – neu jedoch ist die Verankerung in der Wahl, neu ist der mit einhergehende, aus dem wissenschaftlichen Denken entspringende Wahrheitsbegriff, und neu ist die Sicht des Menschen auf ein existentiell sinnfreies, durch Diesseitigkeit gekennzeichnetes Universum. Entscheidend ist hierbei die Frage, ob diese Art des modernen Rückgriffes überhaupt funktioniert. Am Denken Kierkegaards zeigen sich in einer deutlichen Weise die Schwierigkeiten des Versuchs, tradierte Sinngehalte auf der Grundlage einer modernen Ontologie beleben zu wollen. Eines der Pro­bleme liegt darin, dass durch eine Neubestimmung des Fundamentes ein undefinierter, schwer zu durchschauender onto­logischer Schwebezustand entsteht, bei dem letztendlich unklar bleibt, welchen Ort die neuinterpretierten Sinngehalte im Zusammenhang der modernen Weltsicht einnehmen und welcher onto­logische Status ihnen zukommt. Die Unklarheit entsteht dadurch, dass Sinngehalte, die auf der Vorstellung der Transzendenz beruhen, auf das diesseitsorientierte Fundament des wissenschaftlichen Denkens gestellt werden. Welchen Stellenwert hat das Göttliche in einem sinnfreien, auf kein Ziel zusteuernden Universum? Wie kann das Göttliche existentielle Sinnhaftigkeit ausstrahlen, wenn es sich jenseits der Wahrheit, im Bereich des Schweigens befindet? Welche Bedeutung hat die Vorstellung des Höheren in einer sich strikt auf das Diesseitige beschränkenden Weltsicht? All das sind ungeklärte Fragen, die sich dann aufdrängen, wenn der Sinn des Lebens unter den Bedingungen des modernen Denkens, in Anlehnung an die Sinngehalte 240  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

der Vergangenheit, aber dennoch in einer intellektuell red­lichen Weise artikuliert werden soll. Eine andere Schwierigkeit liegt darin, dass der Wechsel zur modernen onto­logischen Grundlage nicht ohne eine grundlegende Veränderung der neuinterpretierten Sinngehalte einhergehen kann: Bereits durch den Wechsel des onto­ logischen Fundamentes verändert sich die Bedeutung der neuformu­ lierten Sinngehalte der meta­phy­sischen Traditionslinie, selbst wenn sie dabei unverändert zu bleiben scheinen. Beide Pro­bleme – die Unklarheit des onto­logischen Schwebezustandes und die grundlegende Veränderung der übernommenen und neuinterpretierten Sinngehalte – zeigen sich in Kierkegaards Versuchen, die Sinngehalte der Vergangenheit auf ein modernes Fundament zu stellen. Inwiefern es sich um gravierende Schwierigkeiten handelt, muss im Folgenden genauer untersucht werden. Das pro­blembeladene Verflochtensein von modernen und vormodernen Vorstellungen über den Sinn des Lebens kommt bei Kierkegaard am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass bei ihm die Vorstellung der existentiellen Wahl keineswegs mit einer uneingeschränkten Selbstbestimmtheit des Menschen einhergeht: Die Wahl ist nach Kierkegaard der Ausgangspunkt einer Ausrichtung des Menschen am höheren Göttlichen. Dieses Göttliche ist etwas, das der Mensch prinzipiell nicht selbst in der Hand hat, das dem Menschen als eine bestimmende Instanz gegenübersteht und von dem in einer weitreichenden Weise das Gelingen der Existenz abhängt. Ob die menschliche Existenz gelingt oder scheitert, liegt nach Kierkegaard letztendlich nicht in der Hand des Menschen. Was jedoch in seiner Macht liegt ist, sich um sein eigenes Selbst zu kümmern: Der Mensch kann sich darum bemühen, die wertvolleren, höheren Möglichkeiten, die individuell in ihm angelegt sind, zur Entfaltung zu bringen. Die Selbstwerdung des Menschen, die zu einer gelingenden Existenz führt, beschreibt Kierkegaard als eine wählende Bezugnahme auf das Göttliche. Genau in diesem Sinne vollzieht Kierkegaard eine inhaltliche Hinwendung zum Denken der Vergangenheit auf einem modernen Fundament. In diesem Verflochtensein zeigen sich die Schwierigkeiten, die letztendlich verhindern, dass ein derartiger Rückgriff auf die tradierten meta­ phy­sischen Sinngehalte funktioniert: Es zeigen sich die Pro­bleme des sich herausbildenden onto­logischen Schwebezustandes und der Søren Kierkegaard  |  241

schleichenden Veränderung der neuinterpretierten Sinngehalte. Im Folgenden muss die Verflechtung in mehreren Schritten analysiert werden, damit die erwähnten Pro­bleme offenbar werden können. Wie gelangt Kierkegaard zu der Auffassung, dass sich der Mensch am Göttlichen ausrichten muss, um gut leben zu können? Die Antwort hierauf liegt in Kierkegaards Vorstellung von der Beschaffenheit der menschlichen Existenz. Das Existieren ist nach Kierkegaard dadurch gekennzeichnet, dass sich der Mensch zu sich selbst verhalten kann. Jeder Mensch als konkretes Individuum besteht aus unzählbar vielen Einzelmomenten – körperlichen und seelischen Eigenheiten, Charakterzügen, Fähigkeiten, Gedanken und Gefühlen. Diese Mannigfaltigkeit schließt sich zur Person des Individuums so zusammen, dass der Mensch die Totalität dieser Mannigfaltigkeit als »Ich« bezeichnen kann. Als ein Subjekt kann sich der Mensch selbst zu einem Objekt machen: Er kann die verschiedenen Facetten seiner körperlichen und seelischen Persönlichkeit betrachten, bewerten und in Grenzen auch beeinflussen; er kann die Mannigfaltigkeit seiner Persönlichkeit, die ihm entweder über seine Sinne oder über Introspektion empirisch zugänglich ist, zum Gegenstand seines Interesses machen. Der Mensch kann auf sich selbst Bezug nehmen und in diesem Sinne ein Verhältnis zu sich selbst bilden: »Der Mensch […] ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.«501 Durch dieses Verhältnis konstituiert sich der Mensch als Mensch. Die Art, wie dieses Verhältnis gebildet wird, entscheidet nach Kierkegaard über das Gelingen oder Scheitern der Existenz. Kierkegaard unterscheidet hierbei zwei grundlegende Möglichkeiten: Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein.502

Jeder Mensch verkörpert potentiell die Einheit einer Mannigfaltigkeit. Wodurch wird diese zusammengehalten? Ist es der Mensch selbst, der diese Einheit in der Vielfalt begründet? Das scheint zunächst aus logischen Gründen Schwierigkeiten zu bereiten, da der Mensch als ein Akteur nur dann agieren kann, wenn er sich vorher als ein solcher konstituiert hat. Kierkegaard würde dem entgegnen, dass dem Menschen durchaus die Einheit des Mannigfaltigen abgehen kann, dass er beispielsweise zwiegespalten und 242  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

in einzelne, nicht miteinander harmonierende Teile zersplittert sein kann: Dies kennzeichnet für Kierkegaard den Zustand der Verzweiflung. Kann sich hierbei ein in verschiedene Momente zersplitterter Mensch selbst zu einer harmonischen Einheit zusammenschließen? Kann der Willensakt des Menschen überhaupt die Grundlage für die Einheit bilden, in die sich der Mensch als Person zusammenschließt? Prinzipiell ist dies vorstellbar, Kierkegaard jedoch lehnt diese Position vehement ab: Nach ihm befindet sich die Persönlichkeit des Einzelnen nicht in dessen uneingeschränkter Verfügbarkeit, vielmehr steht der Mensch in einer strukturellen Konstellation der Abhängigkeit zu etwas, das er nicht ist und über das er nicht verfügen kann. Diese Instanz bezeichnet Kierkegaard als »Gott«. Es ist diese Positionierung, mit der Kierkegaard am deutlichsten in den tradierten Sinnentwürfen mit Transzendenzbezug verwurzelt ist: Im Gegensatz zu modernen Positio­nen, die von einer weitgehenden menschlichen Allmacht und von einer unbeschränkten Reichweite der menschlichen Selbstbestimmung ausgehen, betont Kierkegaard die Unverfügbarkeit der menschli­ chen Existenz. Welche Gründe führt er dafür an? Die menschliche Existenz kann nach Kierkegaard nur gelingen, wenn sich die konkrete Mannigfaltigkeit der menschlichen Persönlichkeit zu einer harmonischen Einheit zusammenschließen kann. Darauf kann der Mensch insbesondere dadurch Einfluss nehmen, dass er sich selbst anerkennt: Ihm muss klar werden, dass sich eine Einheit nur aus der tatsächlichen, nicht aber aus einer imaginierten Persönlichkeit herausbilden kann. Eine menschliche Existenz, die die Realität der eigenen Situation nicht annehmen kann und die stattdessen irrealen, herbeiphantasierten Möglichkeiten nachjagt, muss scheitern: Es ist vergeblich, »sich selbst loswerden zu wollen«503 und jemand sein zu wollen, der man nicht ist. In diesem Sinne muss sich der Mensch bemühen, »man selbst sein zu wollen«. Hierzu gehört nach Kierkegaard auch die Einsicht in eine wichtige Begrenztheit der menschlichen Existenz: Der Mensch muss anerkennen, dass er sein Leben und die Bedingungen seines Gelingens nicht uneingeschränkt in der Hand hat. Das Gelingen der menschlichen Existenz ist etwas strukturell Unverfügbares. Deswegen gehört zu der Einheit, zu der sich die Persönlichkeit des Menschen zusammenzuschließen hat, die Bezugnahme auf diese UnverfügSøren Kierkegaard  |  243

barkeit. In Kierkegaards Augen personifiziert Gott das existentielle Strukturmoment der Unverfügbarkeit. Ignoriert der Mensch die Tatsache, dass er seine Persönlichkeit nur durch eine Bezugnahme auf das unverfügbare Göttliche zu einer harmonischen Einheit zusammenschließen kann, kommt nach Kierkegaard keine harmonische Einheit zustande und der Mensch verbleibt im Zustand der Verzweiflung: Ein derart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem anderen verhält. Daher kommt es, daß zwei Formen für eigentliche Verzweiflung entstehen können. ­Hätte das Selbst des Menschen sich selbst gesetzt, dann könnte nur von einer Form die Rede sein, von der, nicht man selbst sein zu wollen, sich selbst loswerden zu wollen, aber es könnte nicht die Rede davon sein, verzweifelt man selbst sein zu wollen. Diese Formel ist nämlich der Ausdruck für die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses (des Selbst), der Ausdruck dafür, daß das Selbst nicht durch sich selbst dazu kommen kann, in Gleichgewicht und Ruhe zu sein, sondern nur dadurch, daß es sich, indem es sich zu sich selbst verhält, zu dem verhält, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat.504

Die Existenz des Menschen kann nach Kierkegaard nur dann gelingen, der Mensch kann nur dann »Gleichgewicht und Ruhe« finden, wenn er die Mannigfaltigkeit seiner Persönlichkeit zu einer Einheit zusammenschließen kann. Dies kann er nur, wenn er die Gegebenheiten seiner Situation berücksichtigt und anerkennt. Hierzu gehört nach Kierkegaard insbesondere die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens und seiner Glücksbedingungen. Gott personifiziert diese Unverfügbarkeit der menschlichen Existenz. Daher ist der Mensch strukturell auf Gott bezogen, und deswegen muss die Bezogenheit auf Gott ein wesenhafter Bestandteil bei der existentiellen Einheitsbildung sein: Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.505

An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob sich eine solche Argumentation von heute aus nachvollziehen lässt. In welchem Sinne kann 244  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

das menschliche Leben als etwas Unverfügbares aufgefasst werden? Auch unter den Bedingungen der Moderne ist es eine Tatsache, dass sich viele Aspekte der Existenz nicht in der Verfügungsgewalt des Einzelnen befinden: Der Mensch wird in die kausalen Zusammenhänge eines Universums hineingeboren, das seit Milliarden von Jahren ohne ihn existiert hat und das aufgrund der Naturgesetze seinem Leben Schranken auferlegt. Das Individuum kommt als ein Lebewesen in die Welt, das einer Gattung angehört, die sich in evolutionären Prozessen über kosmische Zeiträume aus anderen, einfacheren Lebensformen herausgebildet hat. Durch seine Zugehörigkeit zur Gattung hat der Mensch bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnisse, über die er nicht verfügen kann, und auch als ein Einzelner ist er mit individuellen, körperlichen und seelischen Merkmalen ausgestattet, die er nur in engen Grenzen verändern kann. Der Mensch muss sich in einer ihm tenden­ ziell eher feindlichen Welt behaupten, und nicht immer ist er stark genug dazu. Die Gewalten der Natur und die Grausamkeiten der Mitmenschen erfährt der Mensch häufig als eine Bedrohung, gegen die er sich nicht wehren kann. Jeder Mensch lebt sein Leben in sozialen Beziehungen zu seinen Mitmenschen – seiner Familie, seinen Freunden, Kollegen, Mitbürgern –, er kann die Solidarität, den Respekt und die Zuneigung dieser Menschen nicht erzwingen. Jeder Einzelne ist Teil einer Gesellschaft, deren kulturelle Gegebenheiten sich im Laufe von vielen Generatio­nen herausgebildet haben. Die soziale Eingebundenheit des Menschen übt einen tiefgreifenden, prägenden und in gewisser Weise sogar konstituierenden Einfluss auf den Einzelnen aus, und nur sehr eingeschränkt kann der Mensch auf die Beschaffenheit dieser Beziehungen Einfluss nehmen. Der Mensch findet sich in eine Welt gestellt, die sich in vielerlei Aspekten seinem Einfluss entzieht, und auf ganz unterschiedlichen Ebenen bestimmen die unverfügbaren äußeren Einflüsse darüber, wer er ist, wie er lebt und ob seine Existenz gelingt oder scheitert. In dieser Weise verstanden ist die Unverfügbarkeit der menschlichen Existenz auch heute noch keine fremde Vorstellung, selbst wenn ihre Bedeutung in der Moderne stark in den Hintergrund gerückt ist. Gerade weil die Idee menschlicher Selbstbestimmung für die Moderne einen derart zentralen Stellenwert besitzt und gerade weil die moderne Wissenschaft und damit einhergehend die Søren Kierkegaard  |  245

moderne Technik dem Menschen eine unbeschränkte Machbarkeit und Realisierbarkeit seiner Pläne suggerieren, können genau die meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit in Erinnerung rufen, dass der Mensch in seinem Leben nicht alles selbst in der Hand hat und dass sich entscheidende Faktoren, die über das Gelingen seiner Existenz bestimmen, nicht in seinem Einflussbereich befinden. Das moderne Denken kann sich die Unverfügbarkeit der menschlichen Existenz durchaus in einer verständlichen Weise vor Augen führen. Erfasst eine moderne Interpretation der existentiellen Unverfügbarkeit auch die Gottesvorstellung Kierkegaards? Können die Thesen Kierkegaards aus diesem Blickwinkel gedeutet werden? Die Argumentation Kierkegaards hat zunächst durchaus Überzeugungskraft und ist dabei auch für das moderne Denken zugänglich und verständlich: Der Mensch kann seine Existenz nur als eine gelingende erfahren, wenn sie sich ihm zu einer sinnvollen Ganzheit zusammenschließt. Hierfür muss er die tatsächlichen Gegebenheiten seiner Existenz kennen und anerkennen, und dies kann er nur, wenn er reflektiert auf ihre unverfügbaren Momente Bezug nimmt. Kierkegaard fasst seine Argumentation in der These zusammen, »daß das Selbst nicht durch sich selbst dazu kommen kann, in Gleichgewicht und Ruhe zu sein, sondern nur dadurch, daß es sich, indem es sich zu sich selbst verhält, zu dem verhält, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat.«506 Deckt sich die vorhin beschriebene, auch in der Moderne noch verständliche Auffassung von Unverfügbarkeit mit der hier gemeinten Bezugnahme auf das, »welches das ganze Verhältnis gesetzt hat«? Bis zu einem gewissen Punkt kann man die Position Kierkegaards tatsächlich aus diesem Blickwinkel interpretieren. Die erwähnten unverfügbaren Einflüsse auf das Leben des Menschen beziehen sich auch auf Phänomene, die in transzendenzorientierten Sinnentwürfen im Einflussbereich des Göttlichen verortet werden. Das Anerkennen der Einsicht, dass der Mensch nicht alles existentiell Entscheidende selbst in der Hand hat, und die Aufnahme dieser Einsicht in das Selbstbild des Menschen sind charakteristische Positio­nen der tradierten Sinnentwürfe, die auch für das moderne Denken noch verständlich und relevant sind und die dazu auffordern, sich in eine reflektierte Beziehung zu den unverfügbaren Momenten der 246  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

menschlichen Existenz zu setzen. Dass das Gelingen oder Scheitern der menschlichen Existenz von Einflüssen abhängt, die der Mensch selbst nicht in der Hand hat, ist auch heute noch einsichtig. Das moderne Verständnis gelangt jedoch an einem entscheidenden Punkt an seine Grenzen, und dies führt dazu, dass der Ansatz Kierkegaards letztendlich dennoch scheitern muss. Das zentrale Pro­blem liegt in der menschlichen Bezugnahme auf das Unverfügbare: Pro­blematisch ist die Weise, wie sich in der Gotteskonzeption Kierkegaards vormoderne und moderne Vorstellungsinhalte mit­ einander verbinden. Für Kierkegaard repräsentiert Gott das, wovon der Mensch schlechthin abhängig ist. In Gott schließt sich alles existentiell Bestimmende in einer Einheit zusammen: Kierke­gaard bildet aus der Mannigfaltigkeit des Unverfügbaren eine Einheit und versteht diese synthetisierte Totalität in personalen Kategorien als »Gott«. Wenn Kierkegaard von Gott spricht, meint er eine Instanz, die dem Menschen als Bestimmendes gegenübersteht und die all das in einer Ganzheit zusammenhält, was für das Gelingen der menschlichen Existenz entscheidend ist. In dieser Vorstellung vollzieht sich die gelingende menschliche Existenz als eine Ausrichtung an dieser personifizierten Totalität der unverfügbaren Existenzbedingungen. Charakteristisch für diese religiöse Existenzweise ist ein Perspektivwechsel weg von der Selbstbezogenheit des Menschen hin zu einer Sichtweise, die sich primär an einem Gegenüber orientiert, in dem sich die Glücksbedingungen der Existenz in einer personalen Einheit zusammenschließen. Das Zen­trum des menschlichen Lebens bildet bei einer solchen Existenzweise nicht das jeweils eigene menschliche Selbst, sondern das Göttliche, an dem es sich ausrichtet. In einer solchen Haltung liegt eine echte Gegenposition zu der modernen Vorstellung einer radikalen und unbeschränkten menschlichen Selbstbestimmtheit.507 Durch eine Ausrichtung am unverfügbar Göttlichen erfährt der Mensch bei Kierkegaard die existentielle Sinnhaftigkeit, die eine gelingende Existenz ermöglicht. Es ist diese Gotteskonzeption Kierkegaards, die dem modernen Denken besonders fernsteht. Hierbei ist es nicht bloß die Selbstbezogenheit der modernen Individualität, die sich von der traditionellen Gottbezogenheit entfremdet hat – dass die Eigenmächtigkeit des Menschen ihre Grenzen hat, kann auch heute noch Søren Kierkegaard  |  247

pro­blemlos einsichtig werden. Es ist die Zusammenfassung der existentiellen Bedingungen des gelingenden Lebens in der Totalität des Göttlichen, die dem Verständnishorizont des modernen Denkens Pro­bleme bereitet: Das Göttliche als personale, numinose Instanz entstammt dem Denken der Vergangenheit, es entstammt mythischen und religiösen Weltsichten und wird aus der wissenschaftlichen Weltsicht methodisch ausgeschlossen.508 Das entscheidende Pro­blem besteht in diesem Zusammenhang darin, dass das Denken in der Moderne zwar die vielfältige Unverfügbarkeit der menschlichen Existenz verstehend zu durchdringen vermag, dass es dabei jedoch von den Kategorien des wissenschaftlichen Denkens geleitet wird und dass es deswegen die Mannigfaltigkeit des Ausgeliefertseins an innerweltliche Zusammenhänge nicht in einer sinntragenden göttlichen Totalität zusammenschließen kann. Weil das wissenschaftliche Denken prinzipiell ohne die Kategorie der existentiellen Sinnrelevanz operiert, kann sich im Denkhorizont der Moderne nur eine Einsicht in die sinnfreie unverfügbare Mannigfaltigkeit der diesseitigen Einflussfaktoren auf die Existenz eröffnen. Die Zusammenführung dieser Bedingungen gelingenden Existierens in einer sinntragenden Instanz des Göttlichen, so wie sie von Kierkegaard vollzogen wird, muss sich dem Verständnis entziehen. Selbst wenn sich der Mensch unter den Bedingungen der Moderne als ein Verhältnis verstehen kann, das sich nicht selbst gesetzt hat, sondern gesetzt wurde509 – die Beziehung zum Setzenden muss dennoch frei von existentieller Sinnhaftigkeit bleiben. Die Abhängigkeit von der blinden, sinnlosen Naturnotwendigkeit, die als Naturgewalt kausal auf den Menschen einwirkt, und auch die Abhängigkeit von der sozialen Eingebundenheit verkörpern etwas prinzipiell anderes als das Ausgeliefertsein an das kosmische Schicksal oder an den unergründlichen Willen eines jenseitigen Gottes: Unter den Voraussetzungen des modernen Denkens bleibt die Totalität der Existenzbedingungen eine sinnfreie Totalität. Eine Übertragung der Gottesvorstellung in das moderne Denken verändert diese und eliminiert ihren Kern: Als eine sinnfreie Gesamtheit von sinnfreien, kausal bestimmten Phänomenen verliert die Vorstellung des Göttlichen ihre ursprüngliche Fähigkeit, als Horizont existentieller Sinnhaftigkeit fungieren zu können, und 248  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

gleitet ab in eine völlige Unverständlichkeit. Wo bei Kierkegaard die Sinnquelle des Göttlichen genau zu verorten ist, bleibt unbestimmt: Sie befindet sich weder in der Reichweite des diesseitigen Denkens noch an einem klar artikulierten Ort im Jenseits. Die ins moderne Denken übertragenen meta­phy­sischen Sinngehalte geraten bei Kierkegaard in einen unaufgelösten onto­logischen Schwebe­zustand – das, woraus letztendlich die existentielle Sinnhaftigkeit entspringt, bleibt ungeklärt. Dieser Zustand wird durch die Verschiebung des Sinnfundamentes von der Wahrheit zur Wahl keineswegs aufgelöst. Die Frage, wie der Mensch seine Selbstbezogenheit durch eine Ausrichtung am Göttlichen – aber auf der Grundlage einer individuellen Wahl – überwinden könnte, verbleibt im Status einer para­ doxen Forderung, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Vieles deutet darauf hin, dass im Denkhorizont der Moderne eine Hinwendung zu den Denkweisen der Vergangenheit durchaus die Aufmerksamkeit auf Phänomene lenken kann, die in der Moderne in den Hintergrund gedrängt worden sind, dass dabei jedoch die Sinnhaftigkeit der anvisierten meta­phy­sischen Sinngehalte dennoch in einer prinzipiellen Weise verschlossen bleiben muss. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass der Mensch unter den Bedingungen der Moderne seinen existentiellen Lebenssinn nunmehr losgelöst von seiner kulturellen Tradition und losgelöst von seinen Weltbezügen durch eine existentielle Wahl, frei und indivi­ duell selbst bestimmen muss. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, wo­raus der Mensch, abgesehen von seinen Weltbezügen und abgesehen von den ihm überlieferten Denkweisen, überhaupt besteht. Bei der Beantwortung dieser Frage kann das Denken Martin Heideggers wertvolle Denkanstöße liefern.

3.4.5 Freie Sinnschöpfung in einer sinnfreien Welt: Martin Heidegger

Die moderne Sinngrundlage der freien Wahl beruht auf der Vorstellung, dass der Mensch in einer sinnfreien Welt den Sinn allein aus sich selbst heraus schöpfen muss und auch kann. Diese Position lässt sich durch einen Rückgriff auf das Denken Heideggers in einer grundlegenden Weise hinterfragen. Martin Heidegger  |  249

Ausgangspunkt hierfür ist die Kritik Heideggers an der Vorstellung, dass ein individuelles Ich einer von ihm prinzipiell abgetrennten Welt gegenübersteht. Nach Heidegger ist die menschliche Existenz nicht so beschaffen, dass der Mensch als ein Ich mit einer Welt konfrontiert wäre, zu der er, als etwas davon Losgelöstes, erst eine Beziehung eingehen müsste. Das Ich kommt nicht erst zu seiner Welt, das Ich ist immer schon in der Welt in dem Sinne, dass es kein Ich außerhalb von Weltbezügen geben kann. Heidegger grenzt sich mit diesen Positio­nen von dem Dualismus von Descartes ab, der durch die Unterscheidung zwischen res extensa und res cogitans in einer bestimmenden Weise das Denken der Neuzeit geprägt hat: Bei Descartes steht das denkende Ich einer Welt gegenüber, deren primärer Bestimmungsgrund die Ausgedehntheit ist und die sich damit als Gesamtheit alles körperlich Seienden konstituiert.510 Auf diese Welt kann sich das denkende und selbst unausgedehnte Ich in verschiedenen Weisen beziehen, eine Wahrheitsbeziehung erreicht es durch eine mathematisierende Objektivierung der Zusammenhänge der Welt. In dieser Sichtweise wird die Welt strikt vom menschlichen Geist geschieden, und das Denken des menschlichen Geistes wird zum Fundament aller festen, evident einleuchtenden und allem Zweifel enthobenen Gewissheit bestimmt. Diese dualistische Denkweise bildet die Grundlage des wissenschaftlichen Denkens der Neuzeit, 511 sie bildet aber zugleich auch die Grundlage der Vorstellung, dass der Mensch den Sinn seines Lebens unabhängig von der Beschaffenheit der Welt und damit unabhängig von seinen Bezügen zur Welt selbst bestimmen könnte. Hiermit sind Positionierungen gemeint, die bereits bei der Beschäftigung mit dem Denken Bernulf Kanitscheiders zur Sprache kamen: Auf der Suche nach dem Sinn wird der Mensch auf sich selbst zurückgewiesen. Er darf nicht auf eine Führung durch die Welt warten, er muß sich selber seine Ziele setzen und durch die Vernunft leiten lassen, die Erfüllung seiner Ideale zu erstreben.512

Wer ist dieses »sich selbst«, das sich nicht von der Welt führen lassen darf? Kann der Mensch den Sinn seines Lebens unabhängig vom Einfluss der Welt »selbst« bestimmen? Existiert überhaupt etwas im Menschen, was jenseits seiner Bezogenheit auf die Welt liegt? Mit seiner Existenzanalyse in »Sein und Zeit« hinterfragt 250  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Heidegger derartige, vom Cartesianischen Dualismus geprägte Positionierungen. Die menschliche Existenz kann nach Heidegger nicht durch die Vorstellung eines isolierten Subjekts charakterisiert werden, das den Zugang zu seiner Welt erst finden muss. Es gibt im Menschen kein separates Subjekt neben seinen Weltbezügen. Der Mensch ist nur Mensch, insofern er in Weltbezügen existiert – oder in den Worten von Heidegger: Die Grundverfassung des Daseins ist das In-der-Welt-sein, und die Welt ist dessen nicht ausblendbares Strukturmoment.513 Diese Gedanken Heideggers lassen sich pro­blemlos auf die Fragestellung dieser Arbeit übertragen und ausweiten, wodurch die Gegenüberstellung einer existentieller Sinnhaftigkeit im Menschen und einer sinnfreien Welt in einer prinzipiellen Weise hinterfragt werden kann: Es gibt keinen Ort im Menschen jenseits seiner Weltbezüge, und damit kann es auch keine von existentieller Sinnhaftigkeit erfüllte Sphäre geben, die im Menschen den Bezügen auf eine sinnfreie Welt gegenüberstehen könnte. Nach Heidegger vollzieht der Mensch seine Existenz in der Welt so, dass er in seinem Existieren ständig auf das Innerweltliche bezogen ist. Dabei begegnet ihm das Seiende in der Welt mit einer existentiellen Bedeutsamkeit. Heidegger betont bei seiner Strukturbeschreibung des menschlichen Lebens – ähnlich wie Kierke­ gaard – die Bezugnahme des Menschen auf seine eigene Existenz: Das menschliche Leben vollzieht sich nicht als ein Automatismus, der Mensch muss sich um sein Leben kümmern, damit es ihm gelingt. Das Dasein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. […] Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist.514

