Zur Genese des Selbstbewußtseins: Eine Studie über den Beitrag des phänomenologischen Denkens zur Frage der Entwicklung des Selbstbewußtseins 9783110832730, 9783110040487


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German Pages 208 [212] Year 1974

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
I. Teil: STRUKTUREN UND GENESE DER SELBSTGEGENWART
A. PROBLEMSTELLUNG
B. EGOLOGISCHE STRUKTUREN
C. ICH UND ZEIT
D. DAS RÄTSEL DER LEBENDIGEN GEGENWART
E. MÖGLICHKEITEN EINES RÜCKGANGS AUF DIE UNGEGENSTÄNDLICHE SELBSTGEGENWART
F. GESETZE DER GENESIS
G. ENTWURF EINER GENESE DES ICH UND DES SELBSTBEWUSSTSEINS
II. TEIL: DIE BEDEUTUNG DER FREMDEXISTENZ FÜR DIE ENTWICKLUNG DES SELBSTBEWUSSTSEINS
EINLEITUNG
A. DIE BESCHRÄNKUNG VON HUSSERLS INTERSUBJEKTIVITÄTSTHEORIE AUF DIE TRANSZENDENTALE FRAGESTELLUNG
B. DIE UNMITTELBARKEIT DER BEGEGNUNG MIT DEM ANDEREN UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DAS ERFAHREN DER SELBSTHEIT BEI J. P. SARTRE
C. ENTWURF EINER GENESE DES FREMDBEWUSSTSEINS IN SEINER BEDEUTUNG FÜR DIE ENTWICKLUNG DES SELBSTBEWUSSTSEINS
Vergleich der phaenomenologisdi erarbeiteten Grundbegriffe mit psychoanalytischen Konzepten und empirischen Ergebnissen zur Genese des Ich und des Selbstbewußtseins
LITERATURVERZEICHNIS
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Zur Genese des Selbstbewußtseins: Eine Studie über den Beitrag des phänomenologischen Denkens zur Frage der Entwicklung des Selbstbewußtseins
 9783110832730, 9783110040487

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URSULA R O H R - D I E T S C H I ZUR GENESE DES SELBSTBEWUSSTSEINS

PHÄNOMENOLOGISCH-PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNGEN

Herausgegeben von

C. F. GRAUMANN und A. MÉTRAUX

Band 14

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G

1974

WALTER DE GRUYTER • BERLIN • NEW YORK

URSULA ROHR-DIETSCHI

ZUR GENESE DES SELBSTBEWUSSTSEINS Eine Studie über den Beitrag des phänomenologischen Denkens zur Frage der Entwicklung des Selbstbewußtseins

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G

1974

WALTER DE GRUYTER • BERLIN • NEW YORK

ISBN 3 11 004048 4 Library of Congress Catalog Card Number: 72—81567 © Copyright 1974 by Walter de Gruyter & Co, Berlin, vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp., 1 Berlin 30 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Saladruck, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany

VORWORT Die Fragestellung der vorliegenden Studie war ursprünglich nicht eine transzendental-philosophische; vielmehr hatte die Arbeit die entwicklungspsychologischen Aspekte des Selbstbewußtseins zum Thema, und zwar mit dem Ziel einer Beschreibung des „Selbstbewußtseins des Kindes auf den verschiedenen Altersstufen". Der Aufbau der Arbeit war in drei Teilen geplant, in deren erstem eine theoretisch-philosophische Grundlegung und Erarbeitung der prinzipiellen Möglichkeiten des Habens und Erfahrens von Selbstbewußtseins vorgesehen war; als Anhaltspunkt sollte das Werk von Edmund Husserl dienen. — Im zweiten Teil sollte, basierend auf der im ersten Teil gefaßten Konzeption, die bestehende psychologische Literatur zur Entwicklung des Ich- und des Selbstbewußtseins kritisch gesichtet werden; das Augenmerk war dabei auf die neuere psychoanalytische und empirische Literatur gerichtet (E. Erikson, R. A. Spitz, H. Hartmann, A. Freud, R. W. White, J. Piaget, etc.). — Als dritter Teil war eine Interpretation empirischer Verhaltensstudien zum Thema der Entwicklung des Selbstbewußtseins vorgesehen. Obschon zum zweiten und zum dritten Teil bereits Vorarbeit geleistet worden war, mußte auf deren Ausarbeitung verzichtet werden, da die Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen, u. a. mit dem Werk von Edmund Husserl, den beabsichtigten Rahmen weit sprengte; was m. a. W. als .theoretische Einleitung' gedacht war, ist aus Gründen der Komplexität des Sachverhalts zu einer eigenständigen Untersuchung angewachsen. — Diese Ausweitung hat sich dadurch ergeben, daß die erforderlichen Grundbegriffe — zumindest in der gesuchten genetischen Richtung — bei Husserl nicht schon bereit lagen, sondern erarbeitet werden mußten, andererseits aber doch soweit vorbereitet waren, daß sich eine Auseinandersetzung mit ihnen als fruchtbar erwies. Husserls zu Lebzeiten veröffentlichte Werke und seine in der Reihe „Husserliana" herausgegebenen Werke aus dem Nachlaß sagen viel Grundlegendes über das Problem des Selbstbewußtseins aus, deuten aber die hier speziell interessierende Frage nach der Genese des Selbstbewußtseins oft nur vielversprechend an. Mit der genetischen phänomenologischen Methode hat sich Husserl erst in seinem späteren, zum Teil noch unveröffentlichten Werk ausdrücklich beschäftigt. — Dieser Umstand ließ mich das Interesse in besonderem Maße auf die in der Spätzeit verfaßten Schriften lenken. Die

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Vorwort

Arbeiten von G. Brand, „Welt, Ich und Zeit" und von K . Held, „Lebendige Gegenwart", weckten weiterhin die Vermutung, daß einige der unveröffentlichten Nachlaßmanuskripte dazu beitragen könnten, das gestellte Problem zu lösen. Aus diesem Grund setzte ich mich mit Herrn D r . K . H e l d von der Universität Köln in Verbindung und reiste im Sommer 1967 nach Köln, um im dortigen Husserl-Archiv einige der Transkriptionen von Nachlaßmanuskripten — die Originale befinden sich im Husserl-Archiv von Löwen, Belgien — zu studieren. Dieses Unternehmen war vor allem deshalb erfolgreich, weil Dr. K . Held, der mit Husserls Genetischer Phänomenologie in besonderem Maße vertraut ist, mir detaillierte Hinweise geben konnte, welche Manuskripte aus dem (in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht überblickbaren) Nachlaß für meine Fragestellung aufschlußreich sein könnten. Ebenso konnten die sich ergebenden Probleme mit Herrn D r . K . H e l d ausführlich diskutiert werden. Die Lektüre der Nachlaßmanuskripte zeigte, daß sich Husserl wiederholt, wenn auch nicht systematisch, mit der Genese des Ich und des Selbstbewußtseins beim Kleinkind befaßt hat. Diese verstreuten Nachlaßstellen genügten aber nicht, um die in dieser Studie formulierte Problematik zu lösen. — Die vorliegende Arbeit wurde deshalb in der Weise aufgebaut, daß, ausgehend von den gesicherten Ergebnissen von Husserls Untersuchung zur Konstitution des Ich und des Selbstbewußtseins, ein Ubergang zur speziellen Frage nach der Entwicklung des Ich und des Selbstbewußtseins gesucht wurde. Zu Beginn (Kapitel A) wurde die methodische Frage geklärt, die sich stellt, wenn für empirisch-psychologische Probleme nach einer fundamentalen Begründung gesucht wird. In Kapitel B wird auf diejenigen Formen von Ich und Selbstbewußtsein eingegangen, die sich nach Husserl unterscheiden lassen, sofern das Ich auf sich selber reflektiert. Von dem der Reflexion zugänglichen, gegenständlichen Ich wird schrittweise (Kapitel C , D ) der Rückgang vollzogen auf das Ich, das die Reflexion vollzieht, auf das ungegenständliche Ich, das aller Reflexion vorausgeht und sich in unreflektierter Weise selbst gegenwärtig ist. Diese ungegenständliche Selbstgegenwart des Ich konnte im folgenden — über Husserls eigene Ausführungen hinaus — als die fundamentale Seinsweise des Menschen herausgestellt werden, wie sie von Wilhelm Keller in den Begriff des „Selbstseins" gefaßt wird (Kapitel E). — Nachdem der für ein unreflektiertes Ichleben in Frage kommende Begriff des Selbstbewußtseins geklärt war, galt es als zweiten Hauptaspekt, der in der Entwicklung des Selbstbewußtseins maßgeblich ist, die Frage nach der Genesis in die Untersuchung aufzunehmen. Husserls Lehre von der Genesis und die von ihm aufgestellten Gesetzmäßigkeiten des genetischen Werdens, die f ü r unseren Problembereich relevant sind, werden in Kapitel F dargestellt. I m folgenden Kapitel (G) erfolgt die Anwendung der genetischen Gesetze auf die Entwicklung des Ich und des

Vorwort

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Selbstbewußtseins beim Säugling, wobei im Auge zu behalten war, daß „genetisches Werden" bei Husserl im Allgemeinen nicht identisch ist mit einer entwicklungspsychologischen Auffassung. Husserls genetisches ,Modell' mußte im Hinblick auf die empirisch-psychologischen Phänomene des Säuglingslebens umstrukturiert werden, wobei die erwähnten Nachlaßmanuskripte, in denen sich Husserl mit entwicklungspsychologischen Fragen befaßte, beigezogen werden konnten. — Eine zentrale Frage, die bis zu dieser Stelle der Untersuchung ausgeklammert werden mußte, wurde in einem zweiten Teil gesondert abgehandelt: die Frage nach der Bedeutung der Fremdexistenz für die Entwicklung des Selbstbewußtseins. Dieses Problem konnte aufgrund Husserls transzendentaler Intersubjektivitätstheorie nicht gelöst werden, da Husserl der Rückgang auf die unmittelbaren, unreflektierten Formen des Bewußtseins der Fremdexistenz nidit in derselben Weise gelungen ist wie der Rückgang auf das Bewußtsein der eigenen Existenz. Die Gründe, die dazu nötigten, in dieser Problematik von Husserls Konzeption abzuweichen, werden in Kapitel A des zweiten Teils diskutiert. In welcher Richtung auch in dieser Frage eine Lösung gesudit werden kann, zeigen die folgenden Kapitel B und C, die sich auf J. P. Sartres Fremdexistenzlehre stützen. In einem Anhang wurde auf die psychoanalytischen und empirischen Ergebnisse hingewiesen, die mit den phänomenologisdi erarbeiteten Grundbegriffen in eine Beziehung gebracht werden und dazu dienen können, die entsprechenden Hypothesen zu verifizieren. Herrn Prof. Dr. W. Keller, der die vorliegende Dissertation betreute und förderte, möchte ich für seine Unterstützung und sein meinem Anliegen entgegengebrachtes Vertrauen meinen besonderen Dank aussprechen. Aus seinen Vorlesungen und Seminaren, die mich in die Gedanken der Phaenomenologie und Transzendental-Philosophie einführten, waren mir bei der Abfassung der Dissertation das Seminar „Zur phänomenologischen IchLehre (Husserl Ideen II)" und die Vorlesung „Das Problem des Seins" besonders wertvoll. Sein reges Interesse, seine Hinweise und die sorgfältige Durchsicht meiner Manuskripte unterstützten den Fortgang der Arbeit wesentlich. Für das Gelingen der Abhandlung war ferner meine Begegnung mit Herrn Dr. K. Held vom Philosophischen Seminar der Universität Köln von wichtiger Bedeutung. Ich möchte ihm hier für die vielen Stunden seiner Freizeit, die er mit mir in Diskussionen verbrachte, meinen Dank aussprechen. — Danken möchte ich audi Herrn Dr. U. Claesges vom Husserl-Archiv in Köln, der mich in den Aufbau des Archivs einführte und mir mit Ratschlägen stets zur Verfügung stand. — Die Lektüre unveröffentlichter Manuskripte Husserls war von großem Nutzen für die Abfassung der Arbeit und mein Dank gebührt deshalb dem Direktor des Husserl-Archivs in

vm

Vorwort

Löwen, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Pater H. L. Van Breda für die Ermöglichung, eine Reihe von unveröffentlichten Manuskripten zu studieren und aus ihnen zu zitieren.

INHALTSVERZEICHNIS I. Teil: STRUKTUREN U N D GENESE DER SELBSTGEGENWART A. Problemstellung 1. Der Problembereich 2. Die transzendentale Begründung der Psychologie

3 3 5

B. Egologische Strukturen 1. Ursprüngliches Idi und sein Gegenüber 2. Das reine Ich 3. Persönliches, habituelles Ich 4. Die Frage nach dem Anfang der Selbsterfahrung

12 12 14 18 21

C. Ich und Zeit

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1. 2. 3. 4. 5. 6.

Das Die Die Die Die Die

Problem eines Rückganges auf das Ich vor der Reflexion . . Zeitlichkeit als strömende Wahrnehmungsgegenwart Retention und der Vergangenheitshorizont Passivität des Strömens Protention lebendige Ichgegenwart, der Konnex des Ich mit sich selbst

D. Das Rätsel der lebendigen Gegenwart 1. Die Urpassivität des Strömens 2. Die präreflexive Synthesis 3. Die Vor-Zeitlichkeit der lebendigen Gegenwart 4. Die Anonymität der lebendigen Gegenwart E. Möglichkeiten eines Rückgangs auf die ungegenständliche Selbstgegenwart 1. Die Selbstvergemeinschaftung als Seinsweise des transzendentalen Idi a) Das allzeitliche 'nunc stans' b) Die Analogie von Mitgegenwart und Selbstgegenwart c) Selbstvergemeinschaftung und Mitgegenwart 2. Die Grenze der phänomenologischen Methode 3. Das Selbstsein als fundamentale Seinsweise des Menschen 4. Ergebnisse hinsichtlich eines grundlegenden Begriffes des Selbstbewußtseins F. Gesetze der Genesis 1. Die genetische phänomenologische Methode 2. Das kinaesthetische Bewußtsein

23 24 25 28 29 30 35 36 38 40 40 43 43 44 47 50 53 55 65 67 67 72

Inhaltsverzeichnis

X a) b) c) d)

Das kinaesthetische System Das kinaesthetische System und seine Korrelat: das Feld .. Der Vermöglichkeitscharakter des kinaesthetischen Systems .. Das kinaesthetische Gesamtsystem der visuellen Sphäre — der visuelle Raum e) Der Leib und das kinaesthetische System f ) Die doppelte Konstitution des Leibes g) Das kinaesthetische Bewustsein h) Aktivität und Passivität des kinaesthetischen Bewußtseins .. i) Der Begriff der Empfindung und der Ursprung des Selbstbewußtseins 3. Assoziative Synthesis und Interesse des Ichs

72 74 76

G. Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins 1. Das methodische Problem eines Rückgangs auf den Anfang der Subjektivität a) Die Analogie mit der Sphäre der Anonymität in der lebendigen Gegenwart b) Der Limesfall 'Geburt' c) Der Weg über die Einfühlung 2. Die Teleologie in der Entwicklung 3. Das Ich des konstitutiven Anfangs als Ich gerichteter Instinkte 4. Der Erwerb von Habitualität und Vermöglichkeit 5. Die Weckung des Ich zur Aktivität und zur Einheit mit sich selber

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78 79 83 84 86 88 92

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II. Teil: DIE BEDEUTUNG DER FREMDEXISTENZ FÜR DIE ENTWICKLUNG DES SELBSTBEWUSSTSEINS Einleitung A. Die Beschränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie auf die transzendentale Fragestellung 1. Die Notwendigkeit eines Überschreitens der solipsistisch beschränkten Egologie 2. Die fünf Schritte der intersubjektiven Konstitution 3. Die Möglichkeit einer Unmittelbarkeit der Fremderfahrung . . 4. Das immer-schon-im-voraus-seiende Ich

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B. Die Unmittelbarkeit der Begegnung mit dem Anderen und seine Bedeutung für das Erfahren der Selbstheit bei J. P. Sartre 154 C. Entwurf einer Genese des Fremdbewußtseins in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Selbstbewußtseins 166 1. Das Ich als Für-sich vor dem Erblicktwerden 168

Inhaltsverzeichnis

2. Das Erlebnis des Erblicktwerdens 3. Die Ungeschiedenheit des Bewußtseins vor dem Erblicktwerden und die Unmittelbarkeit der Fremderfahrung 4. Das Erfahren meiner Selbstheit und der Existenz des Anderen 5. Die Entfremdung als Eröffnung neuer Horizonte idilicher Potentialität

XI

168 169 171 172

AUSBLICK Vergleich der phänomenologisch erarbeiteten Grundbegriffe mit psychoanalytischen Konzepten und empirischen Ergebnissen zur Genese des Ich und des Selbstbewußtseins 1. Die „Teleologie in der Entwicklung" und das Konzept der „Konfliktfreien Sphäre des Ich" 2. „Habitualität, Vermöglidikeit" und der Begriff „Schema" bei Jean Piaget 3. Der Begriff der „Entfremdung" und die Bedeutung von „Identifikation" und „Projektion"

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Literaturverzeichnis

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Register

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STRUKTUREN UND GENESE DER SELBSTGEGENWART

A. PROBLEMSTELLUNG

1. Der Problembereich Die Frage nach dem Selbstbewußtsein des Kindes ordnet sich der umfassenden Frage nach dem Selbstbewußtsein des Menschen unter. Da das Wissen um sich selber und die Frage nach sich selber eine Wesenstatsache des Menschseins darstellen, reicht der Problembereich in grundsätzlicher Hinsicht in philosophische und ontologische Fragestellungen hinein; d. h. es wird zu zeigen sein, ob und in welcher Hinsicht das Sich-selber-Wissen des Kindes eine notwendige Vorform des Selbstbewußtseins des Erwachsenen darstellt. — Das Selbstbewußtsein wird infolgedessen in genetischer Hinsicht untersucht. Selbstbewußtsein als genetisches Thema beinhaltet zwei verschiedene Aspekte: — Genese im Sinne des notwendigen Prozesses im menschlichen Bewußtsein, der zum Selbstbewußtsein führt — Genese im Sinne einer entwicklungspsychologischen Fragestellung, die das Werden des Selbstbewußtseins beim Kinde untersucht. Es ist der zweite Aspekt, der den Problembereich unserer Untersuchung darstellt. Es geht in ihm darum, einen Teilaspekt der psychischen Entwicklung über eine begrenzte Teilstrecke des psychischen Werdens in den Griff zu bekommen. — Wenn wir gewillt sind, uns ausschließlich auf unseren Problembereich zu beschränken und nun die Frage nach dem ,Wie' des Vorgehens stellen, zeigt sich, daß eine solche Einschränkung nicht eingehalten werden kann. Wie kann ich feststellen, was das Kind der einen oder anderen Altersstufe von sich weiß? Die anschaulichste Möglichkeit, die sich von den gängigen Methoden der Psychologie her anbietet, ist das Beobachten und Experimentieren. Wir können beobachten, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen das Kind lernt, ,idi' oder ,mein' zu sagen; wir können das Kind vor den Spiegel stellen und beobachten, ob und als was es sich erkennt. Der methodische Grundsatz, der hinter diesem Vorgehen steht, würde lauten: Wir wollen von Tatsachen ausgehen und am Ende aus der Fülle der Tatsachen prinzipielle Schlüsse ziehen. Wenn wir uns vorgenommen haben, möglichst umfassend und grundsätzlich über unser Thema auszusagen, kann uns dieses Vorgehen allerdings nicht die Sicherheit geben, alle Aspekte miteinbezogen zu haben und noch viel weniger die Sicherheit, am Ende wesentliche von unwesentlichen Aspekten

4

Problemstellung

unterscheiden zu können. Wir wissen nicht, worauf wir in der Beobachtung zu achten haben, worauf es ankommt. — Wir könnten uns sagen, daß uns diese Frage nicht kümmert, daß sich solche Untersdieidungen aus der Beobachtung selber ergeben werden. Diese Haltung würde aber besagen, daß wir uns nicht Rechenschaft darüber abgelegt haben, daß jede Frage, bewußt oder nicht bewußt, auf etwas abzielt und auf Voraussetzungen aufbaut, aus denen sie hervorgegangen ist 1 . Aus unserem täglichen Leben haben wir bestimmte Vorstellungen darüber, was unter Selbstbewußtsein zu verstehen ist und als Erwachsene stellen wir uns vor, worin das Selbstbewußtsein des Kindes im Unterschied zu dem unsrigen bestehen könnte. In beiden Fällen sind wir als Denkende, Forschende an unsern momentanen Stand an Erfahrung und Wissen und an die darin implizierten Sturkturvorstellungen gebunden: die selbstverständlichen Voraussetzungen können nicht ohne weiteres ausgeschaltet werden und der Abstand zwischen erwachsenem Denken und kindlichem Erleben ist nicht ohne weiteres überbrückbar. Jedes forschende Fragen ist in früheren Erfahrungen motiviert und zielt auf eine Antwort ab, die aus demselben Erfahrungsschatz heraus in einer vorentschiedenen Richtung gesucht wird. Diese Schwierigkeiten deuten darauf hin, daß der Ansatzpunkt unserer Untersuchung vorerst selber untersucht werden muß. Wir müssen uns fragen, was Selbstbewußtsein überhaupt ist, welche Möglichkeiten und Formen es grundsätzlich geben kann, und wir müssen uns fragen, welche methodischen Wege wir einschlagen müssen, um zu erfahren, was Selbstbewußtsein ist und was Selbstbewußtsein für einen andern Menschen sein kann, der nicht auf dieselbe Weise existiert wie wir. Wenn wir nach Grundsätzlichem, Wesentlichem fragen, haben wir den Boden der empirisch-beschreibenden Psychologie verlassen. Wenn wir weiterhin Klarheit darüber erhalten möchten, auf welchen Wegen das Subjekt eidetische Einsichten herstellen kann, haben wir einen weiteren Schritt in eine transzendentale Fragestellung hinein gemacht. Edmund Husserl hat in seinem Werk den Weg vorgezeichnet, auf dem von der Konkretion der natürlichen Welt und der natürlichen Einstellung auf universalere, fundamentalere Art zurückgefragt werden kann. Indem er den Gang des Denkens von der mundanen Psychologie zu einer transzendentalen Psychologie herausgearbeitet hat, hat er gleichzeitig das Verhältnis von Psychologie und Philosophie als Grundlagenwissenschaft geklärt. Dieses Verhältnis ist für uns deshalb von besonderem Interesse, weil wir wie oben gesagt, darauf angewiesen sind, apriorisch zu fragen, was Selbstbewußtsein sei und wie es zustande kommt, und in welchem Verhältnis die ge-

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Vgl. Moritz Geiger: Fragment über den Begriff des Unbewußten und die psychische Realität.

Die transzendentale Begründung der Psydiologie

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wonnenen Erkenntnisse zum empirischen, entwicklungspsychologischen Prozeß stehen und auf ihn angewendet werden können. Anhand von Husserls Werk wird es uns im folgenden möglich sein, den methodischen Standort, den unsere Untersuchung einzunehmen hat, abzuklären. Ferner werden wir darüber Auskunft erhalten, was unter dem Begriff .Selbstbewußtsein' zu verstehen ist, und zwar in zweierlei Hinsicht: 1. Die Frage der Selbstbesinnung steht im Zentrum von Husserls Denken, da radikale Selbstbesinnung gleichzusetzen ist mit phaenomenologischer Methode. 2. Die Frage der Konstitution und des Werdens des individuellen Ich stellt ein zentrales Thema der Untersudiungen zur Konstitution und zur genetischen Phaenomenologie dar. Im folgenden sollen diejenigen Grundgedanken Husserls zum Problem einer wissenschaftlichen Psychologie in geraffter Weise dargestellt werden, die für das hier gestellte Thema relevant sind.

2. Die transzendentale Begründung der Psychologie2 Wenn es darum geht, reine wissenschaftliche Begriffe vom Psychischen in seiner Eigenwesentlichkeit zu gewinnen, scheint es zunächst, daß die reine empirische Naturwissenschaft ein methodisches Vorbild zu liefern vermag. Ihr ist es gelungen, sich in konsequent abstraktiver Erfahrung ausschließlich auf das Physische zu richten und eine von aller Geistigkeit abstrahierende, in sich geschlossene theoretische Wissenschaft zu begründen. Entsprechend scheint es einer reinen empirischen Psydiologie möglich zu sein, von allem Physischen zu abstrahieren und eine reine psychische Tatsachenwissenschaft zu begründen. Die Abstraktion vom Physischen erweist sich aber gerade für eine empirisch psychologische Fragehaltung als unmöglich, da alles rein Psychische nur in raum-zeitlidi lokalen Bestimmungen erfaßbar ist. Alle Bestimmung von Realem ist in raum-zeitlichen Stellenbestimmungen fundiert. Raumzeitlich bestimmt ist aber das Psychische nur durch seine Fundierung in einer physischen Körperlichkeit. Eine Psychologie als objektive Tatsachenwissenschaft kann vom Physischen nicht abstrahieren und infolgedessen nicht zu wissenschaftlichen Begriffen des Psychischen in seiner Eigenwesentlichkeit gelangen. So stellt sich die Frage, auf welchem Weg die Idee einer reinen Psychologie als einer in sich geschlossenen Disziplin entfaltet werden kann. Eine Begründung dieser Leitidee bedarf nach Husserl in einem ersten Schritt der Klärung, wie reine Erfahrung von Psychischem überhaupt möglich ist, und 2

Vgl. E. Husserl: Phaenomenologisdie Psydiologie, S. 237—347, — ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 247—269.

Problemstellung

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der Eigentümlichkeit aller Erfahrung. Es bedarf eines Rückgangs auf eine methodisch behandelte allseitig erschlossene Anschauung, in welcher uns Psychisches zu ursprünglicher Gegebenheit kommt, in welcher es sich in seiner Selbstheit zeigt. Jedes erfahrende auf Psychisches Gerichtetsein vollzieht sich notwendig als eine Reflexion, als Umwendung des geradehin gerichteten Blicks. In unserem gewohnten wachen Leben sind wir immer mit etwas beschäftigt: im Wahrnehmen mit dem Wahrgenommenen, im Denken mit dem Gedachten, im Wollen mit den Zwecken, etc. So uns geradehin beschäftigend, haben wir ausschließlich die jeweiligen Sachen, Gedanken, Ziele im Blick und unser psychisches Erleben selbst, unser Ichsubjekt bleibt unerfahren, insofern Erfahren heißt, auf etwas gerichtet sein und es in seiner Selbstheit erfassen. Die Blickabwendung von dem geradehin Thematischen bringt das psychische Leben selbst mit allen seinen Eigenheiten in den Blick. In einem reflektiven Wahrnehmen wird es erfaßt und wird selber zum Thema. Statt der Sachen, Werte, Zwecke schlechthin erfassen wir die entsprechenden subjektiven Erlebnisse, in denen sie uns erscheinen. Dieses neue Erfahren bleibt dabei als Prozeß selber wiederum unerfahren, wird aber durch weitere oder höhere Reflexionen enthüllbar. Was immer durch Reflexion zugänglich ist, hat den Charakter des Bewußtseins von etwas, den allgemeinen Charakter der Intentionalität. Intentionalität ist der Wesenscharakter des wachen psychischen Lebens und von ihm nicht abtrennbar. Bewußthaben ist immer Bewußthaben v o n etwas, Wahrnehmen ist immer Wahrnehmen von etwas, Erscheinen ist Erscheinen von etwas, man erinnert sich an etwas, fürchtet sich vor etwas. Bewußtsein oder Erscheinung weisen zurück auf Subjekte, denen etwas erscheint und auf ihr psychisches Leben, in dem Erscheinen als Erscheinen von etwas statthat. In jedem psychischen Erlebnis erscheint dem Ich somit dann etwas, wenn das Ich mit dem Etwas in Beziehung steht und es ihm (in einem sehr umfassenden Sinn) in irgendeiner Form bewußt ist. „Phaenomenalität als Eigenheit des Erscheinens als solchen wäre danach, in diesem erweiterten Sinn verstanden, der Grundcharakter des Psychischen. Die jetzt ihrer Möglichkeit nach in Erwägung stehende reine Psychologie wäre danach als Phaenomenologie, und zwar als apriorische Phaenomenologie zu bezeichnen 3 ." D a s Psychische in seinem Eigenwesen ist uns in der Reflexion zugänglich, wenn diese Reflexion in theoretischem Interesse und konsequent durchgeführt gedacht wird, so daß das dahinströmende Leben oder Bewußtseinsleben sich in seinen wesentlichen Bestandteilen und mit allen seinen Horizonten expliziert. Die phaenomenologische Reflexion, die Bewußtsein und Bewußtes in evidenter Selbstgegebenheit in den Blick zu bringen vermag, verwirklicht sich s

VgL E. Husserl: Phaenomenologische Psychologie, S. 207.

Die transzendentale Begründung der Psydiologie

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in der allerunmittelbarsten Form in der Selbsterfahrung. N u r in ihr ist Bewußtsein und Bewußtseins-Ich in originaler Selbstheit gegeben. In der Unmittelbarkeit der Selbsterfahrung ist alle andere Erfahrung von Psychischem fundiert. Die Methode einer reinen Selbsterfahrung stellt deshalb das zentrale Problem einer konsequent gedachten phaenomenologisdien Enthüllung des Psychischen dar. Das Problem der Reinheit einerseits von allem Psychophysischen, andererseits von allen Vorurteilen, die aus andern Wissenschaftsgebieten stammen, ist mit der Methode der bloßen Bewußtseinsreflexion noch nicht gelöst. Wenn das Bewußtseinsleben zu einem ausschließlichen und konsequenten Thema gemacht werden soll, müssen wir als Phaenomenologen in gewisser Weise zu unbeteiligten Zuschauern des Bewußtseinslebens werden. Anstatt darin zu leben, darin weltlidi interessiert zu sein, sehen wir es uns an, als wie es in sich selbst Bewußtsein von etwas ist und wie es in sich selbst interessiert ist. Diese Enthaltung (Epochi) ändert nichts daran, sondern bringt gerade in den Blick, daß im Bewußtsein Bewußtes als Bewußtes hervortritt und als zu seinem psychischen Bestand selbst gehöriges. Das äußerlich Erfahrene als solches ist demnach nicht das schlechthin Daseiende, sondern das im jeweiligen anschaulichen Gehalt als daseiend Vermeinte. Der Erfahrungsglaube, der im jeweiligen Bewußtsein unenthüllte Seinsglaube, gehört audi jetzt noch zum phaenomenologisdien Gehalt der Erlebnisse mit. Der Unterschied besteht darin, daß er vom Phaenomenologen, der auf die Erlebnisse reflektiert, nicht mitgemacht wird. Diese Einstellungsänderung oder phaenomenologische Reduktion übt ihre Kraft in zwei Richtungen aus: die intentionalen Gegenständlichkeiten werden freigelegt als Wesensbestand der intentionalen Erlebnisse; sofern die reale Wirklichkeit der Natur außer Spiel gesetzt wird, wird auch das reale Menschen-Idi der natürlich-objektiven Erfahrungseinstellung von dem real Menschlichen befreit, die Betrachtung richtet sich auf das jeweilige Haben von Bewußtheit. Bewußtsein ist für midi evidenterweise immer Bewußtsein meines Ich als des identischen Ich der mannigfaltigen Ich-Tätigkeiten und -Akte. Bewußtsein in allen seinen Gestalten, in allen Modis aktiver und passiver Ichbeteiligung geht letztlich ein in die Einheit eines Leistungszusammenhanges, eines Ichzentrums, von dem als dem identischen Ichpol die mannigfaltigen Iditätigkeiten ausstrahlen. Das notwendige Nädiste und Erste der phaenomenologisdien Forschung ist das reine Ichleben selbst, das uns als mannigfaltiges, dahinstörmendes Bewußtseinsleben begegnet in der Form ,idi erfahre', ,ich bin dabei', wobei immer die wesensmäßige Zweiseitigkeit von Bewußtsein und Bewußtem, von Noetisdiem und Noematischem das durchgängige Thema ist. Die Durchführung der intentionalen Analyse zeigt, daß das Bewußtseinsleben nidit aus singulären, unzusammenhängenden Erfahrungen zusammengesetzt ist. Wenn wir den verschiedenen deskriptiven Dimensionen z. B.

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Problemstellung

eines wahrgenommenen Hauses nachgehen, stellen wir fest, daß das wahrgenommene Haus über die wirklich wahrgenommenen Momente hinaus ein offenes Mehr an Bestimmungen aufweist. Zum Noema wahrgenommenes Haus gehört ein Horizontbewußtsein von möglichen, eventuell noch zu verwirklichenden Wahrnehmungen. Konstruktiv können wir eine Kette möglicher Wahrnehmungen erzeugen, in der sich der Gegenstand zeigt, wie er aussehen würde, wenn wir ihm wahrnehmend immer weiter nachgingen, z. B. die Rückseite des wahrgenommenen Hauses. An diesem Beispiel erweist sich, daß sich nicht einzelne Sinneseindrücke zum einheitlichen Sinn einer; Wahrnehmung zusammenstücken, sondern daß sich der Einheitssinn des Gegenstandes durch alle Teilwahrnehmungen hindurch erstreckt. Das Bewußtseinsleben verläuft immer als in sich Sinn konstituierendes, in Geltung setzendes. Jede Teilwahrnehmung ergibt einen Sinn und jede Verknüpfung von Teilwahrnehmungen ergibt wiederum einen synthetischen Sinn, so daß man sagen kann, daß alle Erfahrungen zur Einheit einer Erfahrung tendieren. Die Methode zur Eröffnung einer phaenomenologischen Erfahrungssphäre stellt noch keine Wissenschaft dar. Solange wir bei der bloßen Erfahrung und ihrer phaenomenologischen Deskription bleiben, vermögen wir erst „empirische" Allgemeinheiten herzustellen, die sich im Gang der Erfahrung von selbst ergeben. Wissenschaft bedarf eines gesicherten Wissens, sie muß das notwendige, bleibende, allgemeine Wesen, das den Fakten zugrunde liegt, erfassen können. Der nächste Schritt ist deshalb die Gewinnung einer Methode, „reine Allgemeinheiten, von aller Mitsetzung von factis freie, apodiktisch einsichtig zu gewinnen, die auf einen unendlichen Umfang frei erdenklicher Möglichkeiten, als rein möglicher facta, bezogen, diesen eben die Norm der Erdenklichkeit als mögliche facta apodiktisch vorschreiben"4. Dazu gehen wir aus von irgendwelchen Dingexempeln, z. B. in der taktischen Erfahrung, lassen aber die Faktizität als irrelevant aus dem Spiel, üben freie Phantasie-Variation zu diesem Exempel und erarbeiten uns einen Horizont beliebig so herstellbarer Varianten. In beständiger Selbstdekkung der Varianten tritt eine durchgehende allgemeine Wesensform hervor, eine durch alle Varianten hindurch sidi notwendig erhaltende Invariante. Auf diese Weise läßt sich nicht nur das faktisch Gemeinsame der faktisch erzeugten Varianten fassen; es lassen sich methodisch auf dieselbe Weise Invarianten von höherer Allgemeinheit gewinnen, z. B. das Eidos ,Ding überhaupt'. Ebenso können wir von Exempeln phaenomenologischer Erfahrung ausgehen und in freier Variation das notwendige Überhaupt phaenomenologischer Erfahrung umschreiben, weiter aufsteigend den invarianten Stil der phaenomenologischen Subjektivität als eines reinen Ich gewinnen.

4

Vgl. E. Husserl: Phaenomenologisdie Psychologie, S. 322.

Die transzendentale Begründung der Psychologie

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Ein Eidos ist ein über-empirisches Allgemeines; es untersdieidet sich von einer induktiven empirischen Allgemeinheit dadurch, daß es eine Wesensgeltung ausdrückt, nicht eine korrigierbare Wirklichkeit; Wesensallgemeinheiten sind in bezug auf die Wirklichkeit reine Möglichkeiten. — Die Variationsmethode in der egologischen Einstellung ergibt zunächst das Invariantensystem des eigenen Ego. Wird die Fremderfahrung hinzugenommen, so wird deutlich, daß der Andere notwendig denselben Lebensstil hat wie das eigene Ego 5 . Die egologische Phaenomenologie ist somit für jedes Ego überhaupt gültig, nicht nur für mich und meine Phantasievarianten. Die auf diese Weise erwachsenden Begriffe sind apriorische Begriffe im gleichen Sinn wie z. B. logische und mathematische Wahrheiten. Durch die Rückbeziehung der faktischen Erfahrungen auf solche apriorische Formen gewinnt die Empirie Anteil an der Wesensnotwendigkeit der Begriffe. Die apriorische psychologische Phaenomenologie scheint in ihrer systematischen Durchführung die gesamte Korrelationsforschung von objektivem Sein und Bewußtsein in sich zu fassen. In ihrer Funktion bleibt sie aber „positive" Wissenschaft; der Weltglaube, d. h. das Mitvollziehen geradehin gefällter Urteile, wurde wohl außer Geltung gesetzt. Was die Weltlichkeit der Welt, ihre prinzipielle Erkennbarkeit und was das Sein der Subjektivität ist, kann hingegen durch die eidetische Phaenomenologie nicht in Erfahrung gebracht werden. Wenn das gesamte Seelenleben auf eidetische Weise durchforscht und damit ein entscheidender Schritt in der kritischen Sicherung der Psychologie geleistet worden wäre, so wäre noch keine Kritik am geistigen Leben selber geübt worden. Jede Seinsgeltung ist in unserem erfahrenden, denkenden, wertenden Leben intentional beschlossen. „Dieses ,Für-uns-Sein' der Welt als einer nur subjektiv zur Geltung und begründenden Evidenz zu bringenden bedarf der Aufklärung." 6 Zwischen der Eidetik der Bewußtseinszustände als einem Stück rationaler Ontologie der Seele und der Eidetik des transzendental gereinigten Bewußtseins muß geschieden werden. An die Stelle des weltlichen theoretischen Interesses tritt ein transzendentales. Die gesamte Psychologie erhält den Stempel des transzendental Problematischen, was besagt, daß die konstituierenden Bewußtseinsleistungen, die für uns den Sinn einer uns geltenden Welt evident machen, an den Tag gebracht werden müssen. Statt eine vorgegebene Welt zu setzen und nur zu fragen, wie sie in Wahrheit bestimmt ist, wird die Welt selbst zum Noema gemacht und die Subjektivität wird aufgefaßt als eine solche, in der die Welt sich konstituiert. Die natürliche Reflexion macht diese Leistung noch nicht verständlich. — Der Bereich der transzendentalen Fraglichkeit ist die selbstverständlich daseiende Welt schlechthin. Diese Welt ist nun einer transzen5

Vgl. II. Teil, A, zum Problem der intersubjektiven Konstitution. * Vgl. E. Husserl: Phaenomenologisdie Psychologie, S. 332.

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Problemstellung

dental-phaenomenologischen Reduktion zu unterziehen, damit aus dem psychologisch-inneren Erfahren ein neuartiges, transzendentales Erfahren werden kann, in dem nichts von realem, raumweltlichem Sein in Geltung bleibt. Wir dürfen von der Vorhandenheit ,Ich dieser Mensch in dieser Welt' keinen Gebrauch mehr machen; dieser Mensch muß eingeklammert und selbst Phaenomen werden, Phaenomen eines transzendentalen Ich, seines Idi-Lebens. Die radikale Epoche weist diejenige letztlich fungierende Subjektivität auf, deren vordem verborgene Leistung die universale Weltapperzeption war. Durch die höherstufige und radikalisierte Epoche bleibt der gesamte eigenwesentliche seelische Gehalt, den die phaenomenologisch-psychologische Reduktion herausstellt, in transzendentaler Form erhalten, und zwar in dem Sinne, daß was darin von psychologisch-realer Bedeutung ist, nun ins Phaenomen rückt. Es handelt sich um eine Erweiterung dieser Gehalte um die Sinngebung, daß es sich um menschliches Bewußtsein, menschliches Seelisches handelt. Das Verhältnis von transzendentaler Reduktion und phaenomenologischpsychologischer Reflexion kann als ein paralleles angesehen werden. Für den transzendental Eingestellten ergibt sich Transzendentales, für den psychologisch Eingestellten Psychologisches, wenn beide auf ihre verschiedene Weise Bewußtseinsreflexion vollziehen. Das transzendentale Ich mit seinem transzendentalen Leben ist die transzendentale Parallele zum Ich-Menschen mit seinem rein seelischen Leben. — Parallel besagt hier: Deckung in allen Einzelheiten und doch ein eigentümliches Unterschiedensein. Das transzendentale Ich ist, wie die Einführung der transzendentalen Reduktion gezeigt hat, evident verschieden vom natürlichen Menschen-Ich und doch ist es kein zweites, davon getrenntes oder mit ihm verflochtenes im gewöhnlichen Wortsinn. „Es ist eben das (in voller Konkretion gefaßte) Feld der transzendentalen Selbsterfahrung, die jederzeit durch bloße Änderung der Einstellung in psychologische Selbsterfahrung zu wandeln ist. In diesem Übergang stellt sich notwendig eine Identität des Ich her." 7 Der Übergang, den die transzendentale Reflexion leistet, stellt eine Identifizierung zwischen meinem absoluten Sein und meinem weltlichen Menschen-Ich her. Ich als das absolute Subjekt finde innerhalb des mir zugehörigen weltlichen Lebens, in dem sich alles objektive Sein konstituiert, mich selbst als Inhalt einer Selbstobjektivierung, die als eigene Leistung meines absoluten Seins aufgefaßt wird. — Auf transzendentalem Boden stehend können wir uns zurückversetzen in die Einstellung der ,positiven' Psychologie und allen transzendental festgestellten Strukturgestalten die eidetische Bedeutung phaenomenologisdi-psychologischer Strukturen geben. „An sich

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Vgl. E. Husserl: Phaenomenologische Psychologie, S. 294, ebenda, S. 293—94.

Die transzendentale Begründung der Psychologie

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betrachtet ist allerdings das transzendentale Interesse das höchste und letzte wissenschaftliche Interesse, und so ist es das Richtige, wie historisch so weiterhin, die transzendentalen Theorien im eigenständigen absoluten System der Transzendentalphilosophie auszubilden und in ihr selbst mit der Aufweisung der Wesensart natürlicher gegenüber transzendentaler Einstellung die Möglichkeit der Umdeutung aller transzendentalen phaenomenologischen Lehren in solche der natürlichen Positivität herauszustellen." 8 Wenn der Psychologe in Anlehnung an die Naturwissenschaft eine Methode positiver Wissenschaftlichkeit sucht und eigenwesentliche psychologische Begriffe aus der alltäglichen Selbsterkenntnis und Menschenerkenntnis zu gewinnen sucht, „macht er die Entdeckung, daß eigentlich niemand wirklich in seiner Selbsterkenntnis an sein wahres und wirkliches Selbst, das ihm selbst eigene Sein als Ichsubjekt und als Subjekt all seiner Welterkenntnis und weltlichen Leistungen, heranreiche, daß dieses vielmehr erst durch die Reduktion sich zeige und das die reine Psychologie nichts als der unendlich mühsame Weg echter und reiner Selbsterkenntnis sei; darin aber beschlossen Menschenkenntnis, als Erkenntnis ihres ichlichen oder seelischen wahren Seins und Lebens, . . . " 9 Als Psychologen sind wir gezwungen, uns zur Ausbildung einer „reinen Psychologie" und einer transzendentalen Grundlegung zu entschließen. „In der Tat, für eine echte Psychologie und f ü r die Exaktheit, welche die ihr eigenwesentliche ist, spielt die Transzendentalphilosophie die Rolle der apriorischen Wissenschaft, auf die sie in allen ihren wirklich psychologischen Erkenntnissen zu rekurrieren, deren apriorische Strukturbegriffe sie für ihre weltliche Empirie zu verwerten hat." 1 0

Vgl. E. Husserl: Phaenomenologisdie Psychologie, S. 296. • Vgl. E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 264. 10 Vgl. E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 263. 8

B. EGOLOGISCHE STRUKTUREN

1. Ursprüngliches Ich und sein Gegenüber Aufbauend auf dem Verhältnis von transzendentaler und psychologischer Fragestellung wenden wir uns dem Problem der Grundstruktur der Ichlichkeit und des Bewußtseinslebens zu. Vorausgeschickt muß werden, warum die Frage nach der Grundstruktur der Ichlichkeit für das Verständnis der Grundstruktur des Selbstbewußtseins von zentraler Bedeutung ist, oder deutlicher ausgedrückt, inwiefern Ich oder Selbstbewußtsein ,dasselbe' sind1. Der Mensch als individuelle Person, als personales Subjekt konstituiert sich im Verlauf seiner Entwicklung durch die Tatsache der Selbsterfahrung, der Selbstapperzeption. Er konstituiert eine identische Person, bezogen auf ein Feld der Subjektivität, ein personales Subjekt, das den Namen ,Ich' trägt. Es gehört zum Wesen der menschlichen Entwicklung, daß das Ich als Person durch Selbsterfahrung konstituiert ist. Ein personales Sein oder Ich ist nur möglich als Seiner-Selbstbewußt-sein. Wie vollzieht sich diese Konstitution, wie kommt Selbstgegenwärtigung zustande? Schon als welterfahrendes Ich, in meinen Akten lebend, in ihnen aufgehend, selbstvergessen Gegenstände habend, ,weiß' ich implizit um mein Selbst, mein Ich. Das Selbst ist keine Konstruktion der Reflexion, sondern ich bin immer schon ,Selbst', meiner ,bewußt' und nur darin liegt die Möglichkeit, daß ich überhaupt auf mich selbst zurückkommen, mich selbst zum Gegenstand nehmen kann, um zu fragen, was ich als personales Selbst, und in transzendentaler Einstellung, was die reine Ichlichkeit in ihrem Walten sei. Mich zum Gegenstand nehmen, Selbsterfahrung üben kann ich nur, weil ich immer schon ein Selbst oder ,Ich' bin, ein ,Für-mich-sein', das ich nun reflektiv zu explizieren bemüht bin. Wenn wir uns fragen, auf welchem Weg die in der natürlichen, personalen Sphäre vollzogene Selbstgegenwärtigung zustande kommt, tun wir es wiederum auf dem Weg einer reflektiven Selbstgegenwärtigung, allerdings einer höherstufigen oder transzendentalen. Was Selbstbewußtsein heißt, kann nur durch eine Reflexion auf eine Reflexivität festgestellt werden. Der Zusammenhang von Ich und Selbstbewußtsein kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Er wird aber unser durchgängiges Thema bilden, 1

Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 350.

Ursprüngliches Idi und sein Gegenüber

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da Selbstbewußtsein' auf jeder Stufe eine Wesenseigentümlichkeit des jeweiligen Ich darstellt. Unsere erste thematische Frage riditet sich nun darauf, was wir als wissenschaftlich Orientierte in reflektiver Einstellung über die natürlich betätigte Selbsterfahrung aussagen können. Reflektive Einstellung besagt, daß wir uns selbst in eine Selbsterfahrung, allerdings in eine transzendental gereinigte, hineinbegeben. Das Erste, das uns darin gegeben ist, ist ein anfangsund endloser Strom von Erlebnissen. In diesem Erlebnis- oder Bewußtseinsstrom (was in intentionaler Hinsicht dasselbe ist) sind uns unsere Erlebnisse nicht als zusammenhanglose Annexe von physischen Tatsachen, sondern als durch ihr eigenes Wesen mit dem Ganzen des Stromes verflochtene Einheiten gegeben. Die Einheiten, die in diesen einheitlichen Strom verflochten sind, können bei passender Blickstellung intuitiv erfaßt werden. Unser Interesse gilt nun in besonderem Maße dem ,Subjektiven' im Erlebnisstrom und in den herauszustellenden Einheiten und die Frage lautet: Was gehört zu uns als Ichliches? Im strömenden Leben erfahre ich mich selber als Ich in der jeweiligen Form, z. B., des ,ich denke', ,idi will', ,ich freue mich', ,idi nehme wahr'. Was ist nun das eigentliche Ichliche, das eigentlich Subjektive an dieser Form? Und was finde ich vor als Ich, was als Nicht-Ich? Mein Gegenstand, das Gesehene oder Sichtbare, Betastete oder Tastbare, z. B. ein Haus, ist mir gegenüber, es ist mein Gegenstand, ist mir durch mannigfaltige einstimmige synthetische Wahrnehmungen, die ich als Subjekt vollziehe, gegeben. Es ist ,mein', aber idi rechne es nicht zu mir als Bestandstück meines Ich. Als Gegenständlichkeit meiner Erfahrung ist es idh-zugehörig, es hat einen subjektiven Charakter als für das Ich Daseiendes, als Substrat der theoretischen, affektiven und praktischen Akte des Ich. — Ähnlich und gleichzeitig verschieden verhält es sich mit meinem Leib. Als Gegenstand der Wahrnehmung ist er dem Ich gegenüber. Er kann aber auch aufgefaßt werden als Träger des Zentrums und der Grundrichtungen der räumlichen Orientierung, als Träger des Orientierungspunktes Null, des Hier und Jetzt, von dem aus das reine Ich den Raum und die ganze Sinnes weit anschaut. Er ist der Träger der Sinnesfelder, das Organ freier Bewegung und hat als solcher gleichzeitig Anteil am Weltlichen und am Ichlichen; „aber all das sind Ichlichkeiten von Gnaden der ursprünglichen Ichlichkeit"2. Der Leib ist nur mein Leib, weil ich ihn als solchen auffasse, konstituiert habe. Ursprünglich und rein ichhafte Bedeutung hat er ebenso wenig wie die Dingwelt. Das Ich im eigentlichen Sinne, das ursprüngliche und spezifisch Subjektive, ist das Ich der Freiheit, das Ich der Intentionalität, der Akte, das subjektive Sein als Sein und Verhalten des Ich. Es ist das wahrnehmende, aufmerkende, urteilende, wertende, angezogene, abgeneigte, wünschende und wollende 1

Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 213.

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Egologische Strukturen

Ich. Es ist das aktive, stellungnehmende Ich, das immerfort nur verbunden mit dem passiven rezeptiven Idi auftritt. Subjektiv ist audi das passive Ich als Ich der Tendenzen, das Reize erfährt und dem Zuge nachgibt. Subjektiv sind ferner die Zustände des Ich wie Trauer, Freude, Fröhlichkeit, passives Begehren. Dieses eigentlich Subjektive kann durch Reflexion als solches abstrahiert werden, kann aber in seinem praktisch tätigen Verhalten nicht losgelöst gedacht werden von seinen Gegenständen einerseits und seiner ,stofflichen' Unterlage andererseits. Die Schicht der Stellungnahme, der Akte baut sidi auf Unterschichten auf. Diese Unterschichten können in zwei Hinsichten untersucht werden: 1. Sie setzen sich aus früheren Erlebnissen und konstitutiven Vorgängen zusammen, die in die Habe des Ich übergangen sind. Was sich ursprünglich in spontanen Akten des Ich konstituiert, wird als Konstituiertes zur Habe des Idi und zur Vorgegebenheit für neue Ichakte. 2. Die früheren konstituierten Vorgänge können als Synthesen verschiedener Stufen angesehen werden. Die Schichten der Dingkonstitution rückwärts durchlaufend gelangen wir zu den Empfindungsdaten als letzten primitiven Urgegenständen, die nicht mehr durch eigentliche Ichaktiviät, sondern in passiven Synthesen konstituiert sind und zur Vorgegebenheit für alle aktive Ichbestätigung werden; sie sind die erste subjektive Habe des Ich3. Von dem im eigentlichen Sinne Subjektiven, dem Subjekt der Intentionalität, der Akte, ist demnach ein subjektives Sein als Sein für das Subjekt zu unterscheiden, eine Habe des Ich, die aus dem Empfindungsmaterial und der Gesamtheit der Objekte aufgebaut ist, die sich dem Subjekt im Verlauf seiner Genesis konstituieren. Je nadi Blickstellung heben sich somit verschiedene Ichbegriffe ab. Wenn es gemäß unserem methodischen Leitfaden gilt, daß für eine Auslegung des konkreten Ichlebens die Einsicht in dessen apriorische Strukturen voranzugehen hat, müssen wir uns in einem ersten Schritt dem im eigentlichen Sinne Subjektiven und Ichlichen zuwenden.

2. Das reine Idi Die äußere, natürliche Wahrnehmung ,Ich bin' hat für den Erfahrenden einen endlos offenen unbestimmten Horizont von eigentlidi nicht selbst Wahrgenommenem, aber notwendig Mitgemeintem und durdi möglidie Erfahrung Aufzuschließendem. Die abstraktiv herauszustellende Erfahrung selber bietet jeweils nur einen Kern von eigentlich adaequat Erfahrenem: 3

Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 214.

Das reine Ich

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„nämlich die lebendige Selbstgegenwart, die der grammatische Sinn des Satzes ego cogito ausdrückt"4. Dem Horizont des Nicht-Erfahrenen, aber Mitgemeinten gehört die weitgehend völlig dunkle Selbstvergangenheit, aber auch die dem Ich zugehörigen transzendentalen Vermögen und die jeweiligen habituellen Eigenheiten an. Wenn wir uns Gewißheit über einen ersten apodiktischen Seinsboden verschaffen wollen, müssen wir die Seinsgeltung der objektiven Welt aus dem Urteilsfeld ausschalten, indem wir Epoche üben. Wir fixieren das reine Ich als das in absoluter Zweifellosigkeit gegebene ,sum cogitans'. „Durch die phaenomenologische Epoche reduziere ich mein natürliches menschliches Ich und mein Seelenleben — das Reich meiner psychologischen Selbsterfahrung — auf mein transzendental-phaenomenologisches Ich, das Reich der transzendental-phaenomenologischen Selbsterfahrung. Die objektive Welt, die für mich ist, die für mich je war und sein wird, je sein kann mit all ihren Objekten, schöpft, sagte ich, ihren ganzen Sinn und ihre Seinsgeltung, die sie jeweils für mich hat, aus mir selbst, aus mir als dem transzendentalen Ich, dem erst in der transzendental-phaenomenologischen Epoche hervortretenden." 5 Im täglichen Leben gehe ich in meinen Akten auf, bin selbstvergessen bezogen auf Gegenstände. Gegenstand kann unter anderem mein empirisches Ich der empirischen Intentionalität und dessen persönliche Eigenheiten oder Charaktereigenschaften sein. Von dieser reflektiven thematischen Erfahrung unterscheidet sich die reine Ichreflexion, die Reflexion auf das wesensmäßig zu jedem cogito gehörige reine Ich. Das strömende weit- und selbsterfahrende Leben soll ausschließlich hinsichtlich seiner Ichlichkeit betrachtet werden. Ich ist immer weit- und selbsterfahrendes Leben und seine Welt muß abstraktiv von ihm ferngehalten werden, damit wir das Ich in seiner Formeigentümlichkeit als Pol herausstellen können. Es ist von seinen Akten nur abstraktiv zu unterscheiden, da es als abgetrennt von seinen Erlebnissen nicht gedacht werden kann. Was die Reflexion auf das rein Ichliche fixiert, ist das Ich, das im ,ich denke' selbst waltet. Es ist der Ausgangspunkt des im Aktvollzug gerichteten Strahls. Aus den Akten selber zurücktretend reflektiere ich auf mein Fungieren als das reine Aktiv-sein des Ich. Ich mache die Ich-Aktivität selber zum Thema, „den gewissermaßen formalen Aspekt des Fungierens der Intentionalität" 6 . Das so reflektierende Ich kann in seiner neuen Reflexion wiederum thematisch werden. Alles im weitesten Sinn Gegenständliche ist nur denkbar als Korrelat eines möglichen cogito und somit beziehbar auf ein reines Ich. Das gilt auch für das reine Ich, indem das reine Ich selber Gegenstand des reinen Ich werden kann, d. h. das reine Ich kann sich selber 4 5 8

Vgl. E . Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 62. Vgl. E . Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 65. Vgl. G. Brand: Welt, Ich und Zeit, S. 62.

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Egologisdie Strukturen

erfassen7. Daß es das kann, weiß es aus der Reflexion selber. Indem ich reflektiere und immer wieder reflektiere, stelle ich fest, daß das Reflektierenkönnen selber ein Vermögen meines reinen Ich darstellt und finde eine erste Charakterisierung des reinen Ich: „Das Ich ist zuallererst in Besonderheit dadurch charakterisiert, daß es auf sidi selbst zurückkommen kann, immer wieder und in immer höherer Stufe, d. h. es kann Reflexion üben und seine Reflexion immer wieder zum Thema einer neuen Reflexion machen. Ich ist zuallererst Reflexionsvermögen. — Zum Wesen des Ich rein als Idi gehört also die Möglichkeit einer originären Selbsterfassung, einer ,Selbstwahrnehmung' in Reflexion."8 In der Reflexion spredien wir anscheinend von zwei verschiedenen cogito, von einem ursprünglichen und einem reflektierten, von einem cogito des ursprünglich vollziehenden reinen Ich und einem wesentlich gewandelten cogito, das Gegenstand oder Objekt eines neuen Aktes geworden ist und durch das hindurdi jenes erfaßt und selber das vollziehende Ich das Vollziehen des vergangenen Aktes erfaßt. Dank weiterer Reflexionen höherer Stufe ist aber evident, „daß das eine und andere reine Ich in Wahrheit ein und dasselbe ist, nur eben einmal gegeben, das andere Mal nicht gegeben, oder in höherer Reflexion einmal schlicht gegeben, das andere Mal in einer weiteren Mittelbarkeitsstufe gegeben"9. Was sich ändert ist nicht das Ich selbst, sondern seine Weise gegeben zu sein und bewußt zu sein. Identisch ist das reine Ich hinsichtlich seiner Dauer, als Einheit der .immanenten Zeit', mit der es sich selbst konstituiert. Die Einheit des identischen cogito ist „selbst schon bewußtseinsmäßig konstituierte Einheit", die sich konstituiert „in einem tieferen, entsprechend mannigfaltigen ,Bewußtsein' eines anderen Sinnes"10. Unsere bisherige Darstellung hat eine ganze Dimension verschwiegen, ohne allerdings die Abgeschlossenheit des Untersudiungsgebietes zu gefährden. „Das transzendentale Absolute, das wir uns durch die Reduktion herauspräpariert haben, ist in Wahrheit nicht das Letzte, es ist etwas, das sich selbst in einem gewissen tiefliegenden und völlig eigenartigen Sinn konstituiert und seine Urquelle in einem letzten und wahrhaft Absoluten hat." 11 Es handelt sich um das Rätsel des Zeitbewußtseins, auf das wir an geeigneter Stelle zurückkommen werden. Im Fluß der Erlebnisse entstehen und vergehen die reinen Ichakte mit ihren Korrelaten. „Aber das reine Subjekt entsteht nicht und vergeht nicht, obwohl es in seiner Art .auftritt' und wieder .abtritt'." 12 Es ist wandelbar in seinen Betätigungen, in seinen Aktivitäten und Passivitäten; in sich 7

Vgl. Vgl. • Vgl. 10 Vgl. 11 Vgl. 14 Vgl. 8

E. Husserl: Ideen II, S. 101. G. Brand: Welt, Ich und Zeit, S. 63. E. Husserl: Ideen II, S. 102. E. Husserl: Ideen II, S. 102. E. Husserl: Ideen I, S. 198. E. Husserl: Ideen II, S. 103.

Das reine Idi

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selbst aber ist es unwandelbar. Es ist kein Identisches, wie z. B. das Ich als reale Person, das sich aus der Häufung von Einzelerfahrungen als das selbe in verschiedener Abschattung erweist; „um zu wissen, daß das reine Ich ist und was es ist, kann midi keine noch so große Häufung von Selbsterfahrung eines besseren belehren als die einzelne Erfahrung eines einzigen schlichten cogito" 13 . Es ist in absoluter Selbstheit gegeben und in der reflektiven, auf es als Funktionszentrum zurückgehenden Blickwendung adaequat zu erfassen. Und doch kann es in seiner Art auftreten und wieder abtreten. Gemeint ist, es kann in Aktion treten und wieder außer Aktion treten; es kann in Inaktualität versinken. Damit soll in keiner Weise gesagt sein, daß es ein Entstehen und Vergehen, ein Anfangen und Aufhören habe, denn es würde der Widersinn entstehen, daß das absolut seiende Ich sich selbst in der Dauer seines Seins als nicht seiend vorfindet. Der Unterschied besteht allein darin, daß das reine Ich einmal auf sich reflektiert und einmal nicht, daß es einmal schlidit oder ,unbewußt' fungiert und das andere Mal zum Gegenstand des Bewußtseins wird. Auch in der Inaktualität ist die Ichstruktur vorhanden; es liegt nicht in ihrem Wesen, daß sie notwendig aktuell vollzogen sein muß. — Das nicht vollzogene reine Ich kann verglichen werden mit dem natürlichen wachen Bewußtsein, das streckenweise durch Schlaf unterbrochen ist. Aus dem Schlaf erwachend können wir den reflektierenden Blick rückwärts lenken und das soeben Vergangene in seiner Dumpfheit und Verlassenheit vom aktiven Ich erfassen. Allerdings ist das reine Idh, wie wir gesehen haben, keine aus aktuellen Phasen zusammengestückte Einheit, wesensmäßig sollte es „alle meine Vorstellungen begleiten können". Es kann es, indem es sich in alle reflektiv unvollzogenen intentionalen Erlebnisse hineinlebt, indem es seinen reflektierenden Blick rückwärts lenkt, das Vergangene in seiner Dumpfheit erfaßt und es an das Licht des wachen Bewußtseins bringt. „ . . . das Ich w a l t e t nur im Vollzug, in den eigentlichen Cogitationen. Aber in alles kann es seinen Blick hineinsenden, was den Strahl der Ichfunktion aufnehmen kann. Auf alles im Bewußtseinsfluß intentional Konstituierte kann es hinsehen, es erfassen, dazu Stellung nehmen usw." 14 Die Einsicht in Wachheit und Dumpfheit des Bewußtseins, Aktualität und Inaktualität des reinen Ich gibt Anlaß zu weiteren Fragen. 1. Das reine Ich kann in Inaktualität versinken, während der ,Erlebnisstrom', oder unverfänglicher gesagt: das strömende Leben weiterfließt; später kann es auf das Vergangene reflektiv zurückkommen. Die Möglichkeit der Selbstreflexion beruht demnach auf einem beständigen Strömen, auf einer ursprünglichen Lebendigkeit, von der sie nicht abtrennbar ist. 13 14

Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 104. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 108.

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Egologische Strukturen 2. D a s reine Ich ist in verschiedener Hinsicht charakterisiert durch sein Reflexionsvermögen. Reflektieren ist zeitlich gesehen immer ein Nachgewahren, das Nachgewahren eines vorhergegangenen oder ursprünglicheren Fungierens. D a s reine Ich kann sich nicht anders als in der Reflexion erfassen, und das heißt: Es lebt in einem Abstand zu sich selber, den es nicht überbrücken kann.

Beide Fragen weisen darauf hin, daß das eigentlich Subjektive oder Ichliche durch die Form .reines Ich' noch nicht vollumfänglidi beschrieben wird und „ w a s ich als letztlich seiendes Ich, als Ur-Ich in Anspruch nehmen will, ist gerade dadurch, daß es für mich da ist, daß es für mich zum Gegenstand wird, nicht das Letzte" 1 5 . Wie das Letzte zu suchen sei, hat Husserl schon in den Ideen I und I I angedeutet. Eine neue Dimension muß erschlossen werden, diejenige des inneren Zeitbewußtseins. — Bevor wir aber weiter zurücktragen, wollen wir untersuchen, inwiefern sich der bisher transzendental erarbeitete apriorische Begriff des reinen Ich auf die psychologische Fragestellung nach dem Selbstbewußtsein anwenden läßt.

3. Persönliches, habituelles I d i D a s wache Ich ist immer bezogen auf das Gegenständliche seiner Cogitationen, reines Ich — A k t — Gegenstand, gehören wesensmäßig zusammen. Gegenstand für das reine Ich sind aber nicht nur die unvollzogenen intentationalen Erlebnisse (Noesen), die es nachgewahrend ins wache Bewußtsein bringen will, sondern ebenso die Gegenstände möglicher Noesen. Nicht nur die als Hintergrund konstituierte, wirklich erscheinende oder vergegenwärtigte dingliche Umgebung, sondern die ganze Welt ist des reinen Ich Umwelt, mit allen unbekannten, noch erfahrbaren Gegenständen, inbegriffen den Menschen als ein Ich charakteristischer Eigenheiten. „Ich als der Mensch bin Bestandstück der realen Umwelt des reinen Ich, das als Zentrum aller Intentionalität auch diejenige vollzieht, mit der sich eben Ich, der Mensch und die Persönlichkeit, konstituiert." 1 8 Die Evidenz des ego sum reicht in die Mannigfaltigkeiten der Selbsterfahrung v o m transzendentalen Leben und den habituellen Eigenheiten des ego hinein, in alle besonderen Gegebenheiten der wirklichen und möglichen Selbsterfahrung (wenn sie im einzelnen auch nicht absolut zweifellos sind). Zu dieser universalen apodiktischen Erfahrungsstruktur des ego gehört, „daß das Ich f ü r sich selbst apodiktisch vorgezeichnet ist als konkretes mit einem individuellen Gehalt an Erlebnissen, Vermögen, Dispositionen seien15

Vgl. G. Brand: Welt, Ich und Zeit, S. 63. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 109.