Der Mensch vollzieht seine Existenz, indem er permanent und bereits strukturell auf seine Existenz Bezug nimmt. Mit der Bezugnahme auf die eigene Existenz geht nach Heidegger wesenhaft eine Bezugnahme auf die Welt einher. Der Mensch muss sich um seine Existenz in der Welt kümmern, damit sie gelingt und nicht Martin Heidegger  |  251

scheitert. Dieses strukturelle Charakteristikum beschreibt nach Heidegger die menschliche Existenz auf grundlegendster Ebene – er kennzeichnet es mit dem Begriff der »Sorge«. Diesen Terminus will Heidegger nicht als wertende Interpretation des menschlichen Lebens verstehen, 515 vielmehr möchte er das permanente und strukturelle Bezogensein des Menschen zum Ausdruck bringen: das Bezogensein des Menschen auf das Seiende in der Welt, auf die Mitmenschen und auf sich selbst. An diesem Bezogensein hängt das Los des menschlichen Lebens. In der Sorge schließen sich nach Heidegger mehrere strukturelle Charakteristika der menschlichen Existenz zu einer Ganzheit zusammen. Der Terminus der Sorge bringt zum einen zum Ausdruck, dass der Mensch in eine Welt eingebettet ist und als Teil einer Welt existiert, in der er sich behaupten muss. Hierbei begegnen ihm die Tatsächlichkeit seiner Existenz und seine konkrete Situiertheit in der Welt – seine »Faktizität« – als etwas Rätselhaftes, dem Verständnis sich nur schwer Erschließendes.516 Zum zweiten kommt in der Sorge zum Ausdruck, dass der Mensch stets auf die sich ihm darbietenden Möglichkeiten bezogen ist, die er in der Welt realisieren oder verwerfen kann; und durch die Weise seiner Lebensführung als Umgang mit diesen Möglichkeiten nimmt er Einfluss auf das Gelingen seiner Existenz. Und schließlich kommt im Terminus der Sorge zum Ausdruck, dass der Mensch an das Seiende in der Welt und an seine Mitmenschen ausgeliefert ist in dem Sinne, dass im Ausgangszustand der menschlichen Existenz die Lebensführung des Menschen nicht durch eigenes Lenken, sondern durch die äußeren Dynamiken des innerweltlich Seienden und durch die kulturellen Verhaltensweisen der Mitmenschen bestimmt und gesteuert wird.517 Der Mensch kann nach Heidegger in gewissen Grenzen dieses Ausgeliefertsein, diese weitgehende »Verfallenheit« an die Welt überwinden und »eigentlich« werden, indem er die für ihn entscheidenden Möglichkeiten nicht über die Denkweisen und Gewohnheiten seiner Mitmenschen erschließt, sondern indem er sich einen eigenen Zugang zur Welt und zu seinen Möglichkeiten in der Welt erringt.518 Die drei hier angedeuteten Strukturmomente charakterisieren nach Heidegger die menschliche Existenz, er bezeichnet sie als Faktizität, Existentialität und als Verfallensein. Diese drei Momente schließen sich nach ihm in der Strukturganzheit der Sorge zusammen: 252  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Die formal existenziale Ganzheit des onto­logischen Strukturganzen des Daseins muß daher in folgender Struktur gefaßt werden: Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Seinbei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein onto­logisch-existenzial gebraucht wird. Ausgeschlossen bleibt aus der Bedeutung jede ontisch gemeinte Seinstendenz wie Besorgnis, bzw. Sorglosigkeit.519

Diese Interpretation des menschlichen Existierens lässt keinen Raum für eine Trennung zwischen einer sinnfreien Welt und einem Ich, aus dem existentielle Sinnhaftigkeit entspringt: Ein Ich gibt es nur innerhalb von Weltbezügen. Die Weltbezüge des Menschen schließen sich mit seinem Streben nach einer gelingenden Existenz zu einer Einheit zusammen. In den Weltbezügen liegen die Einflüsse, die zum Scheitern oder Gelingen der Existenz führen, und über seine Weltbezüge kann der Mensch aktiv auf eine gelingende Existenz hinwirken. Alle existentielle Relevanz liegt in den Weltbezügen des Menschen. Existentielle Sinnhaftigkeit erfährt der Mensch in seinem Bezogensein auf die Welt. Nur über seine Beziehung zur Welt entscheidet sich, ob seine Existenz gelingt oder scheitert. Hierbei entspringt die existentielle Sinnhaftigkeit nicht in einem fiktiven Ursprung im Menschen und strahlt dann hinaus in die Welt. Der Mensch ist immer schon bezogen auf die Welt und in dieser Bezogenheit liegt alle Sinnhaftigkeit. Die Daseinsanalyse Heideggers hinterfragt damit nicht nur erkenntnistheoretische Positionierungen, die auf Descartes zurückgehen, sie stellt vielmehr auch das moderne Sinnfundament in Frage: Die Vorstellung eines Menschen, der in einer sinnfreien Welt den Sinn seines Lebens frei wählt, ist vor dem Hintergrund der Heidegger’schen Existentialanalyse eine Absurdität. Diese Vorstellung ist nicht einfach falsch – es ist nicht so, dass bei Heidegger der Mensch nicht frei wäre oder dass es bei ihm keine existentielle Sinnhaftigkeit gäbe. Absurd ist diese Vorstellung deswegen, weil sie auf der Annahme basiert, dass in einer sinnfreien Welt die existentielle Sinnhaftigkeit ihren Ursprung im Menschen selbst, jenseits seiner Weltbezüge, nehmen müsste und könnte. Heideggers Existenzanalyse besitzt, insbesondere in seinen beschreibenden Teilen und gerade auch durch die Gegenposition zum cartesianischen Dualismus zwischen Ich und Welt, eine hohe Überzeugungskraft. Sein Denken führt das fundaMartin Heidegger  |  253

mentale Verbundensein des Menschen mit seiner Welt vor Augen. Aus diesem Blickwinkel erscheint es höchst fraglich, dass die Vorstellung einer menschlichen Sinngebungsfähigkeit außerhalb der Weltbezüge des Menschen aufrechterhalten werden kann. Die Vorstellung einer freien Sinnschöpfung in einer sinnfreien Welt ist eine Zerrvorstellung. Warum sie das ist, zeigt sich, wenn man die Thesen Heideggers ausweitet und auf die Sinnfrage überträgt. In seiner Existenzanalyse stellt Heidegger zwei verschiedene Weisen des menschlichen Zugangs zur Welt gegenüber. In einer ursprünglichen Weise ist nach Heidegger der Mensch »besorgend« auf das Seiende in der Welt bezogen: Seiendes in der Welt begegnet dem Menschen unter dem praktischen Aspekt der Verwendbarkeit zu bestimmten Zwecken. Der tätige, besorgende Umgang des Menschen mit dem Seienden – paradigmatisch vollzogen im Werkzeuggebrauch – funktionalisiert das Seiende im Dienste menschlicher Entfaltung in der Welt. In ihm vollzieht sich die praktische Existenz des Menschen in der Welt als Sorge. Das besorgte Seiende konstituiert sich, in eine »Verweisungsmannigfaltigkeit« eingebettet, als »Zeug«: Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. […] Ein Zeug »ist« strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft »etwas, um zu«. Die verschiedenen Weisen des »Um-zu« wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit. In der Struktur »Um-zu« liegt eine Verwei­ sung von etwas auf etwas.520

Das besorgte Seiende besteht nie separiert für sich, es konstituiert sich nie als etwas Isoliertes, sondern steht immer in einer Beziehung zu anderem besorgten Seienden: Zeug ist seiner Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer. Diese »Dinge« zeigen sich nie zunächst für sich, um dann als Summe von Realem ein Zimmer auszufüllen.521

Das besorgte Seiende bildet einen Zusammenhang von Bedeutsamkeit: In seiner Verwendbarkeit ist Zeug stets auf anderes Zeug bezogen und steht dabei in einem strukturellen Zusammenhang 254  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

zu den Bedürfnissen des Menschen. Nach Heidegger begegnet dem Menschen das Seiende ursprünglich und primär als ein Seiendes mit Zeugcharakter. Die ursprüngliche Bezugnahme des Menschen auf das Seiende schließt daher eine Relevanz des Seienden für den Menschen ein. Diese Aussagen lassen sich auf die Sinnfrage ausweiten: Die praktische Relevanz des innerweltlich Seienden ist die Grundlage seiner existentiellen Relevanz. So wie das Zeug, in den Zeugzusammenhang eingebettet, dem Menschen mit einer praktischen Relevanz begegnet, wenn es um den Gebrauch zu bestimmten Zwecken geht, so begegnet das Seiende dem Menschen mit einer existen­ tiellen Relevanz, wenn es um die Frage geht, wie der Mensch sein Leben in der Welt als ein gutes Leben zu leben hat. Was Heidegger für das Seiende mit Zeugcharakter ausformuliert, lässt sich auf die Frage nach der existentiellen Relevanz des Seienden übertragen und verallgemeinern: So wie sich das besorgte Seiende in der Welt zu einem Verweisungszusammenhang zusammenschließt und dabei strukturell auf menschliche Bedürfnisse und Ziele bezogen ist, so bildet das innerweltlich Seiende strukturell einen Sinnzusam­ menhang, auf den sich die menschliche Existenz bezieht, insofern sie nach einem gelingenden Leben in der Welt strebt. Die Welt ist die Sphäre, in der sich die Existenz des Menschen vollzieht; der Mensch ist auf grundlegendster Ebene immer schon auf das Seiende in der Welt bezogen, und deswegen ist der Zusammenhang seiner Weltbezüge der Sinnzusammenhang, aus dem existentielle Sinnhaftigkeit entspringen muss. Nicht ein von der Welt isoliertes menschliches Selbst ist das Fundament von Sinn, sondern das Inder-Welt-sein des Menschen. Heideggers Analyse der menschlichen Existenz kann helfen, auf diesen strukturellen Zusammenhang zwischen der menschlichen Existenz und seiner Welt aufmerksam zu machen. Welchen Status haben diese Aussagen? Ist Heideggers Denken ein Relikt der meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit? Übernimmt Heidegger tradierte Vorstellungen von Ganzheitlichkeit und kosmischer Sinnhaftigkeit, indem er sie neu interpretiert?522 Dies ist so pauschal nicht der Fall. Wenn Heidegger das strukturelle Bezogensein des Menschen auf das Seiende in der Welt hervorhebt, ist das auch aus heutigen Denkperspektiven nachvollMartin Heidegger  |  255

ziehbar, und das gleiche gilt für die erweiterten Konsequenzen für die Frage nach dem Sinn des Lebens. Der Mensch ist mit seiner Welt verschmolzen, und deswegen kann es für ihn keine Sinnhaftigkeit außerhalb seiner Welt geben. Die Kritik an einer Sinnschöpfung aus dem Nichts, von Heideggers Existenzanalyse ihren Ausgang nehmend und auf die Sinnfrage ausgeweitet, beruht damit keineswegs auf Positio­nen, die auf meta­phy­sische Sinnvorstellungen zurückgehen. Die Hinterfragung der Trennung zwischen der sinnfreien Welt und dem Sinn schöpfenden Ich basiert auf einer Interpretation der menschlichen Existenz, die sowohl die Sichtweise der antiken meta­phy­sischen Sinnentwürfe und deren Traditions­ linie als auch spezifisch moderne Sichtweisen umschließt. Heideg­ gers Existentialanalyse steht zur Ontologie des wissenschaftlichen Denkens in keinem Widerspruch und bezieht insbesondere auch daraus ihren Wert, dass sie zeigt, wie eine echte Brücke zwischen vergangenen und heutigen Weisen des Denkens geschlagen werden kann.523 Warum jedoch begegnet im wissenschaftlichen Denken die Welt in einer derart hartnäckigen Weise als etwas Sinnfreies? Vor dem Hintergrund der Thesen Heideggers kann die Frage wie folgt beantwortet werden: Der wissenschaftliche Zugang zur Welt entspringt nicht aus dem ursprünglichen praktischen Umgang mit dem innerweltlich Seienden, sondern aus einem andersartigen, nachgelagerten Zugang zur Welt. Der Mensch kann nach Heidegger von dem Zeugcharakter des Seienden absehen, seinen besorgenden Umgang mit dem Seienden ausklammern und das Seiende außerhalb jeglichen Zeugzusammenhanges als etwas bloß Vorhandenes auffassen. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von einem »Umschlagen« des Seinsverständnisses von einem besorgenden zu einem bloß betrachtenden Umgang mit dem Seienden.524 Erst wenn der Mensch das Seiende aus dem Zusammenhang des Besorgten herauslöst, erst wenn er alle praktischen Aspekte des Seienden ausblendet, kann er eine eigenständig neue und grundlegend andersartige Auffassung525 des Seienden bilden: Der Mensch kann dann das Seiende als etwas bloß Vorhandenes auffassen, als ein Ding, das sich primär durch seinen Ort und durch seine Ausdehnung im Raum charakterisiert. Erst durch ein Absehen von jeglichen praktischen Bezügen kann sich das Seiende in seiner Vorhandenheit 256  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

zeigen und Gegenstand eines theoretischen Interesses werden. In dieser Ausklammerung der praktischen Bezugnahme liegt nach Heidegger aber stets eine Unvollständigkeit des menschlichen Bezogenseins auf die Welt: Damit Erkennen als betrachtendes Bestimmen des Vorhandenen mög­ lich sei, bedarf es vorgängig einer Defizienz des besorgenden Zu-tunhabens mit der Welt. Im Sichenthalten von allem Herstellen, Hantieren u. dgl. legt sich das Besorgen in den jetzt noch einzig verbleibenden Modus des In-Seins, in das Nur-noch-verweilen bei … Auf dem Grun­ de dieser Seinsart zur Welt, die das innerweltlich begegnende Seiende nur noch in seinem puren Aussehen (εἶδος) begegnen läßt, und als Modus dieser Seinsart ist ein ausdrückliches Hinsehen auf das so Begegnende möglich.526

Nach Heidegger ist die menschliche Existenz ein besorgendes Inder-Welt-sein, aber als ein solches kann der Mensch von dem Besorgen Abstand nehmen und auf der Grundlage einer Enthaltung einen eigenständigen und andersartigen Zugang zum Seienden etablieren – er kann das Seiende als Vorhandenes erkennen: Solches Hinsehen kommt selbst in den Modus eines eigenständigen Sichaufhaltens bei dem innerweltlichen Seienden. In sogeartetem »Aufenthalt« – als dem Sichenthalten von jeglicher Hantierung und Nutzung – vollzieht sich das Vernehmen des Vorhandenen. Das Vernehmen hat die Vollzugsart des Ansprechens und Besprechens von etwas als etwas. Auf dem Boden dieses Auslegens im weitesten Sinne wird das Vernehmen zum Bestimmen.527

Im erkennenden Zugang zum Seienden, das sich, durch Absehen von jeglicher praktischer Relevanz, als Vorhandenes konstituiert, liegt nach Heidegger der Ausgangspunkt für Wissenschaft: [I]m Erkennen gewinnt das Dasein einen neuen Seinsstand zu der im Dasein je schon entdeckten Welt. Diese neue Seinsmöglichkeit kann sich eigenständig ausbilden, zur Aufgabe werden und als Wissenschaft die Führung übernehmen für das In-der-Welt-sein.528 Das objektivierende Sein bei innerweltlich Vorhandenem hat den Charakter einer ausgezeichneten Gegenwärtigung. Sie unterscheidet sich von der Gegenwart der Umsicht vor allem dadurch, daß das Entdecken der betreffenden Wissenschaft einzig der Entdecktheit des Vorhandenen gewärtig ist.529 Martin Heidegger  |  257

Die Haltung der Wissenschaftlichkeit basiert nach Heidegger auf einem nachgelagerten Zugang zur sinnlich gegebenen Wirklichkeit: Erst durch ein Absehen von dem ursprünglich besorgenden Umgang mit dem Seienden kann der Mensch das Seiende in seinem Vorhandensein erkennen und so objektivieren. Dieser nachgelagerte Zugang zur Welt wird in der Neuzeit zur führenden Bezugnahme auf das Seiende in der Welt. Erst auf der Grundlage dieser Bezugnahme, die jede praktische Relevanz bereits prinzipiell ausblendet, kann der Mensch die Welt als etwas Sinnfreies erfahren. Heideggers Beschreibung der Situation weist auf zwei wichtige Aspekte von Wissenschaft hin: Zum einen ist die erkennende Bezugnahme auf Vorhandenes eine nachgelagerte, einengende Bezugnahme des Menschen auf Seiendes. Erst durch ein Absehen von allen praktischen Aspekten des ursprünglich besorgenden Umgangs mit dem Seienden wird ein erkennendes Objektivieren möglich. Zum anderen liegt dieser modifizierten Bezugnahme auf das Seiende gleichwohl keine Trennung zwischen Ich und Welt zugrunde. Auch im wissenschaftlichen Erkennen des Vorhandenen ist der Mensch immer schon auf die Welt bezogen: Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem »Draußen-sein« beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne »drinnen«, d. h. es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das erkennt. […] Das Erkennen schafft aber weder allererst ein »commercium« des Subjekts mit einer Welt, noch entsteht dieses aus einer Einwirkung der Welt auf ein Subjekt. Erkennen ist ein im In-der-Weltsein fundierter Modus des Daseins.530

Der Mensch kann sich nach Heidegger besorgend oder erkennend auf das Seiende in der Welt beziehen, wobei Ersteres die vorgängige und ursprüngliche, Letzteres die nachgelagerte Weise der Bezugnahme darstellt. Bei beiden Weisen der Bezugnahme ist jedoch der Mensch immer schon auf Seiendes bezogen – die Trennung zwischen Subjekt und Welt ist obsolet und fundamentlos, egal ob der Mensch besorgend oder erkennend auf das innerweltlich Seiende Bezug nimmt. Es gibt kein Ich jenseits der Weltbezüge. Die Gedanken Heideggers über die wissenschaftliche Bezugnahme auf das Seiende in der Welt können wieder auf die Sinn258  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

frage verallgemeinert und auf die Fragestellung dieser Untersuchung übertragen werden: Das wissenschaftliche Denken kann die Welt deswegen als etwas Sinnfreies auffassen, weil es bei der Bezugnahme auf das innerweltlich Seiende nicht nur von aller praktischen, sondern auch von aller existentiellen Relevanz absieht. Im Vorhandensein des Seienden ist jeder Bezug auf menschliche Ziele und Bedürfnisse sowie überhaupt auf das gute Leben beseitigt. Erst durch die Ausblendung von allen praktischen und existentiellen Bezügen kann das Seiende als etwas Vorhandenes aufgefasst werden. Erst durch dieses umfassende Beiseitelassen konstituiert sich die wissenschaftliche Bezugnahme auf die Welt, und erst hierdurch wird es möglich, die Welt als etwas Sinnfreies aufzufassen. Die Pro­blematik der Auffassung, dass der Mensch einer sinnfreien Welt als eine sinnschöpfende Instanz gegenübertreten könnte, steht somit klar vor Augen. Heideggers Denken zeigt, dass der Mensch nie außerhalb seiner Weltbezüge steht und nichts im Menschen sich jenseits seiner Weltbezüge befindet. Dies gilt sowohl für die besorgende als auch für die erkennende Bezugnahme auf die Welt. Es fehlt der Boden für ein Ich, das, mit einer sinnfreien Welt konfrontiert, den Sinn aus sich selbst heraus erschaffen könnte. Ein von den Weltbezügen abgetrenntes Ich ist eine Zerrvorstellung, die auf der cartesianischen Trennung zwischen res cogitans und res extensa basiert. Heideggers Interpretation der menschlichen Existenz als In-der-Welt-sein gibt entscheidende Impulse, um diese Trennung zwischen menschlichem Subjekt und den Objekten in der Welt wieder aufzulösen. Hierdurch wird nicht nur die skeptische Frage nach der Existenz der Außenwelt obsolet, hierdurch wird auch die Vorstellung eines Ichs, das von den Weltbezügen ab­ getrennt als sinnschöpfende Instanz auftreten könnte, entplausibili­ siert. Weil der Mensch seine Existenz stets in Weltbezüge eingebettet vollzieht, kann einer wirklich sinnfreien Welt nur ein sinnfreies Ich gegenüberstehen. Der Mensch existiert, indem er auf die Welt bezogen ist, und in ihm gibt es keinen Ort, der nicht auf die Welt bezogen wäre – die Beschaffenheit der Welt strahlt deswegen über die Weltbezüge auf den Menschen zurück. Der Mensch ist immer schon in der Welt, und deswegen kann er keinen grundlegend anderen Charakter haben als seine Welt. Der Mensch steht entweder unter einem Sinnhorizont, bei dem seine Vorstellungen über das Martin Heidegger  |  259

gute Leben in seinen Weltbezügen verankert sind und mit ihnen idealerweise eine Einheit bilden. Oder der Mensch sieht von aller praktischen und existentiellen Relevanz des Seienden ab, indem er einen wissenschaftlichen Zugang zur Welt etabliert – dann jedoch steht er einer sinnfreien Welt gegenüber und muss es hinnehmen, dass die Sinnfreiheit der Welt auf ihn selbst zurückstrahlt, da er als Mensch nur über seine Weltbezüge existiert. Insofern der Mensch immer schon in der Welt ist, kann er in einer sinnfreien Welt streng genommen nur eine sinnfreie Existenz führen. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass in der heutigen Zeit alle Menschen misslungene Existenzen führen würden. Auch heute noch können Menschen Vorstellungen des guten Lebens entwerfen, vernünftig begründen und in ihrem Lebensvollzug zur Bewährung bringen. Aber sie müssen dies abseits der Denkweise bewerkstelligen, mit der sie die Welt begreifen, erklären und bearbeiten. Je stärker die wissenschaftliche Denkweise das Leben des Menschen in der Moderne dominiert, desto grundlegender ist dieses Leben von einer umfassenden existentiellen Sinnferne bestimmt, die der Mensch selbst nicht wieder beseitigen kann. Weder die diesseitige, sinnlich gegebene Wirklichkeit, noch eine transzendente jenseitige Wirklichkeit und auch nicht das Innere des wählenden Subjekts kön­ nen eine stabile Grundlage für existentielle Sinnhaftigkeit bilden. Nichts spricht jedoch dafür, dass das menschliche Streben nach einer gelingenden Existenz auf ein Verständnis für die Sinnhaftigkeit dieser Existenz verzichten könnte. Welche Strategien des Umgangs resultieren aus diesem Zustand?

3.4.6 Einige Aspekte moderner Sinnvorstellungen: Freiheit, Lebenskomfort und Technik

Wie die vorhergehenden Abschnitte gezeigt haben, erschweren die bestimmenden Strömungen des modernen Denkens in einer sehr grundlegenden Weise die Herausbildung von angemessen fundierten Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die philosophischen Bemühungen um eine Überwindung dieser weitreichenden Sinnferne vollziehen sich in der komplexen Situation der Moderne. Im folgenden Abschnitt geht es um die Vielschichtigkeit 260  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

der Umstände, die zu berücksichtigen sind, um die charakteristischen Schwierigkeiten bei der heutigen Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen zu können. Im heutigen philosophischen Umgang mit der Sinnfrage existiert ein immenser Druck, diese Frage als eine nicht objektiv diskutierbare Privatangelegenheit von einzelnen Individuen aufzufassen. Durch die existentielle Sinnferne des wissenschaftlichen Denkens verlieren Sinnvorstellungen ihre intersubjektive Disku­ tierbarkeit und letzten Endes auch ihre Artikulierbarkeit und Verstehbarkeit. Der individuell zu wählende Lebenssinn droht prinzipiell den Charakter des Beliebigen anzunehmen. Es entsteht ein Zustand, der als das Gegenteil des aufklärerischen Ideals charakterisiert werden muss: Der Mensch kann sich über die leitenden Ideale und existentiell entscheidenden Ziele seines Lebens keine reflektierte Rechenschaft mehr ablegen. Dies ist das genaue Gegenteil dessen, wonach beispielsweise ein Denker wie Kant strebte. Holm Tetens beschreibt, wie wichtig es für Kant war, über die zentralen Sinn­bedingungen der menschlichen Existenz vernünftig zu reflektieren, und er weist darauf hin, dass genau dies in der heutigen Situation in eine weite Ferne gerückt ist: Aber anders als Kant trauen sich die meisten Zeitgenossen nicht mehr, sich über diese Fragen klare Rechenschaft abzulegen. […] Da man nicht allzu lautstark den Wissenschaften, den neuen Autoritäten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, widersprechen will, Gott, Unsterblichkeit und Willensfreiheit aber doch als unverzichtbar für den Seelenfrieden empfindet, sind die großen Annahmen der Meta­ phy­sik inzwischen zu diffusen und obskuren Privatmeinungen herabgesunken, die das Licht öffentlicher Diskussion eher scheuen. Nichts hasste der Aufklärer Kant so sehr, wie intellektuell im Trüben zu fischen. Was heute nach außen hin kein Thema mehr zu sein scheint und es hinter vorgehaltener Hand und in den Hinterköpfen der meisten doch immer noch ist, Kant diskutiert es explizit.531

Was Tetens hier als ein obskures Festhalten an den meta­phy­sischen Sinnvorstellungen der Vergangenheit beschreibt, beschränkt sich keineswegs nur auf diesen speziellen Typus: Im Generellen haben Sinnvorstellungen angesichts des wissenschaftlichen Denkens ihre Wahrheitsfähigkeit eingebüßt und den Status von Privatmeinungen angenommen. Nur auf eine sehr individuelle Weise lassen sich Freiheit, Lebenskomfort und Technik  |  261

die Vorstellungen über das gute Leben mit dem Verständnis über die Welt im Lebensvollzug des Einzelnen zusammenführen; und die kritische Reflexion ist zum Feind jeder derartigen Zusammenführung und damit zum Feind existentieller Sinnhaftigkeit geworden. Auf der einen Seite wächst das Wissen der neuzeitlichen Wissenschaft immer weiter an und gewährt dem Menschen nie dagewesene, ungeahnte Einblicke in den Aufbau und die Funktionsweise seiner Welt. Auf immer anspruchsvollere Weisen gelingt es dem Menschen, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik die Welt, in der er lebt, zu verändern und seinen Bedürfnissen anzupassen. In einem starken Kontrast hierzu stehen die immer ärmlicheren Wege, mit denen es das philosophische Denken vermag, existentielle Sinnhaftigkeit zu artikulieren. Die Diskrepanz zwischen der existentiell irrelevanten, aber ausgefeilten Wissenschaft und der Wahrheitsferne moderner Sinnentwürfe beklagt der konservative Denker Leo Strauß in prägnanter Weise. Was er in der Mitte des 20. Jahrhunderts über die Sozialwissenschaft sagt, lässt sich pro­ blemlos auf die heutige Wissenschaft generell beziehen: Wenn wir unserer Sozialwissenschaft folgen, dann können wir in allen Angelegenheiten von sekundärer Bedeutung weise sein oder werden, aber wir müssen uns im wichtigsten Punkt mit völliger Unkenntnis abfinden: wir können keine Kenntnis der letzen Prinzipien unserer Entscheidungen haben, d. h. keine Kenntnis in bezug auf ihre Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit; unsere letzten Prinzipien beruhen lediglich auf unseren willkürlichen und daher blinden Bevorzugungen. Somit sind wir also in der Lage von Wesen, die in trivialen Angelegenheiten vernünftig und nüchtern handeln, aber wie Wahnsinnige um das Glück würfeln, wenn sie sich ernsten Pro­blemen gegenübersehen – Vernunft im kleinen und Wahnwitz im großen. Wenn unsere Prinzipien nur in unserer blinden Vorliebe einen Halt haben, dann wird alles, was der Mensch wagen will, erlaubt sein.532

Strauß zieht daraus den Schluss, dass sich das moderne Denken zu den antiken Sinnentwürfen zurückwenden sollte, die die ethischen Forderungen aus Vorstellungen über die Natur ableiten. Strauß stellt diese Forderung im vollen Bewusstsein der Tatsache auf, dass das Gelingen eines solchen Vorhabens nicht allein vom Wunsch des Menschen und dem Willensakt menschlicher Wahl abhängen kann.533 Strauß’ Staunen über die existentielle Irrelevanz der Wis262  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

senschaft mag ohne Zweifel seine Berechtigung haben – seine Forderung nach einer Zurückwendung zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit wird jedoch ausschließlich von dem Wunsch getragen, diese Misslichkeit zu überwinden. Die Pro­bleme einer derartigen Rückwendung, die in erster Linie durch den Wunsch nach mehr Sinnerfülltheit befeuert wird, sind in dieser Arbeit ausführlich untersucht worden. Nichtsdestotrotz muss die Berechtigung dieses Wunsches gewürdigt werden: In der menschlichen Existenz ist das Streben nach einem Verständnis für die Existenz strukturell angelegt, und das angestrebte Verständnis ist keineswegs von vornhe­ rein auf ein lediglich theoretisches Wissen über die Beschaffenheit der Welt beschränkt, sondern umfasst auch die praktische Frage, wie der Mensch sein Leben in der Welt so führen soll, dass sich ein gelungenes und gutes Leben herausbildet. Der beschriebenen existentiellen Sinnferne zum Trotz müssen jedoch auch die gewichtigen Vorzüge der modernen Situation zur Sprache gebracht werden, um die philosophische Analyse nicht in Schwarzmalerei abgleiten zu lassen. Die Vorstellung der existentiellen Wahl entspringt nicht gänzlich aus einer erzwungenen Notwendigkeit, vom Anspruch auf Wahrheit abzurücken – in ihr ist wesenhaft auch eine Wertschätzung der individuellen Freiheit des Menschen angelegt. Der Verzicht auf inhaltliche Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geht in der Moderne auch mit dem Bewusstsein einher, dass Heilswahrheiten strukturell gegen die Freiheit des Individuums gerichtet sind. In der Beantwortung der Sinnfrage scheuen sich moderne Denker, inhaltlich konkretisierte Antworten mit Wahrheitsanspruch zu formulieren. Stattdessen wird der Rahmen von möglichen Antworten auf die Sinnfrage lediglich formal abgegrenzt: In der Moderne bildet sich das Bewusstsein heraus, dass Sinnvorstellungen nicht als Einsichten in sinntragende Wahrheiten erkannt, sondern in einer freien und prinzipiell unbeschränkten individuellen Wahl gewählt werden müssen. In diesem Zusammenhang bedeutet Freiheit die Abwesenheit von sozialem Zwang und nicht die onto­logische Losgelöstheit von der Welt. Im formalen Sinnrahmen der Moderne bildet die individuelle Wahl das Fundament von Sinnvorstellungen. Getragen wird diese Position von der Einsicht, dass eine menschliche Existenz nur dann im echten Sinne sinnerfüllt sein kann, wenn sie Freiheit, Lebenskomfort und Technik  |  263

ihre Zwecke frei gesetzt und ihre Sinnvorstellungen frei erfahren, verstanden, durchdacht und durchlebt hat. Jede Form des Zwanges widerspricht dem Streben nach existentieller Sinnerfülltheit. Die Vorstellung der sinnrelevanten Wahrheit hingegen korreliert histo­ risch mit menschlicher Gewaltanwendung: Die transzendenzbezogenen Sinnentwürfe der Vergangenheit wurden allzu häufig von den Menschen nicht freiwillig übernommen. Gerade Gesellschaften, die sich durch religiöse Sinnentwürfe wie etwa das Christentum konstituierten, waren sozialer Druck und Gewalttätigkeit alles andere als fremd.534 Den Sinnentwürfen der Vergangenheit wohnt gerade durch den Anspruch auf Wahrheit eine Tendenz zum Totalitären inne, die mit der freien Annahme von Sinnvorstellungen konfligiert. In diesem Sinne stehen die meta­phy­sischen Sinnentwürfe echter Sinnerfülltheit sogar strukturell entgegen. Mit einigem Recht bestimmt das Denken der Moderne als Bedingung für echte Sinnerfülltheit die Existenz eines sozialen Raumes der Freiheit, innerhalb derer die Individuen ihr Glück und ihren Lebenssinn unvertretbar selbst zu bestimmen und zu verwirklichen haben. Diese Freiheit ist in modernen – liberalen, demokratischen und pluralistischen – Gesellschaften viel weitgehender realisiert als in den Gesellschaftsformen, die eng mit dem Denken der transzendenzorientierten Sinnentwürfe der Vergangenheit verbunden sind oder waren.535 In der Hinwendung zu diesen tradierten Sinnentwürfen liegt auch die Gefahr, in einer blinden Weise potentiell gefährliche Denkweisen wiederbeleben zu wollen – ganz abgesehen von der Frage, ob eine echte Wiederbelebung überhaupt möglich ist. Der Wahrheitsanspruch meta­phy­sischer Sinnentwürfe ist ein zweischneidiges Schwert – die moderne Vorstellung der Wählbarkeit hat, aller erwähnten Pro­bleme zum Trotz, ihr eigenes Anrecht, das anzuerkennen ist: In der Vorstellung individueller Freiheit liegt eine unverzichtbare Bedingung echter Sinnerfülltheit, und hierin liegt ihr ganz eigener Wert. Von inhaltlichen Antworten auf die Sinnfrage ist aber auch die heutige Zeit nicht vollständig frei. Auch unter den Bedingungen der Moderne kann der Mensch erkennen, dass die Welt, so wie sie ist, der Entfaltung menschlichen Glücks im Wege steht: Durch die Grenzen der körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen, aber auch durch Krankheit, Naturgewalt und Zufall wirkt 264  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

die Beschaffenheit der Welt der Realisierung menschlicher Bedürfnisse entgegen. Mit diesem Zustand finden sich viele Menschen in der Moderne nicht einfach ab, sie versuchen nicht, ihn als etwas Unvermeidbares anzusehen, in das sie einwilligen müssen – sie versuchen stattdessen, durch eigenes Denken und Handeln die Beschaffenheit der Welt aktiv zu verändern. Ein zentrales Bestreben der Moderne ist, durch Wissenschaft und Technik die Welt so umzugestalten, dass in der Welt immer mehr Bedürfnisse befriedigt und immer mehr Übel beseitigt werden können. Hieraus leitet sich eine inhaltliche Sinnvorstellung der Moderne ab: Lebe, um die Welt so zu verändern, dass immer mehr menschliche Bedürfnisse realisiert und immer mehr Übel beseitigt werden können.536 Ziel ist ein stetig gesteigerter Lebenskomfort, der Weg dahin führt über eine Veränderung der Welt. In den charakteristischen Haltungen der Moderne geht es nicht mehr darum, sich selbst zu verändern, um sich an die göttliche Harmonie des Kosmos anzupassen. Der Mensch, so wie er faktisch ist, wird nicht mehr als etwas Defizientes betrachtet, das grundlegend transformiert werden muss – der Mensch mit seinen faktischen Bedürfnissen wird zum Maßstab, an dem sich die Umgestaltung der Welt durch den Menschen zu orientieren hat. Dieses Vorhaben ist von durchschlagendem Erfolg gekrönt: Dem Menschen gelingt es in der Moderne im nie dagewesenem Ausmaß, durch wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung menschliche Bedürfnisse zu befriedigen und Übel aus der Welt zu beseitigen. Die Moderne realisiert auf diese Weise einen nie erlebten Lebensstandard, dessen Komfort eine unwiderstehliche Attraktivität ausübt. Das wahre Ausmaß kommt auch hier insbesondere dann zum Vorschein, wenn die modernen Lebensumstände mit der Lebensweise in nichtmodernen Gesellschaften verglichen werden: Mit der Entfaltung von Wissenschaft und Technik geht in der Regel eine Zurückdrängung von Krankheit, Hunger und menschlichem Elend einher. Der Lebenskomfort der Moderne ist eine Errungenschaft, von der nur die wenigsten Menschen abrücken möchten und deren Anziehungskraft den Charakter einer Selbstverständlichkeit hat. Aber dennoch wirft das moderne Streben nach immer mehr Lebenskomfort einige Fragen auf. Zum einen stellt sich die Frage, ob die Sinn konstituierende Fokussierung auf eine stetig intensiFreiheit, Lebenskomfort und Technik  |  265

vierte Befriedigung von Bedürfnissen in der Konsequenz nicht unannehmbare Übel schafft, insbesondere, was die Kapazitäten des Planeten als menschliche Umwelt angeht: Der Mensch bedroht durch die Ausweitung seiner Eingriffe in die Welt seinen eigenen, unersetzbaren Lebensraum. Die Verbesserung der menschlichen Lebensumstände durch Wissenschaft und Technik setzt das Vorhandensein einer einigermaßen intakten Umwelt voraus, bringt aber genau diese unintendiert in Gefahr.537 Eine genauere Beschäftigung mit dieser Pro­blematik würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Eine unmittelbare Relevanz für die hier diskutierten Pro­bleme hat jedoch eine andere Frage: Es ist sehr zweifelhaft, ob in einer Situation, in der menschliche Bedürfnisse in einem absolut gesehen sehr hohen und relativ gesehen noch nie dagewesenen Ausmaß faktisch befriedigt werden, der Verbleib bei der Fokussierung auf Bedürfnisbefriedigung die angemessene Reaktion ist. Die inhaltliche Sinnvorstellung der Moderne – Bedürfnisbefriedigung und Übelbeseitigung durch wissenschaftlich-technische Natur­ beherrschung – ist eine attraktive und wirkungsmächtige Sinnvorstellung, wenn der Mensch mit Übeln wie Krankheit, Hunger oder Elend konfrontiert ist. Die inhaltliche Sinnvorstellung der Moderne wird jedoch genau in dem Maße obsolet, in dem sie sich in der Welt realisiert – zwar nicht als Wert, aber als zentraler Lebenssinn. Ihre Sinngebungskraft schwindet mit dem Steigen des Lebensstandards, weil sich menschliches Glück durch eine Ausweitung von Bedürfnisbefriedigung nicht beliebig steigern lässt.538 Zumindest die heutigen entwickelten westlichen Länder haben es geschafft, ein Lebensniveau zu etablieren, bei dem die menschlichen Bedürfnisse in hohem Maße befriedigt und vielfältige Übel beseitigt oder eingedämmt sind. Sich in einer derartigen Situation auf Bedürfnisbefriedigung und Übelbeseitigung zu fokussieren führt jedoch eher dazu, immer neue und tendenziell überflüssige Kreisläufe der Bedürfniserzeugung und Bedürfnisbefriedigung in Gang zu setzen. In einem Zustand des weitgehenden Befriedigtseins ist es ein Ausdruck von Ziellosigkeit, sich weiterhin auf die Bedürfnisse zu konzentrieren. Die inhaltliche Sinnsetzung der Moderne droht so heute zum Ausgangspunkt für sinnlose Prozesse zu werden. Insbesondere vor dem Hintergrund des etablierten Niveaus wird es immer offensichtlicher, dass die Konzentration auf die Steigerung 266  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

des Lebenskomforts keine hinreichenden Per­spek­ti­ven mehr für existentielle Sinnerfülltheit eröffnet. Hermann Lübbe weist zu Recht darauf hin, dass in der heutigen Situation eine Diskrepanz zwischen den Lebensvorzügen der modernen Zivilisation und dem Sinnstiftungsbedarf der Moderne existiert: Gerade wegen der »Trivialität der Lebenssinngehalte, die heute tatsächlich den Prozess der zivilisatorischen Globalisierung steuern«, 539 entsteht die Herausforderung, den Sinn des Lebens ohne Hilfe von Wissenschaft und Technik zu bestimmen: Sinnansprüche hingegen, die die moderne Zivilisation mit der Trivia­ lität ihrer Wohlfahrtsgehalte in der Tat nicht zu bedienen vermag, scheinen sich heute wieder, realitätsnäher, an die Adresse der Religionen zu richten.540

In dieser Sichtweise bildet die Trivialität moderner Sinngehalte den Boden für eine Rückwendung zu den Sinngehalten der Vergangenheit. Lübbe bezieht hier eine für die heutige Zeit charakteristische Position.541 Die Pro­bleme, die damit verbunden sind, sind in der vorliegenden Untersuchung ausführlich thematisiert worden. Die Konsequenz ist, dass der moderne Rückgang auf die tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe deren Sinngehalte auf eine sehr grundlegende Weise transformiert, auch wenn die Metamorphose häufig verdeckt bleibt und die konkreten Sinngehalte und Wertsetzungen gleich zu bleiben scheinen. Aber es besteht ein großer Unterschied zwischen Aussagen wie »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde« und Aussagen der Art »Wer will, kann im Rekurs auf den kosmologisch vermuteten Big Bang die Lehre von der Schöpfung wiedererkennen.«542 Der Unterschied liegt im veränderten Wahrheits- und Weltbegriff sowie im Sinnfundament freier Wählbarkeit. Ob die tradierten Sinngehalte innerhalb des formalen Sinnrahmens der Moderne reformuliert und ob ihre Fundamente von der Wahrheit zur Wählbarkeit transformiert werden können, ist höchst fraglich. Die meta­phy­sischen Sinnvorstellungen der Vergangenheit passen nicht zu den vorherrschenden Denk- und Lebensweisen in der Moderne, und weil angemessene und ausfül­ lende moderne Sinngehalte fehlen, stellt die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens unter den Voraussetzungen der Moderne eine besondere Schwierigkeit dar. Freiheit, Lebenskomfort und Technik  |  267

Die Herausforderung, die existentielle Tiefe des menschlichen Lebens in der Moderne angemessen zu artikulieren, bringt der Technikphilosoph Max Bense sehr eindringlich zum Ausdruck. Er untersucht die Rolle der Technik für den Menschen in der modernen, wissenschaftlich-technischen Zivilisation und stellt dabei fest, dass es dem Menschen in der Moderne nicht mehr freisteht, im Sinne der kulturellen Überlieferung so zu leben, dass er »sich dem ästhetischen, ethischen oder religiösen Stadium hingibt«: Die Denkmuster der vergangenen Sinnentwürfe können der spezifisch modernen Situation nicht mehr gerecht werden. Es fehlt eine genuin moderne und hinreichend reflektierte Theorie des menschlichen Lebens. Es fehlt eine »existentielle Ontologie«: eine Interpretation der Welt und der menschlichen Existenz, die das menschliche Existieren in all seiner Fülle und Tiefe umgreifen kann und bei der »der freie, einsame, schöpferische Mensch noch eine Realität besitzt«:543 Aber heute sind wir nicht in der Lage, diese Welt theoretisch, geistig, intellektuell, rational zu beherrschen. Ihre Theorie fehlt, und damit fehlt die Klarheit des technischen Ethos, das heißt die Möglichkeit, seinsgerechte ethische Urteile innerhalb dieser Welt zu fällen. Und das scheint mir das Kriterium für die Diskrepanz zu sein. Zwischen dem konkreten Sein dieser technischen Welt und der konkreten Existenz, die gezwungen ist, mit allen Fasern und Schichten des Lebens und des Geistes in ihr zu wohnen. Wir perfektionieren vielleicht noch diese Welt, aber wir sind außerstande, den Menschen dieser Welt für diese Welt zu perfektionieren. Das ist die bedrückende Situation unserer technischen Existenz.544

Nach Bense perfektioniert der Mensch seine Welt durch Technik, und die mit der Technik einhergehende Denk- und Lebensweise bildet die Grundlage des Lebens in der Moderne. Jedoch fehlt nach Bense die passende Theorie zur technischen Existenzweise: Es fehlt die inhaltlich ausformulierte Vorstellung, wie der Mensch mit allen seinen existentiellen Bedürfnissen durch das technische Existieren ein gutes Leben verwirklichen könnte. Bense weist hier auf ein wichtiges Pro­blem hin, und es spricht einiges dafür, dass eine passende Theorie zur technischen Existenz bereits aus prinzipiellen Gründen versagt bleiben muss. An dieser Stelle ist daher eine kurze Beschäftigung mit der modernen Technik vonnöten. 268  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Das wissenschaftliche Denken der Neuzeit verbindet sich mit der Praxis der Technik zu einer unauflöslichen Einheit, die sowohl das Denken als auch das Handeln des Menschen umgreift. Die experimentelle Wissenschaft besitzt stets eine technisch-praktische Seite, und die Technik ist immer auch ein Ausdruck eines Weltverständnisses und nie ein bloß blindes Handeln. Durch Wissenschaft und Technik begreift und verändert der Mensch seine Welt, die Natur ist der Möglichkeitsraum für das technische Wirken des Menschen in der Welt. Die moderne Technik potenziert die menschlichen Einflussmöglichkeiten auf innerweltliche Vorgänge. Zugleich bringt sie eine bestimmte Sicht auf die Welt zu einem konkreten Ausdruck. Das menschliche Streben, immer mehr Bedürfnisse zu befriedigen und immer weitere Übel loszuwerden, äußert sich im aktiven Umgestalten der Welt durch Technik. Holm Tetens weist hierbei auf zentrale Aspekte der Technik hin: Technisches Existieren kann als ein Projekt der Selbsterlösung des Menschen betrachtet werden, und hierdurch bekommt Technik einen religiösen Charakter.545 Tetens beschreibt, wie sich die Technik in einer dialektischen Weise gegen ihre tragenden Motive wendet. Auf den Gedanken von Tetens aufbauend kann gezeigt werden, dass sich die wissenschaftlich-technische Existenzweise nicht nur über ihre Konsequenzen dialektisch gegen den Menschen stellt, sondern dass sie bereits in sich durch eine grundlegende Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist, die prinzipiell verhindert, dass das Projekt menschlicher Selbsterlösung überhaupt funktionieren kann. Nach Tetens ist die moderne, wissenschaftlich-technische Zivi­ lisation durch den Glauben an zwei grundlegende Postulate bestimmt. Das erste Postulat liegt in der Annahme, dass ausschließlich die Wissenschaften einen angemessenen Zugang zur Wirklichkeit eröffnen können, auch wenn sich die auf diese Weise erkannte Welt durch eine radikale existentielle Sinnfreiheit auszeichnet.546 Daraus entsteht nach Tetens die Aufgabe, die Sinnfreiheit der Welt durch eine Zurückdrängung der in der Welt vorherrschenden Übel zu bekämpfen, woraus sich folgendes Postulat ergibt: Man sollte es das Postulat der Weltperfektionierung nennen. Es beinhaltet: Indem wir die Ergebnisse wissenschaftlicher Welterkenntnis technologisch anwenden und unter Bedingungen kapitalistischer ProFreiheit, Lebenskomfort und Technik  |  269

duktion von Waren und Dienstleistungen ökonomisch nutzen, schaffen wir eine immer bessere Welt, in der immer mehr Übel und Leiden aus ihr verschwinden.547

Nach Tetens besitzt die Lebensweise, die auf dem Glauben an die beiden Postulate der Exklusivität der Wissenschaften und der tech­ nischen Weltperfektionierung beruht, einen dialektischen Charakter. Der Keim hierfür liegt in der Methode des Experiments als Fundament der neuzeitlichen Wissenschaft. Durch Laborexperimente erforscht die Wissenschaft die Zusammenhänge der sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Mit der experimentellen Methode geht stets auch ein Wissen um die technische Manipulierbarkeit der zu erkennenden Phänomene einher. Der wissenschaftlich-technische Zugang zur Wirklichkeit erstreckt sich uneingeschränkt auf alles Seiende in der Welt, und damit auch auf den Menschen. Der Mensch fällt – zumindest im Prinzip – mit all seinen körperlichen und seelischen Momenten in den Bereich der wissenschaftlichen Erkennbarkeit und technischen Manipulierbarkeit, und das bringt nach Tetens das Freiheitsideal menschlicher Autonomie sehr grundlegend in Gefahr: Der (natur)wissenschaftlich vollständig erforschte Mensch wäre der vollkommen gläserne und allen technischen Manipulatio­nen im Prinzip zugänglich gemachte Mensch. Jederzeit bestünde dann die Möglichkeit, ihn zu einer bloß technischen Sache, zu einer beliebig umbaufähigen und perfektionierbaren Biomaschinerie zu machen. Es duldet keinen Zweifel, dass die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen auf das Höchste gefährdet wäre. […] Denken wir die experimentelle Methode der Wissenschaften konsequent zu Ende, so werden wir eines Weltzustandes ansichtig, in welchem der Mensch jederzeit als moralisch verantwortliche Person abgeschafft und er auf eine technisch beliebig verfügbare Sache degradiert werden könnte.548

Dies hat nach Tetens die Konsequenz, dass die experimentelle Wissenschaft und die aus ihr hervorgehende Technik nur dann gutgeheißen werden können, wenn durch sie gerade das nicht erreicht wird, was von ihrer Anlage her durch sie erreicht werden soll: die vollständige wissenschaftlich-technische Erkennbarkeit und Manipulierbarkeit alles Seienden. Naturerkenntnis durch experimentelle Wissenschaft und Naturbeherrschung durch Technik sind nach 270  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Tetens nur dann wünschenswert, wenn sie eine bestimmte Grenze nicht überschreiten: Es existiert ein dialektischer Umschlagspunkt, an dem die Nachteile und Gefahren der Wissenschaft und Technik deren Segnungen überwiegen. Nach Tetens ist es unklar, wo genau dieser Umschlagspunkt liegt und ob er nicht längst schon erreicht wurde.549 Der Mensch verortet sich in der Situation der Moderne in einer sinnfreien Welt, die jedoch technisch verbessert werden kann, und spielt Gott, indem er die existentiell frustrierende Welt durch Technik immer weitgehender verbessert und perfektioniert. Auf diese Weise versucht der Mensch, die traditionellen Vollkommenheitsprädikate Gottes auf sich selbst zu übertragen und sich so selbst zu erlösen – hierdurch bekommt nach Tetens die wissenschaftlich-technische Existenz einen religiösen Charakter.550 Eine derartige Existenzweise besitzt jedoch eine destruktive Kehrseite: Die Beseitigung von Übeln in der Welt geht mit der Erzeugung von neuen Übeln einher. Je stärker Menschen versuchen, die Sinnfreiheit und Feindlichkeit der Welt durch eine technische Umgestaltung zu überwinden, desto stärker wenden sich die unintendierten Folgen dieser Bestrebungen gegen sie. Eine besondere Pro­blematik entsteht, wenn der Mensch sich selbst als Objekt wissenschaftlich-technischer Weltperfektionierung versteht und dadurch die Funda­mente seiner eigenen Existenz untergräbt. Holm Tetens verweist mit seiner Technikphilosophie auf wichtige Aspekte der Moderne. Seine Argumente können durch die Erkenntnisse meiner Untersuchung noch zugespitzt werden. Es sind nicht nur die Folgen der Ausübung von Technik, die sich dia­ lektisch gegen den Menschen kehren. Die Grenze menschlicher Selbsterlösung liegt nicht nur darin, dass sich Wissenschaft und Technik desto stärker gegen den Menschen wenden, je mehr sie sich in der Welt realisieren. Das moderne Selbstverständnis des Menschen als Sinn schöpfende Instanz in einer sinnfreien Welt wird prinzipiell untergraben, sobald die Schöpfung von existentieller Sinnhaftigkeit als technische Umgestaltung der Welt verstanden wird. Sobald der Mensch sein Heil im technischen Umbau der Welt sucht, muss er es hinnehmen, dass dieser Umbau ihn selbst auch mit einschließt. Im wissenschaftlich-technischen Umgang mit der Welt wird das Seiende als etwas Sinnfreies aufgefasst, das keinen Eigenwert hat, sondern seinen Wert erst durch den menschlichen Freiheit, Lebenskomfort und Technik  |  271