Persönliches, habituelles Ich

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des, horizontmäßig vorgezeidinet als ein durch mögliche in infinitum zu vervollkommnende und eventuell zu bereichernde Selbsterfahrung zugänglicher Erfahrungsgegenstand" 1 7 . Die Einheit ,Ich-Mensch' ist das in voller Konkretion genommene Ich als dessen intentionalen Kern wir das ,reine Ich' abstraktiv herausgehoben haben. D a s reine Ich ist aufgefaßt als Reduktion des persönlichen Ich auf reine Intentionalität in der Weise, daß all die aktiven und passiven Verhaltensweisen, das Werten, Handeln, Begehren, das Erfahren von Wirkungen, usw. sich v o m Standpunkt des reinen Bewußtseins auf intentionale Erlebnisse mit zugehörigen intentionalen Korrelaten reduzieren und das reine Ich für alle diese Erlebnisse als ein identisches erfaßt wird 1 8 . D a s reine Ich, das selber keine Realität ist und keine realen Eigensdiaften hat, nimmt als Subjekt solcher Verhaltensweisen einen realen Aspekt a n ; es ist auf faßbar als ein Subjekt, das seine bestimmt gearteten Weisen hat, sich zu seiner Umwelt zu verhalten, seine bestimmte Art, sich durch sie aktiv oder passiv motivieren zu lassen: „jeder reif Entwickelte faßt sich selbst so auf, findet sich als Person v o r " 1 9 . Er findet sich als Person, bezogen auf ein Feld subjektiver Gegenstände, er findet sich nicht als abgeschlossene Einheit, sondern als Einheit in einem Entwicklungsverlauf, der bestimmt ist durch den Rhythmus der vorgegebenen H a b e und der Zuwendung zu neuen Gegenständlichkeiten 2 0 . Die Person ist keine endgültig bestimmte oder erforschte, sondern eine ,apperzeptive Einheit' mit einem zugehörigen mitgemeinten endlosen Horizont unerforschter Möglichkeiten. Während das reine Ich aus der originären Gegebenheit jedes cogito in abstraktiver Gewißheit zu entnehmen ist, bedarf das reale Ich einer „Konstitution durch Mannigfaltigkeiten" 2 1 . „ D e r Erlebnislauf des reinen Bewußtseins ist notwendig ein Entwicklungsverlauf, in dem das reine Ich die apperzeptive Gestalt des persönlichen Ich annehmen muß, also zum Kern von allerlei Intentionen werden muß . . ," 2 2 Ich gehe absichtlich in die Erfahrung hinein, durchlaufe das Feld meiner Ichaktivitäten und sehe ein, daß meine reinen Ichakte sich unter ihren subjektiven Umständen geregelt abwickeln, und daß diesen geregelten Abläufen gemäß sich die empirische Ichapperzeption, die .Vorstellung' Ich-Person entwickeln und immer weiterentwickeln muß. D a s reine Ich, das die Apperzeption ,Ich der Mensch' vollzieht, hat das Mensdien-Ich, die Persönlichkeit als konstituierte Einheit sich gegenüber, umgekehrt findet sich das reine Idi in der Persönlichkeit wieder, indem es als Subjekt der

17 18 18 80 21 82

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. E. E. E. E. E.

Husserl: Husserl: Husserl: Husserl: Husserl: Husserl:

Cartesianisdie Meditationen, S. 67. Ideen II, S. 326. Ideen II, S. 326. Ideen II, S. 349. Ideen II, S. 111. Ideen II, S. 251.

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Egologisdie Strukturen

Funktion, als Zentrum aller Intentionalität, als Kerngehalt einer umfassenden Apperzeption aufgefaßt wird. Dieses zentrierende Ich ist nicht ein leerer Identitätspol, sondern es gewinnt vermöge einer Gesetzmäßigkeit der transzendentalen Genesis mit jedem der von ihm ausstrahlenden Akte eines neuen gegenständlichen Sinnes eine neue bleibende Eigenheit23. Das Idi kann in späteren Akten auf frühere Akte zurückkommen, z. B. auf die Wahrnehmung eines neuen Gegenstandes. Dabei ist nicht nur dieser Gegenstand bleibend reproduzierbar (z. B. in der Erinnerung), sondern auch das Ich behält ein neues ichliches Vermögen, nämlich die Erfahrung eines solchen Gegenstandes zu wiederholen. Fälle ich zum ersten Mal ein Urteil über einen Gegenstand, so vergeht zwar der Akt des Urteilens, ich aber verbleibe als das so und so entschiedene Idi. Das besagt nicht bloß, daß ich mich des Aktes erinnern kann, sondern idi kann auf mein Urteil wiederholt zurückkommen und finde es immer wieder als das meine, daß mir habituell eigene, ich finde midi als Ich, das überzeugt ist und durch diesen bleibenden Habitus als verharrendes Idi bestimmt ist. Ist das Urteil oder der Entschluß auf eine abschließende Tat gerichtet, so ist er durch die Erfüllung nicht aufgehoben, wenn idi weiter zu meiner Tat stehe. Er ist zu einer meiner Eigenheiten geworden, zu einer Habitualität. Entschlüsse kann man aufgeben, zu Taten nicht mehr stehen; das heißt, daß sich mit der Änderung der Uberzeugung das persönliche Ich mitverändert. Die Veränderung betrifft aber das Ich in seiner Identität nicht. „Sind auch die Uberzeugungen im allgemeinen nur relativ bleibende, haben sie ihre Weise der Veränderung (durch Modalisierung der aktiven Positionen, darunter Durchstreichung oder Negation, Zuniditemachung ihrer Geltung), so bewährt das Ich in solchen Veränderungen einen bleibenden Stil mit durchgehender Identitätseinheit, einen personalen Charakter. Aus aktiver Genesis konstituiert das Ich sich als identisches Substrat bleibender Ich-Eigenheiten und in der Folge auch als bleibendes personales Ich."24 Das Ich entwickelt sich immer fort, es übt sich, gewöhnt sidi, erwirbt neue Vermögen, ist im späteren Verhalten durch früheres bestimmt. Reflektierend erfährt es, wie es sich unter verschiedenen subjektiven Umständen „verhält" oder wie es motiviert zu sein pflegt, welches seine „persönlichen Eigenheiten" sind. Es erfährt sidi als ein Subjekt von Vermögen, als ein System des „Ich kann" 25 . Die Selbsterfahrung hat das Ich .gelehrt', was es kann, was es vermag, wozu es fähig ist, d. h. was für praktische Möglichkeiten von seinem Willen aktualisiert werden können. Über diese praktischen Möglichkeiten kann das Idi sich täuschen, es kann andere oder verborgene Fähigkeiten 23 24 25

Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 100. Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 101. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 248—49.

Die Frage nach dem Anfang der Selbsterfahrung

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haben, die es noch nicht in seine Apperzeption eingeschlossen hat, so wie ein Ding Eigenschaften hat, die noch nicht in die Dingapperzeption eingeschlossen sind. Im alltäglichen Leben sprechen wir von Menschen, die sich, selber nicht .kennen', die sich noch besser kennen lernen müssen, und es ist uns bewußt, daß sich die Selbsterfahrung beständig erweitern kann. Diese Erweiterung hängt mit der psychischen Entwicklung zusammen; wir nehmen an, daß ein Kind sich weniger gut kennt als ein Erwachsener. „Das ,Sichkennenlernen' ist eins mit der Entwicklung der Selbstapperzeption, der Konstitution des ,Selbst', und diese vollzieht sich in eins mit der Entwicklung des Subjektes selbst." 26 — Das Ich als apperzeptive Einheit entwickelt sich immerfort. Es übt sich, gewöhnt sich, ist im späteren Verhalten durch früheres bestimmt. Es erwirbt sich Fähigkeiten, stellt sich Ziele und erwirbt sich im Erreichen der Ziele neue praktische Vermögen.

4. Die Frage nach dem Anfang der Selbsterfahrung Wenn wir von der Entwicklung der Selbsterfahrung sprechen, stellt sich zum ersten Mal die Frage nach einem möglichen Anfang. Am Anfang der Erfahrung ist noch kein konstituiertes Selbst als apperzipierbares Gegenüber gegeben. „Das Eigentümliche des geistigen Subjektes ist, daß in ihm die Apperzeption ,Ich' auftritt, in der dieses ,Subjekt' der ,Gegenstand' ist." 27 Wenn ich reflektiere, finde ich mich als persönliches Ich immer schon vor, von dem wir annehmen, daß es sich im Verlauf einer Entwicklung konstituiert. Aber was meinen wir mit konstituiert? Konstituiert als Objekt für mich, als Person für mich, als Ich, das explizit als Selbst bewußt wird oder konstituiert in einem unabgesonderten Ichsein, implizit in der Ichversunkenheit, bevor ein Nicht-Ich überhaupt gesetzt werden kann? „Die große Frage ist da: konstituiert sich das persönliche Ich auf Grund von Ichreflexionen, also ganz ursprünglich auf Grund der reinen Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung. . . . Muß ich in reflektiver Erfahrung meine Verhaltensweisen durchlaufen, damit das persönliche Ich als Einheit derselben bewußt werden kann oder kann es schon ,bewußt' sein in der Vorgegebenheit, ehe es ursprünglich gegeben war durch solche identifizierenden und realisierenden Erfahrungsreihen, die als Reflexionen auf die Cogitationen, auf das Verhalten mit Beziehung auf die Umstände hinsehen." 28 Für das reine Ich gilt, daß es auftreten kann und wieder abtreten kann, d. h. daß es auch in der Ichversunkenheit, wenn ich nicht auf es reflektiere, ,da' ist, und zwar in einem Modus des Nicht-bewußt-seins. — Was für die 26 27 28

Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 252. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 253. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 251.

22

Egologische Strukturen

transzendentale Erfahrung gilt, hat grundsätzlich auch für die psychologische Erfahrung Geltung: das konstituierte Ich weist auf ein anderes, vorreflektives zurück. Wenn Erfahrung dasselbe besagt wie beim Ding, bin ich ursprünglich nicht eine Einheit aus aktiver und konstitutiver Erfahrung. „Also ein Bestand ist schon da, und in der nachträglichen Reflexion, in der Erinnerung, kann ich und muß ich etwas Gestaltetes vorfinden. Das ist die Voraussetzung für die ,Explikation', für die ,vollbewußte' Herausstellung des ,wenn' und ,so' und diejenige Identifikation des Ich mit Beziehung auf ihm zugehörige Umstände, in welcher das Ich als persönlich-reale Einheit sich .eigentlich' konstituiert." 29 Wie läßt sich die Voraussetzung, von der wir erst wissen, daß sie notwendig vorangehen muß, näher bestimmen? In den Ideen II heißt es: „Ich bin das Subjekt meines Lebens, und lebend entwickelt sich das Subjekt; es erfährt primär nicht sich, sondern es konstituiert Naturgegenstände, Wertsachen, Werkzeuge etc. Es bildet, gestaltet als aktives primär nicht sich, sondern Sachen zu Werken. Das Ich ist ursprünglich nicht aus Erfahrung — im Sinne von assoziativer Apperzeption, in der sich Einheiten von Mannigfaltigkeiten des Zusammenhanges konstituieren ((gemeint ist die Dingkonstitution)), sondern aus Leben (es ist, was es ist, nicht für das Ich, sondern selbst das Ich)." 30 Wenn wir nach dem Anfang und der Genese des Selbstbewußtseins fragen und uns gleichzeitig vor Augen halten, daß das sich entwickelnde Selbstbewußtsein des Kindes in etwas zu suchen ist, das der reifen, reflektierenden Selbstapperzeption vorangeht, dann scheint es auf transzendentaler Ebene die Frage nach der Vorreflexivität des Ich zu sein, der wir uns zuwenden müssen, um den apodiktischen Boden für unser weiteres Vorgehen zu gewinnen. Das Problem des ursprünglichen, vorreflektiven Ich hat Husserl und haben seine Interpreten in dieser Hinsicht hauptsächlich am Leitfaden der Zeitanalyse behandelt. Darin liegt natürlich kein Zufall; schon der Rückgang auf das reine Ich hat gezeigt, daß die Identität des reinen Ich auf einen konstitutiven Vorgang zurückweist, auf einen Vorgang der .immanenten' Zeit.

29 s

Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 252. ° Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 252.

C. ICH U N D ZEIT

1. Das Problem eines Rückganges auf das Ich vor der Reflexion Unter dem Titel ,reines Ich* haben wir angedeutet, daß die Reflexion auf das rein Ichliche das eigentlich Subjektive nicht in letzter Ursprünglichkeit zu erfassen vermag, und daß es im Wesen der Reflexion selber liegt, wenn sie dem lebendigen, aktuellen Ich nicht näher zu kommen vermag. Wenn das Ich versucht, seinen Reflexionsgegenstand in größtmöglicher Nähe und Helligkeit zu erfassen, macht es die Erfahrung, daß jede Ausformung des eigenen intentionalen Lebens dem reflektierenden Zugriff unaufhaltsam aus der relativen Bewußtseinsnähe in eine nächstfernere Vergangenheit entgleitet 1 . Das Erlebnis, der Akt, auf den ich reflektiere „ist seinem Wesen nach ein Fluß, dem wir, den reflektiven Blick darauf richtend, von dem Jetztpunkt aus gleichsam nachschwimmen können, während die zurückliegenden Strekken für die Wahrnehmung verloren sind" 2 . Das reflektierende Ich, das auf Selbsterfassung aus ist, kann sich nicht anders begegnen denn als Ich, das reflektierend ,soeben' war. Denkend, fungierend bin ich zugleich das Thema des Fungierens selbst, das als Thema immer nur als gerade Vergangenes angetroffen werden kann. Zwischen dem reflektierenden und dem reflektierten Idi, d. h. zwischen dem Ich, das ich jetzt aktuell bin und dem Ich, auf das ich hinschaue, besteht ein Abstand, eine Spaltung. Der Abstand ist primär ein zeitlicher, den die Reflexion zu überbrücken sucht. „Reflexion ist Verschiedenheit des Ich in Deckung, ist überbrückter Abstand, ist ursprünglichste Enthüllung eines ,jetzt' und eines ,soeben', Reflexion ist somit die ursprünglichste Enthüllung von Zeit und Zeitlichkeit... Die Verschiedenheit des Ich, die doch sein Identisdi-Sein nicht aufhebt, ist nichts anderes als seine Zeitlichkeit und deswegen ist Reflexion als innerste Vermöglichkeit des Idi Enthüllung seines Ur-Seins als Zeitlich-Sein." 3 Was die Reflexion aber erfaßt, setzt sie nicht als seiend4; das worauf ich reflektiere, finde ich immer schon vor. „Selbstwahrnehmung ist eine Reflexion und setzt ihrem Wesen nach voraus ein unreflektiertes Bewußtsein" 5 , d. h. ein 1 2 3 4 5

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 23, S. 80. E. Husserl: Ideen I, S. 103. G. Brand: Welt, Idi und Zelt, S. 68. E. Husserl: Ideen II, S. 102. E. Husserl: Ideen II, S. 248.

24

Ich und Zeit

nie gegenständliches, sondern immer nur gegenständlichendes Bewußtsein; oder wie Brand sagt: „Auf mich selbst zurückkommen kann ich nur, weil ich immer schon im voraus bin." 6 Wir sprechen von einem Ich, das ich jetzt, aktuell bin und von einem Idi, das ich soeben war. Beide sind identisch durch eine Wesenseigentümlichkeit, die ihnen zugeschrieben wird, die Zeitlichkeit. Die Frage, was unter Zeitlichkeit und unter Zeitbewußtsein zu verstehen ist, rückt damit in den Vordergrund, wenn wir bestrebt sind, auf das ursprünglich aktuell fungierende Ich und seine Seinsweise zurückzugehen.

2. Die Zeitlichkeit als strömende W a h r n e h m u n g s g e g e n w a r t „Die Wesenseigenschaft, die der Titel Zeitlichkeit für Erlebnisse überhaupt ausdrückt, bezeichnet nidit nur ein allgemein zu jedem einzelnen Erlebnis Gehöriges, sondern eine Erlebnisse mit Erlebnissen verbindende notwendige Form." 7 Erlebnis und Erlebnis bindet sich nicht nur aneinander, sondern ordnet sich ein in ein Kontinuum, in einen einzigen endlosen „Erlebnisstrom" 7 . Jedes einzelne Erlebnis hat eine Dauer, es kann anfangen und enden, es konstituiert sich im Bewußtsein als ein Glied innerhalb der einen phaenomenologischen Zeit. Wenn ich meinen Blick auf die temporale Gegebenheitsweise richte und feststelle, daß ein Erlebnis seine Dauer hat, so besagt das, daß es sich in einem kontinuierlichen Fluß von Gegebenheitsmodi als Einheitliches erweist. Ich kann auf den jeweiligen Modus des „Jetzt" achten und sehe ein, „daß an dieses Jetzt, und prinzipiell an jedes, in notwendiger Kontinuität sich ein neues und stetig neues anschließt, daß in eins damit jedes aktuelle Jetzt sich wandelt in ein Soeben, das Soeben abermals und kontinuierlich in immer neue Soeben von Soeben usw." 8 Am Beispiel der Tonwahrnehmung hat Husserl diesen Sachverhalt erläutert 9 : — Wenn ich sage: ,idi höre eine Melodie', so muß ich meine Aussage bei genauerer Betrachtung korrigieren und feststellen: Ich höre nicht eine Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton; wenn er vorbei ist, höre ich den zweiten und den ersten nicht mehr. Das abgelaufene Stück der Melodie ist aber gegenständlich für mich da in der Erinnerung und das nodi nicht gehörte Stück setze ich voraus in der vorblickenden Erwartung. Der gleiche Sachverhalt ergibt sich für den einzelnen Ton: beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen

8

Vgl. Vgl. 8 Vgl. • Vgl. 7

G. Brand: Welt, Idi und Zeit, S. 68. E. Husserl: Ideen I, S. 198. E. Husserl: Ideen I, S. 199. E. Husserl: Zur Phaenomenologie des inneren Zeitbewußtseins.

Die Retention und der Vergangenheitshorizont

25

als immer neues jetzt und das jeweilig Vorangehende wandelt sich in ein immer ferneres Vergangenes 10 . Mein originäres Wahrnehmungsbewußtsein vom Ton läßt sich nicht einengen auf ein abstraktes Jetzt im Sinne eines objektiven, physikalischen Zeitbegriffs. „Das originäre Gegenwärtighaben enthält vielmehr von vornherein und unaufhebbar ein gerade-noch-Gegenwärtighaben des gleichsam verströmenden Tones und ein Schon-Gewärtigen des gewissermaßen heranströmenden Tones." 11 — Ein Jetzt als Momentanwahrnehmung ist phaenomenologisdi nicht fixierbar; als Grenzbegriff größter Bewußtseinsnähe zwischen dem gerade-kommenden und schon-wieder-entgleitenden Ton kann es trotzdem in Gebrauch genommen werden. Aus der konkreten Gegenwart mit entgleitendem Ton (Retention) und heranströmendem Ton (Protention) kann somit abstraktiv ein Kern eigentlicher Gegenwart, den Husserl .Urimpression' oder .Quellpunkt' 12 nennt, herausgehoben werden, aber nur abstraktiv, denn die konkrete, lebendige Gegenwart ist strukturell nur als Einheit denkbar, als „strömende Gegenwärtigung des originär Wahrgenommenen in seinem Strömen" 13 . Wenn wir die Urimpression oder aktuellste Wahrnehmungsnähe im Wissen zu fassen und festzuhalten suchen, machen wir die Erfahrung, die wir früher mit,Spaltung des Ich' umschrieben haben: jede Form aktuellen intentionalen Lebens, die das Idi sidi reflektierend vor den Blick bringen will, entgleitet dem reflektierenden Zugriff aus der aktuellen Bewußtseinsnähe in die Vergangenheit. Die phaenomenologische Reflexion, die bemüht ist, ihr eigenes welterfahrendes Fungieren zu fixieren, entdeckt zunächst die Notwendigkeit des unaufhaltsamen Entschwindens dieses urtümlichen Fungierens und die Unfixierbarkeit der urimpressionalen Phase. In positiver Formulierung entdeckt das reflektierende Ich das urtümliche Strömen. Gerade weil das urtümliche Präsente nicht als bleibend, sondern immer nur als ursprüngliches Entgleiten bewußt sein kann, wird das Entgleiten notwendig miterlebt. „Dieses Mitbewußthaben des gerade-noch-Urpräsenten in seinem Entströmen" 14 wird mit dem Begriff ,Retention' umschrieben.

3. Die Retention und der Vergangenheitshorizont Retention besagt gleichzeitig mehr, als mit dem Mitbewußthaben des gerade noch originär Bewußten ausgedrückt wird. Es genügt nicht festzustellen, daß sich an jedes ,Jetzt', an jede Urimpression ein Nochbewußthaben an10 11 12 13

14

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. Husserl: Zeitbewußtsein, S. 23. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 18. E. Husserl: Zeitbewußtsein. Ms transcr. C 5, Bl. 9. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 19.

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 24.

26

Ich und Zeit

schließt, als ob jedes Jetzt mit seiner Retention ein isoliertes Vorkommnis wäre; vielmehr muß von einer retentionalen Reihe gesprochen werden. „ I n dem immer ein neues Jetzt auftritt, wandelt sich das Jetzt in ein Vergangen, und dabei rückt die ganze Ablaufkontinuität der Vergangenheiten des vorangegangenen Punktes .herunter', gleichmäßig in die Tiefe der Vergangenheiten." 1 5 Die Urimpression verfließt, ihr schließt sich eine neue Urimpression an, die ihrerseits in Retention übergeht. Die erste Retention erfährt dadurch eine neue retentionale Modifikation; sie ist jetzt nicht mehr unmittelbar ,noch bewußt', sondern modifiziert, „mittelbar, nämlich durch die nachquellende Retention der neuen Urimpression hindurch bewußt. Eine Mittelbarkeit dritten Grades erwächst aus der Modifikation der nächstquellenden Urimpression in Retention, u s w . . . . Jedes retentional Behaltene wird durch die neueste urimpressional-retentionale ,Bewußtseinseinheit' kontinuierlich weiter in den ,Bewußtseinshintergrund' gedrängt und bleibt doch im Gegenwärtigungsganzen durchscheinend nochgegenwärtig" 1 6 . D a s Nochgegenwärtighaben ist nicht in jedem Moment von derselben Intensität. D a s unmittelbar Retinierte, das dem aktuellen Jetztpunkt a m nächsten liegt, ist am klarsten, das mittelbar retinierte mit absteigender Klarheit bewußt 1 7 . Diese Klarheit des Nochgegenwärtighabens hat schließlich eine Grenze, jenseits derer eine Vergangenheit liegt, die erst durch eine ausdrückliche Erinnerung zurückgerufen werden kann. Es scheiden sich demnadi zwei verschiedene Begriffe von Vergangenem oder Erinnertem, d. h. es zeigt sich, daß die Retention von der Vergangenheit im eigentlichen Sinn wesensmäßig verschieden ist, denn sie gehört, wie wir gesehen haben, bewußtseinsmäßig dem Präsenzfeld an. Die Erinnerung vergegenwärtigt ein Vergangenes, dem eine aufmerkende Zuwendung zuteil werden muß, damit es als Objekt wieder im lebendigen Präsenzfeld erscheint. Retention ist keine solche Vergegenwärtigung; in der lebendigen Gegenwart, im Gegenwärtigen, bin ich dem retentional Entgleitenden nicht zugewendet; zugewendet bin ich dem J e t z t ' bewußten, während die Retention ein ungegenständliches, unthematisches Mitbewußtsein ist, d a s keine Gegenwärtigung oder Vergegenwärtigung ist, sondern um mit Brand zu sprechen: „ein zum Gegenwärtigen gehöriges Ent-Gegenwärtigen" 1 8 , „ein Bezug sui generis" 1 9 , wie H e l d sagt. Durch diesen Bezug wird ein Einheitsbewußtsein bezüglich des Wahrnehmungsgegenstandes gestiftet. Durch das kontinuierliche Fließen des aktuell, ,jetzt' Bewußten hindurch ist die Gegenständlichkeit als eine einzige einheit-

15 16 17 18 19

Vgl. E. Husserl: Zeitbewußtsein, S. 28. Vgl. K . Held: Lebendige Gegenwart, S. 25. Vgl. E. Husserl: Zeitbewußtsein, S. 26. Vgl. G. Brand: Welt, Ich und Zeit, S. 83. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 24.

Die Retention und der Vergangenheitshorizont

27

lidi bewußt. Es ist dieses Einheitsbewußtsein, das eine Wahrnehmung zur Einheit einer Gegenwärtigung zusammenschließt. Das Noch-Gegenwärtighaben des retentional Entströmenden ist begrenzt und es stellt sich die Frage, wie das jenseits der Grenze Liegende wieder zurückgerufen werden kann, wie es möglich ist, daß ein einzelnes Erlebnis als einheitliches und individuelles wieder zurückgerufen, erinnert werden kann. Seine Individualität verdankt ein Wahrnehmungsgegenstand seinem Durchgang durch die Jetzt-Phase und durch das Präsenzfeld. — In der lebendigen Wahrnehmung kann in einem doppelten Sinn von Jetzthaftem gesprochen werden: Jetzt heißt, wie bereits erwähnt, die bleibende Form der sich stetig erneuernden Urimpression, der Aktualitätsmittelpunkt, der als Form ständig bleibt, durch den der Inhalt der Präsentation heranströmendverströmend ,hindurdifließt'. Von dieser stehenden Form können die mit der Urimpression mitwandernden ,Jetzte' unterschieden werden: jeder bestimmten, einmaligen Urimpression wird in ihrem Durchgang durch den Aktualitätsmittelpunkt eine ,Jetztstelle' zugewiesen, die zusammen mit der Urimpression in Retention übergeht und mit ihr immer weiter in die Vergangenheit rückt. Jede Gegenwart als einmalig auftretende ist von jeder andern unterschieden; das bedeutet, daß jedes gegenwärtig Begegnende in seinem Durchgang durch das stehende Jetzt eine unverwechselbar, individuelle Zeitstelle zugewiesen bekommt 20 . Der individuellen Zeitstelle verdankt ein Wahrnehmungsgegenstand ursprünglich seine Individualität. Dabei ist sowohl die Formbeständigkeit wie auch die Kontinuität des Jetzt von maßgebender Bedeutung, denn nicht das abstraktive Jetzt* allein, sondern erst die jübergangssynthetische* Einheit von momentan Gegenwärtigem und Soebenwahrgenommenem verbürgt die Wiedererweckbarkeit des Wahrnehmungsgegenstandes als einheitlichen. Der Durchgang durch die stehende Jetztform begründet die Individualität eines Gegenstandes, die Kontinuität im Wandel von Urimpression in Retention seine Identität. „Mit der Prägung des Gegenwärtigen durch das „individualisierende Moment der ursprünglichen Zeitimpression" 21 und durch die ursynthetische Deckung des Gegenwärtigen im Präsenzfeld beginnt demnach die Urkonstitution eines Wahrnehmungsdinges; es wird der Grund dafür gelegt, daß mir dieses Ding überhaupt als ,eines und selbes' und als ,dieses und kein anderes' begegnen kann." 22 Der genetische Ursprung der Wahrnehmungswelt liegt wesenhaft im Gezeitigtwerden. — Die Zeitigung eines Gegenstandes hat zwei Nachwirkungen; wenn er die Grenze des Noch-Gegenwärtighabens überschritten hat, kann er auf zwei verschiedene Weisen wieder bewußt werden: zusam20

21 22

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 30. Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 467 f. Vgl. E. Husserl: Zeitbewußtsein, S. 57. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 32.

28

Ich und Zeit

men mit der ursprünglichen Erfahrung oder Urkonstitution eines Gegenstandes wird die bleibende Erfahrbarkeit dieser und weiterer Gegenständlichkeiten dieses Typus gestiftet. Ohne auf eine Wiedererinnerung angewiesen zu sein, kann derselbe oder ein vergleichbarer Gegenstand wieder aktuell gegenwärtig und d. h. im gleichen Sinn neu erfaßt werden. Es handelt sich um eine ,apperzeptive' Nachwirkung, in der das wie immer schon konstituiert Vorliegende in ähnlicher Weise apperzeptiert wird 23 . Die zweite Nachwirkung drückt sich aus in der Möglichkeit der Wiedererinnerung. Das Vergangene, das schon außerhalb des Präsenzfeldes liegt, das nicht mehr retentional mitbewußt ist, ist für das Ich nicht verloren. Der Prozeß des retentionalen Entgleitens setzt sich fort, nur in einer ,unbewußten' Form. Zeitstelle um Zeitstelle des gegenwärtig Gewesenen lagert sich ab zu einer Stufenfolge, wobei dieses unverrückbar an seine Zeitstelle fixiert bleibt. Das Vergangene „schläft" 24 gleichsam und kann vom vergegenwärtigenden Ich wieder geweckt werden. Die Weckbarkeit beruht auf der retentionalen Reihe: das gerade retentional Entgleitende ist bewußt als eines, dem ein weiter Vergangenes vorherging; dieses Vergangene enthält denselben Hinweis, usw. Die Vergangenheit ist ein zwar schlafender, aber die retentionale Reihe kontinuierlich rückfragbarer und wieder aufweckbarer Horizont.

4. D i e Passivität des Strömens Das Noch-Gegenwärtighaben des retentional Entgleitenden ist begrenzt. Die Grenze des Einheitsbewußtseins, bzw. die Breite des Präsenzfeldes hängt von der Intensität der ichlichen Zuwendung ab. Wenn ein spontanes, aktives Interesse am Gegenstand besteht, ist die ichliche Beteiligung ausgeprägt, im passiven Affiziertsein durch Sinnesreize ist ein Minimum an ichlicher Beteiligung zu erkennen. Dieses Minimum äußert sich darin, daß auch im passivsten Affiziertsein das Begegnende noch zu einer gegenwärtigenden Einheit, zu einer Synthesis im Präsenzfeld zusammengeschlossen wird 25 . Die gegenwärtigende Synthesis beruht auf dem ,Noch-im-Griff-behalten' des retentional Entgleitenden, d. h. auf einer Aktivität in der Passivität 26 . Die Bewegung des Entströmens ist dagegen jedem ichlichen Einfluß entzogen: „sie ist um eine Dimension ,passiver' als das passivste Affiziertsein

25

24 25 28

Vgl. E. Husserl: Formale und transzendentale Logik, S. 279. — ders.: Analysen zur passiven Synthesis, S. 190 f. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 107f. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 27 . Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 120.

Die Proteinion

29

durdi 'Sinnenreize, das — obwohl zumeist,unwillkürlich' ablaufend — doch durch ichliche Tendenzen beeinflußt werden kann." 2 7 Diese ,Urpassivität des Strömens' ist zwar dem ichlichen Einfluß entzogen, und doch noch ichlich .vollzogen'. Den ichlichen ,Vollzug' des Entströmens charakterisiert K. Held als .entgleitenlassen', .entströmenlassen'. Nochim-Griff-behalten und Entströmenlassen dürfen aber nicht als zwei verschiedene Kräfte aufgefaßt werden. Die Retention „ist vielmehr die unauflösliche Einheit des entgleitenlassenden Behaltens, . . . das entgleitenlassende Behalten, eine urpassive und völlig kontinuierlich vollzogene Synthese, von der Husserl daher schon in den Ideen I sagen konnte, daß sie ,nicht als eine aktive und diskrete Synthese zu denken' sei." 29 Das Problem Aktivität — Passivität und Modus des ichlichen Beteiligtseins kann an dieser Stelle noch nicht gelöst werden. Die Frage wird uns hauptsächlich in den Ausführungen über die Gesetze der Genesis beschäftigen.

5. D i e P r o t e n t i o n Die erste Feststellung, die das Ich machen muß, das sich in seinem urtümlichen Fungieren zu fixieren sucht, ist das unaufhaltsame Entströmen des aktuell Gegenwärtigen. Damit ist jedoch erst ein Horizont oder eine Dimension des Präsenzfeldes aufgewiesen. Das Bild des Stromes weist darauf hin, daß dem Entströmen ein ständiges Heranströmen entsprechen muß. Dieses Heranströmende ist auf dieselbe Weise unthematisch mitbewußt wie das Verströmende, es ist protentional bewußt. Die Protention ist wie die Retention kein auslegendes Vorgehen, diesmal in die Zukunft, sondern ein Gewärtigen des gerade Kommenden, das sich fortwährend wandelt in Gegenwärtigen 30 . „Sowohl Retention wie Protention sind eine gewissermaßen ,entgegenwärtigende' Intentionalhabe, ein Halten eines Gegenüber, aber ein. Halten auf Abstand: Retention ist unthematisdies Behalten im Weggleitenlassen, Protention ist unthematisches Vorgreifen auf noch Ferngehaltenes." 31 „Protention ist noch nicht die Zukunft, sondern ist das Künftigsein der lebendigströmenden Gegenwart" 3 2 , es ist das noch-nicht-Gegenwärtige, das als soeben übergehend in urimpressionales Gegenwärtigen originär bewußt ist. Retention und Protention sind strukturähnlich, nämlidi hinsichtlich des 27 28 29 30 31 82

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 28. Vgl. E. Husserl: Ideen I, S. 292. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 28. Vgl. G. Brand: Welt, Ich und Zeit, S. 83 und K. Held, Lebendige Gegenwart, S. 39. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 40, vgl. G. Brand, Welt, Idi und Zeit, S. 84. Vgl. G. Brand: Welt, Ich und Zeit, S. 81.

Ich und Zeit

30

originären Mißtbewußthabens der Horizonte des fungierenden Idi im Jetzt. Sie sind aber verschieden hinsichtlich ihrer Bestimmtheit. Das retentional Behaltene hat zwar ebenfalls seine spezifische Unbekanntheit; es ist nicht ausgelegt, nicht thematisch mitgegenwärtig, wird es aber ausdrücklich vergegenwärtigt, erweist es sich als festgelegt und bekannt. Im Vergleich dazu wird das Erwartete, wenn sich der Blick thematisch darauf richtet, als unbekannt erfahren. — Eine Modifizierung muß allerdings angebracht werden: Die Unbekanntheit ist nur im Grenzfall eine absolute und im Normalfall des welterfahrenden Lebens eine Spielart des immer schon typisch Vorbekannten (der Habe des Ich)33. Dies zeigt sich daran, daß eine ausdrückliche Vor-vergegenwärtigung jederzeit möglich ist; was offen oder unbekannt ist, ist der Grad und die Weise der Erfüllung. Urimpression, Retention und Protention erweisen sich so als einheitliche Zeitsruktur des Ich. Jetzt gegenwärtig bin ich noch, was ich soeben aktuell war und ich bin noch nicht, was ich nächstens sein werden; „aber in diesem,noch nicht'als zukünftiges liegt ein gewisses ,schon', indem ich mich kontinuierlich erfasse, als wie ich sein könnte, und das mich also bestimmt, als wie idi sein kann" 34 . Wie ich sein könnte in meinem Künftigsein, weiß ich, weil ich mein Gewordensein ständig mitbewußt habe, weil ich ein Bewußtsein des Ich-kann habe. „Das Ich im Leben hat immer schon einen Zukunftshorizont... Aber es bleibt doch, daß Vorzeichnung jeder Zukunft von der ursprünglichen Gegenwart, von der erworbenen Vergangenheit her bestimmt ist." 35 Das Ich-kann ist als Erwartung zugleich frei und gebunden. Was ich geworden bin, bestimmt den Horizont meiner zukünftigen Möglichkeiten. Der Horizont meiner künftigen Möglichkeiten ist gleichzeitig, weil er nie einholbar ist, wesensmäßig ein offener. Diese Offenheit bestimmt mich in meinem jetzigen Ich-kann als nie endgültig festgelegt und bestimmt rückwirkend das Vergehende als nie endgültig abgeschlossenes.

6. Die lebendige Idigegenwart, der K o n n e x des Ich mit sich selbst „Wir drücken das auch so aus: das Ich ist in seinem Aktleben, ob es will oder nicht, ist mit sich, wie es war, wie es getan oder unterlassen hatte, in Gemeinschaft, in Konnex. Das kann es, weil das Vergangene nicht bloße Vergangenheit ist und nicht nur Erinnerungsphaenomen in der Gegenwart, sondern als vergangenes Ich zugleich Gegenwart, Gegenwart im Modus der behaltenen Stellungnahmen." 36 Es ist Gegenwart als Horizont von Möglichkeiten, 83 34 35 36

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

K. G. E. E.

Held: Lebendige Gegenwart, S. 42. Brand: Welt, Idi und Zeit, S. 127. Husserl: Ms. transcr. C 13 III, Bl. 11. Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 10.

Die lebendige Idigegenwart, der Konnex des Idi mit sich selbst

31

von Möglichkeiten im Sinne der bleibenden Erfahrbarkeit einmal gestifteter Erlebnistypen. In diesem Sinn ist das Ich als gezeitigtes extendiert in Zeitstrecken und als gegenwärtiges doch identisch verharrend im strömenden Jetzt; es ist strömend identisch; es ist der Identitätspol der eintretenden und vergehenden Stellungnahmen, und in allem Vergehen ist es gegenwärtig bleibend. Wenn das Ich wissen möchte, was in ihm wirklich liegt, muß es demnach seine Vergangenheit auslegen; indem es tätig in die Erinnerung hineingeht, legt es eigentlich seine volle Gegenwart erst aus. „Aber was es ist, ist es aus seinem Tun, aus dem, was es getan hat, es hat sich als Tätiges, in und aus Tätigkeit aufgebaut; sein Jetztsein ist Erwerb seines früheren Tuns, und was es sein will, das entscheidet sich durch sein nunmehriges, es in seinem Sein fortbildendes Tun. So ist das gegenwärtige Ich sich selbst gestaltend und sein vergangenes Sichselbstgestalten in sich tragend." 37 Wenn das Ich von sich selber „affiziert wird", sich selber zum Thema macht, kann es sich betrachten wie alles Zeitliche, als Vergangenes, in einer Zeitstrecke, in seinen Zeitmodi; die Einzigartigkeit meines Ich ergibt aber, daß idi nidit nur etwas für mich bin, sondern ich bin Ich, beschäftigt in der und jener Aktivität bin ich ständig mit mir, als der ich so und so aktiv war, in Konnex. Die vergangene Aktivität ist nicht nur bewußt als vergangen und der Vergangenheitsphase des als aktiv verharrend bewußten Idi zugehörig, sondern sie gehört mir als dem jetzigen Ich noch zu im Modus einer Nochgeltung. Ich bin nicht nur der, der damals diese oder jene Geltung vollzogen hat, sondern ich bin noch in Geltung: „ich bin nur als der ich ichlich geworden bin, meine ichliche aktive Vergangenheit hat mich als Ich gestaltet und jeder neue Akt ergibt mir bleibendes Sein, bereichert mich um neue habituelle Eigenheiten, in denen idi eben jeweils bin" 38 . Das Ich als stehendes, bleibendes, ist zeitlich betrachtet jetzt und dauernd verharrend, immerfort jetzt. Zugleich ist es aktuell in Tätigkeiten stehend, jetzt zeitlich verlaufend und zugleidi im selben Jetzt behaltendes. „Das Idi beerbt sidi selbst und sein Erbe liegt in ihm selbst als sein bleibender ,Charakter', als das, was es jeweils als Ich ist. Das Ich beerbt sich, es leistet jetzt, und seine Leistung als seine Geltung geht in ein neues Jetzt ein, das neue Habitualitäten in ihm niederschlägt. So ist es nicht bloß Pol von Akten, die aktuell im Gange sind, sondern auch im Jetzt Pol der Aktabwandlungen, die als Noch-Geltungen ihm ,einwohnen'." 39 Die Betrachtung des Ich als habituelles hat die Einführung von zwei weiteren Formen des Ich nötig gemacht. Einmal erscheint das Ich als jeweiliges, strömendes, einmal als identisches, verharrendes 40 . Das auf sich selbst reflek37 38 39 40

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. E. E. K.

Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 10. Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 9. Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 9. Held: Lebendige Gegenwart, S. 83 ff.

32

Idi und Zeit

tierende Ich hat sidi einerseits als das gerade entgleitende Funktionszentrum gegenüber, andererseits begegnen ihm auch die vielgestaltigen Funktionsweisen, Aktionen und Affektionen, deren Vollzieher es jeweils gerade war. Funktionszentrum und Funktionsweisen bilden zwar jederzeit eine Einheit, aber als Gegenüber in der Reflexion begegnen sie auf verschiedene Weise. Die Noesen lösen sich ab, wandeln sich immerfort, das Ich als Vollzugspol verharrt als identisches in diesem Wandel. Identität bedeutet hier nicht nur wie für den Gegenstandspol (eines Objekts) Substrat wechselnder Attribute, Einheit eines Dauernden, sondern bedeutet „Identiät des Vollziehers" 41 . Die wechselnden Noesen erhalten bei ihrem Durchgang durch das Präsenzfeld eine unverwechselbare Zeitstelle zugewiesen; dadurch werden sie identifizierbar und reproduzierbar. — Was aber geschieht mit dem Vollzugsich, das als Aktionszentrum jeweils ,mit dabei' war? Wenn ich eine vergangene Noese reproduziere, finde ich an der betreffenden Zeitstelle zugleich das Ich als ,damaliges' Vollzugsich. „ . . . wir finden aber audi verzeitigt das stehende und bleibende Vollzugs-Ich während des Aktes, eben das in jedem Jetzt des Aktes, den wir uns lebendig vergegenwärtigen, der identische Vollzieher ist durch alle für ihn jeweils jetzt geltenden Vollzugsich." „ . . . und so verzeitlicht ich selbst das Vollzugsich." 42 „Es unterliegt in diesem Sinne, weil es sdion im Wandel der einzelnen Noesen mitströmte, einer Mitzeitigung." 43 Die Sedimentierung aller lebendigen Zeitigung erfaßt auch das Ich als Vollzugspol, aber „wir werden ja nicht vergessen: mein Aktvollzug und mein vollziehendes Ich ist vergangen, und doch bin ich nicht vergangen, idi bin noch" 44 . Das Idi ist nicht entweder jeweilig oder verharrend. „Es handelt sich um dasselbe selbstgezeitigte Ich, einmal unter Hinsicht seiner Jeweiligkeit (der genetischen Folge des urgegenwärtigen Strömens), einmal unter dem Hinblick seiner zeitlichen Ständigkeit (der genetischen Folge des urgegenwärtigen ,Stehens') betraditet." 45 Jeweiliges Ich und verharrendes Ich bilden eine Einheit. Diese Einheit verbürgt mir die Gewißheit, daß idi meinen Lebensstrom als meinen, einheitlichen, kontinuierlichen Erlebnisverlauf verstehe und sie verbürgt mir die Möglichkeit, Noesen als meine zu vergegenwärtigen. Ein sich erinnerndes Zurückkommen und damit ein reflektives Identifizieren meines gegenwärtigen mit meinem vergangenen Ich ist nur möglich, weil in jedem Zurückkommen auf vergangene ichliche Funktionen ein mögliches Zurückkommen auf mein damaliges Funktionszentrum implizit liegt. — Stehendes und strömendes, verharrendes und jeweiliges Ich bilden eine Einheit. Einheit hat hier nidit den Sinn des In-sich-Geschlos41 42 4S

44 45

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 10, Bl. 28. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 10, Bl. 27. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 86, vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 9, BL 26. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 10, Bl. 27. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 86.

Die lebendige Idigegenwart, der Konnex des Ich mit sich selbst

33

sen-seins, es ist eine in sich ek-statische Einheit4®; das Ich ist als Einheit zugleich außer sich und immanent, es ist zugleich stehend und strömend, es ist strömende Ständigkeit 47 . „ . . . mein Sein ist im Strömen identisches Sein in verschiedenem Sinn: ich bin stehendes Jetzt im Strömen, — aber in der Ständigkeit des Jetzt, und des Jetzt im Strömen, bin ich derselbe im Wandel des Ich-jetzt in Ich-soeben und im Wandel des Ich-jetzt in Idi-seinwerden." 47 Wir sagten bisher: das Ich kann auf sidi zurückkommen, es kann sich zum Gegenstand machen, es kann auf sidi reflektieren. Ob das Ich sich nun als gerade sdion zeitigendes einer nachgewahrenden Gegenwart, als mitgezeitigt jeweiliges oder verharrendes oder als Substrat von Habitualitäten in den Blick nimmt, immer tritt es als objektiviert, als verzeitlicht auf. In der Reflexion erreiche ich mich nur im Zeitfeld, in dem ich soeben fungiert habe und nur als gezeitigter, d. h. als retentional entgleitender „Gegenstand". In diesem Sinne sagt Husserl: „der in der Reflexion reflektierte Pol ist nicht der lebendige Pol. . . . Aber im Jetztpunkt berühre ich mich als fungierendes Ich in der aktuellen Reflexion, in der anonymen Zeitigung lebend, habe eine andere Zeitigung als reflektives Thema, und beide sind partial in Deckung." 48 Das reflektierende Ich, das auf sein entgleitendes Ich zurückkommt, macht von einem Abstand zu sich selbst Gebrauch 49 . Die Urdistanz, die die Reflexion nicht aufheben kann und die gleichzeitig ihre Voraussetzung ist, entsteht durch das Strömen. Die reflexive Einigung im Berührungspunkt des Jetzt beruht auf der Ständigkeit, in der das Ich in seinem Wandel immer schon mit sich zusammengenommen ist. Immer schon, das heißt: schon ,vor' der Reflexion war es, sich entgleiten lassend und sich zusammennehmend, in sich geeint. „Diese praephaenomenale, praeimmanente Zeitlichkeit konstituiert sidi intentional als Form des zeitkonstituierenden Bewußtseins und in ihm selbst. Der Fluß des immanenten zeitkonstituierenden Bewußtseins i s t nicht nur, sondern so merkwürdig und so verständlich geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses bestehen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein muß." 50 „Wie die retentionale Phase die voranliegende bewußt hat, ohne sie zum Gegenstand zu machen, so ist auch schon das Urdatum bewußt — und zwar in der eigentümlichen Form des ,jetzt* — ohne gegenständlich zu sein. Eben dieses Urbewußtsein ist es, das in die retentionale Modifikation übergeht." 51

48 47 48 40 50 51

Vgl. G. Brand: Welt, Ich und Zeit, S. 79. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 92. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. K III 6, Bl. 104. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 81. Vgl. E. Husserl: Zeitbewußtsein, S. 83. Vgl. E. Husserl: Zeitbewußtsein, S. 119.

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Ich und Zeit

Das Ich steht mit sich in Verbindung, in Konnex, bevor es sich in aktiver reflektiver Synthese erblickt. Die ausdrückliche Reflexion macht deshalb „von einer unausdrücklichen, immer schon vor der Reflexion vollzogenen Selbstgegenwärtigung des letztfungierenden Ich Gebrauch" 52 . In unserer Suche nach einem möglichen Anfang der Selbsterfahrung, in dem es noch kein konstituiertes Selbst als apperzipierbares Gegenüber gibt, scheint es die Frage nach der Selbstgegenwärtigung des letztfungierenden Ich zu sein, die uns der Lösung des Problems näher bringt und die uns in tran-' szendentaler Einstellung vielleicht aufzuweisen vermag, was sich in einem späteren Schritt auf die Empirie der Entwicklungspsychologie übertragen läßt. Dazu muß die Reduktion, die Einklammerung, die es auf dem Weg zum Ich vorzunehmen galt, vertieft werden. Es gilt, den Vergangenheits- und Zukunftshorizont des welterfahrenden Lebens einzuklammern und uns auf den Kern des ,ich bin', ,ich fungiere', ,ich gegenwärtige' zu beschränken 83 . Nach der radikalisierten Reduktion bleibt für den gesuchten Kern des ,ich fungiere' kein anderer Name als ,Gegenwart', eine Gegenwart, die nicht kommt und nicht geht, sondern sich ständig ereignet. Als bleibende ist sie aber nicht starr, sondern ist gerade in ihrer Ständigkeit Zentrum ihres welterfahrenden Lebens. Das ichliche Funktionszentrum kann deshalb in den Begriff ,lebendige Gegenwart' gefaßt werden. Lebendige Gegenwart ist der ,Ort' des Prozesses, in dem die Selbstgegenwärtigung des transzendentalen Ich stattfindet. Den Rückgang auf die lebendige Gegenwart anhand von Husserls Nachlaßmanuskripten zu vollziehen, hat K. Held in seinem gleichnamigen Buch unternommen. Wir werden uns für die entsprechende Untersuchung an seine Ausführungen halten.

52 53

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 81. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 62.

D. DAS RÄTSEL DER LEBENDIGEN GEGENWART

Was wir über die praereflektive selbstgegenwärtigende Gegenwart des letztfungierenden Ich bisher in Erfahrung bringen konnten, f a ß t K . H e l d unter die drei folgenden Punkte zusammen: „Das Ich kann 1. nur deswegen jederzeit auf sich selbst zurückkommen, weil es beständig fortströmt und entströmt und damit entgegenwärtigend urtümlichen Abstand seiner von sich selbst schafft. Es kann sich 2. in der Selbstgegenwart nur deshalb über die Urdistanz hinweg mit sich selbst identifizieren, weil die strömende ,Phasenmannigfaltigkeit' der ichlichen Funktionsgegenwart vorweg schon übergangssynthetisch in der Ständigkeit und beharrenden Identität des Ich geeint ist. Es kann 3. in der Rückwendung nur deshalb seiner ansiditig werden, weil seine Urfunktion Gegenwärtigung, Vorstelligmachen-in-Ichnähe ist." 1 Die radikalisierte Reflexion auf die Seinsweise des fungierenden Idi, die ihrem Wesen nach ein ,Nachgewahren' ist, deckt Gegebenheiten auf, durch die sie selbst genetisch bedingt ist, die ihrer eigenen A k t i v i t ä t .vorhergehen', die sie nicht selbst ins W e r k setzt, sondern nachträglich aufdeckt. D i e drei Hinsichten des einen Rätsels ,lebendige Gegenwart', die die Selbstgegenwärtigung aufdeckt, nämlich das ,Strömen', die ,Selbstidentifikation' und das ,Gegenwartsein' des Ich, hat Held, um den Boden für weitere Analysen zu schaffen, in folgender Weise umformuliert: „1. D e r durch die Reflexion nur enthüllte, aber nicht in Bewegung gesetzte Urwandel, das Strömen der Funktionsgegenwart, soll in Aufnahme des schon bekannten Begriffs ,urpassiv' heißen, weil es jeglicher nachgewahrenden Aktivität zugrunde liegt. 2. Die den urpassiv entstandenen Abstand überbrückende und reflexiv nur nachvollzogene Selbstidentifikation des letztfungierenden Ich soll ,praereflexiv' genannt werden. 3. D i e praereflexive Selbstgegenwärtigung des Ich bringt die Reflexion als Vergegenständlichung und damit Zeitigung des Ichpols ans Licht. I m Unterschied zu der Zeitstellengegenwart, als die das Ich dabei gegeben ist, soll seine Seinsweise in der praereflexiven Selbstgegenwart als ,vor-zeitlich' bezeichnet werden. Denn in dieser Gegenwart spielt sich das Zeitigen ab, das allem Gezeitigtsein vorausliegt." 2

1 2

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 96. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 97.

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Das Rätsel der lebendigen Gegenwart

1. Die Urpassivität des Strömens Daß der urpassive Wandel keine nicht-ichliche Bewegung sein kann, haben wir im Abschnitt C 4 bereits angedeutet. Wenn das transzendentale Ich nicht anders denn als absolutes Funktionszentrum zu verstehen ist, kann das passivste Strömen nur ein ichliches Entströmen-Lassen sein. Husserl hat die Frage der Ichlichkeit des Strömens in verschiedenen Ansätzen und von verschiedenen Gesichtspunkten her zu lösen versucht. Herausgelöst aus dem Gesamtzusammenhang können sich Widersprüche zwischen den einzelnen Aussagen ergeben8. K. Held ist aber der Ansicht, daß sich Husserls Grundabsichten nicht gewandelt haben. In den Untersuchungen zum inneren Zeitbewußtsein stellte Husserl die Passivität des Strömens als ,Vor-Konstitution' dar. Der reflexiven Selbsterfassung gehen strömende vor-gezeitigte Erlebniseinheiten voraus, die erst durch aktive intentionale Auffassung zu seienden gezeitigten Einheiten werden. Später hat Husserl, um Mißverständnissen zu begegnen, betont, daß jedes mir Begegnende, nicht nur das aktiv Apperzipierte, als intentionale Gegebenheit zu verstehen ist, und so stellte er in einem Manuskript 1930 die Frage: „Wie steht es mit dem Strom und seiner passiven Intentionalität, der passiven Zeitigung einer ,Vor'-Zeit und eines Vorseins, eines in dieser Vor-Zeit mit dem Vorzeichen ,vor' zu verstehenden Zusammenseins (,Koexistenz') und Nacheinanderseins . . .?"4 Man kann auch fragen: Wie steht es mit der ichlichen Beteiligung an diesem vorzeitlichen Zusammensein? Ichliche Beteiligung bedeutet bisher Erwerben und Bewußthaben von Zeitstellen-Einheiten. Das Strömen der lebendigen Gegenwart aber ist vor dem Fixiertwerden an Zeitstellen. „Passiv besagt also, ((daß)) hier ohne Tun des Ich, mag auch das Ich wach sein und das ist tuendes Ich sein, der Strom geschieht, — der Strom ist nicht aus einem Tun des Ich, als ob es darauf gerichtet wäre, es zu verwirklichen, als ob es sich verwirklichte aus einem Tun." 5 Wie aber kann der Charakter der passiven Vor-Konstitution positiv bestimmt werden? „Die Lösung dieser Schwierigkeiten besteht wohl darin, daß ich, das phaenomenologisierende transzendentale Ich, das strömende ständige Leben thematisierend eben damit aktiv eine eigentümliche Vorz e i g u n g vollziehe, identifizierend, indem ich die retentionale Abwandlung nicht nur erlebe, sondern in ihr Erfassen, Behalten im ichlichen Sinne übe und von da aus die Apperzeption als seiendes, wiederholbar Identifizierbares vollziehe. In nachkommender reflektiver Aktvität weiter vergegenständlichend sehe ich und sage ich: zum Wesen des Erlebnisstromes, der in sich keine eigentliche Zeitigung vollzieht und keine entsprechende 3 4 s

Vgl. A. Diemer: E. Husserl, Versuch einer systematischen Darstellung. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 17 IV, Bl. 1. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 17 IV, Bl. 1.

Die Urpassivität des Strömens

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Bewußtseinsleistung ist, gehört meine ständige Vermöglichkeit, ihm Intentionalität sozusagen einzuflößen. Aber die wirkliche Zeitigung ist nun nicht die des Stromes, sondern meine des transzendental phaenomenologisierenden Ich." 6 „Nach den späteren Klärungen (1932) bin ich zur Überzeugung gekommen, daß es nicht zweierlei Intentionalität im eigentlichen Sinne gibt und somit im eigentlichen Sinne keine Vor-Zeitigung. Die wirkliche Zeitigung, die in der evidenten zeitlichen Gegebenheitsweise des Stromes der Erlebnisse vorausgesetzt und getätigt ist, ist die des transzendental-phaenomenologisierenden Ich. Indem es sie ursprünglich tätigt, hat es die Evidenz der Erlebniszeitlichkeit und so ist es apodiktische Wahrheit. Zeitlichkeit ist eben in jeder Weise Ichleistung, ursprüngliche oder erworbene." 7 Die Lösung, die Husserl hier anbietet, besteht wiederum nicht in einer positiven Bestimmung, sondern im Erweis, daß eine Vorkonstitution als nicht zeitliche Form gedacht werden muß. Das Erleben der retentionalen Wandlung vor dem Erfassen und Behalten im ichlichen Sinne, d. h. vor dem Vollzug der aufweisbaren Selbstzeitigung, ermöglicht erst die ständige Reflektierbarkeit des Erlebnisstromes, ermöglicht es, ihm Intentionalität, d. h. hier aktives Erfaßtwerden einzuflößen. N u r die aktive reflexive Selbstzeitigung als eigentliche ist aufweisbare Zeitigung, d. h. es gibt nicht zweierlei Zeitigungen. Wenn der transzendentale Lebensstrom als aus reflexiver Aktivität gezeitigter angesehen wird, wüßte sich diese Aktivität selbst schon als zeitlich ablaufend und würde so ihrerseits eine konstituierende reflexive Aktivität verlangen, in der sie gezeitigt wäre, usw., d. h. es entsteht ein unendlicher Regress. „Man darf nur dieses Urbewußtsein, diese Urauffassung, oder wie man es sonst nennen will, nicht als einen auffassenden Akt mißverstehen. Abgesehen davon, daß es eine evident falsche Beschreibung der Sachlage wäre, würde man sich dadurch in unauflösbare Schwierigkeiten verwickeln. Sagt man: jeder Inhalt kommt nur zum Bewußtsein durch einen darauf gerichteten Auffassungsakt, so erhebt sich sofort die Frage nach dem Bewußtsein, in dem dieser Auffassungsakt, der doch selbst ein Inhalt ist, bewußt wird, und der unendliche Regreß ist unvermeidlich. Ist aber jeder Inhalt in sich selbst und notwendig ,urbewußt', so wird die Frage nach einem, weiter gebenden Bewußtsein sinnlos." 8 Die radikalisierte Rüdefrage nach dem letztfungierenden Ich erbringt also die Einsicht, daß die Bewegung des Strömens nicht von einer ithlichen Aktivität her und die Phasenmannigfaltigkeit nicht als eine gezeitigte Stellenabfolge zu denken ist, sie erbringt aber auch die Einsicht, daß „Aktivität überhaupt als solche ihre ,Voraussetzungen' hat, Bedingungen ihrer Möglichkeit', die nicht selbst durch Aktivität entspringen" 9 . Im urpassiven Strö• Vgl. Vgl. Vgl. 9 Vgl. 7

8

E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 4. E. Husserl: Ms. transcr. C 17 IV, Bl. 5. E. Husserl: Zeitbewußtsein, S. 119. E. Husserl: Ms. transcr. C 2 1, Bl. 7.

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Das Rätsel der lebendigen Gegenwar:

menlassen „zeitigt sich ein absolut anonymer Seinssinn, der nicht sdion geprägter ist, vielmehr erst durch meine Prägung als phaenomenologisdi forschender die Gestalt eines eigentlichen Seinssinnes hat, während er doch in apodiktischer Rückfrage ,hinterher' aufgewiesen, die apodiktische Seinsgeltung hat von einem, was schon war und konstituierend fungierte und doch nicht ,vorgegeben', nicht geprägt, nicht explikabel war" 10 . Als Vor-Sein ist das urtümliche Strömen unerfahrbar, soweit es aber reflexiv aufweisbar ist, ist es ontifiziert. Was das Strömen aber vor seiner Ontifikation i s t , darf nicht gefragt werden, da dadurch implizit das Strömen als ein Seiendes angesprochen wird, d. h. als Zeitliches verstanden wird. In phaenomenologischer Reflexion bleibt die Urpassivität des Strömens, zugleich die Frage nach dem letztfungierenden Ich in seinem Entströmenlassen des Lebensstromes rätselhaft und notwendig inhaltsleer, denn inhaltsvolle, positive Aussagen haben zeitliche Gegenständlichkeiten zum Thema.

2. Die praereflexive Synthesis Eine Loslösung der Beschreibung von der Sprache der Reflexion erweist sich auch hier als die zentrale Schwierigkeit. Daß die phaenomenologische Beschreibung des Wesens der praereflexiven Synthesis, die nicht anders als mittels aktiver Selbstgegenwärtigung bekannt werden kann, gewisse Grenzen nicht überschreiten kann, zeigen Husserls eigene Überlegungen: „Ich bin ständig fungierend und durch all mein Fungieren in bezug auf das Fungieren dasselbe Ich, das Ich, das jede Leistung behält, — nur ständig in Selbstzeitigung und ontischer Zeitigung lebend, — ((und das)) ständig urformende Ich ist im Strömen der Funktionen, die als entströmende abgewandelte Funktionen sind und noch lebendige Funktionen. Das ständige Ich ((ist)) ständig Urquelle, identisch nicht durch ein Identifizieren, sondern als ureinig sein, seiend im urtümlichen Vor-sein.. ." 11 „In gewisser Weise kann alles Zeitliche thematisch werden in der Weise der Betrachtung, als Gegenwärtiges, als Vergangenes, in einer Zeitstredce, in seinen Zeitmodis; aber ich bin nicht nur .etwas' für mich, sondern idi bin ich, — als Ich bin idi affiziert, mich zuwendend, beschäftigt in der oder jener Aktivität, bin ich in einer Weise ständig mit mir in Konnex, mit mir, der ich so und so aktiv war." 12 Die Ausdrücke ,ich bin Ich', .identisch... als ureinig sein' bezeichnen offensichtlich die Praereflexivität des Ich, die weiteren Überlegungen im zitierten Manuskript gehen aber sogleidi über zum Ich der Habitualitäten, das selbst schon gezeitigtes Ich ist. 10 u 12

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 4, Bl. 59. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 5. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 8.

Die praereflexive Synthesis

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Das Ureinigsein wird im Zitat gleichgesetzt mit dem ständigen Ich, das ständig Urquelle ist. „Diese Ständigkeit läßt sich als das Resultat der immer schon vollzogenen Zusammennahmen des Ich mit sich selbst zu einem stehend Identischen bezeichnen. Hier wird deutlich, daß sich die weitere Erörterung der rätselhaften Seinsart des Ich an seine Ständigkeit zu halten hat." 13 Phaenomenologisch wird die Ständigkeit durdi die Iteration der Reflexion aufgewiesen; sie besteht in dem Horizontbewußtsein von Retention und Protention, das ermöglicht, daß ich in beliebigen Wiederholungen dieses Aktes immer nur mich, als den identischen Pol meines Fungierens antreffen werde. Darüber hinaus führt aber die Iteration der Reflexion darauf, daß jedem auffassenden Bewußtsein notwendig ein ,Urbewußtsein' vorangehen muß. Was die Reflexion erfaßt, setzt sie nicht als seiend. „Die Reflexion hat das .merkwürdig' Eigene, daß das in ihr wahrnehmungsmäßig Erfaßte sich prinzipiell charakterisiert als etwas, das nicht nur ist und innerhalb des wahrnehmenden Blickes dauert, sondern schon war, ehe dieser Blick sich ihm zuwendete. ,Alle Erlebnisse sind bewußt', das sagt also speziell hinsichtlich der intentionalen Erlebnisse, sie sind nicht nur Bewußtsein von etwas und als das nicht nur vorhanden, wenn sie selbst Objekte eines reflektierenden Bewußtseins sind, sondern sie sind schon unreflektiert als H i n t e r grund' da und somit prinzipiell wahrnehmungsbereit in einem zunächst analogen Sinne, wie unbeachtete Dinge in unserem äußeren Blickfeld." 14 Wenn ich also das Ich, wie andere Zeitobjekte, erfassen will, so sehe idi ein, daß ich ein .konstitutives Bewußtsein' der zu erfassenden Gegenständlichkeit schon besaß. „Ich sehe, daß das sozusagen in der Naivität der Idilosigkeit dahinströmende Leben nur des Ich nicht bewußt war, aber daß das Ich da war. Insbesondere sehe ich, daß das Leben sich nicht erschöpft im wachen Leben in der Form des eigentlichen ,Ich denke', sondern daß es so etwas wie Hintergrundphaenomene gibt, die doch nicht ichlos im wahren Sinne sind. . . . in allen Reflexionen ist das Ich gegenständlich — und zugleich ist immer das Ich da, das nicht gegenständlich ist. Dieses Nichtgegenständlich-sein sagt nur Nicht-aufgemerkt-, nicht Erfaßt-sein. Das jeweilig ,nicht gegenständliche' Ich ist doch, wie die nachkommende Reflexion und Erfassung lehrt ,da', ist Lebenssubjekt." 16 Das Ich, das reflektiv erfaßt wird, ist immer schon ,Hintergrundphaenomen', ist horizonthaft mitbewußt, ist ,da'. Die Praereflexivität der lebendigen Gegenwart ist damit noch nicht aufgeklärt. Das praereflexive Ureinigsein erwies sich bisher als die Ständigkeit des Ich im Strömen. Sobald man aber versucht, die Ständigkeit auszulegen, hat man es mit zeitlichen Gegenständlichkeiten zu tun, die immer schon in einem Zeithorizont mitbewußt waren. 13 14 15

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 107. Vgl. E. Husserl: Ideen I, S. 104. Vgl. E. Husserl: Erste Philosophie, Zweiter Teil, S. 412.

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Das Rätsel der lebendigen Gegenwart

3. Die Vor-Zeitliclikeit der lebendigen Gegenwart Die Ständigkeit des letztfungierenden Idi könnte dann verständlich gemacht werden, „wenn die Funktionsgegenwart, als welche das Ich praereflexiv seiner selbst inne ist, in der Reflexion wirklich als genetisch ,vor' aller gezeitigten Gegenwart liegend sichtbar werden könnte. D. h. wenn erfahren werden könnte, was die Ichgegenwart als erstmals zeitigende ,außerhalb' der in ihr erst entspringenden Zeitlichkeit ist" 16 . Jede reflektiv in den Blick genommene Gegenwart kann nicht anders als ein Zeitstück verstanden werden, und es muß nach der Zeitigung gefragt werden, die ihr genetisch vorhergeht. Diese vorhergehende Zeitigung vollzieht sich wiederum in einer Funktionsgegenwart, für die dasselbe gilt. Die phaenomenologische Reflexion scheint das angestrebte Ziel nie erreichen zu können, denn „gegenständlich geworden, wahrgenommen, wie überhaupt zum Zielpunkt (Gegenpol) eines vom Ich her, vom Ichpol her darauf gerichteten Aktes gewordene Gegenwart ist gegenständlich in einem Bewußtsein, einem Akt, der selber nicht gegenständlich bewußt ist. Was wir also als letztlich Seiendes, als Urseiendes in Anspruch nehmen unter dem Titel .urphaenomenale Gegenwart' ist gerade dadurch, daß es für uns ,Phaenomen' ist, nicht das Letzte" 17 . „Die verstehende Aufklärung dieser Tatsache bereitet außerordentliche Schwierigkeiten. Aber wie immer, — sie ist, und sogar apodiktisch evident und bezeichnet eine Seite des wundersamen Für-sich-selbst-seins des ego, nämlich hier zunächst des Seins des Bewußtseinslebens in Form des Auf-sich-selbstintentional-zurückbezogen-seins."18 Mein ,wundersames' Für-mich-selbst-sein ist zwar ein Rätsel, aber meine Reflexion und meine Reflexion auf Reflexionen bestätigt mir immer wieder, daß es ein Urphaenomen der lebendigen Gegenwart gibt, das ich als ,Tatsache' hinzunehmen habe. Der Gehalt der Vor-Zeitlichkeit aber entzieht sich der unendlich iterierbaren Reflexion, weil Reflektierbarkeit gleich Zeitlichkeit ist. 4. Die Anonymität der lebendigen Gegenwart Die Reflexion verweist auf eine strömende Urbewegung, auf ein vorsynthetisches Ureinigsein und auf eine vor-zeitliche Gegenwart, die man als Tatsache hinnehmen muß. „Wie kann es, ist nun zu fragen, innerhalb der phaenomenologischen Reflexion überhaupt zu einer derart unphaenomenologischen Vermutung oder Behauptung kommen. Wie kommt es, genauer gesagt, daß " Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 119. " Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 2 I, Bl. 14. 18 Vgl. E. Husserl: Cartesianisdie Mediationen, S. 81.

Die Anonymität der lebendigen Gegenwart

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1. die reflektierende nachgewahrende Aktivität in sich auf ein uneinholbar vorvollzogenes, urpassives Strömen verweist? Woran liegt es, 2. daß die Reflexion, der phaenomenologisch einzig gangbare Weg ausweisbarer Selbsterfahrung und -erfassung, notwendigerweise den Gedanken einer praereflexiven, immer schon bestätigten Selbstgewahrung, eines ungegenständlichen Selbst-Inneseins aufkommen läßt? Wie kommt es, 3. daß die Reflexion die bestenfalls die sich gerade zeitigende, aber damit auch schon gezeitigte immanente Zeitstellengegenwart im Nachvollzug der Selbstgegenwärtigung siditbar machen kann, die ichliche Funktionsgegenwart als vor-zeitig ansprechen muß." 19 Alle drei Hinsichten bezeichnen die ichliche Funktionsgegenwart als ursprünglicher als die letztmögliche Reflexion, d. h. die reflexive Selbstgegenwärtigung weiß sich selbst als etwas Nachträgliches, sie weiß sich als Nadigewahrung dieses Urgeschehnisses. Die Frage lautet nun: wie weiß die reflexive Selbstgegenwärtigung, daß sie etwas Nachträgliches* ist? — Das reflektierende Ich zielt darauf ab, sich selber zu ,schauen und zu fassen' und den Abstand zwischen gewahrendem und gewahrtem Ich zu überwinden. „Doch schon in dieser Absicht des Sehenwollens ist der Abstand von Sehendem und Gesehenem vorausgesetzt; denn abstandsloses Sehen ist Wiedersinn. Sehen ist gleichsam auf die Helle der Distanz angewiesen; aber Distanz ist auch schon die erste Entfernung des Sichtbaren." 20 Das Ich weiß, daß es in der Reflexion sich selbst erfassen kann, aber nur eine soeben vergangene ,Phase' seines Fungierens zu fassen bekommt. Mit andern Worten: das nunmehr Letzte der Reflexion ist die Einsicht: Ich kann midi selbst nicht erblicken und erfassen, weil ich selbst das Entquellen meines Fungierens, — weil ich der erfassende Blick selbst bin. Husserl sagt in diesem Sinn: das Ich bleibt sich anonym. Diese Anonymität ist unaufhebbar, denn jede Reflexion, die sie aufheben wollte, spielt sich selber in dieser Urgegenwart ab. Die Einsicht, daß das letztfungierende Ich anonym sein muß, wird durch Reflexion auf Reflexion gewonnen: „ . . . der in der Reflexion reflektierte Pol ist nicht der lebendige Pol, aber in der entsprechenden Reflexion als anonymer, als fungierender aufweisbar." 21 Die aktuelle Funktionsgegenwart, die ungewahrte Selbstgegebenheit wird durch die nachkommende Reflexion erkannt und immer wieder aufgewiesen und bestätigt. „Die Anonymität des Urphaenomens ist somit selbst nodi etwas Gewußtes." 22 Darüber hinaus kann aber die Reflexion keine weitern 18 20 21 12

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 119. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 120. E. Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 2. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 122.

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Das Rätsel der lebendigen Gegenwart

Aussagen machen. Es liegt in ihrem Wesen, daß sie das Urphaenomen nicht fassen kann. Das Urphaenomen liegt in einem Bereich, der sich der reflexiven Ausweisbarkeit entzieht.

E. MÖGLICHKEITEN EINES RÜCKGANGS AUF DIE UNGEGENSTÄNDLICHE SELBSTGEGENWART

Daß es ein Urphaenomen, ein ursprüngliches Bei-sich-selber-sein, eine ursprüngliche immer schon vollzogene Selbstgegenwart gibt, führt uns die Reflexion unabweislidi vor Augen. Gleichzeitig aber erweist sidb hier, daß die phaenomenologische Methode der transzendentalen Selbstbesinnung gewisse Grenzen nicht überschreiten kann, d. h. daß sie das ,Was' und ,Wie' des Urphaenomens, seine faktische Realität, nicht beschreiben kann. Somit erhebt sidi die Frage, ob überhaupt und auf welche Weise weitergefragt werden kann, denn gerade diese .geheimnisvolle Evidenz' 1 , die Sicherheit des Wissens um das ,Urphaenomen', läßt die Frage umso dringlicher

erscheinen. Zwei Versuche, eine Antwort auf diese Frage zu geben, genden zur Darstellung kommen: 1. Die Analogie mit der Fremderfahrung, die zum Begriff gemeinschaftung' führt (Klaus Held). 2. Die fundamental-ontologische Fragestellung nach der Seinsweise des Menschen, die zum Begriff des ,Selbstseins' Keller).

sollen im Folder .Selbstvergrundsätzlichen führt (Wilhelm

Es handelt sich zweifellos um zwei ganz verschiedene Ansätze und Fragestellungen, und unser Anliegen besteht nicht darin, sie ,auf einen Nenner zu bringen'; vielmehr geht es darum zu zeigen, wie in einem ersten Schritt in konsequenter Fortführung von Husserls Denken weitergefragt und in einem zweiten Schritt darüber hinaus gefragt werden kann. In welchem Sinn sich zwischen der ersten und der zweiten Fragestellung ein Übergang herstellen läßt, wird zu zeigen sein.

1. Die Selbstvergemeinschaftung als Seinsweise des transzendentalen Ich K. Held hat den Versuch unternommen, einen Weg der Weiterführung zu beschreiten, der selber nodi phaenomenologisch motiviert ist, der aber auf die reflexive Ausweisbarkeit und Anschaulichkeit verzichtet. Er baut auf 1

Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 51.

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Rückgang auf die ungegenständlidie Selbstgegenwart

dem bisher Gesagten in der Weise auf, daß er in einem ersten Schritt für die gewonnenen Aussagen eine Vereinigung sucht, die es vielleicht möglich macht, eine neue und positive Einsicht in das Wesen des letztfungierenden Ich zu gewinnen. a) Das allzeitliche ,nurtc stans' Auf dem methodischen Weg der eidetischen Variation lassen sich reine Allgemeinheiten, von allen Fakten freie Wesensformen gewinnen. Die von Fakten freie, d. h. über-zeitlidie Wesensform des ,Ich fungiere' heißt bei Husserl ,nunc stans'. Die Wesensform des ,nunc stans' scheint in der Lage zu sein, die Erfaßbarkeit des ,ich fungiere' von seiner Gebundenheit an Zeitstellen zu befreien und es als vor- oder außer-zeitliches zu fassen. Die bisherigen Aussagen haben gelautet: die Identität des letztfungierenden Ich ist außer-zeitlich, und: das letztfungierende Ich ist in seinem Fungieren unaufhebbar anonym. Die Vereinigung beider Aussagen läßt folgende Schlußfolgerung zu: „Es ist jederzeit reflexiv erfaßbar (Ständigkeit), ohne dadurch auf eine Zeitstelle bzw. Stellenfolge festgelegt zu werden (Anonymität). . . . Es ist ihm außerwesentlich, an einer bestimmten gezeitigten Gegenwart gegeben zu sein, weil es über-zeitlich, un-zeitlich jetzthaft bleibt. Das ,Ich fungiere' in dieser Weise als ,nunc stans' gedacht, hat m. a. W. die Seinsart des ,überall und nirgends' . . ." 2 Die Reflexion überwindet zeitliche Gebundenheit, sie überfliegt die Totalität der ichlichen Gebundenheit und setzt spontan die Identität der adäquat nicht erschaubaren Totalität des ichlichen Lebens. Diese Einheit des Erlebnisstromes wird erfaßt „in der Weise einer Idee im Kantischen Sinne", d. h. sie übersteigt die Grenze aller Erfahrung, ist aber nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben. Das nunc stans als Idee setzt sich spontan über die Zeitgebundenheit des Reflexionsvermögen, das nur in schrittweiser Horizonterweiterung das Verharren der Ichlichkeit entdecken kann, hinweg. Die Gebundenheit an Zeitstellen ist der Grund dafür, daß das Erfahrene nie vollumfänglich präsent ist, sondern sich immer in einen hellen Kernbereich und unthematisch mitgegebene Randbezirke aufgliedert, so daß alles Bewußtwerden ein „Gegenwärtigen-im-Übergang" ist. Der genetische Ursprung dieses Sachverhalts liegt im urpassiven Strömen, das bewirkt, „daß alles begegnenlassende Erfassen in sich zugleich ein Entgleitenlassen ist" 8 . Das letztfungierende erfassende und entgleitenlassende Ich bleibt anonym. Dabei wird deutlich, daß die Unfähigkeit des Ich, sich in seinem akuteilen Fungieren zu fassen (seine Anonymität) und das Sichselbst-entströmen ein und dasselbe sind. — Durch die Ideation des nunc stans überspringt das Ich die Unaufhebbarkeit der Anonymität und macht die Totalität aller Funk2 3

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 124. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S .128.

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tionsgegenwärtigkeit, die für die Reflexion unerreichbar ist, zum Thema. Es sucht die entgleitend-anonyme Gegenwart doch in den Griff zu bekommen und sie aus der Unfaßlichkeit des Strömens zu lösen. Was das Ich in diesem seinem Bemühen in den Griff bekommt, kann allerdings nichts anderes sein als eine ideale und dadurch irreale Einheit, die phaenomenologisdi nicht aufgewiesen werden kann. Vom Standpunkt der Phaenomenologie aus ist es deshalb fraglich, ob ein solches Vorhaben überhaupt sinnvoll ist oder wie der Versuch des Ich, seine Anonymität zu überwinden, motiviert ist. Die anonyme Funktionsgegenwart gelangt, wie wir gesehen haben, immer nur als gezeitigt verharrende oder als allzeitlich .verharrende', nie als ,sie selbst' vor den Blick. Sie bleibt anonym, weil sie dem Blick immer vorausliegt. Die Unbekanntheit des Zukünftigen, die in jedem andern Konstitutionszusammenhang als typische Vorbekanntheit erfahren werden kann, ist am reflektiv protentierten ,Ich fungiere' unaufhebbar. Als mitgezeitigtes ist das Ich typisch vorbekannt wie andere Gegenständlichkeiten, als vorzeitliches jedoch liegt es stets der Urpräsentation voraus, weil es selbst das Entquellen der Präsentation ist. „Das präsentierende Ich drängt aber darauf, Unbekanntes seines Zukunftshorizontes in gegenständliche Impressionalhabe zu verwandeln. So befindet es sich in dauernder Selbstkonstitution. Dies ist der teleologische Prozeß der Vereinheitlichung des intentionalen Lebens selbst; denn Konstitution heißt Zeitigung durch Gegenwärtigung von Einheiten." 4 Die Welt- wie auch die Selbsterfahrung hat demnach als .Streben' nach Vereinheitlichung eine teleologische Struktur. In diesem Sinne kann das Anliegen der Phaenomenologie verstanden werden, wenn sie auf reflexive Gegenwärtigung des ichlichen Fungierens selbst aus ist. „Die radikalisierte Reflexion auf die Urgegenwart des letztfungierenden Ich drängt teleologisch darauf, auch diese ichliche Gegenwart als gegenständliche Einheit vor ihr ,Schauen und Fassen' zu bringen und dadurch die letztmögliche Vereinheitlichung des intentionalen Lebens erfahrbar zu machen. Das Gelingen dieses Vorhabens würde aber die Teleologie selbst, den Motor der Protentionalität, zum Stillstand bringen." 5 Der radikalste Erfahrungsvorstoß des reflektierenden Ich stößt auf ein protentional Gegenwärtiges, das uneinholbar bleiben muß; deshalb macht das Ich unter Gebrauch seiner Freiheit einen letzten Versuch, über den Schatten seines Anonym-Bleibens zu springen. Das rätselhafte ,Ich fungiere' wird jedoch auf diese Weise nicht positiv erfahren, für die phaenomenologische Erfahrung bleibt es ein ,Nichts'. Und doch sagen sowohl die Ideation des allzeitlichen ,nunc stans', wie die Verzeitigung und Mitzeitigung des verharrenden Ich etwas über das Rätsel der Praereflexivität aus: das nunc-stans Bewußtsein überspringt das Strö* Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 132. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 133.

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men, dadurch thematisiert es einseitig die ichlidie Ständigkeit und verstellt so den Weg zu einem vollumfänglichen Verständnis der lebendigen Gegenwart. Die Reflexion auf den gezeitigten Ichpol der Vollzüge und Habitualitäten entdeckt das Strömen und kann die vor-zeitliche ständige Gegenwart nur noch als Zeitstellengegenwärtigkeit erfahren; damit verdeckt sie ebenfalls das volle Wesen der lebendigen Gegenwart. So muß K. Held feststellen: „Die Rätsel der lebendigen Gegenwart bleiben ungelöst, so lange die Einheit von nunc stans und nunc fluens, von Stehen und Strömen, von Bewegung und ruhender Ständigkeit im ,Innern' der lebendigen Funktionsgegenwart nicht gedacht werden kann." 6 Über die Problemlage kann im Sinne Husserls seiner Meinung nach nur so hinausgefragt werden, daß die Methode der transzendentalen Selbstbesinnung beibehalten und vertieft wird. Hingegen muß auf die programmatische Festlegung der Phaenomenologie auf reflexive Ausweisbarkeit verzichtet werden. Vorerst muß festgehalten werden, daß das Weiterfragen nicht auf eine Gegebenheit im Sinne eines zeitlich oder allzeitlich konstituierten Gegenüber abzielen kann. Die Funktionsgegenwart kann nicht wahrgenommen und zum Gegenstand gemacht werden, da das Ich auf Begegnenlassen von Transzendentem angewiesen ist, wenn es überhaupt fungieren will. Die Selbstgewahrung kann den Abstand, der immer wieder aufkommt, nicht endgültig überwinden. Und doch ist das Ich seiner eigenen Gegenwart in einer reflexiv nicht explizierbaren Weise inne. „Es ,weiß um' das ,Da' seines ichlichen Fungierens." 7 Dieses ,Da' ist kein konstituierter Gegenstand, sondern muß als ,Faktum' angesehen werden, das jeder Erfahrung eines irgendwie gezeitigten Gegenstandes vorausgeht. Hinter das letztfungierende Ich kann nicht mehr auf ein konstitutiv ursprünglicheres zurückgegangen werden, z. B. auf ein Eidos, das als Allzeitlichkeit den idealen Umfang aller möglichen noetischen und noematisdien Vorkommnisse umschließt, denn „das Eidos transzendentalen Ich ist undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches" 8 . Das letztfungierende Ich ist der Vollzugsort jeder Konstitution, somit auch der Ideation seines eigenen allzeitlichen Wesens. „Das letztfungierende Ich ist Urfaktum schlechthin, es hat nicht den Charakter des Zufälligen und Singulären gegenüber der absoluten Wesensnotwendigkeit und Allgemeinheit des Eidos, sondern als absoluter Ausgangspunkt allen Fungierens, als apodiktisches Ziel der phaenomenologischen Rückfrage muß es selbst ,absolutes Faktum' genannt werden." 9 „Das Absolute hat in sich selbst seinen Grund ((gemeint ist: und nicht in seinem Wesen)) und in seinem grundlosen Sein seine absolute Notwendigkeit als die eine .absolute Existenz'. Seine Notwendigkeit ist nicht Wesensnotwendigkeit, die ein Zufälli8 7 8 9

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

K. K. E. K.

Held: Lebendige Gegenwart, Held: Lebendige Gegenwart, Husserl: Ms. transcr. E III 9, Held: Lebendige Gegenwart,

S. 135. S. 146. Bl. 73. S. 148.

Selbstvergemeinschaftung als Seinsweise

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ges offen läßt. Alle Wesensnotwendigkeiten sind ((vielmehr)) Momente seines Faktums, sind Weisen seines in bezug auf sich selbst Funktionierens — seine Weisen sich selbst verstehen oder verstehen zu können." 10 b) Die Analogie von Mitgegenwart und

Selbstgegenwart

Die Möglichkeiten zeitlicher und allzeitlicher Erfahrung sind erschöpft. So entsteht wiederum die Frage, auf welche Weise man zu weitern Aussagen über die Funktionsgegenwart des letztfungierenden Ich gelangen kann. K. Held hat einen Weg gefunden, indem er die Funktionsgegenwart des Anderen, wie sie dem Idi zugänglich ist, zum Vergleidi heranzog. Wenn der Andere als gegenständliches Gegenüber, das nur von mir, in meiner lebendigen Gegenwart konstituiert werden kann, aufgefaßt wird, können daraus keine neuen Einsichten resultieren. Wenn sich hingegen die Unbekanntheit des andern ,Ich fungiere' als vergleichbar mit der Anonymität meines eigenen ,Ich fungiere' erweist, läßt sich die Ständigkeit der lebendigen Gegenwart in ihrer Anonymität möglicherweise weiter befragen. Das Ich kann sich dann auf Grund der Transzendenz oder Objektivitation selbst vergegenwärtigen. Der Andere wird nadi Husserls Lehre von der Intersubjektivität zunächst als wahrnehmbare Gegebenheit in der Welt erfahren. Sein ,Inneres' ist nicht wie das meinige in unmittelbarer Reflexion auf den immanenten Lebensstrom zugänglich, sondern nur mittelbar über seinen ,Ausdruck', sein ,Verhalten'. Diese Vergegenwärtigung wird vermittelt durch die gemeinsame konstituierte Welt, die als Vermittlerin sinnvoll nicht weggedacht werden kann, wenn sie auch eine nicht aufhebbare Ferne einschließt. Der Gedanke der unaufhebbaren Ferne läßt einen Vergleich mit der Erinnerung an meine eigene Vergangenheit zu11. „Beide Erfahrungen enthalten originäre Selbstbekundungen von etwas intentional Fernem als unaufhebbar fernem: Ich weiß mich mit dem Andern ,einig', weil er Funktionszentrum ist wie ich; ich weiß mich mit meinem erinnerten Ich einig, weil es gewesene Gegenwart meiner selber ist." 12 Worin gleichen sich Ent-Gegenwärtigung und Ent-fremdung, die auf ganz unterschiedliche Weise eine größere intentionale Nähe ausschließen? Ichliche Vergangenheit verweist auf gewesene lebendige Gegenwart, die sich auf Grund des urimpressionalen Wandels als etwas Einmaliges und unwiederbringlich Gewesenes sedimentierte. Der Seinssinn des anderen verweist auf eine gemeinsam konstituierte Welt, auf eine Welt gezeitigter Gegenstände, die das Ich und der Andere zwischen sich als Medium aufbauen müssen. Versucht das Ich, den Andern ,unmittelbar' zu gewahren, kann es 10 11 12

Vgl. E . Husserl: Cartesianische Meditionen, S. 144. Vgl. E . Husserl: Cartesianisdie Meditationen, S. 144. Vgl. K . Held: Lebendige Gegenwart, S. 153.

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Rückgang auf die ungegenständlidie Selbstgegenwart

doch immer nur auf gezeitigte Ausformungen des fremd-ichlichen Lebensstromes stoßen. — Gemeinsam wird somit die Ferne durch den unaufhaltsamen Prozeß der Gegenwärtigung und Zeitigung, durch den Ontifikationszwang im weiterfahrenden Leben bedingt. Worin ist das gemeinsame Moment originärer Selbstbekundung, trotz der Vermitteltheit des Zugangs, zu sehen? Warum erkenne ich meine Vergangenheit als die meinige und den Andern als anderes Ich? Die Begebenheiten meiner Vergangenheit verdanken ihre Identität und Individualität dem Durchgang durch das Präsenzfeld meines stehend-strömenden Gegenwärtigens, ihre Zeitigung in der Erinnerung spielt sich wiederum nur in der urtümlichen Gegenwart ab; dadurch kommt die Identifikation von gegenwärtigem und vergangenem Ich zustande. — Durch das Medium gezeitigter Gegenstände begegnet mir der Andere als ein Ich wie ich selbst, da ich ihn implizit als fremdes ichliches Konstitutionszentrum, das ,hinter' der gemeinsam konstituierten Welt steht, voraussetze. — „In beiden Fällen handelt es sich um eine eigenartige Einigung getrennter Gegenwarten; das Getrenntsein hat einmal die Form des gleichzeitigen Nebeneinander, einmal die des Nacheinander; es wird also im Bereich des Konstituierten: des Hier und Dort, des Damals und Heute, angetroffen. Was jedoch die konstituierenden Gegenwarten auf wenn auch unterschiedliche Weise eint, ist das vor-zeitliche stehende Jetzt ihrer ,Ich fungiere'. — Damit zeigt sich: Die Fremderfahrung beruht trotz ihrer unaufhebbaren Vermitteltheit auf einer originären Mitgegenwart des andern Ich in seinem vor-zeitlich ständigen Fungieren" 18 . Dazu Husserl selbst: „Aber es ((die Einigung von Ich und Anderem)) ist doch Gemeinschaft (das Wort ,Deckung' weist leider auf Deckung in Extension, auf Assoziation hin), so wie bei meinem, die strömend-konstituierende Zeitlichkeit tragenden, nicht extensiv-zeitlichen einen und selben Ich. Gemeinschaft mit sich und andern bezieht sich auf Ichpol-Einigung. Mein Ich als Jetziges und mein vergangenes Ich — der Pol — haben keinen Abstand, zwischen ihnen ist keine Zeitstrecke in dem Sinne, wie zwischen einem gegenwärtigen Ding und einem vergangenen, auch real demselben, ein Zeitabstand, eine Zeitstrecke ist. Dasselbe Ding als zeitlich verharrendes hat in seinem identischen Sein seine Dauer, in sidi eine extensive Zeitlichkeit. Das Ich hat eigentlich in diesem Sinn schlechthin keine Dauer." 14 Die praereflexive Einigung des Ich und diejenige von eigenem und fremdem Ich spielen sich demnach beide in einem Bereich ab, der vor aller Synthesis oder Zusammennähme von zeitlich Extendiertem liegt. Vergegenwärtigung und Fremderfahrung oder Wiedererinnerung und ,Miterinnerung' setzen das lebendige Sich-selbst-Gegenwärtigen und eine .ursprüngliche' Mitgegenwart des Andern voraus. „Das absolute Subjekt trägt Andere in 13 14

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 155. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 III, Bl. 5.

Selbstvergemeinsdiaftung als Seinsweise

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sich, aber als selbst appräsentierte, — so wie ich vergangenes Sein selbst, aber als vergangenes in mir trage. Und so ((wie)) auch Vergangenheit nichts ist ohne lebendige Gegenwart, so wie die Welt nichts ist mit all ihrer objektiven Zeitlichkeit als extensiver Unendlichkeit, ((wie sie)) nur ist aus lebendiger Gegenwart, — . . . so ist auch Mitgegenwartsein von Anderen in der Ursprünglichkeit der Einfühlung, — einer Miterinnerung statt einer Wiedererinnerung, — ein Selbsterinnern der Andern, wobei Sein von Andern verstanden ist ((als Sein)) einer andern lebendigen Gegenwart, bezogen auf meine Gegenwart." 15 Wie die Erinnerung einen schrittweise aufdeckbaren Horizont hat, kann jede Fremderfahrung gedacht werden als versehen mit einem Horizont, so daß jedem begegnenden Anderen wiederum ihm unbekannte Andere gegenwärtig sind, usw. In der Mitgegenwart ist demnach das ,Monadenall' horizonthaft mitbewußt. Die Vergemeinschaftung der Monaden spielt sich in ihrer vor-zeitlichen ständigen Mitgegenwart ab; so kann Husserl von einer „urtümlich stehenden ,Gegenwart' des innerlich einigen Monadenalls" sprechen. Wie kann aber diese gemeinsame Funktionsgegenwart von Ich und Anderem anschaulich gedacht werden? Nur als Gleichzeitigkeit der beiden Gegenwarten, die entweder als Selbigkeit des urimpressionalen Auftretens und damit als Selbigkeit der Zeitstelle oder dann als Gleichartigkeit der Seinsweise mehrerer allzeitlicher Gegebenheiten, die an jedem beliebigen Jetzt zugleich gegenwärtig werden können, aufgefaßt werden. Mit anderen Worten: sobald die Mitgegenwart des Andern phaenomenologisch aufgewiesen wird, kann sie nur als Allzeitlichkeit oder als zweiter Lebensstrom erfaßt werden. Ebenso wie die eigene, bleibt demnach auch die fremde Funktionsgegenwart ungegenständlidi, unaufhebbar anonym. Die Gleichartigkeit der Anonymität darf aber nicht vergessen lassen, daß die Erfahrung nicht in beiden Fällen gleichartig ist. Das ,Ich fungiere' des Andern entdecke ich von meiner stehenden Gegenwart aus, die den unverlierbaren Vorrang hat, Quellpunkt all meiner Erfahrung, auch derjenigen der Mitgegenwart zu sein. Das vor-zeitliche ,Ich fungiere' ist im strengen Sinne .einmalig', ,einzig'. „Ich bin einzig, nicht bloß einmal ,vorkommend', einmal vorhanden, sondern Voraussetzung aller Vorhandenheit." 18 Einzigkeit bedeutet nicht: ,numerisch eines', die Einzigkeit schließt andere Ich nicht aus: „Das einzige Ich — das transzendentale. In seiner Einzigkeit setzt es ,andere' einzige transzendentale Ich — als ,andere', die selbst wieder in Einzigkeit Andere setzen." 17 Die besondere Art seiner Einzigkeit schließt die Vermutung, daß es sich um ein solipsistisches Ich handelt, aus: Ein einziger idealer oder realer Gegenstand kann keinen zweiten gleicher Art neben sich 15 18 17

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 3 III, Bl. 33. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B I 14 CI, Bl. 24. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B 1 1 4 XI, Bl. 24.

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Rückgang auf die ungegenständlidie Selbstgegenwart

haben, denn ,einzig* bedeutet hier: nur einmal vorkommend in der Allheit aller Gegenstände. Zeitlich oder allzeitlich Gegebenes wird immer nur unter ichlichem Beteiligtsein erfahren, das alle Grade von Passivität bis zu spontanster Aktivität einnehmen kann. Die Art und Weise, wie das Ich auf seine anonyme Funktionsgegenwart stößt, liegt außerhalb des Bereiches von Aktivität und Passivität: „das Ich ist an dem vor-zeitlichen ständigen ,Da* seiner selbst in einer noch vor aller Passivität liegenden Weise unbeteiligt, obwohl es allerdings bei jeglicher Beteiligung gerade von diesem Faktum Gebrauch macht. . . . Das ,Ich fungiere* muß es vor allem Tun .hinnehmen' — . . .**18 Wenn das Ich deshalb keine Verfügungsgewalt über sich als anonymes Faktum hat, dann ist auch die Einzigkeit dieses Faktums jedem ichlichen Tun entzogen. Das Ich als anonyme Funktionsgegenwart kann keinen Anspruch auf Einzigkeit erheben, und es muß die Möglichkeit anderer einziger ,Ich fungiere' offenlassen. c) Selbstvergemeinschaftung

und

Mitgegenwart

Mein Für-mich-sein ist mir näher als das Für-mich-sein Anderer, da ich ,erste Person' meines Lebens bin, andererseits verhilft mir meine Einzigkeit nicht dazu, meiner als eines anonymen Faktums wesentlich gewisser zu sein als der Anderen. „Wenn aber diese Vorgegebenheitsart des andern Ich Mitgegenwart heißt und die aller Vergegenständlichung entzogene Ursprungsform von Vergemeinschaft ist, dann kann nun gesagt werden: Die Hinnahme des eigenen ,Ich fungiere' als eines anonymen und faktischen ist ebenso .Vergemeinschaftung*. . . . Die praereflexive Zusammennähme meiner mit mir selbst kann nun als anonyme und faktische Selbstvergemeinschaftung des einzigen Ich bestimmt werden." 1 9 Nachdem die Analogie von Selbsterfahrung und Fremderfahrung die vor-zeitliche Ständigkeit neu zu charakterisieren vermochte, stellt sich die Frage, wie sich das urpassive Entgleitenlassen oder Strömen im selben Lichte darstellt. Im Gedanken der anonymen und faktischen Selbstvergemeinschaftung liegt schon die Antwort: „Das Ich fungiere ist vor-zeitliche ständige Hinnahme der eigenen Vorgegebenheit. Es ist seiner vorgegebenen Einzigkeit niemals als einer gesicherten Intentionalhabe inne; es muß hinnehmen, was es nicht festhalten kann. Die Hinnahme verwandelt sich also in nie gesicherte Habe, sondern muß selbst wiederum als anonyme Vorgegebenheit hingenommen werden und so fort. In der Erneuerungsbedürftigkeit liegt ein Nicht-gehalten-werden-können, und das heißt: ein urtümliches Entgleiten. Die Selbsthinnahme im ,Ich fungiere' ist in sich hinfällig, erneuerungsbedürftig und muß sich daher stetig überholen. Die Selbstvergemeinschaftung 18 19

Vgl. K . Held: Lebendige Gegenwart, S. 162. Vgl. K . Held: Lebendige Gegenwart, S. 164.

Selbstvergemeinsdiaftung als Seinsweise

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befindet sich also in verharrendem Wandel, in der vorzeitlichen Bewegung stehender und bleibender Erneuerung der Selbsthinnahme."20 Zu fragen bleibt, ob der Begriff der Selbstvergemeinsdiaftung mehr ist als ein Synonym für ,Einigung' oder ,Synthesis', ob er eine wesentlich neue Erkenntnis zuläßt. Wenn Husserl von ,Gemeinschaft des Ich mit sich selbst' spricht, laufen seine Überlegungen meist auf Aussagen von reflexiver Ausweisbarkeit hinaus, „und doch verweisen gerade diese Stellen in die Dimension ,unansdiaulicher Rückfrage" und sagen etwas aus über diejenige Selbstvergemeinsdiaftung des Ich, welche z. B. die Selbstbeerbung des substrathaft verharrenden Ich erst ermöglidit: „ . . . das Ich ist in seinem Aktleben . . . ob es will oder nicht, mit sich wie es war, wie es getan oder unterlassen hatte, in Gemeinsdiaft, in Konnex; das kann es, weil das Vergangene nicht bloß Vergangenheit ist und nicht nur Erinnerungsphaenomen in der Gegenwart, sondern als vergangenes Ich zugleich Gegenwart, Gegenwart im Modus der behaltenden Stellungnahmen. In dieser ichlichen Zeitigung ist das Ich zwar extendiert in Zeitstrecken, aber dodi in einziger Weise identisch verharrend im strömenden Jetzt, strömend identisch, Identitätspol der eintretenden und vergehenden Stellungnahmen, in allem Vergehen doch gegenwärtig bleibend, dem identischen Ich impliziert. . . . Das Ich ist immerfort Pol, es hat keine Breite, keine Extension, es hat nichts von einem Außereinander, es ist nicht ein Ganzes, das miteinander verbundene Stücke hat, und so ist es audi in seinem ichlichen Was zwar auslegbar, aber nicht ein Aufbau aus Teilen, . . . Seine Ausbreitung führt notwendig in die Bewußtseinszeit und in seine Selbstzeitigung als eine Quasi-Ausbreitung des Ich über die Z e i t . . Husserls Aussagen lassen ein Mitgemeintsein der außer-zeitlichen Gemeinschaft des Ich mit sich selbst vermuten, allerdings ohne sie ausdrücklich zum Thema zu nehmen, und so läßt sich bei Husserl nicht klar feststellen, ob der Gebrauch des Ausdrucks .Gemeinschaft des Ich mit sich selbst* wesentlich neue Einsichten mit sidi bringt. Ausdrücklich in die Sphäre der vor-zeitlidien faktisdien Anonymität gestellt, bringt der Ausdruck neue Aufschlüsse: Der Begriff der Selbstvergemeinschaftung hat sich aus der Analogie von Selbsterfahrung und Fremderfahrung ergeben. Die Verwendung der Mitgegenwart sollte aber nicht im Sinne einer Hilfeleistung verstanden werden, sondern: „Der Gedanke der Selbstgegenwart als Selbstvergemeinsdiaftung im einzigen ,Ich fungiere' kann wesenhaft nur in eins und zusammen mit dem Gedanken der Mitgegenwart gedadit werden; denn die Aussage ist wörtlich zu nehmen, daß das letztfungierende Idi seine anonyme und einzige Vorgegebenheit in gleicher Weise hinnimmt wie die Gegebenheit des Andern, — obwohl — und darin liegt dann das Unterscheidende von 20 21

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 165. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 11.

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Rückgang auf die ungegenständliche Selbstgegenwart

Selbst- und Mitgegenwart — es dabei sein Erste-Person-sein niemals aufgibt." 22 Außer der Gleichheit der Hinnahmeweisen ist der Umstand wesentlich, daß diese Hinnahme „in sich hinfällig, erneuerungsbedürftig und darum vor-zeitlich ständig sich erneuernd ist." „Wenn also in der strömenden Selbstzeitigung des Ich eine Selbstvergemeinschaftung reflexiv erkennbar wird, die sich ,unsichtbar' und ohne mein Zutun im Innern des ,Ich fungiere' abspielt, dann bedeutet dies ein radikal vertieftes Verständnis vom Wesen des transzendentalen Ich: Es darf dann so wenig als gegenständliche Einheit und so wenig überhaupt primär als Einheit gedacht werden, daß der Gedanke innerer ichlicher Pluralität für das ursprünglidiste Verständnis des einzigen nunc stans dem Gedanken der Einheit mindestens gleichwesentlich ist. Dabei muß aber immer das grobe Mißverständnis ferngehalten werden, als sei diese Pluralität eine irgendwie gezeitigte, konstituierte Mannigfaltigkeit. Gemeint ist vielmehr derjenige vorzeitliche, unaufhebbare anonyme ,Konnex' zwischen Ich und Ich (wenn auch nicht zwischen Idi und Du), der gerade in der Einzigkeit des ,Ich fungiere' auf Grund seiner Hinfälligkeit beschlossen liegt." 23 Was unter der ,Lebendigkeit' der Gegenwart zu verstehen ist, ist dadurch unter dem Begriff ,Vergemeinschaftung' aufgewiesen worden. Der Begriff ,Selbstvergemeinsdiaftung' beinhaltet die Einsicht, daß kein ,nunc stans' ohne Strömen gedacht werden kann, und daß es als solches nur in stetiger Erneuerung der Selbstvergemeinschaftung denkbar ist, d. h. als stehend-strömende Einigung innerer ursprünglicher Pluralität. Meine ,Vorgegebenheit' kann in keinem intentionalen Tun festgehalten werden, sie ist stets entgleitend. Das sich selbst entgleitende „und sich damit .vervielfältigende' ,Ich fungiere' hat sich kraft seiner Einzigkeit auch immer schon zur strömenden Abfolge von Einheiten zusammengenommen. Die einzige vor-zeitlich ständige Gegenwart geht also faktisch in strömende Aneinanderreihung von Zeitstellengegenwarten als urpassiv und praereflexiv gebildeten Einheiten über. Die hinfällige Einzigkeit kann sich nicht halten; sie verliert sich ständig ins Strömen und erneuert sich in eins damit als Einigung von Einheiten" 24 . „Weil ,urpassive Selbsthinnahme und urständige Erneuerung der Selbsthinnahme in Einzigkeit' .Strömen' bedeutet, darum gibt es kein Gegenwärtigen, das nicht in sich Ent-gegenwärtigen wäre. Darum gibt es kein .reines' nunc stans in absoluter Immanenz und ohne intentionale Implikationen, sondern immer nur Funktionsgegenwart, die über sich hinaus auf Transzendentes irgendwelcher Art gerichtet ist. Weil ein ,reines' nunc stans eine Abstraktion vom Strömen, vom Prozeß der Entgegenwärtigung wäre, 22 23 24

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 168. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 168 f. Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 171.

Die Grenze der phaenomenologisdien Methode

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die künstlich bleiben muß, darum muß von der .notwendigen konkreten Seinsweise der transzendentalen Subjektivität gesprochen werden'. In dieser Hinfälligkeit gründet es weiterhin, daß keine Intentionalhabe abgeschlossen ist, sondern stets über sich hinaus in Horizonte möglicher Weitererfahrung verweist." 25 2. D i e G r e n z e der phaenomenologisdien M e t h o d e Die namhaftesten Nachfolger Husserls (wie Heidegger, Sartre, MerleauPonty) sind sich einig in der Meinung, daß die phaenomenologisdie Methode begrenzt ist, und daß die Grenze darin zu sehen ist, daß über die Stellung des Menschen in der Welt, im Dasein, nidit fundamentaler nach den Bedingungen dieser Möglichkeit, nach der Stellung des Menschen im Sein gefragt werden kann. — Husserls Methode ist eine Methode der universalen Reflexion 26 , die das reflektierende phaenomenologisdie Idi nicht anders ausüben kann als in der Haltung des ,unbeteiligten Zuschauers', wenn es darauf aus ist, die Bewußtseinsstrukturen in der Universalität ihrer Leistungen zu enthüllen. Zum unbeteiligten Zuschauer wird es durch den Einsatz der Reflexion, die alle Glaubenssetzungen, alle seine praktischen Ziele und Willenssetzungen außer Geltung setzt; es vollzieht sie nidit mehr, sondern bleibt ihnen und seinem gesamten Erleben gegenüber unbeteiligt; nur dann ist die Reflexion im geforderten Sinn universal, so daß das All des Seienden, darin eingeschlossen Ich selbst als dieser Mensch in der Welt und ebenso die .Andern', als ein durch Bewußtseinsleistungen sich aufbauendes verständlich wird. — Reflexion kommt auch im täglichen Leben vor, die dann aber eine gelegentliche ist und im Dienste eines praktischen Interesses steht; wenn dieses erfüllt ist, wenn das jeweilige Ziel erreicht ist, wendet sich der Blick wieder zurück in die gerade Richtung der Gegenstände. Nidit dadurch, sondern nur durch die universale Reflexion wird die Wesenskorrelation zwischen Sein und Bewußtsein universal erfahren. Zwischen der Universalität der phaenomenologisdien Methode und der Haltung des unbeteiligten Zuschauers besteht so ein notwendiger Zusammenhang 27 . Wenn Heidegger in ,Sein und Zeit' die Haltung des unbeteiligten Zuschauers ablehnt, so stellt diese Ablehnung einen Angriff auf einen Kemgedanken Husserls dar. Er ist der Meinung, daß das Wesen des Daseins in der Ursprünglichkeit seiner Existenz auf diesem Weg nidit zugänglich sei, daß Husserls Methode nur ein idealisiertes Subjekt' und nicht den Wesenskern des Daseins zutage bringe, sondern davor gerade halt mache. — Die Frage nach dem Sein des Menschen als in-der-Welt-seiendes Subjekt habe 25

Vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart, S. 172. ® Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 32. Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 34.

2

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Rückgang auf die ungegenständlidie Selbstgegenwart

Husserl auf dieselbe Weise gestellt, wie die Frage nach den seienden gegenständlichen Einheiten. Was als Seiendes in der Erfahrung vor uns steht, ist Produkt synthetischer Leistungen, in denen es sich konstituiert. Diese Leistungen werden in der Rückfrage von dem fertigen Produkt auf die Weise seiner Bildung im Bewußtsein zugänglich. Das Wahrnehmungsding unterscheidet sich dann von der Weise, wie es jeweils vermeint ist, d. h. es erscheint nun als in Abschattungen einmal von der, einmal von jener Seite gegeben. Die Abschattungen ihrerseits sind Produkt einer Apperzeption sinnlicher Daten, die selbst nicht bloße Daten, sondern immer schon konstituierte Einheiten sind, konstituiert durch eine Mannigfaltigkeit von Ablaufphasen im inneren Zeitbewußtsein. Jede Einheit im weitesten Sinn wird zum Leitfaden der Rückfrage; diese Leitfäden bilden den Ansatzpunkt für die Reflexionen auf intentionale Leistungen überhaupt. Die Methode der Intentionalanalyse ist eine Methode der Leitfäden. Leitfaden kann ich z. B. selber sein als Produkt einer Selbstapperzeption, in der ich als dieser Mensch, mit dieser Erziehung, mit diesen Eigenheiten, Lebenszielen, etc. für mich selbst gegeben bin. Idi bin dann nicht nur Produkt, sondern kann fragen, wie ich konstituiert bin und wie ich dieser bestimmte Mensch nicht nur für midi, sondern auch für die Anderen bin. Bin ich dann nicht nur begriffen als ein Gegenstand unter andern Gegenständen und finde ich in der Rückfrage von der fertigen Selbstapperzeption auf die zugrundeliegenden Erlebnisse diejenigen, durch die ich vor den Kern meines Selbst gebracht werde?, ist die Frage, die hier gestellt werden muß. Die regressive Rückfrage kann nur diejenigen Erlebnisse erschließen, die eine bestimmte intentionale Leistung haben. Es sind nach Heidegger aber gerade diejenigen Erlebnisse, die keine solche Leistung haben, welche das innerste Wesen des Daseins kundzugeben vermögen. Es ist ein vor das Nichts gestelltes Dasein, dem das ,Wesen' des Daseins sichtbar wird. Diese Erlebnisse geben keinen Leitfaden für eine Intentionalanalyse ab, weil kein gegenständliches Produkt als ihre Leistung aufzuweisen ist. So muß Heidegger die Zulänglichkeit der Intentionalanalyse bestreiten, weil sie gerade das nicht zu Ende führen läßt, was wohl auch die Tendenz von Husserls eigenem Vorhaben war: die restlose Herstellung einer ,Innenansicht' von allem, was in der gerade gerichteten Erfahrung als Seiendes vorgegeben ist. Der Mensch als Produkt einer 'Selbstapperzeption ist immer noch der ,Mensch von außen', nicht im Kerne seiner Innerlichkeit begriffen. Der letzte Grund alles Sichwissens des weltlichen Subjekts in seiner Endlichkeit, des Sichwissens des Daseins in seiner Faktizität eröffnet sich erst in Erlebnissen, die den Menschen vor seine Endlichkeit bringen, z. B. in der Angst, im Ruf des Gewissens. Die Erlebnisse, in denen sich die Faktizität des Daseins ankündigt, widerstehen demnadi einer Intentionalanlyse in Husserls Sinn. Das Sein des

Das Selbstsein als fundamentale Seinsweise des Menschen

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Daseins, seine innerste Struktur, die Faktizität, kann nach dem Schema eine$ konstituierten Gegenstandes nicht begriffen werden. „Allgemeiner gesprochen: die Idee des Seins ist nicht ausschließlich zu begreifen durch die Idee des Gegenstandes, wie er in der Mannigfaltigkeit seiner intentionalen Artungen zum Leitfaden für die konstitutiven Analysen wird. Für Husserl ist in der Tat Sein = Gegenstand sein."28 Das gilt allerdings nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in Husserls Schaffen. In seinen späten Manuskripten hat er selbst die Notwendigkeit einer Metaphysik betont und wie K. Heids Untersuchungen gezeigt haben, kann die Relation Sein = Gegenstand sein für Husserls Überlegungen zur lebendigen Gegenwart und zur teleologischen Struktur der Subjektivität nicht mehr aufrecht erhalten werden. L. Landgrebe wertet diese späten Reflexionen als Ubergang zu metaphysischen Fragestellungen; er sagt dazu: „Wie weit sie selbst noch zur Phaenomenologie zu rechnen sind, ist offengeblieben. So eröffnet auch hier das Werk Husserls einen Weg in die Zukunft, und erst die Vertiefung in die offenen Möglichkeiten seiner Weiterführung wird zeigen können, wie vielleicht seine Ansätze die Mächtigkeit in sich tragen, alle die von ihm ausgegangenen Fortbildungen und die durch sie aufgeworfenen Probleme als Momente in sich aufzunehmen." 29 K. Heids Versuch, das letztfungierende, faktische Ich als ein sich selbst vergemeinschaftendes zu denken, hat sicher hier seinen Ort, nämlich eine Vertiefung und Weiterführung eines zentralen Husserlschen Ansatzes zu sein, der gleichzeitig geeignet ist, den Bruch zwischen der transzendentalen Phaenomenologie Husserls und der Fundamentalontologie zu mildern und teilweise zu überbrücken. — Mit Hinblick auf eine solche Verbindungsmöglichkeit soll nun der angekündigte zweite Versuch, die ursprüngliche immer schon vollzogene Selbstgegenwart aufzuweisen, zur Sprache kommen. Es handelt sich um das Werk von Wilhelm Keller, das der philosophischen Anthropologie und der sie begründenden Fundamental-Ontologie verpflichtet ist. Als solches ist es in besonderem Maße geeignet, K. Heids Ausführungen einerseits weiter zu vertiefen, andererseits die fundamentalen psychologischen Konsequenzen darzustellen, die wir als Grundlage für eine Entwicklungstheorie des Selbstbewußtseins benötigen.

3. D a s Selbstsein als f u n d a m e n t a l e Seinsweise des Menschen Die Ausgangslage in der Frage nach dem Sein von Seiendem kann strukturell verglichen werden mit der ,letzten' Aussage, die auf Grund der phaenomenologischen Reflexion gemacht werden kann, nämlich daß die Anonymi28 29

Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 38. Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 39.

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tat des Urphaenomens selbst noch etwas Gewußtes ist, oder nun anders ausgedrückt, daß die Möglichkeit des Menschen, nach seinem Wesen 8 0 zu fragen, daß diese Frage selbst eine erste Evidenz verschafft. Denn daß die Frage gestellt werden kann, setzt die Möglichkeit voraus, daß der Mensch nach sich selber fragen kann. Und fragen kann er nur auf Grund seines Offenseins, das auf einer Seinsweise gründet, die un-bestimmt, un-verschlossen ist, die sich auf etwas zu richten vermag und sich als solches S e i n - z u . . . und Sein-woraufhin selber erst zeitigt. D a ß etwas ,da' ist, nach dem zurückgefragt werden kann, steht außer Zweifel. Die Problematik des Daseins besteht so lange, als nach ihr gefragt wird, d. h. so lange das Dasein selbst besteht, das immer wieder genötigt ist, nadi sich selber zu fragen. — Die Sicherheit, daß es etwas gibt, das als Grundverfassung oder Wesen des Menschen angesprochen werden kann, beinhaltet aber noch keine befriedigende Antwort, die Frage muß ,kritisch' gestellt werden nach den faktischen Bedingungen der realen Möglichkeit eines Denkens, das nach sich selber fragt. Auf Inhalte der Welt, auf Daseiendes, kann das Wesen selbst, das in dieser Welt steht, nicht zurückgeführt werden. Denn die Welt und das in ihr vorfindbare Daseiende ist bedeutungsmäßig selbst erst von dem menschlichen Sein her bestimmt, dessen Welt und Gegebenheit es ist. Das Sein des Menschen ist immer schon die Voraussetzung dafür, daß ihm das so oder so geartete Dasein zum Versuch eines Selbstverständnisses angeboten ist. — Die Frage geht also hinter die Gegebenheiten des Daseins auf dessen eigene Seinsweise zurück. Die Rückführung darf aber nicht im gewöhnlichen Sinn verstanden werden, in dem Sinne wie man eine gegebene Soseinsbestimmung in eine allgemeinere zurückführt. „Zum ,Sein' (aber) führt (wiederum) kein bloßer Übergang in der Hierarchie des Seienden." 3 1 Die Seinsweise des Daseins ist ein Modus von Sein überhaupt und muß darum aus diesem ^ e r standen werden'. Aber als was ist dann das Sein schlechthin zu denken? Es scheint uns ständig vertraut und doch das Rätselhafteste zu sein. „Wir scheinen es zu wissen und vermögen es doch nicht zu nennen." 3 2 Denn alle Versuche, über das schlichte Sein etwas auszusagen, sind nicht anders möglich als in der Form: ,es (das Sein) ist (dies oder das)' und die Aussage würde den Sinn von Sein, den sie erst bestimmen soll, gerade wiederum voraussetzen. Das Sein würde zu einem Seienden, nach dessen Sein von neuem gefragt werden müßte. Angesichts des unendlichen Regresses, der entsteht, wenn gefragt wird: ,was ist das Sein?', bleibt zu überlegen, ob die Frage richtig gestellt wurde. Und es zeigt sich, daß sie der Absicht gemäß zwar nach dem Sein im umfassendsten Sinn fragt, diese Frage aber in einer Einstellung stellt, wie wenn das Erfragte ein reines Gegenüber wäre. Hier liegt 30

31 32

,Wesen* nicht im Sinne der eidetisdien Phaenomenologie, sondern als fundamentale Seinsweise des Mensdien verstanden. Vgl. W . Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 331. Ebda.

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aber der Grund der Aporie: das ,Sein' will gemäß der Frage im umfassendsten Sinn ergriffen werden, ergriffen wird aber nur die eine Seite der Relation, die ihm wesentlich zu sein scheint. Vom Sein im umfassendsten und letzten Sinn kann nur die Rede sein, wenn sein Gemeintsein und die Voraussetzungen dieses Gemeintseins unmittelbar inbegriffen sind. „Die Rede vom Sein im umfassendsten Sinn schließt notwendigerweise das Sein dieser Rede selbst und das Vermeintsein des vermeinten Seins als unabdingliche Voraussetzung mit ein." 33 Aus diesem Grunde kann es nicht als ein „An-Sich" gedacht werden, das einem „Für-Sich" entgegengesetzt ist oder man müßte sidi zufrieden geben mit der Feststellung, daß das so gemeinte Sein ein Entgleitendes, für sich Nichtiges ist, was verrät, daß die Gegenüberstellung von Seiendem und Sein noch nicht völlig überwunden ist. Das Sein verharrt nicht als ein geschlossenes ,An-Sich', „sondern es ist nun das funktionale Gefüge des Erlebens und Vollziehens mit dem Gegenstand alles Erlebens und Vollziehens zusammen, und zwar in jener zwiegestaltigen gegenseitigen Beziehung eines jeweiligen Vollzugs, der das Seiende — die Welt — erst werden läßt, was sie ist und als was sie erscheint, und des erscheinenden Seienden im ganzen, das in sich selbst die Tatsache und Möglichkeit dieses vollziehenden Vollzugs enthält und entläßt." 34 Wenn vom Sein überhaupt gesprochen werden kann, wenn also die Möglichkeit eines Fragens nach ihm und eines Wissens um es besteht, so muß in seiner eigenen Ganzheit ein Bewußtsein von ihm selbst enthalten sein. Das aber bedeutet, daß es zum Wesen des Seins gehört, daß aus ihm selber nach, ihm selber gefragt werden kann, daß es ein Verhältnis zu sich selber hat. Es ist kein dimensionslos Einheitliches, sondern es ist innerliche Gliederung, die zudem wesentlich gekennzeichnet ist als Bezogenheit auf sich selbst. Es ist Selbstbezogenheit schlechthin, in dem es in sich und bei sich selbst istDiese Beziehung auf sich selber kann es nur haben, wenn ihm Unterschiedenheit und Gespaltenheit eignet, in einer Weise, daß es selbst diese Unterschiedenheit ist und daß diese Unterschiedenheit selbst das ,Sein' von Seiendem ist. Wenn das ,Sein' die ,Unterschiedenheit' ist, muß ihm korrelativ das Unterschiedene, das ,Seiende' angehören. — Als Unterschiedenheit ist das Sein das Gegenteil eines dumpfen, in sich geschlossenen Verharrens. Gleichzeitig ist es aber auch das Gegenteil des Auseinanderfallens beziehungsloser Größen. „Es ist vielmehr das in bestimmtem Sinne zugleich in ihm selber gegenwärtige — weil das Unterschiedene überspannende — Gegliedert- und Entfaltetsein des Seienden, und es hat als solches gerade kraft dieser eigentümlichen Selbstgegenwärtigkeit und Aktualität als Außereinander auch allererst die Möglichkeit jenes Verhältnisses zu sidi selbst." 36 Wäre das Sein 33 34 35

Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 332. Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 334. Vgl. W. Keller: Vom Wesen des Mensdien, S. 30.

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Rüdegang auf die ungegenständliche Selbstgegenwart

eine monotone gliederungslose Einheit, gäbe es keine abgrenzbaren, bestimmbaren und in Beziehung zueinander stehende Dinge, es gäbe keine Dauer, keinen Fluß mit seiner Gesetzlichkeit des Außereinander, es gäbe weder räumliche noch zeitliche Erstreckung, denn all dies setzt Vielzahl und Beziehung, Nebeneinander und Nacheinander voraus. Das Sein ist die Aufgebrodienheit des Seienden in seine Verhältnisse und Dimensionen. Diese Aufgebrochenheit zum Sein von Seiendem ist ein ständiger Vollzug, ein ständig sich vollziehendes Verhältnis, in Sich-Beziehen von Bezogenem und damit Gegensatz und Spannung innerhalb eines Miteinander. — Die ,Aufgebrodienheit' muß nun aber, wenn dies alles gelten soll, selber sein; sie kann nicht nicht sein und das bedeutet, daß sie selber — seiend — ein Seiendes mitten unter dem Seienden sein muß, dessen Aufgebrochenheit und Bezogenheit sie ist. Im Sein eines Seienden selber muß sich vollziehen, was das Sein alles Seiendes ist, seine Untersdiiedenheit, sein Außereinander, seine Bezogenheit. Dieses besondere Seiende inmitten des Ganzen hat dann sein eigenes Wesen darin, „daß es, selber seiend, sich zum Sein und zu Seiendem verhält, so zwar, daß es in diesem ,Verhalten zu . . . ' das Seiende allererst ,sein läßt'." 36 Es ist .Ursprung', insofern in ihm vollziehbar wird, was das Seiende ist, insofern in ihm die Bezogenheit aktualisiert wird, kraft deren erst zum Sein erweckt wird, was seiend ist, und es ist ,stiftende Mitte', insofern es nicht der ,Anfang' des Seienden, sondern selber immer schon Seiendes ,inmitten' von Seiendem ist. Wenn dieses besondere Seiende als stiftendes das Seiende erst ,sein läßt', dann läßt es auch sich selbst, durch sein Verhältnis zu sich, überhaupt erst ,sein'; „und zwar gilt das im vollen Sinn, also nicht etwa nur intentional, das heißt nicht bloß so, daß es, wie es um anderes .Seiendes' weiß, auch um sidi ,weiß', und sich ,erlebt'. Es gilt viel mehr in dem Sinn, daß es selbst der reale Vollzug seines Erlebens ist und das heißt selbst als eben dieser Vollzug west" 37 . Das stiftende Sein ist unmittelbarste Begegnung mit sidi selbst, „es ist als dieses Sein in strenger Identität mit sidi selbst stiftend-gestiftetes Sichgegenwärtig-Sein als es selbst" 38 . Erst in diesem Vor-sidi-selbst-Kommen vollzieht sidi die Seinsmöglidikeit und auch das Sein alles anderen, von der ,seinsstiftenden Mitte' verschiedenen Seienden. In der stiftenden Mitte kommt das Sein im ganzen zu sidi selbst, so, daß das Zu-sich-Kommen, als ständiges, sein ständiges Bei-sidi-selbst-'Sein ist. Bei-sich-selbst-sein, selbstbezogen und in sich selbst gegenwärtig sein, bedeutet: sich innesein, ,Bewußtsein' von sich selbst haben. Dieses Wissen, das sidi im Wesen eines besonderen Seienden vollzieht, ist das Wissen, in dem das Sein um sidi selber weiß, es ist das Wissen, das den Grund der Möglidikeit 38

Vgl. \V. Keller: Das Problem der Willensfreiheit, S. 63. " Vgl. W. Keller: Das Problem der Willensfreiheit, S. 63. 38 Vgl. W. Keller: Vom Wesen des Menschen, S. 32.

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darstellt, daß aus dem Sein selbst nadi ihm selber gefragt werden kann. — Die seinsstiftende Mitte inmitten des Seienden ist das menschliche Sein, denn wie die Philosophiegeschichte zeigt, ist ganz offenbar der Mensch das Wesen, das sich selber fragwürdig ist und nach sich selber fragen kann. Das menschlidie Sein ist das Besondere, das das Sein des Seienden vollzieht und das in diesem Vollzug selber inmitten des Seienden steht und den Bedingungen des Seiend-Seins unterworfen ist. „So läßt es im eigenen Sein das Seiende seiend sein, d. h. es läßt Welt sein, und es zeitigt sidi selbst als dieses welt-sein-lassende Verhalten-zu-Seiendem, so zwar, daß es sich darin auch noch zu sich selbst als diesem Verhalten verhält." 39 Es ist für sich selbst das Gewußte seines Wissens, seiner eigenen Erfahrung von sich selber und wird so als ,Inhalt' dieses Selbstwissens von sich vollzogen. Es ist aber auch zugleich der Vollzug dieses Wissens. — Das menschliche Sein ist somit nicht etwas, das mit dem Menschen geschieht oder .hinter' ihm liegt, sondern es ist etwas, das es selbst zu sein hat, das seine eigene Möglichkeit und sein Anliegen ist. Der Mensch führt selbst sein Leben. „Der Grundbegriff, den wir suchten, die fundamentale Seinsweise des Menschen und damit die Wesensstruktur allen mensdilidien Erlebens und Verhaltens ist so in letzter Bestimmung offenbar geworden als ,Selbstsein'."40 Dieser Begriff ist historisch vorbelastet und so gilt es, einige Abgrenzungen vorzunehmen. Das Selbstsein im fundamentalen Sinn hat nichts zu tun mit dem Begriff der Selbstbezüglichkeit und bildet keinen Gegensatz zum Miteinandersein, sondern macht dieses gerade möglich. Es hat nichts zu tun mit einem Prinzip der" .Selbstbestimmung' im Sinne des absoluten .Idealismus der Freiheit' und. ebenso handelt es sich nicht um ein ethisches Fernziel, das eine appellierende Funktion hätte oder um einen Aufruf zur ,Eigentlichkeit'. Es ist keine Idee, auf die hin der Mensdi angelegt wäre und die er nur in einem Reifeprozeß erreichen kann. — Er ist vielmehr im allerschlichtesten Sinn zu nehmen als die schlichte Seinsweise des Menschen in seiner Alltäglichkeit, die in allen Manifestationen menschlichen Daseins gegenwärtig und darin immer schon aktuell ist. „Es ist die pure Form unseres ständigen Seins: die Tatsache, daß wir unser Sein, als unser fortlaufendes Erleben und Verhalten in der Welt immerfort wesen, daß es im nüchtern ontischen Sinn kein bloßer Ablauf, kein blindes Geschehen, sondern — in all seiner Bedingtheit und Abhängigkeit von natürlichen Vorgängen und gegebener Weltsituation — unser eigener Selbstvollzug ist. Dieses Sein ist unser Sein; und zwar nicht in einem bloß possessiven Sinn, sondern im Sinn einer eigenen Aktuierung, also in dem Sinn, daß wir selbst es vollziehen und daß es die Realisierung unserer selbst ist." 41 Wenn das Selbstsein die Seinsweise des Menschen in aller All-

39 40 41

Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 336. Vgl. W. Keller: Das Problem der Willensfreiheit, S. 64. Vgl. W. Keller: Das Problem der Willensfreiheit, S. 64.

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täglichkeit ist, so muß es alle die vielfältigen Formen des Erlebens, Erfahrens, des Erinnerns, des Denkens, des Strebens und Handelns, aber ebenso des Erleidens, des selbstvergessenen Tuns, der Befindlichkeit und Gestimmtheit in sich aufnehmen können. Selbstsein oder akthaftes Sein bedeutet nicht; notwendig auch Aktivität oder Tathandlung, sondern bedeutet, daß das menschliche Dasein nie ein kausalbedingtes, von äußern Umständen abhängiges Geschehen ist. Z w a r hat sich das menschliche Dasein nicht selber hervorgebracht; „aber einmal in die Welt gesetzt und darum mit all der Bedingtheit und Gebundenheit behaftet, die ihm von daher eignet, ,bringt' es nun ständig sich selbst als das ,hervor', was es ist, indem es sidi (als Verhalten) vollzieht und anders nidit ist denn als eigener A k t von jeweils eben dieser oder jener realbedingten Gestalt und Bestimmtheit" 4 2 . — D a s menschr1 liehe Dasein ist an seine Leiblidikeit, an organische Prozesse, an die physische, kulturelle und soziale Situation, etc. gebunden, und doch kann es in all dem nichts anderes als seine eigene Realisierung sein, in aller Bedingtheit ist es noch sein eigener Vollzug. Sogar der Selbstverlust des Menschen, der sich durch äußere Faktoren treiben läßt, ist nur möglich, weil das Dasein grundsätzlich Selbstsein ist. Selbstsein ist jedes Gefühl, jeder Einfall, jedes Erleben. Denn im Erleben meiner Erlebnisinhalte vollziehe ich zugleich mein Erleben dieser Inhalte, und dies ist die jeweilige Wirklichkeit meines eigenen Seins. Der Gedanke, in dem das Gedachte zur Geltung kommt, ist der Vollzug meiner selbst im Denken dieses Gedankens. Indem ich denke, indem ich überhaupt eine Beziehung habe zur Welt, zeitige ich mich, bin ich selbst. Darin liegt aber keine absolute Selbstbestimmung des Menschen, denn dieses selbst gelebte und selbst vollzogene Sein ist ein Sein, das ich angetreten habe, das mir gegeben ist. „Der Mensch wählt nicht seine Freiheit. Er ist in sie gesetzt, und sie ist seine Freiheit als A u f g a b e . " 4 3 D i e Gebundenheit soll nicht dazu führen, daß das menschlidie Wesen dualistisch aufgefaßt wird; sondern es ist die konkrete Wirklichkeit des Selbstseins als eines je und je endlichen. Wenn die Betonung bisher auf der ,inneren' Geschehensform des Selbstseins lag, so muß nun betont werden, daß konstitutiv f ü r die Möglichkeit des Selbstvollzugs der Grund-Sachverhalt ist, daß solcher Selbstvollzug überhaupt nur sein kann, in dem er zugleich der jeweilige Vollzug von etwas anderem, von einem Erlebnisgehalt im intentionalen Sinn ist. Ohne Inhalt, Ziel oder Objekt, das zu realisieren ist, w ä r e der Vollzug ,leer' und so an, sich selbst unmöglich. N u r als ,Haben von . . . ' , als .Umgang m i t . . . ' ereignet; sich das Verhältnis, das gerade die Wirklichkeit des Selbstvollzugs des D a seins darstellt. „ D a s aber heißt, daß Selbstsein nur möglich ist als Sein in einer Welt und zu einer Welt." 4 4 42 43 44

Vgl. W. Keller: Das Problem der Willensfreiheit, S. 66. Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 337. Vgl. W. Keller: Das Problem der Willensfreiheit, S. 67.

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Dasein existiert in Wirklichkeit nur als jeweilige Aktualität konkreter Erlebnisse, Zustände, Vollzüge, als der reale Kontext seiner faktischen Lebensakte. Was bisher als die grundsätzliche Seinsweise des menschlichen, Daseins festgestellt wurde, gilt deshalb nicht nur für das Dasein im Ganzen, sondern ebensosehr für jedes Sonder- oder gar Teilerlebnis. Es gilt für die Verhaltens-,Bedingungen' und Dispositionen, die nicht außerhalb des realen Kontextes im Sinne eines latenten ,Bestandes' existieren, sondern faktisch nur in der Erscheinung als immanente Bedingung im Aufbau des entsprechenden manifesten Verhaltens zum Austrag kommen. Und es gilt für das ,Unbewußte', das sich auf jeweils erworbene oder bestehende Prägungen oder Dispositionen reduziert, die wiederum nur in der Realität des faktischen Verhaltens zum Austrag kommt. Was mit dem Begriff ,Dasein' gemeint ist, erschöpft sich so in der Aktualität des jeweiligen faktischen Verhaltens des Menschen, und das faktische Verhalten ist das von ihm selbst vollzogene Sein, der Vollzug seiner Möglichkeiten. „Dann muß aber auch die einfachste Empfindung und Wahrnehmung, das schlichteste Gefühl, der geringste Einfall und Gedanke, das einfachste Streben, die kleinste Mitteilung als ,Selbstsein' angesprochen werden. Ich bin es, i c h selbst, der da lebt, erkennt, will, der da heiter oder traurig ist, sich ängstigt oder sich freut, zweifelt und verzweifelt, liebt und glaubt." 45 Das menschliche Dasein ist ein Sein in dieser Welt und bleibt den Möglichkeiten und Grenzen des Seienden dieser Welt unterstellt. Versucht man es ohne solche Gebundenheit zu denken, so führt der Gedanke zu keinem Ergebnis. Ohne Grundlage, Bindung und Widerstand wäre jedes Handeln immer schon am Ziel, es müßte keinen Abstand überwinden, und es müßte nicht in die Zeit treten. Der Eintritt in die Zeit, die Aufgebrochenheit zum Gegenständlichen bildet aber die Voraussetzung für den Vollzug jeder Handlung und somit für den Selbstvollzug. Spontaneität, Aktcharakter, Selbstvollzug des menschlichen Erlebens gibt es nur in Abhebung von einer Grundlage, die eine bindende ,Wirkung' hat und als solche ,überstiegen' werden muß. „Der Selbstvollzug, als die grundsätzlichste Seinsweise des Daseins, ist darum immer nur möglich im Sinn eines Uberstiegs über je schon bestehende Bestimmtheiten und Gegebenheiten, seien es materielle in ihm selbst, seien es solche in seinem Objektbezug. Diese sind der bedingende Grund, ohne den der jeweilige Überstieg selber nicht möglich wäre. Denn es gibt ja keinen .Überstieg' ohne etwas, was dabei ,überstiegen' wird." 40 Selbstvollzug bedeutet unmittelbarstes Bei-sich-selber-sein, sich innesein. Er geht jeder konkreten Selbsterfahrung voraus. Und so läßt sich hinsichtlich der Selbsterfahrung sagen, daß sie dadurch zustandekommt, daß sich im 45 46

Vgl. W. Keller: Das Problem der Willensfreiheit, S. 68. Vgl. W. Keller: Selbstwertstreben, S. 19.