Eingriff bekommt. Daraus entsteht eine paradoxe Konstellation: Der Mensch betrachtet sich selbst als einzige Quelle von existen­ tiel­ler Sinnhaftigkeit, wendet aber auf sich selbst eine Umgangsweise an, die dies in einer prinzipiellen Weise negiert. Die Pro­blematik dieser Paradoxie ist nicht zuletzt eine onto­ logische. Als Sinn schöpfende Instanz müsste der Mensch den Kern seines Menschseins eigentlich vor einer Degradierung zu einem Objekt der Technik schützen. Im Denkhorizont der Moderne versteht sich der Mensch gänzlich als ein Teil der Natur, und die Natur betrachtet er ohne Einschränkung als Material seines Umgestaltungswillens. Somit stellt sich der Mensch einerseits als sinntragende Instanz in Opposition zu einer sinnfreien Natur, andererseits versteht und behandelt er sich selbst als Teil dieser sinnfreien Natur. Das Projekt der Selbsterlösung durch Technik kann jedoch der Anlage nach nur funktionieren, wenn der Mensch die existentielle Sinnhaftigkeit in die Natur hineinträgt. Dies kann nur von einer Schicht im Menschen ausgehen, die sich außerhalb des Bereiches wissenschaftlich-technischer Verfügbarkeit befindet. Genau dieses Moment der menschlichen Existenz – das Sinn schöpfende Ich, das sowieso auf einem sehr wackeligen onto­logischen Fundament steht 551 – wird jedoch vollständig negiert, wenn der Mensch seinen technischen Gestaltungswillen uneingeschränkt auf sich selbst lenkt. Die Entfesselung der modernen Technik untergräbt so das Fundament der menschlichen Existenz. Dieses Pro­blem ist streng genommen von der Frage unabhängig, ob die Vorteile der Technik ihre Nachteile überwiegen: Selbst wenn man von allen unintendierten Folgen beispielsweise der Kerntechnologie, fossilen Energie oder Gentechnik absieht und annimmt, dass die moderne Technik nur Vorteile mit sich bringt, eröffnet sich die Einsicht, dass über den technischen Umgang mit dem Seienden eher die Sinnfreiheit der Welt auf den Menschen übergreift, als dass eine vom Menschen ausstrahlende Sinnhaftigkeit das innerweltlich Seiende erfüllen könnte. Im Verständnishorizont des modernen Denkens bildet der Mensch einen Teil der Natur, aber es fehlt die Vorstellung, einem Seienden in der Natur einen unantastbaren Eigenwert zuzuschreiben. Die technische Existenz kennt in Wahrheit keine Grenzen technischer Verfügbarkeit und kann auch keine kennen, weil das in ihrer Vorstellungswelt keinen 272  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Platz hat. Hierdurch entsteht eine moderne onto­logische Zwickmühle: Das Selbstverständnis des Menschen entspringt aus dem Gegensatz zwischen einer sinnfreien, aber technisch verbesserungsfähigen Welt und einem Sinn schöpfenden Ich, aus dem die Weltverbesserung entspringt. Genau dies wird jedoch durch die Entfaltung der wissenschaftlich-technischen Lebensweise in einer prinzipiellen Weise unterminiert, insofern auch der Mensch selbst, mit all seinen körperlichen und seelischen Momenten, zu einem Objekt technischer Modifizierung gemacht wird. Hierbei fehlen die onto­logischen Mittel, um den Menschen von einer sinnfreien Welt abzugrenzen und ihn vor dem Herabsinken zu einem technischen Objekt zu schützen. Das Ich als sinntragende Instanz, das der sinnfreien Welt gegenüberstehen soll, gerät in Bedrängnis und droht, sich in nichts aufzulösen. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass viel eher die Sinnfreiheit der Welt auf den Menschen übergreift, als dass der Mensch eine aus ihm entspringende Sinnhaftigkeit in die Welt hineintragen könnte.552 Bei all dem ist die Bedrohung durch die schwer abzuschätzenden Gefahren der Technik nicht von der Hand zu weisen. Über die Grenzen der Technik kann zwar reflektiert werden, aber die modernen Barrieren stellen keine unverrückbaren Grenzen dar – sie sind gesetzte, vorläufige und verhandelbare Übereinkünfte, die auf einer menschlichen Wahl und nicht auf der Einsicht in eine Wahrheit beruhen. Unter den Voraussetzungen der Moderne können im besten Falle Selbstbeschränkungen erreicht werden. Sofort stellt sich hier die Frage nach der Praktikabilität, und bereits hier wird es aus verschiedenen Gründen pro­blematisch: Die kurzfristigen Vorteile der Technik drängen die langfristigen Gefahren aus dem Blickfeld, zudem ist das Wissen um die Gefahren oft nicht hinreichend gesichert und relevante Entscheidungsprozesse müssen auf globaler Ebene entschieden und durchgesetzt werden. Es existiert die generelle Neigung, der Gefahren der Technik durch noch mehr Technik Herr werden zu wollen. Echte Selbstbeschränkungen der Technik liegen daher in der heutigen Zeit noch in weiter Ferne. Aber ganz abgesehen von den praktischen Hürden, die für sich genommen schier unüberwindbar sind, liegt das Pro­blem in der Schwierigkeit, der wissenschaftlich-technischen Denkweise etwas entgegenzusetzen. In der Antike verhinderte die Weltsicht des MenFreiheit, Lebenskomfort und Technik  |  273

schen eine Ausdehnung des technischen Gestaltungswillens auf die ganze Welt und auch auf den Menschen selbst. Erinnert sei hier beispielsweise an die aristotelische Weltsicht, in der alles Seiende als Manifestation des Göttlichen aufgefasst wurde und in der der Mensch die höchste Ausprägung der göttlichen Sichtbarkeit in der Welt verkörperte:553 In einer derartigen Weltsicht ist das technische Wirken des Menschen bereits durch prinzipielle Grenzen des Denkens beschränkt. Im modernen Denken fehlen derartige Begrenzungen, und deswegen können sich das wissenschaftliche Denken und das technische Wirken immer weiter ausweiten und auch den Menschen selbst umgreifen. Das wissenschaftlich-technische Existieren kann eine Eigendynamik entwickeln, sich verselbständigen und gegen den Menschen kehren, weil sich diese Existenzweise von der Anlage her grenzenlos auf alles Seiende erstreckt und weil auch der Mensch auf die gleiche onto­logische Ebene gestellt wird wie das Material seines technischen Gestaltungswillens. Das moderne Selbstverständnis mag zwar auf dem Gegensatz zwischen dem Sinn schöpfenden Ich und der sinnfreien, technisch zu verbessernden Welt beruhen – weil jedoch dieses Sinn schöpfende Ich onto­logisch kaum fassbar ist, kann es auch schwer vor einem vollständigen Anheimfallen an technische Umbildungsprozesse geschützt werden. Die einzige genuin moderne existentielle Sinnquelle ist eine onto­ logisch fragile Zerrvorstellung, die durch die Entfaltung der modernen wissenschaftlich-technischen Lebensweise performativ negiert wird: Indem der Mensch alle seine Facetten in den Bereich der technischen Veränderbarkeit rückt, bringt er das Sinnfundament zum Verschwinden, das seinen technischen Gestaltungswillen der Anlage nach eigentlich tragen sollte. Die Sinnquelle des Ich passt in Wirklichkeit nicht in das moderne wissenschaftlich-technische Weltbild. Passender wäre daher eine Auffassung der Existenz, die nicht von einem Sinn schöpfenden Ich, sondern von den faktischen Bedürfnissen des Lebewesens »Mensch« ihren Ausgang nimmt. In einer solchen Interpretation hätte der Mensch eine bestimmte körperliche und seelische Konstitution, der bestimmte natürliche Bedürfnisse auf der einen und Fähigkeiten auf der anderen Seite entsprängen. Der Mensch könnte die vielfältigen körperlichen und mentalen Aspekte seines Lebens in einem wissenschaftlichen 274  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Voka­bular intellektuell verstehen und durch Technik modifizieren, ohne sich in onto­logische Widersprüche zu verwickeln. Die treibende Kraft wären seine faktischen Bedürfnisse, Triebe und Wünsche, die allesamt als Momente der sinnfreien, wissenschaftlich erklärbaren Wirklichkeit aufzufassen wären. Die Mannigfaltigkeit des empirisch zugänglichen, faktischen Ich bildete hier die alleinige Grundlage der menschlichen Existenz, die genauso ein Teil der Welt wäre wie alles nichtmenschliche Seiende. In einer solchen Beschreibung erstreckte sich das wissenschaftlich-technische Vokabular auch auf die Quelle der menschlichen Handlungen – ein Verweis auf die quasi-mystische Instanz des Sinn schöpfenden Ichs wäre entbehrlich, und alle Momente der menschlichen Existenz wären als natürliche und im Prinzip »sinnfreie« Prozesse erklärbar. Ontologisch vollständig ein Teil der Welt, wäre der Mensch auch vom Tier, durch seine mentalen Fähigkeiten, nur graduell zu unterscheiden. Der Mensch befände sich auf derselben onto­logischen Ebene wie alles belebte und unbelebte nichtmenschliche Seiende. In dieser Sichtweise könnte sich der technische Umgang mit der Welt uneingeschränkt auch auf den Menschen selbst richten, und das wäre innerhalb einer solchen Interpretation der Existenz noch nicht einmal ein Pro­blem – selbst dann nicht, wenn die Gefahren der Technik den Menschen vernichten könnten –, weil es sich ja vollständig um »sinnfreie« Vorgänge handelte. Die Anwendung des wissenschaftlichen Denkens käme radikalisiert, ohne das Feigenblatt des unantastbaren, Sinn schöpfenden Ichs einher. Ist es in Wirklichkeit diese Sichtweise, die die heutige Lebensweise des Menschen angemessen charakterisiert?

3.4.7 Die Reflexion auf die Kontingenz der Fundamente: Kurt Hübner

Die Frage, ob die existentielle Sinnferne der Moderne überwunden werden kann, hängt auch von der Frage ab, ob das wissenschaftliche Denken so unumstößlich ist, wie es den Anschein hat. Die moderne Sinnferne resultiert aus der prinzipiellen Ausklammerung der Frage nach dem Sinn des Lebens aus dem Blickfeld der Wissenschaft. Der Wunsch, innerhalb der wissenschaftlichen Kurt Hübner  |  275

Weltsicht ein Bewusstsein für existentielle Sinnhaftigkeit auf eine genuin wissenschaftliche Weise zu entfalten, ist ein Wunsch ohne große Per­spek­t i­ven auf Erfüllbarkeit.554 Auch die Versuche, die meta­phy­sischen Sinngehalte der Vergangenheit auf der Grundlage der modernen wissenschaftlichen Ontologie zu bewahren oder neu zu formulieren, sind von wenig Erfolg gekrönt.555 Es stellt sich daher die Frage, ob es aus einer genuin modernen Perspektive auch möglich ist, die Sinngehalte der Vergangenheit auf der Grundlage der ursprünglichen Ontologie wiederzubeleben. Da dies aus der Perspektive des wissenschaftlichen Denkens als Absurdität erscheinen muss, stellt sich zuerst die Frage, ob der Absolutheitscharakter des wissenschaftlichen Denkens so unumstößlich ist, wie es den Anschein hat. Der Wissenschaftstheoretiker Kurt Hübner setzt sich radikal mit den kontingenten Fundamenten des wissenschaftlichen Denkens auseinander und versucht auf dieser Grundlage, sich in einer prinzipiellen und zugleich originellen Weise dem Denken hinter den tradierten transzendenzbezogenen Sinnentwürfen anzunähern.556 Eine kritische Erörterung seiner Thesen kann nicht nur die bereits gewonnenen Erkenntnisse über die wissenschaftliche Ontologie erweitern, 557 sondern auch die Tragfähigkeit einer wichtigen Möglichkeit des modernen Denkens beleuchten, um Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu finden. Die zentrale These Hübners lautet, dass Weltsichten auf grundlegenden apriorischen Setzungen beruhen, die nicht weiter hinter­ fragt werden können, die selbst weder wahr noch falsch sind, sondern vielmehr erst den Raum für Unterscheidungen wie »wahr oder falsch« und »gut oder schlecht« eröffnen.558 Sowohl die mythische und die religiöse Weltsicht der antiken Sinnentwürfe als auch die heutige wissenschaftliche Weltsicht beruhen nach Hübner auf jeweils eigenen apriorischen Setzungen und eröffnen eigene Räume der Artikulierbarkeit von Wahrheit. Das mythische Denken ist keineswegs irrational, sondern besitzt seine ganz eigene Rationalität, die sich grundlegend von der wissenschaftlichen Rationalität unterscheidet.559 Das menschliche Denken vollzieht sich nach Hübner stets aus der Perspektive einer Weltsicht. Es gibt keinen weltbildunabhängigen, übergeordneten Standpunkt, von dem aus die Rationalität einer Weltsicht perspektivunabhängig beurteilt werden könnte. Deswegen sind Weltsichten einander gegenüber prinzi­piell 276  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

gleichberechtigt. Wenn die wissenschaftliche Weltsicht aus der Perspektive ihrer Innensicht als allgemeingültig und unumstößlich erscheint, dann ist das verständlich – aus der Innensicht ist dies zunächst bei allen Weltbildern so. Das wissenschaftliche Denken kann jedoch eine Metaebene, eine Art Außensicht auf sich selbst einnehmen, die eigene Situiertheit – in den Kategorien der wissenschaftlichen Weltsicht – reflektieren und auf diesem Weg zur Erkenntnis gelangen, dass die Allgemeingültigkeit sich nur auf die Innensicht der eigenen Perspektive beschränkt und dass dies die Gültigkeit von andersartigen Weltsichten gar nicht berührt. Auf diese Weise ermöglichen nach Hübner genuin moderne Per­spek­ti­ ven eine Einsicht in die Grenzen der Reichweite des wissenschaftlichen Denkens. Wissenschaft und Mythos sind nach Hübner zwei unterschiedliche und eigenständige Sichtweisen auf die Welt. In beiden Weltsichten konstituiert sich Seiendes auf unterschiedliche Weise, in beiden Sichtweisen erfährt der Mensch Wahrheit auf unterschiedlichen Wegen: Zwei verschiedene Ontologien560 stehen sich einander gegenüber. Weltsichten sind nach Hübner in sich geschlossene Erfahrungssysteme: Durch ein apriorisches Fundament wird definiert, was innerhalb der Wirklichkeitsdeutung ein Seiendes ist, welche Seinsart ihm als solches zukommt und in welchem Verhältnis es zum Menschen steht.561 Die wissenschaftliche und die mythische Sichtweise auf die Welt bilden zwei unterschiedliche Ontologien. Das wissenschaftliche Denken kann mit Hilfe seines Begriffsapparates beide Ontologien in ihrer Beschaffenheit und in ihrem Verhältnis zueinander durchdringen, es kann die Struktur der objektsprachlichen Aussagen der jeweiligen Innensichten in einer metatheoretischen Außenbetrachtung untersuchen, zueinander in Verhältnis setzen und dabei zu wichtigen Erkenntnissen gelangen. Durch die Hübner’sche Metatheorie werden die Innensichten der mythischen und der wissenschaftlichen Weltsicht in eine metatheoretische Außensicht transformiert, die selbst wiederum aus der Perspektive des wissenschaftlichen Denkens operiert: Auf diese Weise reflektiert das wissenschaftliche Denken seine eigenen Grundlagen und erlangt so den Boden für einen Vergleich mit den Grundlagen der mythischen Weltsicht, die es aus einer wissenschaftlichen Außenbetrachtung des Mythos gewinnt. AusKurt Hübner  |  277

gangspunkt der Hübner’schen Argumentation ist die Einsicht, dass alle Ontologien kontingent sind: Ontologien beruhen auf apriorischen Setzungen, die eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit erst begründen, die bestimmen, wodurch sich Seiendes als Seiendes konstituiert und worauf sich Wahrheit gründet. Die apriorischen Setzungen, auf denen Weltsichten basieren, sind kontingent, und deswegen hat jede Ontologie – aus der wissenschaftlichen Außensicht betrachtet – nur einen hypothetischen Charakter: Sofern, wie die vorangegangenen Ausführen zeigten, eine Ontologie weder durch Vernunft noch Erfahrung begründet werden kann, sondern eine nur kontingente, nur historisch zu verstehende, apriorische Konstruktion ist, ist jede Ontologie hypothetischer Natur.562

Die jeweilige Innensicht einer Ontologie blendet diesen hypothetischen Charakter aus, aber in der Metatheorie steht er klar vor Augen. Weil die Wirklichkeit selbst einen »mehrdimensionalen«, »aspektischen« Charakter hat 563 und weil sich das Denken des Menschen nur aus der Perspektive einer Ontologie heraus vollziehen kann, beruht das Denken des Menschen daher immer auf apriorischen, kontingenten Setzungen. Es herrscht ein Ontologienpluralismus auf kontingenter Grundlage, es gibt keinen perspektivunabhängigen Standpunkt, und deswegen gilt nach Hübner folgendes Toleranzprinzip: In der Hinsicht, daß alle Ontologien kontingent sind und keine eine notwendige Geltung hat, ist keine irgendeiner anderen vorzuziehen.564

Dies ist der Ankerpunkt, der es erlaubt, das wissenschaftliche Denken in seine Schranken zu weisen: Weil auch das wissenschaftliche Denken auf apriorischen Setzungen beruht, kann das wissenschaftliche Denken die nichtwissenschaftlichen Weltsichten nicht widerlegen.565 Deswegen haben nichtwissenschaftliche Weltsichten ihre eigene Berechtigung, die von der Wissenschaft nicht zerstört werden kann – auch dann nicht, wenn diese nichtwissenschaft­ lichen Weltsichten durch das wissenschaftliche Denken verdrängt werden. Doch was charakterisiert vormoderne nichtwissenschaftliche Weltsichten, und wodurch unterscheiden sie sich von der heutigen Weltsicht der Wissenschaft? Die zentrale Weltsicht, von der sich 278  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

nach Hübner das wissenschaftliche Denken abgrenzt, ist die mythische Weltsicht. In ihrer vollen Klarheit zeigt sie sich beispielsweise in den Mythen des antiken Griechenland. Die religiöse Weltsicht beruht nach Hübner zu einem großen Teil auf der mythischen Weltsicht und erweitert diese. Die spezifische Denkweise der mythischen Weltsicht lässt sich nach Hübner insbesondere durch eine Abgrenzung von der wissenschaftlichen Weltsicht verständlich machen: Die zentralen Unterscheidungen des wissenschaftlichen Denkens verschmelzen im mythischen Denken zu einer Einheit. Um klarer herauszuarbeiten, was hierunter zu verstehen ist, müssen die apriorischen Grundlagen der wissenschaftlichen Weltsicht zunächst kurz vorgestellt werden. Innerhalb der wissenschaftlichen Weltsicht wird nach Hübner innerweltlich Seiendes in erster Linie als ein materielles Einzelding wahrgenommen, das einen bestimmten Ort in Raum und Zeit einnimmt und dessen Beschaffenheit durch experimentell überprüfbare Naturgesetze bestimmt wird. Von der materiellen Welt der Natur ist die ideelle Welt des menschlichen Denkens begrifflich scharf getrennt: Zur apriorischen Grundlage der wissenschaftlichen Weltsicht gehört die prinzipielle Trennung des Ideellen vom Materiellen. Ebenso zentral für das wissenschaftliche Denken sind die grundlegenden Differenzierungen zwischen Begriff und singulärer Tatsache und zwischen Allgemeinem und Individuellem: Ein »Kerngedanke wissenschaftlicher Wirklichkeitsauffassung« ist der apriorische »Unterschied von Allgemeinbegriffen und singulären Tatsachen, die unter diese Allgemeinbegriffe fallen«.566 Das gesamte Geschehen wird geschlossen der Kausalität unterworfen, als Ursache des Werdens kommen ausschließlich experimentell überprüfbare Naturgesetzlichkeiten in Frage. Die Welt wird als unbeseelt angesehen und weitestgehend nichtteleologisch gedeutet, die Möglichkeit von Transzendenz wird von vornherein vollständig aus dem Bereich der Wissenschaft verbannt. Die Wissenschaft operiert in ihren Erklärungen mit Begriffen und nicht mit Namen von personalen, numinosen Entitäten: Das wissenschaftliche Denken kennt nur profane Naturgegenstände. All diese Positio­nen extra­ hiert das wissenschaftliche Denken nicht aus mühsam angesammelter Erfahrung, diese Positio­nen markieren Voraussetzungen, die a priori getroffen werden und die die Grundlage bilden, auf Kurt Hübner  |  279

der Erfahrungen überhaupt entstehen können. Die hier beschriebenen Positio­nen bilden die Fundamente der wissenschaftlichen Ontologie.567 Ausgehend von diesen grundlegenden, heute zum großen Teil selbstverständlichen und unhinterfragten Annahmen und Unterscheidungen kann die mythische Weltsicht durch eine Abgrenzung davon charakterisiert werden.568 Nach Hübner besteht die mythische Weltsicht im Kern in der Vergöttlichung der sinnlich gegebe­ nen Wirklichkeit durch eine interpretierende Personalisierung ihrer Phänomene und Gesetze. Im mythischen Denken verschmelzen die Differenzierungen des wissenschaftlichen Denkens zu einer Einheit. Die mythische Weltsicht kennt keine strikte Unterscheidung zwischen dem Ideellen und Materiellen: Alles materiell Wirkliche ist zugleich eine Verkörperung ideeller, göttlicher Substanzen. Das Seiende in der Welt wird nicht als materieller Naturgegenstand, sondern als die Manifestation des nichtmateriellen Göttlichen verstanden. Im mythischen Denken verbindet sich das Allgemeine mit dem Individuellen: Alles individuell Wirkliche ist beseelt vom göttlichen Allgemeinen, dieses göttliche Allgemeine ist jedoch zugleich das personale göttliche Individuum. Weil im Seienden das Göttliche am Wirken ist, verschmilzt der Begriff mit der singulären Tatsache: Das Wirkliche ist wesenhaft mit seinem numinosen Namen zu benennen und kann daher nicht restlos auf den profanen Begriff gebracht werden. Die Namen der Götter haben somit eine ähnliche Funktion wie Allgemeinbegriffe, ohne jedoch ihre Individualität und Konkretheit einzubüßen. Das zentrale Apriori des Mythos ist das Heilige: Wirklichkeit konstituiert sich durch göttliche Wesen, durch lebendige, »ideelle und materielle Indivi­ duen mit Allgemeinheitsbedeutung.«569 Der Mythos operiert hierbei mit der Differenzierung von profaner und heiliger Zeitlichkeit und Räumlichkeit, wodurch das Heilige qualitativ vom profan-Weltlichen getrennt und in der heiligen Zeit und an einem heiligen Ort verortet wird.570 Das Numinose ist die zentrale Kategorie zur Erfassung der Wirklichkeit.571 Die Wirksamkeit des Numinosen veranschaulicht Hübner anhand der Vorstellung der Arché aus dem antiken griechischen Mythos: In der mythischen Weltsicht wird das Wirken des Numinosen als regelhaftes Wiederkehren einer Ursprungsgeschichte aufgefasst. Diese Arché als Ursprungsprinzip 280  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

bildet das mythische Korrelat zum wissenschaftlichen Naturgesetz. Das Geschehen sowohl in der natürlichen als auch in der sozialen Welt wird als identische Wiederholung einer Tat angesehen, die ursprünglich ein numinoses Wesen, beispielsweise ein Held oder ein Gott, angestoßen hat und die nun in periodischen Abständen als etwas mit dieser numinosen Ursprungstat Identisches wiederkehrt oder vom Menschen wiedergeholt werden kann.572 Beispielsweise wird der Frühling in der griechischen Mythologie als die Arché der Rückkehr Persephones aus dem Hades interpretiert. Jedes Jahr vollzieht sich diese Arché, jedes Jahr kehrt die Göttin mit dem Namen »Persephone« als personales Individuum mit Allgemeinheitsbedeutung wieder und bildet so die beharrende numinose Grundlage der Vorgänge in der Welt. Genau in diesem Sinne ist in der Weltsicht des antiken griechischen Mythos die Göttin Persephone ein ideelles und materielles Individuum mit Allgemeinheitsbedeutung.573 Das religiöse Denken bewegt sich für Hübner weitestgehend innerhalb dieser mythischen Kategorien, es kommen aber spezifische Momente der absoluten Transzendenz als absolute Außerweltlichkeit hinzu, die im mythischen Denken nicht anzutreffen sind. So ist der oberste Gott im polytheistischen mythischen Denken Teil der Welt mit einer besonderen heiligen Wohnstätte und, bezogen auf die anderen Götter, ein primus inter pares, wohingegen der monotheistische Gott der Religion als ein absolut oberster und alleiniger Herrscher in absoluter Transzendenz außerhalb der Welt – jedoch mit der Möglichkeit der weltlichen Epiphanie in mythischen Kategorien – angesiedelt wird. Die Vorstellung der absoluten Transzendenz identifiziert Hübner als die spezifische Abgrenzung der Religion vom Mythos, darüber hinaus lässt er die Religion, zumindest formal als Weltsicht, komplett im mythischen Denken aufgehen.574 Hübner zeigt sehr überzeugend, worin der Unterschied zwischen der mythischen und der wissenschaftlichen Weltsicht besteht: Es handelt sich um zwei grundlegend unterschiedliche Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Das Seiende konstituiert sich auf eine unterschiedliche Weise, und der Mensch begreift durch unterschiedliche Differenzierungen den Zusammenhang der Welt, in der er lebt. Die grundlegenden Trennungen des wissenschaftlichen Denkens – das Ideelle und das Materielle, das Individuelle und das Allgemeine, Kurt Hübner  |  281

der Begriff und die singuläre Tatsache – verschmelzen im mythischen Denken zu einer Einheit. Die sinnlich gegebene Wirklichkeit wird auf der Grundlage einer onto­logischen Personalisierung ihrer Zusammenhänge vergöttlicht. Durch die Beschaffenheit der Weltsicht wird innerhalb des mythischen Denkens die Welt a pri­ ori als etwas existentiell Bedeutsames erfahren. Weil im Mythos das Subjektive mit dem Objektiven im numinosen Wirken verschmilzt, erhalten innerweltliche Objekte personale, beseelte und daher menschliche Züge. Der Mensch erlebt das ihn umgebende Seiende als etwas Beseeltes und Gleichartiges, er erfährt sich und das Seiende als Teil eines umgreifenden Sinnzusammenhanges. In der mythischen Weltsicht versteht sich der Mensch als Teil einer von existentieller Sinnhaftigkeit durchzogenen Wirklichkeit – im Gegensatz zur Weltsicht der Wissenschaft, die den Menschen in einer sinnfreien Welt verortet. In welchem Zusammenhang steht die von Hübner beschriebene mythische Weltsicht zur heutigen Zeit? Die komplexe Beziehung der Moderne zu den tradierten Sinnentwürfen der Vergangenheit kam in dieser Untersuchung ausführlich zur Sprache. Jedoch ist die antike griechische Mythologie mit Sicherheit kein Teil der heutigen Lebenswirklichkeit, auch wenn in Musik, Literatur und Kunst gelegentlich Bezug darauf genommen wird. Aber in den zentralen Vorstellungen der antiken meta­phy­sischen Sinnentwürfe sind genau die von Hübner beschriebenen onto­logischen Annahmen und Differenzierungen der mythischen Weltsicht am Wirken. Bei Platon ist die Vergöttlichung der Wirklichkeit in der Vorstellung einer ordnenden göttlichen Vernünftigkeit sehr präsent, auch wenn er das Göttliche nicht direkt in personalen Kategorien begreift.575 Dies gilt auch für das Denken von Aristoteles: Seiendes konstituiert sich bei Aristoteles als Seiendes, indem es im Bereich göttlicher Vernünftigkeit erscheint. In der Entelechievorstellung geht es genau darum, dass sich das unvergängliche, göttliche Ideelle in der Materie manifestiert und so die Mannigfaltigkeit des Materiellen zu einer sinnvoll geordneten Ganzheit zusammenfügt. So wie das Ideelle mit dem Materiellen zu einer Einheit verschmilzt, verbindet sich bei Aristoteles auch das Allgemeine mit dem Individuellen: Im Nous kommt die göttliche Vernünftigkeit, die den Charakter der Allgemeinheit aufweist, im menschlichen Individuum zum 282  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Vorschein.576 Auch die Verknüpfung des Wahrheitsbegriffs mit der Vorstellung einer jenseitigen Wirklichkeit 577 kann mit Hübner dadurch erklärt werden, dass die Ontologie des Mythos – einschließlich der dazugehörigen Wahrheitsauffassung – um die Vorstellung der absoluten Transzendenz erweitert wird: Auf der Grundlage der mythischen Ontologie, erweitert um die Vorstellung der Transzendenz, wird Wahrheit mit der göttlichen jenseitigen Wirklichkeit in Verbindung gebracht. Und auch die dritte ausführlich beschriebene meta­phy­sische Sinnvorstellung, das geistig übende Streben nach dem Höheren, steht in einer engen Beziehung zur mythischen Ontologie: Die geistigen Übungen der antiken Sinnentwürfe verfolgen das Ziel, im Menschen die göttliche Wahrheit durch eine Bezugnahme auf die göttliche kosmische Weltordnung zu entfalten und das menschliche Individuum mit der göttlichen Allgemeinheit zu verbinden.578 Bei all diesen Aspekten zeigt sich, dass die mythische Ontologie auch dann präsent bleiben kann, wenn der klassische antike Mythos verworfen wird. Insofern die erwähnten Sinngehalte auch in der Gegenwart noch präsent sind, ist auch das mythische Denken nicht vollständig verschwunden. Die existentielle Sinnrelevanz der meta­phy­sischen Sinnentwürfe beruht im Grunde auf der Sinnrelevanz der mythischen Ontologie: Die Vergöttlichung der Welt und die direkte Inbezugsetzung des Menschen zur vergöttlichten, mit existentieller Sinnhaftigkeit aufgeladenen Wirklichkeit bilden den Kern der mythischen Weltsicht und charakterisieren zugleich die gesamte Traditionslinie der Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug. Die existentielle Sinnhaftigkeit der tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe entspringt aus der mythischen Ontologie und damit aus einer Andersartigkeit zur wissenschaftlichen Weltsicht. Dementsprechend beruht die heutige Fremdheit dieser Sinnentwürfe579 auf der Fremdheit der dazugehörigen Weltsicht und damit zu einem großen Teil auf der Fremdheit der mythischen Ontologie. Der inhärente existentielle Sinnbezug der mythischen Weltsicht muss heutigem Denken verschlossen bleiben. Dem wissenschaftlichen Denken liegt die Vorstellung, dass die materielle Wirklichkeit von einer sinnhaften, göttlichen Geistigkeit durchzogen sein könnte, in einer prinzipiellen Weise fern. Eine solche Sicht auf die Welt ist nur möglich, wenn das innerweltlich Seiende als strukturelle Verbindung des Materiellen Kurt Hübner  |  283

mit dem Ideellen aufgefasst werden kann, und gerade dies ist im Rahmen des wissenschaftlichen Denkens unmöglich. So ist es auch kein Zufall, dass das wissenschaftliche Denken prinzipielle Schwierigkeiten hat, das Verbundensein von Seelischem und Körperlichem im Menschen auf einen hinreichend klaren Begriff zu bringen.580 Eine Sicht auf die Wirklichkeit, die die Materie von einer Geistigkeit durchzogen sieht und die es zudem vermag, diese Geistigkeit zur Geistigkeit des Menschen in einen direkten Bezug zu setzen, liegt außerhalb der Möglichkeiten des Denkens in der Moderne, weil die onto­logischen Fundamente der wissenschaftlichen Weltsicht dem entgegenstehen. Die existentielle Sinnrelevanz der tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe entzieht sich in der heutigen Situation bereits aus prinzipiellen Gründen. Was ändert sich dadurch, dass Hübner zeigt, dass beide entgegengesetzten Weltsichten auf kontingenten apriorischen Grundannahmen beruhen und daher aus der Außensicht keine absolute und damit unumstößliche Gültigkeit besitzen? Öffnen sich dadurch die Weltsichten der Vergangenheit für heutige Verständnishorizonte? Entsteht dadurch eine Möglichkeit, das existentielle Sinnvakuum der Moderne zu überwinden? Hübners Ansatz der perspektivistischen Interpretation von Wissenschaft und Mythos als eigenständige Weltsichten mit einer jeweils eigenständigen Rationalität ist zunächst sehr überzeugend: Die wissenschaftliche Weltsicht beruht tatsächlich auf kontingenten apriorischen Setzungen und gilt deswegen, von dem fiktiven Außenstandpunkt der Metatheorie betrachtet, nicht absolut. Hübner hat insofern recht, als von einer Widerlegung der mythischen Weltsicht durch die Wissenschaft deswegen keine Rede sein kann, weil beide auf kontingenten apriorischen Setzungen beruhen. Auf theoretischer Ebene ist die mythische Weltsicht der wissenschaftlichen prinzipiell gleichberechtigt. Das mythische Denken kann nicht als etwas per se Irrationales verworfen werden: Auch aus der wissenschaftlichen Perspektive lässt sich die charakteristische Rationalität des mythischen Denkens vor Augen führen. Zwar bildet die Hübner’sche Metatheorie keine echte Außenperspektive auf die wissenschaftliche und mythische Ontologie: Das wissenschaftliche Denken verlässt die Innenperspektive der Wissenschaft nicht, sondern reflektiert lediglich die apriorischen Grundlagen der eigenen Weltsicht sowie die Unterschiede 284  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

zu andersartigen Weltsichten. Aber dennoch kann dieser Weg zur Einsicht führen, dass nichtwissenschaftliche Weltsichten durchaus ihre prinzipielle Berechtigung haben. Den heutigen Überbleibseln antiker Sinnentwürfe wird dadurch ein gewisser Eigenwert zugestanden: Weil das Denken hinter den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der kulturellen Überlieferung nicht bereits in sich irrational ist, können die heutigen Sinngehalte, die auf diese Sinnentwürfe zurückgehen, nicht auf der Grundlage einer objektiven Irrationalität abgewiesen werden. Dies ist eine interessante Einsicht, die die Grenzen der bestimmenden Denkweisen der Gegenwart aufzeigt. Aber wird dadurch auch ein Zugang zu den Sinnvorstellungen der Vergangenheit eröffnet? Hübner will auf der Grundlage der Einsicht in die theoretische Gleichberechtigung von Weltsichten einen intellektuell redlichen Weg hin zu den tradierten meta­phy­sischen Sinngehalten bahnen. Seine Argumentation beruht auf zwei grundlegenden Einsichten: Zum einen sind auf theoretischer Ebene alle Weltsichten gleichberechtigt, zum anderen können Weltsichten in praktischer Hinsicht durchaus miteinander verglichen werden, weil das wissenschaftliche Denken die Fähigkeit besitzt, die Charakteristika der eigenen Weltsicht, aber auch die Charakteristika von fremden Weltsichten zu reflektieren und miteinander zu vergleichen. Auf dieser Grundlage kann nach den praktischen Vorzügen und Nachteilen verschiedener Sichtweisen auf die Welt gefragt werden. So lässt sich sagen, dass der moderne Lebenskomfort eine Frucht des wissenschaftlichtechnischen Umgangs mit der Welt ist. Die wissenschaftliche Weltsicht ist ungleich besser geeignet, Naturvorgänge vorherzusagen und technisch zu beherrschen als alle anderen Weltsichten. Diesen unbestreitbaren Vorzug der wissenschaftlichen Weltsicht hebt auch Holm Tetens hervor: Mit Blick auf die technische Naturbeherrschung ist der wissenschaftliche Weltzugang allen anderen uns bekannten Weltzugängen haushoch überlegen, ja mit Blick auf dieses Ziel sind sie nicht wirklich konkurrenzfähig.581

Die Fähigkeit zur Naturbeherrschung und der daraus resultierende Lebenskomfort bilden die Grundlage der beharrlichen Attraktivität der wissenschaftlichen Weltsicht. Diesem Aspekt muss bei Kurt Hübner  |  285

jedem Vergleich von Weltsichten eine wichtige Rolle zugemessen werden, und Hübner erkennt dies auch uneingeschränkt an. Aber in wichtigen Bereichen zeigt die wissenschaftliche Weltsicht auch Schwächen, insbesondere wenn es um das Verständnis menschlichen Existierens in der Welt geht: Der Wissenschaft fällt es nicht nur schwer, das Verhältnis zwischen den seelischen und körperlichen Aspekten der menschlichen Existenz hinreichend genau auf den Begriff zu bringen, 582 die Wissenschaft ist auch in einer prinzipiellen Weise blind für die Frage nach der Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz. Die Weltsicht der antiken Sinnentwürfe zeigt sich daher in diesem zentralen, die menschliche Existenz in einem umfassenden Sinne betreffenden Punkt überlegen: Weil dort der Mensch in eine sinnrelevante Wirklichkeit eingebettet ist, besitzt er die Möglichkeit, den Sinn seiner Existenz aus den Zusammenhängen der Welt heraus als etwas Wahres zu erkennen und intersubjektiv verstehbar zu artikulieren.583 In der Weltsicht der Wissenschaft ist dies nicht möglich: Das Seiende in der Welt begegnet dem Menschen ohne existentielle Relevanz, den Lebenssinn muss der Mensch aus sich selbst heraus schöpfen und, unabhängig von den Zusammenhängen der Welt und ohne Wahrheitsanspruch, durch eine freie Wahl selbst bestimmen. Die Schwierigkeiten der Vorstellung einer freien Bestimmbarkeit des Lebenssinns sind in den vorangegangenen Kapiteln bereits zur Sprache gekommen. Die Artikulierbarkeit von Sinn ist nach Hübner ein prinzipieller Vorteil der mythischen Weltsicht und weil das Verständnis des je eigenen Lebenssinnes die zentrale Bedingung ist für das Gelingen der menschlichen Existenz, besitzt die mythische Weltsicht nach Hübner einen entscheidenden praktischen Vorzug vor der wissenschaftlichen Weltsicht: Warum aber sollten wir eine solche vollständige Bestimmung durch Naturgesetze derjenigen durch numinose Mächte vorziehen, wenn wir schon aus den bereits angegebenen Gründen von der Frage absehen, welche von beiden Möglichkeiten die wahre ist? Zwar bringen uns auch numinose Mächte Gutes wie Übles, aber dennoch verweisen sie zugleich auf eine insgesamt sinn- und zweckerfüllte Welt, in der sich der Mensch geborgen fühlen kann, während ihm im anderen Fall […] nur Gleichgültigkeit entgegenschlägt. Nicht einmal der Trost menschlicher Würde bliebe uns in dieser Fremdheit übrig.584 286  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

Hübners Argumentation vollzieht sich in folgenden Schritten: Weil die Weltsicht der Wissenschaft kontingent ist, ist der Mensch nach Hübner nicht zwangsweise an sie gebunden. Weil sie gravierende lebenspraktische Nachteile mit sich bringt, existieren gute Gründe dafür, über Alternativen nachzudenken. Weil die meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Antike bis in die heutige Zeit hinein eine Wirkung entfalten, ist es naheliegend und berechtigt, sich diesen Sinnentwürfen wieder zuzuwenden, um deren Sinnerfülltheit wiederzuerlangen: Wenn aber, wie ich meine, die Wissenschaft kontingent ist in dem Sinne, daß sie weder auf bloßer Konvention und Willkür beruht noch notwendig ist, sondern vielmehr eine geschichtliche Wirklichkeit darstellt, die dem Wandel unterworfen ist und andere Möglichkeiten offen hält, dann ist es unvermeidlich, diese anderen Möglichkeiten in allem Ernst zu prüfen und zwar vor allem solche, die unsere Wirklichkeit immer noch mitbestimmen, wie es hauptsächlich für den Mythos gilt.585

Nach Hübner bedeutet das Festhalten am Mythos keineswegs ein sacrificium intellectus und es ist noch nicht einmal eine intellektuelle Unredlichkeit, weil der Mythos als Weltsicht zur wissenschaftlichen Weltsicht prinzipiell gleichberechtigt ist, weil es wichtige existentielle Vorzüge aufweist und weil die Moderne keineswegs durch eine Abwesenheit des mythischen Denkens, sondern durch ein Zwiegespaltensein zum weiterhin präsenten mythischen Denken gekennzeichnet ist: Man könnte nämlich im Gegenteil sagen, daß gerade der Zwiespalt, gleichzeitig wissenschaftlich und mythisch zu denken, zu jener Situation gehört, in der wir uns heute befinden. Ja, es ist die Frage, ob unser praktisches und persönliches Leben nicht weit eher von mythischen als von wissenschaftlichen Haltungen geprägt ist. So kann es sein, daß wir uns oft weit mehr verleugnen, wenn wir uns einseitig für das wissenschaftliche Weltbild entscheiden und nicht für das mythische. Die historische Situation spricht also keineswegs […] eindeutig zugunsten der Wissenschaft […].586

Wie stichhaltig ist diese Argumentation? Es ließe sich zum einen einwenden, dass Hübner die heutige Präsenz des Mythischen übertreibt.587 Um den Argumenten Hübners gerecht zu werden, lässt Kurt Hübner  |  287

sich jedoch in seinem Sinne pro­blemlos feststellen, dass die zentralen meta­phy­sischen Sinnvorstellungen der Antike, die im ersten Teil dieser Arbeit herausgearbeitet wurden, in der heutigen Zeit gleichwohl noch relevant und präsent und dabei stark vom mythischen Denken beeinflusst sind. Doch auch in dieser Interpretation sind Hübners Thesen nicht überzeugend. Ein Irrtum liegt bereits in der Annahme, dass den Sinngehalten der Vergangenheit, die in der heutigen Zeit ohne Zweifel unter Druck geraten sind, nur eine prinzipielle und weltbildübergreifende Widerlegung ernsthaft gefährlich werden kann. Hübners Argumentation suggeriert, dass die Einsicht in die Unmöglichkeit einer derartigen Widerlegung die entscheidende Stütze für die heutige Geltung und Lebendigkeit dieser Sinngehalte darstellen könnte. Gerade in seinen späten Werken treten derartige Hoffnungen immer deutlicher zu Tage: Das Ergebnis ist jedenfalls, daß die Aufstellung von Naturgesetzen im Sinne der Naturwissenschaften auf einem bestimmten, rein historisch zu verstehenden Interpretationsschema der Wirklichkeit beruht, nicht aber irgendeiner Erkenntnis über die Wirklichkeit an sich entspricht. Wer behauptet, die Naturwissenschaft habe die durchgängige und absolute Geltung von Naturgesetzen bewiesen, vertritt nicht die Wissenschaft, sondern eine dogmatische Meta­phy­sik der Wissenschaft. […] Wissenschaftstheoretisch spricht jedoch in Wahrheit weder etwas für noch gegen Wunder, es sei denn, man verweise auf die triviale Tatsache, daß Wunder kein Gegenstand wissenschaftlicher Erfahrung sein können […] [D]ie wissenschaftliche Erfahrung [fußt] auf einer bestimmten Ontologie und damit grundlegenden Wirklichkeitsdeutung, die im Vergleich zu anderen Wirklichkeitsdeutungen weder theoretisch noch praktisch einen absoluten Vorrang für sich beanspruchen kann. […] Wo lebendig geglaubt und nicht nur wissenschaftlich-philosophisch argumentiert wird, da wird auch mythisch erlebt, man drehe und wende es wie man will.588

Hübner glaubt, dass die moderne Fixierung auf die Wissenschaft durch die Einsicht in die prinzipielle Kontingenz von Weltbildern auflösbar ist und dass sich auf dieser Grundlage auch nichtwissenschaftliche Sichtweisen auf die Welt eröffnen könnten. Er verkennt aber, dass für die Dominanz der wissenschaftlichen Sicht auf die Welt nicht der Glaube an ihre absolute, weltbildübergreifende Gültigkeit entscheidend ist, sondern schlicht die faktische Übernahme 288  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

ihrer onto­logischen Grunddifferenzierungen. Sobald ein Mensch in den Kategorien der wissenschaftlichen Ontologie denkt und damit die Innensicht des wissenschaftlichen Denkens eingenommen hat, verschließt sich sein Denken für die Übernahme von anderen Weltsichten aus der Innensicht. Es ist zwar möglich, sich über eine metatheoretische Reflexion in andere Weltsichten hineinzudenken und dabei zu erkennen, dass die eigene wissenschaftliche Denkweise nicht absolut ist, aber dies ändert nichts daran, dass diese Einsicht aus der Innensicht der Wissenschaft, mit den Kategorien der wissenschaftlichen Ontologie vollzogen wird. Die Fähigkeit, sich über Metatheorie in nichtwissenschaftliche Weltsichten hinein­ zudenken, sagt nichts aus über die Übernahmefähigkeit der Innen­ sichten dieser Weltsichten. Ontologien können nicht frei nach Belieben gewählt werden. Die Bedeutung dieses wichtigen Einwandes betont auch Tetens: Kein einzelnes menschliches Individuum kann willkürlich einen apriorischen Erfahrungsrahmen erfinden und beschließen, ihn seinem kognitiven Weltzugang zugrunde zu legen. […] Wenn sich ein bestimmter apriorischer Rahmen für den kognitiven Weltzugang kulturell allmählich durchsetzt oder er eines Tages durch einen anderen abgelöst wird, so ist das ein langwieriger und komplizierter Prozess. Solche historischen Prozesse der Weltbildformierung und des Weltbildwandels sind den Individuen niemals restlos durchsichtig, sie spielen sich weitgehend hinter ihrem Rücken ab.589

In der heutigen Situation ist die Frage, welche Denkweise die Wahr­ heit über die Zusammenhänge der Wirklichkeit offenlegt, klar und eindeutig beantwortet: Es ist die neuzeitliche Wissenschaft. Das antike Denken ist in der Moderne in erster Linie wegen seiner existentiellen Sinngehalte relevant. Hübner hat recht, wenn er diese Sinngehalte mit der antiken Weltsicht untrennbar verknüpft sieht. Er hat auch recht mit der Aussage, dass zumindest in der Theorie die antike mythische Weltsicht der wissenschaftlichen Weltsicht gleichberechtigt gegenüber steht. Dies ändert jedoch nichts daran, dass es die wissenschaftliche Weltsicht ist, die in der heutigen Situation die Zusammenhänge der Welt aufzeigt – die Annahme, Menschen könnten sich heute die Welt über mythische Kategorien erklären, ist auch dann absurd, wenn die Kontingenz der wissenschaftlichen Ontologie bewusst vor Augen steht. Es ist kaum denk­ Kurt Hübner  |  289

bar, dass Menschen in der heutigen Situation die Wahrheit über die Zusammenhänge der Welt in einer intellektuell redlichen Weise über eine mythische Sicht auf die Welt erfahren könnten.590 Diese Einsicht ist der Ausgangspunkt des Denkens von Rudolf Bultmann, von dem sich Hübner mit seinen Thesen abgrenzen möchte. Nach Bultmann muss in der heutigen Situation die mythische Weltsicht prinzipiell überwunden werden, um intellektuell redlich bleiben zu können. Um an den tradierten transzendenzbezogenen Sinngehalten festhalten zu können – dieser Wunsch ist für den Theologen Bultmann die Grundüberzeugung seines Denkens –, müssen diese entmythologisiert werden, da sie in Verbundenheit mit den ursprünglich zugehörigen Denkkategorien in der heutigen Situation unverständlich geworden sind: Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.591

Bultmann meint, durch eine Entmythologisierung der antiken Sinngehalte und durch ihre Neuformulierung in der z­ eitgemäßen Sprache der Existenzphilosophie ihren Widerspruch zum D ­ enken der Wissenschaft auflösen zu können. Diese Auffassung Bultmanns kritisiert Hübner vehement, 592 geleitet wird er hierbei von seinem Gespür für die Verbundenheit der antiken Sinngehalte mit der antiken Weltsicht. Ihm als Wissenschaftstheoretiker ist mit Recht deutlich bewusst, dass die Denkweise der Wissenschaft existentielle Sinnhaftigkeit von vornherein ausschließt. Aber Bultmanns oben zitierte Aussage enthält einen wichtigen Punkt, der Hübners Argumentation in sich zusammenstürzen lässt: Die Innensicht der antiken Welt ist für den wissenschaftlich denkenden und nach intellektueller Redlichkeit strebenden Menschen heute uneinnehmbar. Eine Sichtweise auf die Welt im Sinne der antiken Sinnentwürfe kann nicht in einer intellektuell redlichen Weise mit der modernen Lebenspraxis einhergehen, die wesenhaft durch den Rückgriff auf die Vorstellungen der modernen Wissenschaft und auf die Appa290  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

raturen der modernen Technik gekennzeichnet ist. Im Denkhorizont der Moderne nehmen Menschen unweigerlich aus der wissenschaftlichen Innensicht Bezug auf die Welt – spätestens dann, wenn es darum geht, die Wahrheit über die Zusammenhänge der Welt herauszufinden. Die gesamte moderne Lebenspraxis hängt an der wissenschaftlichen Weltsicht, die jedoch mit den Innensichten vormoderner Ontologien nicht harmoniert. Es ist sehr fraglich, ob es unter den Voraussetzungen der Moderne erstrebenswert oder gar möglich ist, die Weltsicht der Wissenschaft und die Früchte der Technik preiszugeben – Hübner selbst strebt dies nicht an.593 Deswegen müssen jedoch die Weltsichten der Vergangenheit versperrt bleiben. Der heutige Kampf mit dem Sinnvakuum der Wissenschaft und der Unzugänglichkeit vergangener Sinnentwürfe kann allein durch eine Reflexion auf die kontingenten Fundamente der wissenschaftlichen Denkweise nicht aufgelöst werden. Die metatheoretische Reflexion auf die Kontingenz der wissenschaftlichen Ontologie kann auch deswegen nicht den Zugang zu nichtwissenschaftlichen Weltsichten eröffnen, weil diese einen Wechsel zur metatheoretischen Außenperspektive prinzipiell ausschließen. Das Pro­blem hierbei ist, dass bereits die Einnahme der metatheoretischen Außensicht, deren Kernaussage in der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Weltsichten besteht, denjenigen Innensichten widerspricht, die ihre Wahrheiten als absolut ansehen. Wissenschaftliche Aussagen gelten immer nur vorläufig, d. h. solange sie nicht widerlegt werden; sie sind stets auf getroffene Annahmen und Randbedingungen bezogen und in diesem Sinne hypothetisch. Hypothetisch ist neben den einzelnen wissenschaftlichen Aussagen auch die gesamte wissenschaftliche Ontologie. Auch wenn der hypothetische Charakter der gesamten Ontologie normalerweise nicht im Blickfeld des wissenschaftlichen Denkens liegt, kann er dennoch durch eine wissenschaftstheoretische Reflexion bewusst gemacht werden. Wissenschaftliche Aussagen – und dies gilt genauso für die Aussagen der perspektivistischen Metatheorie – besitzen stets einen hypothetischen Charakter. Aussagen mit mythischem Charakter – etwa dass Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat – gelten hingegen absolut und sind der Intention nach nicht der unbeschränkten Hinterfragbarkeit anheimgegeben. Deswegen schließen Weltsichten, die aus der Innensicht mit Kurt Hübner  |  291

absoluten Kategorien operieren, den Wechsel in die metatheoretische Außenperspektive aus, weil bei diesem Wechsel gerade das Wesentliche, ihr Charakter der Absolutheit, verlorengeht. Aus der Innensicht des Mythos oder der Religion ist eine jeweils andersartige Innensicht gerade nicht gleichberechtigt und kann es gar nicht sein. Sobald ein Mensch die metatheoretische Außensicht eingenommen und dabei die Kontingenz aller Weltsichten eingesehen hat, kann er die Innensicht des mythischen Denkens nicht mehr einnehmen, da er nicht in einer schizophrenen Weise an die absolute Gültigkeit von mythischen Entitäten glauben und gleichzeitig ein Bewusstsein über die Kontingenz ihrer Grundlage haben kann.594 Die Absolutheit der Aussagen von nichtwissenschaftlichen Weltsichten ist, aus der wissenschaftlichen Außenperspektive betrachtet, bloße Illusion. Die Weltsichten der Antike vertragen sich weder mit der Innensicht des wissenschaftlichen Denkens noch mit der metatheoretischen Außensicht. Der Zugang zu den antiken meta­phy­sischen Sinnentwürfen und ihrer Traditionslinie kann mithin gerade nicht über die Metaebene des Perspektivismus erfolgen, weil bei dem Wechsel auf die Metaebene der spezifische Wahrheitscharakter der nichtwissenschaftlichen Innensichten verlorengeht. Deswegen entziehen sich die Sinnvorstellungen der meta­phy­sischen Traditionslinie auch der Vorstellung der Wählbarkeit, da dies eine Wahl zwischen Ontologien impliziert, und die kann es – wenn überhaupt – nur aus der Metaperspektive heraus geben, deren Einnahme aber bereits die Übernahme der nichtwissenschaftlichen Innensicht ausschließt. Folgende Frage Hübners ergibt somit keinen Sinn: Wenn es aber nun keinen Maßstab an sich gibt, nach dem Ontologien beurteilt werden können, wonach entscheidet sich dann, welche Ontologie gewählt wird?595

Alles spricht dafür, dass eine metatheoretische Reflexion dem wissenschaftlichen Denken einen gewissen Einblick in nichtwissenschaftliche Weltsichten ermöglichen kann, dass aber eine ähnliche Einsicht in umgekehrter Richtung unmöglich ist: Nichtwissenschaftliche Weltsichten »überleben es offensichtlich nicht, werden sie ausdrücklich nur als ein apriorischer Rahmen neben anderen identifiziert.«596 Kann daraus gefolgert werden, dass dies ein Vorzug 292  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

der wissenschaftlichen Weltsicht ist? Holm Tetens bezieht diese Position, wenn er sagt, dass die Wissenschaften und nur die Wissenschaften den Menschen »den aspektischen Charakter der Wirklichkeit erkennen und damit die genannten anderen Weltzugänge erst kulturgeschichtlich nachweisen und verstehen lassen«.597 Es ist sicherlich richtig, dass erst das wissenschaftliche Denken den aspektischen Charakter der Welt und das Angewiesensein des Denkens auf apriorische, nicht weiter hinterfragbare und stets kontingente Setzungen vor Augen führt. Aber die inklusive, Verständnis eröffnende Kraft der Wissenschaft ist dennoch sehr begrenzt, und eine metatheoretische Annäherung an nichtwissenschaftliche Weltsichten führt eher vor Augen, wie fremd diese Weltsichten dem wissenschaftlichen Denken eigentlich bleiben müssen. Die metatheoretische Reflexion ist eine wissenschaftliche Reflexion, die zwar eine Außensicht auf nichtwissenschaftliche Weltsichten eröffnet, die aber dennoch vollständig zur wissenschaftlichen Innensicht gehört, da sie mit den Kategorien des wissenschaftlichen Denkens operiert. Nur sehr eingeschränkt eröffnet die Metatheorie ein ech­ tes Verständnis für andere Auffassungen der Welt. Hübners Denken zeigt, wie hilfreich es ist zu erkennen, dass die Grunddifferenzierungen der Wissenschaft im mythischen Denken zu einer Einheit verschmelzen. Man kann sich auf diese Weise die Fremdartigkeit anderer Per­spek­ti­ven vor Augen führen und eine Ahnung von ihrem andersartigen Charakter bekommen – aber dennoch bleiben sie dabei unzugänglich, da man sich auf diesem Weg nicht wirklich in sie hineindenken kann. Durch eine metatheoretische Reflexion eröffnet sich keine Einsicht in den Innenblick fremder Weltsichten. Es ist durchaus vorstellbar, dass umgekehrt nichtwissenschaft­ liche Weltsichten das wissenschaftliche Denken mit jeweils eigenen Kategorien reflektieren könnten, um dabei ebenfalls zu interessanten Einsichten zu kommen. Darin, dass die wissenschaftliche Meta­t heorie einen Moment der Wirklichkeit aufdeckt, der in anderen Weltsichten verborgen bleiben muss, liegt noch keine echte Auszeichnung der wissenschaftlichen Weltsicht, da es nicht unwahrscheinlich ist, dass in anderen Weltsichten andere Momente der Wirklichkeit aufleuchten, für die die wissenschaftliche Weltsicht strukturell blind bleibt. Gerade wenn man bedenkt, wie eingeschränkt das wissenschaftliche Denken beim Verständnis see­ Kurt Hübner  |  293

lischer Vorgänge ist und wie offen sie die Frage nach der Verortung der gelingenden menschlichen Existenz in den Zusammenhängen der Welt lässt, muss man sich die Möglichkeit vor Augen führen, dass das wissenschaftliche Denken in Bezug auf die tieferen Schichten der menschlichen Existenz in einer ähnlichen Weise prinzipiell blind sein könnte wie die nichtwissenschaftlichen Weltsichten für den aspektischen Charakter der Wirklichkeit. Vielleicht ist folgende Vermutung nicht zu weit gegriffen: Wenn Weltsichten über jahrhundertelange Zeiträume dem Menschen eine stabile Grundlage für seine Existenz bieten können, dann spricht einiges dafür, dass in diesen Weltsichten bestimmte Charakteristika der Wirklichkeit aufleuchten, die möglicherweise in anderen Weltsichten aus strukturellen Gründen verborgen bleiben müssen. So mag zwar die Fähigkeit zur Einsicht in den aspektischen Charakter der Wirklichkeit ein Vorzug der wissenschaftlichen Weltsicht sein – andere Weltsichten besitzen aber vermutlich auch ihre ganz eigenen, analogen Vorzüge, indem sie bestimmte Facetten der Welt verständlich machen, die dem wissenschaftlichen Denken entzogen sind. Das, was dem wissenschaftlichen Denken aus strukturellen Gründen verborgen bleiben muss, kann aber auch über die perspektivistische Metatheorie nicht aufgedeckt werden. Über die perspektivistische Reflexion ist die Verwurzelung des modernen Denkens in der wissenschaftlichen Weltsicht nicht zu überwinden. Folgende Prophezeiung Hübners ist daher aus der Luft gegriffen: Die Wissenschaft ist durch die Wissenschaftstheorie längst in jenes Stadium der Selbstreflexion übergegangen, das stets das Ende einer Sache ankündigt.598