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Rüdegang auf die ungegenständliche Selbstgegenwart

menschlichen Sein die Freiheit und der Anspruch auf Selbstbestimmung an den Schranken und Bedingungen des Existierens stoßen und brechen. „Denn erst dadurch, daß das Dasein durch diesen Zwiespalt in ihm selbst auf sich selber zurückgeworfen wird, kommt es überhaupt ,vor' es selbst und erst so wird es zum konkreten Selbst in einer selbst erlebten Welt 4 7 ." Was das Dasein im Widerstreit zwischen dem Anspruch auf integrales Selbstsein und der faktischen Gebundenheit erfährt, ist sein Wesen als Eigenvollzug, das aber nur in seiner Gebundenheit an die Grenzen seiner Möglichkeit, an die Erfordernisse der Situation und an die Voraussetzungen der Welt. Der Widerstreit ist deshalb nicht nur der Ursprung der Selbsterfahrung, sondern bildet zugleich ihren Inhalt. Selbsterfahrung ist so immer Erfahrung von Widerstand und Problematik. Die Freiheit des Selbstseins als Überstieg über Bindung und Widerstand hat sich der Mensch nicht selbst gegeben, denn sie ist ja der durchgängige Seinsmodus des menschlichen Daseins, der schon in den elementarsten, alltäglichsten Äußerungen vorliegt und seine Existenz nicht einem freiheitlichen Akt verdankt. Deshalb muß man folgende Voraussetzung machen: „wo selbstbestimmender und gestaltender Vollzug möglich sein soll, muß offensichtlich die Substruktur, d. h. die naturhafte Bestimmtheit, die dabei die Grundlage bildet, eben diese von sich aus verstatten, d. h. sie muß ihrerseits so geartet sein, daß sie eine solche Bestimmung übergreifender Art überhaupt zuläßt" 4 8 . Die tragende naturhafte Struktur des Selbstseins muß so geartet sein, daß sie den entsprechenden Spielraum einräumt und gleichzeitig selber in die übergreifende Bestimmung eingeht. Sie muß für diese Bestimmung offen sein, kann nicht voll determiniert, in sich geschlossen sein und muß auf das Hinzukommen jener weitern Bestimmung angelegt sein. Sie muß ihrer eigenen Verfassung nach die übergreifende Gestaltung anfordern. — Es zeigt sich hier, daß die philosophische Besinnung auf die Wesenszusammenhänge nicht über die Wirklichkeit hinaus, sondern tiefer in sie hineinführt, so daß die kritische Wesensergründung zum vornherein mit der Wirklichkeit übereinstimmt, und daß diese Ubereinstimmung nicht nachträglich gesucht werden muß. Die moderne Human-Biologie ist in der Lage, den Begriff des Selbstseins, den die philosophische Anthropologie in seiner apriorischen Notwendigkeit erschließt, in seiner realen Möglichkeit und Notwendigkeit empirisch zu bestätigen. Der fundamental-ontologisch erschließbaren Notwendigkeit entspricht in der Realität eine faktische Einrichtung' der Natur. Bereits Herder hat den Menschen als ,Mängelwesen', verglichen mit der Instinktlage der Tiere, bezeichnet. Er beschrieb die Hilflosigkeit des menschlichen Säuglings, seinen Mangel an Schutzorganen und Instinkten, das Fehlen 47 48

Vgl. W. Keller: Selbstwertstreben, S. 14. Vgl. W. Keller: D a s Problem der Willensfreiheit, S. 71.

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einer genauen Einpassung in einen vorbestimmten Lebensplan und bradite die Offenheit des Menschen für neue Möglichkeiten und seine Fähigkeit zu einem Dasein-in-einer-Welt damit in Zusammenhang. „Entbunden aus den Bindungen, in die die Natur alle andern Wesen gefesselt hat, und dadurch zur eigenen Verfügung über die Welt gekommen, aber aus eben jenen Gründen auch genötigt, mit eigenschöpferischer K r a f t und mit Mitteln, die er selber schafft, sein Sein und Verhalten aus sich zu bestimmen und sich selbst zu bewähren, ist der Mensch der ,erste Freigelassene der Natur.'" 4 " Die moderne Biologie spricht von Organprimitivismen und von einer allgemeinen Fötalisierung des menschlichen Organismus und meint damit, daß embryonale Merkmale als Dauermerkmale beibehalten werden, so z. B. die Gestalt der Hand, die Kurve der Wirbelsäule, das Übergewicht des Kopfes, die Unbehaartheit des Leibes. Dazu gehört aber auch die auffällige Instinktschwäche, die zu der bedeutsamen Tatsache führt, daß der Mensch in seinen ersten Lebensjahren in einem Maße auf die Gemeinschaft angewiesen ist, die sich im Tierreich nicht findet. — Diese Lehre hat in der Theorie von der ,Physiologischen Frühgeburt' des Menschen von A. Portmann 5 0 ihre Begründung und entwicklungstheoretische Bestätigung gefunden. Gemeint ist mit dieser These, daß der Mensch, verglichen mit den höchsten Säugern, um ca. ein J a h r zu früh geboren wird; die Schwangerschaft müßte biologisch mehr als 20 Monate dauern, damit der menschliche Säugling bei der Geburt die gleiche Reife erreicht, die die Jungen der höheren Säuger schon bei ihrer Geburt aufweisen. Der Mensdi kommt demnach in einem kaum halb entwickelten, fötalen Zustand zur Welt, d. h. er wird nach kaum der Hälfte der Entwicklung aus dem organischen Aufbauprozeß seiner Seinsgrundlage geboren. Als völlig unfertiges, aber umso plastischeres Wesen kommt er in das menschliche Milieu hinein und muß im Lauf seines ersten Lebensjahres die Embryonalentwicklung nachholen, die er eigentlich weltabgeschlossen erfahren müßte. Durch die besonderen Umstände ist nun aber die zweite Hälfte der menschlichen Embryonalphase nicht identisch mit der Fötalentwicklung im rein organischen Sinn. Mit der psychologisch-organischen Integration der artgemäßen biologischen Struktur verbindet sich eine Prägung im Sinne menschlicher Existenzform. Die Nachentwicklung wird in einer besonders intensiven mütterlichen Fürsorge, damit aber schon in einer Atmosphäre intensiven menschlichen Gemeinschaftskontaktes durchlebt. Die elementare organische Entwicklung verbindet sich mit einer Formung, die den noch nicht festgelegten Säugling mit der menschlichen Daseinsweise, d. h. mit einer indirekten, sprachlich bestimmten, rationalen, weltoffenen, transzendierenden Lebensform in Verbindung bringt. Hineingestellt in den menschlichen Kontakt und in eine menschliche Beanspruchung erfährt der

49 50

Vgl. W . Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 339. Vgl. A. Portmann: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen.

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Rückgang auf die ungegenständliche Selbstgegenwart

Säugling menschliche Reaktionsweisen, lernt darauf antworten und entwickelt damit eine menschliche Daseinsform in einer menschlichen Welt. Mit der naturhaften Organisation verbindet sich eine andersartige .Determination', diejenige der Weltoffenheit und des selbsthaften Vollzugs. Es ist eine Bedingung der ,Natur', die so die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit der transzendentalen Seinsweise schafft. D a s Hineinversetzen des unfertigen Wesens in die menschliche Gemeinschaft und damit in die N o t wendigkeit eines mittelbaren, sich selbst anheimgestellten Daseins ist selbst noch ein Werk der N a t u r . — Im faktischen Prozeß des Lebens vollzieht sidi die Tatsache, „daß N a t u r in Selbstsein ein- und übergeht, Selbstsein aus N a t u r hervorgeht und von ihr getragen wird. Es ist ein Zusammenhang innigster K o n t i n u i t ä t , . . ." 5 1 . Die Frage, wie es auf Grund dieser naturhaften Bedingtheit zu so etwas wie Selbstsein kommen kann, ist offenbar ein Werdensproblem, ist die Frage: wie wird das Selbstsein. D a ß die biologische Struktur des Menschen einen Mangel an Organisation, eine Fötalisierung und Frühgeburt darstellt, bedeutet, daß die N a t u r beim Stand eines biologischen Minimums ,aussetzt' oder auf einem N i v e a u abbridit, auf dem dieses Lebewesen noch nicht völlig naturhaft determiniert ist. Indem die N a t u r ,zu früh' aussetzt, nötigt sie dieses Wesen, sein Sein aus sich selbst zu sein, eine Seinsweise zu entfalten, die selbstbestimmend, offen, beweglich, die eigenen Möglichkeiten entwerfend und sich selbst als deren Verwirklichung zeitigend ist. „ J e n e Defizienz ((der Natur)) macht diese im negativ einräumenden Sinn möglich, indem sie überhaupt R a u m d a f ü r läßt und sich vorzeitig aus der Mitwirkung zurückzieht (denn wäre sie integral, so bliebe kein Spielraum der Freiheit); sie macht eben dadurch die Selbstbestimmung und Selbstgestaltung gerade auch nötig, denn ohne solche bliebe dieses zu ,kurz gekommene Wesen' existenzunfähig; und sie macht sie schließlich auch positiv aufbauend wirklidi: denn indem sie das organisch unfertige Wesen zu der Zeit, w o sich noch seine elementare physische Organisation erst konstituiert, schon dem Gesetz des menschlichen Seins unterstellt, d. h. in dem sie es — noch völlig plastisch — der menschlich gemeinschaftlichen Welt mit ihrem geistigen Austausch und Kontakt übergibt, bewirkt sie selber, daß in ihm menschliche Verhaltensweise, Weltoffenheit, Geistigkeit und Sprache erweckt w i r d . " 5 2 Was v o m Standpunkt des naturhaften Seins aus gesehen als Mangel erscheint, ermöglicht gerade eine Seinsweise von umso größerer Positivität. Diese Positivität ist aber in keiner Weise so zu verstehen, als sei es der Mangel, das Hineingestelltsein in das N i d i t , das die Positivität des menschlichen Daseins begründete und hervorbrächte; „jene Positivität, mit der es in sidi. selbst die Seinsform eines bloßen An-sidi-seins unzweideutig übertrifft 5 3 . Es 51 62 58

Vgl. W. Keller: Das Problem der Willensfreiheit, S. 73. Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 342. Vgl. W. Keller: Der positive Begriff der Existenz und die Psychologie, S. 237.

Ergebnisse eines grundlegenden Begriffes des Selbstbewußtseins

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übertrifft und überschreitet sie, indem es, unzweifelhaft seiend, selbst auch ,an sich' ist, aber in diesem seinem ,An-sich-sein' zugleich mehr als jenes bloße ,An-sich-sein' darstellt. Es ist mehr und überschreitet diese ,Form', indem es als das Sein, das es ist, das Sein alles Seienden und sein eigenes Sein vollzieht. Es ist ein ,An-sich-sein', nicht indem es dem einfach unterliegt, sondern so, daß es in eigenem Vollzuge ist; es ,hat' sein Sein nicht passiv als ein ihm Gegebenes, sondern es ist, seiend, gerade die ständige Hervorbringung seines Seins, zu der es frei gegeben und aus sich selbst befähigt ist" 54 . Das Sein als ganzes und fundamentales ist ein übergreifendes, es ist die reziproke Beziehung von Immanenz und Transzendenz, die im Urbezug von Welt und Mensch, von Menschsein und Weltsein, vorliegt.

4. Ergebnisse hinsichtlich eines grundlegenden Begriffes des Selbstbewußtseins Die Seinsweise des ursprünglichen, ungegenständlichen Ich, des Ich in seinem Dahinleben vor aller Reflexion, ist zu verstehen als eine Identität und Einheit mit sich selber, die nie eine geschlossene Immanenz darstellt, sondern immer auf Transzendentes irgendwelcher Art gerichtet ist. Sie ist kein dimensionslos Einheitliches, keine abstandslose Einheit, sondern innere Gliederung, inneres Entfaltetsein, innere Pluralität zum Seienden hin. Sie kann nicht gedacht werden als ein allzeitlicher Gegenstand, als ein Eidos, als ein ,An-sich', da jedes ,An-sich' ein Gedachtes ist und als solches auf ein Denken verweist, das es hervorgebracht hat. Solange man bemüht ist, die Seinsweise des ursprünglichen Ich in einer ,Idee' zu fassen, bewegt man sich in einem unendlichen Regreß, aus dem man sich nur lösen kann, wenn man einsieht, daß das Verhältnis von Denken und Gedachtem, von Subjekt und Objekt, von Sein und Seiendem nicht unterschritten werden kann, daß dieses Verhältnis eine Bedingungsfolge letzter Art darstellt, der man nicht entgehen kann 55 . Wenn die Seinsweise des ursprünglichen Ich nicht in einer ,Idee', nicht in einer Abstraktion zu fassen ist, muß von ihr als einer notwendig konkreten, faktischen, realen gesprochen werden. Die notwendige Faktizität, der notwendige Verhältnis-Charakter, die notwendige innere Pluralität sind verschiedene Hinsichten des einen grundsätzlichen Sachverhalts. Dieser grundsätzliche Sachverhalt ist so geartet, daß zu ihm die Möglichkeit einer Gemeinschaft mit sich selber, eines ursprünglichen Verhältnisses zu sich selber ebenso grundsätzlich gehört. Mein Sein ist die ursprüngliche Bewegung des Transzendierens selbst, die in ihrer

54 55

Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 345. Vgl. W. Keller: Das Problem des Seins (Vorlesung).

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Rückgang auf die ungegenständlidie Selbstgegenwart

Bewegung mein Sein und das Sein der Welt gleidiursprünglidi berührt 68 . Das Bewußtsein von einem Gegenstand schließt notwendig ein Wissen von sidi selbst ein, da der Gegenstand anders gar nicht zum Bewußtsein käme. Dieses Wissen um sich selber ist in keiner Weise ein gegenständliches, thematisches, es ist das Bewußtsein, daß ich es bin, der Bewußtsein von einem Gegenstand hat. Im Erleben meiner Erlebnisinhalte vollziehe ich zugleich mein Erleben dieser Inhalte. Darin liegt die jeweilige Wirklichkeit meines Seins. Weil es nicht anders ist, denn als faktische, jeweilige Wirklichkeit, ist es nie abgeschlossen, nie endgültig mit sich geeint, sondern es ist hinfällig, verliert sich ständig ins Strömen und erneuert sich ständig als Einheit von Erlebnissen. — In dem ständigen Sich-Verlieren liegt gleichzeitig die Möglichkeit eines thematischen Zurückkommens auf sich selber. N u r weil das ursprüngliche Ich keine in sich geschlossene Einheit ist, weil es Einheit mit sidi selber nur in seinem Verhalten zu Transzendentem erst herstellt und immer erneut herstellen muß, kann es sich nachträglich selber in den Blick nehmen und sich anschaulich vergegenwärtigen.

58

Vgl. M. Merleau-Ponty: Phaenomenologie der Wahrnehmung, S. 340.

F. GESETZE DER GENESIS

Nachdem der Begriff des .Selbstbewußtseins' grundlebend erarbeitet worden ist und für die weiteren Analysen im anfangs geforderten Sinn als apriorischer Strukturbegriff zur Verfügung steht, gilt es nun, zum zweiten Aspekt, der in der Entwicklung des Selbstbewußtseins von Bedeutung ist, zum Gesichtspunkt des genetischen Werdens, überzugehen. Zunächst muß wiederum abgeklärt werden, was unter ,Genesis* grundlegend zu verstehen ist, und welches die allgemein gültigen genetischen Gesetze sind; in einem zweiten Schritt kann dann der Versuch unternommen werden, die genetischen Gesetze hinsichtlich eines möglichen Anfanges der Subjektivität und des Selbstbewußtseins zu befragen.

1. Die genetische phaenomenologische Methode „Der Bewußtseinsstrom ist ein Strom einer beständigen Genesis, nicht ein bloßes Nacheinander, sondern Auseinander, ein Werden nach Gesetzen notwendiger Folge, in dem aus Urapperzeptionen oder aus apperzeptiven Intentionen primitiver Art konkrete Apperzeptionen von verschiedener Typik erwachsen, welche die universale Apperzeption einer Welt entstehen lassen." 1 Die genetische phaenomenologische Methode untersucht die .Geschichte' des Bewußtseins als Geschichte aller möglichen Apperzeptionen, die in einer Genesis nach Wesensgesetzen entstanden sind. Sie untersucht nicht das Werden einzelner Apperzeptionen, sondern zielt ab auf eine .Wesensgenesis* in der der Werdens-Modus von Typen von Apperzeptionen gegeben ist, die in einem individuellen Bewußtsein ursprünglich entstanden sind und nun als .Vorlage' für Apperzeptionen desselben Typus dienen. Jede Apperzeption kann gemäß ihrer Struktur nach Noesis und Noema untersucht werden, es kann nach ihrer Wesensgestalt im Bewußtsein und ihrer Einordnung in die Gegenständlichkeiten des Bewußtseins gefragt werden. Es handelt sich dabei um eine .beschreibende' phaenomenologische Methode oder eine statische Analyse, deren Aufgabe es ist, die apriorischen Regelstrukturen der Selbst- und Welterfahrung nach ihrem noetischen und

1

Vgl. E. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis, S. 339.

68

Gesetze der Genesis

noematischen Gehalt zu beschreiben: „ . . . in der statischen Betrachtung haben wir ,fertige' Apperzeptionen, Apperzeptionen treten auf und werden als fertige geweckt und haben eine weit zurückliegende ,Geschichte'. Eine konstitutive ((gemeint statische)) Phaenomenologie kann die Zusammenhänge der Apperzeptionen betrachten, in denen sich eidetisch derselbe Gegenstand konstituiert, sich als was er erfahren ist und erfahrbar ist, zeigt in seiner konstituierten Selbstheit. Eine andere .konstitutive' Phaenomenologie, die der Genesis, verfolgt die Geschichte, die notwendige Geschichte dieser Objektivierung und damit des Objektes selbst als Objekt einer möglichen Erkenntnis. Die Urgeschichte der Objekte führt zurüdc auf die hyletischen Objekte und die immanenten überhaupt, also auf die Genesis derselben im ursprünglichen Zeitbewußtsein." 2 Im Gegensatz zur beschreibenden, statischen Methode ist die genetische eine .erklärende'. Die Geschichte der Objekte führt zurück auf ihre Genesis im ursprünglichen Zeitbewußtsein. D a s Universum der Gegenstände führt zurück auf die Einheitsform des Strömens, in das sich alle Einzelheiten als darin strömende Einordnen. „Aber innerhalb dieser Form verläuft das Leben als ein, motivierter G a n g besonderer konstituierender Leistungen mit vielfältigen besonderen Motivationen und Motivationssystemen, die nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Genesis eine Einheit der universalen Genesis des ego herstellen. D a s ego konstituiert sich für sich selbst sozusagen in der Einheit einer Geschichte . . . " 3 Thema einer genetischen Phaenomenologie, die die ,Geschichte' des ego aufzuklären sucht, „ist die transzendentale Genesis der Monade, d. h. der zeitlidie Verlauf der Selbst- und Weltkonstitution der transzendentalen Subjektivität, der zu ihrer vollen Konkretion führt. D a s transzendentale Ich in seiner vollen Konkretion, d. h. verstanden als lebendige Gegenwart, in der alle Aktualitäten und Potentialitäten (Vermöglichkeiten) der Selbst- und Welterfahrung impliziert sind, nennt Husserl Monade"4. Keine Einheit tätiger intentionaler Gestaltung kann vollumfänglich beschrieben werden, ohne daß die genetische Gewordenheit untersucht wird. Jedes tätige Gestalten geht genetisdi aus gründenden Erlebnissen hervor; jede Tätigkeit ist motiviert, in dem Sinne, daß ich — z. B., in der Sphäre der Akte — den A k t vollziehend dadurch bestimmt bin, daß ich durch Affektionen motiviert bin, die genetisdi zur außeraktiven Sphäre gehören. Genesis gibt es ferner in der Sphäre der reinen Passivität, in der sich nach Gesetzen der passiven Synthesis Einheiten konstituieren, die als Vorgegebenheit für spätere A k t e dienen können.

2 3 4

Vgl. E. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis, S. 345. Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 109. Vgl. K. Held: Genetisdie Phaenomenologie, Lexikon-Artikel.

Die genetisdie phaenomenologische Methode

69

In der Lehre von der Genesis kann demnach grundsätzlich unterschieden werden 5 : a) Die Genesis der Passivität oder die allgemeine Gesetzmäßigkeit des Werdens in der Passivität. Es handelt sich um die urpassive Synthese des inneren Zeitbewußtseins, worin sich zeitliche Einheit konstituiert, und zwar eine zeitliche Einheit zwischen allen Erlebnissen des Ich. Diese Einheit ist noch keine anschauliche Einheit, trägt in sich wohl aber „die Möglichkeit der Herstellung eines anschaulichen Zusammenhanges zwischen allen darin konstituierten Gegenständlichkeiten" 6 . Es ist mit andern Worten der Zusammenhang der lebendigen Gegenwart, in deren Einheit von kontinuierlichem Strömen und verharrender Form sich einerseits die zeitliche Form des Präsenzfeldes konstituiert, die allein es dem Ich ermöglicht, auf einen identischen Gegenstand gerichtet zu sein und aus der andererseits die Möglichkeiten des Behaltens von Vergangenem erwadisen, so daß die einzelne Erfahrung, das einzelne Erlebnis zum bleibenden Erwerb und damit zu einem Zuwachs des Systems des ,ich kann' werden kann. „Auf der Ursynthesis des Zeitbewußtseins sind die folgenden weiteren Arten passiver Synthesis aufgestuft: 1. Das kinaesthetische Bewußtsein, in dem sich Sinnesfelder und lebensweltlicher Raum konstituieren; 2. die Assoziation, eine mannigfaltige Synthesis der Deckung von Sinnesdaten, deren Verknüpfung nicht medianistisch-naturalistisch mißverstanden werden darf, sondern als ein Bewußtsein ,etwas erinnert an etwas' (,Paarung') intentionaler Beschreibung zugänglich ist. Durch Assoziation artikulieren sich die Sinnesfelder als erste Gestalten (,Konfigurationen') ; 3. die explikative Synthesis der polythetischen Akte, das vorprädikative, noch nicht ausdrücklich objektivierende Bewußtsein vom ,Ding' als einem Substrat mit Bestimmungen." 7 b) Die Ichbeteiligung oder das Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität. In genetischer Hinsicht zerfällt alle Synthesis in aktive und passive Synthesis. Ein Trennungsstrich zwischen den beiden Möglichkeiten kann nicht gezogen werden, es handelt sich vielmehr um Vergleichsgrößen, denn schon in der passiven Ursynthesis des Zeitbewußtseins ist in Form der Protention, die ein erstes teleologisches Vorgerichtetsein darstellt, ein Moment der Aktivität innerhalb der überwiegenden Passivität enthalten. Ebenso vollzieht sich in Einheit mit der Rezeptivität der Empfindung im kinaestheti5

Vgl. E. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis, S. 336—345, und K. Held: Genetische Phaenomenologie. « Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 206. 7 Vgl. K. Held: Genetische Phaenomenologie.

70

Gesetze der Genesis

sehen Bewußtsein eine urtümliche Spontaneität der Leibbewegung. In der Sphäre der assoziativen Deckungssynthesis und in derjenigen des vorprädikativen Dingbewußtseins liegt das aktive Moment in einem noch unausdrücklichen ,Interesse', das auf bleibende Gegenstandshabe gerichtet ist. Aktive Synthesen sind auf jeder Konstitutionsstufe nur als verflochten mit passiven möglich. Die passiven Synthesen gehen den aktiven einerseits vorher, indem sie diesen das Erfahrungsmaterial bereithalten, andererseits umgreifen sie sie, indem sich der Erwerb aus den aktiven Synthesen als H a b i tualität im Ich niederschlägt und dadurch wiederum zur passiven Vorgegebenheit f ü r neue Aktivität wird. c) Die aktiven Synthesen als Bildungen reiner Aktivität. Aktive Synthesen sind die objektivierenden Leistungen des Ich, d. h. die Einheitsstiftungen, die die Erfahrung eines Gegenstandes eines bestimmten Typus ermöglichen. D a s in ,rezeptiver Aktivität' passiv ,Vorkonstituierte' bildet hier das Material, auf dem die reinen oder eigentlichen geistigen Aktivitäten einsetzen. Auf ihrer ersten Stufe, der prädikativen Synthesis, werden die bereits vorgegebenen Substrateinheiten ausdrücklich thematisiert, auf ihrer zweiten Stufe, dem Uberhaupt-Urteilen, werden in freier Spontaneität die Allgemeingegenständlichkeiten konstituiert. Alle erstmals vollzogenen Synthesen, sei es im Bereich der Passivität oder der eigentlichen Aktivität, sind ,Urstiftungen', .originäre Erfahrungen'. Der Unterschied zwischen Urstiftungen im Bereich der Aktivität und solchen im Bereich der Passivität besteht darin, daß ihnen verschiedene Arten von Habitualitäten entspringen. Habitualitäten, die Urstiftungen in der Passivität entspringen, sind Vermöglichkeiten der Wiedererinnerung, Habitulitäten, die aus eigentlicher Aktivität entsprungen sind, sind Vermöglichkeiten der wiederholbaren apperzeptiven Stellungnahme. Genetisch gesehen sind alle A k t e des Ich entweder Urstiftungen oder Aktualisierungen der einen der beiden Möglichkeiten von Habitualität. — Die beiden Arten von Habitualität haben eine verschiedene ,genetisdie Nachwirkung', d. h. sie unterscheiden sich in ihrer Weise, wie das urstiftend Erfahrene den Sinn (Auffassung) eines objektiv Seienden erhält. D i e Gegebenheiten gewinnen diesen Sinn dadurch, daß sie bei ihrem Durchgang durch das Präsenzfeld eine individuelle Jetztstelle zugewiesen bekommen. Im Prozeß des retentionalen Absinkens behalten sie dadurch ihre zeitliche Identität und Individualität. Auf Grund der Kontinuität des retentionalen Behaltens sind sie in der Wiedererinnerung reproduzierbar und dadurch objektivierbar. D i e genetische Nachwirkung besteht für die idealen Gegenständlichkeiten darin, daß sich die urstiftende Stellungnahme', d. h. die .Entscheidung' des Vollzugs-Ich über die allzeitliche Geltung des Vermeinten als bleibende .Überzeugung', d. h. als Habitualität im Ichpol niederschlägt. Auf diese Weise erwächst der Monade die jeweilige bleibende Vermöglichkeit, einen bestimmten gegenständlichen Sinn immer wieder zu voll-

Die genetische phaenomenologische Methode

71

ziehen, und es erwächst ihr als noematisches Korrelat dazu eine bestimmte ,Strukturform der Bekanntheit'. Mit dem obigen Aufriß ist der Leitfaden für die folgenden Untersuchungen vorgezeichnet. Dieser Leitfaden kann charakterisiert werden als die .Geschichte', die zur Einheit einer Monade als Einheit einer Genesis führt und ihren Anfang in der Struktur der lebendigen Gegenwart ,als dem letzten Boden aller meiner Geltungen' 8 nimmt. Was unter lebendiger Gegenwart und der ihr eigenwesentlichen Form von Selbstgegenwart zu verstehen ist, haben wir früher untersucht. So können wir auf dem über das immanente Zeitbewußtsein und über die praereflexive Synthesis Ausgesagte aufbauend zur Untersuchung des kinaesthetischen Bewußtseins übergehen, in dem sich die elementarsten Bausteine für die späteren aktiven Bewußtseinsleistungen bilden. Grundsätzlich handelt es sich um eine Untersuchung im Bereidi der passiven Synthesen. Für uns wird es aber von besonderem Interesse sein zu zeigen, in welchem Sinne das kinaesthetische Bewußtsein bereits von .aktiver* oder ,ichlicher' Leistung getragen ist. Wir werden dabei all das im Auge behalten, was wir über das Empfinden als eine Struktur des In-derWelt-seins in Erfahrung gebracht haben, und wir werden untersuchen, ob sich bereits auf dieser elementarsten Stufe eine Form von Selbstinnesein nachweisen läßt. Die Untersuchungen, die Husserl unter dem Begriff der ,Genesis' angestellt hat, werden von ihm in erster Linie als Nachweis von Gesetzen der Aufeinanderfolge von Ereignissen im Erlebnisstrom und von Gesetzen, die die Bildung der Apperzeptionen regeln, verstanden. Es handelt sich, mit einigen Ausnahmen, die später zur Sprache kommen, nicht um entwicklungspsychologische Fragestellungen. Der Versuch, die genetischen Gesetze auf eine entwicklungspsychologische Fragestellung anzuwenden, soll erst zu einem späteren Zeitpunkt unternommen werden, wenn Klarheit darüber besteht, welches die auf jeder konstitutiven Stufe gültigen Gesetzmäßigkeiten sind. Für uns werden vor allem die Gesetzmäßigkeiten im Bereiche der Passivität von Interesse sein, da entwicklungspsychologisch evident ist, daß die ersten Erfahrungen des Säuglings noch keine aktiven Leistungen darstellen. Für die Untersuchung des kinaesthetisdien Bewußtseins können wir uns an die Arbeit von Ulrich Claesges mit dem Titel: Edmund Husserls Theorie der Raumkonstitution halten. Er hat seine Untersuchung im Sinne der statischen Methode durchgeführt; dieser Ausgangspunkt ist auch für uns berechtigt, da jeder genetischen Fragestellung die Klärung der statischen Strukturen voranzugehen hat. Die so erworbenen Begriffe können erst in einem zweiten Schritt in eine genetische Fragestellung übergeführt und in den Gesamtverlauf des genetischen Werdens eingeordnet werden. 8

Vgl. Titel zu Ms. transcr. C 3 III.

Gesetze der Genesis

72

2. Das kinaesthetisdie Bewußtsein a) Das kinaesthetiscbe

System:

Der Begriff der Kinaesthese ist der Grundbegriff in Husserls Wahrnehmungstheorie. Er bezeichnet die noetische Seite des Wahrnehmungsbewußtseins und unterliegt als Noesis den allgemeinen Gesetzlichkeiten der Intentionalität. Der Begriff ,Kinaesthese' setzt sich aus dem Moment der Bewegung und dem Moment der Empfindung zusammen. — Den Begriff der Empfindung hat Husserl in den Ideen I eingeführt 9 . In die allgemeine Unterscheidung von Noesis und Noema, von cogitatio und cogitatum läßt sich zunächst eine Klasse von Erlebnissen nicht unterbringen, die Husserl in den ,Logischen Untersuchungen' als .primäre Inhalte' bezeichnet hat. Gemeint ist, was seit je ,Empfindungsdaten' geheißen hat, gewisse einheitliche ,sensuelle' Erlebnisse, ,Empfindungsinhalte', wie Farbdaten, Tastdaten, Tondaten, sensuelle Lust- oder Schmerzempfindungen, usw., die als solche noch nichts von Intentionalität in sich haben. Die Intentionalität gehört der ,sinngebenden Schicht', der Noesis an, die als ,intentionale Morph£' von der ,sensuellen Hyle' abzusetzen ist. Diese Unterscheidung von Stoff und Form ist eine Abstraktion, denn Sinnesdaten kommen faktisch meist „als Komponenten in umfassenderen konkreten Erlebnissen, die als Ganze intentionale sind" 10 vor. Begrifflich kann aber entsprechend der statischen Unterscheidung von Noesis und Noema folgende Unterscheidung gemacht werden: „Der Strom des phaenomenologischen Seins hat eine stoffliche und eine noetische Schicht."11 Das Moment der Empfindung muß seinerseits „in zweierlei Empfindungen mit durchaus verschiedenen Funktionen" 12 aufgeteilt werden: mit der Kinaesthese ist erstens ein Empfindungsdatum im eben beschriebenen Sinn verbunden und zweitens ein Empfindungsdatum, das ,Stellungsdatum' genannt wird 13 . — Am Beispiel der visuellen Wahrnehmung, die neben der taktuellen Wahrnehmung zu den von Husserl hauptsächlich behandelten Wahrnehmungsweisen gehört, sollen die eingeführten Begriffe erläutert werden. Aus der konkreten visuellen Wahrnehmungsgegenwart muß zunächst alles abstraktiv ferngehalten werden, was nicht in die in transzendentaler Einstellung gehörende Korrelation von ,Sehen' und .Gesehenem' gehört. Auf der Seite des Bewußtseins interessiert nur das Sehen, auf der Seite des Gegenstandes nur das visuelle .Phantom' als das ausschließlich Sichtbare vom Ding: „Das Phantom vertritt uns natürlich nur das Sichtbare vom 9 10 11 12 13

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. Husserl: Ideen I, S. 207. E. Husserl: Ideen I, S. 208. E. Husserl: Ideen I, S. 212. E. Husserl: Ideen II, S. 57. U. Claesges: Raumkonstitution, S. 87.

Das kinaesthetische Bewußtsein

73

Ding in seiner ungebrochenen Erfahrungseinheit, also nur seine Oberfläche in der Qualifizierung." 1 4 (Zu diesem Vergleich ist zu bemerken, daß das Phantombewußtsein in seiner Aktualität eine Reihe von Voraus^ Setzungen, z. T . genetischer Art, impliziert, die thematisch noch nicht alle mitverfolgt werden können, wenn eine konkrete Analyse in Gang kommen soll. Diese Voraussetzungen können aber später ausdrücklich thematisiert werden und ergeben dann den notwendigen Gang der weiteren Analysen). Die Datenempfindung im gewöhnlichen Sinn konstituiert die Qualifiziertheit des Phantoms, während die Stellungsempfindung sein Gestalt- oder Lagemoment erschließt. Die Qualifiziertheit kommt dadurch zustande, daß das Phantom zunächst jeweils von einer bestimmten Seite gesehen ist; diese jeweilige Seite ist selbst wieder nur in einer momentanen Gegebenheitsweise oder unter einem bestimmten ,Aspekt' gegeben. I m Ablauf des Wahrnehmungsbewußtseins kommen immer neue Aspekte zur Gegebenheit, so daß eine Mannigfaltigkeit von Aspekten entsteht, die aber nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern sich durch Deckungssynthesis zum Bewußtsein der einen identischen Seite zusammenschließen. So können alle Seiten mit ihren mannigfaltigen Aspekten durchlaufen werden und es entsteht eine Kontinuität von Aspekten, eine ,Apparenz', womit die jeweilige Erscheinung des Phantoms bezeichnet wird. — D a s zweite Moment, die Gestalt des Phantoms in einer L a g e wird durch Stellungsempfindung konstituiert. L a g e wird von Husserl zunächst als ,Entfernung' thematisiert. D i e Entfernung des visuellen Gegenstandes kann wechseln, ab- oder zunehmen; dadurch bedingt sie zugleich einen Wechsel der Aspekte. Die Mannigfaltigkeit der Aspekte wird damit auf eine Mannigfaltigkeit der Entfernungen bezogen. Sofern sich das Phantom als identisches durchhält, stellt die Entfernung selbst einen Aspekt der Wahrnehmung und im Wechsel der Aspekte eine A r t A p p a r e n z dar. Dieser Ablauf der Aspekte steht in einer streng korrelativen Beziehung mit der Noesis, mit dem kinaesthetischen Ablauf. „Worauf es aber zunächst ankommt, ist dies, daß jede Aspekterscheinung v o m Phantom nur ist in dieser Bezogenheit zu einer Kinaesthese, zu einer kinaesthetischen Ruhe oder zu einer kinaesthetischen Bewegung." 1 5 U n d nicht nur jede einzelne Aspekterscheinung, sondern das ganze Aspektsystem ist auf das korrelative kinaesthetische System bezogen. — Der Begriff des kinaesthetischen Systems meint demnach den Funktionsbereich einer Kinaesthese als ein System möglicher Ruhen oder möglicher kinaesthetischer Stellungen bezogen auf ein Aspektsystem, d. h. auf die Apparenz des Wahrnehmungsgegenstandes, der zur Gegebenheit kommt. „Ein kinaesthetisdhes System — . . . als ein in sich geschlossenes Ablaufsystem — ist die noetische Mannigfaltigkeit, die die 14 15

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 I, Bl. 2. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 I, Bl. 6.

Gesetze der Genesis

74 noematische Einheit

der Apparenz

als ihr Korrelat

konstituiert." 1 6



Kinaesthetisches System heißt ferner in einer allgemeineren Formulierung das gesamte System vermöglicher Kinaesthesen, bezogen auf das

ganze

System vermöglicher Wahrnehmungsgegenstände.

b) Das kinaesthetische

System und sein Korrelat:

das Feld

Gewöhnlich ist uns nicht nur ein Aspekt, der zu einer einzigen Apparenz gehört, gegeben, sondern eine Mehrheit von Aspekten, die zu verschiedenen Apparenzen gehören. Es ist uns eine Konfiguration von Aspekten gegeben, die eine Einheit der Koexistenz bilden. Wenn jeder Aspekt als ,Bild* angesehen wird, ergibt sidi als erste Gegebenheit das visuelle Feld von Bildern: „Halten wir uns an das phaenomenologisch gegebene, so haben wir gegeben das okulomotorische Bildfeld. Jedes solche Bild ist ein Aspekt." 1 7 — Jedes Bildfeld ist geordnet; es hat ein Zentralgebiet, in dem die Bilder einen größtmöglichen G r a d von Klarheit und Deutlichkeit haben; gegen den R a n d hin nimmt die Deutlidikeit ständig ab. „Das Feld hat ein kleines Mittelgebiet und ein großes Außengebiet und dieses selbst hat eine konzentrische S t r u k t u r . " 1 8 D a m i t ist hinsichtlich der Lage ein zweites Ordnungsmoment gegeben, nämlich die Richtungen des ,rechts-links', ,oben-unten', die sich im Zentrum des Feldes,kreuzen'. Durch dieses Ordnungssystem ist nicht nur die Entfernung, sondern audi die Lage der Bilder im visuellen R a u m bestimmbar. — Ferner ist dadurch die Konstitution der Dingbewegung erklärbar. Eine Apparenz ist dann optimal, wenn sie im Zentrum des Feldes liegt. Das Bild, das zunächst als ruhendes charakterisiert wurde, „steht unter dem Gesetz seiner möglichen Überführung in ein anderes lokalisiert ruhendes an einer beliebigen Feldstelle" 1 9 , d. h. das Bild kann dadurch bewegt und in eine andere Lage gebracht werden, daß die bisher ruhende okulomotorische Kinaesthese (Augenbewegung) ins Spiel kommt. D a s Bild kann aus dem Zentrum des visuellen Feldes verschoben werden, wobei seine Deutlidikeit und Differenziertheit abnimmt, bis es ganz aus dem begrenzten Feld verschwindet. D i e Kinaesthese kann nun rückgängig gemacht werden, wodurch das Bild wieder ins Zentrum des Feldes zurückkehrt. Das Bild wurde demnach durch das Vermögen der Kinaesthese verschoben. — Ein anderer Fall ist aber denkbar, in dem das Bild selbst bei ruhender Kinaesthese seine Lage verändert und aus dem Zentrum entschwindet. Durch eine passende K i n aesthese kann diese Veränderung, die von selbst vor sich geht, aufgehoben werden; das sich bewegende Bild kann im Zentrum des visuellen Feldes

" 17 18 19

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

U. Claesges: Raumkonstitution, S. 89. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 I, Bl. 26. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 IV, Bl. 1. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 IV, Bl. 7.

Das kinaesthetische Bewußtsein

75

festgehalten werden. Dadurch ist das Phantom als bewegliches konstituiert, wobei das Festhalten im Zentrum des Feldes mit dem Bewußtsein einer kinaesthetischen Bewegung der Augenbewegung verbunden ist. D. h. sofern ein Ding als beweglich erfahren wird, ist diese Erfahrung an das kinaesthetische Bewußtsein gebunden. „So weist alle Bewegung auf die Bewegung der Kinaesthese zurück. Bewegung ist nur durch Kinaesthese erfahrbar." 20 Die Möglichkeit der .Aufhebung* einer Bewegung durch eine entsprechende Kinaesthese verweist auf den Zusammenhang von Feld und kinaesthetischem System. „Das kinaesthetische System ist ein System der Vermöglichkeiten, das jeweils aktualisiert ist in einer .kinaesthetischen Situation." 21 Zu dieser Situation gehört das Bewußtsein von Aspektdaten und dasjenige der Stellung selbst. Wenn die kinaesthetische Situation verändert wird, (z. B. durch Stellung der Augen) entsteht korrelativ dazu ein Wandel von Aspektdaten und Stellungsdaten, wobei der Wandel der Stellungsdaten den Wandel der Aspektdaten .motiviert'. „Es steht jede kinaesthetische Lage in der Funktion eines ,wenn' für ein identisches ,so'." 22 Mit dem identischen ,so' ist der Aspekt einer Apparenz gemeint, die sich gemäß dem ,wenn' der Lage verändert. „Der Aspekt ist ein Vorkommnis im visuellen Feld. Also ist das visuelle Feld als die Sphäre der Koexistenz der Aspektdaten korrelativ bezogen auf das System der Stellungsdaten, d. h. Feld ist nichts anderes als das Korrelat eines kinaesthetischen Systems." 23 Das heißt zugleich, daß die Ordnung des Feldes der Ordnung des kinaesthetischen Systems entspricht, die darin besteht, daß kinaesthetische Abläufe möglich sind, die die Verschiebung der Bilder motivieren. Realisiert ist immer nur eine Kinaesthese innerhalb des Gesamtsystems vermöglicher Kinaesthesen. Feld als Korrelat des Gesamtsystems der Vermöglichkeit ist das Feld, das von der fungierenden Kinaesthese durchlaufen werden kann. Dieser Vermöglichkeit des Durchlaufenkönnens verdankt das Feld seine Horizontstruktur, d. h. in der einen, gerade realisierten, Kinaesthese sind alle andern möglichen Kinaesthesen impliziert, durch die das Feld in seiner Gesamtheit erschlossen werden kann. — Das Feld ist demnach die Sphäre, in der alle möglichen zu einem kinaesthetischen System gehörigen Aspektdaten koexistieren. Der Begriff der ,Koexistenz' von Empfindungsdaten ruft nach einer Korrektur des Begriffs der Hyle, die nicht mehr weiter als ,formloser Stoff' bezeichnet werden kann, sondern als Mannigfaltigkeit von Aspektdaten in der notwendigen Ordnung eines Feldes vorgegeben ist. Diese Ordnung ist formal zu charakterisieren als ein Außereinander-im-Zugleith. Sie ist die ,Form', in der der ,Stoff' immer schon vorgegeben ist. Der Ursprung der 20

Vgl. U. Vgl. U. » Vgl. E. äs Vgl. U.

81

Claesges: Raumkonstitution, S. 98. Claesges: Raumkonstitution, S. 99. Husserl: Ms. transcr. D 13 I, Bl. 16. Claesges: Raumkonstitution, S. 100.

76

Gesetze der Genesis

Form liegt im kinaesthetischen System. — Dabei zeigt sich wiederum der Doppelbegriff des kinaesthetischen Systems: im eben beschriebenen Fall ist die Koexistenz von Aspektdaten in einer kinaesthetischen Situation gemeint. In einer allgemeineren Form bilden aber alle möglichen kinaesthetischen Situationen selbst einen Bereich der .Koexistenz'. Da aber diese Koexistenz keine aktuelle sein kann, bezeichnet Husserl sie als .ideelles Ortssystem'. „So stehen in Korrelation zueinander das System der Aspektdaten als Qualitätssystem' und das System der Stellungsdaten als ein .ideelles Ortssystem'. Ein Aspektdatum kann nur gegeben sein, sofern ihm ein Stellungsdatum als Realisierung eines .Ortes' im ideellen Ortssystem entspricht, d. h. sofern es in einer kinaesthetischen Situation gegeben ist. Also ist das kinaesthetische System die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß dem Bewußtsein überhaupt Empfindungsdaten gegeben sein können. So ist auch das Feld keineswegs eine Vorgegebenheit koexistierender Daten, in das die Kinaesthese nachträglich eingriffe, sondern es muß vielmehr als ,aesthetischontische Außenseite' des kinaesthetischen Systems angesehen werden. Das Stellungsdatum ist dann das Bewußtsein der Aktualität einer mit dem kinaesthetischen System gegebenen Möglichkeiten und so notwendig mit dem Aspektdatum verbunden." 2 4

c) Der Vermöglichkeitscharakter

des kinaesthetischen

Systems

Bewußtsein von etwas erschöpft sich nicht im aktuellen Vollzug des jeweiligen cogito. „Vielmehr impliziert jede Aktualität ihre Potentialitäten, die keine leeren Möglichkeiten sind, sondern inhaltlich, und zwar im jeweiligen aktuellen Erlebnis selbst intentional vorgezeichnet." 25 Die Potentialitäten der noetischen Sphäre haben den Charakter von Vermöglichkeiten, d. h. von Möglichkeiten als vom Ich her zu verwirklichende. Vermöglichkeiten sind Möglichkeiten im Sinne des ,Idi kann'; eine ursprüngliche Vertrautheit mit den Möglichkeiten ist deshalb vorausgesetzt. — Das kinaesthetische System ist ein System von Vermöglichkeiten. Seine Vertrautheit besteht darin, daß die Erreichbarkeit und Erzielbarkeit aller möglichen Erscheinung gen eines Systems mitbewußt sind. Das kinaesthetische System ist somit nicht nur ein System von Stellungen, sondern unter anderer, genetischer Hinsicht ein System von ,Wegen', die als zu einer optimalen Apparenz führend, mitbewußt sind. Mit jeder aktuellen Apparenz sind die Wege innerhalb eines vertrauten Wegsystems mitbewußt, die zu ihrer optimalen Erscheinung führen. Taucht z. B. ein neues Bild am Rand des visuellen Feldes auf und erweckt das Interesse, so ist der Weg implizit vertraut, der es ins Zen-

24 28

Vgl. U. Claesges: Raumkonstitution, S. 100. Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 81.

Das kinaesthetisdie Bewußtsein

77

trum des visuellen Feldes bringt. Das kinaesthetisdie Wegsystem hat den Bewußtseinsmodus der Habitualität. Es „ist ein System möglicher subjektiver Bewegungen, das durch vielfältiges, sei es auch regelloses Durchlaufen verschmolzen ist zu einem vertrauten habituellen Bewegungssystem. (Jede mögliche Bewegung also eine bekannte und praktisch zu intendierende.) Durch Übung ist Herrschaft über dieses System erwachsen, jede intendierte Bewegung ,kann ich' also, und darin liegt, sie ist jederzeit für mich ausführbar und als das ineins mit ihrer Vorstellung bewußt" 26 . Der Begriff der Vermöglichkeit des kinaesthetischen Systems kann in Analogie mit dem innern Zeitbewußtsein weiter verdeutlicht werden. Dabei kommt es darauf an, das System des Außereinander als ein System der Vermöglichkeit aufzuweisen. Der Grund des Außereinander liegt im ,Fluß' der Zeit als Nacheinander. Die Kontinuität des Nacheinander hat eine Horizontstruktur, d. h. das aktuelle Jetzt hat jeweils einen retentionalen und protentionalen Horizont. In diesen Horizont kann idi hineingehen, in der Wiedererinnerung in den Horizont der Vergangenheit, in der Erwartung in den Horizont der Zukunft. Das jeweils Intendierte ist dabei nicht in seiner Selbstgegebenheit zu erreichen, sondern ,nur' in seiner zeitlichen Modifikation als vergangen oder zukünftig. Die Vermöglichkeit in die Zeithorizonte hineinzugehen trifft das Vergegenwärtigte gegenüber der Uraktualität des Jetzt in einem bestimmten Modus der Inaktualität an. Das Verhältnis von Aktualität und Potentialität im kinaesthetischen System ist zusätzlich dadurch charakterisiert, daß die Potentialitäten eine Sphäre des Zugleich darstellen. Zwar unterliegt auch es den Gesetzlichkeiten des Zeitbewußtseins, die verschiedenen Potentialitäten können nur nacheinander verwirklicht werden. Die Potentialitäten im kinaesthetischen System haben aber außerdem den Charakter der Idealität als eines Reiches der freien Verfügbarkeit, sie sind als immer wieder realisierbare ,bewußt'. Jede Wiederholung einer Aktualisierung führt immer wieder zur selben Wahrnehmungserfassung des Vergegenwärtigten. „Alles Reale konstituiert sich durch ideelle Zuordnung und durch die freie Aktivität des Subjektes, das Ideelles dabei jederzeit verwirklichen kann in der Wahrnehmung und es als dasselbe immer wieder wahrnehmungsmäßig realisierbar in der Realisierung vorfindet als dasselbe, das dauernd war, auch ohne Realisierung; und jetzt nur wahrgenommen ist." 27 Das ideelle Ortssystem ist ein System des ,Außereinander-im-Zugleich' 28 , wobei das Moment des Außereinander besagt, daß Realisierungen nur im zeitlichen Nacheinander möglich sind und das Moment zugleich darauf hinweist, daß jede Aktualisierung beliebig oft als aktuelle wiederholbar ist. 2

« Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 IV, Bl. 4. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 I, Bl. 18. 28 Vgl. U. Claesges: Raumkonstitution, S. 109. 27

78

Gesetze der Genesis

d) Das kinaesthetische Gesamtsystem der visuellen Sphäre — der visuelle Raum Die okulomotorische Kinaesthese, die bisher untersucht wurde, ist nur ein Teil eines umfassenden kinaesthetischen Systems, das nun schrittweise dargestellt werden soll. Eine erste Erweiterung betrifft das okulomotorische System selber durch die Kinaesthese der ,Akkodomation', die sich als System des .Doppelauges' veranschaulichen läßt; das bisher betrachtete System war ein solches des ,Einauges'. Die Erweiterung des Systems durch die Kinaesthese der Akkodomation verändert die Struktur des Feldes wesentlich; diesen Sachverhalt soll das folgende Beispiel verdeutlichen: Ich schaue aus dem Fenster und betrachte einen Baum im Garten. Plötzlich wandert ein grauer undeutlicher Fleck über den Baum; ich konzentriere midi auf den Fleck und sehe nun eine Fliege, die über die Fensterscheibe läuft, d. h. ich habe durch die Kinaesthese der Akkodomation die Fliege zur optimalen Gegebenheit gebracht. Wenn ich auf die jetzige Gegebenheitsweise des Baumes achte, stelle ich fest, daß der Baum aus der vorherigen optimalen Gegebenheit in eine undeutliche übergegangen ist; gleichzeitig ist der Weg verfügbar, auf dem er wieder in die optimale Apparenz versetzt werden kann. — Dieser Sachverhalt bedeutet, daß die bisherigen Ordnungsrichtungen ,oben-unten' und ,rechtslinks' zur Lokalisierung der Bilder innerhalb des Feldes nicht mehr ausreichen. Die Ordnungsrichtung des ,nah-fern' ist hinzugekommen. Jede optimale Apparenz innerhalb des visuellen Feldes wird also durch zwei voneinander unabhängige kinaesthetische Situationen bestimmt: Das visuelle Feld kann deshalb nicht mehr als zweidimensional bezeichnet werden, sondern die Kinaesthese der Akkodomation konstituiert einen ersten Begriff von .Tiefe' innerhalb des visuellen Feldes, oder um mit Husserl zu sprechen: die Apparenz erhält den Charakter des .Reliefs' 29 . Das okulomotorische System kann zudem erweitert werden durch die Bewegungssysteme des .Kopfes' und des .Oberkörpers'. „Z. B. kann die; Erweiterung darin bestehen, daß ich den Kopf bewege, während ich zugleich die Augenbewegungen durchführe, wieder daß ich den Oberkörper verschiedentlich bewege oder mehrere Weisen der Kinaesthesen miteinander und mit der Augenkinaesthese kombiniert denke. Jede für sich kann ähnlich konstituierend fungieren und hätte für sich, wenn die andern nicht wären, ein beschränktes Objektfeld schaffen können; und jede mit der andern kombiniert gedacht, erweitert, macht Verschwundenes wieder identifizierbar, nämlich wiedererkennbar." 30 Möglich ist es auch, daß Sonderkinaesthesen getrennt fungieren, während andere stillhalten oder daß derselbe Ersdiei-

28 30

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 X V I I I , Bl. 32. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 10 III, Bl. 8.

Das kinaesthetische Bewußtsein

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nungswandel einmal durdi Augenbewegung, einmal durch Kopfbewegung erzielt wird. Die letzte und größte Ausweitung des kinaesthetisdien Systems erfolgt durch die Kinaesthese des Gehens, der ,Lokomotion'. Damit ist das Problem der Leiblichkeit verbunden, das aber vorläufig erst soweit besprochen werden soll, als der Leib als Orientierungsnullpunkt in Anspruch genommen werden muß. Dadurch erhält der okulomotorische Raum eine orientierte Struktur, nämlich die auf ein Zentrum bezogene Perspektivität von ,Nah und Fern'. Der visuelle Raum ist so ein „Erscheinungssystem, in dem das (nicht in meinem Leib seiende) Außending in dem Sinne außer dem Leib sich darstellt, daß es im Orientierungssystem nach den Dimensionen rechts, links, oben, unten, vorn, hinten erscheint und in allen diesen Dimensionen mit den Gradualitäten von Nah und Fern"31. Idi selbst bin das Orientierungszentrum relativ zum Erscheinungszentrum der Phantome und habe eine unmittelbare Nahsphäre oder ,Kernwelt'. „Hierbei habe ich eine Kernsphäre von voll ursprünglich konstituierten Dingen, sozusagen eine Kernwelt; die Sphäre der Dinge, zu denen ich vermöge meiner Kinaesthesen hinkann, die ich in optimaler Form erfahren kann." 32 Die Nahsphäre hat in konstitutiver Hinsicht das Besondere, daß sie mehr besagt als eine rein räumliche Beziehung; sie ist ein kinaesthetischer Begriff. In dieser Nahwelt, (z. B. meinem Zimmer) hat die Kinaesthese des Gehens eine konstitutive Funktion: die erscheinenden Phantome sind zugänglich, ich kann an sie herangehen, sie näher oder anders besehen, usw. Das ,Ich kann' ist in diesem Fall das Bewußtsein, mich in einem geschlossenen Raum frei bewegen zu können und damit ist das Bewußtsein verbunden, den Raum verlassen und in andere und neue Nahwelten hineingehen zu können. Das besagt zugleich, daß sich eine apperzeptive Erweiterung der Nahsphäre zu einer homogenen, endlos offenen Raumwelt vollzieht, daß der visuelle Raum seine Horizontstruktur als ,Form der frei zugänglichen Erfahrungshorizonte' gewinnt. „Der Raum als Form dieser meiner anschaulichen Welt ist so das Korrelat meines kinaesthetisdien Gesamtsystems und seine Horizontstruktur, seine Struktur der Bekanntheit und Unbekanntheit, in einsichtiger Weise auf die Struktur des kinaesthetisdien Systems bezogen." 3 ' e) Der Leib und das kinaesthetische

System

Die Analyse des visuellen Raumes setzt unter verschiedener Hinsicht die Vorfindlidikeit des Leibes voraus. Die Konstitution des Leibes vollzieht sich selber durch das kinaesthetische Gesamtsystem, das in das bereits behandelte 31 82 ss

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 10 I, Bl. 13. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 12 IV, Bl. 29. Vgl. U. Claesges: Raumkonstitution, S. 117.

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Gesetze der Genesis

okulomotorische System und in das taktuelle System unterteilt ist. — Analog zum visuellen Raum bildet auch in der taktuellen Sphäre das Feld die Grundlage der Raumkonstitution, mit dem Unterschied, daß für die taktuelle Raumkonstitution nicht das geschlossene Totalfeld, sondern immer nur Teilfelder fungieren können. Diese Teilfelder werden ursprünglich nicht als Teile eines Totalfeldes erfahren, sondern gewinnen diese Bedeutung erst, durch eine besondere konstitutive Funktion. „Eigentlich liegt darin eine doppelte Bedeutung von Feld. Ich kann die Tastflächen meines Leibes durchlaufen und so finden dann, daß alle Tastdaten ein ,Feld' bilden und dieses immer ausgefüllt ist. Andererseits ist Feld ein Funktionsbegriff und sagt aus, was durch eine zugehörige Kinaesthese in konstitutive Bewegung versetzt wird. Im letzteren Fall ist nicht das ganze Tastfeld, sondern nur z. B. das Feld einer Fingerspitze, aber auch eine Gruppe von Feldern mehrerer zusammen tastender Finger ein Feld." 34 Die visuelle Welt ist dadurch charakterisiert, daß ein Phantom während seiner optimalen Apparenz bis zu seinem Verschwinden in äußerster Ferne ständig visuell anwesend ist. Der optische Sinn ist dadurch als Fernsinn gekennzeichnet. Im taktuellen Raum gibt es keine der Kinaesthese unterliegende Annäherung und Entfernung. Das Tastphantom ist entweder in optimaler Nähe und kann getastet werden, oder es ist taktuell völlig abwesend. Der Tastsinn ist dadurch ausgezeichnet als Nahsinn. Allerdings gibt es auch im taktuellen Bereich Annäherung und Entfernung, sofern die Kinaesthese des Gehens beigezogen wird. Dadurch können Objekte aus dem Verfügungsbereich des Tastens verschwinden und andere können hineintreten. So vollzieht sich eine ständige Erweiterung der taktuellen Nahsphäre, ohne daß das Tasten selber den Charakter des Nahsinnes verlöre. Und es vollzieht sich die Synthesis der Nahräume, die als Horizont die Potentialität mit sich führt, sie selber wiederfinden und andere finden zu können. Die bisherige Beschreibung des taktuellen Raumes erklärt ebensowenig wie die des visuellen Raumes die notwendige Vorfindlichkeit des Leibes für die raum-zeitliche Konstitution. — In der somatischen Wahrnehmung' 35 kann der Leib in .Inneneinstellung' und in .Außeneinstellung* beschrieben werden. In .Außeneinstellung' zeigt er sich als dingliche Realität, als ,Leibphantom', das hinsichtlich seines Lagemomentes gegenüber allen andern ausgezeichnet ist. Soweit er gesehener Leib ist, ist er in der universalen Perspektivierung von Nah und Fern das absolut Nahe, das eigentlich ,Hier', das alle erscheinenden Dinge in ein ,Dort c verweist. Er ist das Orientier rungszentrum, das bei allen Wahrnehmungen mit dabei ist, wobei er einerseits ständig im Verfügungsbereich des visuellen kinaesthetischen Systems 34 35

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 13 I, Bl. 22. Vgl. E . Husserl: Ideen III, S. 8.

Das kinaesthetisdie Bewußtsein

81

steht und ständig (unter Einschränkungen) als visuelles Phantom konstituiert ist; andererseits ist er auch ständig als ein durch Tastkinaesthesen konstituiertes Phantom gegenwärtig, indem er im tastenden Erfahren selbst ständig miterfahren ist. In ,Inneneinstellung' „ist der Leib das Mittel aller Wahrnehmung, er ist das Wahrnehmungsorgan, er ist bei aller Wahrnehmung notwendig dabei" 3 6 . Der Leib hat einen Doppelcharakter: selbst ein raumzeitlich Gegebenes zu sein und gleichzeitig eine ausgezeichnete Ichnähe zu besitzen, die über das ,absolute Hier' hinausgeht. Als Träger der Intentionalität hat er selber ,idilichen' Charakter 3 7 . Wenn die Doppelbestimmung des Leibes in Zusammenhang mit dem Begriff des kinaesthetischen Systems gebracht werden soll, ergibt sich eine Schwierigkeit: Der Leib ist Leibphantom nur, sofern er durch ein kinaesthetisches System konstituiert ist. Die Kinaesthese zeigt sich aber als Bewegung eines leiblichen Organs und setzt somit, im Falle des Leibes, voraus, was durch sie erst konstituiert werden kann. Dasselbe zeigt sich hinsichtlich der Hyle, die eine Vorgegebenheit f ü r die raum-zeitliche Konstitution ist, andererseits aber, sofern sie wesentlich als Empfindung bestimmt ist, den empfindenden Leib voraussetzt. Bevor die Schwierigkeit gelöst werden kann, muß festgestellt werden, wie und als was der Leib in visuellen und taktuellen Kinaesthesen ersdieint. D a s visuelle Gesamtsystem teilt sich auf in zwei Systeme mit weitgehend unterschiedlicher Funktion: das okulomotorische System und das System des Gehens und der Bewegung des Gesamtleibes. D i e okulomotorische Konstitution des Leibes unterscheidet sich von andern Phantomen durch eine mehrfache Begrenzung: der Leib bewegt sich nicht, wie andere Phantome, ,von selbst* in Bewegungen der Annäherung oder Entfernung, die durch passende Kinaesthesen aufgehoben werden könnten. Eine geschlossene Oberflächengestalt kann f ü r den Leib nicht erreidit werden, weil die kinaesthetische Freiheit, die eine geschlossene Aspektreihe ermöglicht, nicht gegeben ist. Idi kann meinen Leib nicht von allen Seiten sehen. Wenn er sich bewegt, können nur seine Glieder als sich bewegende erfahren werden. „Aber als ganzer kann er optisch nicht durch perspektivierende Konstitution (in Verbindung mit der Konstitution durch das Relief) als bald ruhend, als bald bewegt erfahren werden, durch diejenige Konstitution, durch die wir Außendinge erfahren als ursprüngliche und eigentliche Realitäten in ihrer realen Welt." 3 8 Die Kinaesthesen des .Gehens' und des Gesamtleibes unterscheiden sich in bezug auf den visuellen Leib von allen andern Phantomen dadurch, daß ich midi z. B. durch mein Gehen von dem Leibphantom nicht entfernen kann, seine konstante N ä h e zum Zentrum der visuellen Orientierung bleibt er« Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 56. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 109/110. 38 Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 12 III, Bl. 13. 3

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Gesetze der Genesis

halten. Der Leib geht im Gehen mit. Als bloß .augenhaftes Subjekt' kann ich hinsichtlich der Leibeskonstitution sagen, daß im Zentrum meiner visuellen Welt ständig ein Phantom konstituiert ist, von dem ich midi nicht entfernen kann; dieses Phantom aber bleibt ein völlig Ichfremdes und ist noch nicht mein Leib. Es bleibt zu untersuchen, ob der Tastsinn die Konstitution des Leibes ermöglicht. D a der Tastsinn ein Nahsinn ist, ist das Getastete entweder optimal gegeben, oder gar nicht. Im taktuellen System ist das Aspektdatum mit dem Stellungsdatum eng verbunden. Ein Tastphantom konstituiert sich dann, wenn ich mit dem in Funktion stehenden Teilfeld unmittelbar bei der getasteten Oberfläche bin, d. h. wenn ich das getastete Ding berühre. Hinsichtlich der Leibeskonstitution liegt in diesem Fall eine ,Doppelempfindung' vor. Wenn ein Stellungsdatum durch das Gegebensein eines Aspektdatums realisiert ist (z. B. berühre ich mit der rechten H a n d die linke H a n d ) , dann ist dieses Aspektdatum zugleich das Stellungsdatum des andern, in kinaesthetischer Funktion stehenden Teilfeldes. U n d das erstgenannte Stellungsdatum ist zugleich Aspektdatum zur Realisierung des zweiten Stellungsdatums. „ D a s bedeutet aber, daß ein und dasselbe D a t u m zugleich als Stellungsdatum und als Aspektdatum fungiert. Als Stellungsdatum ist es dem kinaesthetischen System angehörig, ihm angehörig als ,Ort' im ideellen Ortssystem; als solches hat es keinerlei gegenständliche' Bedeutung, ist nur die Bedingung der Möglichkeit des Gegebenseins von Aspektdaten. Als Aspektdatum ist es gegenüber dem kinaesthetischen System ein Fremdes, ein Zufälliges und nur im Sinne der kinaesthetischen Motivation von einer kinaesthetischen Situation abhängig. Daraus folgt, daß das kinaesthetische System sich selbst gegenständlich gegeben ist, sich selbst gegeben ist in der Weise einer Selbstapperzeption, einer ,Reflexivität." 3 9 Reflexivität bedeutet Einheit und Unterschiedenheit: D a s kinaesthetische System ist einerseits unmittelbar bewußt als ein System der Vermöglichkeit, des ,Ich kann' („Denn das kinaesthetische System in jedem Stande momentan aktueller kinaesthetischer Situation ist originaliter bewußt" 4 0 ), andererseits ist es durch sich selbst vermittelt bewußt, indem es sich gegenständlichen Charakter gibt. Die Sphäre der Stellungsdaten als Moment des in Funktion stehenden kinaesthetischen Systems ist sich selbst zugleich als Phantom gegeben. — Ein Aspektdatum kann normalerweise bei konstanter kinaesthetischer Situation kommen und gehen und ist dabei meiner Verfügungsgewalt entzogen. Im Falle des Leibes kommt ein D a t u m nicht nur als Aspektdatum zu Bewußtsein, sondern ist gleichzeitig bewußt als Aktualisierung einer andern, ebenfalls unter meiner Verfügbarkeit stehenden Situation. „ D i e meiner Verfügbarkeit unterliegenden Aspektdaten konstituieren ein Phan39 40

Vgl. U. Claesges: Raumkonstitution, S. 150. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 12 III, Bl. 30.