294  |  Sinnvorstellungen in der Moderne 

4.  Fazit und Ausblick Der philosophische Umgang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens wird heute stark durch eine Zwiegespaltenheit zwischen spezifisch modernen Herangehensweisen und Rückbezügen auf die vormodernen meta­phy­sischen Sinnentwürfe bestimmt. Die heutige Ambivalenz der Beziehung zu vergangenen Denkweisen wird gerade bei der Frage nach dem Sinn des Lebens in einer besonderen Weise deutlich. Ich habe die Kernvorstellungen von Sinnentwürfen besprochen, die auf die antike meta­phy­sische Traditionslinie zurückgehen, und dabei gezeigt, worin deren Fremdheit für die Per­spek­ti­ven des heutigen Denkens liegt und welche Motive dennoch zu einer Hinwendung zu diesen Sinnentwürfen führen können. Dadurch wurde deutlich, warum die aus dem antiken Denken überlieferten Sinngehalte unter den Voraussetzungen der Moderne nicht in unveränderter Weise wiederbelebt und warum sie nicht so neuformuliert werden können, dass ihre ursprünglich sinngebende Wirkung auf einem spezifisch modernen Fundament erhalten bleibt. Es gibt keinen philosophischen Weg zurück zu den vormodernen Sinnentwürfen mit Transzendenzbezug, der hinreichend frei von grundlegenden Widersprüchen wäre. Die heute allseits verkündete Wiederkehr von philosophischen und religiösen Sinnvorstellungen der kulturellen Tradition besitzt kein stabiles philosophisches Fundament. Der Verlust der tradierten Wege zur Artikulation existentieller Sinnhaftigkeit bildet eine unausgefüllte Leerstelle im Denken der Moderne. Der Verständnishorizont moderner Denkweisen wird entscheidend durch das Denken der neuzeitlichen Wissenschaft geprägt. In der heutigen Situation erschließen sich die Zusammenhänge der Welt in erster Linie durch wissenschaftliches Denken. Allerdings erschließt sich auf diesem Weg der Sinn des menschlichen Lebens gerade nicht: Die neuzeitliche Wissenschaft blendet die Sinnfrage methodisch von vornherein aus, sie enthält sich jeglicher Aussagen über das gute Leben und unterminiert in   |  295

einer prinzipiellen Weise die Herausbildung existentieller Sinnhaftigkeit, indem sie den Vorstellungen von einem guten Leben die Wahrheitsfähigkeit entzieht und zugleich in einer schonungslosen Weise die kosmische Entbehrlichkeit und Bedeutungslosigkeit des Menschen vor Augen führt. Dadurch koppeln sich nicht nur die Vorstellungen über die Welt grundlegend von den Vorstellungen des guten Lebens ab, jene treten vielmehr in ein antagonistisches Verhältnis zu diesen. Die ernüchternde Sinnferne des wissenschaftlichen Denkens bildet die Grundlage der modernen Hinwendung zu den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Vergangenheit. Die umfassenden Sinnentwürfe der meta­phy­sischen Traditions­ linie beinhalten im Kern die Bemühung um Antworten auf die Sinnfrage durch die Herausbildung von Konzepten des guten Lebens und deren Verankerung in den Zusammenhängen der Welt. Aber gerade dies lässt sich nicht ohne weiteres in das moderne Denken übertragen – die bestimmenden Strömungen des modernen Denkens schließen eine strukturelle Verankerung der Sinnvorstellungen in der Welt von vornherein aus. Bei einer heutigen Hinwendung zu den kulturell überlieferten Sinngehalten kann die spezifisch moderne Perspektive kaum ausgeblendet werden. Selbst wenn Menschen behaupten, ihr Leben an den Sinngehalten der Vergangenheit auszurichten – faktisch tun das in der heutigen Zeit viele Menschen –, so beruht die moderne Hinwendung zur Traditions­ linie meta­phy­sisch-religiöser Sinnentwürfe stets auf spezifisch modernen Sichtweisen auf die Welt, und genau hierin liegt ein Bruch mit den Sinnentwürfen der Vergangenheit. Das Weltverständnis der Gegenwart wird durch die moderne, vom wissenschaftlichen Denken geprägte Ontologie bestimmt. Eine auf dieser Grundlage erfolgende Hinwendung zu tradierten meta­phy­sischen Sinnvorstellungen muss deren Wahrheitsanspruch zurücknehmen, der ursprünglich mit ihnen einherging. Das auf der Ontologie des wissenschaftlichen Denkens beruhende Wahrheitsverständnis schließt die Wahrheit vormoderner Sinnvorstellungen von vornherein aus. Eine moderne Neuinterpretation dieser Sinngehalte muss daher deren Grundlage verändern und vom Wahrheitsanspruch abrücken – sei es durch einen Rückzug vom Wissen auf den Glauben, sei es durch eine radikale Neubestimmung des Fundamentes in der individuellen Wahl. Da die so sich herausbildenden Sinnvorstellun296  |  Fazit und Ausblick 

gen keine strukturelle Verankerung mehr in der Bezugnahme des Menschen auf die Welt besitzen, liegt im modernen Rückgang auf die Sinnentwürfe der Vergangenheit stets eine grundlegende Veränderung und damit immer auch ein Bruch. In der vorliegenden Untersuchung wurde gezeigt, inwiefern hierbei gerade die Sinngebungsfähigkeit der neuformulierten Sinngehalte angegriffen wird: Sinngehalte der meta­phy­sischen Traditionslinie sind nicht in das moderne Denken übersetzbar, weil sie sich kaum von den ursprünglich mit ihnen verbundenen Auffassungen über die Welt abtrennen lassen. Der Perspektivwechsel von einer kosmischen Weltordnung hin zu einem sinnfreien Universum eliminiert die Verankerung der Sinnvorstellungen in der Welt und damit gerade das Fundament ihrer ursprünglichen Sinngebungskraft. In letzter Konsequenz müssen moderne Neuinterpretatio­nen der tradierten Sinnvorstellungen an der Fremdheit des dazugehörigen Weltverständnisses scheitern. Durch eine strukturelle Abkoppelung der Vorstellungen über das gute Leben von den Bezügen auf die Welt bildet sich die moderne Idee der freien Wählbarkeit existentieller Sinngehalte heraus: Es entsteht die Vorstellung, dass Menschen den Sinn ihres Lebens in einer nunmehr sinnfreien Welt selbst bestimmen müssten und auch könnten. Die inhärente Pro­blematik dieser Vorstellung kam ausführlich zur Sprache: Der Mensch selbst kann nur schwer als eine Sinn schöpfende Instanz in einer sinnfreien Welt aufgefasst werden, da er stets auf die Welt bezogen ist und die Sinnfreiheit der Welt eher auf ihn zurückschlägt, als dass er sie mit einer aus dem Nichts geschaffenen Sinnhaftigkeit wieder auffüllen könnte. Die Idee, dass es im Menschen jenseits seiner Weltbezüge eine Quelle existentieller Sinnhaftigkeit geben könnte, wird dem menschlichen Existieren in der Welt nicht gerecht. Weil philosophisch fundierte Wege zur Verankerung von Sinnvorstellungen in den Weltbezügen gegenwärtig fehlen, ist in der heutigen Situation die Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz in einer umfassenden Weise gefährdet, und eine Hinwendung zu vergangenen Denkweisen kann daran kaum etwas ändern. Selbst bei weitgehender Loslösung von vormodernen Sinnent­ würfen können zumindest einige Aspekte weiterhin große Anzie­ hungskraft ausüben. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die auf das Fazit und Ausblick  |  297

antike Denken zurückgehende Vorstellung, dass sich die gelingende menschliche Existenz als eine aufwärtsgerichtete Bewegung hin zu etwas Höherem vollzieht. Die Sinnentwürfe mit Transzendenzbezug verorten den Menschen in der Mitte zwischen dem niederen Tierischen und dem höheren Göttlichen: Je nachdem, ob Menschen die in ihnen angelegten wertvolleren Möglichkeiten realisieren, vollziehen sie eine Auf- oder Abwärtsbewegung, die über das Gelingen oder Scheitern ihrer Existenz entscheidet. Insbesondere an dieser Sinnvorstellung zeigt sich, dass die meta­phy­sischen Sinnentwürfe der Vergangenheit auch in der Gegenwart ihre Relevanz und Attraktivität keineswegs vollständig verloren haben, aber es zeigt sich zugleich, wie fremd diese Vorstellungswelten heute geworden sind: Die Vorstellung einer onto­logisch andersartigen und höherwertigen Sphäre, die existentiell relevante Forderungen an den Menschen stellen könnte, ist im Rahmen moderner Denkweisen kaum artikulierbar. Das moderne Raumverständnis kennt keine onto­logisch verschiedenartigen Sphären, und das moderne Weltverständnis schließt ein existentiell relevantes Einwirken der Welt auf den Menschen prinzipiell aus. Die Übersetzung der tradierten Vertikalitätsvorstellungen in das diesseitsorientierte und von der Weltsicht der Wissenschaft beeinflusste Denken der Moderne ist mit kaum zu überbrückenden Schwierigkeiten konfrontiert. Der gegenwärtig dominierende Diskurs über die ungebrochene Präsenz tradierter Sinnvorstellungen orientiert sich häufig an den Erkenntnissen der Soziologie, die tatsächlich nahelegen, dass so­ ziale Phänomene wie Religiosität auch für die gegenwärtige globale Gesellschaft entscheidende Bestimmungsfaktoren darstellen. 599 Diese Fakten sind, sozialwissenschaftlich betrachtet, sicher nicht falsch. Sie lassen jedoch die moderne Veränderung der wieder auf­ lebenden Sinngehalte der Vergangenheit in den Hintergrund treten. Es macht einen großen Unterschied, ob die tradierten Sinngehalte aus der Perspektive des antiken oder des modernen Denkens vertreten werden. So bestehen zwischen der Denk- und Lebensweise moderner Atheisten und moderner Christen vermutlich weniger Unterschiede als zwischen der moderner und vormoderner Christen. Der entscheidende Punkt liegt in der Rolle, die das Denken für das menschliche Leben spielt: Die tradierten Sinnvorstellungen mit Transzendenzbezug entspringen aus den Weltbezügen 298  |  Fazit und Ausblick 

des Menschen. Sie beruhen strukturell auf der Annahme, dass die Wahrheit über die Zusammenhänge der Welt den Weg zu einer gelingenden Existenz aufzeigen kann. So verstanden sind Sinnvorstellungen ein integraler Teil des Verständnisses, das Menschen über die Welt und über das Leben in der Welt herausbilden. Hier besteht eine direkte inferentielle Verknüpfung zwischen den Vorstellungen über das gute Leben und den Vorstellungen über die Welt; der Unterschied zwischen dem guten und dem schlechten Leben geht aus der denkenden Bezugnahme auf die Welt hervor. Diese strukturelle Beziehung geht in der Moderne verloren. Das, was zum Kernmoment der Sinnentwürfe der meta­phy­sischen Traditionslinie gehört, lässt sich nicht in den Verständnishorizont des modernen Denkens übertragen: die Artikulation existentieller Sinnhaftigkeit als eine denkende, wahrheitsfähige Bezugnahme auf eine sinnvoll geordnete Wirklichkeit. Moderne Neuinterpretatio­nen versuchen entweder, die Komponente des Denkens oder die Komponente der sinnvoll geordneten Wirklichkeit zurückzunehmen. Bei einem Rückzug vom Wissen auf den Glauben entspringt die existentielle Sinnhaftigkeit nicht mehr im Denken des Menschen, das nach Wahrheit strebt; bei einer Fundierung in der individuellen Wählbarkeit entspringt die Sinnrelevanz nicht mehr aus der Welt, sondern in einem fiktiven sinngebenden Punkt innerhalb des Menschen, aber außerhalb seiner Bezüge auf die Welt. Durch meine Untersuchung habe ich gezeigt, wie grundlegend diese modernen Strategien die neuinterpretierten Sinngehalte der Vergangenheit verändern müssen, und ich habe gezeigt, welche gravierenden philosophischen Schwierigkeiten damit einhergehen. In jeder modernen Hinwendung zu den Sinnentwürfen der meta­phy­sischen Traditionslinie liegt ein inhärenter Bruch mit dieser Traditionslinie. Dieser Bruch hat seinen Ort im Denken des Menschen, und deswegen fällt die Reflexion dieses Bruches in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie. Es kann jedoch bezweifelt werden, dass der Thematisierung dieses Pro­blems heute der philosophische Stellenwert zukommt, der ihm eigentlich zusteht. Gerade in neueren philosophischen Arbeiten zu der Frage nach dem Sinn des Lebens spielt der tiefe Graben zwischen modernen und vormodernen Antworten auf die Sinnfrage nur gelegentlich eine konstitutive Rolle, und besonders selten erfolgt die Diskussion des Trennenden in Fazit und Ausblick  |  299

einem direkten Zusammenhang zur Diskussion des Verbindenden. Gerade aus der Fremdheit der vormodernen Herangehensweisen an die Frage nach dem Sinn des Lebens entspringt sowohl deren Attraktivität als auch deren Abstoßungskraft. Unter diesem Blickwinkel kann das Denken Nietzsches auch heute noch als ein Orientierungspunkt dienen. Es existieren jedoch aufschlussreiche philosophische Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des modernen Bruches oder des modernen Verbundenseins mit den meta­phy­sischen Sinnentwürfen der Vergangenheit. Durch eine Zusammenschau solcher Ansätze habe ich versucht, den Blick auf die Zusammengehörigkeit der Abkehr und der Hinwendung zu lenken und auf diese Weise ein Verständnis für die Zwiegespaltenheit der heutigen Situation zu entwickeln. Vieles deutet darauf hin, dass sich die beschriebenen strukturellen Widersprüche der heutigen Zwiegespaltenheit kaum auflösen lassen. Jedoch kann die Philosophie danach streben, die Reichweite der Pro­blematik und ihrer Einflussfaktoren angemessen zu verstehen und zum Ausdruck zu bringen. Weder die Konsequenzen des Bruchs mit den tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfen noch die existentiellen Erfordernisse einer erneuten Hinwendung zu eben diesen sind bislang philosophisch hinreichend präzise auf den Begriff gebracht worden. Zudem ist das Bedürfnis nach einer fundierten Artikulation der Sinnhaftigkeit menschlichen Existierens keineswegs verschwunden. Auch wenn sich die in meinem Buch diskutierten gegensätzlichen Anforderungen an die Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht pro­blemlos auflösen lassen, sollte sich die Philosophie von solchen Reflexionen nicht abhalten lassen.

300  |  Fazit und Ausblick 

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt dem Lektor des Felix Meiner Verlags, Marcel Simon-Gadhof, für seine kenntnisreichen Änderungsvorschläge beim Lektorieren meines Textes. Ich danke meinen Doktorvätern Prof. Dr. Holm Tetens und Prof. Dr. Gunter Gebauer für wertvolle Inspiration, ohne die dieser Text nicht zustande gekommen wäre. Ganz herzlich danke ich Dr. Joachim Täubert, der mir als Abteilungsleiter bei IBM Deutschland Global Business Solutions durch ein einzigartiges Anstellungsverhältnis die Möglichkeit bot, Philosophie zu studieren und in Philosophie zu promovieren. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen an der Hochschule Coburg, die mich bei der Publikation dieses Buches unterstützt haben: Mein besonderer Dank gilt hierbei Prof. Dr. Christian Holtorf, Prof. Dr. Eckardt Buchholz-Schuster, Prof. Dr. James Giordano, Prof. Dr. Elke Schwinger und Prof. Dr. Daniel Herbe. Ich danke auch der Hochschule Coburg, die mir durch die Freiräume des »Coburger Wegs« die Möglichkeit eröffnete, diese Buchveröffentlichung in die Wege zu leiten. Meinem Vater danke ich für seine wertvolle Unterstützung während der Schulzeit und in der Phase meines Abiturs. Mein größter Dank gilt meiner Ehefrau Elisa für ihre beständige Unterstützung und Bekräftigung.

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310  |  Literaturverzeichnis 

Anmerkungen 1 

»Die Lösung des Pro­blems merkt man am Verschwinden dieses Pro­blems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand.)« Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M. [1921] 1996, 6.521. 2  Vgl. ebd., 6.53 und 7. 3  Das Schließen von dem, was ist, auf das, was sein soll, wird von vielen heutigen Philosophen als ein naturalistischer Fehlschluss aufgefasst. Das moderne Bewusstsein der Pro­blematik, das Sollen aus dem Sein abzuleiten, geht zurück auf David Hume. Vgl. David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 2. Über die Affekte, Hamburg [1739] 1978, 3. Buch, 1. Teil, S. 211 f. Der Ausdruck »naturalistic fallacy« wurde von G. E. Moore geprägt. Vgl. George Edward Moore, Principia Ethica, Stuttgart [1903] 1970, S. 43 ff. und 76 ff. 4  Vgl. Wittgenstein, a. a. O., 6.52. 5  Vgl. z. B. den folgenden umfangreichen Sammelband: Christoph Fehige / Georg Meggle / Ulla Wessels (Hg.), Der Sinn des Lebens, München 2000. 6  Vgl. z. B. Kai Nielsen, Analytische Philosophie und der »Sinn des Lebens«, in: Christoph Fehige / Georg Meggle / Ulla Wessels (Hg.), Der Sinn des Lebens, München 2000, S. 228 – 255. 7  Vgl. z. B. den weiterhin aktuellen Klassiker: Viktor Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München [1946] 2005. 8  Vgl. z. B. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Band 2, München 1980. Vgl. insbesondere das Kapitel »Die Antiquiertheit des ›Sinnes‹«, S. 362 – 390. 9  Vgl. z. B. Hubert Dreyfus / Sean Dorrance Kelly, All Things Shining. Reading the Western Classics to Find Meaning in a Secular Age, New York 2011. 10  Vgl. z. B. Terry Eagleton, The Meaning of Life, Oxford u. a. 2007. 11  Allgegenwärtig ist beispielsweise die These über die heutige Rückkehr der Religion. Vgl. hierzu Detlef Pollack, Die Säkularisierungstheorie in der wissenschaftlichen Diskussion, in: Religion & Gesellschaft in Ost und West, Nr. 2, 2013, S. 8 – 11. Hierzu existiert eine reichhaltige soziologische und religionswissenschaftliche Literatur: Vgl. Friedrich W. Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; Gilles Kepel, Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 1994 und Ullrich Beck, Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem   |  311

Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a. M. 2008 (insbesondere Kapitel II. »Die Rückkehr der Götter und die Krise der europäischen Moderne«, S. 34 – 67). Paradigmatisch wird die vorherrschende Meinung von Peter L. Berger wie folgt formuliert: »The world today, with some exceptions […], is as furiously religious as it ever was, and in some places more so than ever.« Peter L. Berger, The Desecularization of the World. A Global Overwiev, in: ders. (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Washington 1999, S. 3. In prominenter und politisch einflussreicher Weise vertritt Samuel P. Huntington die These, dass Modernisierungstendenzen pro­blemlos mit einer Hinwendung zur Religion einhergehen können. Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1998. John Gray beschreibt sehr eindringlich, wie religiöse Vorstellungen, teilweise in säkularer Verkleidung, auch in der Moderne, bis in die heutige Zeit hinein, weiterwirken und wie stark sie insbesondere die Weltpolitik noch im 21. Jahrhundert bestimmen. Vgl. John Gray, Black Mass. Apocalyptic Religion and the Death of Utopia, London 2008. Die spezifisch philosophische Bemühung um einen Rückgang auf die Sinngehalte der kulturellen Vergangenheit wird an vielen Stellen dieser Untersuchung eine wichtige Rolle spielen. Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 2.3.2 und 3.4 weiter unten. 12  Das Denken Kurt Hübners ist hierfür ein wichtiges Beispiel, vgl. Kapitel 3.4.7 weiter unten. Es existiert auch eine wachsende Minderheit von christlichen analytischen Philosophen wie Alvin Plantinga oder Richard Swinburne, die die Vernünftigkeit von christlichen Positio­nen mit spitzfindigen einzelnen Argumenten verteidigen. In ihren Werken fehlt der Bezug auf die Komplexität sowohl der heutigen Lebenswirklichkeit als auch der kulturellen Tradition des Christentums, so dass ihre Argumente für die Frage nach der heutigen Lebendigkeit tradierter Sinnentwürfe meiner Meinung nach keine Relevanz besitzen (Vgl. z. B. Alvin Plantinga, Warranted Christian Belief, Oxford u. a. 2000 sowie Richard Swinburne, The Existence of God, Oxford u. a. 2004). 13  Der Begriff »Ontologie« bezeichnet in dieser Untersuchung eine umfassende Wirklichkeitsdeutung im Sinne Kurt Hübners: Eine Ontologie ist ein bestimmter »Entwurf darüber, was als Wirklichkeit erscheinen und als Wahrheit betrachtet werden kann.« Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 66. Für eine ausführliche Analyse der Argumente Kurt Hübners vgl. Kapitel 3.4.7 und hierbei insbesondere S. 277 ff. weiter unten. 13 a  Zur Begriffs- und Ideengeschichte des Ausdrucks »Sinn des Lebens« vgl. Volker Gerhardt, Sinn des Lebens. Über einen Zusammenhang zwischen antiker und moderner Philosophie, in: Volker Caysa / Klaus-Dieter Eichler (Hg.), Praxis Vernunft Gemeinschaft. Auf der Suche nach einer anderen Vernunft, Weinheim 1994, S. 371 – 386. 14  Lev N. Tolstoi, Meine Beichte, München 1990, S. 49. 15  Einer solchen Position gibt Tolstoi beredt Ausdruck. Vgl. ebd. 16  Thomas Nagel, The View from Nowhere, Oxford u. a. 1986, S. 214 f. 312  |  Anmerkungen 

17 

Ein Beispiel hierfür ist die Feststellung, dass die Lebenswelt des Menschen von einer prinzipiellen Veränderlichkeit und Unbeständigkeit gekennzeichnet ist. Vgl. hierzu unten, S. 75 f. 18  Vgl. Volker Steenblock, Tradition, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Basel 1971 – 2007, S. 1315. 19  Diese Auffassung befindet sich im Einklang mit neueren soziologischen Forschungen über die Moderne. Vgl. Schmuel N. Eisenstadt, Modernity in Socio-Historical Perspective, in: Eliezer Ben Rafael / Yitzak Sternberg (Hg.), Comparing Modernities. Pluralism Versus Homogenity, Leiden 2005, S. 31 – 56. 20 Joseph Ratzinger, Der angezweifelte Wahrheitsanspruch. Die Krise des Christentums am Beginn des dritten Jahrtausends, in: Joseph Ratzinger / Paolo Flores d’Arcais, Gibt es Gott? Wahrheit, Glaube, Atheismus, Berlin 2006, S. 17 f. (Hervorh. im Original). 21  Bernulf Kanitscheider, Entzauberte Welt. Über den Sinn des Lebens in uns selbst. Eine Streitschrift, Stuttgart 2008, S. 87 f. (Hervorh. im Original). 22  Vgl. unten, Kapitel 3.2. 23  Strömungen wie der antike Hedonismus oder die antike Skepsis weisen hingegen in eine andere Richtung. So vollzogen die antiken Sophisten einen umfassenden Bruch mit der sozialen Ordnung der mythischen Tradition mit Argumenten, die aus der heutigen Sicht recht modern wirken. Vgl. dazu Winfried Schröder, Moralischer Nihilismus. Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche, Stuttgart 2002, S. 193 ff. 24  Vgl. René Descartes, Von der Methode, Hamburg [1637] 1960, 3. Teil, S. 18 ff. sowie Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1990, S. 283. 25  Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg [1788] 2003 sowie Immanuel Kant, Grundlegung zur Meta­phy­sik der Sitten, Hamburg [1785] 1994. Aufschlussreich ist beispielsweise der Lehrsatz IV der Kritik der praktischen Vernunft, S. 33 (Zitiert nach der Akademieausgabe). 26  Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg [1781] 1998, B XVI. 27  Vgl. unten, S. 225 ff. 28  Vgl. Karl Jaspers, Nietzsche und das Christentum, Hameln 1947, S. 25 f. 29  Vgl. unten, Kapitel 3.4.1 und 3.4.3. 30  Vgl. oben, S. 28 ff. 31  Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a. M. 1979, S. 91. 32  Vgl. hierzu das Vorwort von Thomas Leinkauf in: Thomas Leinkauf / Carlos Steel (Hg.), Platons Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance, Leuven 2005, S. IX–XXIV. Nebenbei bemerkt bezieht sich die im vorherigen Satz zitierte Aussage Whiteheads zu der philosophischen Tradition primär auf die Wirkung des Timaios. Vgl. ebd., S. VI. Anmerkungen  |  313

33  Platon,

Timaios, Übersetzung basierend auf Hieronymus Müller, in: Platon, Sämtliche Werke, Band 4, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 11 – 103, 27d f. 34 Ebd. 35  Vgl. ebd., 51e. 36  Vgl. ebd., 29b f. 37  Vgl. ebd., 46e. 38  Vgl. ebd., 29a ff. 39  Vgl. ebd., 68e. 40  Vgl. ebd., 48a. 41  Vgl. Karin Hartbecke, Der Timaios in der französischen Aufklärung, in: Thomas Leinkauf / Carlos Steel (Hg.), Platons Timaios als Grundtext der Kosmo­logie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance, Leuven 2005, S. 458 ff. 42  Platon, Timaios, a. a. O., 29b f. 43  Vgl. ebd., 46e. 44  Vgl. ebd., 29b f. 45  Ebd., 53a f. Vgl. hierzu auch ebd., 69b f. 46  Vgl. ebd., 29c f. sowie 48d. 47  Ebd., 29a. 48  Vgl. unten, Kapitel 2.2. 49  Platon, Timaios, a. a. O., 30b f. 50  Ebd. 34c. Vgl. hierzu auch ebd., 36e f. sowie 69c. 51  Vgl. ebd., 37d f. 52  Ebd., 47e f. 53  Ebd., 47b f. Auf diese Stelle, die speziell auf die Funktion des Sehvermögens bezogen ist, folgt eine Erörterung der Funktion des Gehörs und der Stimme, die, analog zur oben zitierten Stelle, zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommt. 54  Ebd., 46d f. 55  Ebd., 68e f. 56  Vgl. ebd., 89e. 57  Ebd., 90a ff. 58  Vgl. unten, Kapitel 2.3. 59  Vgl. Georg Picht, Aristoteles’ »De anima«, Stuttgart 1987 und Georg Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, Stuttgart 1989. 60  Für die genaue Darstellung des aristotelischen Denkens ist es sehr hilfreich, auch auf die ursprünglichen griechischen Begriffe zurückzugreifen. So bleibt zum einen beim Rückgriff auf unterschiedliche Übersetzungen klar, was genau gemeint ist. Zum anderen lässt sich so viel eher die Illusion der Vertrautheit vermeiden, die eine Übersetzung mit heute gängigen Begriffen vorspiegelt – dies zu verhindern, ist insbesondere bei Vorstellungen wie οὐσία oder ἐντελέχεια entscheidend. 61  Aristoteles, De anima, Übersetzung basierend auf W. Theiler, Hamburg 1995, 402a 7 f. 314  |  Anmerkungen 

62  Vgl.

hierzu Aristoteles, Meta­phy­sik, Übersetzung basierend auf Hermann Bonitz, Reinbek bei Hamburg 1994, 1041b 12 – 34. 63  Vgl. Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 175. 64 Vgl. Aristoteles, Meta­ phy­ sik, a. a. O., 1037a 29 f.: »Denn Wesenheit [οὐσία] des Dinges ist die inwohnende Formbestimmung [εἶδος], aus welcher in Verbindung mit der Materie [ὕλη] die konkrete Wesenheit [οὐσία] besteht […].« Vgl. hierzu den ganzen 11. Teil des 7. Buches. 65  Vgl. Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 288. 66  Vgl. Michael-Thomas Liske, ti ên einai, in: Christoph Horn / Christof Rapp (Hg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2008, S. 446 – 4 48. 67  Gemeint ist die im vorangehenden Absatz beschriebene Verbindung der ideellen Form (εἶδος) mit der Materie (ὕλη). 68  Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 280. 69  Ebd., S. 298. 70  Aristoteles, Meta­phy­sik, a.  a.  O., 1050a 4 ff. 71  Vgl. Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 302. 72  Picht beschreibt diesen Gedanken wie folgt: »Es gibt aber für jedes Seiende ein bewegtes und bewegliches Sein, das sein Wesen ausmacht, eine Bewegung, in der wir seine Seinsverfassung, seine οὐσία erfassen. Es ist die Bewegung in Richtung auf die in ihm angelegte Struktur, also die Tendenz, das wirklich zu sein, was es der Möglichkeit nach ist. Diese Bewegung aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit nennt Aristoteles ἐντελέχεια. Nur in der Form dieser Bewegung ist das εἶδος im Seienden präsent. Die ἐντελέχεια ist deshalb das εἶδος ἐνόν – sie ist mit dem εἶδος identisch. Damit verstehen wir die Worte: es ist aber die ὕλη Möglichkeit, das εἶδος hingegen ἐντελέχεια (412a 9 f.).« Ebd., S. 299. 73  Vgl. Aristoteles, Physik. Bücher V–VIII, Übersetzt von Hans Günter Zekl, Hamburg 1988, 257b 8. Zu dieser Pro­blematik vgl. Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 294. 74  Neben den natürlichen Körpern gibt es bei Aristoteles noch die künstlich hergestellten und die mathematischen Körper. 75  Vgl. Aristoteles, De anima, a. a. O., 412b 5 f. 76  Vgl. ebd., 412a 14. 77  Vgl. Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 321. 78  Ebd., S. 316. 79  Vgl. Aristoteles, Meta­ phy­sik, a. a. O., 1050a 8 f. Zu den Bedeutungen des griechischen Begriffs der Genesis vgl. Johannes Hübner, Genesis, in: Christoph Horn / Christof Rapp (Hg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2008, S. 169. Vgl. hierzu auch den Kontext der in meinem Buch in Anm. 70 erwähnten Stelle. 80  Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 333. 81  Vgl. hierzu ebd., S. 332 sowie Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, Übersetzt von Wolfgang Kullmann, Berlin 2007, 645b 14 – 20. Anmerkungen  |  315

82 

Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 335 f. Ebd., S. 358 f. (Hervorh. im Original). 84  Aristoteles, Nikomachische Ethik, Übersetzt von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006, 1139b 15 ff. 85  Ebd., 1140a 23 f. und 1140b 34 ff. 86  Ebd., 1140a 14 f. 87  Vgl. unten, Kapitel 3.4.4 und 3.4.5. 88 Vgl. Friedemann Buddensiek / Christoph Horn, Nous, in: Christoph Horn / Christof Rapp (Hg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2008, S. 297 – 301. 89  Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, a. a. O., 1141a 8 f. 90  Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 377. Vgl. hierzu auch ebd., S. 356. 91  Ebd., S. 391. 92  Vgl. Aristoteles, De anima, a. a. O., 429a 10 ff. 93  Aristoteles, Meta­phy­sik, a. a. O., 1031b 6 f. 94  Aristoteles, Nikomachische Ethik, a. a. O., 1139b 25 ff. 95  Ebd., 1140b 31 ff. 96  Vgl. hierzu Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 378 und Aristotle, De Anima. With Translation, Introduction and Notes by R. D. Hicks, Cambridge 1907, Anmerkung von Hicks zu 429b 12, S. 486. Die relevanten Stellen bei Aristoteles finden sich bei Aristoteles, Meta­phy­sik, a. a. O., 1031b 12 f., 1032a 5 f. und 1037a 33 f. 97  Hierbei bezieht MacIntyre die Position, dass sich das heutige Denken genau an der aristotelischen Traditionslinie orientieren sollte, um sein verlorengegangenes Fundament wiederzuerringen. Eine derartige Forderung ist mit Pro­blemen behaftet, und diese Pro­blematik wird im Verlauf dieser Untersuchung noch zur Sprache kommen. Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 3.4.7 weiter unten. An dieser Stelle ist es jedoch entscheidend, die Unterschiede zwischen dem Denken der großen antiken Sinnentwürfe und den heutigen Denkweisen herauszuarbeiten. Hierfür ist der deskriptive Teil des Buches »After Virtue« von MacIntyre sehr hilfreich. Vgl. Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981. 98  Vgl. ebd., insbesondere S. 50 ff. und S. 109 ff. 99  Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, a. a. O., 1176a 31 f. 100  Vgl. ebd., 1176a 22 ff. 101  Vgl. ebd., 1176a 28 ff. 102  Vgl. ebd., 1178b 33 ff. 103  Ebd., 1177b 16 ff. Die Auslassungen umfassen nur die hier nicht relevanten Begriffe im griechischen Original. 104  Ebd., 1178a 3 ff. 105  Maximilian Forschner, Über das Glück des Menschen, Darmstadt 1993, S. 13. Vgl. hierzu auch ebd., S. 15. 106  Vgl. unten, S. 264 ff. 83 

316  |  Anmerkungen 

107 

Aristoteles, Nikomachische Ethik, a. a. O., 1177b 26 ff. Ebd., 1178a 9 ff. Die Auslassungen umfassen nur die hier nicht relevanten Begriffe im griechischen Original. 109  Vgl. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, a. a. O., S. 116. 110  Die Fundamente des mythischen Denkens werden in einem Vergleich mit den Fundamenten des wissenschaftlichen Denkens an einer späteren Stelle noch gesondert zur Sprache kommen. Vgl. Kapitel 3.4.7 weiter unten. 111  Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 368. 112  Vgl. Hermann Diels / Walter Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Band 1, Berlin 1960, 18 B 3. Bei Aristoteles schlägt sich diese Auffassung nach Picht an verschiedenen Stellen nieder: Vgl. Aristoteles, De anima, a. a. O., 431b 21, 430a 3 f., 430a 19 f., 431b 16 f. 113  Vgl. Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 381. 114  Vgl. ebd., S. 381 – 389. Pichts Darstellung hat an dieser Stelle eine große Nähe zur der Heidegger’schen Interpretation des griechischen Begriffs der aletheia. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen [1927] 1993, S. 32 f., 212 f. und 219 f. 115  Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 385. 116  Ebd., S. 395. 117  Vgl. ebd., S. 311 f. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.3.2.2 weiter unten. 118  Vgl. Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, a. a. O., 645a 23 ff. Die obige Übersetzung stammt von Picht, da seine um einiges deutlicher und schöner formuliert ist. Siehe Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 329. 119  Forschner, Über das Glück des Menschen, a. a. O., S. 16. Vgl. hierzu auch S. 264 ff. weiter unten. 120  Aristoteles, De anima, a. a. O., 402a 7 f. 121  Picht, Aristoteles’ »De anima«, a. a. O., S. 174. 122  Ebd., S. 174 f. 123  Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, a. a. O., S. 10 f. 124  Vgl. ebd., S. 80. 125  Ebd., S. 123 f. (Hervorh. im Original). 126  Ebd., S. 86. 127  Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin u. a. 1998, S. 338. 128  Vgl. unten, Kapitel 3.4.7. 129  Prediger 1,2 ff. und 3,19 f. Sämtliche Bibelzitate dieser Arbeit basieren auf der Übersetzung nach Martin Luther. 130  Relevante Stellen hierzu finden sich im ganzen Werk Nietzsches. Als ein Beispiel vgl. Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, ca. 40 Bände in 9 Abteilungen, Berlin u. a. 1967 – z. Zt., V, 2, Die fröhliche Wissenschaft (Vorrede), Aph. 2, S. 15 ff. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.4.1 weiter unten. (Ich zitiere die Werke Nietzsches wie folgt: Abteilung, Band, evtl. Titel, Aphorismus, Seitenzahl. 108 

Anmerkungen  |  317

Alle Zitate werden in der ursprünglichen Rechtschreibung wiedergegeben.) 131  Nietzsche, Werke VIII, 2, 9[60], S. 28 f. (Hervorh. im Original). 132  Vgl. unten, Kapitel 3.3. 133  Vgl. Platon, Der Staat [Politeia], Übersetzt von Otto Apelt, Hamburg 1988, 509d. 134  Ebd., 517b. 135  Ebd., 508d. 136  Platon, Phaidon, Übersetzt von Friedrich Schleiermacher, in: Platon, Sämtliche Werke, Band 2, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 103 – 184, 80b. 137  Ebd., 80b. 138  Ebd., 81a. 139  Vgl. Karin Alt, Diesseits und Jenseits in Platons Mythen von der Seele (Teil II), in: Hermes, Nr. 111, 1983, S. 26 ff. 140  Vgl. oben, Kapitel 2.1.2. 141  2. Korinther 5,1 – 10. 142  Vgl. Kurt Hübner, Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen 2004, S. 548. 143  Vgl. Nietzsche, Werke VI, 3, Der Antichrist, Aph. 34, S. 204 f. 144  Martin Heidegger, Einführung in die Meta­phy­sik, Tübingen 1953, S. 80. 145  Prediger 5,1. 146  Vgl. ebd. 1,1 ff.; 3,16 ff.; 5,9 ff.; 8,14. 147  Vgl. ebd. 12,7. 148  Vgl. ebd. 3,20 ff. 149  Vgl. hierzu auch ebd. 6,2 und 8,15. 150  Ebd. 2,24 f. 151  Ebd. 9,7 ff. 152  Abel, a. a. O., S. 326. 153  Vgl. unten, Kapitel 3.3, 3.4.1 und 3.4.3. 154  Vgl. oben, S. 58 f. 155  Vgl. oben, Kapitel 2.2. 156  Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991. 157  Hadot zeigt, dass dies nicht nur für die philosophische, sondern auch für die religiöse Tradition gilt. Nach Hadot betrachteten sich, zumindest in den Anfängen, wichtige Strömungen des frühen Christentums selbst als eine Philosophie, die Theorie und Praxis auf die beschriebene Weise zu einer Einheit verbindet. Vgl. ebd., Kapitel »Frühchristentum«, S. 48 – 65 und hierbei insbesondere S. 50 f. 158  Ebd., S. 41 f. 159  Ebd., S. 38. 160  Marc Aurel, Wege zu sich selbst, Übers. von Rainer Nickel, München 1990. 161  Hier, wie an vielen anderen Stellen, zeigt sich eine Nähe zum Denken von Platon und Aristoteles. Vgl. Kapitel 2.1 weiter oben. 318  |  Anmerkungen 

162 

Marc Aurel, a. a. O., V, 21. Ebd., IV, 45. 164  Ebd., V, 8. 165  Ebd., IX, 19. 166  Ebd., II, 12. 167  Ebd., VII, 14. 168  Ebd., VIII, 28. 169  Ebd., XI, 16. 170  Vgl. ebd., XI, 2. 171  Vgl. Hadot, a. a. O., S. 76 ff. 172  Vgl. Marc Aurel, a. a. O., II, 9; III, 16; V, 8 sowie IX, 1. 173  Ebd., VII, 9. 174  Ebd., VI, 21. 175  Ebd., VI, 10. 176  Hadot, a. a. O., S. 88 f. 177  Vgl. ebd., S. 73. 178  Ebd., S. 88. 179  Marc Aurel, a. a. O., VIII, 52. 180  Hadot, a. a. O., S. 49. 181  Vgl. oben, S. 23 ff. 182  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O. 183  Vgl. ebd., § 40, S. 184 ff. 184  Vgl. ebd., S. 143 ff. und S. 221. 185  Vgl. ebd., S. 86 f. sowie §§ 31 und 32, S. 142 ff. 186  Vgl. ebd., S. 123 sowie § 27, S. 126 ff. 187  Vgl. ebd., S. 263. 188  Vgl. ebd., § 38, S. 175 ff. 189  Ebd., S. 181 (Hervorh. im Original). 190  Ich vertrete hierbei die Position, dass es möglich ist, sich von der kunstvollen und zuweilen erkünstelten Sprache Heideggers nicht fesseln zu lassen und die Phänomene, die er beschreibt, auch außerhalb des Heidegger’schen Vokabulars, mit einer unmittelbarer verständlichen Sprache zu beschreiben. 191  Überhaupt ist die Existenzphilosophie, zu der das Denken zumindest des frühen Heideggers gezählt werden kann, geeignet, die fremd gewordenen Phänomene der philosophischen und religiösen Überlieferung in einem vertrauteren Vokabular neu zu formulieren. So hat Rudolf Bultmann mit seiner Forderung, die christliche Religion zu entmythologisieren, um ihre Verständlichkeit für den heutigen Menschen zu bewahren, dafür plädiert, zentrale und existentiell relevante Einsichten der christlichen Religion in ein existenzphilosophisches Vokabular zu transformieren. Vgl. hierzu S. 290 weiter unten. Zum Verhältnis Kurt Hübners zur Daseinsanalyse Heideggers vgl. Anm. 592. 192  Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 178. Vgl. hierzu auch S. 177 ff. 163 

Anmerkungen  |  319

193 

Vgl. ebd., u. a. S. 42 f., 175 ff., 191 ff. und 221. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.4.5 weiter unten. 195  Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 175. 196  Ebd., S. 239. 197  Ebd., S. 221. Vgl. hierzu auch S. 175 ff., 184 f. sowie 221 f. 198  Unter diesem Aspekt ist Heidegger stark vom Denken Nietzsches beeinflusst, dessen philosophisches Zen­t rum im Kampf gegen die Abwertung des vergänglichen Diesseits liegt. Vgl. Kapitel 3.4.1 weiter unten. 199  Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 187. 200  Ebd., S. 221. 201  Ebd., S. 130 (Hervorh. im Original). 202  Ebd., S. 179 (Hervorh. im Original). 203  Ebd., S. 42 f. (Hervorh. im Original). 204  Ebd., S. 43 und 44. 205  Vgl. z. B. ebd., S. 228. 206  Ebd., S. 42. 207  Ebd., S. 221 (Hervorh. im Original). 208  Vgl. ebd., S. 263 f. 209  Vgl. ebd., S. 322. 210  Ebd., S. 343. 211  Ebd., S. 325. 212  Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82), Frankfurt a. M. 2004, S. 297. 213  Ebd., S. 298. 214 Epikur, Epikurs Weisungen [Gnomologium Vaticanum], in: ders., Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Stuttgart 1985, Nr. 45, S. 89. 215  Foucault, Hermeneutik des Subjekts, a. a. O., S. 304. 216  Ebd., S. 305. 217  Marc Aurel, a. a. O., XI, 5. 218  Foucault, Hermeneutik des Subjekts, a. a. O., S. 390. 219  Ebd., S. 32. 220  Ebd., S. 33. 221  Ebd., S. 389. 222  Vgl. ebd., S. 391 f. 223  Ebd., S. 392. 224  Vgl. oben, Kapitel 2.3.1. 225  Foucault, Hermeneutik des Subjekts, a. a. O., 226 f. 226  Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 4, Frankfurt a. M. 2005, Nr. 357. Eine Ästhetik der Existenz, S. 904. 227  Foucault, Dits et Ecrits, a. a. O., Nr. 344. Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit, S. 766. 228  Vgl. oben, S. 115 f. 229  Foucault, Dits et Ecrits, Nr. 344, a. a. O., S. 766. 194 

320  |  Anmerkungen 

230 

Nietzsche, Werke V, 2, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 290, S. 210. Auch die biblische Tradition kennt die Auffassung, dass sich der Mensch die Erde untertan machen sollte. Dieser Gedanke beruht aber dort der Anlage nach nicht auf dem Willen des Menschen, sondern auf dem Auftrag Gottes. Vgl. Gen 1,28. 232  Diese Vorstellung spielt im Denken von Aristoteles eine bestimmende Rolle. Vgl. oben, S. 46 ff. 233  Diese Vorstellung wurde bereits sehr ausführlich im Zusammenhang mit ­Platon (vgl. oben, S. 42 ff.) und mit Marc Aurel besprochen (vgl. oben, S. 95 ff.). 234  Hadot, a. a. O., S. 179. 235  Ebd., S. 180. 236  Foucault, Hermeneutik des Subjekts, a. a. O., S. 321. 237  Zur Rolle der Wahrheit bei den geistigen Übungen Marc Aurels vgl. S. 95 f. weiter oben. 238  Foucault, Hermeneutik des Subjekts, a. a. O., S. 37. 239  Vgl. ebd., S. 35 f. 240  Ebd., S. 36. 241  Zu diesem Aspekt der Moderne siehe unten, S. 264 ff. 242  Foucault, Hermeneutik des Subjekts, a. a. O., S. 36 f. 243  Vgl. ebd., S. 18 f. 244  Vgl. ebd., S. 31. 245  Ebd., S. 380 f. 246  Vgl. ebd., S. 381 f. 247  Zu den Unterschieden zwischen der antiken und der modernen Ontologie vgl. Kapitel 3.4.7 weiter unten. 248  Vgl. oben, S. 104. 249  Foucault, Hermeneutik des Subjekts, a. a. O., S. 313. 250  Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009. 251  Vgl. 1. Mose 28,10 ff. sowie Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 199 ff. 252  Vgl. Archaïscher Torso Apollos, in: Rainer Maria Rilke, Die Gedichte, Frankfurt a. M. 2004, S. 503. Vgl. hierzu auch Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 37 ff. 253  Ebd., S. 46. 254  Vgl. ebd., S. 38 ff. 255  Vgl. oben, Kapitel 2.3.1. 256  Vgl. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 41. 257  Vgl. unten, Kapitel 3.4. 258  Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 429. 259  Ebd., S. 643. Vgl. dazu auch ebd., S. 644 und S. 174 f. 260  Vgl. ebd., S. 426. 231 

Anmerkungen  |  321

261 

Vgl. ebd., S. 296 f. Vgl. oben, Kapitel 2.3.2.1. 263  Heidegger selbst hat diese naheliegende Schlussfolgerung aus seinem Denken nicht gezogen. Wie tief er im »Man« des Nationalsozialismus verstrickt war, zeigt Emmanuel Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935, Berlin 2009. 264  Vgl. oben, Anm. 188. 265  Vgl. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 67, 338 sowie 525 ff. 266  Vgl. Foucault, Dits et Ecrits, Nr. 344, a. a. O., S. 767. 267  Vgl. oben, S. 123 ff. und hierbei insbesondere die Anm. 238. 268  Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 65 f. 269  Ebd., S 133. 270  Dies gilt nicht nur für den Sportler selbst, sondern auch für den Fan des Sports: »Ein Fußballfan will sich fühlen: seinen Körper und seine Macht.« Gunter Gebauer, Poetik des Fußballs, Frankfurt a. M. 2006, S. 100 (Hervorh. im Original). 271  Vgl. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 520. 272  Vgl. ebd., S. 527 ff. 273  Vgl. Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. [1912] 1994. 274  Vgl. Gebauer, a. a. O., 4. Kapitel »Bewegte Gemeinden – Über das Heilige im Fußball«, S. 98 – 116. 275  Vgl. ebd., S. 106. 276  Deswegen ist zwar das soziologische Phänomen des Sports offen für eine Interpretation in den Kategorien Émile Durkheims, eine komplementäre Interpretation in den Kategorien von William James wäre jedoch schwieriger: Die individuelle religiöse Erfahrung, die in der spirituellen, absolut privaten Vereinzelung, in einer Konzentration auf das Geistige und abseits der sozia­ len Eingebundenheit vollzogen wird, kann im Phänomen des Sports nicht wiedererkannt werden. Dies gilt umso mehr, wenn James die Aufgabe des individuellen Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens und der moralischen Eigenmächtigkeit als den Kern des Religiösen bestimmt. Die von James beschriebene Dimension des Religiösen liegt dem modernen Denken und Handeln sehr fern. Vgl. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. [1901] 1997, insbesondere S. 79 ff. 277  Vgl. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 587 f. sowie 506. 278  Ebd., S. 590. 279  Vgl. oben, S. 94 f. 280  Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 338. 281  Ebd., S. 649. 282  Vgl. oben, Kapitel 2.3.2.1. 262 

322  |  Anmerkungen 

283 

Vgl. z. B. Nietzsche, Werke VI, 2, Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, Aph. 11, S. 379 ff. 284  Dies wird im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich thematisiert werden. Vgl. unten, Kapitel 3.3, 3.4.1 und 3.4.3. 285  Vgl. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 58 – 63. 286  Ebd., S. 66 ff. 287  In diesem Zusammenhang benutzt Sloterdijk den Begriff der optimierenden Anthropotechnik. Vgl. hierzu ebd., S. 13 f., 23 f., 126, 628 ff. 288  Nietzsche, Werke V, 1, Morgenröte, Aph. 22, S. 30. Vgl. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 7. 289  Vgl. ebd., S. 584. 290  Vgl. ebd., S. 502 ff. 291  Vgl. ebd., S. 639 ff. 292  Vgl. ebd., S. 372. 293  Ein sehr aufschlussreiches und zugleich hochpro­blematisches Beispiel einer derartigen Position findet sich in: Samuel P. Huntington, Who are we? The challenges to America’s national identity, New York 2004, 2. und 3. Kapitel, S. 21 – 58. 294  Vgl. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 523. 295  Ebd., S. 23. 296  Vgl. hierzu auch die Scientology-Kritik von Sloterdijk. Vgl. ebd., S. 166 ff. Relevant sind auch S. 150 f. und 154. 297  Vgl. oben, S. 144 f. 298  Vgl. hierzu auf der einen Seite Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, a. a. O., S. 66 ff. und auf der anderen Seite ebd., S. 702 f. 299  Ebd., S. 698. 300  Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, Stuttgart [1486] 1997. Die Oratio hat Pico selbst nie gehalten, sie wurde erst posthum veröffentlicht. Sie gehörte zunächst nicht zu den bekanntesten Werken Picos, entfaltete aber dennoch bereits im frühen 16. Jahrhundert eine Wirkung. Dass sie heute als ein paradigmatischer Ausdruck des Renaissancedenkens interpretiert werden kann, ist historisch durchaus belegbar und keine Konstruktion von Historikern des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Vgl. hierzu M. V. Dougherty, Three Precursors to Pico della Mirandola’s Roman Disputation and the Question of Human Nature in the Oratio, in: ders. (Hg.), Pico della Mirandola. New Essays, Cambridge 2008, S. 114 – 151 (insbesondere S. 146 ff.). 301  Pico della Mirandola, a. a. O., S. 9. 302  Ebd., S. 9. 303  Ebd., S. 7. 304  Bei Denkern wie Demokrit, Epikur und Lukrez und in der Sophistik werden die körperlichen Mängel des Menschen an zentraler Stelle behandelt, aber noch nicht als Vorzug angesehen. Die Tragödiendichter sowie Denker wie Anaxagoras, Platon, Aristoteles, Cicero und Plinius sehen in der MänAnmerkungen  |  323

gelsituation des Menschen schon den Ausgangspunkt für ein Kompensieren durch Sprache und Vernunft. Bei Denkern wie Poseidonios, Vergil, Origenes und Gregor von Nyssa liegt in der Mängelsituation eine Sinn tragende Vorsehung, »die den Menschen eben nicht als Naturwesen erschaffen, sondern durch seine besondere Konstitution auf den Weg zur Kultur habe zwingen wollen«. In genau diese Traditionslinie stellen sich in der Neuzeit Herder und Gehlen. Vgl. hierzu Egert Pöhlmann, Der Mensch – das Mängelwesen? Zum Nachwirken antiker Anthropologie bei Arnold Gehlen, in: Archiv für Kulturgeschichte, Band 52, 1970, S. 297–312 (insbesondere S. 311). 305  Gehlen versteht den Menschen als ein Mängelwesen, bei dem das Fehlen von biologischer, leiblicher Spezialisierung mit der Aufgabe einhergeht, durch eine Bezugnahme auf das eigene Leben die eigene Lebensweise selbst zu bestimmen. Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch, Frankfurt a. M. 1962, S. 16 f. und S. 33. 306  Pico della Mirandola, a. a. O., S. 9. 307  Diese These stimmt mit der neueren Forschung zu Pico überein: »Pico presents what could be styled a moral ontology, since he asserts that the human acquisition of a nature will follow from the actions a human being performs.« Dougherty, a. a. O., S. 136. 308  Pico besaß eine umfangreiche Bibliothek, die Schriften aus allen obigen Bereichen beinhaltete. Vgl. August Buck, Giovanni Pico della Mirandola und seine Rede über die Würde des Menschen, als Einleitung in: Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990, S. X u. XIV. Vgl. auch Chaim Wirszubski, Pico della Mirandola’s encounter with Jewish mysticism, Cambridge 1989. Am Judaistikinstut der Freien Universität Berlin werden Bücher aus dieser Bibliothek von Giulio Busi in der Reihe »The Kabbalistic Library of Giovanni Pico della Mirandola« herausgegeben. 309  Vgl. Henning Reventlow, Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung, Göttingen 1980, S. 31. 310  Pico della Mirandola, a. a. O., S. 9. 311  Ebd., S. 13 und 15. 312  Vgl. Kapitel 2.3 und hierbei insbesondere S. 128 ff. weiter oben. 313  Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 132 (Hervorh. im Original). 314  Buck, a. a. O., S. XIX f. 315  Pico della Mirandola, a. a. O., S. 5 und 9 ff. 316  Gerhardt, Selbstbestimmung, a. a. O., S. 133 f. 317  Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, in: ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Band 14, Hamburg 2002, S. 1 – 220. 318  Vgl. Horst Günther, Renaissance, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Histori324  |  Anmerkungen 

sches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Basel 1971 – 2007, S. 783 – 790 (insbesondere S. 788 ff.). 319  Cassirer, a. a. O., S. 97. Vgl. hierzu auch ebd., S. 99 f. 320  Ebd., S. 133. 321  Ebd., S. 98. 322  Ebd., S. 98. 323 Cassirers sehr pauschale Thesen müssen ein wenig eingeschränkt werden, da Picos Verhältnis zur Astrologie komplexer war, als Cassirer sie darstellt. Picos Argumente gegen die Astrologie speisen sich aus unterschied­ lichen Motiven. Vgl. hierzu Sheila J. Rabin, Pico on Magic and Astrology, in: M. V. Dougherty (Hg.), Pico della Mirandola. New Essays, Cambridge 2008, S. 152 – 178 (insbesondere S. 173). Aber auch Rabin kommt zu einer Einschätzung, mit der sie recht nah bei den Aussagen Cassirers liegt: »Pico […] believed that astrology blocked the road to the divine through its fatalism, its interference with the human exercise of free will, for it was only through human will that one could achieve true nearness to deity.” Ebd., S. 172. 324  Cassirer, a. a. O., S. 137. 325  Ebd., S. 137 (Hervorh. im Original). 326  Vgl. oben, S. 94 f. 327  Vgl. insbesondere die ersten beiden Kapitel von Cassirer, a. a. O. 328 Zur Aktualität der Cusanusinterpretation von Cassirer vgl. Martin Thur­ner, »tedesco di nazione ma non di costumi?« ›Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien‹ im Spiegel der Forschung, in: ders. (Hg.), Nico­laus Cusanus zwischen Deutschland und Italien, Berlin 2002, S. 18 f. 329  Hierzu gehören Marcilio Ficino, Pico della Mirandola, Giordano Bruno und Leonardo da Vinci. Der direkte Einfluss von Cusanus auf diese Denker wurde in der Renaissanceforschung lange Zeit bestritten. Vgl. hierzu William G. Craven, Giovanni Pico della Mirandola. Symbol of his Age. Modern Interpretations of a Renaissance Philosopher, Genf 1981, Kapitel «Pico and his modern interpreters«, S. 1 – 20 sowie Michael Seidlmayer, Wege und Wandlungen des Humanismus. Studien zu seinen politischen, ethischen, religiösen Pro­ blemen, Göttingen 1965, S. 75 – 106. Neuere Forschungen zeigen jedoch, dass Cassirers Interpretation in Teilen durchaus zutrifft. Zum aktuellen Stand der Debatte vgl. Kurt Flasch, Nicolaus Cusanus, München 2001, S. 149–152. 330  Nikolaus von Kues, Vom Sehen Gottes. Ein Buch mystischer Betrachtung, Zürich 1987, S. 35. 331  Vgl. Cassirer, a. a. O., S. 76. 332  Vgl. ebd., S. 150 f. 333  Vgl. ebd., S. 146 f. Zur aristotelischen Vorstellung des Nous vgl. in meinem Buch S. 63 ff. weiter oben. 334  Cassirer, a. a. O., S. 35. 335  Ebd., S. 32 f. (Hervorh. im Original). 336  Ebd., S. 11. Anmerkungen  |  325

337 

Ebd., S. 15. Ebd., S. 62 (Hervorh. im Original). 339  Ebd., S. 81 (Hervorh. im Original). 340  Ebd., S. 31. 341  Ebd., S. 32 f. (Hervorh. im Original). 342  Ebd., S. 74. 343  Ebd., S. 77 f. 344  Ebd., S. 68. 345  Ebd., S. 78 f. 346  Ebd., S. 70 ff. (Hervorh. im Original). 347  Vgl. oben, Kapitel 2.2. 348  Pico della Mirandola, a. a. O., S. 15. 349  William G. Craven betont zu Recht die Traditionsverhaftetheit von Pico. Er mag zu Recht bemängeln, dass diese Tatsache bei Denkern wie Cassirer in den Hintergrund rückt, jedoch geht er zu weit, wenn er Picos Denken als »thoroughly traditional« bezeichnet. Vgl. hierzu Craven, a. a. O., S. 18 (Rele­ vant ist das ganze 1. Kapitel »Pico and his modern interpreters«). 350  Vgl. oben, Kapitel 2.3.1. 351  Vgl. oben, S. 157 f. sowie S. 161 f. 352  Vgl. oben, S. 128 ff. 353  Pico della Mirandola, a. a. O., S. 21. 354  Vgl. oben, S. 161 f. 355  Zum Begriff der Ontologie vgl. Anm. 13 weiter oben. 356  Die der Wissenschaft sehr nahestehende analytische Philosophie versucht, geistige Phänomene mit ausgefeilten Theorien und Begriffen wie »Semantischer Physikalismus«, »Identität«, »Funktionalismus«, »Supervenienz«, »Emergenz«, »Repräsentation« usw. auf körperliche Vorgänge zurückzuführen. Vgl. hierzu Ansgar Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin u. a. 2001. 357  Vgl. oben, Kapitel 2.1 und 2.2. 358 Vgl. hierzu Holm Tetens, Wissenschaftstheorie. Eine Einführung, München 2013, S. 28 ff. in Verbindung mit 17 ff. Zu einer Pro­blematisierung des Wahrheitsbegriffs im Zusammenhang des Experiments vgl. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, a. a. O., S. 15 – 22 sowie in meinem Buch S. 68 ff. weiter oben. 359  Francis Bacon, Neues Organon, Band 1, Hamburg [1620] 1990, S. 47 u. 49. 360  Vgl. Tetens, Wissenschaftstheorie, a. a. O., S. 68 ff. 361  Vgl. James Ladyman, Understanding Philosophy of Science, London 2002, Part II, S. 129 – 262. 362  Vgl. oben, S. 57 f. 363  Vgl. oben, Anm. 3. 364  Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesamtausgabe, Band 17, Tübingen 1992. 338 