Das kinaesthetische Bewußtsein

83

tom, das folglich auch meiner Verfügbarkeit unterliegt. Dieses Phantom ist mein Leib." 4 1 Als Phantom ist der Leib ein Konstituiertes. Alle zu seiner Konstitution beitragenden Aspektdaten stehen aber unter meiner Verfügung und sind Aktualisierungen des immanent bewußten kinaesthetischen Systems. Unter dieser Hinsicht ist der Leib selbst konstituierend. Die Einheit beider Bewußtseinsphaenomene „ist das Bewußtsein von meinem Leib" 4 2 . Die Schwierigkeit, von der wir ausgegangen sind hinsichtlich der Leibeskonstitution, nämlich seiner Doppelrealität als ichhafter und als ichfremder Leib, kann nun gelöst werden. Das Problem bestand darin, daß die K i n aesthese im Falle des Leibes das voraussetzt, was durch sie erst konstituiert werden soll. Die weitere Untersuchung hat nun aber gezeigt, „daß Leibesbewußtsein und kinaesthetisches Bewußtsein .dasselbe' sind, im Falle des Leibbewußtseins durch sich selbst vermittelt, im Falle des Systems der kinaesthetischen Vermöglichkeiten aber unmittelbar, unmittelbar in bezug auf das Zentrum aller intentionalen Aktivität" 4 3 . Als wichtiger genetischer Hinweis ist beizufügen: „Das Kinaesthetische liegt freilich vor der leiblichen Apperzeption . . , " 4 4 f) Die doppelte Konstitution des Leibes Die Konstitution des Leibes als eines raum-körperlichen, ichfremden Seienden geschieht nach Husserl in der Perspektivierung; dagegen wird der Leib als ichliches, freibewegliches Wahrnehmungsorgan in der ,Organisierung' konstituiert. Die Konstitution des Leibes innerhalb der visuellen Sphäre, die bereits dargestellt worden ist, ist ein Teil innerhalb der perspektivierenden Konstitution. Ein weiterer Teil ist die Perspektivierung in der taktuellen Sphäre, in der der Leib als taktuelles Phantom nur durch die ,Doppelempfindung' konstituiert werden kann, die besagt, daß Organe und Leibesteile einander und gegenseitig betasten können. „In dieser haptisdien Konstitution konstituiert sich durch sukzessive Synthesis eine sondereinheitliche Gesamtkinaesthese, die aus dem Totalsystem der kinaesthetischen Vermöglichkeiten zur Verwirklichung kommt: das Oberflächenrelief, sich aufbauend aus den Teilstücken der Oberflächengestalt (das Relief) des Leibes." 4 5 Die Selbstbezüglichkeit des taktuellen Systems bringt mit sich, daß der Leib nicht allein als taktuelles Phantom konstituiert werden kann, sondern sich mit der Organisierung' verbinden muß. Organisierung bedeutet, daß die Tastempfindungsfelder auf der Oberfläche des Leibphantoms lokalisiert 41 42 43 44 45

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

U. U. U. E. E.

Claesges: Raumkonstitution, S. 151. Claesges: Raumkonstitution, S. 152. Claesges: Raumkonstitution, S. 153. Husserl: Ms. transer. D 13 I, Bl. 6. Husserl: Ms. transer. D 12 III, Bl. 25.

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Gesetze der Genesis

werden: dieselben hyletischen Daten sind einmal Aspektdaten, einmal Stellungsdaten und ermöglichen als solche erst das Gegebensein von Aspektdaten. Die Einheit von Stellungsdatum und Aspektdatum im taktuellen Gebiet bedeutet, daß das Gegebensein von Aspektdaten in der Empfindung an die Stellen gebunden ist, die sich zugleich als zur Oberfläche des Leibphantoms gehörig konstituieren. Empfinden in der taktuellen Sphäre bringt zugleich das Phantom und den empfindenden Leib zur Gegebenheit, so daß jedes Empfinden zugleich ein ,Sidi-selbst-empfinden' ist. Daraus folgt: „Im Rückgang auf die ursprüngliche Konstitution von Außendingen und Leib als Ding und als Organ erkennt man, daß nicht etwa Dinge ohne Leib erfahrbar sind, sondern daß notwendig und ineins und korrelativ körperliche Dinge und Leib als Doppelschicht und in der einen Schicht als Körper zusammen konstituiert sein müssen." 48 Wie kommen visuell und taktuell konstituierter Leib zur Einheit? Die Bewegung meiner tastenden Hand ist, rein visuell betrachtet, ein von mir unabhängiges, sachhaftes Geschehen. Zugleich ist die Bewegung der tasten-» den Hand kinaesthetisch innerlich erfahren, als kontinuierliche Veränderung innerhalb des taktuellen Systems bewußt. Zum Sehen der H a n d kommt damit das Bewußtsein hinzu, daß über ihre Bewegung von mir verfügt werden kann, daß sie mein Organ ist und infolgedessen zu meinem Leib gehört. Korrelativ zu dieser Deckung im kinaesthetischen Bewußtsein kommt es zu einer Deckung von visuellem und taktuellem Raum. Die Identität von gesehenem und getastetem Leib überträgt sich auf alle gesehenen und getasteten Dinge. Dasselbe Phantom erscheint einmal in visueller, einmal in taktueller Apparenz, beides orientiert auf denselben Leib hin. Die Konstitution des Leibes als eines Wahrnehmungsorgans, die Organisierung, führt dazu, daß alle kinaesthetischen Systeme in die Einheit eines Leibesbewußtseins und ihre Korrelate zur Einheit eines identischen Raumes zusammengenommen werden. g) Das kinaesthetische

Bewußtsein

Das einheitliche Bewußtsein, das alle kinaesthetischen Systeme und ihre Korrelate umfaßt, kann ,kinaesthetisches Bewußtsein' genannt werden 47 . Es enthält folgende Momente: 1. Die Kinaesthese als Bewegungsablauf ist ein zeitliches Geschehen und unterliegt als solches den Gesetzlichkeiten von Retention und Protention. „Also ist das kinaesthetische Bewußtsein notwendig Zeitbewußtsein." 48

46 47 48

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 12 III, Bl. 22. Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 116. Vgl. U. Claesges: Raumkonstitution, S. 163.

Das kinaesthetische Bewußtsein

85

2. Das kinaesthetische Bewußtsein ist Bewußtsein eines vereinheitlichten Gesamtsystems von Vermöglichkeiten. Die unterschiedenen Möglichkeiten sind nie gleichzeitig, sondern nur im Nacheinander realisierbar, deshalb sind die Korrelate dieser Möglichkeiten in die Einheit eines Außereinander gefaßt. „Das Bewußtsein dieses Außereinander-im-Zugleich als einer Potentialität von Phantomen ist aber das Bewußtsein vom Räume. Also ist das kinaesthetische Bewußtsein notwendig Raumbewußtsein." 4 9 3. Dem Gesamtsystem der Vermöglichkeiten als einem System möglicher kinaesthetischer Wege entspricht als Korrelat der Horizont, in dem alle aktuellen Situationen zum vornherein beinhaltet sind. „Also ist das kinaesthetische Bewußtsein notwendig Horizontbewußtsein." 5 0 4. Der Bewußtseinshorizont umspannt nicht nur eine Umwelt der Gegenwart, sondern auch eine offene Unendlichkeit der Vergangenheit und Zukunft. „Als Bewußtsein eines raum-zeitlichen Horizontes ist das kinaesthetische Bewußtsein dann notwendig Weltbewußtsein. Aus diesem Grund ist jeder möglidie Gegenstand des kinaesthetischen Bewußtseins ein weltlich Seiendes, ein Seiendes in der Welt." 5 1 5. In Abhebung von der Außenwelt setzt das Idi sich als mit seinem Leib identisch, in Abhebung von sich selbst unterscheidet es sich von seinem Leib, der nun zur Welt gehört. „Weltbewußtsein schließt so das Bewußtsein meiner selbst als in der Welt Seienden ein. Also ist das kinaesthetische Bewußtsein notwendig Leibbewußtsein . . ," 52 6. Das doppelte Verhältnis des Ich zu seinem Leibe (einmal sidi mit ihm zu identifizieren, einmal sidi von ihm zu unterscheiden) führt zu einer formalen Struktur, die als Struktur des Selbstbewußtseins' anzusehen ist. Das Ich der kinaesthetischen Vermöglichkeiten unterscheidet sich von seinem Leib, die kinaesthetischen Vermöglichkeiten sind aber Vermöglichkeiten seines Leibes. Die Unterscheidung, die das Ich von seinem Leib macht, ist gleichzeitig immer aufgehoben. Das Ich kann sidi selbst als etwas anderes anschauen und dieser Unterschied ist zugleich nichtig, weil es das Angeschaute selbst ist. „Indem nun Ich und Leib in dieser Beziehung stehen, ergibt sich, daß das kinaesthetische Bewußtsein notwendig Selbstbewußtsein ist. Es ist somit die Einheit von Weltbewußtsein, Leibbewußtsein und Selbstbewußtsein." 58 Es ergibt sich aus diesen Schlußfolgerungen der Hinweis, daß der U r sprung des Selbstbewußtseins im Zusammenhang mit dem kinaesthetischen Bewußtsein stehen könnte und damit im Bereiche der Sinnlichkeit anzusetzen wäre. 48 50 51 52 6S

Vgl. U. Vgl. U. Vgl. U. Vgl. U. Vgl. U.

Claesges: Raumkonstitution, Claesges: Raumkonstitution, Claesges: Raumkonstitution, Claesges: Raumkonstitution, Claesges: Raumkonstitution,

S. 164. S. 164. S. 165. S. 166. S. 168.

86

Gesetze der Genesis

h) Aktivität

oder Passivität des kinaesthetisdien

Bewußtseins

Der Zusammenhang von Weltbewußtsein, Leibbewußtsein und Selbstbewußtsein ist näher zu bestimmen, d. h. es ist zu fragen, wie die Einheit dieser Bewußtseinsweisen im kinaesthetisdien Bewußtsein fundiert sind, oder wie das kinaesthetische Bewußtsein überhaupt aktuelles Bewußtsein von etwas sein kann. Handelt es sich um ein Hinnehmen vorgegebener Inhalte oder handelt es sich um ein aktives Ergreifen? — Das kinaesthetische System konnte früher als ein System der Vermöglichkeiten bestimmt werden. Vermöglichkeiten sind Möglichkeiten der ichlichen Verfügbarkeit im Sinne des ,Idi kann'. Im Verfügen-können liegt aber ein ursprünglicher Modus der Aktivität („immer ist Seiendes aus Vermöglidikeit und Vermöglichkeit ist ein Modus der Aktivität") 54 , der auf dieser Stufe im Begriff der .Spontaneität' beinhaltet ist. Aktualisierungen der unterschiedenen Vermöglichkeiten sind nur im Nacheinander möglich. Deshalb hat die Spontaneität im kinaesthetischen System den Charakter der Bewegung. Spontaneität im Sinne dieser Bewegung ist geregelt durch die Möglichkeiten der kinaesthetisdien Systeme. Die umfassendste Regelstruktur besteht in der Gesetzlichkeit der Zeitkonstitution, in Retention und Protention, die eine gegenseitige Regelung von Rezeptivität und Spontaneität darstellt. Unter Rezeptivität des Bewußtseins ist das Hinnehmen vorgegebener Inhalte zu verstehen, wobei aller hingenommene Inhalt dem Gesetz der Retention unterliegt; die Spontaneität hat den Charakter der Verfügbarkeit, verfügbar ist das in der Retention Behaltene, das aber mit Horizonten der weiteren Befragbarkeit ausgestattet ist, über die das Ich in freier Spontaneität verfügen kann. Spontaneität und Rezeptivität bestimmen sich gegenseitig im Sinne einer Regelung. Die in einer bestimmten Situation vorgegebenen Aspektdaten können im Sinne der kinaesthetischen Motivation verändert werden. Denn Aspektdaten, Phantome oder Phatomkonfigurationen sind immer nur in einer spontan eingenommenen kinaesthetisdien Situation gegeben. Sofern nun ein Bewußtsein der gerade eingenommenen kinaesthetischen Situation besteht, hat das Bewußtsein einen Horizont von Möglichkeiten, diese Gegebenheiten von sich aus zu verändern, nämlich zu anderen und immer anderen überzugehen. Die Möglichkeit, sich in die eine oder andere kinaesthetische Situation zu begeben, unterliegt der ichlichen Spontaneität, so daß man nun sagen kann: die Regelung der Rezeptivität ist auf die Spontaneität zurückbezogen und Rezeptivität ist in der Spontaneität fundiert. „Alle hyletisdie Praxis ist notwendig kinaesthetisch erfolgende, erst durch sie habe ich Intentionalität, habe ich Wahrnehmung von Gegenständen, sofern sie Gebilde kinaesthetischer Wandlungen und Identifizierungen unter Erschei54

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 10 III, Bl. 42.

Das kinaesthetische Bewußtsein

87

nungsbildung sind." 5 5 Rezeptivität im Sinne der AfFektion ist nur in einem kinaesthetischen Bewußtsein möglich. Die Affizierbarkeit ist nicht eine letzte Tatsache, auf die die Analyse der Empfindungen zurückgreifen könnte; wenn man von .Daten' im Bewußtsein spricht, hat man das kinaesthetische Bewußtsein bereits vorausgesetzt 5 6 . I n Zusammenhang von Rezeptivität und Spontaneität des kinaesthetischen Bewußtseins ist das Leibbewußtsein in besonderem M a ß als Regelstruktur anzusehen. D i e Eigenart des taktuellen kinaesthetischen Systems ermöglicht es, daß innerhalb seiner so etwas wie ,Selbstaffektion' zustande kommt. D i e Rezeptivität des kinaesthetischen Bewußtseins ist durch den Leib so geregelt, daß sie nur als Empfindung möglich ist, und das heißt, daß sie zugleich als Vorkommnis an einer raum-zeitlichen Gegenständlichkeit aufgefaßt wird. D i e Spontaneität des Bewußtsein ist durch das Leibbewußtsein dadurch geregelt, daß alle kinaesthetischen Systeme, über die die Spontaneität verfügt, Anknüpfung an den Leib erfahren, so daß der Leib als spontan bewegliches Sinnesorgan erscheint. Als solches hat er einen Spielraum von möglichen Situationen, in denen er sich sinnliche Affektionen beschaffen kann. Dieser Spielraum ist das Korrelat des universalen V e r möglichkeitsbewußtseins und deshalb der Horizont der Welt. W e l t kann nach dieser Bestimmung nicht auf Grund von Affektionen aufgebaut sein, sondern es gilt umgekehrt, daß Affektion nur auf Grund des Weltbewußtseins möglich ist, das in formalster Bestimmung nicht anderes als der raumzeitliche H o r i z o n t ist. Derselbe Sachverhalt zeigt sich hinsichtlich des Leibbewußtseins: Die E r fahrung, die das kinaesthetische Bewußtsein von sich selber hat, indem es sich als Leib gegeben ist, ist zunächst rezeptiv. Alle Affektionen werden als durch den Leib vermittelt erfahren und die Spontaneität wird als begrenzt erfahren, da die kinaesthetischen Systeme an den Leib gebunden sind. Diese rezeptive Selbsterfahrung des kinaesthetischen Bewußtseins ist selber wiederum nur auf dem Grund seiner Spontaneität möglich. Das Gegenstandsbewußtsein, das eine noematische Einheit ist, geht zurück auf eine noetische Mannigfaltigkeit, die eine kinaesthetische Mannigfaltigkeit ist. Mannigfaltigkeit der Aspekte kommt zustande durch die Spontaneität der kinaesthetischen Motivation. Somit hat die Spontaneität wesentlichen Anteil an der Konstitution des Phantombewußtseins. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß das kinaesthetische Ben wußtsein die Einheit von Leibbewußtsein, Selbstbewußtsein und Weltbewußtsein ist. Diese Einheit ist dadurch geregelt und strukturiert, daß Rezeptivität und Spontaneität des kinaesthetischen Bewußtseins notwendig den Charakter der Empfindung und der Bewegung haben. „Die Regelung der 55

"

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. D 10 IV, Bl. 15. Vgl. U. Claesges: Raumkonstitution, S. 178.

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Gesetze der Genesis

Rezeptivität als Empfindung in ihrer doppelten Bedeutung ist identisch mit dem Moment des Leibbewußtseins. Die Regelung der Spontaneität als Bewegung ist identisch mit dem Moment des Weltbewußtseins." 57 Empfindung und Bewegung können an einem Gegenstand erfahren werden, der zugleich mein Leib und ein raum-zeitlich Seiendes im Horizont der Welt ist. In dieser Doppelrealität des Leibes ist die Selbsterfahrung des kinaesthetischen Bewußtseins begründet; da die Selbsterfahrung durch das doppelte Verhältnis des Ich zu seinem Leib zustande kommt, ist sie in ihrem Ursprung an die Weisen der Leiberfahrung, an Empfindung und Bewegung, gebunden. i) Der Begriff der und der Ursprung des

Empfindung Selbstbewußtseins.

Wir haben festgestellt, daß der Ursprung des Selbstbewußtseins im Bereich der Sinnlichkeit liegt. Wenn sich diese Behauptung auch folgerichtig aus den vorhergehenden Erörterungen ergeben hat, ist es nun doch nötig, einige Begriffserklärungen vorzunehmen, vor allem hinsichtlich der .Empfindung' und der ,Sinne', die gleichzeitig anzeigen, wie der Begriff des .Selbstbewußtseins' zu fassen ist. Vorweggenommen soll werden, daß sich mit dem Begriff eines Sich-selbstwissens, das offenbar seinen Ursprung im elementarsten Erleben und Wahrnehmen hat, eine Entsprechung zu jenem von W. Keller formulierten Begriff des Selbstseins anbahnt, der die durchgängige Seinsweise des Menschen ist, die schon in den alltäglichsten Äußerungen vorliegt und die Voraussetzung für jegliches Erleben, Wahrnehmen, Denken darstellt. Da jener Begriff des Selbstseins metaphysisch, fundamental-ontologisch begründet ist und der Begriff der Empfindung zu den elementarsten Gegenständen der Psychologie gehört, können somit die Wege einer ,Psychologie von oben' und einer .Psychologie von unten' 58 auf ihren gemeinsamen Ausgangspunkt zurückgeführt werden. Der gemeinsame Ausgangspunkt besteht darin, daß das Empfinden als eine Struktur des In-der-Welt-seins zu begreifen ist, die zeigt, daß die Probleme der Elementarpsychologie mit denjenigen einer .höheren', .verstehenden' Psychologie in einem beidseitigen Verhältnis stehen. Dieser Ansatz ist nach Landgrebe in der deutschen Philosophie einzig E. Strauss in seinem Buch ,Vom Sinn der Sinne' geglückt, ferner in der französischen Philosophie Sartre mit ,L'etre et le neant' und Merleau-Ponty mit ,Ph£nom£nologie de la perception'. Bereits die Gestalttheorie hat sich gegen den sensualistischen Empfindungsbegriff gewandt, wonach das Bewußtsein in letzte Elemente, die Sinnesdaten, zerlegbar und in seinem Aufbau aus ihnen verständlich sei und hat gegen57 58

Vgl. U. Claesges: Raumkonstitution, S. 182. Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 122.

Das kinaesthetische Bewußtsein

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über dieser theoretischen Konstruktion nadi dem Reiz-Reaktions-Schema die phaenomenalen, erlebnismäßigen Gegebenheiten geltend gemacht. Landgrebe stellt fest, daß in der Gestalttheorie (er erwähnt W. Köhler) deshalb Fehlüberlegungen angestellt worden sind, weil das neue methodische Prinzip, von dem Gebrauch gemacht wurde, nicht ausdrücklich und mit methodischem Bewußtsein angewendet worden ist. Es handelt sich um das Prinzip der phaenomenologisdien Reduktion, das besagt: wenn man Aussagen über Elemente, Strukturen, Leistungen des Bewußtseins machen will, muß man sich rein an das halten, was Momente des Erlebens, des Bewußtseins sind. Dabei kann Bewußtsein in allen seinen Momenten gar nicht anders beschrieben werden als durch das, wovon es Bewußtsein ist, also durch die intentionale Beziehung auf seinen Gegenstand. Weder dem Bewußtsein, noch dem Gegenstand dürfen Bestimmungen zugelegt werden, die nicht aus der Analyse der zum jeweiligen Bewußtsein gehörenden intentionalen Beziehung gewonnen sind. Die Frage nach dem Empfinden kann deshalb nur so gestellt werden, daß beschrieben wird, wie wir als Erlebende uns des Empfindens bewußt sind. Und das heißt, daß der Frage nach der gegenstandkonstituierenden Bedeutung des Bewußtseins die Frage nach dem Empfinden als einem Moment des ,Sich-seiner-selbst-bewußt-Seins' vorangehen muß. „Als solches ist alles Empfinden ein Sich-selbst-Empfinden", in Anlehnung an Heidegger; könnte man auch sagen ein Sich-Befinden, „wobei das ,sich' schon auf das Seiner-selbst-bewußt-Sein hindeutet, das zum Empfinden als Moment des Bewußtseins gehört" 69 . Zum Empfinden gehört darum immer ein Sich-selbstEmpfinden, weil es, wie wir gesehen haben, ein kinaesthetisches Bewußtsein ist, ein Bewußtsein, das in sich das Bewußtsein ,ich bewege midi' einschließt. Die Bewegungen sind meistens unwillkürliche, die erst im Falle der Hemmung ausdrücklich bewußt und als willentliches ,ich bewege mich' vollzogen werden, z. B. beim angestrengten Hinhören oder im krampfhaften Festhalten. Diese Beispiele zeigen schon, daß das Haben von Sinnes-eindrücken nicht ein bloß passives Affiziertwerden oder Erleiden, sondern immer schon Bewegung einer unwillkürlichen oder willentlich vollzogenen Aktivität ist. Es ist nicht bloße Rezeptivität, „sondern eine Aktivität des empfangenden Subjekts, deren es sich bewußt werden kann und die als soldie ein Bewußtsein von sich selbst konstituiert" 60 . Wie aber ist diese Aktivität oder dieses empfindende Sichbewegen gesteuert? Merleau-Ponty stützt sich zur Beantwortung dieser Frage auf das Werk von Koffka 81 , wonach ein Objekt zuerst als anziehend und abstoßend erscheint, bevor es als unterscheidbarer Gegenstand aufgefaßt wird. — Wenn man nicht ausdrücklidi bei der phae-

58 40 61

Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 116. Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 118. Vgl. The Growth of the Mind und Principies of Gestalt-Psydiology.

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Gesetze der Genesis

nomenologischen Methode bleibt, ist man versucht einzuwenden, daß ein Objekt zuerst in seinen Sinnesqualitäten wahrgenommen, z. B. gesehen sein muß, bevor es als anziehend oder abstoßend erscheinen kann. Das bedeutet aber, daß man eine unangebrachte Voraussetzung macht, indem man ein Wissen um das Objekt in Anspruch nimmt, das bereits aus andern Quellen stammt als aus dem zu analysierenden Erlebnis. Dieser Fehler wird z. B. dann gemacht, wenn man sagt, daß im frühesten Entwicklungsstadium des Kindes kein Unterschied zwischen Subjektivem und Objektivem gemacht werde, daß die erste Phase eine ,egozentrische* sei. Wenn eine Unterscheidung von subjektiver Immanenz und objektiver ,Außenwelt' selbstverständlich vorausgesetzt wird, ist der Weg zum Verständnis eines unmittelbaren Weltverhältnisses verbaut. „Erst auf Grund dieser Einsicht kann auch die längstbekannte Tatsache richtig gedeutet werden, daß diese sog. Ausdrucksqualitäten in der Entwicklung das Erste sind, wonach die Umwelt gegliedert erscheint, lange bevor es so etwas wie ein Bewußtsein von unterscheidbaren Gegenständen mit ihren sinnlichen Qualitäten gibt." 62 „Denn es gibt im Bewußtsein keine an sich bestehenden Unterschiede. Von Unterschieden im Bewußtsein kann nur gesprochen werden, soweit sie eben Unterschiede des Bewußtseins selbst sind." 63 Husserl selber hat sich erst in seinen späten Manuskripten von der Vorstellung frei gemacht, daß die Charaktere des Anziehenden, Abstoßenden, Erschreckenden, etc., die unter dem Titel ,Ausdrucksqualitäten' zusammengefaßt werden, in den elementaren Sinnesleistungen fundiert gedacht werden müssen64. Als elementarste Momente des Empfindens, die das empfindende Sichbewegen steuern, ist das sich-Hinrichten zu dem Anziehenden, das Fliehen des Bedrohlichen und Abstoßenden zu verstehen. Erst die Hinwendung ermöglich es, daß die Sinne in der Weise affiziert werden, daß eine Wahrnehmung zustande kommt und Dinge mit ihren sinnlichen Qualitäten unterschieden werden können. Wenn man das Gegenstandsbewußtsein zum einzigen Leitfaden der Analyse nimmt, wird man niemals die letzten Aufbauelemente des Bewußtseins in die Hand bekommen. Dieses Unternehmen kann nur dann gelingen, wenn man den Vollzugscharakter des Ich in seinen elementarsten Ausformungen systematisch erschließen kann, wenn man der Tatsache, daß das Bewußtsein nicht nur Gegenstandsbewußtsein und Ichbewußtsein im Sinne der intellektuellen Vorstellung des selbsttätigen denkenden Subjektes, sondern ineins Bewußtsein der Spontaneität des ,ich denke' und der Spontaneität des ,ich bewege mich' ist, Rechnung trägt. Wenn die Spontaneität des ,ich bewege mich' als waltend in meinem Leib und mir dadurch Empfindungen beschaffend aufgefaßt wird, so bedeutet das nicht, 62 63 64

Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 118. Vgl. L. Landgrebe: Der Weg der Phaenomenologie, S. 119. Vgl. das Kapitel über den .Anfang der Subjektivität*.

Das kinaesthetische Bewußtsein

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daß das Subjekt seine Empfindungen erzeugt; Empfindungen können nur durch Affektion gegeben sein, aber die Affizierbarkeit des Bewußtseins ist fundiert in der Spontaneität des ,ich bewege mich'. Das Bewußtsein des ,ich bewege mich' ist im Falle des ungehemmten Ablaufs der Wahrnehmung ein latentes, im Falle der Hemmung ein ausdrückliches Sich-bewegen-Können, d. h. es ist das Bewußtsein, einen Spielraum zu haben, innerhalb dessen durch das ,ich bewege mich' sinnliche Affektionen beschafft werden können. Das Bewußtsein des Spielraums der Spontaneität des Sichbewegens ist ein Bewußtsein seiner selbst und es ist gleichzeitig Weltbewußtsein, wenn der Spielraum als die Welt unserer möglichen Erfahrung, zunächst die unmittelbare Umwelt, angesehen wird. Der Begriff der Welt kann demnach nicht die Idee des Ganzen der Erfahrung, der Totalität der Erscheinungen sein, als ob Weltbewußtsein sich aufbaute aus der Erkenntnis einzelner Gegenstände und ihres Zusammenhangs. Dem Bewußtsein von einzelnen Gegenständen geht das Bewußtsein der Welt als Horizont voraus, wobei der unterste Horizont den Spielraum des ,ich bewege mich' darstellt. Die elementaren Qualitäten des Anziehenden und Abstoßenden bestimmen die Weise, wie uns Welt primär erschlossen ist, wie das Sichbewegen gesteuert ist, wie mir meine Lage inmitten des Seienden primär zu verstehen gegeben ist. Das Empfinden als eine Weise des In-derWelt-seins und das heißt als eine Weise der ursprünglichen Seinsverfassung des Menschen, des Selbstseins, begreifen zu müssen, ist das Resultat der vorangegangenen Überlegungen. Es hat sich gezeigt, daß im Empfinden bereits jene Auf gebrochenheit zum Austrag kommt, die jede Erfahrung von Weltlichem erst ermöglicht und die in eins ein Bei-sich-selber-sein ist, das die Voraussetzungen für jede Selbsterfahrung darstellt. In diesem Sinne ist der Ursprung des Selbstbewußtseins' im Bereiche des Sinnlichen zu verstehen, nämlich nicht als eine intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts, sondern als die Voraussetzung all dessen, was später Selbstbewußtsein heißt. Natürlich handelt es sich nicht um einen Selbstbezug im Sinne einer Blickwendung auf sich selbst, es ist ursprünglich nicht mehr als die völlig unreflektierte Gewißheit, daß ,ich es bin, ich selbst, der da' etwas empfindet. Darin liegt, das ist noch einmal zu betonen, daß das Gegenwärtigsein des sinnlichen Empfindens sich nur in einem Empfinden von etwas entfaltet. „Im sinnlichen Empfinden entfaltet sich zugleich das Werden des Subjekts und das Geschehen der Welt. Ich werde nur, indem etwas geschieht, und es geschieht nur etwas (für mich), indem ich werde. Das Jetzt des Empfindens gehört weder der Objektivität noch der Subjektivität allein, es gehört notwendig stets beiden zusammen. Im Empfinden entfaltet sich für den Erlebenden zugleich Ich und Welt, im Empfinden erlebt der Empfindende sich und die Welt, sich in der Welt, sich mit der Welt." 6 5 • 5 Vgl. E. Strauss: Vom Sinn der Sinne, S. 372.

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3. Assoziative Synthesis und Interesse des Ich „Uns bezeichnet der Titel der Assoziation eine zum Bewußtsein überhaupt beständig gehörende Form und Gesetzmäßigkeit der immanenten Genesis, . . ." 66 Wie für jede Form der Genesis sind auch für die Assoziationen „als unterstes vorausgesetzt die Leistungen der Synthesis im inneren Zeitbewußtsein. Sie sind die untersten, die alle andern notwendig verknüpfenden. Das Zeitbewußtsein ist die Urstätte der Konstitution von Identitätseinheit überhaupt" 87 . Was es herstellt ist eine allgemeine Form, eine universale Ordnungsform der Sukzession und der Koexistenz aller immanenten Gegebenheiten. Was es allein nidit herstellt ist der Inhalt 68 , z. B. die Einheit eines Sinnesfeldes, das bereits eine andere Form konstitutiver Leistungen voraussetzt (diejenigen des kinaesthetischen Bewußtseins). Was die Assoziation herstellt, ist ein eigentümlicher Verbindungscharakter zwischen den noematischen Beständen des Gegenwärtigen und des Vergangenen, „der sich mit den Worten ausdrückt: Das Gegenwärtige erinnert an das Vergangene" 69 oder ,inhaltlich' gesprochen: „etwas erinnert an etwas", „eines weist auf das andere hin" 70 . Die Assoziation erweitert die konstitutive Leistung des Zeitbewußtseins um alle Stufen der Apperzeption, und durch sie erwachsen die spezifischen Intentionen. „Die Lehre von der Genesis der Reproduktionen und ihrer Gebilde ist die Lehre von der Assoziation im ersten und eigentlicheren Sinn. Daran schließt sich aber untrennbar, bzw. darauf gründet sich eine höhere Stufe von Assoziation und Assoziationslehre, nämlich eine Lehre von der Genesis der Erwartungen und der damit nah zusammenhängenden Genesis der Apperzeptionen, zu denen Horizonte wirklicher und möglicher Erwartungen gehören." 71 Der Begriff der Assoziation ist keinesfalls im Sinne einer objektivistischen Psychologie zu verstehen. Generell spielt sie sich im Bereich der passiven Synthesen ab, das Phaenomen der Erwartungen bezeichnet aber die dieser Stufe eigene Form der Aktivität innerhalb der Passivität. Die Sinnesfelder, die als passive Vorgegebenheit für assoziative Synthesen gegeben sind, sind im eigentlichen Sinn noch keine Felder von Gegenständlichkeiten. Denn Gegenstand ist immer das Produkt einer vergegenständlichenden, ichlichen, urteilenden Leistung. Die sinnlichen Gegebenheiten in einem Feld, z. B. Farben, sind noch nidit aufgefaßt als Farben von konkreVgl. E. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis, S. 117, vgl. Erfahrung und Urteil, S. 78. 67 Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 75/76. • 8 Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 128. " Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 118. 70 Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 78. 71 Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 119.

Assoziative Synthesis und Interesse des Ich

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ten Dingen, als .Flecken' auf einem Gegenstand. Trotzdem ist ein Sinnesfeld kein bloßes ,Gewühl' von ,Daten', sondern es hat, wie wir gesehen haben, als Korrelat des kinaesthetischen Systems eine bestimmte Struktur, eine Gliederung (und dadurch Abgehobenheit). — Wir fragen uns nun, wie überhaupt in einem einheitlichen Sinnesfeld Bewußtsein eines abgehobenen Einzelnen möglich ist, und wir fragen weiter, unter welchen Bedingungen das Bewußtsein einer abgehobenen Vielheit gleicher oder ähnlicher Einzelheiten zustande kommt. Jedes Sinnesfeld, als einheitliches, als Einheit einer Homogenität steht zu jedem anderen Sinnesfeld in einem Verhältnis der Heterogenität. Einzelnes ist abgehoben dadurch, daß es zu etwas kontrastiert: z. B. rote Flecken auf einem weißen Hintergrund. Zur weißen Fläche bilden die roten Flecken einen Kontrast, unter sich aber sind die Flecken kontrastlos verschmolzen, in der Weise, daß sie miteinander zur Deckung zu bringen sind als gleiche. Aber auch in jedem Kontrast oder vor jedem Kontrast bleibt etwas von Verschmelzung: rote Flecken und weißer Hintergrund sind ursprünglich verwandt als visuelle Gegebenheit, im Kontrast z. B. mit akustischer Gegebenheit. „So sind die allgemeinsten inhaltlichen Synthesen von abgehobenen Sinnesgegebenheiten, welche jeweils in der lebendigen Gegenwart eines Bewußtseins vereinigt sind, die nach Verwandtschaft (Homogenität) und Fremdheit (Heterogenität)." 72 Alle Assoziation ist Assoziation nach Ähnlichkeit, die im Grenzfall zur Gleichheit werden kann. Audi der Kontrast beruht ursprünglich auf Assoziation: vom Boden des Gemeinsamen hebt sich das Ungleiche ab. Homogenität und Heterogenität sind Ergebnis zweier verschiedener Grundweisen assoziativer Einigung, die voneinander nicht zu trennen sind: Ähnliches wird durch Ähnliches geweckt, indem es in Kontrast tritt zum Unähnlichen. Assoziative Synthesen, die zu Abgehobenheiten, Gliederungen und Gruppenbildungen im Felde führen, sind nicht nur passive Vorgänge des Bewußtseins, sondern haben eine affektive Kraft. Unter Affektion versteht Husserl „den bewußtseinsmäßigen Reiz, den eigentümlichen Zug, den ein bewußter Gegenstand auf das Ich ausübt — es ist ein Zug, der sich entspannt in der Zuwendung des Ich und von da sich fortsetzt im Streben nach selbstgebender, das gegenständliche Selbst immer mehr enthüllender Anschauungen — also nach Kenntnisnahme, nach näherer Betrachtung des Gegenstandes" 73 . Das durch Unähnlichkeit von seinem Untergrund sich abhebende ,fällt auf', d. h. es entfaltet eine affektive Tendenz auf das Ich hin. Ein Ton, ein Geräusch, eine Farbe ist mehr oder weniger aufdringlich, übt auf das Ich einen stärkeren oder schwächeren ,Reiz' aus. Es kann auch ein auftauchender Gedanke sein, der aufdringlich ist, oder ein Wunsch, eine Begierde. Das Aufdrängen ist bedingt durch die mehr oder weniger scharfe Abhebung, ist also 72 78

Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 77. Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 148/149.

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Gesetze der Genesis

funktionell abhängig von der Größe des Kontrastes, andererseits aber auch von den bevorzugenden sinnlichen Gefühlen, durch Lust und Unlust, triebmäßige, instinktive Bevorzugungen. Kontrast und sinnliche bevorzugende Gefühle stehen insofern in einer direkten Beziehung, als nur als kontrastierend erlebt wird, was noetisch, im kinaesthetischen System ein Korrelat hat. Es kann deshalb nur abstraktiv unterschieden werden in Diskontiunitäten, die ein Aufdrängen ,bewirken', d. h. in das, was Bedingung des Aufdrängens ist und in das Aufdrängen selbst sowie in das Erlebnis des Ich, dem sich etwas aufdrängt. Die Aufdringlichkeit hat graduelle Abstufungen, so daß das sich Aufdrängende dem Ich näher kommt oder ferner bleibt. Gleichzeitig ist diese Nähe oder Ferne abhängig von bevorzugenden sinnlichen Gefühlen oder noch ursprünglicher von instinktiven, triebmäßigen Bevorzugungen, Z. B. übt die Flasche auf den Säugling einen stärkeren ,Reiz' aus als ein Spielzeug, solange er Hunger hat. Hinsichtlich des Gegenstandes kann Affektion auch bezeichnet werden als „Weckung einer auf ihn gerichteten Intention" 74 . Wenn aus der Weckung durch Affektion eine eigentliche Intention, eine Aufmerksamkeit oder Zuwendung werden soll, müssen aber weitere Bedingungen erfüllt sein. Die Affektion muß sich fortpflanzen. Ein Beispiel soll vorerst veranschaulichen, was mit Fortpflanzung der Affektion gemeint ist: Eine Melodie ertönt, ohne irgendwelchen affektiven Reiz auf das Ich zu üben, das mit etwas anderem beschäftigt ist, wobei die Melodie auch nicht im Sinne einer ,Störung' affiziert. Es kann nun ein besonders schmelzender Ton kommen, eine Wendung, die die sinnliche Lust oder auch Unlust erregt. Dieser einzelne Ton wird nun nicht für sich als einzelner lebhaft affizieren, sondern es hebt sich vielmehr mit einem Male die ganze Melodie, soweit sie im Präsenzfeld noch gegenwärtig ist, lebendig heraus. Die Affektion strahlt ins Retentionale zurück, wirkt zuerst einheitlich heraushebend und erweckt gleichzeitig Sonderabgehobenheiten, einzelne Töne durch Sonderaffektion. — In der retentionalen Abwandlung findet hinsichtlich der affektiven Kraft eine wachsende Abschwächung statt. In diese schwache oder Null-Affektivität hinein kann eine starke affektive Tendenz aus dem urimpressional Auftretenden zurückwirken, kann das ganze Feld gleichsam schlafender Daten erwecken und einen affektiven Vergangenheitshorizont mitwecken. Dies geschieht dann, wenn die urimpressionale Weckung Affinität hat mit dem retentional Geweckten, wenn z. B. eine bruchlose Kontinuität eines Tones oder eine Sukzession ähnlicher Töne vorhanden ist. Die assoziative Weckung geht nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch vorwärts in die Zukunft hinein. Die kommenden Töne der Melodie, die vielleicht selber die Bedingungen der Weckung nicht erfüllt hätten, werden 74

Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 151.

Assoziative Synthesis und Interesse des Idi

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nun merklich, vielleicht sogar Gegenstände des Interesses. Die Affektion geht den Verbindungen entlang, durch die die Gegenstände gruppiert sind, und zwar einerseits als dauernde Einheiten der Koexistenz, gesondert nach Sinnesfeldern, die sich in den lokalen Feldern zu Konfigurationen verknüpfen können, andererseits als verknüpfte Sukzessionen, die Konfigurationen zeitlicher Folgen beinhalten. So scheint es, daß der Gang der Affektion von Zusammenhangs- und Verlaufstypen der Gegenständlichkeiten abhängen. Es ist damit aber nicht gesagt, „daß diese Gegenständlichkeiten ihrerseits vor aller Affektion schon sind. Vielmehr ist es nicht ausgeschlossen und sogar sehr nahegelegt, daß Affektion schon in der Konstitution aller Gegenständlichkeiten ihre wesensmäßige Rolle spiele, so daß ohne sie überhaupt keine Gegenstände und keine gegenständlich gegliederte Gegenwart wären" 75 . Hyletische Gegenstände sind nicht immer schon da, sie konstituieren sich, „sie sind im konstituierenden Werden". In diesem Werden gibt es Phasengehalte, die selbst noch keine Gegenstände sind und doch nicht nichts sind. Wir müssen dann nach der Einheit der Zusammengehörigkeit solcher Gegenstandsphasen fragen, nach der Verbindung eines Inhalts vom momentanen Jetzt, der sich abhebt von andern Verbindungen, die konstitutiv zu andern werdenden Gegenständen gehören. Die elementare Frage geht nun nicht mehr auf konkrete Gegenstände, sondern auf Gegenstandsphasen, ,sinnliche Punkte' und es kehrt die Frage wieder, ob Affektion auch auf dieser Stufe an Einheitsbildungen beteiligt ist „und im besonderen das Problem, ob nicht für das Zustandekommen schon jeder konstitutiven Synthese Affektion eine Wesensbedingung ist und ob nicht beides zusammenhängen muß: eine voraffektive Eigenart der Elemente, mit den ihr zugehörigen Wesensvoraussetzungen der Einheitsbildung, und die Affektion selbst. Also die Möglichkeit ist zu erwägen, ob alle die Verschmelzungen und Absonderungen, durch die gegenständliche Einheiten im Gegenwartsfeld werden, nicht einer affektiven Lebendigkeit bedürfen, um überhaupt werden zu können, und daß sie es vielleicht nicht werden könnten, wenn zwar die sachlichen Bedingungen der Vereinheitlichung erfüllt wären, aber die affektive Kraft Null wäre" 76 . Um in diese Frage Licht zu bringen, gehen wir zurück auf die Struktur der lebendigen Gegenwart und betrachten ihre affektive Gestaltung. Wiederum soll ein Beispiel vorangehen: ein immer lauter werdendes Geräusch kann auf das Ich einen immer stärker werdenden affektiven Zug ausüben. Schließlich wendet sich das Ich ihm zu. Aber schon vor der Zuwendung hat der vom Geräusch ausgehende Zug bei einer den Umständen entsprechenden Stärke das Ich erreicht, ohne daß dieses schon darauf hingehört hat. Es hörtj ihn aber schon in seiner Besonderheit heraus, d. h. im Ich ist eine positive 75 76

Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 164. Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 165.

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Tendenz, sich dem Geräusch zuzuwenden geweckt, sein ,Interesse' ist erregt. Schon vor einem eigentlichen Bewußthaben gibt es Gradualitäten der Bewußtseinslebendigkeit. Es ist die einheitliche Lebendigkeit der lebendigen Gegenwart, in deren Wandel sich ein ,affektives Relief' herausbildet. Dieses besagt, daß gemäß der Affektivität in der Urimpression (die die Urquelle aller Affektion ist) sich Unterschiede der Frische ergeben, in der die Gegenwartsgegenstände an affektiver Kraft zunehmen oder abnehmen. Anders ausgedrückt: es ergeben sidi Unterschiede an Klarheit in den retentionalen Reihen je nadi der Art der Affektivität in der Urimpression. Alles retentional Entschwindende unterliegt einer fortschreitenden ,Vernebelung' und der Tendenz, in eine affektive Ununterschiedenheit überzugehen. Jeder retentionale Zug büßt im Wandel an Kraft und büßt damit gleichzeitig an Sonde-; rung und Abhebung ein. Die Unterschiedslosigkeit des ,Unbewußten' ist eine Unterschiedslosigkeit an affektiver Kraft. — Somit ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Frische und Lebendigkeit des retentional Behaltenen und affektiver Kraft, der so zu verstehen ist, daß es sich in der Retention nicht um einen wirklichen Verlust an gegenständlichen Unterschieden handelt, sondern vor allem um einen affektiven Verlust. Wenn von verschiedenen Gegenständen keiner mehr affektiv ist, so sind diese verschiedenen in eine einzige ,Nacht' getaucht worden, allerdings mit der Implikation eines verborgenen Sinnes, dem Urphaenomen der Weckung. Unter Weckung können wir nun zweierlei verstehen: Weckung des früher schon einmal für sich bewußt gewesenen und Weckung des Verborgenen. Affektive Wirkung bezieht sich nicht nur auf bereits Unterschiedenes. „Vielmehr tritt schon innerhalb der lebendigen Gegenwart uns eine ganz eigentümliche affektive Leistung entgegen, nämlich die Weckung von Verborgenem, in impliziter Intentionalität Eingehülltem. Durch eine affektive Kraftzufuhr, die natürlich ihre Urquelle in der impressionalen Sphäre hat, kann eine an affektivem 'Sondergehalt arme oder völlig leere Retention befähigt werden, das wieder herzugeben, was in ihr an vernebeltem Sinngehalt verborgen ist." 77 Auch was noch nie explizit erlebt war, was noch keine Sinngebung oder Deutung vom Ich her erhalten kann, ist in der Grundstruktur der lebendigen Gegenwart aufgehoben und kann durch entsprechende urimpressionale Umstände geweckt und erstmals zur Selbstgegebenheit gelangen. Der retentionale Prozeß selber läßt sich nicht aufhalten, wohl aber der Prozeß der affektiven Vernebelung, in den die Weckung eingreift und das Implizite zu expliziter Gegebenheit bringt. Die Weckung ist ihrerseits ein Prozeß, der das retentional Unterschiedene, Unbewußte, die leere Retention in eine Retention verwandelt, die noch immer ,leer' an gegenständlichem Sinn ist, in der nun aber schon mehr affektiv ist, schon mehr »hervortritt'

77

Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 173.

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aus dem ,Nebel', um unter Umständen schließlich merklich und erfaßt zu werden. Welches sind die Bedingungen solcher Weckung? So wie im visuellen Sinnesfeld auseinanderliegende rote Flecken als gleiche erlebt werden, so kann auch in der zeitlichen Sukzession eine Synthese der Deckung in Distanz stattfinden. Wenn ein Glied einen Zuschuß an affektiver Kraft erhält, so erhöht sich die Kraft aller durch Homogenität und Abhebung verbundener Genossen. N u r vermöge der affektiven Kraft kommt so überhaupt Verbindung zustande. Nehmen wir eine Aufeinanderfolge gleicher Hammerschläge, dann zeigt sich, daß im Wandel der Retention der identische Sinn erhalten bleibt, ungeachtet der retentionalen Modalisierung, d. h. der gleiche Sinngehalt ist einmal im Modus der Impression, einmal im Modus des retentionalen Behaltens, in dem das Erlebnis an Frischheit eingebüßt hat, gegeben; er begründet die Synthese: so unvollkommen der gegenständliche Sinn affektiv auch noch sein mag, so kann er doch noch in Sinngemeinschaft mit dem neuen Hammerschlag treten. Dieser Gemeinschaft zufolge geht eine affektive Weckung zurück in das Sinnesgleiche, die das Verdunkelte zwar nicht zur Anschauung bringen kann, es aber ,entnebeln' kann. Von dem Moment an hat es eigene affektive Kraft, in gleicher Weise wie die neue Impression. „Damit ist aber die Bedingung erfüllt, damit die Gleichheit als solche sich nun wirklich synthetisch herstellen kann, d. h. als eine eigene, als eine affektiv abgehobene Synthese der Gleichheit." 78 Jede vereinheitlicht konstituierte Vergangenheit, jede einheitlich abfließende Sukzession projiziert sich als Erwartung in die Zukunft. Das Erfassen der Sukzession gleicher Hammerschläge läßt die Erwartung entstehen, daß weitere gleiche Hammerschläge folgen werden. Das Eintreten des Künftigen wird durch Ähnlichkeit mit dem eingetretenen Vergangenen erwartet als eine Nachbildung der ursprünglichen Vergangenheitsvorstellung. Ist früher unter dem Umstand U die Sukzession a b c eingetreten, so wird in einer jetzigen ähnlichen Lage U ' die Sukzession a' b' c' erwartet. Diese Erwartung wird hinsichtlich b' und c' verstärkt, wenn a' bereits eingetreten ist, etc. Jede Bestätigung führt zu einer Bekräftigung. Die Bestätigung kann fehlen, ausbleiben, die Erwartung wird enttäuscht, das gegenwärtige Zeitfeld füllt sich .anders' aus. Dadurch entsteht vorerst eine Schwächung der durch Wiederholung gesammelten Kraft der Erwartung, in einem zweiten Schritt entstehen Modalisierungen (Negation, Zweifel, Möglichkeit). — Mit der Zahl der induktiven ,Instanzen', also mit der Häufigkeit des Eingetretenseins unter ähnlichen Umständen, wächst die Kraft des Erwartungsglaubens. „Tritt in derselben Gegenwart in ihrer Fortentwicklung eine Mehrheit von Daten auf, die zur betreffenden Konfiguration zusammengehen können, so werden bei rückgehender Weckung von Einzelheiten aus 78

Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 176.

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Gesetze der Genesis

die betreffenden Konfigurationen geweckt, und diese, protentional erwartungsmäßig vorstrahlend, werden das Vorbild dieser Konfiguration wecken und es erwarten lassen, und dadurch wieder wird das Zusammenschließen der Konfiguration zugleich als Erfüllung begünstigt. So wirkt die Vorerwartung ,apperzeptiv', sie schafft mit in der Konfiguration der koexistierenden Gegenständen."7® Die vergangenen Konfigurationen schieben sich über die Gegenwart und soweit ähnliche erzeugbar sind, werden sie erzeugt und kommen mit der vergangenen in Deckung, d. h. sie sind ,bekannt', und zwar als Ganzes, ihrem Typus nach. Es entsteht eine Einheit der Zusammengehörigkeit, in der die Glieder aufeinander hinweisen und sich wechselseitig fordern. Die Einheitskraft wächst mit der Häufigkeit, mit der gewohnheitsmäßig vielfachen Erfahrung. „Die Einheit wird schließlich von einem offenen, klaren Horizont des Altbekannten und immer wieder so Erfahrengewesenen umgeben und wird auch im neuen Fall mit ,empirischer Sicherheit' sofort so vorgefunden und steht als solches Ganzes ohne weiteres da." 8 0 Nadidem die Einheitsbildung unter dem Gesetz der Assoziation hinsiditlidi dem gegenständlichen Sinn geklärt worden ist, wenden wir uns der uns besonders interessierenden Frage nach dem Dabeisein des Ich zu. Das auf Grund der Gesetzmäßigkeit der Assoziation sich abhebende .fällt auf*, es entwickelt eine affektive Tendenz auf das Ich hin. Wir haben bereits unterschieden in das, was sich aufdrängt und in das Ich, dem es sich aufdrängt. Die Frage nach den Bedingungen des sich Aufdrängenlassens stellen wir noch zurück; es ist die Tendenz zur Hingabe des Ich, die in einem Zusammenhang steht mit den ,angeborenen Instinkten'81. Eine wirksame Affektion weckt das Ich und sofern die Bedingung der Fortpflanzung der Affektion gegeben ist, weckt sie im Ich die Tendenz, sich ihr zuzuwenden. Das Ich ist nun von sich aus tendenziös auf das Affizierende gerichtet, es strebt danach. Auf etwas den Blick richten, sich ihm zuwenden, nennt Husserl ,Erwachen' des Ich. „Das Vollziehen der Zuwendung ist es, das wir als Wachsein des Ich bezeichnen."82 In der Zuwendung nimmt das Ich auf, was ihm durch die affizierenden Reize vorgegeben ist, wir können deshalb in dieser Hinsicht von einer Rezeptivität des Ich sprechen, müssen aber sogleich daran erinnern, daß die Rezeptivität als unterste Stufe der Aktivität anzusehen ist; es ist die Aktivität des ,ich bewege mich', ,idi lasse mir das Hereinkommen gefallen und nehme es auf'. Mit dem Einsatz der Zuwendung ist die Tendenz vom Ich her noch nidit zu ihrem Abschluß gekommen. „Sie ist zwar auf das Objekt gerichtet, aber zunächst bloß abzielend darauf. Wir können sagen, es ist mit ihr ein Inter78 80 81 82

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. Husserl: E. Husserl: das Kapitel E. Husserl:

Passive Synthesis, S. 190. Passive Synthesis, S. 191. über den .Anfang der Subjektivität*. Erfahrung und Urteil, S. 83.

Assoziative Synthesis und Interesse des Ich

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esse am Wahrnehmungsgegenstand als seiendem erwacht." 83 Interesse besagt, daß sich ein kontinuierlidies Gerichtetsein eingestellt hat. Das Bewußtsein des Daseins des Wahrnehmungsgegenstandes ist vorerst ein aktueller Glaube, der zur kontinuierlichen Glaubensgewißheit wird, wenn die Wahrnehmungserscheinungen in ursprünglicher Präsentation, Retention und Protention in kontinuierlicher Einstimmigkeit abfließen. In dieser konstanten Richtung auf den Gegenstand, in der Kontinuität seines Erfahrens liegt in Form des Glaubens eine Intention, die über das Gegebene in seinem momentanen Gegebenheitsmodus hinaustendiert. Das Tendieren des Ich auf den intentionalen Gegenstand hin, auf die im Wechsel der Gegebenheitsweise ,erscheinende' Einheit, kann auch mit dem Begriff der .Aufmerksamkeit' umschrieben werden. Die einsetzende Zuwendung ist Anfang eines fortgehenden vollziehenden Geriditetseins des Ich auf den Gegenstand. „Der Anfang zeichnet eine Richtung eines weiteren, synthetisch einheitlichen (obschon vielleicht vieldeutig fortzuführenden) Vollzugsprozesses vor, in dem sich Phase für Phase die ihm vom Einsatz und den bisherigen Vollzügen zugewachsene Tendenz erfüllt, aber zugleich tendenziös sich forterstreckt und vorweist auf neue Erfüllungsstadien." 84 Der Anfang der Zuwendung hat schon einen intentionalen Horizont, der in einer leeren, erst nachkommend anschaulichen Weise über sich hinausweist. Interesse ist deshalb nicht nur ein fortgehendes Bewußthaben, „sondern ein Fortstreben zu neuem Bewußtsein als ein Interesse an der mit dem weitergehenden Erfassen eo ipso sich einstellenden Bereicherung des gegenständlichen ,Selbst'. So geht die Zuwendung weiter als Tendenz auf vollkommene Erfüllung" 85 . Interesse, so wie es hier verstanden wird, hat noch nidits zu tun mit einem spezifischen Willensakt, es ist bloß ,ein Moment des Strebens' 86 . Dieses Streben hängt zusammen und wird in Gang gesetzt durch ein .Gefühl', das ,ein ganz eigentümlich gerichtetes' ist. Es ist nicht zu verwechseln mit einem Gefallen am Gegenstand, denn es kann ja auch sein, daß ein Unwert, etwas Abstoßendes unser Interesse' erweckt. Ob der Gegenstand durch seinen Wert oder Unwert unsere Zuwendung motiviert, in jedem Fall wird sich, sobald wir ihn erfassen, sein Sinngehalt bereichern. Bereichern kann die bloße anschauliche Fortdauer, ebenso aber die dabei erfolgende Weckung der dunklen Horizonte, die immer neue Bereicherungen erwarten lassen. „Daran knüpft sich ein eigenes Gefühl der Befriedigung an dieser Bereicherung, und mit Beziehung auf diesen Horizont sich erweiternder und steigen^ der Bereicherung ein Streben, dem Gegenstand ,immer näher zu kommen* sich sein Selbst immer vollkommener zuzueignen." 87 83 84 85 86 87

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. E. E. E. E.

Husserl: Husserl: Husserl: Husserl: Husserl:

Erfahrung Erfahrung Erfahrung Erfahrung Erfahrung

und und und und und

Urteil, Urteil, Urteil, Urteil, Urteil,

S. S. S. S. S.

87. 85. 87. 91. 92.

100

Gesetze der Genesis

Die Befriedigung des Interesses, die Erfüllung des tendenziösen Fortstrebens von Gegebenheitsweise zu Gegebenheitsweise des Gegenstandes ist nichts anderes als die Erfüllung der Erwartungsintentionen, deren Entstehung wir verfolgt haben und die den ,Inhalt* bilden zu jenem ,eigentümlich gerichteten Gefühl', das nach Bereicherung der gegenständlichen Erfahrung strebt. Bereicherung der Erfahrung ist ineins Bereicherung des Vermögenshorizontes, des Spielraums eigener Möglichkeiten, des Bewußtseins des ,Ich kann'. So können wir nun fragen; was setzt das Streben nach Bereicherung überhaupt in Gang, wodurch ist das Ich motiviert, seinen Erfahrungshorizont zu vergrößern, sich zu einem wachen Ichleben wecken zu lassen. Wir wollen uns mit einem vorläufigen Hinweis begnügen, um in einem spätem Schritt näher darauf einzugehen: D i e Idee der unendlichen Vervollkommnung, der Prozeß, die notwendigen Widersprüche' des Daseins zu überwinden und dadurch zur Einstimmigkeit mit sich selbst zu gelangen, scheint begründet zu sein in einer ursprünglichen Teleologie, die in der Entwicklung das Erste ist und das Ich ursprünglich bewegt, sich seine Welt zu gestalten. Es ist ein teleologischer Prozeß, der in sich einen universalen ,dunklen Willen zum Leben' als ursprünglichste Form birgt 8 8 . „ A u f Welterfahrung, auf Welterkenntnis, auf mögliches bewußtseinsmäßiges Weltleben als personales, als Leben in Gemeinschaft und in einer Gemeinschaftssinn annehmenden Kulturwelt ist jede menschliche Seele von vornherein angelegt 8 9 ."

88 89

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. E III 9, Bl. 6. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. E III 9, Bl. 10.

G. ENTWURF EINER GENESE DES ICH U N D DES SELBSTBEWUSSTSEINS

„Aus der Wesensart der beständigen Genesis muß gezeigt werden die Notwendigkeit einer Genesis, die anfangend konstituierend ist." 1 — Husserl selber hat die Frage nach dem Anfang der Subjektivität, das heißt konkret, nach der Genese des Ich in der frühesten Kindheit, in einigen Manuskripten um 1931/32 gestellt und in verschiedenen Ansätzen nach einer Antwort gesucht. Ein vollständiger Aufbau ist nicht entstanden; die vorhandenen Ansätze und Hinweise scheinen aber zu genügen, um die Richtlinien für einen Entwurf der frühesten Idientwicklung abzugeben. Wie das obige Zitat zeigt, muß auf dem Boden der Gesetze der Genesis, die für alles Konstituieren gültig sind und deren unterste Stufen wir vorangehend dargestellt haben, zurückgefragt werden nach einem Anfang und Ursprung, der nicht nur auf die ursprünglichsten Empfindungen und Erlebnisse zurückgeht, sondern nach deren Gültigkeit für den Lebensanfang fragt. — Die einfachsten Empfindungen setzen nach Husserl schon Abgehobenheiten, Vordergrund-Hintergrund-Verständnis voraus, wodurch Affektion und ichliche Zuwendung möglich ist. Es wäre voreilig anzunehmen, daß dies für den Anfang des Erlebens nach der Geburt in gleicher Weise zutrifft. Ebensowenig kann mit Sicherheit gesagt werden, daß das ,Ich' vor der ersten Affektion und Zuwendung in jeder Hinsicht ein ,Nichts' sei. So stellt sich die Frage, wie dem phaenomenologisdien Denken zu jenen in Frage stehenden Anfängen Zugang verschafft werden kann. Es ist die Frage nach einer geeigneten Methode, die sich wiederum an den Anfang stellt und einige Vorüberlegungen erfordert.

1. Das methodische Problem eines Rückgangs auf den Anfang der Subjektivität Die Frage nach der Konstitution eines ,ich denke', ,ich erlebe' ist an die reflexive Selbsterfahrung gebunden. „Unser ganzes Vorgehen ist, eine Selbstbesinnung vollziehen und auf das ,absolut wahrnehmungsmäßig Gegebene' reduzieren . . ." 2 Reflektieren, jederzeit auf sich selbst zurückblicken kann 1 2

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 18. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 7 1, Bl. 34.

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Entwurf einer Genese des Idi und des Selbstbewußtseins

das Ich, weil sein Leben ein ständiger Prozeß ist, der ihm als kontinuierliche Einheit bewußt ist. Das Bewußtsein der Kontinuität begründet das Vermögen, in den offenen Horizont der Vergangenheit zurückzugehen, in Wiedererinnerungen das Vergangene anschaulich wieder zu wecken. Wenn wir von der Säuglingszeit sprechen, müssen wir nun aber feststellen, daß die explizite Wiedererinnerung in sie nicht hineinzureichen vermag. Es handelt sich um die Rekonstruktion eines Reiches vollständigen Vergessens, dessen Erschließung auf dem Wege der phaenomenologischen Selbstbesinnung nicht mehr möglich ist, da die Bedingungen des Reflektierenkönnens offensichtlich nicht erfüllt sind. So stellt sich die Frage, „was ich über die notwendige Struktur der ersten Kindheit, in der die zweite (gemeint ist: erinnerbare) entspringen muß, rekonstruktiv und doch apriori aussagen kann, aussagen über die ,vergessene* Konstitution, wobei ev. noch die Wesensnotwendigkeit solchen Vergessens verständlich werden müßte" 3 . Zur Herstellung einer solchen Rekonstruktion bieten sich verschiedene methodische Wege an: a) Die Analogie mit der Sphäre der Anonymität in der lebendigen Gegenwart „Hier bestätigt sich folgender Gedanke. Wirklich f ü r mich als zeitlich seiend (oder, was dasselbe, als seiend) konstituiert ist, was aus meiner konstituierenden Aktivität her konstituiert worden ist, und eventuell vermittels apperzeptiver Übertragung seinen Zeitsinn hat. Konstituierende Aktivität setzt aber passive Zeitkonstitution voraus, und wir werden zurückgeführt auf eine solche passive Konstitution, die vorzeitlich, vorseiend schon die Zeitlichkeit in sich trägt; aber wesensmäßig können wir, nachdem wir Seiendes in wirklicher Zeitlichkeit schon haben, reflektierend zurückgehen auf Grund der Wiedererinnerung und in ihrer Wiederholung nachträglich zeitliche Konstitution vollziehen, also das zeitliche Sein als Vergangenheit der nachherigen Gegenwart konstruieren. Das aber in Evidenz als eine v e r gessene', aktuell nicht vollzogen gewesene, aber wirkliche Vergangenheit. Das betrifft ja die gesamte anonyme Bewußtseinssphäre, die sogar zum größten Teil erst durch die phaenomenologische Arbeit zu einer .expliziten' Zeitigung kommt, während es ihr im Leben an wirklich f ü r das Ich zeitlichem Sein fehlte." 4 Wir sprechen von einem anonymen ,Ich fungiere', das ,vorzeitlich', ,vorseiend' ist, und wir sprechen von einem Anfang der Konstitution des Ego und des innerzeitlichen Feldes „in einer anfangenden Zeitigung, die, obschon anfangend, doch nicht besagen kann: in einer Zeitlichkeit, die schon ist, — also nicht im gewöhnlichen Sinne anfangend" 5 . 3 4 5

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 4. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 9. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 8.

Das methodische Problem eines Rückgangs

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Sondern anfangend in einer Praeexistenz, in der das Ich gedacht werden muß als „in sich eigentlich ohne Zeitlichkeit und doch mit dem ,vor' die Zeitlichkeit voraussetzend" 4 . Handelt es sich beim anonymen ,Ich fungiere' und beim Ich vor aller Konstitution um dieselbe ,Vorzeitlichkeit'? Das scheint kaum möglich zu sein, denn das Ich ist genetisch nicht im gewöhnlichen Sinne anfangend, nicht anfangend wie irgend ein hyletisches Datum, wie die Urimpression eines Ich, das hinter sich kontinuierlich sich anschließend schon Strom hat, in welchem allgemein typische Formen immer schon vorgezeichnet sind. — Das anfangende Ich hat keinen Vergangenheitshintergrund von Zeitigungen und die erste Affektion, das erste Datum ist nicht apperzipierbar als ein Seiendes in der Art der Vorgegebenheit der Dinge, die ein schon entwickeltes Ich affizieren. Hier wird schon deutlich, daß die Gesetze der beständigen Genesis, die primär für die Abfolge von Erlebnissen in einem konstituierten Bewußtseinsstrom gelten, nicht unbedacht übernommen werden können, da die Voraussetzungen, die gemacht werden können, unterschiedlich sind. So scheint es, daß es sich in dem einen Fall um ein schon konstituiertes Ich, das auf seine Sphäre der Anonymität reduziert wird, in dem anderen Fall um ein noch nicht konstituiertes ,Ich', das noch kein Ich-leben und noch nichts hat, woraus her und worauf hin es lebt, handelt. Muß man deshalb annehmen, daß das Ich vor der ersten Affektion und Weckung in jeder Hinsicht ein Nichts war? „Ist es nicht so, daß Affizierendes, sich Abhebendes sein muß von einem Untergrund, und daß die Abhebung gemindert gedacht werden kann bis zu einer Grenze Null, in der sie verschwindet, in der das Sich-Abhebende in seinen Untergrund verfließt. . . . Ist es aber nicht evident, daß der Grenzfall nicht in jedem Sinne ein Nichts wäre, sondern ein Nicht-Zeitliches mit seinem Ich, das unerwacht wäre, das traumlos schliefe und erst ,später' erwachte, wenn eben Zeitigung sich anschließt." 7 Der erste Strom fängt nicht eigentlich an, er muß keinen Strompunkt haben und das Ich des konstitutiven Anfangs ist kein völlig leerer Ichpol, es fängt nicht an mit einem ,Knall'. Zeitigung setzt das urphaenomenale Strömen voraus; eine UrafTektion muß schon strömend im Gange sein, damit ein temporaler Einsatzpunkt konstituiert sein kann und „ein wenn auch noch so kleines Stück dieser im Gange seienden Affektion, des wesensmäßig praetemporale Zeitlichkeit konstituierenden Strömens, des ,Vorangehens' ((muß zurückgelegt sein)), damit das Ich als Aktpol im höheren Sinne wach sein kann, nicht nur wach als affiziert, sondern wach als sich zuwendend, beschäftigend" 8 . Das Wachwerden des Ich geschieht durch Affektion von « Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 13. 7 Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 12. 8 Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 10.

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Nicht-Ichlichem, zu einer Affektion kommt es aber nur dann, wenn das Nicht-Ichliche ,von Interesse' ist. Es ist nach den vorangehenden Überlegungen nicht mehr möglich, den Anfang des Ichs, der Subjektivität aufzufassen als ein Ereignis, dem nichts an ,Ichlichem' vorangegangen wäre, das ein Produkt völlig ichloser Vorgänge wäre, sondern wir werden zurückgeführt auf eine ,Zweiseitigkeit' 9 im Lebensstrom, die bereits fundiert ist in einer Zweiseitigkeit der Vor-Zeitlichkeit, des Vor-Seienden. „Aber wie ist es mit der postulierten Uraffektion in der urhyletischen Sphäre? Kann da gesagt werden: diese Affektion geht hier voran jedem Tun und das erfolgende Tun, wenn sie die überwiegende affektive Kraft hat, sei das bloße Sichhinwenden und Sehen? Was ist das für ein Sehen? Was soll das für eine Aktivierung der ,passiven' Urimpression und Protention sein? Die Protention erfüllt sich schon passiv? Ist es dann hier schon ein ichloses Streben, das zur Verwirklichung stetig führt, stetig neues Streben weckt etc.? Aber wie steht es mit dieser Konstruktion? Ist nicht alles Streben schon ichlich? Aber wie kann ein Streben ichlich sein, wenn das Ich, wie bei den Hintergründen der urmodalen hyletischen Gegenwart gar nicht dabei ist? Oder handelt es sich um verschiedene Modi des ,dabei'?" 10 Der Modus des ,dabei' in der Urimpression und in der hyletischen Sphäre heißt bei Husserl .Gefühl'. Gefühl beinhaltet das ,Ansprechen' des hyletischen Inhaltes, primär als .Anziehender' oder .Abstoßender'. „Der hyletische Inhalt affiziert das Ich im Gefühl 10 ." Der Begriff der Affektion erhält somit eine Erweiterung und Modifizierung. Die inhaltliche Abgehobenheit vermag nicht .selbständig' zu affizieren; sie ist nur noch Bedingung der Affektion, vermag das Ich nicht zur aktiven Zuwendung aufzurufen, sondern nur ,das Ich im Gefühl' zu bestimmen. Die eigentliche Aktivierung vollzieht das Ich. Das ,Gefühl' stellt nach Husserls Auffassung eine ,Vorform' dieses Ich dar, in dem es sich einerseits inhaltlich durch nicht-ichliche urhyletische Daten bestimmen läßt, die Hinwendung andererseits ,von sich aus' vollzieht. „Das Inhaltliche ist das Ichfremde, das Gefühl ist aber schon ichlich. Das ,Ansprechen' des Inhaltes sei nicht Aufruf zu etwas, sondern ein fühlendes Dabeisein des Ich, und zwar nicht erst als ein Dabeisein durch Hinkommen und Anlangen. Das Ich ist nicht etwas für sich und das Ichfremde ein vom Ich Getrenntes und zwischen beiden ist kein Raum für ein Hinwenden. Sondern untrennbar ist Ich und sein Ichfremdes, bei jedem Inhalt im inhaltlichen Zusammenhang und bei dem ganzen Zusammenhang ist das Ich fühlendes. Fühlen ist die Zuständlichkeit des Ich vor aller Aktivität und, wenn es aktiv ist, in der Aktivität." 11 » Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 10, Bl. 8. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 V. Bl. 17. 11 Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 V, Bl. 18. 10

Das methodische Problem eines Rückgangs

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Die erste Form der Ichlidikeit liegt in dem gefühlmäßigen Dabeisein. Es ist ein Dabeisein, das dem sich zuwendenden, aktiv erfassenden Ich vorausliegt, ein Dabeisein, das vor aller Zeitigung und Konstitution von Gegenständen wirksam ist, ein Vor-sein des Ich auch ,vor' der Zeitlichkeit, vor der Konstitution eines einheitlichen Präsenzfeldes mit retentionalen und protentionalen Horizonten und dem Vermögen der Wiedererinnerung. Vorzeitlich ist das Ich des konstitutiven Anfangs und vorzeitlich war das Ich des ,Ich fungiere', das wir bei K. Held kennengelernt haben. Husserl selber hat diese beiden, methodisch sicher verschiedenen Fragestellungen nach der Vorzeitlichkeit des Ich nicht deutlich auseinandergehalten und dieselben Ausführungen können oft einmal für das eine oder andere geltend angesehen werden 12 . Ein Vergleich ist auch von daher naheliegend und so wollen wir untersuchen, was von dem früher Gesagten für unsere Frage nach der Vorzeitlichkeit Gültigkeit hat. Ichliches Verhalten fängt nicht an mit einem ,Knall', jeder Aktivität liegt der urpassive Wandel zu Grunde. Schon im passivsten Strömen liegt ein Modus ichlichen Beteiligtseins. Man kann keine passive, ichlose Vorkonstitution ansetzen, aus der ein Ich erst ,entsteht'. Fraglich ist nur die Art es ichlichen Beteiligtseins im urtümlichen Strömen. Was ist das urtümliche Strömen, der urimpressionale Wandel konkret gesprochen? Er ist in der passivsten Formulierung die .Aufeinanderfolge' von Sinneseindrüdsen, von Sinneserlebnissen oder Empfindungen, wobei das Bewußtsein einer zeitlichen Abfolge noch nicht besteht. Von Empfindungen und Sinneserlebnissen haben wir früher schon gesprochen und festgestellt, daß alles Empfinden ein Sichselbst-empfinden ist, und daß die passivste Rezeptivität nur in einem kinaesthetischen Bewußtsein möglich ist. Das empfindende Sichbewegen ist, wie wir weiterhin gesehen haben, gesteuert durch die elementaren Qualitäten des Anziehenden und Abstoßenden, die das Ich im ,Gefühl' bestimmen. Gefühl ist eine erste Form des Dabeiseins des Ich und so wie das Empfinden zugleich ein Sich-selbst-empfinden ist, kann nun das Gefühl bestimmt werden als ein Sich-selbst-fühlen. Darin liegt der Modus der Ichlichkeit, des ichlichen Beteiligtseins, der für das urtümliche Strömen seine Geltung hat. Sich-selbst-fühlen und Sich-selbst-empfinden sind die elementarste Form des Bei-sich-selber-seins, der Gewißheit, daß ich es bin, der angezogen, abgestoßen wird, der empfindet, einer Gewißheit, ohne die das elementarste Erleben, die einfachsten Sinneseindrücke nicht zur Rezeption gelangen würden. Unter dieser Hinsicht kann nun gesagt werden, daß jener vorzeitliche, unaufhebbar anonyme ,Konnex' des Ich mit sich selbst in der Sphäre der elementaren Empfindungen die Zuständlichkeit des Ich ist, die Fühlen heißt. Eine Analogie mit dem anonymen Ich scheint möglich zu sein und die 12

Vgl. E. Husserl: z. B. Ms. transcr. C 16 IV, E III 9, K III 11.

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Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins

Aussagen, die aus dem Rüdegang auf das anonyme ,Ich fungiere' gewonnen wurden 1 3 , scheinen eine beschränkte Gültigkeit auch für unsere Anliegen zu haben. Allerdings nur eine beschränkte, da die Fragestellung nicht in allen Teilen dieselbe ist und methodisch nicht derselbe Weg beschritten werden kann. So kann die eigentliche Frage nach dem A n f a n g des Ichlebens nach der Geburt durch diese Analogie nicht gelöst werden; der Weg über die Fremderfahrung kann hinsichtlich des Anfanges keinen Aufschluß bringen, da die Frage der Genese der Fremderfahrung noch ungewisser ist als was wir über das ,Vor-Ich' in Erfahrung bringen konnten. — Festhalten können wir, daß jeder aktiven Ichbeteiligung genetisdi ein urpassives Strömen vorhergehen muß, das in seiner Passivität nicht völlig ichlos ist, sondern in ichlicher Hinsicht durch ein fühlendes Dabeisein charakterisiert ist. Mit dem Rückgang auf die Anonymität des ,Ich fungiere* ist der Rückgang auf den A n f a n g des Ich im Säuglingsleben noch nicht vorgezeichnet. Wir müssen uns in anderer Weise überlegen, wie wir uns methodischen Zugang verschaffen können zu einem Anfang, der am Leitfaden der Zeitproblematik nicht erreichbar ist, weil er genetisch vor der Konstitution des Zeitbewußtseins liegt und von dem her erst gezeigt werden muß, wie ein Bewußtsein von Einheit und Kontinuität entsteht. b) Der

Limesfall,Geburt'

Wenn wir in phaenomenologischer Absicht über das Ich oder das Selbstbewußtsein Aussagen machen, dann haben wir stillschweigend das normal entwickelte reife Ich vor Augen, das einen Vergangenheits- und Zukunftshorizont besitzt, das sich eine Welt konstituiert hat und sich seiner Vermögen bewußt ist. Wir halten uns an den N o r m a l f a l l des Bewußtseinslebens. Wenn es uns gelungen ist, die originale Gegebenheit der Welt in der Form der schlichten Erfahrung zu erfassen, so haben wir erst einen A n f a n g in der Erschauung des Wesens möglicher Welt gemacht. Die Welt, wie wir sie auch immer erfassen, verweist immer weiter auf einen Horizont noch unenthüllter Erfahrungsmöglichkeit. Der Weg der immer vollkommeneren Enthüllung der Horizonte ist ein ,unendlicher'. Sollte es z. B. gelungen sein, die Gegebenheit der Welt in einem normal entwickelten und reifen Bewußtseinsleben voll erschlossen zu haben, dann treten uns in Horizonten unenthüllter Erfahrung „Typen entgegen, wie organisches Wesen, menschliches K i n d als Neugeborenes und als Embryo, Tiere und tierische Anfänge, anomale Menschen und Tiere, Pflanzen, die f ü r die Praxis des alltäglichen Lebens bekannt sind oder werden können, aber ihre unerschlossenen rätselhaften Wesenstiefen haben" 1 4 . 13

14

Vgl. dazu die Ausführungen von K . Held und seinen Begriff der „Vergemeinschaftung" Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 6, Bl. 2.

Das methodische Problem eines Rückgangs

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Wenn wir uns selber als normal entwickelte Menschen mit einem reifen Bewußtseinsleben auffassen, dann ist die Möglichkeit der Ersdiließbarkeit der eben genannten Horzonte des Anomalen auf dem Wege der reflexiven Selbstbesinnung beschränkt. Es handelt sich um Grenzfragen f ü r eine Methode, die auf Selbstbesinnung beruht, um ,Limesfragen'. Für unsere Fragestellung sind diejenigen Grenzfälle von Interesse, die mit den Grenzen der Zeithorizonte und -Dimensionen zu tun haben, also Fragen nach dem Anf a n g und Ende von Leben und Ichleben und den ev. damit verwandten Wachzuständen, mit der Gegenüberstellung von wachem aktivem Ichleben und traumlosem Schlaf. Wenn wir in die Vergangenheit zurückgehen, finden wir, daß jedes Wahrnehmungsfeld über sich hinaus einen Sinn hat, der auf eine frühere Erfahrungsstufe verweist. Ausgehend von dem Erfahrungsfeld, in dem für den schon konstituierten Leib alle Gegenstände im Zugriff erreichbar sind, werden wir darauf zurückgeführt, daß diese Nahsphäre der Erreichbarkeit als Kern den Leib hat, der auf sich selbst zurückbezogen ist und auf ein Ich, das in diesem Leib waltet und dessen zugehörige Vermögen. „Aber schließlich muß sich auch der Leib in seiner Wahrnehmbarkeit und Verfügbarkeit konstituiert haben in seiner Genesis. Wir kommen notwendig auf den Anfangslimes des Ich, den es selbst ,erschaut', zurückschreitend in seine eigene Genesis als leiblich seiendes Ich und als Ich-Mensch." 15 In diesem genetischen Rückgang, der vom wachen Ich zurückgeht auf einen möglichen Ich-Anfang „haben wir als Limes das erwachende Ich, das zu seinem Leben erwachend und sich f ü r sich selbst weiterkonstituierend ((ist)), ((so)) daß es — für sich bewußtseinsmäßig — zum Menschen wird. Diese induktive Betrachtung braucht noch nicht transzendental zu sein; in natürlicher Einstellung heißt das: der Mensch hat wesensmäßig eine psychologische Genesis, in ((der)) er sich allmählich kennen lernt als Menschen und kennen lernt die Welt und zunächst als Nahwelt und dann als Fernweh" 1 8 . Innenpsychologisch muß nach dieser rückgehenden Befragung die Einsicht gewonnen werden, daß zu jedem Menschen und zu mir selbst ein A n f a n g gehört in der Form: „erwachendes Ich, das noch nicht Ich im menschlich natürlichen Sinn ist, noch nicht eine Umwelt hat und Ichsubjekt der Umwelt ist, was alles es sich erwerben muß" 1 7 . A n f a n g als erwachendes Ich besagt dabei grundsätzlich nicht, daß dieser A n f a n g zusammenfällt mit dem Anfang, den das Leben bei der Geburt nimmt. In einer reinen ,Innenbetrachtung' kann diese Frage nicht beantwortet werden, so daß das Erwachen des Ich in der bisherigen Betrachtung grundsätzlich zu einem noch unbestimmbaren Zeitpunkt sowohl vor als auch 15 18 17

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 8 1, Bl. 29. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 8 1, Bl. 29. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 8 1, Bl. 29.

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Entwurf einer Genese des Idi und des Selbstbewußtseins

nach der generativen Geburt angesetzt werden muß. — Entsprechend dem Rückgang auf ein anfangendes Ich kann ein ,Rückgang auf das ,aufhörende* Ich vollzogen werden, (wobei die entsprechenden Ausführungen audi ein Licht auf den Anfang werfen): „so gewonnen findet sich in letzter Hinsicht nichts anderes als Abnahme der Vermögen, darunter vor allem aller Erinnerungsvermögen, darunter in fortschreitendem Maße Abnahme des Wiedererkennens, des apperzeptiven Erkennens der vertrauten Typen von umweltlichen Dingen und schließlich überhaupt von Dingen, auch des Leibes als Leib, der H a n d als Hand und als das, womit sie das und jenes tun kann, die Abnahme der Affektivität, immer größere Unfähigkeit, Empfindungsweisen zu folgen, Unfähigkeit, sich selbst als Ich zu kennen, als Subjekt von Vermögen und Pol von Affektionen und Aktionen, die eben auch verschwunden sind, — schließlich als Limes Aufhören des Bewußtseinslebens und damit auch des Ich als Identitätspol dieses Lebens und der zugehörigen Vermögen. Das wird wohl die beste Fassung des Limes-Gedankens sein." 18 Das Ich vor dem Anfang läßt sich in mancher Hinsicht mit dem traumlos schlafenden Ich vergleichen. Traumloser, bewußtloser Schlaf ist hinsichtlich des wachen Ichlebens ebenfalls ein Limesfall, der aber der phaenomenologischen Reflexion dadurch zugänglicher ist, daß er sich als Teilstrecke in den wachen Bewußtseinsstrom einfügt. Husserl hat den ,traumlosen Schlaf' häufig herangezogen, um zum ,Vor-Ich' in seiner ,Vor-Welt' und ,Vor-Zeit' einen Zugang zu erhalten. Der traumlose Schlaf kann als völlige Weltlosigkeit interpretiert werden, als „Nullmodus des Vermögens der Aktivität" 19 . „Das im gewöhnlichen Sinne bewußtlos schlafende Ich als gezeitigtes, das ,zeitweise schläft', hat noch den sedimentierten Untergrund der verborgenen Zeitigung unter seiner Gegenwart, die völlig abhebungslos ist und daher weder affektiv noch hinsichtlich der Vergangenheit und Zukunft weckend ist; die Assoziation fungiert nicht. Seine gesamte Kinaesthese ist auf Null gestellt und bleibt so, und das verborgene kinaesthetische System, das System möglicher Aktivität, die sich reaktiv von dem Was dahin und dorthin ,spannt', ist zwar konstituiert, aber es .schläft'. Aber auch das Hyletische ist im Status Null der Reizlosigkeit." 20 Das gewöhnlich erwachende Ich wird affiziert von seienden, vorgegebenen Dingen auf Grund der Empfindungsdaten, die auf Null gestellte Kinaesthese kommt wieder in Gang, das Ich wird zu neuer Aktivität motiviert. Die Weckung steht unter den Gesetzen der Assoziation, geweckt wird „das Ich, das schon Menschen-Ich ist, also in seiner Habitualität den Erwerb der Welterfahrung hat; die Weckung geht von der hyletischen Mannigfaltigkeit aus, geweckt aber werden die ichlichen Erwerbe und die Ich-Vermögen, 18

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 8 1. « Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 10, Bl. 25. 20 Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 12, 13.

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— die Erwerbe der alten aktuellen Interessen, der alten Zwecke, Willensziele mit ihrem synthetischen Zusammenhang . . ." 21 . Die Motive zur Wekkung aus dem Schlaf müssen in der lebendigen Gegenwart liegen, wobei als wirksamste Motive ,Interessen' im weitesten Sinn anzunehmen sind, „ursprüngliche oder schon erworbene "Wertungen des Gemüts, instinktive oder schon höhere Triebe" 22 . Der entscheidende Unterschied zwischen natürlich schlafendem Ich und anfangenden Ich besteht nun darin, daß das anfangende Ich oder das Ich bei der Geburt noch keine Weltlichkeit und Welt für sidi hat, noch keine Weltzukunft, in der es etwas vorhaben könnte. Es hat keine Zukunft, weil es keine Vergangenheit von Erwerben, Vermögen hat, die es erneuern und als immer dieselben identifizieren könnte. Das anfangende Ich hat noch kein Konstituiertes, zu dem es wieder-geweckt werden könnte. — Wie eine ,erste' Weckung zustande kommt, scheint der Vergleich mit dem Schlaf nicht erklären zu können. Wie im Schlafzustand, so können wir vorerst annehmen, befindet sich das ,Vor-Ich' in einem Zustand der Reizlosigkeit, eines Null-Modus der Aktivität, eines Nicht-Zeitlichen, etc. Im Unterschied zum Schlafzustand hat es noch keinen sedimentierten Untergrund, es hat noch nie gezeitigt, es war noch nie aktiv. Müssen wir dann sagen, daß es aus reiner Passivität, reiner Rezeptivität hervorgegangen ist? Hier geraten wir in Schwierigkeiten, denn wir haben wiederholt festgehalten, daß jede Rezeptivität ein Mindestmaß an Aktivität einschließen muß, damit überhaupt etwas rezipiert wird. So können wir bereditigterweise mit Husserl fragen: „Kann ich je angefangen haben? H a t .Angefangenhaben' Sinn, wenn nicht als Haben in einer Zeit. Ich kann wohl ein „erstes Erwachen" und ein „letztes Erwachen" haben — aber einen Anfang als strömend „lebendige" Gegenwart?" 23 Die Frage nach einem ersten Anfang des Ichlebens gibt Schwierigkeiten auf, die nur schwer zu überwinden sind. Wenn wir uns aber unsere Problemstellung, nämlich was der menschliche Säugling in idilicher Hinsidit bei der Geburt sei, vergegenwärtigen, melden sich Zweifel an, ob die Frage nach dem Anfang überhaupt so radikal gestellt werden muß. Aus der Beobachtung ist anzunehmen, daß der Säugling bei der Geburt schon ,Interessen' im weitesten Sinn und einfachste Gemütsregungen hat. Dieses Problem zeigt uns deutlich, daß es uns noch nidit gelungen ist, Zugang in jene Sphäre des totalen Vergessens zu erhalten, d. h. es ist uns noch nicht gelungen, alles was wir über den Anfang des Ich prinzipiell in Erfahrung bringen konnten, auf die Säuglingszeit anzuwenden und in ihr zu lokalisieren.

21 22 28

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 4, Bl. 18. Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 178. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 2 III, Bl. 9.

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c) Der Weg über die Einfühlung Die Begründung von innen her ist naturgemäß möglich, soweit die Erinnerung reicht. Wir haben bisher versucht, die Grenze der Erinnerung zu überwinden, indem wir Gesetze von Erfahrungen, die auf jeder Konstitutionsstufe vorkommen und die auch noch nicht den Charakter von Erfahrungen im prägnanten Sinn als gerichtete haben, mit der Idee eines Anfanges zu konfrontieren suchten. Dieses Vorgehen hat dann Sinn, wenn wir schon wissen, wie der Anfang zu denken ist. Die Untersuchung muß sich infolgedessen nach den folgenden zwei Gesichtspunkten gliedern: 1. Enthüllung der konstitutionellen Strukturen, die vom menschlichen Ego vollzogen werden und bis in die frühe Kindheit erkennbar sind. 2. Von da muß der Weg statt über mich und mich als Säugling über andere Menschen und andere Säuglinge genommen werden. Was wir auf diesem Wege in Erfahrung bringen konnten, übertragen wir durch Selbstapperzeption auf uns als Menschen, die eine Säuglingskindheit hatten 24 . Der Weg über andere Menschen ist an unser Vermögen der ,Einfühlung' gebunden, ohne das wir die andern nicht als andere Ich auffassen könnten. — Zunächst begegnen uns nach Husserls Lehre von der intersubjektiven Konstitution die Andern als wahrnehmbare Gegebenheiten in der Welt. Ihr Inneres, ihr Seelenleben, ihr Ichleben ist nur mittelbar zugänglich. In naturalistischer Einstellung erscheinen mir fremde Animalien zunächst als Körper, als materielle Dinge. Wenn sie meinem Leib ähnlich sind, fasse ich sie als Leiber auf. Wenn ein Leib wahrgenommen wird, der so beschaffen ist, daß er dem meinigen gleicht, daß er eine phaenomenologische Paarung eingehen muß, wird ihm der Sinn ,fremder Leib' von meinem her übertragen. Der Sinn ,fremder Leib' besagt, daß ich ihm ein Seelenleben oder ein IchSubjekt einfühle. Die Innerlichkeit des Seelischen gehört nicht zur raumzeitlichen Natur und kann deshalb unmittelbar nicht zugänglich sein. Mein Seelenleben .konstituiert sich' in Inneneinstellung; diese Erfahrung, die ich von mir selber habe, fühle ich fremden Leibern ein. Z. B. weiß ich von mir, daß ich es bin, der mit seinen Händen nach etwas greift, der mit seinen Füßen gehen kann. Wenn ich andere greifende Hände, gehende Füße wahrnehme, erfasse ich sie als zugehörig zu meinem Leib mit zugehörigen ichlichen Vermögen. Dabei tritt der Andere primär nicht als etwas von mir Verschiedenes, sondern als anderes Selbst auf. Daß ich den andern Leib als fremden und nicht als Verdoppelung meines eigenen ansehe, zeigt sich darin, daß ich Zentrum einer um mich orientierten primordinalen Welt mit dem Index des ,Hier' bin, während der andere den Index des ,Dort' hat. Zwischen dem Hier und dem Dort steht die gemeinsam konstituierte Welt, die eine unaufhebbare Vermittlung darstellt. Der immanente Lebensstrom des Andern ist mir nur zugänglich über seine konstitutiven Äußerungen oder 24

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3.

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über den .Ausdruck'. Nicht das andere Ich selbst mit seinen Erlebnissen und mit allem, was zu seinem Eigenleben selbst gehört, kommt zu ursprünglicher Gegebenheit, sondern es kommt zur Gegebenheit in einer ,gewissen Mittelbarkeit der Intentionalität' 25 . Diese Mittelbarkeit kann ich einverstehend überbrücken, weil ich ein Bewußtsein der leib-seelischen Einheit besitze. Der fremde Leib, den ich originär wahrnehme, verweist auf eine seelische und ichliche Innerlichkeit, die ich gleich auffasse wie meine eigene. Das fremde Ich wird in einem ersten Schritt analog dem eigenen Ich verstanden, als eine intentionale Modifikation meines Selbst. Wie die Selbsterfahrung kann nun auch die Fremderfahrung gedacht werden als versehen mit einem unerschlossenen Horizont unendlich zu vervollkommnender Enthüllung. Als erwachsener Mensch verstehe ich fremde Ich zunächst als analog zu meinem erwachsenen Ich. So wie ich mich in die Horizonte meines vergangenen und zukünftigen Ich hineindenken kann und an eine Grenze der Aufdeckbarkeit gelange, kann ich mich in Horizonte fremden menschlichen Seins hineindenken und an eine Grenze gelangen, bei der das einfühlende Verstehen versagt. Die Befragbarkeit des Horizonts meiner ichlichen Vergangenheit hat ihre Grenze in der Begrenztheit der Wiedererinnerung, die in die Säuglingszeit nicht einzudringen vermag. Die Fremderfahrung und die Einfühlung in fremdes ichliches Leben ist nun im Unterschied dazu nicht an die Grenze der Wiedererinnerung gebunden. Ist einmal ein Anfang des Verständnisses fremden Seelenlebens gegeben, ist dieses Verständnis nicht mehr an die Grenzen des Horizonts der Selbsterfahrung gebunden. Die Selbsterfahrung gibt zwar den Typus vor, darüber hinaus sind nun aber Modifikationen denkbar, die eine Einfühlung in fremdes ichliches Leben zulassen, das teilweise oder ganz von dem meinigen verschieden ist. Auf diese Weise ist es uns möglich, die Erfahrung von neuen Typen seelischen Seins zu machen. Über das Mittel des Ausdrucks, des Verhaltens versuchen wir z. B. anomale, physisch oder seelisch kranke Menschen, Tiere, alte Menschen oder eben das menschliche Kind als Neugeborenes zu verstehen. Zweifellos sind uns hier Grenzen gesetzt, dies vor allem dann, wenn wir auf die Beobachtung und das EinVerstehen ,von außen* allein angewiesen wären. Die Untersuchung über die methodischen Möglichkeiten eines Rückgangs auf den Anfang des Ich und des Selbst in der Säuglingszeit hat gezeigt, daß es zwar verschiedene Zugangsmöglichkeiten gibt, daß aber keine diesen Anfang vollständig zu fassen vermag. Da die Begrenztheit der Methoden in jedem Fall aber von anderer Art ist, ist es naheliegend, den Versuch zu unternehmen, ob eine Kombination der Zugangsmöglichkeiten die Schwierigkeiten zu lösen vermag. 25

Vgl. E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, S. 139,

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Entwurf einer Genese des Idi und des Selbstbewußtseins

Die Analogie mit der Sphäre der Anonymität in der lebendigen Gegenwart erschließt uns die Einsicht, wie ein vor-zeitliches, vor-seiendes Ich in seiner praereflexiven Selbstgegenwart grundsätzlich aufzufassen ist. Die Gesetze der Genesis zeigen uns an, wie eine ,Erfahrung' auf jeder Stufe der Konstitution grundsätzlich zustande kommt. Der Limes-Gedanke lehrt uns, wie die Auslegung eines Anfanges der Subjektivität grundsätzlich möglich ist. Solange wir aber nur grundsätzlich, nur theoretisch fragen, sind wir zwar in der Lage, einen notwendigen' Anfang zu konstruieren, wir sind aber nicht in der Lage, ihn in der faktischen Säuglingszeit zu lokalisieren. — Auf der andern Seite ist es in rein empirischer Weise möglich, das Verhalten und den Ausdruck des Säuglings zu beobachten, ohne daß aber das beobachtete Verhalten direkten Aufschluß darüber zu geben vermag, was der Säugling damit ,meint' und ob er damit überhaupt etwas meint. Auf dem Weg der Einfühlung ist es möglich, eine Verbindung zwischen der Ansicht ,von innen' und der Ansicht ,von außen' herzustellen, in der Weise, daß das ,Einfühlen' bewußt vollzogen wird, indem es eine Konfrontation von beobachtbarem Verhalten und grundsätzlichen Einsichten hinsichtlich der Ichlichkeit herstellt. Nachdem unser methodischer Standort bestimmt ist, sind wir zum erstenmal in der Lage, auf unser Problemgebiet thematisch einzugehen und zu fragen, wie wir uns den Anfang der Subjektivität und der Selbstgegenwart des Ich zu denken haben. Zunächst wollen wir uns dabei an die ,Spuren' von Husserls Denken zu diesem Thema selber halten, um dann anschließend zu untersuchen, in welcher Hinsicht Ergänzungen nötig sind. Vorwegnehmend kann festgestellt werden, daß ein Faktor, der in der Ich- und Persönlichkeitsentwicklung eine entscheidende Rolle spielt, das Aufwachsen des Kindes in einer menschlichen Gemeinschaft, allgemein ausgedrückt das Thema der Intersubjektivität, von Husserl nicht in genetischer Hinsicht behandelt worden ist. Der Zusammenhang von intersubjektiver Erfahrung und Ich-Entwicklung wird deshalb vorläufig aus der Untersuchung ausgeklammert, um in einem späteren Schritt ausdrücklich aufgenommen zu werden. 2. Die Teleologie in der Entwicklung Schon in unseren Ausführungen zum Gesetz der Assoziation sind wir auf die Frage gestoßen, was die ständige Tendenz nach Vereinheitlichung sowohl der Gegenstandshabe wie des Ichlebens in Gang setzt und motiviert. An dieser Stelle der Untersuchung lautet die Frage, worin der ,Motor' der Entwicklung zu sehen ist, einer Entwicklung, die implizit immer verstanden wird als Entwicklung von einem relativ primitiven Urzustand zu einem sich ständig bereichernden, ausdifferenzierenden und zu immer umfassenderen Einheiten zusammenschließenden Erfahrungshorizont. Aus einem unge-

Die Teleologie in der Entwicklung

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formten Horizont wird ein geformter, das Ich erwacht zu seinem aktiven Ichleben; dabei „trägt es den teleologischen Grund' für sein strömend konstituierendes transzendentales Leben in sich, in welchem es Welt zeitigend sich selbst als Menschen zeitigt" 26 . In der Entwicklung liegt eine Teleologie: „jede Seele erarbeitet sich die für sie geltende Welt, darin liegt, sie erarbeitet sich die Bildung der Erscheinungsweisen, wodurch die verschiedenen Weltregionen und die besondere Typik, in der diese Welt konkrete Welt ist, für sie zu Bewußtsein kommt. Die Welt ist wie sie ist, aber die Seele, erwachend sozusagen, also in die Welt tretend, hat zwar Bewußtsein, aber nicht Bewußtsein von der Welt, als welches vielmehr eine in Entwicklungsstufen in dieser Seele selbst sich vollziehende Leistung ist. Auf Welterfahrung, auf Welterkenntnis, auf mögliches bewußtseinsmäßiges Weltleben als personales, als Leben in Gemeinschaft und in einer Gemeinschaftssinn annehmenden Kulturwelt ist jede menschliche Seele von vornherein angelegt." 27 Es handelt sich um einen teleologischen Prozeß, der in sich zunächst einen ,universalen, dunklen Willen zum Leben' birgt und das einzelne Subjekt zu einem ichlichen Leben in einer konstituierten Welt, zu einem ,Horizont des echten Menschentums' erweckt. Im einzelnen Menschen liegt die Idee des teleologischen Prozesses als vorontologische geformt und kommt später in der Gestalt der Ontologie zu wissenschaftlicher Besinnung. Das erwachende Ich, das aus seiner Versunkenheit erwacht, beginnt sich vom Nicht-Ich abzusetzen, es konstituiert sich ein Gegenüber und verhält sich dazu. „In diesem Prozeß ist es motiviert und immer neu motiviert, und nicht beliebig, sondern ,Selbsterhaltung' übend." 28 Das Motiv der Selbsterhaltung, d. h. der Einstimmigkeit des Ich mit sich selber, der Kontinuität in der Erfüllung von Zielen, erweckt das Ich zu aktiv tätigem Verhalten, zur Auseinandersetzung mit der Welt. Da die konkrete Wahrnehmungsgegenwart strömend ist, immer weiter strömt, „also ursprünglichste Zukunft tragend" 29 , kommt das Motiv der Selbsterhaltung nie zum Stillstand; immer neue Wahrnehmungsgegenwart strömt heran, die das Ich mit seinen Gegenständen und mit sich in Einklang zu bringen hat. „Das Sein und Leben, worin Ichsein statt hat, zu seinem Sein kommt und immer schon Sein habend, ist Sein, das auf Sein vorgerichtet ist, so daß Leben Aktivleben in sich trägt (in einem uneigentlichen Korrelativsein: Leben ist auf Lebenwerden gerichtet). Dieses Gerichtetsein als kontinuierliches kommt zur kontinuierlichen Erfüllung im einzelnen; alle einzelnen Ziele stehen in Horizonten möglicher Ziele, aber unbekannter, noch unerschlossener; das Gerichtetsein kommt aber nicht zu einem letzten Ende; 2

« Vgl. Vgl. 28 Vgl. 28 Vgl. 27

E. Husserl: E. Husserl: E. Husserl: E. Husserl:

Ms. transcr. E III 9, Bl. 11. Ms. transcr. E III 9, Bl. 10. Ideen II, S. 253. Ms. transcr. C 4.

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Entwurf einer Genese des Idi und des Selbstbewußtseins

jedes Ende, jede Erfüllung ist Durchgang; Korrektur und neue Wahl; aber in dieser kontinuierlichen Verendlichung liegt eine ideale .Teleologie', ein kontinuierliches Streben zu einem universalen Lebensmodus der Echtheit in wahrer relativer Ver-Endlichung, zu einer Kritik der faktischen Verendlichung als der unwahren, aufbrechend durch das Sidioffenbaren von Unstimmigkeiten, die jUnseligkeiten' sind peinvoll, nicht seinsollend, wider den Lebenswillen, als den ständig auf Einstimmigkeit, auf Wahrheit gerichteten. Offenbare Unstimmigkeit wird notwendig korrigiert, wird durchstrichen, im ,Ich bin' nicht geduldet, wird verworfen, und das Korrigierte wird in Geltung gesetzt und in das ins Unendliche relativ seiende Ich aufgenommen; das motiviert schließlich die Rückschau und Vorschau und den explizierenden Lebenswillen des Ich, überhaupt künftig nur sein zu wollen als wahres Ich, das in allen seinen Stellungnahmen und Stellunghaben sich treu bleiben will, sich bewußt diese Treue und eine entsprechende Ordnung seines Lebens; zum Ziel stellend." 30 Dieser Prozeß der Vereinheitlichung des Ich mit sich selber, der schließlich in eine kritische Selbstbesinnung mündet, nimmt seinen Anfang in einem ,dunklen Willen zum Leben'. Es kann darin der Ansatz zu einer positiven Beantwortung der Fragen liegen, was das Ich am Anfang seines Ichlebens sei, nämlich wenn es gelingt, diesen ,dunklen Willen' auszulegen und festzuhalten, worin er sich ausdrückt. Wenn Husserl vom Anfang des Ichlebens oder des Säuglingslebens spricht und wiederholt zu der Aussage kommt, daß das Ich vor dem Anfang nicht in jeder Hinsicht ein ,Nichts' sei, daß es in einem Vor-seienden, praeexistenten Sinn schon ,etwas' sei, faßt er dieses .Etwas' in den Begriff des ,Instinktes': „Das Ego im Uranfang (Urgeburt) ist schon Ich gerichteter Instinkte ((d. h. ein Ich vom gerichteten Instinkten)).

3. Das Ich des konstitutiven Anfangs als Ich gerichteter Instinkte Die Instinkte bezeichnen die urtümlichen, wesensallgemein alle Entwicklung bestimmenden Urziele, Uraffektionen. Jedes Ich ist in Entwicklung, Wesensgestalt der Entwicklung, Anfang der Entwicklung, die ihr zugehörigen Urbedürfnisse, Entwicklungsstufen — auf jeder treten neue Bedürfnisse von wesensmäßiger Form für diese Stufe auf, als dunkle erst in der Erzielung sich enthüllende — als ,instinktive', Modi der Ichbewertung (Gefühle), der Begehrungen oder Erstrebungen, Ichbedürfnisse. Das Ich ,reagiert', antwortet auf die Affektion, und mit den Erfüllungsgestalten der Begehrungen erwachen intentionale Ziele — . . ." 3 2 Diese ,eingeborene Urwesen', die 30 31 32

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 2 III, Bl. 4 f. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. B III 3, Bl. 20. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. E III 9, Bl. 4.

Das Idi des konstitutiven Anfangs als Ich gerichteter Instinkte

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,Uranlage des Ich' ist vorausgesetzt für alle Konstitution von Weltlichem mit seinen Wesensformen, für alle Konstitution von rationalen Einheiten. So ist die eingeborene Anlage der Subjektivität das Irrationale, das Rationalität möglich macht, oder es hat seine Rationalität darin, der .teleologische Grund* für alles Rationale zu sein 33 . Wenn das Ich in seinem Anfang bereits ein Ich von Urzielen, d. h. von gerichteten Urinstinkten ist, dann ist die Richtung auf eine Welt in einer allgemeinsten Form schon vorgezeichnet. „Ist nicht eine allgemeinste Form als die einer möglichen zu konstituierenden Welt von da aus schon geregelt?" 8 4 Aber es ist nicht leicht, diese vorausgehenden ,Urmaterialien' methodisch zu erfassen. Die äußere Beobachtung kann hier helfen, durch das Einverstehen, das aber nur indirekt möglich ist durch anschaulich zu vollziehende Modifikation der aus allgemein genetischen Fragestellungen gewonnenen Einsichten. D a s Kind, das geboren wird, hat sdion einen angeborenen .Charakter', es hat Instinkte, die von A n f a n g an wirksam sind und die .Urmaterialien' für sich herausbildende ,intentionale' Verhaltensweisen im weisteten Sinn bilden: „das Ich des konstitutiven Anfangs ist kein leerer Ich-Pol und der A n f a n g der Affektion ist nicht völlig unbestimmt, es ist schon Instinkt-Affektion (Das erste der ,Ich'-Intention ((Zuwendung)) und Erfüllung ist die in der mütterlichen Lebensgeborgenheit und nicht da ein Knall schlechthin. U n d so ist damit auch die Konstitution der ersten Umwelt geregelt." 3 5 Die Affektion als Vorbedingung der Aktion stellt so einen untersten G r a d an Ich-Zuwendung dar. Die ursprünglichste Weise, in der etwas f ü r das Ich ,da' ist, ist die Berührung des Ich im Gefühl. Jedes Hyletische, das als sich abhebendes das Ich affiziert, berührt zunächst das Ich im Gefühl. Die Gefühle sind graduell verschieden und bestimmen dadurch den G r a d der Affektion. Grundsätzlich gibt es positive Gefühle (lustmäßiges Angezogensein) und negative Gefühle (unlustmäßiges Abgestoßen werden). Was als anziehend oder abstoßend auf das Ich einwirkt, ist nicht zufällig, sondern abhängig von den momentanen Interessen des Ich, als welche in ursprünglichster Form die Instinkte anzusprechen sind. — Angezogensein und Abgestoßensein drücken schon aus, daß im Gefühl das .Motiv' zur Aktivität liegt. D a s Angenehme möchte sich das Ich näher bringen, das Unangenehme aus seiner N ä h e entfernen. „In dieser Hinsicht ist Zuwendung die Form, in der Aktion einsetzt, und alsbald ist hier zu verweisen auf das Spiel der Kinaesthesen und das Streben, bei der siegenden positiven Affektion das Erfaßte zu meliorisieren und in einem Optimum zu terminieren, bei negativer Affektion das Abstoßende zu entfernen, es zu minimalisieren." 3 6 33 34 35 3S

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. E. E. E.

Husserl: Husserl: Husserl: Husserl:

Ms. Ms. Ms. Ms.

transcr. transcr. transcr. transcr.

E B B E

III III III III

9. 3, Bl. 19. 3, Bl. 16. 9, Bl. 22.

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Entwurf einer Genese des Idi und des Selbstbewußtseins

Wir erinnern uns, daß Rezeptivität im Sinne der Affektion das kinaesthetische Bewußtsein eines ,ich bewege mich' schon voraussetzt. Wenn in der ursprünglichsten Form aller Ichbeteiligung, im gefühlmäßigen Angezogensein und Abgestoßensein das Bewußtsein eines ,ich bewege mich' die V o r aussetzung' bildet, gilt es nun in Erfahrung zu bringen, wie wir uns das ursprüngliche Funktionieren der Kinaesthese, wie wir sie uns als ichlichen Vorgang beim Säugling zu denken haben. Wenn wir untersuchen müßten, wie sich aus einem Lebewesen, das ausschließlich organisch bestimmt ist, ein Lebewesen mit Instinkten, einfachsten Empfindungen und einem ersten gefühlsmäßigen Angezogensein entwickelt, würden wir in fast unüberwindliche Probleme geraten. — Es zeigt sich aber, daß wir die Frage nach einem ichlichen A n f a n g in solch radikaler Hinsicht nicht zu stellen brauchen, denn aus der Beobachtung wissen wir, daß das K i n d bei der Geburt schon mehr ist als ein ausschließlich organischer Prozeß. „ D a s mutterleibliche K i n d hat schon Kinaesthese und kinaesthetisch beweglich seine ,Dinge', schon eine Primordinalität. In Urstufe sich ausbildend. D a s wirkliche Kind, das neugeborene. Wie ist es als Ich seiner Daten und der von diesen als affizierenden und von den Ichakten für sich selbst konstituiert? Es ist schon erfahrendes Ich einer höheren Stufe, es hat schon Erfahrungserwerbe v o m mutterleiblichen Dasein her, es hat schon seine Wahrnehmungen mit Wahrnehmungshorizonten. Daneben neuartige Daten, Abhebungen in den Sinnesfeldern, neue Akte, neuer Erwerb auf dem Untergrund, der schon Vorerwerb ist, es ist schon Ich der höheren Habitualitäten aber ohne Reflexion auf sich, ohne ausgebildete Zeitlichkeit, ohne verfügbare Wiedererinnerungen, strömende Gegenwart mit Retention undProtention." 3 7 Betrachten wir als eine der ersten kinaestetischen Situationen die Saugtätigkeit des Neugeborenen. „Sowie der Geruch der Mutterbrust und die Lippenberührungsempfindung eintritt, ist eine instinktive Richtung auf das Trinken geweckt, und eine ursprünglich angepaßte Kinaesthese tritt ins Spiel. Die Kinaesthese hat von vornherein ihre Begleitung an kinaesthetischen Empfindungen, mitlaufenden Empfindungsdaten. Was ist an der K i n aesthese das rein Ichliche? Nichts anderes in unserem Falle als die von der Tragempfindung, Geruchsempfindung, etc. im Ich geweckte Affektion. E t w a : kommt es nicht bald zum Trinken, wie ist es da? E t w a der Geruch allein weckt ein Weiteres, sozusagen eine Leerapperception, die noch kein ,Bewußtseinsziel' hat. Tritt dann Berührung ein, so ist der Weg zur Erfüllung aber erst recht fortgehender instinktiver Trieb, der unerfüllte Intention ist. D a s sind Modi des Begehrens, Willensmodi sozusagen: Vormodi, aber mit zugehörigen mit zur Enthüllung des Triebes in der Erfüllung gehörigen Empfindungskomplexen. Dabei haben wir dann einen periodischen Wechsel zwischen Phasen der Intention satter Erfüllung (Lust), Bleiben der Lust, 37

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. K III 11, Bl. 7.

Das Ich des konstitutiven Anfangs als Idi gerichteter Instinkte

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Vergehen der Sattheit, neue instinktive Intention usw. Dabei bildet sich alsbald eine Einheit einer gerichteten Intention mittelbarer Art, durch die ganze periodische Kette oder als kontinuerliche vorgerichtete Intention auf diese Kettenform und schon mit ,Zielvorstellung'. In dem Gang der fortlaufenden und synthetischen Erfüllung schwächt sich aber der ,Hunger' und schwindet schließlich. Das sagt, die Affektion d. i. die instinktive Triebintentionalität hat eine Gradualität, eine bis Null schwindende Intensität." 38 Aus diesem längeren Zitat, das zeigt, daß sich Husserl in einigen Ansätzen mit sehr konkreten entwicklungspsychologischen Fragen auseinandergesetzt hat, können wir verschiedene Schlüsse ziehen. a) Der erste betrifft den Begriff des ,Instinktes'. Früher haben wir den Begriff des Menschen als eines ,Mängelwesens' eingeführt. Die mangelhafte instinktive Organisation des Menschen bei der Geburt hat sich als naturhafte Vorbedingung für die Entwicklung zu einem menschlichen Idi erwiesen. Hier scheint sich nun ein Widerspruch anzubahnen, wenn wir oben von instinktiven Intentionen' sprechen, wenn also gerade die ursprünglichen Instinkte der Ermöglichungsgrund dafür zu sein scheinen, daß eine Zielvorstellung und eine ichliche Zuwendung entsteht. Instinkt heißt aber nicht in beiden Fällen dasselbe. Ein ,Mängelwesen' ist der Mensch im Hinblick auf die Instinktorganisation als Leitsystem, das bei den Tieren von Anfang des Lebens an fertige Verhaltensmuster vorgibt, z. B. instinktive Schutzreaktionen, instinktive Einpassung in einen bestimmten Lebensraum. — Ein biologisch notwendiges Minimum an , Instinkten' bringt der Mensch trotzdem mit, sie sind aber noch nicht in einer endgültigen Organisation festgelegt, sondern bei Beginn des Lebens nodi führungslos. Sie müssen erst eingespielt werden auf die jeweiligen Situationen, sie bleiben vorerst in der Schwebe und erst aus der Begegnung mit der Situation und ihrem erlebten Möglidikeitsdiarakter entwickeln sich beständige Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Habitualitäten, die aber nie endgültig festgelegt, sondern durch die Entscheidungsfähigkeit des Ich modifizierbar sind. Somit handelt es sich nicht um Instinkte im eigentlichen Sinn, die man beim Säugling antrifft (wenn man unter Instinkten jeder ichlichen Beeinflussung entzogene Verhaltensmuster versteht), sondern viel eher um Grundstrebungen im Sinne von ,Trieben'. b) Wenn Husserl von ,instinktiver Triebintentionalität' im Sinne einer Vorform von ichlichem Gerichtetsein spricht, verbindet er zwei Begriffe, die in der traditionellen Psychologie betont auseinandergehalten werden: Triebhaftigkeit und Ichlichkeit. Natürlich handelt es sich nicht um eine zufällige Vermengung, sondern um eine Konsequenz aus denjenigen Gedan-> kengängen, die besagen, daß das Ich vor seinem Erwachen zur Aktivität 38

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 12.

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Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins

nicht in jeder Hinsicht ein Nichts sei. Die Konsequenz besteht darin, daß man die Entwicklung zur aktiven Ichtätigkeit nicht nach dem Bild einer Schichtenfolge mißversteht, indem als unterste Grundlage eine rein naturhafte, rein organische oder triebhafte Schicht angenommen wird, die von geistigen, ichlichen Schichten überlagert oder überformt werden. Vielmehr muß die menschliche Existenz auf allen ihren Entwicklungsstufen und den entsprechenden Strukturunterschieden als ein ,ganzheitlich-eigenständiges Funktionsgefüge' 3 9 gedacht werden, wobei es gilt, die jeweilige Besonderheit dieses Funktionsgefüges zur Klärung zu bringen. Dieses Funktionsgefüge ist dadurch charakterisiert, daß es schon auf der untersten, vital-organischen Stufe des menschlichen Lebens nicht ein in sich geschlossen ablaufendes System, sondern daß es von A n f a n g an auf Intentionalität hin angelegt ist. D a s Angelegtsein auf Intentionalität hin hat seinen Grund darin, daß die menschlichen Triebregungen nicht einen unmittelbaren, instinktiven Verhaltensablauf nach sich ziehen. Die Wege zur Befriedigung sind nicht schon instinktiv vorgezeichnet; der Mensch muß sie sich erst erarbeiten. Wie aber entsteht die Motivation zur Erarbeitung solcher Wege? N u r indem die Triebregungen Erlebnischarakter und Erlebnisqualität erhalten, indem der D r a n g erlebt wird und infolgedessen zu einem vorerst diffusen, unbestimmten Suchverhalten, auf höherer Stufe zu einer abgezielten Ausrichtung, führt. Von einem Grenzzustand diffuser, dranghafter Erregungen erstreckt sich ein Kontinuum von elementaren komplexen bis zu höchsten differenziertesten Antriebsphänomenen 4 0 . Wenn man auch auf der untersten Stufe noch nicht von Intentionalität, von Zielintention auf Etwas hin sprechen kann, so kann man doch feststellen, daß aus Mangel an instinktiver Organisation und aus dem Empfinden des Angenehmen oder Unangenehmen eine ,Leerintention' entsteht, ein ,Wegwollen' von dem U n angenehmen, ein ,Hinwollen' zu dem Angenehmen, noch ursprünglicher ein Dabeibleibenwollen beim Angenehmen. In allen diesen Formen ist schon Kinaesthese im Spiel, ein ursprüngliches Sich-empfinden, eine V o r f o r m des ichlichen Dabeiseins. Fühlendes Dabeisein bedeutet Dabeisein bei etwas, bei einem Inhalt, der zwar noch nicht gegenständlich konstituiert ist, in diesem Sinn noch kein vom Ich Getrenntes, Weltliches ist, der aber schon die Zuwendung zu Weltlichem vorzeichnet. Diese Vorzeichnung der Welt ist noch außerordentlich arm an Differenzierung und eine Abgrenzung zwischen der Einheit des Ich und der Einheit von Weltlichem kann vom Ich noch nicht vollzogen werden, da das Ich noch nicht in der Lage ist, seine verschiedenen kinaesthetischen Erlebnisse einem einheitlichen identischen Ich und die verschiedenen Erlebnisinhalte einem einheitlichen Welthorizont zuzuordnen. Die o f t beschriebene Unfähigkeit des Säuglings, zwischen Ich

39 40

Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 144. Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 164.

Das Idi des konstitutiven Anfangs als Idi gerichteter Instinkte

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und Außen zu unterscheiden, wäre demnach viel eher seinem anfänglichen Unvermögen, synthetische Identitätseinheiten herzustellen, zuzuschreiben als einer ,egozentrischen' in sich geschlossenen Lebensform. Schon in der ersten, triebhaften, nicht zielgerichteten Intention auf Erfüllung liegt ein erster Ansatz zu einem Verhalten zu . . . , das in einer reiferen Form Gegenständlichkeit möglich macht. Lange bevor ein Bewußtsein von unterscheidbaren Gegenständen besteht, erscheint die Umwelt als gegliedert durch die elementaren Qualitäten des Anziehenden, Abstoßenden, die das kinaesthetische ,idi bewege mich' steuern. Durch sie ist uns Welt primär erschlossen. D a der Säugling bei der Geburt bereits Instinkt- oder Triebintentionen hat, ist seine ,Welt' keine völlig unterschiedslose mehr. Entsprechend seinen Triebintentionen gibt es Angenehmes, solches das Erfüllung verspricht, oder Abstoßendes. Was z. B. angenehm ist, hebt sich bereits ab von einem Hintergrund des Unangenehmen oder Belanglosen; auf andere Weise könnte das Angenehme gar nicht affizieren; Affektion setzt Abgehobenheit voraus. Am Anfang des Ichlebens sind die Abgehobenheiten noch sehr arm an Differenzierung, es handelt sich um ganz globale Sinnesfelder, die nun kontinuierlich ausdifferenziert werden müssen, bis sich erste Einheiten konstituiert haben, die die Vermöglichkeit in sich tragen, zu immer neuen, umfassenderen Einheiten zusammengeschlossen zu werden, schließlich zu den Einheiten Ich und Welt. Weltbewußtsein setzt kein explizites Ichbewußtsein voraus; beides ist in seiner abgeschlossenen Form Produkt einer Genesis, hervorgegangen aus Ereignissen, die weder völlig ichlos, noch völlig weltlos waren. c) Aus der leeren Triebintention bildet sich die Einheit einer gerichteten Intention mit einer ersten ,Zielvorstellung'. Es ist zu fragen, wie dieser Prozeß in Gang kommt und vor sich geht. Bereits im Getriebensein und im entsprechenden Angezogensein durch ein hyletisches Datum liegt meistens eine Kontinuität, eine Fortdauern des Begehrens, des Hinwollens, etc. Sofern das Kind ,Hunger' hat und eine Intention auf das Trinken geweckt ist, handelt es sich nicht um eine momentane Impression, sondern um ein stetiges Begehren, das erst in der Erfüllung aufgehoben wird. Es sind weitere Möglichkeiten denkbar, die zu einer Abschwächung des Begehrens führen, wie das Schwächer-werden oder Verschwinden der affizierenden Umstände: „Ist das Ich bei einem Datum, also im .Willen' tätig? Was ist da möglich. Es sei genießendes Verhalten, Lustgenießen, die Intensität der Lust hält sich zunächst auf gleicher Höhe. Bleibt das hyletische Datum unverändert in seiner impressionalen Gegenwart und ändert sich auch nicht das Feld (die Kinaesthese als Stillhalten), so wird die Lustaffektion in ihrer Intensität unverändert bleiben, eine Weile, dann sinkt sie ab (Abstumpfung). Ferner Änderung des Datums kann eintreten und eine damit Hand in Hand gehende Änderung der Intensität der Affektion und davon funktionell bestimmt die Intensität des Genußes, d. i. eine mir unangenehme Verände-

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Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins

rung. Die Veränderung kann aber auch zu einer Steigerung der Lust, des Genusses führen, auch .zu einem Auf und Ab in Steigerung und Minderung, wobei aber das Auf und Ab wieder angenehm, genossen sein kann, und es kann im Auf und Ab ein Aufsteigern am kommenden zu Erwartenden statthaben, usw." 41 Wenn eine Änderung des ,Datums' einmal lustvoll, einmal unlustvoll erlebt werden kann (z. B. wenn im Säugling durch die Lippenberührung eine Intention auf das Trinken geweckt ist, und es nicht zum Trinken kommt, erlebt er dieses Ausbleiben als unangenehm), dann erweist sich, daß die unerfüllte Intention und die Affektion durch das ,Datum' zwei verschiedene Ereignisse darstellen, die Intention kann erhalten bleiben, auch wenn das Datum verschwindet. Ferner scheint die Intention bereits getragen zu sein von einer Erwartung, die inhaltlich noch völlig unbestimmt ist, die sich höchstens charakterisieren läßt als die Erwartung, daß etwas Angenehmes geschehen wird. Im Dabeibleibenwollen beim Angenehmen, in der ,Erwartung', daß es so bleiben soll wie es gerade ist, liegt deshalb die einfachste undifferenzierteste Form eines protentionalen Horizontes. „Nehmen wir ein eine Strecke unverändert fortdauerndes hyletisches Datum in unveränderter Affektion, bzw. in stetem Lustgenuß; fortdauernd hat das Datum seinen protentionalen Horizont, ichlich seinen Horizont der Affektion und des Genusses; ich genieße, indem ich stetig neuem Genuß entgegensehe, entgegengehe; und auch der verströmte Genuß ist noch ,lebendig'. Wie das jeweilige Bewußthaben des hyletischen Datums nicht eine Momentanimpression ist, so auch nicht die Affektion und der Genuß des Datums als ,gut'. . . . In unserem Fall, ich genieße nicht nur sofort, sondern ich genieße auch als der Zukunft entgegenschreitend, idi genieße, sofern das künftige Verharren in gleicher Intensität mich in Lust affiziert und mitgenossen wird. Hier affiziert also 1. jede hyletische Phase; 2. die Gestalt des Fortwährens der hyletischen Zukunft in eins mit der Gegenwart in ihrem Strömen. . . . Hier habe ich also den Unterschied, daß nicht bloß hyletische Daten selbst in ihrer Impressionalität affizieren, sondern schon hyletische Antizipationen von Daten, und zwar als ,werten', als positiv affizierenden und in Genuß kommenden. Beim Verschwinden von Daten ist das Zukunftsgute ganz aufgehoben; aber ich habe sie noch bewußt und nicht nur als gewesenes gut, sondern das gewesen erhoffte gut als solches ist etwas, was affiziert, und zwar in Unlust (wie andererseits gewesenes un-gut in Lust affiziert)."« Das Gegebensein eines hyletischen Datums, das Affiziertwerden des vorzeitlichen Ich ist kein momentanhaftes, sondern ein kontinuierliches Geschehen, wobei die Kontinuität dadurch gewährleistet ist, daß das Ich nicht teilnahmslos affiziert und beeindruckt wird, sondern bereits mit triebhaften 41 42

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 5. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 6 f.

Der Erwerb von Habitualität und Vermöglidikeit

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Intentionen ausgestattet ist, daß es bei den befriedigenden Daten bleiben, sich von den unbefriedigenden entfernen möchte. Wenn auch der Säugling noch in keiner Weise eine Verfügungsgewalt über das Affizierende besitzt, so schaffen seine Triebintentionen doch einen ersten Ansatz zu jener .Einstimmigkeit mit sich selbst', die das Telos der Entwicklung darstellt. In der Triebintentionalität ist die unterste Stufe ichlicher Aktivität anzusetzen, die sich einem regellosen Affiziertwerden durch sinnliche Daten entgegenstellt und über, vorläufig begrenzte Zeitstrecken hinweg, eine Kontinuität einheitlicher Sinneseindrücke anstrebt. — In zeitlicher Hinsicht kann infolgedessen festgehalten werden, daß die formlose Passivität des Strömens eine erste Gliederung erhält, wenn das Dabeibleibenwollen beim Lustgenuß eine Erwartung beinhaltet, die auf dem momentanen, gerade vorgehenden Lustgenuß begründet ist. Es handelt sich mit andern Worten um die Struktur des Präsenzfeldes, in der sich die Triebintentionen abspielen, wobei zu betonen ist, daß noch keine aktive Verfügbarkeit über die Zeithorizonte besteht: das retentional Entgleitende kann nicht im Bewußtsein festgehalten werden, und das protentional Kommende kann nicht ausdrücklich herangeholt werden; das Erwartete ist auch noch in keiner Weise spezifiziert.

4. Der Erwerb von Habitualität und Vermöglichkeit Wenn wir nach den Bedingungen einer inhaltlichen Differenzierung der Horizonte und einer ersten Verfügbarkeit über eben diese Horizonte fragen, werden wir auf das Problem der Ausbildung von Habitualität verwiesen. Da die Affektionen und der periodische Wechsel von Phasen instinktiver Intention, Erfüllung, bleibender Lust, Vergehen der Sattheit, neuer instinktiver Intention nicht ein mechanisches Ablaufgeschehen sind, sondern kinaesthetisch erlebt, empfunden werden, hinterlassen sie ihre ,Spuren' im Erlebnisstrom. Sie versinken zunächst passiv im retentionalen Horizont und wären für das Ich verloren, wenn nicht, wiederum aus triebhaften Gründen eine Wiederholung und immer erneute Wiederholung angestrebt würde. Gemäß dem Gesetz der Assoziation, des ,etwas erinnert an etwas', werden auf passive Weise erste Synthesen der Identifikation hergestellt. Audi was noch nie explizit erlebt war, was nodi keine ausdrückliche Sinngebung und Deutung vom Ich her erhalten hat, ist in der Grundstruktur des Strömens, der lebendigen Gegenwart, aufgehoben und kann durch entsprechende aktuelle Umstände geweckt werden. Es „tritt schon in der lebendigen Gegenwart uns entgegen eine ganz eigentümliche affektive Leistung, nämlich die der Weckung von Verborgenem, in impliziter Intentionalität Eingehülltem. Durch eine affektive Kraftzufuhr, die natürlich ihre Urquelle in der impressionalen Sphäre hat, kann eine an affektivem Sondergehalt arme oder völlig leere Retention befähigt werden, das wieder herzugeben,

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was in ihr an vernebeltem Sinngehalt verborgen ist. . . . Was kann da Wekkung anders besagen, als daß das Implizite wieder explizit wird. Und zunächst ist hier keine andere Weise vorgezeichnet als die der Verwandlung einer leeren Retention, in der vom gegenständlichen Sinn wenig oder nichts affektiv ist, also mehr ,hervortritt' aus dem ,Nebel', eventuell besonders merklich und erfaßt. In der Tat ist das die erste Form der enthüllenden Weckung" 43 . Eine Gleichheit von aktuellem Erlebnis und retentional verborgenem Erlebnis kommt dann zustande, wenn eine Sinngemeinschaft zwischen den beiden Erlebnissen besteht; eine affektive Weckung geht zurück in das Sinnesgleiche und stellt mit ihm eine Synthese der Gleichheit her. Die vergangenen Erlebnisse werden geweckt, schieben sich über die gegenwärtigen; die aktuellen Erlebnisse sind nun ,bekannt*. Was ,bekannt' ist, gehört zu den Erworbenheiten des Ich, es kann unter günstigen Umständen wieder erzeugt werden, es ist dem Ich eigen, habituell geworden. Veranschaulichen wir uns diesen Prozeß am Beispiel der ,Strampel-Kinaesthesen' des Säuglings, die wegen ihrer relativen Unabhängigkeit von der mitmenschlichen Umgebung eher verfügbar werden als der Nahrungskomplex. Dabei ist vorauszuschicken, daß die Triebintentionen eine Hierarchie der Dringlichkeit aufweisen. Erst wenn der Hunger gestillt ist, wenn keine entsprechenden hyletischen Daten eine Fortführung des Verlangens bedingen, kommen andere ursprüngliche instinktive Triebe in Frage, die nun durch den übermächtigten Hunger nidit übertönt werden. „Es käme vielleicht jetzt als erstes in Frage z. B. die Bewegungsfreude des Neugeborenen, seine ,Strampelfreude', Freude an der körperlichen Bewegung in Gliederbewegung und in der Ausbildung einer Herrschaft über diese Bewegungen, die Ausbildung eines nachher frei verfügbaren kinaesthetischen Systems. Die kinaesthetische Hyle ist nicht nur ein Verlauf, sondern ein instinktiver Verlauf, ein ichlicher, ein kontinuierlicher in ,Intention' und .Erfüllung', die stetig intermediär ist, sofern sie erfüllt alsbald wieder neue Affektion ist, neue Intention weckt und in neue Erfüllung ,von selbst' überführt, ohne in einem einzelnen hyletischen Gesamtzustande dieser Sphäre zu terminieren." 44 Instinktiv ist der kinaesthetische Verlauf, insofern er ständig auf neue Erfüllung drängt, bei einer momentanen Erfüllung nicht als Endzustand stehen bleibt, ichlich ist er, insofern ein ,Interesse' an immer neuer und höherer Erfüllung besteht. „Die instinktive Intention und die instinktive Lust betrifft nicht einen Endzustand, sondern einen ganzen Prozeß, kontinuierlich die Momentanintention sich erfüllen lassen und wieder als Träger neue Intention zu neuer Erfüllung übergehen zu lassen, also Einheit des Prozesses Intention-Erfüllung, das ist selbst das Telos, das ist, 43 44

Vgl. E. Husserl: Passive Synthesis, S. 173 ff. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, BI. 14.

Der Erwerb von Habitualität und Vermöglichkeit

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daß die instinktive Intention, die einheitlich von vornherein auf dieses Ineinander der Intentionalität und ihrer Entspannung geht und sich als Einheitliches nicht in einer Phase, sondern im ständigen Tun erfüllt." 45 Mit diesem Zitat ist ausgedrückt, daß die Teleologie in der Entwicklung, die sidi allgemein als Wille zur Vereinheitlichung des Ich mit sich selbst darstellt, der ursprüngliche Grund dafür ist, daß erste Identitäts-Synthesen zustande kommen, daß Habitualität entsteht und das Ich ständig darum bemüht ist, sein System des ,Ich kann' fortlaufend zu bereichern. „Die kinaesthetisdie Bewegung, wie immer sie in Gang gekommen ist, kann zeitweise für sich .thematisch' werden, das Ich ist dafür wach, und hat dann im Verlauf zunächst seine Lustbefriedigung; der gelingende Verlauf selbst als Telos. Nun haben die kinaesthetischen Erfüllungen, also die Verläufe von hyletischen Vorkommnissen der Kinaesthese ihre .angeborene' Systematik. Indem Ablauf der faktischen Kinaesthesen erfolgt, heben sich die sich wiederholenden Bewegungsgestalten ab, und instinktiv geht nun die Tendenz auf Wiederholung ähnlicher und dann je derselben, auf Wiedererreichung der früheren Kinaesthese, ((nicht)) in einem bei ihr als Telos Verharren, sondern alsbald fortgehende und wiederholende Bewegung, die doch gegliedert ist in Wiederholungen, und so schließlich die Tendenz auf Benützung und Übung und Herrschaft, die das verfügbare System konstituiert hat und sich in der Durchlaufung des altvertrauten Systems und am Vermögen, es wiederholend zu gewinnen, freut. Wir müßten also wohl sagen, der Instinkt, der in der Kinaesthese sich auswirkt, geht letztlich auf Konstitution des beherrschten Systems als Einheit einer vermöglichen Zugänglichkeit, beliebiger Wiedererzeugbarkeit jeder Lage." 46 Kinaesthetisdie Bewegungsgestalten verdanken ihr Entstehen einerseits den Gesetzen der Assoziation, den Gesetzen der passiven Synthesis, andererseits dem ,Konnex' des vergangenen mit dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Ich. Auch wenn noch keine Zeithorizonte anschaulich konstituiert sind, kann dieser Konnex dank dem kinaesthetischen Empfinden, das zugleich ein Sichselbstempfinden ist, hergestellt werden. Mit der passiven Assoziation zu synthetischen Konfigurationen assoziiert auch das Ich sich mit sich selbst. Das Ich, das damals mitempfindend dabei war, ist dasselbe, das jetzt in dem als gleich erkannten Erlebnis wieder mit dabei ist. N u r unter dieser Bedingung kann eine Sinngleichheit erfahren werden, die es dem Ich in einem späteren Schritt ermöglicht, auf die Wiederholung Einfluß zu nehmen, sie willentlich herbeizuführen. Wenn wir den Prozeß der Assoziation ohne ein ichliches Dabeisein denken würden, kämen wir zu einem mechanistischen Denkschema nach dem Reiz-Reaktions-Prinzip, wir kämen zu einer ,Konditions'-Theorie, die sich erfolgreich 45

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 14. « Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 15.