326  |  Anmerkungen 

365 

Ebd., S. 104. Ebd., S. 105 (Hervorh. im Original). 367  Ebd., S. 99. 368  Vgl. ebd., S. 104 f. 369  Ebd., S. 94. 370  Vgl. oben, S. 123 ff. 371  Auf die Rolle der Wahl wird die Untersuchung in einem eigenen Kapitel zurückkommen. Vgl. Kapitel 3.4.4 weiter unten. 372  Steven Weinberg, The First Three Minutes. A modern view of the origin of the universe, London [1977] 1993, S. 148 f. 373  Vgl. hierzu William K. Purves u. a., Life. The Science of Biology. Seventh Edition, Sunderland 2004, Kapitel 23 «The Mechanisms of Evolution«, S. 460 – 480 sowie Bernhard Rensch, Evolutionstheorie, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel 1971 – 2007, S. 836 – 838. 374  Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1994, S. 183. Vgl. den Abschnitt »Soziobiologie, Sollen und Sein«, S. 183 – 191. 375  Vgl. Peter Singer, Ethics and Sociobiology, in: Philosophy and Public Affairs, Band 11, Heft 1, 1982, S. 40 – 64. 376  Ein prominentes Beispiel für eine radikale Ablehnung der christlichen Religiosität aus der Sicht des wissenschaftlichen Denkens stammt von Richard Dawkins. Vgl. Richard Dawkins, The God Delusion, London u. a. 2006. 377  Kanitscheider, a. a. O., S. 210. 378  Ebd., S. 142. 379  Vgl. oben, Kapitel 2.3. 380  Vgl. Kanitscheider, a. a. O., S. 87. 381  Ebd., S. 87. 382  Ebd., S. 118. 383  Ebd., S. 72. 384  Nietzsche, Werke V, 2, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 125, S. 158 ff. (Hervorh. im Original). 385  Vgl. unten, Kapitel 3.4.7. 386  Vgl. Nietzsche, Werke VIII, 2, 11[99], S. 288 – 290. Die folgenden Zitate entstammen alle aus diesem zweiseitigen Fragment (Hervorh. im Original). 387  Nietzsche, Werke VIII, 2, 11[99], S. 290 (Hervorh. im Original). 388  Vgl. hierzu das vorangegangene Kapitel 3.2. 389  Nietzsche, Werke V, 2, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 357, S. 282 (Hervorh. im Original). 390  Vgl. hierzu insbesondere die Kapitel 2.1, 2.3.1 sowie 2.3.2.2 weiter oben. 391  Vgl. oben, S. 83 ff. 392  Nietzsche, Werke V, 2, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 344, S. 258 (Hervorh. im Original). 366 

Anmerkungen  |  327

393  Nietzsche,

Werke V, 2, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 344, S. 259 (Hervorh. im Original). 394  Vgl. Jaspers, a. a. O., S. 55 – 66. 395  Diese These entwickelt Jaspers in Abgrenzung zum antiken Griechenland, wo das menschliche Interesse insbesondere auf das Geordnete, Vollkommene und Schöne gerichtet war. Vgl. ebd., S. 59. 396  Ebd., S. 60. 397  Ebd., S. 61 f. (Hervorh. im Original). 398  Vgl. Wolfgang Büchel, Gesellschaftliche Bedingungen der Naturwissenschaft, München 1975, S. 51 – 62. 399  Jaspers, a. a. O., S. 56 (Hervorh. im Original). 400  Vgl. Büchel, a. a. O., S. 172. 401  Vgl. oben, Kapitel 3.1.1. 402  Ein gutes Beispiel hierfür ist Leonardo da Vinci. Vgl. Cassirer, a. a. O., S.183 sowie Leonardo da Vinci, Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. Hrsg., kommentiert und eingeleitet von André Chastel, München 1990, S. 146 und 161. Ähnliches gilt auch noch für Kopernikus, Galilei und Newton. Vgl. Büchel, a. a. O., S. 73. 403  Vgl. Nietzsche, Werke VI, 2, Zur Genealogie der Moral, Aphorismen 7 – 17. 404  Nietzsche hat dabei offensichtlich Stellen wie 1. Kor. 1, 27 – 29 vor Augen. 405  Vgl. Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, 10 Bände, Reinbek bei Hamburg 1986 – 2013. Die Empörung über die erwähnte Diskrepanz ist sehr eindringlich formuliert in Karlheinz Deschner, Opus Diaboli. Fünfzehn unversöhnliche Essays über die Arbeit im Weinberg des Herrn, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 118. 406  Ein Beispiel hierfür wären derartige Positio­nen: »Wie einträglich diese Fabel von Christus für uns gewesen, ist weltbekannt.«, zugeschrieben Papst Leo X.: Deschner, Kriminalgeschichte des Christentum, a. a. O., Band 8, S. 356. 407  Man denke etwa an Luthers Haltung zu den Bauernaufständen: »Drum soll hier erschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, daß nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch; (es ist mit ihm) so wie man einen tollen Hund totschlagen muß: schlägst du (ihn) nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir.« Martin Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, in: Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 7, Stuttgart 1967, S. 192. 408  Nietzsche, Werke VI, 3, Der Antichrist, Aph. 39, S. 210. (Hervorh. im Original). 409  Mt. 23, Verse 2 – 3, 24 – 26 und 28. 410  Vgl. hierzu den Beitrag o.V., »Truth«, in: Cecil Roth (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Band 15, Jerusalem 1971, S. 1414. 328  |  Anmerkungen 

411 

Mt. 6,22 f. entsprechende zentrale Aussage im Johannesevangelium ist sehr bekannt: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.«, Joh. 14,6. 413  Hans Küng, Wahrhaftigkeit. Zur Zukunft der Kirche, Freiburg 1968, S. 45 f. 414  Ebd., S. 30 f. (Hervorh. im Original). 415  In beiden Fällen bezieht sich Wahrhaftigkeit nicht nur auf einzelne Aussagen, Überzeugungen oder Motive des Menschen, sondern als eine existenzielle Haltung auf die menschliche Persönlichkeit als Ganzes. Vgl. hierzu Otto Friedrich Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, Frankfurt a. M. 1958, S. 139. 416  Vgl. hierzu Nietzsche, Werke V, 1, Morgenröthe, Aph. 73, S. 68. 417  Nietzsche, Werke VI, 2, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 5, S. 13. 418  Nietzsche, Werke VI, 3, Ecce Homo, Aph. 3, S. 365. 419  Nietzsche, Werke V, 2, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 335, S. 244 (Hervorh. im Original). 420  Vgl. oben, S. 190 f. 421  Vgl. oben, S. 171 ff. 422  Vgl. oben, S. 154 ff. 423  Nietzsche, Werke VIII, 2, 9[60], S. 30 (Hervorh. im Original). 424  Nietzsche, Werke VIII, 2, 10[192], S. 237 (Hervorh. im Original). 425  Vgl. oben, S. 75 ff. 426  Nietzsche, Werke VIII, 1, 8[2], S. 337 (Hervorh. im Original). 427  Nietzsche, Werke VIII, 1, 2[127], S. 124. 428  Nietzsche, Werke VIII, 2, 9[60], S. 28 (Hervorh. im Original). 429  Nietzsche, Werke V, 2, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 46, S. 85 (Hervorh. im Original). 430  Nietzsche, Werke V, 2, 11[72], S. 367 (Hervorh. im Original). 431  Vgl. Jaspers, a. a. O., S. 172. 432 Vgl. Nietzsche, Werke IV, 2, Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 244, S. 208. 433  Vgl. Nietzsche, Werke VI, 1, Also sprach Zarathustra, Vorrede, 3, S. 9. 434  Vgl. oben, S. 179 f. 435  Nietzsche, Werke V, 2, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 7, S. 53 f. (Hervorh. im Original). 436  Vgl. Gray, a. a. O., S. 82 f. 437  Vgl. unten, Kapitel 3.4.4. 438  Nietzsche, Werke IV, 2, Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 23, S. 40. 439  Vgl. Nietzsche, Werke VII, 1, 6[1], S. 238. 440  Nietzsche, Werke VII, 1, 7[239], S. 323 f. (Hervorh. im Original). 441  Vgl. oben, S. 210 f. 412  Die

Anmerkungen  |  329

442  Nietzsche,

Werke IV, 2, Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 23,

S. 40 f. 443  Vgl. Nietzsche, Werke VI, 1, Also sprach Zarathustra I, Vorrede, 4, S. 10. 444  Vgl. oben, S. 121 f. 445  Nietzsche, Werke VI, 1, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Räthsel, 1, S. 195. 446  Vgl. oben, Kapitel 2.3. 447  Nietzsche, Werke VI, 1, Also sprach Zarathustra I, Von der schenkenden Tugend, 3, S. 98. 448  Vgl. oben, S. 189 f. 449  Nietzsches Idee der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« ist in diesem Sinne als eine formale Bestimmung des Höheren, nicht als eine inhaltliche zu verstehen. 450  Vgl. oben, S. 171 ff. sowie S. 203 ff. 451  Vgl. oben, S. 181 ff. 452  Nietzsche, Werke VIII, 2, 9[107], S. 61 f. (Hervorh. im Original). 453  Nietzsche, Werke VIII, 2, 11[61], S. 272. 454  Nietzsche, Werke VIII, 2, 9[107], S. 62 (Hervorh. im Original). 455  Vgl. Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2006, S. 354. Vgl. auch Kapitel 2.3.2.3 weiter oben. 456  Relevant ist insbesondere das 1952 fertiggestellte Werk »Die amerikanische Apokalypse«. Vgl. Gotthard Günther, Die amerikanische Apokalypse. Aus dem Nachlass hrsg. und eingel. von Kurt Klagenfurt, München 2000. 457  Ebd., S. 173. 458  Ebd., S. 201. 459  Ebd., S. 213. 460  Ebd., S. 165 f. (Hervorh. im Original). 461  Ebd., S. 170. Vgl. hierzu auch ebd., S. 166 ff. 462  Vgl. ebd., S. 15 ff. sowie S. 176 f. 463  Vgl. ebd., S. 177 ff. Günther bezieht sich auf die Thesen Oswald Spenglers über die Suche des abendländischen Menschen nach dem unendlichen Raum. Vgl. dazu Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München [1922] 1997, Abschnitt »Die Symbolik des Weltbildes und das Raumpro­blem«, S. 210 – 234. Relevant sind insbesondere S. 227 ff. 464  Soziale Hierarchien sind in der Moderne eher als horizontale Abgrenzungen zu verstehen, die sich aber durchaus auch auf der Grundlage von übenden Lebensweisen herausbilden können. Vgl. hierzu S. 132 ff. weiter oben. 465  Gotthard Günther, a. a. O., S. 174. 466  Ebd., S. 217. 467  Ebd., S. 278 f. 468  Vgl. ebd., S. 186 ff. 330  |  Anmerkungen 

469 

Eine ausführliche Analyse findet sich in: Holm Tetens, Kants »Kritik der reinen Vernunft«, Stuttgart 2006 (insbesondere in den Kapiteln 4, 8 und 9). 470  Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 75 f. 471  Vgl. Tetens, Kants »Kritik der reinen Vernunft«, a. a. O., S. 18 – 2 2. 472  Vgl. oben, Kapitel 3.1.2. 473  Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 345. 474  Ebd., B 594. 475  Ebd., B 597 (Hervorh. im Original). 476  Ebd., B 839. 477  Zu der Vorstellung einer transzendenten Gegenwirklichkeit vgl. Kapitel 2.2 weiter oben. 478  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 838 ff. 479  Ebd., B XXX. 480  Vgl. oben, Kapitel 3.4.1. 481 Vgl. hierzu auch Abel, a. a. O., S. 334 ff. Abel spricht hier von einer »Selbstdestruktion der ›wahren Welt‹« aufgrund einer zu hoch gesteckten Auffassung von Wahrheit. In Abels Interpretation löst eine im Diesseitigen aufgehende Wahrheitsauffassung die Vorstellung einer jenseitsorientierten Wahrheit auf. Die Thesen meines Buches stehen nicht im Widerspruch zu den Aussagen Abels, sondern können als deren Ausweitung verstanden werden. Die Reichweite der Selbstdestruktion geht in meinen Augen viel weiter und erstreckt sich insbesondere auch auf eine Vorstellung, an der Nietzsche, so wie auch viele andere Denker der Moderne, festhalten wollen: die Vorstellung eines ins Diesseitige gewendeten Höheren. Auch von Heidegger existiert eine bekannte Interpretation der obigen Stelle Nietzsches, in der Heidegger Nietzsches Thesen als eine Umkehrung des Platonismus interpretiert und der wichtigen Frage nachgeht, inwiefern eine Abschaffung der jenseitigen Wirklichkeit den Scheincharakter der diesseitigen beseitigt. Heidegger kritisiert Nietzsche zwar darin, die Meta­phy­sik und damit den Nihilismus im Kern nicht überwunden zu haben, er stimmt jedoch darin überein, dass Nietzsches Denken tatsächlich einen Wendepunkt in der beschriebenen Geistesentwicklung markiert. Die Rolle der Vertikalität wird im Denken Heideggers jedoch nicht angemessen reflektiert, weswegen meine eigene Interpretation in eine andere Richtung weist. Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche. Erster Band, in: ders., Gesamtausgabe, Band 6.1, Frankfurt a. M. 1996, S. 202 ff. 482  Nietzsche, Werke VI, 3, Götzen-Dämmerung, S. 74 f. 483  Vgl. oben, Kapitel 3.4.1. 484  MacIntyre, a. a. O., S. 38. 485  In der Aussage »Wir sind geboren worden unter der Bedingung, daß wir das sein sollen, was wir sein wollen« von Pico della Mirandola ist von dem Gedanken einer existentiellen Wahl bereits einiges vorweggenommen. Vgl. oben, S. 153 f. und hierbei insbesondere die Anm. 306. 486  MacIntyre, a. a. O., S. 41. Anmerkungen  |  331

487 

Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder-Oder, München [1843] 2000. Ebd., S. 709. 489  Ebd., S. 709. 490  Vgl. ebd., S. 715. 491  Vgl. oben, S. 23 ff. 492  Kierkegaard, Entweder-Oder, a. a. O., S. 718. 493  Vgl. ebd., S. 723. 494  Vgl. oben, S. 225 ff. 495  Kierkegaard, Entweder-Oder, a. a. O., S. 724 f. 496  Vgl. hierzu z. B. Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Hamburg [1849] 2002, S. 9. 497  Vgl. Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, Hamburg [1843] 1998. 498  Vgl. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode., a. a. O. 499  Vgl. Kierkegaard, Entweder-Oder, a. a. O., S. 933. 500  Vgl. Kierkegaard, Furcht und Zittern, a. a. O., S. 49. 501  Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, a. a. O., S. 13. 502 Ebd. 503  Ebd., S. 14. 504  Ebd., S. 13 f. 505  Ebd., S. 14. Diese Definition wird auf ebd., S. 125 wieder aufgegriffen und explizit auf das Glauben und damit auf das Göttliche bezogen. 506  Vgl. oben, Anm. 504. 507  Der Unterschied wird deutlich, wenn man die Positio­nen Kierkegaards und Pico della Mirandolas miteinander vergleicht: Bei beiden Denkern verbinden sich Positio­nen, die im Denken der tradierten meta­phy­sischen Sinnentwürfe verwurzelt sind, mit Positio­nen, die darüber hinausgehen – das Fundament existentieller Sinnhaftigkeit ist jedoch bei Pico der Mensch selbst, bei Kierkegaard hingegen das göttliche Gegenüber des Menschen. Vgl. hierzu Kapitel 3.1.1 weiter oben. 508  Vgl. oben, Kapitel 3.2. 509  Vgl. oben, S. 242 ff. 510  Vgl. René Descartes, Meditatio­nen über die Erste Philosophie, Stuttgart [1641] 1996. Relevant ist insbesondere die zweite Meditation. 511  Vgl. in diesem Zusammenhang Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: ders., Gesammelte Werke, Band 6, Haag 1976. Relevant ist insbesondere S. 30 f. 512  Kanitscheider, a. a. O., S. 210. Vgl. hierzu in meinem Buch S. 183 f. weiter oben. 513  Dieser Gedanke ist in »Sein und Zeit« stets präsent. In § 43 erörtert Heidegger die Pro­blematik explizit, indem er sich von Positio­nen abgrenzt, die auf dem Cartesianischen Dualismus beruhen. Vgl. hierzu Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 209 u. 211. 488 

332  |  Anmerkungen 

514 

Ebd., S. 12. Auch wenn er dem nicht vollkommen entgehen kann. Vgl. S. 106 f. weiter oben. 516  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 56 und 189. 517  Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von einer Verfallenheit an das »Man«. Vgl. hierzu ebd., § 27, S. 126 ff. sowie in meinem Buch S. 104 weiter oben. 518  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 129 und 192 f. sowie in meinem Buch S. 109 ff. weiter oben. 519  Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 192 (Hervorh. im Original). Vgl. hierzu den ganzen § 41, S. 191 ff. 520  Ebd., S. 68 (Hervorh. im Original). 521  Ebd. (Hervorh. im Original). 522  Vgl. oben, Kapitel 2.1. 523  Vgl. oben, S. 23 ff. sowie auch S. 290 f. weiter unten. 524  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 361 und 363 f. 525  Vgl. ebd., S. 361. 526  Ebd., S. 61 (Hervorh. im Original). 527  Ebd., S. 61 f. (Hervorh. im Original). 528  Ebd., S. 62 (Hervorh. im Original). 529  Ebd., S. 363 (Hervorh. im Original). 530  Ebd., S. 62. 531  Tetens, Kants »Kritik der reinen Vernunft«, a. a. O., S. 20 f. 532  Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt a. M. [1953] 1977, S. 4. 533  Vgl. ebd., S. 6 ff. 534  Vgl. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, a. a. O.. Mit derartigen Positio­nen hat in der neueren Zeit Steven Pinker heftige Debatten ausgelöst. Vgl. hierzu Steven Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M. 2011. 535  Vgl. hierzu auch Kanitscheider, a. a. O., S. 70 f. 536  Vgl. hierzu Holm Tetens, Der Glaube an die Wissenschaften und der methodische Atheismus – Zur religiösen Dialektik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, Band 55, Heft 3, 2013, S. 273. Dieser Gedanke findet sich auch bei Maximilian Forschner. Vgl. hierzu in meinem Buch Anm. 119 weiter oben. 537  Vgl. hierzu die Erörterung der Zeitdiagnose von Georg Picht auf S. 68 ff. weiter oben. 538  Vgl. hierzu die Kritik von Kierkegaard auf S. 235 f. weiter oben. 539  Hermann Lübbe, Die Zivilisationsökumene. Globalisierung kulturell, technisch und politisch, München 2005, S. 71. 540  Ebd., S. 72. 515 

Anmerkungen  |  333

541 

Vgl. oben, Anm. 11. Lübbe, a. a. O., S. 74 f. 543  Vgl. Max Bense, Technische Existenz, in: ders., Technische Existenz. Essays von Max Bense, Stuttgart 1949, S. 200 f. Die Bestimmung der tradi­t io­ nellen Existenzweisen als ästhetisches, ethisches und religiöses Existieren geht zurück auf Kierkegaard. Vgl. hierzu in meinem Buch S. 235 weiter oben. 544  Bense, a. a. O., S. 202. 545  Vgl. Tetens, Der Glaube an die Wissenschaften, a. a. O. 546  Vgl. ebd., S. 272. 547  Ebd., S. 273 (Hervorh. im Original). 548  Ebd., S. 279. 549  Vgl. ebd., S. 279 f. 550  Vgl. ebd., S. 279 ff. 551  Vgl. oben, Kapitel 3.4.5. 552  Vgl. oben, Kapitel 3.4.5. 553  Vgl. hierzu Kapitel 2.1.2 weiter oben sowie auch Tetens, Der Glaube an die Wissenschaften, a. a. O., S. 274 f. 554  Vgl. oben, S. 179 ff. sowie 209 f. 555  Vgl. oben, Kapitel 3.4.1 und 3.4.3. 556  Vgl. Kurt Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg u. a. 1979; Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O.; Hübner, Glaube und Denken, a. a. O.; Kurt Hübner, Das Christentum im Wettstreit der Weltreligionen. Zur Frage der Toleranz, Tübingen 2003; Kurt Hübner, Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne. Ein kritischer Leitfaden zu einer Pro­blemgeschichte, Augsburg 2006. 557  Vgl. oben, Kapitel 3.2. 558  Ähnliche Thesen hat auch Paul Feyerabend vertreten. Vgl. Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1977. Bei Hübner ist die perspektivistische Reflexion auf die apriorischen Fundamente der wissenschaftlichen Weltsicht jedoch systematischer und mit einer größeren Ernsthaftigkeit herausgearbeitet: Das Denken des gläubigen Protestanten Hübner ist mehr als eine wissenschaftstheoretische Reflexion – es ist ein Versuch, die Rationalität des christlichen Glaubens in der heutigen Zeit zu verteidigen und zu rechtfertigen. 559  Vgl. Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, a. a. O., S. 207 ff., 423 ff. 560  Hübner verwendet den Begriff »Ontologie« im Verlauf seines Werkes unterschiedlich. Während er in »Die Wahrheit des Mythos« von der wissenschaftlichen und von der mythischen Ontologie spricht und einen »Vergleich zwischen der mythischen und wissenschaftlichen Ontologie« (S. 66) anstrebt, betont er in »Glaube und Denken«, dass streng genommen nur das wissenschaftliche Denken eine Ontologie bildet, weil es mit Begriffen operiert, und Begriffe basieren auf der Unterscheidung des Allgemeinen vom Besonderen 542 

334  |  Anmerkungen 

(Vgl. S. 2 f.). Deswegen ist nach Hübner das mythische Denken nichtonto­ logisch, weil es diese Unterscheidung nicht trifft und daher die eigene »onto­ logische Verfassung gar nicht formulieren kann oder sich ihrer zumindest nicht bewußt sein mag.« (S. 3). Meine eigene Verwendung von »Ontologie« orientiert sich an Hübners früheren Verwendung des Wortes: Ontologie ist ein bestimmter »Entwurf darüber, was als Wirklichkeit erscheinen und als Wahrheit betrachtet werden kann«. Vgl. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 66. 561  Vgl. ebd., S. 28 und 184 f. 562  Hübner, Glaube und Denken, a. a. O., S. 8 (Hervorh. im Original). 563  Vgl. ebd., S. 6. 564  Ebd., S. 5. 565  Vgl. das zweite Toleranzprinzip Hübners ebd., S. 7. 566  Ebd., S. 2. 567  Vgl. hierzu Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 106 ff. sowie Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, a. a. O., S. 22 ff. und Hübner, Glaube und Denken, a. a. O., S. 1 ff. 568  Vgl. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., Kapitel V, S. 109 – 134. 569  Ebd., S. 111 (Hervorh. im Original). 570  Vgl. ebd., Kapitel VII und VIII, S. 142 – 173. Hübners Überlegungen stehen in einem engen Zusammenhang zu zentralen Thesen von Mircea Eliade. Vgl. hierzu beispielsweise ebd., S. 156 sowie Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. [1957] 1990, Kapitel 1 und 2, S. 23 – 104. 571  Vgl. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 76 ff. Hübner stellt seine Thesen in die Reihe von Denkern wie Károly Kerényi, Jean-Pierre Vernant, Mircea Eliade, Rudolf Otto u. a. Das Besondere an Hübners Ansatz ist die Fokussierung auf die Frage nach der Wahrheit und der Rationalität der mythischen Weltsicht. 572  Vgl. ebd., Kapitel VI, S. 135 ff. 573  Vgl. ebd., S. 138. 574  Vgl. Hübner, Glaube und Denken, a. a. O., S. 26. 575  Vgl. oben, S. 40 f. 576  Vgl. oben, S. 63 ff. 577  Vgl. oben, Kapitel 2.2. 578  Vgl. oben, Kapitel 2.3.1. 579  Vgl. oben, S. 67 f. 580  Die beharrliche Unaufgelöstheit des Leib-Seele-Pro­blems in der Philosophie entspringt aus der apriorischen Trennung des Ideellen vom Materiellen in der wissenschaftlichen Weltsicht. Dem wissenschaftlichen Denken fällt es schwer, deren Verbundenheit in einem Seienden klar zu artikulieren. Vgl. Anm. 356 weiter oben. 581  Tetens, Wissenschaftstheorie, a. a. O., S. 89. Anmerkungen  |  335

582  Auch

Tetens verweist auf die Ungelöstheit des philosophischen LeibSeele-Pro­blems. Vgl. ebd., S. 92 f. Vgl. zudem in meinem Buch Anm. 580. 583  Die direkte Sinnrelevanz der mythischen Weltsicht betont auch Paul Feyerabend. Vgl. Feyerabend, a. a. O., S. 23 und 405 ff. 584 Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a.  a. O., S. 412 f. (Hervorh. im Original). Hübners Thesen stehen hier in einem engen Zusammenhang zu den Thesen Kolakowskis über den Kampf des Menschen gegen die Gleichgültigkeit der Welt. Vgl. Leszek Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973, S. 98. 585  Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 413 (Hervorh. im Original). 586  Ebd., S. 331 (Hervorh. im Original). Vgl. dazu auch S. 343 f. 587  Hübner bezieht sich hierbei auf verschiedene Phänomene aus Kunst, Politik und Sport. Vgl. den vierten Teil von ebd., S. 293 – 414. 588  Hübner, Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne, a. a. O., S. 117 f. Der letzte Satz ist für Hübner sehr zentral, er wiederholt ihn an mehreren Stellen in unterschiedlichen Werken. Vgl. z. B. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 338. 589  Tetens, Wissenschaftstheorie, a. a. O., S. 87. 590  Vgl. hierzu auch ebd., S. 88 f. 591  Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Pro­blem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, München [1941] 1985, S. 16. 592  Vgl. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 330 f. und 335 ff. sowie Hübner, Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne, a. a. O., S. 106 ff. Aber auch für Hübner besitzt die Existenzphilosophie, und hierbei insbesondere die existentiale Phänomenologie Heideggers, eine zentrale Bedeutung, weil durch sie die mit einer Weltsicht einhergehende existentielle Situation des Menschen artikuliert werden kann. Vgl. hierzu Hübner, Glaube und Denken, a. a. O., S. 120 ff. 593  Hübner ist bestrebt, sich von dem Eindruck abzugrenzen, er würde für eine Abschaffung der Wissenschaft plädieren. Ausgangspunkt von allem ist für ihn die heutige Lebenswirklichkeit. Die Leistungen der Wissenschaft sind zu würdigen, und die Einheit des mythischen und wissenschaftlichen Denkens kann weder erzwungen, noch vorhergesagt oder herbeigeträumt werden. Vgl. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 409 f. 594  Vgl. hierzu Tetens, Wissenschaftstheorie, a. a. O., S. 90 f. 595  Hübner, Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne, a. a. O., S. 284. 596  Tetens, Wissenschaftstheorie, a. a. O., S. 90. 597  Ebd., S. 91. 598  Hübner, Die Wahrheit des Mythos, a. a. O., S. 413. 599  Vgl. oben, Anm. 11.