4

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und mit einiger Berechtigung auf das Verhalten des Säuglings anwenden ließe, in der aber kein Platz wäre für ein werdendes Ich, das zu einem späteren Zeitpunkt in der Kindheits-Entwicklung eine unbestreitbare Tatsache darstellt. Sicher enthalten die Spuren, die wir verfolgen, noch sehr wenig an eigentlich Ichlidiem, wenn wir jedoch von einem Ichbegriff ausgehen, der ein aktives intentionales Verhalten meint, scheint unser Ansatz berechtigt zu sein, da die passivste Rezeptivität bereits ein Moment an Aktivität in sich enthält. Hinsichtlich des Selbstbewußtseins ist unser Ansatz berechtigt, weil das einfachste Empfinden schon ein Sich-Empfinden ist. Wie wir gesehen haben, kommt Empfinden von Anfang an nicht in einer völlig unwillkürlichen Form vor, sondern es ist schon gesteuert durch triebhafte Intentionen. Triebintentionen haben bereits einen Prozeßcharakter, der sich auf Grund des strömenden Wandels der lebendigen Gegenwart vollzieht und sich in der Struktur des Präsenzfeldes abspielt. Die Breite des Präsenzfeldes ist am Anfang noch minimal, da das Beteiligtsein des Ich noch von passiver Art ist, da eine aktive Aufmerksamkeit noch nicht möglich ist. Unabhängig von der Breite des Präsenzfeldes gelten bereits seine Gesetze: der Durchgang durch die Urimpression prägt das Hindurchfließende in einer Weise, daß es später unter entsprechenden urimpressionalen Umständen als von andern Erlebnissen abgehoben geweckt werden kann und sich als einheitlich mit dem aktuellen Erlebnis erweist. Die Gestalten, die entstehen, weisen am Anfang einen sehr geringen Grad an Differenzierung auf. Aus der globalen Scheidung nach instinktiv angenehmen und unangenehmen Empfindungen werden sich entsprechend den am Anfang wirksamen Trieben Unterscheidungen von Affektionen als zugehörig zur ,Ernährungssituation', etc. ergeben. Jede neue Synthese stellt dann eine Bereicherung und Differenzierung des Erfahrungsschatzes dar. Welche Bedeutung hat aber der Erwerb von synthetischen Konfigurationen, von Erfahrungen auf dieser Stufe für die Konstitution des Ich? Erfahrung im Sinne einer durch Assoziation zustandegekommenen Synthese bedeutet, daß die triebhaften Intentionen eine Strukturierung nach dem Schema: wenn früher in der Umstandslage U die Abfolge a b c eingetreten ist, wird in der jetzigen ähnlichen Lage U ' die Abfolge a' b' c eintreten, erhalten haben. Mit andern Worten: die Abfolge der Bedingungen, die z. B. zur Befriedigung eines taktuellen Bedürfnisses führt, ist bekannt geworden, der Weg zur Befriedigung ist von nun an bekannt. — In der triebhaften Intention auf Wiederholung der Erfüllung weiß das Ich, auf welchem Weg es früher wiederholt durch passive Affektionen, noch ohne gezielte Vorstellung, zum Ziel gelangt ist. Kinaesthetisches Weg-Bewußtsein ist grundsätzlich gleichzusetzen mit Vermöglichkeitsbewußtsein, mit dem Bewußtsein ,ich kann'. In ichlicher Hinsicht sind die Voraussetzungen gegeben, unter denen das Ich den Prozeß der Befriedigung steuern kann; in der praktischen Ausführung ist der Säugling noch auf Übung angewiesen, bis er die

Der Erwerb von Habitualität und Vermöglidikeit

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gewollte Bewegung beherrscht und jederzeit weitererzeugen kann. Ferner ist die Ausbildung einer Herrschaft über seine Bedürfnisse determiniert durch seine Hilflosigkeit und seine Angewiesenheit auf mütterliche Fürsorge, wobei beigefügt werden muß, daß gerade für die Ausbildung differenzierterer menschlichen Möglichkeiten die Aufgehobenheit in einer menschlichen Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung ist. Versuchen wir den Prozeß der Ausbildung von Herrschaft über einen Bewegungsablauf an einem Beispiel zu erläutern: Nehmen wir an, am Bett des Säuglings sei eine kleine Glocke angebracht, deren Klang er angenehm empfindet. Die Glocke ist so angebracht, daß der Säugling sie beim Strampeln hie und da unwillkürlich zum Klingen bringt. Nach einiger Zeit kann unter Umständen im Säugling der Wunsch erwadien, den angenehmen Klang (der Glocke) wieder zu hören. Dabei handelt es sich noch um eine Intention ohne klare Zielvorstellung. Sobald der Zusammenhang von Bewegung und Klang erkannt ist, wird der Säugling versuchen, zuerst durch gewollte, aber noch ungezielte, später durch gezielte Bewegung den Klang wiederherzustellen, wobei das Gelingen von der zunehmenden motorischen Geschicklichkeit, Strukturierung des visuellen Feldes und der Kombination von motorischen und visuellen und auditiven Erfahrungen abhängt. Alle Erfahrungen einer bestimmten Entwicklungsstufe zusammengenommen könen dann als das jeweilige, mehr oder minder differenzierte System des ,Ich kann', als kinaesthetisches Wegsystem oder als Spielraum von Vermöglichkeiten bezeichnet werden. Fraglich ist, ob wir nicht voreilig von ,System' sprechen, da damit implizit eine alle Möglichkeiten überschauendes Bewußtsein vorgestellt wird. Eine allgemeine Vergegenwärtigung dieser Art kann der Säugling sicher noch nicht herstellen, da er noch nicht frei in seine Horizonte hineingehen kann, sondern sich die Verfügbarkeit auf den jeweiligen, dem Erlebnis konkret zugehörigen Horizont beschränkt. Es handelt sich auch noch nicht um einen anschaulich vorgestellten Weg, der zum Ziel führt, sondern vorläufig um ein implizites Wissen, was zu tun ist, damit das Ziel erreicht wird. Ferner ist der Zusammenhang der verschiedenen kinaesthetischen Sphären (visuelle, taktuelle, etc.) nicht von vornherein gewährleistet, sondern stellt ein spezielles Problem innerhalb der assoziativen Synthesis dar. „So lautet etwa die Konstruktion, wenn es richtig ist, daß jede kinaesthetische Sphäre für sich ein instinktiver Zusammenhang ist, der sich für sich auswirken kann, sich enthüllen kann in der Habitualität der Ausbildung eines kinaeshtetischen Systems und darin beschlossen seiner Teilsysteme." 47 Festhalten können wir vorerst, daß die Erfahrungen, die aus assoziativen Synthesen hervorgegangen sind, Vermöglichkeiten der Wiederherstellung einer intentierten Situation sind. Sie ermöglichen ein aktiveres Verhalten des Ich im Prozeß der Erfüllung von Triebintentionen; sie ermög47

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 15—16.

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Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins

liehen eine Verbreiterung des Präsenzfeldes, indem die Erwartung über verschiedene Phasen, die schließlich zur Erfüllung führen, hinweggespannt werden kann. Sie ermöglichen zudem einen ersten Konnex des Ich mit sidi selbst über eine Zeitspanne hinweg, die über das Präsenzfeld hinausreicht, indem auf Grund der Wiederholung ein retentional längst entschwundenes Erlebnis wieder geweckt werden kann. Dieser Konnex, diese Einheit des Ich mit sich selbst ist aber noch an die Situation gebunden. Sie kommt nur unter entsprechenden urimpressionalen Umständen zustande, die Stiftung der Einheit mit sich selbst unterliegt noch nicht der Verfügbarkeit des Ich und kann von ihm noch willentlich hergestellt werden. Sie ist an Erlebniskomplexe, an die jeweiligen aktuellen kinaesthetisdien Sphären gebunden, die untereinander noch nicht zu einer synthetischen Einheit zusammengeschlossen sind. Der Säugling ist zunächst ,derselbe', der immer wieder dieselbe Ernährungssituation erlebt, oder er ist ,derselbe', der immer auf dieselbe Weise Bewegungsempfindungen hat. Zusammengeschlossen werden die beiden Sphären dann, wenn eine instinktive Notwendigkeit dazu besteht. Z. B. stellt sich schon früh ein Zusammenhang zwischen visueller und taktueller Empfindung her, indem der Säugling gleichzeitig beim Trinken mit den Lippen die Brust der Mutter berührt und ihr Gesicht sieht, so daß das Sehen des Gesichtes ihm bald einmal die Gewähr dafür ist, daß er zum Trinken kommt 48 . — Wenn Einheit des Ich mit sich selbst erst über zeitliche Teilstrecken, in Teilsphären oder gebunden an Empfindungssituationen möglich ist, dann ist sie an die ständige Wiederholung dieser Situationen gebunden, wenn sie nicht wieder verloren gehen soll. Der Säugling kann noch nicht in abstrakter Formulierung sagen: Ich bin idi, in allem was ich erlebe und unternehme bin ich derselbe. Er kann seine Horizonte noch nicht überfliegen und ihre ichliche Einheit setzen. Er kann deshalb noch nicht beliebig in die Zeithorizonte hineingehen und sie aufdecken. — All das ist mit dem Beginn jener Entwicklungsphase erst möglich, die Husserl die ,zweite Kindheit' nennt. Die zweite Kindheit ist diejenige, in die die Erinnerung des Erwachsenen hineinzureichen vermag, so daß sich die Vermutung aufdrängt, daß die erste Kindheit deshalb nicht erinnerbar ist, weil in ihr noch keine aktiv vollzogene, kontinuierliche ichliche Einheit besteht, weil das Ich noch nicht in der Lage ist, spontan seine Einheit zu setzen, sich in reflektiver Haltung zum Gegenstand zu nehmen.

5. Die Weckung des Ich zur A k t i v i t ä t u n d z u r Einheit mit sich selber „Das Vollziehen der Zuwendung ist es, daß wir als Wachsein des Ich bezeichnen. Genauer gesprochen ist zu unterscheiden das Wachsein als faktischer 48

Vgl. R. A. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, S. 83.

Die Weckung des Idi zur Aktivität und zur Einheit mit sich selber

127

Vollzug von Idiakten und das Wachsein als Potentialität, als Zustand des Akte-vollziehen-könnens, der die Voraussetzung für ihren faktischen Vollzug bildet. Erwachen ist, auf etwas den Blick richten." 4 9 Das Erwachen des Ich kann in unserer Untersuchung in zwei Hinsichten betrachtet werden: a) Erwadien des Ich zu einem intentionalen Verhalten, Erwachen zu einem Interesse an Gegenständen und ihren Horizonten, Erwachen zu einem Interesse an Gegenständen und deren Erscheinungsveränderungen. Wenn wir uns dieses Erwachen als einen genetischen Prozeß vorstellen, stellt das Erwachen eine zunehmende ichliche Aktivität dar, indem das Bilden von synthetischen Einheiten, die schließlich zur Konstitution eines Gegenstandes führen, weniger der unwillkürlichen Assoziation von vorgegebenen Sinneseinheiten unterliegt und schon mehr einem willentlichen Interesse an bleibender Gegenstandshabe verdankt wird. Aus der instinktiven Intentionalität bildet sich eine ,Interessenintentionalität' 50 , eine Ausbildung von Interesse am bleibend Seienden; im Verlauf dieses kontinuierlichen Interesses kommt es zu immer neuen und differenzierteren Apperzeptionen, es kommt zur Stiftung von apperzeptiven Typen, die eine Vorstufe der Dingkonstitution darstellen. Das Interesse am bleibend Seienden ermöglicht demnach gleichzeitig die Differenzierung der Aspekte und deren Erfassung als zugehörig zu dem einen identisch durchgehaltenen Seienden, d. h. zu einer gleichzeitigen Zusammennähme der Aspekte zu einer Synthese. Synthese bedeutet Stiftung von Einheiten, die sich abheben von andern gestifteten Einheiten damit ist die Vorbedingung für die Unterscheidung von einzelnen Gegenständen geschaffen, auf die sich das Ich nun aktiv abzielend riditen kann. Gegenstände konstituieren sich demnach nicht ausschließlich ,passiv', sondern korrelativ zum Prozeß der zunehmenden Aktivität des Ich, wenn auch die ersten primären Abgehobenheiten und instinktiven Interessen dem Bereich der vorwiegenden .Passivität' zuzurechnen sind. „Zur ersten Konstitution gehören neben Einheiten der passiven Zeitigung grundwesentlich Kinaesthesen, oft unwillkürlich geschehend und doch ganz und gar ichliche Geschehnisse, sozusagen zuerst passive Willensgeschehnisse, Tätigkeiten, die in willkürlich zu beherrschende verwandelt werden können durch Übung. Dann die .Assoziation' von Kinaesthesen mit affizierenden Daten und willkürliche bzw. vermögliche Zusammenhänge von kinaesthetischen Vermögen und ,in ihrer Folge' Erscheinungen etc. assoziative und aktive Synthesen höherer Stufe, Zielungen und Ziele höherer Stufe, Objektapperzeptionen mit ihren Horizonten in Verflechtung mit Außenhorizonten als Horizonten solcher Objekte und damit ein ganzes Feld mit offenem Horizont; ein Objekt und ein

49 50

Vgl. E . Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 83. Vgl. E . Husserl: Ms. transcr C 3 V.

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Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins

Objektfeld nur apperzipierbar als Objekt ihrer ,Welt'; jedes Objekt ,fertig' apperzipiert als in ,Seitengegebenheit', jedes hat sein Außen und sein äußeres Mit-da; hinfort ist also dann das Ich, wenn es überhaupt affiziert ist, von Objekten affiziert und sich zuwendend meint es und erfährt es, ist es auf das Objekt gerichtet, und diese Affektion entwickelt sich in der genießenden Form durch erst erfassende und dann synthetische Erfahrung, allseitige und explizierende." 51 — Abgehobenheit und abgehobene Gegenstände gibt es nur vor einem Hintergrund, vor dem das Objekt erscheint. Wenn jedes Objekt seinen ihm zugehörigen Hintergrund hat, wird auch der jeweilige Hintergrund in einer Spezifizierung erfaßt, der ihn von andern Hintergründen abhebt. Der Hintergrund als im Verhältnis zum Gegenstand relativ unbekannter, erst in einer globalen Abhebung erfaßter, kann dank seiner Abgehobenheit selber das Interesse des Ich auf sich ziehen, er kann selber thematisch expliziert werden. Das Hintergrundbewußtsein stellt in diesem Sinn ein Horizontbewußtsein dar, das mit dem Charakter der weiteren Befragbarkeit ausgestattet ist. Die Erfahrungen, die das Ich macht, wenn es immer weiter in die Horizonte hineingeht, immer mehr Hintergrund thematisieren will, versucht es in seinem Streben nach Vereinheitlichung Typen zuzuordnen, die ihm auf Grund früherer Erfahrungen habituell geworden sind, denn jedes Eindringen in unbekannte Horizonte ist ge-> tragen von einer Erwartung, die auf früheren Erfahrungserwerben basiert. Wenn die Erwartung enttäuscht wird, muß das Ich Modalisierungen vornehmen. Wenn es die neue Erfahrung keinem bekannten Typ zuordnen kann und sich die Erfahrung wiederholt, bildet sich auf Grund der assoziativen Synthesis ein neuer Typ, eine neue Habitualität. Es würde nun naheliegen, den Schluß zu ziehen, daß nach der Ausschöpfung aller gegenständlichen Horizonte und durch eine übergreifende Synthese aller Erfahrungen sich das Weltbewußtsein und die Welt konstituiert. Dieser Schluß kann aus zwei Gründen nicht gezogen werden: — eine Gegenstandshabe und die Welthabe ist nie abgeschlossen, einzelner Gegenstand und Welt sind immer mit Horizonten weiterer Befragbarkeit ausgestattet; ,endgültige' Erfahrung würde bedeuten, daß die Teleologie in der Entwicklung zu einem Ende gekommen ist, was aber solange nicht möglich ist als das Ich lebt und darauf drängt, Unbekanntes seines Zukunftshorizontes in gegenständliche, einheitliche Impressionalhabe zu verwandeln; — Weltbewußtsein und Welthorizont setzt sich ebensowenig wie das einheitliche Ich aus ,Stücken' zusammen. Ungegenständlich, allgemein ist der Welthorizont immer schon vorgezeichnet, weil er die Vorbedignung aller Abhebung darstellt. Die zunehmende Ausdifferenzierung von Typen des Seienden zu expliziten Gegenständen bringt gleichzeitig eine Ausdifferenzierung des Welthorizontes mit sich. 61

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 25.

Die Weckung des Idi zur Aktivität und zur Einheit mit sidi selber

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AusdifFerenzierung bedeutet nie ein Auseinanderfallen von Sinneseindrücken, denn alle Einzelerfahrung wird zusammengehalten durch die einheitliche lebendige Gegenwart, durch die immanente Zeitlichkeit, die „Zeit als Form der universalen Koexistenz" 52 , in der alle Sonderzeiten einig sind; alle Sonderzeiten stehen in einer Wesensbeziehung zur lebendigen stehend-strömenden Gegenwart, in der alle passiven und aktiven Synthesen fundiert sind. — Mit dem Aktivwerden des Ich werden die singulären Gegenstände und wird das Weltbewußtsein immer weiter ausdifferenziert und erweitert, gleichzeitig aber immer expliziter zu einer synthetischen Einheit zusammengenommen, zur Einheit eines Welthorizontes, der sich als Einheit abhebt von einer andern Einheit, der des Ich. b) Der zweite Aspekt des ichlichen Erwachens betrifft deshalb das Erwachen des Ich als Interesse an sich selber, als Interesse an den eigenen Möglichkeiten und an einer Einheit mit sich selber. Das Ich, das passiv oder aktiv in allem seinem Erleben und Handeln ,dabei* ist, kann von sich selber ,affiziert' werden, es kann sich für sein Tätigsein und seine Möglichkeiten ,interessieren'. „Icli als Ich bin überall ,dabei', aber nicht als Objekt konstituiert, solange eben nicht eine besondere Konstitution midi objektiviert h a t , . . . Als dabei konstituierend leistendes Ich, als Zentrum aller konstituierenden Affektionen und Aktionen, bin ich ständig erlebendes-leistendes, ständig ,bewußt' als gezeitigt und sich zeitigend, aber nicht bewußt im gewöhnlichen Sinne, nicht intentionales Objekt im natürlichen Sinne, dem für uns ersten, von ,Intentionalität'. Wie kommt es zur eigentlichen Ich-Objektivierung und in eins damit zur Objektivierung Anderer, schließlich anderer Menschen, wobei auch die Frage ist, was da das frühere sein muß. — Die Frage wendet sich in die: wie wird das anonym fungierende Ich und sein anonym konstituierendes Leben nebst den entsprechenden Habitualitäten ursprünglich ,interessant', das heißt hier . . . wie entspringt eine Uraffektion, in der das anonyme Ich von sidi selbst und von anderen Ich affiziert werden kann." 5 3 Damit das Ich von sich selber affiziert werden kann, für sich selber thematisch werden kann, muß eine Bedingung erfüllt sein, die für alles Affizierende gilt: es muß sich abheben von einem Hintergrund. Hintergrund wäre in ichlicher Hinsicht die kontinuierlich strömende Gegenwart, aus der sich durch inhaltliche Assoziation einheitliche ichliche Geschehnisse herausheben, die auf der Entwicklungsstufe des Säuglings nichts anderes als die ersten assoziativ vereinheitlichten Erfahrungen sind, von denen wir im letzten Kapitel gesprochen haben, und daraus folgend das erste Vermöglichkeitsbewußtsein als Voraussetzung für eine aktivere Beteiligung des Ich im Prozeß der Triebbefriedigung. 52 53

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 15. Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 16 IV, Bl. 26.

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Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins

„Wir hatten zunächst zu unterscheiden Idipol und Hyle und hatten zunächst im Auge die konstituierten Einheiten als Affektions- und Aktionspole des Ich. Aber nun ist weiter zu bedenken: Das Ich als Pol tritt in der urmodalen Gegenwart auf eben nur als Pol der jeweiligen Affektionen und Aktionen und eins mit ihren Gegenpolen, den affizierenden Einheiten und den auf sie gerichteten Akten, wobei sie eben den Charakter von Richtpunkten haben. Was in der lebendigen Gegenwart auftritt in dem Modus der Abgehobenheit (und darin sind als sidi abhebend die Akte besonders bevorzugt), das kann affektiv werden und zum Riditpunkt werden, und somit wird das Idi auch affiziert von seinen Akten, richtet sich das Ich auch in einem neuen, einem reflexiven Akte auf seine Akte. Im wachen Leben haben wir zu unterscheiden die mannigfachen fungierenden Akte und den identischen Idipol als fungierendes Ich, ,identisch' nicht durch eine aktive Identifizierung, sondern durdi die ,passive', eben nicht durch einen eigenen Akt hervorgestellte Synthesis der Einheitsdeckung."64 Was ermöglicht und was motiviert das Thematischwerden des Ich und seiner Habitualität? Grundsätzlich, das haben wir früher gesehen, kann das Ich sich auf sich selbst richten und zum Thema nehmen, weil es von Anfang an keine in sich geschlossene Einheit ist, sondern weil ihm Selbstbezogenheit ursprünglich eignet, weil es ursprünglich und vor aller Reflexion ein lebendiges Sich-von-sich-selbst-Unterscheiden und gleichzeitig Bei-sich-selber-sein ist. Diese Unterschiedenheit und Bezogenheit des Ich äußert sich auf der Stufe des Säuglingslebens in den kinaesthetischen Empfindungen, die die anfänglich passive Triebintentionalität begleiten. Sie sind der Grund dafür, daß etwas .behalten', wiedergeweckt, synthetisiert und in den verfügbaren Erfahrungsschatz des vorreflektierten Ich aufgenommen werden kann. — Die Motivation zur Rückwendung auf sich selbst liegt in der teleologischen Selbsterhaltungs-Tendenz des Idi, d. h. in seinem Streben nadi immer größerer Einheit, Synthese mit sidi selbst, die sidi auf unserer Stufe als Streben nach Verfügbarkeit über die eigenen Möglichkeiten in der Bewältigung der unbekannten Welthorizonte äußert. Das Ich ist bestrebt, seine Gegenwart auszulegen, in der der Erwerb aus früherem Tun impliziert ist, es ist bestrebt, ein immer differenzierteres, umfassenderes und einheitlicheres Bewußtsein seiner Vermöglichkeiten herzustellen, um im Bewußtsein eines umfassenden und einheitlichen ,Idi kann' in die Auseinandersetzung mit weltlichen Gegebenheiten zu treten. „Indem das Ich seine Vergangenheit auslegt, tätig in die Erinnerung eingeht und sidi im Nacheinander findet, legt es eigentlich seine volle Gegenwart aus, nämlich was es jetzt wirklich ist, M

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. C 10, Bl. 10/11.

Die Weckung des Idi zur Aktivität und zur Einheit mit sidi selber

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was in ihm als Ich wirklich liegt. Aber was es ist, ist es aus seinem Tun, aus dem was es getan hat, es hat sidi als tätiges, in und aus Tätigkeit aufgebaut; sein Jetztsein ist Erwerb seines früheren Tuns, und was es sein will, das entscheidet sich durch sein nunmehriges, es in seinem Sein fortbildendes Tun. So ist das gegenwärtige Ich sich selbst gestaltend und sein vergangenes Sichselbstgestalten in sich tragend." 5 5 Mit dem ausdrücklichen, thematischen Interesse an sich selber, dem einheitlichen Sidi-selber-gestalten-wollen zu einer ichlichen Einheit, ist eine neue Entwicklungsphase eingetreten. Aus dem impliziten Vermöglidikeitsbewußtsein ,idi kann dies', ,ich kann jenes' ist ein erstes, die Zeithorizonte überschauendes Bewußtsein in der Form ,idi kann überhaupt etwas', ,idi will überhaupt etwas' geworden. Dieses überschauende Bewußtsein ist nur möglich, wenn das Ich aus seinem ,Geradehin-leben' heraustritt und sich reflexiv, selbstgewahrend auf sich richtet. D a s Selbstgewahren betrifft auf der von uns betrachteten Entwicklungsstufe noch keine abstrakte ichliche Einheit, sondern den Zusammenschluß zu einem eigentlichen Bewußtsein als dessen, was das Ich vorreflexiv in sich aufbewahrt hat, all der Tätigkeiten, all des Meinens und Habens von Seiendem, die dem Ich der jeweiligen Entwicklungsstufe eigen sind. Es handelt sidi um eine neue Stufe und doch um einen kontinuierlichen Prozeß im Werden des Ich, um einen Prozeß, der von relativ passiv konstituierten Einheiten zu immer aktiverer Hinwendung, Explikation und Vereinheitlichung aller Erfahrungen führt. Passiv war der Konnex des Ich mit sich selber immer schon vorgegeben, ursprünglich im zu den einfachsten Empfindungen gehörigen kinaesthetischen Bewußtsein, fortschreitend in dem aus habituellen Erfahrungskomplexen sich aufbauenden Vermöglidikeitsbewußtsein, die ihrerseits immer schon eingeordnet waren in die universale Einheitsform der Zeit. Die Einheit des Ich in allen seinen aktiven und passiven Funktionen mit sich selber, die in der Einheit der lebendig strömenden Gegenwart gründet, kann das Ich wie andere passiv vor-konstituierte Einheiten aktiv, vergegenwärtigend erfassen. — Mit dieser ersten, aktiven Einheitsstiftung des Idi mit sich selber, mit dem Vermögen der Vergegenwärtigung kann deshalb eine neue Entwicklungsstufe angesetzt werden, weil Vergegenwärtigung das Vermögen ist, Vergangenes, assoziativ im Bewußtsein Auftauchendes zu reproduzieren, ausdrücklich festzuhalten, Erinnerung und Wiedererinnerung vergangener Erfahrungen herzustellen. Mit dem ersten Reflektieren, dem ersten empirischen ,Uberhaupt-Urteilen' des Ich über sidi selber, mit der aktiven Verfügbarkeit über die Zeithorizonte, mit der ersten aktiven Synthese des Ich mit sidi selber ist ein Idileben in Gange gekommen,

53

Vgl. E. Husserl: Ms. transcr. A V 5, Bl. 10.

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Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins

das die Vermöglichkeit in sich trägt, die eigenen vergangenen Erlebnisse zu reproduzieren, jetzt als Kind und später als Erwachsener. Die vorangehenden Ausführungen sind in einer abstrakten Weise erfolgt und mußten abstrakt erfolgen, weil wir aus der entwicklungspsychologisdien Wirklichkeit einen Aspekt ausgeklammert haben, der für die Entwicklung des Ich zu einer ersten empirischen Einheit mit sich selber von maßgebender Bedeutung ist: Vorbedingung für eine thematische Hinwendung des Ich auf sich selbst ist nicht nur der praereflexive Konnex des Ich mit sich selbst, sondern ebenso der praereflexive Konnex des Ich mit andern Ich, der in der Konstitution des kindlichen Ich nicht wegzudenken ist. Entwicklungspsychologisch wird der Säugling nur dann zu einem menschlichen Ich, wenn er in einer menschlichen Gemeinschaft, „in einer Atmosphäre intensiven menschlichen Gemeinschaftskontaktes" 56 aufwächst. Mit der Frage der intersubjektiven Konstituition, ihren Vorformen und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Selbstbewußtseins wollen wir uns in dem nun folgenden zweiten Teil beschäftigen.

56

Vgl. W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, S. 341.

II. TEIL: DIE BEDEUTUNG DER FREMDEXISTENZ FÜR DIE ENTWICKLUNG DES SELBSTBEWUSSTSEINS

EINLEITUNG

Nachdem uns Husserls Schriften für die Untersuchung des Ursprungs und der ersten Entwicklung des Selbstbewußtseins als Grundlage gedient haben, ist es naheliegend, auch seine Intersubjektivitätstheorie darauf hin zu überprüfen, ob sie sidi genetisch und eventuell entwicklungspsychologisch interpretieren läßt. Ein erster Hinweis auf ein mögliches Mißlingen dieses Unternehmens ergibt sidi aus dem Umstand, daß sich die Kritiker an Husserl mit besonderer Heftigkeit gegen seine Intersubjektivitätstheorie wenden. Die Kritik besteht allgemein formuliert darin, daß Husserl den Möglichkeiten echter sozialer Beziehungen nicht gerecht werde, wobei dieser Mangel häufig seiner Unfähigkeit, die solipsistisdie Einstellung zu überwinden, zugeschrieben wird. — Es wird im folgenden zu zeigen sein, in welcher Hinsicht Husserl unser spezielles Problem nicht zu lösen vermocht hat. Es ist unser Vorhaben, die unreflektierten, unmittelbaren Formen der Erfahrung der Existenz Anderer aufzuweisen. Wenn wir aus dieser Sicht an Husserl herantreten, ist es uns bewußt, daß wir nur bestimmte Aspekte seiner Intersubjektivitätstheorie untersuchen. Wenn auch Husserl unsere Frage nicht zulänglich zu beantworten vermag, so werden wir in der Auseinandersetzung mit seinen Gedanken doch die Richtung gewinnen, in der weitergefragt werden kann. Ein zentraler Ansatz schien uns, unter Berücksichtigung aller Phaenomenologen, die sidi mit der Frage der Fremdexistenz auseinandergesetzt haben, bei J. P. Sartre in seinem Werk ,L'être et le néant' gegeben zu sein. Aus Gründen des Umfangs der vorliegenden Arbeit konnte auf Theorien, die unserer Fragestellung weniger dienlich waren, nicht näher eingetreten werden. (Z. B. L. Binswanger, M. Merleau-Ponty.) Nach der Auseinandersetzung mit Husserl wird direkt zur Darstellung und genetischen Interpretation der Fremdexistenzlehre von J. P. Sartre übergegangen.

A. DIE BESCHRÄNKUNG VON HUSSERLS INTERSUBJEKTIVITÄTSTHEORIE AUF DIE TRANSZENDENTALE FRAGESTELLUNG 1. Die Notwendigkeit eines Uberschreitens der solipsistisch beschränkten Egologie Im Schlußwort zu den ,Cartesianischen Meditationen' legt Husserl dar, auf welchem Weg die „Cartesianische Idee einer Philosophie als einer universalen Wissenschaft aus absoluter Begründung" 1 zu verwirklichen wäre, nämlich mittels der radikalen und universalen phaenomenologischen Selbstbesinnung, die zu der Einsicht führt, daß jede Erkenntnis, die das Universum wahren Seins in apriorische Formen zu fassen sucht, als intentionale Leistung der transzendentalen Subektivität zu verstehen sei. Eine konsequent und universal durchgeführte transzendental-phaenomenologische Selbstbesinnung vermag nach Husserl alle apriorischen Wissenschaften zu begründen, da der „universale Logos alles erdenklichen Seins" 2 im Wesen der transzendentalen Subjektivität begründet ist. Die systematische Entfaltung des im Wesen der transzendentalen Subjektivität eingeborenen Apriori geschieht auf dem Weg der universalen Selbstauslegung aller erdenklichen dem ego und der transzendentalen Inter-Subjektivität „eingeborenen" konstitutiven Möglichkeiten. Diese „absolut subjektive Wissenschaft" 3 , die sich in der Methode der transzendentalen Reduktion bedient, begegnet in einem ersten Schritt dem transzendentalen ego und all dem, was in ihm beschlossen ist. Mein transzendentales ego ist ausgestattet mit einem „Horizont unbestimmter Bestimmbarkeit" 3 , den es, wenn der Anspruch auf Universalität erfüllt werden soll, auszulegen gilt und dem auch der Sinn ,alter ego' zuzurechnen ist. Die Auslegung der transzendentalen Subjektivität fängt zwar als reine Egologie an, mein transzendentales ego bleibt aber nicht der einzige Gegenstand der Phaenomenologie, sondern leitet über zu einer Intersubjektivitätstheorie, die das ,alter ego' in die Untersuchung miteinbezieht. Jene „universale konkrete Ontologie (oder audi universale und konkrete Wissenschaftslehre, diese

1 2 3

Vgl. E . Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 178. Vgl. E . Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 181. Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 69.

Überschreiten der solipsistisch beschränkten Egologie

137

konkrete Logik des Seins) -wäre also das an sich erste Wissenschaftsuniversum aus absoluter Begründung. Der Ordnung nach wäre die an sich erste der philosophischen Disziplinen die solipsistisch beschränkte Egologie, die des primordinal reduzierten ego, dann erst käme die in ihr fundierte intersubjektive Phaenomenologie,.. ." 4 . Die Theorie der transzendentalen Intersubjektivität ist die zweite der beiden Grunddisziplinen, in die sich die phaenomenologische Philosophie gliedert. Ihr geht „der Ordnung nach" die Egologie, die Betrachtung meines transzendentalen ego vorher. Die Selbstbesinnung, die der anfangende Philosoph zu vollziehen hat, kann nicht in der natürlichen kommunikativen Einstellung, sondern muß in der solipsistischen vollzogen werden 5 . Der Grund dazu liegt in der Methode der phaenomenologischen Philosophie, der phaenomenologischen Reduktion, die eine radikale Relativierung der Welt herstellt und das transzendentale Ich als Mittelpunkt dieser Welt setzt. Die Reduktion auf das transzendentale Ich bringt nach Husserl zwar den Schein einer solipsistischen Wissenschaft mit sich, die aber bei konsequenter Durchführung zu einer Phaenomenologie der transzendentalen Intersubjektivität überleitet. „In der Tat wird sich zeigen, daß ein transzendentaler Solipsismus nur eine philosophische Unterstufe ist und als solche in methodischer Absicht abgegrenzt werden muß, um die Problematik der transzendentalen Intersubjektivität als eine fundierte, also höherstufige in rechter Weise ins Spiel zu setzen." 6 Es geht aus diesen Ausführungen hervor, daß Husserl seiner Lehre von der Intersubjektivität eine grundlegende Bedeutung in der Begründung einer universalen Wissenschaft zugemessen hat, daß es seiner Meinung nach konstitutive Möglichkeiten gibt, die eine reine Egologie nicht aufzudecken vermag. — Es ist aber eine viel diskutierte Frage, ob es Husserl tatsächlich gelungen ist, der intersubjektiven Konstitution einen grundlegenden Platz einzuräumen, m. a. W. ob es ihm gelungen ist, den „Sdiein" des Solipsismus zu überwinden. Für uns ist diese Frage insofern von Bedeutung, als die „Notwendigkeit des Ausgangs von der je-eigenen Subjektivität" 7 eine sekundäre Thematisierung des „alter ego" mit sich bringt, und zwar die Thematisierung einer in natürlicher Einstellung immer sdion vollzogenen Konstitution des „alter ego". Dieser Zugang zur Problematik der intersubjektiven Konstitution scheint nicht geeignet zu sein, das genetische Entstehen der Konstitution des Andern zu erklären oder eine eventuelle Beziehung in der Entstehung von Ich-bewußtsein und ,Fremd'-bewußtsein zu sehen. — Husserl selber hat das Problem der Intersubjektivität nicht in 4 s 6 7

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. E. E. E.

Husserl: Husserl: Husserl: Husserl:

Cartesianische Meditationen, S. 181. Erste Philosophie II, S. 59. Cartesianische Meditationen, S. 69. Formale und transzendentale Logik, S. 208.

138

Die Beschränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie

genetischer Hinsicht untersucht, wie er es f ü r das transzendentale Ego getan hat („Das Faktum der Erfahrung von Fremdem (Nicht-Ich) liegt vor als Erfahrung von einer objektiven Welt und darunter von Anderen (Nicht-Idi in der Form: anderes I c h ) , . . . Es handelt sich hier nicht um die Enthüllung einer zeitlich verlaufenden Genesis, sondern um eine statische Analyse. Die objektive Welt ist f ü r mich immer sdion fertig da, Gegebenheit meiner lebendig fortlaufenden objektiven Erfahrung, . . ," 8 ) und es liegt audi darin f ü r uns ein Hinweis, daß es auf dem Boden von Husserls Intersubjektivitätsanalysen kaum möglich sein wird, genetisch nach dem Werden der intersubjektiven Beziehungen zu fragen. Die Art und Weise von Husserls methodischem Vorgehen steht, wie sich zeigen wird, einer genetischen Fragehaltung im Wege. Wenn die universale transzendentale Phaenomenologie mit der solipsistisch beschränkten Egologie ihren Anfang nimmt, um dann notwendig zur intersubjektiven Phaenomenologie überzugehen, stellt sich die Frage, welches die von der Egologie offen gelassenen Fragen sind, die diese allein nicht zu beantworten vermag. Wenn der Ausgang bei der je-eigenen Subjektivität genommen werden muß, ist zu fragen, in welcher Weise die Sphäre der jeeigenen Subjektivität überschritten werden muß und kann. Eine erste Notwendigkeit zum Überschreiten der egologischen Sphäre ergibt sich aus der Individualität, oder, wie Michael Theunissen sagt, der „ Jemeinigkeit" 9 des ego. Wenn sich die Egologie eine „Selbstbesinnung" oder „Selbstauslegung des ego" 10 nennt, so hat sie, wie Theunissen ausführt, nicht ein allgemeines Subjekt oder ein überindividuelles Bewußtsein im Auge, sondern ein Bewußtsein, das je meines, des sich philosophisch Besinnenden, ist 11 . Die jeeigene Subjektivität könnte an sich immer noch aufgefaßt werden als je meine und trotzdem allgemeine, die sich in allen Subjekten wiederfindet, wenn Husserl sie nicht ausdrücklich als „eine solche individuellen Seins" 12 auffassen würde, individuell hinsichtlich ihrer Erlebnisse, Vermögen, Dispositionen, individuell aber auch als reines Ich, das „für jeden Erlebnisstrom ein prinzipiell verschiedenes"1® ist. Diese Auffassung von Individualität „öffnet den Blick f ü r den Anderen als den, der sich nicht bloß in diesem und jenem von mir unterscheidet, sondern der als das Ich, das er f ü r sich selbst ist, anders ist als das Ich, das ich f ü r midi selbst bin" 1 4 . — Was als „Jemeinigkeit" bei Husserl zu verstehen ist, läßt sich durch seine Ausführungen über die Einzigkeit und Absolutheit des transzendentalen ego abgren8 Vgl. E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, S. 136. • Vgl. M. Theunissen: Der Andere, S. 18. 10 Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 118. u Vgl. E. Hussrel: Ideen I, S. 89, S. 130. 18 Vgl. E. Husserl: Ideen I, S. 70. 13 Vgl. E. Husserl: Ideen I, S. 138. 14 Vgl. M. Theunissen: Der Andere, S. 19.

Überschreiten der solipsistisdi beschränkten Egologie

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zen: „Jemeinigkeit" heißt nidit, wie z. B. später bei Heidegger, personale Jemeinigkeit, ein Sich-absetzen des Ich von den Anderen, sondern heißt „Ich in der Einzigkeit"15. „Ich bin einzig" bedeutet aber, daß idi neben mir keine anderen Ich habe, daß ich nicht „ein" Ich unter anderen bin. „Ich bin nicht ein Ich, das immer noch sein Du und sein Wir und seine Allgemeinschaft von Mitsubjekten in natürlicher Geltung hat" 18 , „Ich ist absolut individuell — . . ." 17 . Grundsätzlich schließt diese Einzigkeit des Ich andere Ich weder aus noch ein18, da sie einer Unterscheidung nach Ich und Anderen vorausliegt: „Ich bin einzig, nicht bloß einmal .vorkommend', einmal vorhanden, sondern Voraussetzung aller Vorhandenheiten"17. Als absolute Subjektivität kommuniziere ich nicht mit Anderen, kenne ich keine Anderen. Die Epoche, die allen weltlichen Seinsglauben außer Geltung setzt, um die Leistung der reinen Subjektivität aufzuweisen, „schafft eine einzigartige philosophische Einsamkeit"19. Es ist die Einsamkeit des Konstituierenden, der auch die Anderen als andere Ich konstituiert und seinesgleichen nicht kennt. „Das einzige Ich — das transzendentale. In seiner Einzigkeit setzt es .andere' einzige transzendentale Ich — als .andere', die selbst wieder in Einzigkeit setzen17." Es liegt in Husserls Verständnis von der Einzigkeit des transzendeentalen Ich, von der .Jemeinigkeit' der Subjektivität (die nach Theunissen eine transzendentale und nicht wie bei Heidegger bloß ontische ist), daß die Frage nach der Konstitution der Anderen als andere Ich und des Ich als Ich unter Anderen durch die reine Egologie nicht gelöst wird. Eine zweite Notwendigkeit zur Ergängzung der Egologie durch die Intersubjektivitätstheorie stellt das Problem der Konstitution der objektiven Welt dar. „Die transzendentale Intersubjektivität ist der absolute, der allein eigenständige Seinsboden, aus dem alles Objektive, das All des objektiv real Seienden, aber auch jede objektive Idealwelt, seinen Sinn und seine Geltung schöpft20." Die Objektivität der Welt kann in egologischer Einstellung nicht verständlich gemacht werden, da der Seinssinn der Welt als objektiver dadurch bestimmt ist, daß sie als eine „für jedermann daseiende", „jedermann zugängliche"21 vermeint ist. Transzendental verständlich gemachte Objektivität bedeutet zwar keineswegs Unabhängigkeit vom sinnstiftenden Subjekt, transzendiert jedoch mein ego in radikalerer Weise als die egologisch konstituierten Sinngehalte. Das Universum wahren Seins kann nicht außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher Erkenntnis gefaßt 15 18 17 18

" 20 21

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. E. E. K. E. E. E.

Husserl: Ms. transcr. B I 14 X I , Bl. 24. Husserl: Krisis, S. 188. Husserl: Ms. transcr. B I 14 X I , Bl. 24. Held: Lebendige Gegenwart, S. 161. Husserl: Krisis, S. 187. Husserl: Phaenomenologisdie Psychologie, S. 344. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, S. 123.

140

Die Besdiränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie

werden 22 . In diesem Sinne muß jede Form von transzendentaler Erkenntnis als immanent bezeichnet werden, auch die „objektive Transzendenz". Hinsichtlich der Immanenz zeigt sich aber ein Unterschied zwischen der egologischen konstituierbaren und der ,objektiven' Dingwelt. Die Immanenz der egologisch konstituierten Dingwelt zeigt sich darin, daß das Subjekt konkret nicht sein kann ohne seine intentionalen Gegenständlichkeiten, die den ideellen Bestand der je-eigenen Subjektivität ausmachen28. An der Konstitution der objektiven Welt, die als „für-jedermann-da" gemeint 24 ist, sind aber die fremden transzendentalen Subjekte mitbeteiligt; insofern ist die objektive Welt transzendent. Immanent aber bleibt sie soweit, als sie sich unmittelbar zwar nicht in mir allein konstituiert, wohl aber mittelbar, in der Vermittlung durch die mich einschließende Intersubjektivität, in der sie sich unmittelbar konstituiert. Da andererseits aber ich es bin, der die Anderen konstituiert, konstituiert sich die objektive Welt letztlich doch wieder in mir allein 25 . Wenn man sich mit Husserls Intersubjektivitätstheorie befaßt, sei es in der Hoffnung, dadurch grundlegende Auskunft über soziale Fragestellungen zu erhalten, sei es in kritischer Einstellung, die meist zu dem Ergebnis führt, daß Husserl die Probleme der praktischen' zwischenmenschlichen Beziehungen falsch oder gar nicht angegangen sei, muß man sich vor Augen halten, daß Husserl primär nicht einen Beitrag zur Grundlegung der Sozialphilosophie leisten, sondern eine „transzendentale Theorie der objektiven Welt" 28 begründen wollte. Die „transzendentale Theorie der Fremderfahrung" stellt auf dem Weg zu diesem Ziel einen ersten und fundamentalen Schritt dar, der von Husserl selber nicht als Ziel an sich selber aufgefaßt worden ist27. Insofern ist Husserl überfordert, wenn man seine Intersubjektivitätstheorie als sozialphilosophischen Versuch auffaßt und entsprechend kritisiert.

2. D i e f ü n f Schritte der intersubjektiven Konstitution a) Die Konstitution des fremden Leibes. Um den transzendentalen Sinn von Fremdsubjekten untersuchen zu können, führte Husserl eine „eigentümliche Art t h e m a t i s c h e r Epoche" 28 durch, die aus dem Ganzen der bereits transzendental redu22 23 24 25

27 28

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. E. E. E. E. E. E.

Husserl: Husserl: Husserl: Husserl: Husserl: Husserl: Husserl:

Cartesianische Meditationen, S. 117. Cartesianisdie Meditationen, S. 136. Cartesianisdie Meditationen, S. 124. Cartesianische Meditationen, S. 124. Cartesianische Meditationen, S. 124. Ideen I, S. 374, Erste Philosophie II, S. 395. Cartesianisdie Meditationen, S. 124.

Die fünf Schritte der intersubjektiven Konstitution

141

zierten Welt eine „einheitlich zusammenhängende Schicht" herausschält, die Sphäre des Eigenheitlichen, des nur mir Gehörigen. Abgeblendet wird alle auf fremde Subjektivität bezogene Intentionalität, soweit sie auf „die Wirklichkeit des Femden" geht. Die Intentionalität selbst als Möglichkeit der Erfahrung von Fremdem, gehört zur Sphäre der Eigenheit und bleibt in Geltung; nur insofern das Fremde fremde Subjektivität ist, wird es abgeblendet. (Die Schwierigkeiten, die sich aus der Durchführung dieser Reduktion gerade für die Uberwindung des Solipsismus ergeben stellt A. Schütz in seinem Aufsatz: Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl, dar.) Die Reduktion auf meine Eigenheitssphäre soll meine Erfahrung vom ,Andern' auf die Apperzeption seines Körpers reduzieren 29 , der allein unmittelbar präsent erscheint, während das Selbst oder das Ich des Andern, sein Bewußtsein, seine Erlebnisse nur mittelbar, durch Appräsentation erfahren werden können. So wie nur die Vorderseite eines Dinges präsent, seine Rückseite mit-gegenwärtig, appräsentiert ist, werde audi die Innerlichkeit des Andern nur auf dem Wege der Präsentation seines Körpers appräsentiert 30 . Die Analogie mit der Dingerfahrung ist dabei allerdings nur eine teilweise, denn grundsätzlich kann die appräsentierte Rückseite des Dinges in originäre Präsenz übergeführt werden. Die Innerlichkeit des Andern aber bleibt immer nur „ein Mit da", ihre Mittelbarkeit kann nicht aufgehoben werden. Wird die Ausschaltung alles Fremdsubjektiven radikal durchgeführt, dann erweist sich als unmittelbar präsent nicht einmal der Sinn ,Körper eines Andern', sondern ausschließlich ,ein Körper', der als solcher nichts anderes ist als ein Ding, unter anderen körperlichen Dingen. Der erste Schritt zum Anderen, der den so wahrgenommenen Körper doch aus der Gleichheit mit den andern Dingen heraushebt, geschieht mittels „einer apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her" 31 . Ich als eigenheitlich reduziertes Subjekt bin in der Lage, mich als eine durch Körper und Seele gebildete Einheit, d. h. als Leib aufzufassen. In ,Inneneinstellung' erfahre ich diese Einheit als Träger von Empfindungen und als frei bewegliches Organ, in ,Ausseneinstellung' erfahre ich meinen Leib als materielles Ding, um das sich die übrige Raumwelt gliedert 32 . Wenn aber in dieser Raumwelt ein Ding, ein Körper wahrgenommen wird, der eine Ähnlichkeit mit meinem Körper, als von außen gesehenem aufweist, übertrage ich meine Erfahrung, die ich in Inneneinstellung gewonnen habe und mein Bewußtsein meiner Einheit als Körper und Seele auf

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. E. E. E.

Husserl: Husserl: Husserl: Husserl:

Cartesianisdie Meditationen, S. 128. Cartesianisdie Meditationen, S. 139 und Ideen II, S. 162 ff. Cartesianisdie Meditationen, S. 140. Ideen II, S. 161.

142

Die Beschränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie

den fremden Körper, der auf diese Weise den Sinn „anderer L e i b " erhält 8 ». Die Mittelbarkeit der Fremderfahrung ist auf dieser Stufe eine Vermitteltheit durch meinen Leib, die wohl zu erklären vermag, daß ich einen Körper durch „analogisierende Apperzeption" als Leib aufzufassen vermag, die aber die Frage offen läßt, was den Leib zum fremden und nicht zum zweiten eigenen Leib macht 34 . Husserl gibt auf diese Frage zwei Antworten: „Was je original präsentierbar und ausweisbar ist, das bin ich selbst, bzw. gehört zu mir selbst als Eigenes. Was dadurdi in jener fundierten Weise einer primordinal unerfüllbaren Erfahrung, einer nicht original selbstgebenden, aber Indiziertes ((Appräsentiertes)) konsequent bewährenden, erfahren ist, ist Fremdes." 35 — Ein zweiter Ausweis f ü r die Fremdheit des fremden Leibes ergibt sich aus der Koexistenz seines Dort-seins mit meinem Hiersein. Zu einer andern Zeit könnte ich zwar auch dort sein, wo jetzt der fremde Leib ist, jedoch nicht zugleidi mit meinem Hier-sein. Das gleichzeitige, jetzt Dortsein des andern Leibes bezeugt, daß er nidit ein „Duplikat" meines eigenen Leibes sein kann 3 8 , b) Die Einfühlung in die fremde Eigenheitssphäre. Nadidem der erste Schritt zum Anderen, der gleichzeitig der schwierigste ist, getan ist, ergeben sich die weiteren Schritte als unmittelbare Konsequenz. Wenn die Einheit von Körper und Seele, der Leib, beim Andern erkannt ist, wenn damit ein Anfang des Verständnisses fremden Seelenlebens gegeben ist, so kann sich das Interesse nun im Besonderen auf das fremde Seelenleben, auf die „seelische Aktinnerlidikeit" 3 7 , in transzendentaler Fragehaltung auf das im Leibe waltende Ich der fremden Eigenheitssphäre riditen. Diesen Vorgang der Erfahrung der fremden Seele und des fremden Ich nennt Husserl „Einfühlung". Den in der physischen Umwelt vorfindlichen Leibern fühle ich ein Ichsubjekt mit dem besonderen Inhalt, der von Fall zu Fall gegeben ist, ein 38 . Verschiedene appräsentierte Eindeutungen wirken zusammen, ich bilde mir allmählich ein System von leiblichen Anzeichen aus, die ,Ausdruck' fremder seelischer Vorkommnisse sind, so daß ich schließlich in der Lage bin, fremdes seelisches Sein zu verstehen, das im Sehen der leiblichen Bewegung appräsentiert mitgegeben ist. Ich erschließe mir so den andern

ss 54 35 M 37 88

Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, Vgl. E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, Vgl. E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 164.

S. 140. S. 143. S. 144. S. 146 ff. S. 166.

Die fünf Schritte der intersubjektiven Konstitution

143

Mensdien als einen Leib, der „in eins mit Sinnesfeldern und sozusagen Seelenfeldern, bzw. mit einem Subjekt von Akten" erfahren wird 39 . c) Die Konstitution der objektiven Welt aus der Identifikation der priordinalen Welten. Das Fundament der intersubjektiven Gemeinschaftlichkeit ist die gemeinsamkeit des fremden Leibes mit meinem eigenen Leib. „Der Identitätssinn m e i n e r primordinalen Natur und der vergegenwärtigten anderen"40 wird nidit erst nachträglich, nach der Appräsentation des fremden Seelenlebens, hergestellt, sondern ist bereits mit der Appräsentation selbst hergestellt. Wenn ich mir durch Appräsentation das Seelenleben des Andern erschließe, erfahre idi seine primordinale Natur, „wie wenn ich dort anstelle des fremden Leibkörpers stünde"40. Meine eigenheitliche Natur, die ich von meinem Hier her erfahre, ist dieselbe Natur, die ich erfahren würde, wenn ich an seiner Stelle stünde. „Wahrnehmung der objektiven Welt" heißt deshalb Wahrnehmung, daß der Andere auf dasselbe hinsieht wie ich usw. . . ."40. „Die von Anderen gesetzten Dinge sind auch die meinen: in der Einfühlung mache ich die Setzung des Anderen mit, ich identifiziere etwa das Ding, das ich mir gegenüber habe in der Erscheinungsweise a mit dem vom Anderen in der Erscheinungsweise b gesetzten Ding." 41 d) Die Auffassung des Anderen als eines Mensdien. In die konstituierte objektive Welt wird der Andere als intersubjektiv konstituiertes Objekt eingeordnet. Dieses Objekt,Mensch', das ein „transzendentes äußeres Objekt" 42 ist, kommt in einer Apperzeption zustande, die aus urpräsentierenden Wahrnehmungen und appräsentierender Einfühlung eine Erscheinungseinheit, ein Identisches aus mannigfaltigen Erscheinungen und einem darin lokalisierten Seelenleben realisiert. Die Auffassung eines Dinges als eines Mensdien kommt nicht dadurch zustande, daß jedem physikalischen Teil an ihm seine Bedeutung zukäme, sondern indem der Körper in seinem jeweiligen Tätigsein als beseelt aufgefaßt wird, die einzelnen seelischen Einheiten verknüpft und zu immer höheren Einheiten, zuletzt zur Einheit .Mensch' verbunden werden. Die Auffassung des Anderen als eines Mensdien ist nidit die Auffassung eines an den Leib gehefteten Geistigen, sondern ein Objekt, „von dem idi sagen kann: es h a t Erlebnisse und Erlebnisdispositionen. Die Mensdienauffassung riditet sich weder auf den Körper nodi auf die Seele, sondern geht durch beide hindurdi auf die Einheit Mensdi"48.

*• Vgl. 40 Vgl. 41 Vgl. 42 Vgl. 43 Vgl.

E. Husserl: E. Husserl: E. Husserl: E. Husserl: E. Husserl:

Ideen II, S. 166/67. Cartesianische Meditationen, S. 152. Ideen II, S. 168. Ideen II, S. 169. Ideen II, S. 240.

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Die Beschränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie

e) Die Konstitution der Realität „Ich-Mensch" 44 . In solipsistischer Erfahrung kann ich konstitutiv nicht Mensch werden 45 . Dazu muß ich über mich hinausgehen und die Gegenstandseinheit ,Mensch', als die ich den Anderen konstituiert habe, auf mich selbst übertragen. Wenn ich den Anderen als Zentralglied für seine Umwelt auffasse und mir vergegenwärtige, wie und als was ihm die ihn umgebenden Dinge gegeben sind, dann kann ich auch mich selbst als Ding in seiner Umgebung auffassen und fragen, wie und als was ich selbst ihm erscheine. Ich sehe dann ein, daß er mich selbst ähnlich auffaßt, wie ich ihn auffasse, daß er midi also als Objekt und Einheit ,Mensch' auffaßt. Die von mir vorgestellte Vorstellung, die Andere von mir haben, dient mir dazu, mich selbst als sozialen Menschen aufzufassen und ermöglicht mir erst, mich selbst als ein Ich unter Anderen zu verstehen. In der inspectio fasse ich mich auf als Ich, das einen Leib gegenüber hat wenn ich diese Vorstellung mit der .fremden Vorstellung von mir' verbinde, komme ich dazu, ,Außeneinstellung' und .Inneneinstellung' zu verbinden und mich selbst als Einheit Mensch aufzufassen. „Die komprehensive Vorstellung, die andere von mir haben, bzw. haben können, dient mir dazu, midi selbst als sozialen Menschen aufzufassen, also in ganz anderer Weise als in der direkten Inspektion." 46

3. Die Möglichkeit einer Unmittelbarkeit der Fremderfahrung Die Fremderfahrung, die wir in den vorangegangenen fünf Schritten nachgezeichnet haben, wurde in transzendentaler Einstellung durchgeführt. Der Gang der transzendentalen Fremderfahrung ist bei Husserl von der natürlichen, alltäglichen, lebensweltlichen Fremderfahrung verschieden47 bzw. liegt ihr nur „strukturell" zu Grunde. Es sind vor allem zwei wichtige Punkte, in denen sich die beiden Einstellungen bezüglich der Fremderfahrung unterscheiden48: — In transzendentaler Einstellung konstituiert sich die objektive Welt aus der Identifikation meiner und der fremden Eigenheitssphäre. Das eigenheitlich reduzierte Ich hat zunächst eine Welt für sich, die es aber mittelbar als intersubjektiv bestimmte Welt auffaßt. Durch jene Reduktion aber „habe ich den natürlichen Sinn eines I c h . . . verloren" 49 . Die Welt der natürlichen Einstellung kommt nicht erst zustande durch einen aktuellen Konnex und 44 45 46 47 48 49

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E . Husserl: Ideen II, S. 167. E . Husserl: Ideen II, S. 611. E. Husserl: Ideen II, S. 242. W . Szilasi; Einführung in die Phaenomenologie E . Husserls, S. 104. M. Theunissen: Der Andere, S. 111. E . Husserl: Cartesianisdie Meditationen, S. 129.

Die Möglldikeit einer Unmittelbarkeit der Fremderfahrung

145

eine identifizierende Auffassung mit den Andern, sondern ist von vornherein eine „Welt für alle". Eines jeden Weltbewußtsein ist vorweg schon Bewußtsein" . . . einer und derselben Welt für alle" 50 . „Indem ich auf Dinge der Welt gerichtet bin, als solche Dinge für alle, so liegt darin nicht, daß je ein Ding für jemanden und für einen jeden wirklich als was es ist vollkommen selbstgegeben sein könnte; als ob jeder für sich es hätte oder erreichen könnte, wie es selbst ist, und dann die Menschen, in Konnex tretend, sich überzeugen würden, jeder hätte dasselbe erkannt — wie es selbst ist. Sondern Dinge sind von vornherein ihrem Seinssinn nach Dinge für alle." 51 Auch dann wenn ich ,für mich', in einsamer Erfahrung, ohne faktische Ge-, meinschaft mit Anderen Welt erfahre, bin ich „mindestens implizite immerfort auch auf Andere als Mitvorstellende, ev. Miterkennende bezogen" 51 . Wenn die objektive Welt immer schon für alle ist, entspricht ihr als subjektive Bedingung ihrer Möglichkeit das „vorgängige Immer-schon-vergemeinschaftet-sein" 62 . Die Anderen sind als Voraussetzung für das Ich der natürlichen Einstellung immer schon, d. h. vor jeder aktuellen Vergemeinschaftung „gegenwärtig". — Wenn mir in transzendentaler Einstellung der Andere zugleidi als ,Objekt in der Welt' und als .Subjekt für die Welt' erscheint und ich ihn dann so als Einheit Mensch auffasse, erfahre ich ihn so in ursprünglicher Einheit. Ich spalte seine Seinsart nach Subjektheit und nach Objektheit auf und fasse ihn erst in einem nächsten Schritt als Einheit. Die Geteiltheit des Anderen in das Subjekt für die Welt und das Objekt in der Welt bringt mit sich, daß der Andere wesentlich durch Mittelbarkeit seines Begegnens charakterisiert erscheint. Die Erfahrung des Andern als eines Subjekts für die Welt ist deshalb da mittelbar, weil mein Weg zu ihm da als über die Erfahrung seiner Weltapperzeption gegeben erscheint. Als Objekt in der Welt kann er nur mittelbar erfahren werden, weil in der Reduktion auf die Eigenheitssphäre des ego vom Anderen nur sein Körper übrig bleibt, den sich das ego zunächst als Weltobjekt präsentiert und der ihm die Erfahrung als eines fremden Subjekts vermittelt. Indem es in einem weitern Schritt den Andern als andern Menschen apperzipiert, macht es diese Aufspaltung offenbar wieder rückgängig, es erfährt den Anderen als „geschlossene Einheit Mensch". Damit scheint audi die transzendentale Mittelbarkeit der Erfahrung überwunden, da sich das ego nun, nachdem der Anfang des Fremdverständnisses gemacht ist, ausschließlich auf das im Leibe waltende Subjekt richten kann. Wenn die transzendentale Fremderfahrung dadurch charakterisiert ist, daß sie ursprünglidi nur mittelbar, nur vermittelt durch die objektive 50 51 52

Vgl. E. Husserl: Krisis, S. 257. Vgl. E. Husserl: Krisis, S. 468. Vgl. M. Theunissen: Der Andere, S. 93.

146

Die Beschränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie

Welt zustande kommt, stellt sich die Frage, ob und wie eine Einstellung denkbar ist, in der der Andere originär in ursprünglicher Einheit erscheinen kann, in der er unmittelbar erfahren werden kann. — Es sind wiederum die alltäglichen, natürlichen Erfahrungsbereiche, denen Husserl eine ursprüngliche Einheit und Unmittelbarkeit der Fremderfahrung zuspricht. In Abhebung von der natuarlistischen Einstellung, in der die Anderen in theoretischem Interesse als beseelte Leiber aufgefaßt werden, stellt Husserl fest: „Ganz anders ist die personalistische Einstellung, in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im Gruß die Hände reichen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind; desgleichen in der wir sind, wenn wir die uns umgebenden Dinge eben als unsere Umgebung und nicht wie in der Naturwissenschaft als ,objektive' Natur ansehen. Es handelt sich also um eine durchaus natürliche und nicht um eine künstliche Einstellung, die erst durdi besondere Hilfsmittel gewonnen und gewahrt werden müßte." 53 In personalistischer Einstellung erfasse ich die Dinge nicht als ,Objekte', sondern als die mich motivierenden Gebrauchsgegenstände und die Anderen nicht als ,Einheit' aus Leib und Seele, sondern als mit mir kommunikativ verbundene Menschen. Sie richtet sich auf eine ursprüngliche, nicht synthetische Einheit Mensch: „ . . . wir finden da nicht zwei äußerlich miteinander verflochtene Sachen: Leiber und Personen. Wir finden e i n h e i t l i c h e Menschen, die mit uns verkehren und die Leiber sind mit in der menschlichen Einheit." 54 Es handelt sich um eine „durchaus anschauliche Einheit, die sich darbietet, wo wir eine Person a l s s o l c h e erfassen" 65 . Im Sinne transzendentaler Einstellung macht der auf den Anderen gerichtete Akt gleichsam schon beim fremden Körper halt, der den eigentlichen Gegenstand darstellt, und in den die fremde Seele sekundär ,introjiziert* wird. In meiner aktuell persönlichen Umgebung begegne ich dagegen nicht zunächst einem Leib oder einem Körper, ebenso wenig wende ich mich nur an eine Seele oder an den ,Geist'. Der Mensch, an den ich mich wende, ,hat' zwar für mich einen Leib und ,hat' eine Seele, aber er ist weder das eine noch das andere, sondern ist beider Grund, auf den ich mich primär richte. „Ich sehe den Menschen, und indem ich ihn sehe, sehe ich auch seinen Leib. In gewisser Weise geht die Menschenauffassung durch die Erscheinung des Körpers, der da Leib ist, hindurch. Sie bleibt gewissermaßen nicht beim Körper stehen, sie richtet sich nicht auf ihn ihren Pfeil, sondern durch ihn hindurch — auch nicht auf einen mit ihm verbundenen Geist, sondern eben auf den Menschen. Und die Menschen-Auffassung, die Auffassung dieser Person da, die tanzt und vergnügt lacht und plaudert oder mit mir wissen-

53 54 53

Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 183. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 234/35. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 236.

Die Möglichkeit einer Unmittelbarkeit der Fremderfahrung

147

schaftlich diskutiert usw., ist nicht Auffassung eines an den Leib gehefteten Geistigen, sondern die Auffassung von etwas, das sich durch das Medium der Körpererscheinung vollzieht, . . ," 56 Die personalistische, menschliche, natürliche Erfahrung von anderen Menschen ist nach dem Husserl der „Ideen" eine im echten Sinne unmittelbare. „Sehen wir einander in die Augen, so tritt Subjekt mit Subjekt in unmittelbare Berührung. Ich spreche mit ihm, er spricht zu mir, ich befehle ihm, er gehorcht. Da sind unmittelbar erfahrene personale Verhältnisse,... Die Mittelbarkeit des Ausdrucks ist nicht Mittelbarkeit eines Erfahrungsschlusses. Wir ,sehen' den Anderen und nicht bloß den Leib des Anderen, er ist für uns nicht nur leiblich, sondern geistig selbstgegenwärtig, ,in eigener Person'." 57 Unmittelbar ist diese Erfahrung, weil ich nicht darauf angewiesen bin, midi in die Weltapperzeption des Anderen einzufühlen und unmittelbar ist sie, weil ich mich ihm nicht schrittweise über seine Körperlichkeit nähern muß. In seiner transzendentalen Grundlegung der Fremderfahrung wollte sich Husserl von deren faktisch-alltäglichen Vollzug leiten lassen, indem er „die faktische, also jederzeit zustandekommende Fremderfahrung zum Ausgangspunkt" 58 nahm. Hinsichtlich der Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit der Fremderfahrung stellen wir jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen der transzendentalen Analyse und der Beschreibung der empirischpersonalistischen Erfahrung bei Husserl fest. Die Unmittelbarkeit der Fremderfahrung scheint sich einer transzendentalen Begründung zu widersetzen, jedenfalls scheint es Husserl nicht gelungen zu sein, den Ansatz der Unmittelbarkeit in transzendentaler Einstellung wieder aufzunehmen, so daß in diesem Punkt zu fragen ist, ob er den Ausgangspunkt voraussetzungslos bei den empirischen Phaenomenen genommen habe. Wenn man Husserls Aussagen zur natürlichen Fremderfahrung eingehender untersucht, läßt sich feststellen, daß sich bereits die personalistische Einstellung in Husserls Konzeption als zwiespältig erweist und gerade dort, wo sie als Vorlage für die transzendentale Fragestellung dient, den Charakter der Unmittelbarkeit sogleich verliert 59 . Wenn Husserl den personalistisch auf Mitmenschen gerichteten Akt thematisch untersucht, legt er ihn als Einfühlung aus. Einfühlung zeichnet sich in der bisherigen Beschreibung durch Mittelbarkeit aus, als Appräsentation und ,Introjektion' der fremden Seele und des fremden Subjekts. Als Wesen der personalistischen Fremderfahrung ist Einfühlung aufgefaßt als Verstehen des leiblichen .Ausdrucks' des anderen Menschen. Obschon Husserl die perso56 57 58 59

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. Husserl: Ideen II, S. 240. E. Husserl: Ideen II, S. 375. E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, S. 150. M. Theunissen: Der Andere, S. 116—135.

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Die Beschränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie

nalistische Einfühlung von der naturalistischen, „introjizierenden" abzuheben sucht60, gelingt es ihm doch nicht, die Unmittelbarkeit der personalistischen aufrecht zu erhalten. — Audi das praktische Verhältnis zu einem andern Menschen und das Verhalten im Personenverband ist nach Husserl durch Einfühlung vermittelt. Es ist durch Motivationsbeziehungen geregelt, nach denen ich mich in meinem Tun richte: „wenn idi etwas tue, weil ich höre, ein anderer habe sich so und so verhalten", dann besteht eine Beziehung zwischen mir „und anderen Menschen und ihren Akten, die nicht wirklich kausale Beziehungen sind, sondern Beziehungen, die zwischen Akten und Motivationen des einen Subjektes und denen des anderen sich durch Einfühlung herstellen" 61 . — Noch ausdrücklicher ist die einfühlende Motivationsbeziehung in jenem interpersonalen Verhältnis, in dem die eine Person die andere zu einer Stellungnahme zu bewegen sucht, sich an sie wendet: „Es gibt eben noch andere Formen des Wirkens von Personen auf Personen: sie richten sich in ihrem geistigen Tun aufeinander (das Ich auf den Anderen und umgekehrt), sie vollziehen Akte in der Absicht, von ihrem Gegenüber verstanden zu werden und es in seinem verstehenden Erfassen dieser Akte (als in solcher Absicht geäußerter) zu gewissen persönlichen Verhaltensweisen zu bestimmen." 62 Die Sozialität konstituiert sich eben nicht nur im bloßen Hineinverstehen in fremdes Ichleben, in der bloßen Auffassung eines Andern als eines Menschen, sondern sie konstituiert sich durch die spezifisch sozialen, kommunikativen Akte, Akte in denen sich das Ich an Andere wendet, . . ." 63 Die eigentliche Sozialität, die Partnerschaft der Menschen, baut sich demnach auf der interpersonalen Motivation auf, die sich als das intentionale Fundament der Unmittelbarkeit natürlicher Fremderfahrung" 64 enthüllt. — Husserl spricht zwar auch in diesem Zusammenhang über „,unmittelbare' personale Wirkungen" 62 , da es aber die Einfühlung ist, die das Verstehen der fremden Motivationen ermöglicht, ist diese Unmittelbarkeit, die Husserl selber in Anführungszeichen setzt, fraglich. — Auseinanderzuhalten ist, daß Menschen einerseits direkt durch das Verhalten Anderer oder im Hinblick auf es zu Handlungen motiviert werden, andererseits sich in dem motivierenden Andern einzufühlen versuchen. In dieser Differenz sieht M. Theunissen eine Zwiespältigkeit in Husserls „personalistischer Einstellung" und glaubt in ihr den Grund für seine „Preisgabe der natürlichen Unmittelbarkeit" gefunden zu haben. „Eines aber ist es, vom Mitmenschen zu Handlungen motiviert zu werden; ein anderes sich in sein motiviert werden einzufühlen. Jenes ist eine unmittelbare, dieses eine mittelbare Erfahrung. Auch wenn man das Verstehen der fremden Motiva60 61 62 63 64

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. Husserl: Ideen II, S. 210/375. E. Husserl: Ideen II, S. 231/233. E. Husserl: Ideen II, S. 192. E. Husserl: Ideen II, S. 194. M. Theunissen: Der Andere, S. 119.

Die Möglichkeit einer Unmittelbarkeit der Fremderfahrung

149

tionen so auslegt, daß idi mich einfühlend in den midi motivierenden A k t der fremden Person hineinversetze, bleibt es mittelbar. Die so bestimmte Einfühlung aber ist es, auf die Husserl die von der fremden Person auf midi ausgeübte Motivations,Wirkung' gründet. Er gründet also den sozialen Akt, der für sich unmittelbar wäre, auf einem mittelbaren Akt. D a m i t wird die Unmittelbarkeit des sozialen Aktes selber mittelbar — eine Unmittelbarkeit in Anführungszeichen." 6 5 — Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten M o ment der personalistischen Einfühlung, mit dem Ausdrucksverstehen. Ausdrudisverstehen bedeutet Verstehen der im Menschen gegebenen Einheit von Geist und Leib. Der kommunikativ verstehende A k t richtet sich nicht ausschließlich auf das fremde Subjekt, den fremden Geist, sondern auf die subjektiv-objektive, geist-körperliche Einheit des Anderen. „ D a s Ichliche, Subjektiv-Geistige, hat besondere .Verbindung' hinsichtlich besonderer D a t e n (Bewegungsempfindungen, von Leibesempfindungen ausstrahlende Tendenzen zu Bewegungsempfindungsabläufen), die leiblich apperzipiert in alles Leibliche mit eingehen. D a m i t hängt dann auch der ,Ausdruck' zusammen, der fremde Leiber als Leiber für Geistesleben in weitem Ausmaß zu interpretieren gestattet." 8 8 Der fremde Leibkörper ist sozusagen das vorgegebene Material, das auf seine geistige Bedeutung hin interpretiert wird, die Einfühlung geschieht hier m. a. W. tatsächlich auf die Weise, wie sie in transzendentaler Einstellung erarbeitet wurde: das Fremdsubjekt ist durdi den fremden Leib und letztlich durch den fremden Körper vermittelt. — M a n kann bei Husserl zwei Formen von personalistisdier Einstellung unterscheiden, eine anschaulich-natürliche, in der der Mensch als unmittelbare Einheit erscheint, die aber das Verstehen des andern Menschen nur zu beschreiben gestattet, nidit jedoch zu ,erklären' vermag — und eine abstraktive, die den G a n g der Fremderfahrung erklärt, indem sie den Anderen zugleich als Objekt und als Subjekt setzt und dadurch die Unmittelbarkeit der Erfahrung aufgibt. M . Theunissen ist der Meinung, daß Husserl den Vorbegriff der faktischen Fremderfahrung, der ihm als Leitfaden für die transzendentale Theorie gelten soll, bereits durch einen transzendentalen Vorgriff in die naturale Sphäre bestimmte, wodurch er „das Eigenste der personalistischen Einstellung", nämlich das der Abstraktion vorangehende, das „vorgängige Immer-schon-vergemeinschaftet-sein" aus den Augen verlor 8 7 . Es sollte damit gezeigt werden, daß die Untersuchungen Husserls, die unter den Titel Unmittelbarkeit der Fremderfahrung' gehören, nicht über einen ersten Ansatz, der sich hauptsächlich auf die ,Ideen I I ' beschränkt, hinausgekommen sind und daß hier k a u m eine Möglichkeit besteht, die geforderte Parallele zwischen natürlicher und transzendentaler Erfahrung her85 88 87

Vgl. M. Theunissen, Der Andere, S. 119. Vgl. E. Husserl: Ideen II, S. 183. Vgl. M. Theunissen, Der Andere, S. 126.

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Die Beschränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie

zustellen, wobei der Grund möglicherweise darin zu sehen ist, daß Husserl selber sein Postulat der Voraussetzungslosigkeit in diesem Fall nicht erfüllt hat.

4. Das immer-schon-im-voraus-seiende Ich In transzendentaler Einstellung „erfahre" idi den Anderen zugleich als „Objekt in der Welt" und als „Subjekt für die Welt". Objekt in der Welt ist er für mich auf der Stufe der Appräsentation, als Subjekt für die Welt setzt ihn die transzendentale Einfühlung, durch die er „Nicht-Ich in der Form: anderes Ich" 68 wird. Die Auffassung des Anderen als anderes Ich ergibt sich aus der Weise des Zugangs zu ihm, aus der Einfühlung. „Transzendentale Einfühlung" ist dabei nicht zu verstehen als ein Sich-Einfühlen i n ein alter ego, sondern bedeutet: Einfühlung eines alter ego, d. h. die Einfühlung setzt das alter ego nicht voraus, sondern sie setzt es erst. Sie setzt es in Analogie-Apperzeption zu der meines eigenen ego. So wie mein Leib auf der Stufe der Appräsentation die Rolle des Urleibes" spielt 69 , gibt mein Ich auf der Stufe der Einfühlung als Vermittler der fremden Ichlichkeit die ,Urnorm' vor. Das fremde Ich wird dadurch zum „Analogon" 70 meines eigenen Ich, zu einer „Modifikation meines Selbst", so wie alles Fremde nur denkbar ist als „Analogon von Eigenheitlichem" 71 . Das andere Ich ist aber „Spiegelung meiner selbst, und doch nicht eigentlich Spiegelung, Analogon meiner selbst, und doch wieder nicht Analogon im gewöhnlichen Sinne" 72 . Es ist kein Analogon meines Ich, weil es vielmehr mit „meinem" Ich identisch ist: „alter sagt alter-ego, und das ego, das hier impliziert ist, das bin idi selbst" 73 . Und es ist doch ein Analogon, insofern der Andere auch noch anderes ist als ein Ich. Was der Andere über sein Ichsein hinaus ist, erscheint als sein Körper, der sich von meinem Körper hier dadurch unterscheidet, daß er dort ist. — Der Unterschied zwischen dem Anderen und mir reduziert sich somit auf die räumliche Differenz, die primär nur den Körper betrifft und die Identität des „Ich als im Anderen" mit einem eigenen Ich nicht aufhebt. „Das Ich im Anderen — das ist aber der Andere selbst, der Andere in seinem ,selbst-eigenen' Sein. Sofern das Eigenste des Anderen ich selbst bin, ist der Andere nichts anderes als was die Dingwelt ist, von der ja Husserl auch sagt, sie sei „ich-selbst."74

68 89 70 71 72 73 74

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, E. Husserl: Erste Philosophie II, S. 61. E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen, M. Theunissen: Der Andere, S. 141.

S. 136. S. S. S. S.

126. 144. 125. 140.

Das immer-schon-im-voraus-seiende Idi

151

Wenn idi dem Anderen ein Ich, von meinem eigenen Ich einfühle, dann stellt die Selbstzeitigung das Urbild her, dem gemäß ein analoges Ich oder Selbst eingefühlt wird. Ein Ich fühle ich dem Anderen ein, indem ich mich auf seinen Standpunkt stelle und mir die Welt, die mir in meinem Hier gegenwärtig ist, so vergegenwärtige, wie sie sich von seinem Dort aus darstellt. Wenn ich mir die Welt von Dort vergegenwärtige, greife ich auf meine Erfahrungen zurück, die ich in Form von Habitualitäten in meinem Erfahrungsschatz bewahre. Unter der Welt des Anderen und unter dem Anderen könnte ich mir nidits vorstellen, wenn ich die Welt nicht selber schon von den verschiedensten Standpunkten aus erfahren hätte und wenn ich diese Erfahrungen nicht wiederholen oder reproduzieren könnte. Was ich vom Anderen erfahren kann, bewegt sich deshalb in den Grenzen meiner eigenen vergangenen Erfahrungen. Die transzendentale Einfühlung ist eine „Analogisierung, die nicht ein Neues gegenüber dem Ich ergibt" 75 . Dadurch ist die »Wirkung*, die der Andere auf mich ausüben kann, zum Vornherein beschränkt oder, wie M. Theunissen überspitzt sagt: „Nie kann der Andere mich überraschen und im Begegnen verwandeln, nie kann er aus dunkler Zukunft auf mich zukommen." 76 Es ergibt sich aus diesem Zusammenhang die für Husserl selbstverständliche Voraussetzung der Intersubjektivitätstheorie, deren Fragwürdigkeit von vielen Kritikern aufgegriffen worden ist (K. Hartmann, A. Schütz, Th. Seebohm, J. Thyssen), daß ich, als das absolut einzige ego, wie alle meine Gegenstände, so auch den Anderen konstituiere. Wenn Husserl sagt, daß „das in und aus mir Sinnhaben der Anderen . . . als Tatsache vorliegt" 77 , setzt er voraus, daß nicht nur das fremde Objekt in der Welt, sondern auch das fremde Subjekt für die Welt auf meiner transzendentalen Subjektivität gründet. Entsprechend ist dann auch die „Welt für alle", die sich intersubjektiv konstituiert, letztlich eine von mir konstituierte Welt: „Zuerst und allem Erdenklichen voran bin ich. Dieses ,Ich bin' ist für mich, der ich das sage und in rechtem Verstände sage, der intentionale Urgrund für meine Welt, wobei ich nicht übersehen darf, daß auch die .objektive' Welt, die ,Welt für uns alle' als mir in diesem Sinn geltende, .meine' Welt ist." 78 Es ließe sidi dagegen einwenden, daß der Andere, so wie ich ihm vorangehe, mir vorangeht. Der Prozeß der Einfühlung, insbesondere die Notwendigkeit der Übertragung der ,Einheit Mensch' auf mich selber, ohne die ich mich selber nicht als einen Menschen in einer menschlichen Gemeinschaft erfahren könnte, scheint ihrerseits auf eine Vermittlung durch den Anderen zurüdsführbar zu sein. Husserl schränkt aber den Einfluß des Anderen 78 76 77 78

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

E. Husserl: Ideen II, S. 168. M. Theunissen: Der Andere, S. 150. E. Husserl: Formale und transzendentale Logik, S. 214. E. Husserl: Formale und transzendentale Logik, S. 209.

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Die Beschränkung von Husserls Intersubjektivitätstheorie

darauf ein, daß er mich durch sein faktisches Auftreten zu einem Einfühlungsakt veranlaßt, während ich es selber bin, der die .fremde Vorstellung von mir' vollzieht und mit meinem Ich aus der Introspektion identifiziert. Der Andere kann zwar in gleicher Weise mich als Anderen auffassen, so wie ich ihn als Anderen auffasse, er ist zwar „selbst transzendentale Subjektivität . . . , die aber in mir als dem im voraus schon für sich seienden Ego zu notwendiger Setzung kommt" 79 . — Die echte Alternativmöglichkeit aber, dieHusserl von vornherein ausschließt, ist die Gleichursprünglichkeit." 80 Indem ich dem Anderen vorangehe, konstituiere ich als das allkonstituierende Ur-Ich auch den selber allkonstituierenden Anderen. Obschon ich den anderen als Konstituierenden, der infolgedessen auch mich konstituieren kann, erfasse, verstehe ich mich dabei doch nicht eigentlich als in meiner ursprünglichen Ichheit vom Anderen konstituiert. Die Macht meiner Konstitution reicht bis zum Ich in letzter Ursprünglichkeit, während sich die Ohnmacht meines vom-Anderen-Konstituiertwerdens auf mein ontisdi vergemeinschaftetes Ich beschränkt, das von meinem Ur-Ich sogleich wieder übergriffen wird. Eine Gleichursprünglichkeit der Partner ist damit in letzter Hinsicht ausgeschlosen, denn „zuerst und allem Erdenklichen voran bin ich"; der Andere erscheint diesem Anspruch gegenüber als unterlegen. „Ich habe eben den Anderen schon dadurch degradiert, daß ich das Ich, welches sidi von ihm konstituieren läßt, zu einem abkünftigen Modus meiner selbst degradiere und ihm gegenüber mich als ursprüngliches Idi behaupte. Damit aber entziehe ich mich der Gleichursprünglichkeit, in der ich als Glied der transzendentalen Monadengemeinschaft mit den andern Gliedern zusammenstehe.^ Es wird aus diesen Ausführungen verständlich, wenn viele Kritiker Husserls der Meinung sind, daß er mit seiner Intersubjektivitätstheorie den transzendentalen Solipsismus nicht zu überwinden vermochte. Für Husserl besteht in der folgenden Aussage kein Widerspruch: „Der Schein des Solipsismus ist aufgelöst, obschon der Satz die fundamentale Geltung behält, daß alles, was für mich ist, seinen Seinssinn ausschließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre schöpfen kann" 81 , während seine Kritiker gerade darin den Ansatz für sein Unverständnis sozialer Wechselbeziehungen sehen. — Ohne uns auf die diesbezügliche Diskussion einlassen zu können, ergibt sich als Konsequenz aus den beiden untersuchten Gesichtspunkten: Unmittelbarkeit' und .Gleichursprünglichkeit', daß Husserls Intersubjektivitätstheorie nicht geeignet ist, als Vorlage für eine Entwicklungstheorie der frühen sozialen Beziehungen zu dienen. Sie ist allein schon deshalb nicht geeignet, weil es sich um eine betont statische bzw. strukturale Analyse 79 80 81

Vgl. E. Husserl: Formale und transzendentale Logik, S. 241. Vgl. M. Theunissen: Der Andere, S. 153. Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, S 176.

Das immer-sdion-im-voraus-seiende Ich

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handelt, die weder Gesichtspunkte der Zeitlichkeit noch der genetisdien Phaenomenologie berücksichtigt. Das nachträgliche Einführen dieser Gesichtspunkte könnte auf große Schwierigkeiten stoßen, da sowohl die Mittelbarkeit der Fremderfahrung als auch die Position des allem-voran-seienden Ego neu überdacht werden müßten. (Daß transzendentale Phaenomenologie keinen „Übergang von dem Verhältnis ,Idi und die Anderen' zu einem ursprünglichen Ich-Du-Verhältnis" ermöglicht, zeigt auch H . Zeltner 82 .) Eine weitere Schwierigkeit, die mit der eben erwähnten zusammenhängen dürfte, besteht für uns darin, daß es Husserl nicht gelungen ist, bezüglich der Fremderfahrung eine Parallele zwischen der phaenomenologisch-psychologischen und der transzendentalen Einstellung aufzuweisen. Was wir positiv aus der Auseinandersetzung mit Husserls transzendentaler Intersubjektivitätstheorie gewonnen haben, ist aber doch der Leitfaden für unsere weitere Suche nach einer, unserer Fragestellung adäquaten, Sozialontologie. Es sind die Fragen, die Husserl offengelassen hat, nämlich die Möglichkeit einer philosophischen Begründung der unmittelbaren Fremderfahrung und des genetischen Werdens von Ich und Anderem, denen wir uns nun zuwenden wollen.

82

Vgl. H. Zeltner: Das Ich und die Anderen.

B. DIE UNMITTELBARKEIT DER BEGEGNUNG MIT DEM ANDEREN UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DAS ERFAHREN DER SELBSTHEIT BEI J. P. SARTRE Das Problem, das sich Sartre in seinen sozial-ontologischen Untersuchungen zu lösen vornimmt, läßt sich mit zwei wesentlichen Gesichtspunkten unserer Fragestellung in Verbindung bringen: es ist die Unmittelbarkeit der Gegenwart des Anderen, die er zu fixieren sucht und es ist diese Unmittelbarkeit, die für ihn den Grund für die Möglichkeit einer konstitutiven Beziehung zwischen dem Anderen und meinem eigenen Selbst darstellt 1 . Wenn sich Sartre gegen Husserls transzendentale Intersubjektivitätstheorie wendet, in der der Andere als „ein Insgesamt von Einigungs- und Konstituierungsoperationen meiner Erfahrung" (316) 2 erscheint, tut er es in anderer Weise als man zunächst erwarten würde. Die Unmöglidikeit, den Anderen ursprünglich und unvermittelt zu erfahren, scheint in Husserls Ausgehen vom ,ego cogito', das allem Erdenklichen immer schon voraus ist, begründet zu sein. Sartres Angriff richtet sich nun aber gerade nicht gegen das Ausgehen vom cogito, sondern gegen Husserls Einschränkung des cogito auf die Gewißheit der eigenen Existenz. Wenn die Gewißheit der Fremdexistenz, die eine alltägliche Erfahrung darstellt, ontologisch verständlich werden soll, so kann dieses Unternehmen nach Sartre nur dann gelingen, wenn die Existenz des Anderen als eines anderen Selbst nicht als eine Setzung meines cogito vorgestellt wird, sondern mir ebenso unmittelbar gegenwärtig und sicher ist wie die meine. D a ß es eine Fremdexistenz gibt, daß ich ein implizites, „vorontologisches" Verständnis seiner Existenz habe, das ist nach Sartre die Gewißheit, die ich nicht zu beweisen, wohl aber zu befragen

1

2

Wenn aus den verschiedenen transzendentalphilosophischen und sozialontologischen Ansätzen, in denen der Anspruch erhoben wird, das Problem der Unmittelbarkeit der Fremderfahrung zu lösen (M. Heidegger, M. Merleau-Ponty, A. Schutz, L. Binswanger), Sartres Entwurf aufgegriffen wurde und in die Richtung der genetischen konstitutiven Bedingungen weitergeführt wurde, erfolgte diese Auswahl nach dem Kriterium der Übertragbarkeit in den genetisch-entwicklungspsychologisdien Bereich (abgesehen von der fundamentalen Zweifelhaftigkeit der genannten Ansätze, vgl. M. Theunissen, Der Andere). Die Zahlen in diesem T e x t beziehen sich auf die Seitenzahlen von L'être et le néant, deutsche Ausgabe, Hamburg 1962

D i e U n m i t t e l b a r k e i t der Begegnung mit dem A n d e r e n

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habe. So wie ich implizit, unreflektiert immer schon gewußt habe, daß ich existiere, so habe ich immer gewußt, daß der Andere existiert. „Wenn die Fremdexistenz keine müßige Annahme, kein bloßer Roman ist, so deshalb, weil es so etwas wie ein cogito gibt, das sie betrifft. Dieses cogito muß ans Licht gezogen werden, seine Strukturen müssen explizit gemadit werden, . . . , in der tiefsten Tiefe meiner selbst muß ich nicht Gründe finden, an den Anderen zu glauben, sondern muß ich den Anderen selbst finden als den, der nicht ich ist" (336). Was das cogito uns zunächst enthüllen kann, ist nicht ein Anderer als Objekt in der Welt oder als Subjekt für die Welt, denn als der, der „nicht ich" ist, kommt der ursprünglich gegenwärtige Andere nicht in meiner „Welt" vor, er entzieht sich meinem erkennenden Zugriff, er ist „von N a t u r außerhalb der Welt" (315). Seine Anwesenheit ist nicht durch „Welt" vermittelt, ich erreiche sie nicht erst im Durchgang durch die „Welt", sondern er ist mir unvermittelt, „unmittelbar gegenwärtig" (335). Wohl kann der Andere durchaus als Objekt in meiner „Welt" aufgefaßt werden; seine Vergegenständlichung stellt aber „lediglich eine Episode in meinen Beziehungen zum Anderen" dar; der Andere muß schon in anderer Weise als Anderer erfahren sein, bevor idi die Erfahrung seines In-der-Welt-seins machen kann; bevor ich ihn als einen Leib, in dem ein Subjekt waltet, auffassen kann: „zunächst existiert der Andere für mich, und erst dann erfasse ich ihn in seinem Leib; der Leib des Anderen ist für mich eine sekundäre Struktur" (440). — Die Alternative zu Husserls Theorie und der eigene Lösungsweg besteht nun aber für Sartre keineswegs darin, daß er den Wesenskern des Anderen in einem ontologischen, apriorischen „Mit-sein" (333) ansetzt, da sich dadurch der Andere in ein abstraktes und unselbständiges Element auflösen würde und keinen Übergang zur konkreten Realität des Anderen gestatten würde. Mit einem apriorischen „Mit-sein" kann nach Sartre die fundamentale soziale Relation nicht erklärt werden, da das „Mit-sein", sofern es zu einer Wesensstruktur meines eigenen Seins erklärt wird, wiederum a priori jeden realen Tatbestand ausschließt, der nicht von mir gestaltet wird, und es infolgedessen mein immer-schon-vorweg-sein ebenso statuiert wie es die Argumente des Solipsismus tun (333). Indem Sartre den Anderen als ebenso ursprünglich und absolut evident auffaßt wie das Cartesianische cogito, erhebt er ihn auf die Ebene der Faktizität, die dem eigenen Bewußtsein eignet: „ . . . der Andere erscheint mir nicht wie ein Seiendes, das zunächst konstituiert wird, um mir dann zu begegnen, sondern wie ein Seiendes, das innerhalb seines ursprünglichen Seinsbezuges zu mir auftaucht und dessen Unbezweifelhaftigkeit und faktische Notwendigkeit die meines eigenen Bewußtseins sind" (365). So stellt Sartre an den Anfang seiner Theorie des Für-Andere-seins die These: „das der einzig mögliche Ausgangspunkt das cartesianische cogito ist" (336). Er wiederholt mit dieser These Husserls Ausgangspunkt, aber er hat

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Die Unmittelbarkeit der Begegnung mit dem Anderen

damit gleichzeitig die Absicht, ihn ursprünglicher, radikaler zu wiederholen. Fundament auch seiner Theorie bleibt die Intentionalität des fungierenden Subjekts. Als phaenomenaler Befund kann dementsprechend nur anerkannt werden, was sich mir aus meiner eigenen Innenperspektive enthüllt. Echte Erfahrung von Bewußtsein hat immer nur mein Bewußtsein vor sich (361); das Bewußtsein der Fremdexistenz wird deshalb nicht aufgeklärt, indem man sich auf den Standpunkt des Dritten stellt, indem man das Verhältnis von Ich und Anderem aus der Außenperspektive betrachtet, sondern der Grundgedanke liegt für Sartre gerade darin, daß ich, wenn ich eine Theorie der Fremdexistenz aufstellen will, nur dann zum Ziel komme, wenn ich beschreibe, wie ich selbst, das einzige mir zugängliche Ich, den Anderen, der „nicht-Ich" ist, erfahre. Ich kann den Anderen nur erfahren, indem ich in Beziehung mit ihm stehe; darin stehend kann ich aber die Beziehung nicht als eine äußerliche Ganzheit vor mich bringen, „denn ich als Ich-selbst existiere ja gerade auf der Grundlage dieser Ganzheit und in dem Maße, in dem ich in sie eingefügt bin" (397). So wenig ich das Sein meines Bewußtseins auf die reflexive Erkenntnis zurückführen kann, so wenig kann ich mein Sein in Richtung eines wechselseitigen Verhältnisses transzendieren, „von wo aus ich gleichzeitig mein Sein und das der Anderen als gleichwertig sehen könnte: ich muß im Gegenteil in meinem Sein Fuß fassen und das Problem der Anderen von meinem Sein aus stellen. Kurz, der einzig sichere Ausgangspunkt ist die Innenweltlichkeit des cogito" (327). Der Gedanke der Unübersteigbarkeit der „interiorité" des cogito ist von grundsätzlicher Bedeutung für Sartres Fremdexistenzlehre. Es ist dieses cogito, dem der Andere als „nicht ich seiend" (337) erscheinen muß. Die Verneinung kann an sich unter zwei verschiedenen Hinsichten vollzogen werden: die äußere oder räumliche Verneinung kommt durch die ontische Geschiedenheit der Leiber zustande, durch ein passiv erduldetes Getrenntsein (311); die innere Negation, die nach Sartre das Sozialverhältnis kennzeichnet, kommt dagegen durch die innere Negation zustande, die sich schon in dem ursprünglichen Seinsphaenomen ausdrückt, daß ich nur ich bin, indem ich mich als nicht der Andere seiend entwerfe, und daß der Andere nur ist, indem er sich als nicht ich seiend entwirft. Im Gegensatz zur äußeren ist die innere Negation, die den Anderen konstituiert, „direkt, innerlich und wechselseitig" (320), was aber gerade „eine synthetische und aktive Verbindung der beiden Elemente bedeutet, von denen jedes sich konstituiert, indem es sich vor dem Anderen verleugnet. Diese negative Beziehung ist also wechselseitig und von zweifacher Innenweltlichkeit" (337). Wenn ich, von der alltäglichen Erfahrung ausgehend, mich frage, in welcher Weise sich das ursprüngliche Verhältnis von mir zum Anderen vollzieht, wenn ich von einer Beziehung ausgehe, die ich alle Augenblicke erfahre, nämlich daß der Andere mich ansieht, dann kann ich nicht gleichzeitig die Augen des Anderen wahrnehmen und den auf mich gerichteten

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Blick erfassen. Wenn ich den Blick erfasse, dann bleiben die Augen zwar im Wahrnehmungsfeld, aber ich mache von ihnen keinen Gebrauch, sie sind neutralisiert, ich kann z. B. nicht ihre Farbe feststellen, sie nicht schön oder häßlich finden. Sobald ich meine Aufmerksamkeit auf den Blick lenke, löst sich meine Augenwahrnehmung auf und tritt in den Hintergrund, während der Blick des Anderen sich vor die Augen zu stellen scheint. Beides zur gleichen Zeit zu erfassen ist deshalb nicht möglich, weil die wahrgenommenen Augen in einer bestimmten Entfernung, die sich von mir aus entfaltet, verharren, während der Blick für mich ohne Entfernung auf mir ruht und zugleich eine Entfernung entfaltet, die midi von ihm fernhält. Der Unterschied besteht deshalb nicht darin, daß ich entweder die Augen oder den Blick erfasse, sondern darin, daß Wahrnehmen Erblicken eines Objektes bedeutet, daß das Erfassen eines Blickes aber nicht bedeutet, ein BlickObjekt in der Welt aufzufassen, sondern vielmehr ein Bewußtsein davon zu erlangen, daß ich erblickt werde. Ich gehe dazu nicht aus mir heraus, um dann mit dem Anderen auf mich zuzugehen, sondern ich erfahre in passiver Weise das Gesehen-werden durch den Anderen. „So ist der Blick zunächst ein Mittelglied, das von mir auf mich verweist" (345). Um die Bedeutung, die dieses Mittelglied für mich hat, auslegen zu können, versetze ich mich in die Lage zurück, in der ich vor dem Erblicktwerden war. In Sartres Beispiel (345) könnte ich dabei gewesen sein, mein Ohr an die Tür zu legen oder durch ein Schlüssellodi zu spähen. In diesem Fall bin ich allein und habe kein reflexives Bewußtsein meiner selbst und habe soweit auch keinen Anlaß, meine Aufmerksamkeit auf mein Tätigsein und auf mein Ich zu richten. Ich erkenne meine Akte nicht, „aber idi bin sie" (345), ich bin reines Bewußtsein der Dinge, mit denen ich mich beschäftige, meine Akte haben nicht den Charakter des Gegebenen, über das ich ein Urteil fällen könnte. „Meine Haltung zum Beispiel hat keine ,Außenseite', sie ist reine Inbezugsetzung des Hilfsmittels (Schlüsselloch) zu dem zu erreichenden Ziel (Schauspiel, das zu sehen ist), eine reine Art und Weise, mich in der Welt zu verlieren,..." (346). Ich erfasse mich nicht als in dieser Situation seiend, weil ich kein setzendes Bewußtsein meiner selbst bin und „weil idi mein eigenes Nichts bin" (346). Ich bin mein eigenes Nichts, weil ich das bin, was ich nicht bin, d. h. weil ich bei dem Seienden bin, das ich vor mir habe, und weil ich, um bei Weltlichem sein zu können, mich selbst als dieses faktisch Seiende verlassen haben, muß. Das „Für-sich" ist für Sartre wesenhaft durch Transzendenz charakterisiert und ist deshalb in seiner Formulierung, was es nicht ist und ist nicht, was es ist. Wenn ich nun, in dieser Weise ganz aufgehend in meiner Tätigkeit des Lauschens, plötzlich Schritte vernehme, gesehen werde, „sehe ich die ganze Gewöhnlichkeit meines Benehmens vor mir und schäme mich" (299). Im Schamgefühl habe ich ein Bewußtsein meiner selbst, das „ursprünglich kein Reflexionsphaenomen" (299) darstellt, das nicht setzendes Bewußtsein

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meiner selbst ist. Es ist unreflektiertes Bewußtsein; unreflektiertes Bewußtsein ist aber Bewußtsein von weltlichen Gegenständen, und doch bin ich mir selbst anschaulich gegenwärtig geworden. Der .Widerspruch' löst sich sogleich auf: „Das unreflektierte Bewußtsein ergreift die Person nicht direkt und nicht als sein Objekt: die Person ist dem Bewußtsein gegenwärtig, insofern sie Objekt für Andere ist" (347). Das Schamgefühl ist ein Sich-schämen vor jemandem und die in meinem Bewußtsein gegebene Gegenwart des Anderen, der mich sieht, ist unvereinbar mit einer reflexiven Haltung von der Art, daß mir nichts anderes als mein eigenes Bewußtsein begegnet. Ebensowenig wie mein Ich betrachte ich den Anderen als Objekt, denn sein Blick verwehrt mir, wie wir gesehen haben, ein bloß wahrnehmendes Erfassen. Ich ergreife weder mein Ich, noch den Anderen, sondern ich ergreife das ego, „insofern es nicht für mich ist und grundsätzlich für den Anderen existiert" (348). Ich bin dieses Ich, das ein Anderer erkennt, es ist mir gegenwärtig wie ein Ich, das ich bin, ohne es selber zu erkennen. Es ist ein Ich, das ich erst in der Scham entdecke, nicht indem ich Abstand von mir nehme, sondern indem mir der Blick des Anderen mich selbst am Ziel seines Blickes enthüllt, indem ich die Situation eines Erblickten erlebe. Die Scham, die nichts Anderes sein kann als Scham über mich selbst, ist die Anerkennung der Tatsache, daß ich selbst aber zum Objekt für den Anderen geworden bin. Das Bewußtsein meiner selbst, das ich in der Scham habe, ist das Bewußtsein, „soweit ich mir entgehe", „insoweit ich meine Grundlage außerhalb meiner selbst habe" (347), „daß ich jenseits meines In-der-Welt-seins bin" (348). Ich bin zweifellos dieses Ich, dessen ich mich schäme, aber ich bin es in anderer Weise, als wenn ich in der Verfolgung eines Zieles meine Möglichkeiten einsetze: es ist meiner Verfügungsgewalt entzogen, es ist mit Möglichkeiten ausgestattet, die ich selber nicht realisieren kann. „So ist dieses Sein nicht mein Mögliches, es steht im Innern meiner Freiheit nicht immer in Frage: es ist im Gegenteil die Grenze meiner Freiheit. . . . Und dennoch handelt es sich um mein Sein und nicht um ein Abbild meines Seins. Es handelt sich um mein Sein, so wie es in der und durch die Freiheit des Anderen geschrieben steht" (349). Gerade durch die Scham, die mein Erlebnis ist, erhebe ich den Anspruch auf dieses Sein als meines. Meine Möglichkeiten bin ich stets in der Weise des nichtsetzenden Bewußtseins dieser Möglichkeiten; durch den Blick des Anderen werden sie mir aber „entfremdet" (350), da ich mich durch den Blick des Anderen nicht nur als gesehenes Ich, sondern als gesehenes Ich in meiner Welt ergreife. Meine möglichen Gegenstände in der Welt haben nun eine „.Bildseite' in dem Sinne, in dem man von den Bildseiten der Spielkarten' spricht, die die Mitspielenden nicht sehen können, . . ." (349). Meine Möglichkeit, einen Gegenstand zu benutzen, z. B. mich vor dem mich bedrohenden Anderen im dunklen Winkel zu verstecken, wird mir insofern entzogen, als sie der Andere auf seine eigenen Möglichkeiten hin überschreitet, z. B. indem er mit

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einer Taschenlampe in den dunklen Winkel hineinleuchtet. „Auf diese Weise stellen sich meine Möglichkeiten für mein unreflektiertes Bewußtsein insofern dar, als der Andere mich belauert" und sie werden mir damit in ihrer Unmittelbarkeit für midi entzogen (351). Meine Möglichkeit, die ich immer noch bin, nämlich mich im Winkel verstecken zu können, lerne ich von außen her, durch den Anderen neu kennen. Ich lerne sie vielleicht überhaupt erst durch den Blick, die drohende Haltung des Anderen kennen, wenn der Andere, der mein Bestreben zu fliehen vorausgesehen hat, mir die Fluchtmöglichkeit verstellt. Wenn ich des Blickes des Anderen gewahr werde, erlebe ich so eine durchgreifende Entfremdung meiner Möglichkeiten, die Situation in der ich stehe, bekommt eine Dimension, die sich mir entzieht, weil sie für den Anderen ist. Angesehen werden heißt, daß ich mich als Objekt von Beurteilungen erfasse, die mir selber nicht verfügbar sind. Das Gesehenwerden konstituiert mich als ein wehrloses Wesen für eine Freiheit, die nicht die meine ist, von der ich in der Tiefe meines Seins abhängig bin. Ich werde in meinem Sein von etwas betroffen, das nicht meiner eigenen Freiheit untersteht und die Struktur meines Daseins zu verändern vermag, Es ist eine jähe Veränderung, die ich erfahre, über die mir die Befragung meines cogito Auskunft gibt, die selber aber nicht durch den Einbruch einer Erkenntnis hervorgerufen wurde. „An sich ist sie vielmehr eine plötzliche schichtenweise Verfestigung meiner selbst, die meine Möglichkeiten und meine ,für-midi'-Strukturen unberührt läßt, die mich aber mit einem Male in eine neue Daseinsdimension hineinstößt: in die Dimension des NichtEntdecken" (356). Durdi den Blick des Anderen erfahre ich eine „ek-statische Seinsbeziehung", erfahre ich mein Ich nach zwei verschiedenen Dimensionen, nach der Dimension des Für-sich, die ich schon vorher war, und nach der Dimension eines Ich, das außerhalb meiner Reichweite, außerhalb meines Aktionsbereiches, außerhalb auch meiner Erkenntnis liegt. „Und gerade dieses Glied, das in Verbindung mit den unendlichen Möglichkeiten eines freien Anderen steht, ist in sich selbst die unendliche und unerschöpfliche Synthese nicht entdeckter Eigenschaften" (357). — Die Welt, die mir der Andere „gestohlen" hat, die Entfremdung meiner Möglichkeiten, d. h. der Teil-Verlust meines freien, transzendierenden Bezugs zur Welt, läßt sich nun in eine positive Formulierung fassen: durch den Blick des Anderen entdecke ich meine Dimension meines Seins, eine Dimension von Möglichkeiten, die mir in meinem reinen Für-mich unentdeckt geblieben wäre. Die Freiheit des Anderen transzendiert mein In-der-Welt-sein und eröffnet mir den Blick für neue, noch unentdeckte Möglichkeiten meines In-der-Welt-seins. Durch den Blick des Anderen erlebe ich midi zunächst als wie erstarrt, da er meine Transzendenz überschreitet, ich erlebe die Möglichkeiten meines In-der-Welt-seins als begrenzt; gleichzeitig aber stößt er mich in die Dimension des Nidit-Entdeckten, er eröffnet mir einen neuen, noch unbekannten Horizont. Unter dem Blick des Anderen weiß ich aber noch nidit, „was für

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einer ich bin, noch welches mein Platz in der Welt ist, noch welche Seite diese Welt, in der ich bin, dem Anderen zuwendet" (357). Das Erblickt-werden, das Für-Andere-Sein löst ein „Unbehagen", ein Erlebnis des Losgerissenseins aus der ek-statischen Einheit des Für-sich aus. „Die Tatsache, daß es den Anderen gibt, ist unbestreitbar und trifft midi mitten ins Herz. Ich realisiere sie durch das Unbehagen; durch sie bin ich ständig in Gefahr in einer Welt, die diese Welt ist und die ich dennoch nur ahnen kann . . . " (365). — Gegen diese Gefahr, die darin besteht, daß ich in einer Welt zu leben habe, die meiner Verfügungsgewalt nicht untersteht, kann ich mich nach Sartre verteidigen, indem ich mich von meinem FürAndere-Sein befreie, d. h. indem ich dem Anderen ein Sein-für-mich zuerteile, d. h. ihn in den Blick nehme und seine Transzendenz meinerseits transzendiere. Bevor wir verständlich machen können, auf welchem Weg es uns gelingt, den Anderen in den Blick zu nehmen, müssen wir uns vergegenwärtigen, als was uns der Andere bisher gegeben war. Er ist zunächst die Bedingung meines Nicht-entdeckt-seins, das ich inmitten einer Welt bin, die er transzendiert. Was jenseits meiner „Welt" ist, kann von meiner Aufmerksamkeit nicht anvisiert werden: „Im Phaenomen des Blickes ist der Andere grundsätzlich das, was nicht Objekt sein kann" (357). Er ist der, der mich ansieht, den ich nicht weltlich sehen kann und er ist derjenige, der mir durch sein Beobachten meine Möglichkeiten entfremdet und dadurch zur unerreichbaren Stelle des „Abfließens der Welt nach einer andern Welt hin, die die gleiche ist und trotzdem mit jener nicht in Verbindung treten kann" (358), wird. Sein Blick „nichtet" meine Transzendenz, d. h. meine „Entfernungen" zu den Gegenständen hin und entfaltet seine eigenen gegenständlichen Entfernungen, über die ich nicht verfüge. Die Gegenwart des Anderen ist so für mich weltjenseitige Gegenwart, er erblickt mich, nicht indem er ,inmitten' meiner Welt ist, sondern indem er auf mich und auf meine Welt mit seiner ganzen Transzendenz zukommt. Seine Weltjenseitigkeit besteht darin, daß ich von ihm durch keinen Gegenstand der Welt getrennt bin und das bedeutet, daß er mir ohne ein Mittelglied gegenwärtig ist, daß er mir unmittelbar gegenwärtig ist. Weiterhin erfahre ich unter dem Blick des Anderen meine überschrittene Transzendenz, m. a. W. die unendliche Freiheit des Anderen. Ich bin ein Ich, das mir in einer neuen, unerreichbaren Dimension erscheint, die ich dennoch selbst bin, aber über die der Andere verfügt. Als transzendierender, freiheitlicher, verfügender erscheint mir der Andere in meinem Erblicktwerden als unfaßbare Subjektivität, die über meine Welt herrscht. Er ist das Subjekt, das ich nicht erkennen kann, d. h. ich nicht zum Objekt machen kann und er ist die Bedingung jedes vergegenständlichenden Gedankens über mich selbst, da mit allen Möglichkeiten die mir entfremdet wurden, mir auch die Möglichkeit eines setzenden Bewußtseins von mir selbst genommen ist. So

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ist der Andere für mich das Sein, durch das ich meine Gegenständlichkeit gewinnen kann. Er ist die „konkrete und individuelle Bedingung" der Möglichkeit, meine unendlichen und unerschöpflichen nichtentdeckten Eigenschaften in objektiver Weise begreifen zu können, aber er ist nicht objektive Bedingung in dem Sinne, daß ich den Anderen in meiner Welt aufsuchen und darauf hin befragen könnte, inwiefern er eine abstrakte Bedingung, eine formale Struktur meines ek-statischen Bezugs ist (357, 362). Die Weltjenseitigkeit und die notwendige und unvermittelte Erfahrung seiner Subjektivität „zeigt uns deutlidi genug, daß man den Anderen zunächst nicht in der Welt zu suchen hat, sondern auf Seiten des Bewußtseins, und zwar als ein Bewußtsein, in dem und durch das das Bewußtsein zu dem wird, was es ist. Ebenso wie mein vom cogito ergriffenes Bewußtsein unbezweifelbares Zeugnis ablegt von sich selbst und seiner eigenen Existenz, so legen gewisse besondere Bewußtseinsweisen, zum Beispiel das ,Schambewußtsein', dem cogito gegenüber Zeugnis ab sowohl von sich selbst als auch von der Fremdexistenz und zwar unbezweifelbar" (362). Es geht aus diesem Zitat hervor, daß die Einsicht in die Bedingtheit meines Gegenstand-Seins durch den Anderen nicht unbesehen auf die ontologische Ebene übertragen werden darf. Wenn Sartre davon spricht, daß ich durch den Blick in der Tiefe meines Seins betroffen werde, so meint er damit gerade nicht, daß das Für-Andere-Sein die ontologische Struktur des Für-sich darstellt: „Wir können in der Tat nicht daran denken, das FürAndere-Sein wie die Konsequenz eines Prinzips vom Für-sich-Sein abzuleiten, oder umgekehrt das Für-sich-sein vom Für-Andere-Sein" (373). Das Betroffenwerden in der Tiefe des Seins bedeutet positiv, „daß in meinen Strukturen wesentliche Realität nicht allein auf dem Für-sich besteht; wenn auch ein von jedem Für-Andere freies Für-sich denkbar wäre, so wäre dieses Für-sich noch kein ,Mensch' (374). „Das cogito enthüllt uns hier ganz einfach eine faktische Notwendigkeit: es findet sich — und das ist unbezweifelbar —, daß unser Sein in Verbindung mit seinem Für-sich-Sein auch für Andere ist; das Sein, das sidi unserem reflexiven Bewußtsein enthüllt, ist Für-sich-für-Andere; das cartesianische cogito bestätigt nur die absolute Wahrheit eines Faktums: dessen meiner Existenz; ebenso enthüllt das etwas weiter gefaßte cogito, dessen wir uns hier bedienen, als Fakten die Fremdexistenz und meine Existenz für Andere" (374). Ontologisch stehen demnach die beiden Prinzipien des Für-sich und Für-Andere in keinem bedingenden Zusammenhang; sie werden nicht wie man mißverstehend annehmen könnte (z. B. M. Theunissen, Der Andere, S. 224) zu einem ,Miteinander' verschmolzen, aus dem das eigentliche Selbstsein erst hervorgeht. Eine soldie Auffassung würde schon Sartres Ausgang vom cogito und von der Intentionalität des intendierenden Subjekts widersprechen. So betont er auch immer wieder, daß ich es bin, der sich z. B. schämt, der sich als schlecht auffaßt, auch wenn ich diese Auffassung keineswegs von mir herleiten kann; ich bin

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es auch, der den Blick des Anderen als drohend erfaßt, midi unterlegen fühle und mir durch die Freiheit des Anderen Grenzen setzen lasse. Insofern nimmt das Ich, wie bei Husserl, eine Vorrang-Stellung ein, die aber allein dadurch gegeben ist, daß ja ich das Geschehen vom Standpunkt eines der beiden Partner aus betrachte. Im Unterschied zu Husserl aber ist der Andere nicht ein Konstitutivum meiner Erkenntnisleistung, sondern ist meinem Bewußtsein unmittelbar gegeben. Er wird schon in der Reflexion auf das cogito angetroffen, das aber als reflektiertes nicht mit dem ursprünglichen Sein identisch ist. Was Sartre mit seiner .Hereinnähme' der Fremdexistenz ins erweiterte cogito versucht, ist die Überwindung von Husserls Gegensatz zwischen der natürlichen Unmittelbarkeit und der transzendentalen Vermitteltheit der Fremderfahrung. Wir wenden uns wieder unserer Frage zu, auf welche Weise es dem erblickten Ich gelingen kann, seine Freiheit und Transzendenz wieder zu erlangen. — Wir untersuchen dabei das Für-Andere-Sein als „Faktum — als erstes und ständiges Faktum —, nicht als Wesensnotwendigkeit" (374). — Die Grundlage für jede Erkenntnis eines bestimmten Seienden, ist die ursprüngliche Beziehung, in der das Für-sich sich durch eine innerliche Negation von diesem Seienden absetzt und gleichzeitig sich unauflöslich mit ihm verbindet. Wenn es einen Anderen für mich geben soll, so muß ich demnach vor allem derjenige sein, der der Andere nicht ist. „Diese Negation, . . . konstituiert midi auf der Ebene der nichtsetzenden Selbstheit zu einem ,Ichselbst'. Darunter darf man nicht verstehen, daß ein Ich in unserem Bewußtsein Wohnung nimmt, sondern daß die Selbstheit stärker wird, wenn sie als Negation einer anderen Selbstheit auftaucht, und daß diese Verstärkung positiv ergriffen wird als das fortgesetzte Sich-selbsterwählen der Selbstheit als dieselbe Selbstheit und als diese Selbstheit selbst" (375). Damit es einen Anderen geben kann, muß sich das Für-sich vom Anderen „losreißen", indem es sich als der Andere des Anderen erwählt. Diese Verneinung kann nicht in derselben Weise gedacht werden wie die Negation, in der sich das Für-sidi, das Bewußtsein, vom An-sich, z. B. einem Wahrnehmungsgegenstand unterscheidet, da der Andere bisher nidit als Objekt, sondern als unvermitteltes Subjekt erschien und sich als solches in seiner Seinsweise von mir nicht unterschied. Er war Für-sich und Bewußtsein; in rein zahlenmäßiger Determination kann sich ein Bewußtsein nicht von einem anderen Bewußtsein absetzen (376), so daß ich midi von dem Anderen nur absetzen kann mittels der Erfahrung, die ich von ihm habe als der Subjektivität, die meine eigene Transzendenz transzendiert, die meine Möglichkeiten begrenzt, indem sie midi zum Objekt macht. „In diesem Sinne kann meine grundlegende Verneinung nicht unmittelbar sein, denn es gibt nichts, auf das sie sich erstrecken kann. Was idx mich schließlich zu sein weigere, kann nichts anderes sein als jene Weigerung, ein Idi zu sein, durch das der Andere midi zum Objekt macht" (377). Mein Midi-losreißen

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vom Anderen setzt mein Erblickt-sein voraus; indem ich den Anderen als andern erkenne, bejahe ich deshalb die Existenz meines Ich-für-Andere. Wenn ich midi selber sein will, nehme ich mein Objekt-sein-für-Andere auf mich. Würde ich die Dimension meines entfremdeten Ich nicht auf mich nehmen, dann würde ich sowohl den Anderen als auch mein faktisches Ichselbst verlieren. „So beanspruche ich als des meinigen und für mich ein Ich, das mir entgeht, und da ich midi ein Anderer zu sein nicht veranlasse, und zwar insofern der Andere eine der meinen gleiche freie Spontaneität ist, so beanspruche ich gerade als ein mir entgehendes Ich dieses Objekt-Ich. Dieses Objekt-Ich ist das Ich, das ich in dem Maße bin, indem es mir entgeht, aber ich würde es als das meinige zurückweisen, wenn es mit mir zu reiner Selbstheit zusammenfallen könnte. So ist mein Für-Andere-Sein, das heißt mein Objekt-Ich, kein von mir abgetrenntes und in einem fremden Bewußtsein wesendes Bild: es ist ein völlig reales Sein, mein Sein als Bedingung meiner Selbstheit gegenüber Anderen und der Selbstheit des Anderen mir gegenüber" (377—78). Indem idi mein Objekt-Ich-für-Andere bejahe, anerkenne ich die Grenzen, die der Andere meiner Freiheit setzt. Nun kann aber gerade die Gegenwart des Anderen jenseits meiner nicht-entdeckten Grenze dazu dienen, mein Wiederergreifen meiner selbst als freie Selbstheit zu begründen. Mein Bewußtsein meines Midi-losreißens, mein Bewußtsein, in bezug auf den Anderen ein identisches Ich-selbst zu sein, ist zugleich Bewußtsein meiner freien Spontaneität. Denn durch das Mich-losreißen vom Anderen, durch die Realisation meiner Selbstheit realisiere idi meine freie Möglichkeit, den Anderen in seine Grenzen als Anderer zu verweisen: „ich selbst bewirke durch die Behauptung meiner freien Spontaneität, daß es einen Anderen gibt und nicht bloß eine unendliche Verweisung des Bewußtseins auf sidi selbst" (380). Es hängt nun von mir ab, ob es den Anderen gibt; dadurdi ist seine Transzendenz, soweit sie mich transzendiert außer Spiel gesetzt und auf einen von mir geschauten Umkreis seiner Selbstheit begrenzt. Indem idi seine Transzendenz begrenze, erfaße idi ihn als Objekt in meiner Welt, seine Subjektivität wird zu einer „Eigenschaft" (382) seines Objektsein degradiert; er erscheint mir als degradierte Anwesenheit. Auf diese Weise komme ich wieder zu mir selbst, da ich nidit Objekt für ein Objekt sein kann. „So habe ich mir mein Für-sidi-Sein zurückerobert, und zwar als mein Bewußtsein (von) mir als einem ständigen Brennpunkt unbegrenzter Möglidikeiten, und zugleich habe ich die Möglichkeiten des Anderen in tote Möglichkeiten verwandelt, indem ich sie alle mit dem Charakter des Vonmir-nicht-Erlebten affizierte, das heißt, mit dem eines bloß Gegeben" (381). Indem idi die Transzendenz des Anderen transzendiere, indem idi bewirke, daß er inmitten meiner Welt ist, werden seine Möglichkeiten zu Möglichkeiten, die idi transzendiere, über die ich frei verfüge, die ich explizieren kann. Gleichzeitig komme ich, wenn in den Anderen zur An-

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Wesenheit degradiere, wieder zu mir selbst. — Wenn wir die beiden Aussagen miteinander verbinden, stellen wir fest: ich komme zu mir selbst, weil es mir gelingt, über die vormals mir unerreichbaren Möglichkeiten des Anderen zu verfügen, oder: ich komme zu mir selbst, weil mir die Dimension meines Ich, die eine unendliche und unerschöpfliche Synthese nichtentdeckter Eigenschaften darstellte, zugänglich geworden ist. Und zwar sind sie mir zugänglich auf dem Wege der Explizierung seiner Möglichkeiten. Seine Möglichkeiten aber kann ich kennenlernen, indem ich seine Beziehungen zu Werkzeugen der Welt erkenne (387). So wie die Ganzheit meiner Werkzeuge das genaue Korrelat zu meinen Möglichkeiten darstellt (256 ff.), so stellt die Anordnung seiner Werkzeuge, das auf das An-sich geworfene Bild seiner Möglichkeiten dar. Es gibt nun Gegenstände in meiner Welt, die ich insofern verstehe, „als sie mich auf ein Werkzeug-Gebilde, dessen Mittelpunkt der Andere ist, hinweisen, und zwar insofern, als sie einen Teil eines im ganzen auf einen Zweck hin — den ich meinerseits transzendiere — transzendierten Komplexes bilden" (388). Mein Transzendieren bedeutet, daß ich Einsicht gewinnen kann in die Beziehungen des Anderen zu seinen Gegenständen. Meine Freiheit und Macht über den Anderen erhält dadurch eine Einbuße, daß sie nie eine endgültige, sondern eine hinfällige Freiheit ist, die der ständigen Erneuerung bedarf und „in einem ununterbrochenen Wiederaufleben ununterbrochen gewählt" (375) werden muß. Wenn ich mich für einen Augenblick vom Anderen zu befreien vermag, verbleibt ihm die ständige Möglichkeit, etwas anderes zu werden. Diese seine Möglichkeit bleibt mir, wenn ich alle seine Möglichkeiten transzendiere, unbegreifbar, denn sie ist nicht die Möglichkeit des Objekt-Anderen, den ich transzendiere, sondern die Möglichkeit des Subjekt-Anderen, die er realisiert, wenn er mich seinerseits wieder in den Blick nimmt. „So ist der Andere ein mit Sprengstoff geladenes Instrument, das ich mit Sorgfalt handhabe, weil ich um dasselbe herum die ständige Möglichkeit spüre, daß man es platzen läßt, und daß ich zugleich mit diesem Platzen plötzlich die Flucht der Welt von mir weg und die Entfremdung meines Seins erfahren würde. Meine beständige Sorge ist es also, den Anderen in seiner Gegenständlichkeit zusammenzuhalten, und meine Beziehungen zum Objekt-Anderen bestehen im wesentlichen aus Listen, die den Zweck haben zu bewirken, daß er Objekt bleibt. Aber ein Blick des Anderen genügt, damit alle diese Kunstgriffe zuschanden werden und ich wiederum den Gestaltwandel des Anderen erfahre. So werde ich vom Gestaltwandel auf die Degradierung und von dieser auf jenen verwiesen, ohne daß ich jemals diese beiden Seinsweisen des Anderen zusammen in den Blick bekommen kann, . . . , denn jede hat ihre eigentümliche Unbeständigkeit und bricht zusammen, damit die andere aus ihren Trümmern auftauchen kann" (391).

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Damit verständlich wird, was Sartres Fremdexistenzlehre zur Lösung unserer Problemstellung beizutragen vermag, gilt es im folgenden, seine Aussagen, die bisher als konstruiert anmuten mögen, psychologisch zu exemplifizieren und auf unsere Fragestellung anzuwenden. — Gleichzeitig soll der Versuch unternommen werden, Sartres .negative' und dadurch einseitige Betrachtungsweise so umzustrukturieren, daß die Grundsituation des Erblicktwerdens zur Eröffnung neuer Horizonte für den Erblickten wird.

C. ENTWURF EINER GENESE DES FREMDBEWUSSTSEINS IN SEINER BEDEUTUNG FÜR DIE ENTWICKLUNG DES SELBSTBEWUSSTSEINS

Wenn wir die Aussagen von Husserl und Sartre zum Problem der Fremdexistenz hinsichtlich unserer Fragestellung vergleichen, stellen wir sogleich fest, daß Sartres Aussagen viel eher eine genetische Interpretation zulassen als Husserls Untersuchungen zur Konstitution des Anderen, die sidi mit empirisch-psychologischen Fakten kaum in Verbindung bringen lassen. Ein Blick auf entwicklungspsychologische Beobachtungen genügt, um festzustellen, daß ein Kind nicht dadurch mit einem anderen Menschen in Beziehung kommt, daß es sein eigenes Ich einem fremden Leib einfühlt. Wie wir gerade gezeigt haben, war es auch nicht Husserls Anliegen, das Problem der Fremdexistenz genetisch zu lösen; sein Interesse galt der Konstitution der objektiven Welt. Geleitet von diesem Interesse ist er das Problem der Konstitution der Anderen in einer Weise angegangen, die es verunmöglicht, seine Aussagen genetisch oder entwicklungspsychologisch zu formulieren. Sartres Leitfaden, nämlich die Unmittelbarkeit der Fremderfahrung und seine Auffassung der Interaktion in der Beziehung zwischen Ich und Anderen, fordert dagegen zu einer genetischen Interpretation auf. Durch seine Untersuchungsmethode, das Ausgehen vom cogito, stellt er die Erfahrung der Fremdexistenz in der Bedeutung dar, die sie für das Ich und seine Selbstheit hat. Da uns die Fremdexistenz gerade und ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt interessiert, erscheint die Anwendung seiner Theorie auf unsere Fragestellung möglich und gerechtfertigt. Angemerkt muß werden, daß es sidi um eine Interpretation und infolgedessen um eine Umdeutung von Sartres Gedankengängen handelt, die nicht mehr in jedem Detail durch Sartres eigene Aussagen belegt werden kann.

1. Das Ich als Für-sich vor dem Erblicktwerden Ohne an dieser Stelle die ontologischen Hintergründe diskutieren zu können, aus denen Sartre seinen Begriff des Für-sich herleitet, können wir festhalten, daß das Für-sich, in seiner faktischen Struktur betrachtet, diejenige Charakteristik aufweist, die wir für unseren Begriff der ursprünglichen Selbstgegenwart erarbeitet haben. In Sartres Formulierung handelt es sidi um

Das Ich als Für-sich vor dem Erblicktwerden

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eine „Anwesenheit bei sich" (129), um eine Beziehung des Subjekts zu sidi selbst, die nie in eine vollständige Gleichung aufgeht, sondern wesentlich durch die Bewegung des Transzendierens bestimmt ist, in der mein Sein und das Sein der Welt in gleich ursprünglicher Weise berührt werden. Das Seinsgesetz des Für-sich ist, sich selbst zu sein in der Form der Anwesenheit bei sich. Bei sich selber sein aber kann es nur, indem es sich auf die Welt hin entwirft, indem es sich mit anderen Worten bewußt ist als dasjenige, das dies oder jenes tut. Ein Für-sich als Möglichkeit der Anwesenheit bei mir selber bin ich vor allem Erblicktwerden, vor jeder Begegnung mit dem Anderen. Der Andere begründet nicht das Sein meines Bewußtseins, das ich stets selber zu sein habe und das den Grund dafür darstellt, daß ich mich als Erblickten, als meiner Freiheit Beraubten überhaupt erleben kann. — Was ich dagegen erst in der Begegnung mit dem Anderen werde, ist mein ,Mensch'-Sein und meine ,Selbstheit'. — Für-sich und Selbstheit werden demnach bei Sartre nicht in identischer Weise aufgefaßt. Wenn das Für-sich die Weise der unreflektierten Anwesenheit bei sich selber ist, so darf nun aber die Selbstheit nicht als die reflektierte Form meines Selbstbewußtseins, in dem ich midi selber zum Objekt nehme, aufgefaßt werden. Die Selbstheit nimmt vielmehr eine Zwischenposition zwischen dem unreflektierten und dem reflektierten Selbstbewußtsein ein, die sidi z. B. im „ich schäme midi vor jemandem" ausdrückt. In dieser Formel habe ich weder midi noch den Anderen zum Objekt, sondern ich erlebe midi als Objekt für den Anderen. Tatsächlich setzt die Scham in der Struktur, die das ,Ich schäme midi meiner' ausdrückt, ein Objekt-Ich für den Anderen voraus, aber auch eine Selbstheit, die sich schämt und von dem ,Ich' der Formel unvollkommen ausgedrückt wird. So ist die Sdiam eine vereinheitlichende Auffassung dreier Dimensionen: Ich schäme midi meiner vor Anderen'." (382) Dieses implizite und nidit thematisierte Verständnis meiner selbst dient dazu, meine Selbstheit zu stärken. Es geht aus dieser Feststellung Sartres hervor, daß die Selbstheit die Einheit der konkreten Eigenschaften ist, die ich unter dem Blick des Anderen als meine erlebe. In gewisser Hinsidit kann Sartres Begriff der Selbstheit in Beziehung gebracht werden zum System des ,Idi-kann' oder der habituellen Eigenheiten, dessen Entstehen wir im I. Teil untersucht haben. Wir können nun den Erwerb habitueller Eigenheiten und der Bildung des Systems des ,Ichkann' unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung durch die Anderen betrachten. Festzuhalten ist, daß die unreflektierte Selbstgegenwart im ursprünglichen Sinn, d. h. in der Form des Bewußtseins, daß ich es bin, der dies oder jenes tut, der in dieser oder jener Beschäftigung ganz aufgeht, ursprünglicher ist als das Erlebnis des Erblicktwerdens. So wird all das, was wir im ersten Teil unter dem Titel des ursprünglichen Bei-sidi-selber-seins diskutiert

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E n t w u r f einer Genese des Fremdbewußtseins

haben, in seiner Bedeutung nicht reduziert. Hingegen erhält das Erwerben von Habitualität und Vermöglichkeit einen neuen Aspekt: den der Vermittlung durch die Anderen.

2. Das Erlebnis des Erblicktwerdens Indem wir wiederum den Anschluß an unsere Ausführungen zum Problem des ,anfangenden Ich' suchen, können wir feststellen, daß das Erlebnis des Erblicktwerdens durch die Passivität des Ich gekennzeichnet ist. Wenn wir unter ichlicher Aktivität das Verfügenkönnen und Realisieren der eigenen Möglichkeiten verstehen, dann muß die Aktivität in der Situation des. Erblicktwerdens dem Anderen zugeschrieben werden, der mich durch seinen Blick meiner ichlichen Freiheit beraubt. Wenn der Andere meine Möglichkeiten transzendiert, wenn er sidi in freiheitlicher, spontaner, aktiver Weise über sie hinwegsetzt, erlebe ich, wie Sartre sagt, das innere „Erstarren" dieser meiner Möglichkeiten, die zwar die meinen bleiben, über die idi aber nicht mehr verfüge, die ich nicht mehr auf ein Ziel hinaktivieren kann. Ich habe zwar das Ziel noch vor Augen, z. B. den dunklen Winkel, in dem idi mich verstecken möchte, aber indem der Andere meine mögliche Aktivität voraussieht, beraubt er mich meiner Verfügungsgewalt über sie, d. h. meiner realisierenden Aktivität. Wenn wir uns die Situation des Säuglings in seiner Beziehung zur Mutter vergegenwärtigen, sehen wir sogleich, daß es sich hinsichtlich der Verteilung von Aktivität und Passivität um ein ungleiches Verhältnis handeln muß. Die Mutter, die über den Erfahrungsschatz eines erwachsenen Menschen verfügt, wird in den meisten Fällen in der Lage sein, die möglichen Reaktionen und Verhaltensweisen des Säuglings vorauszusehen, während der Säugling zu Beginn seines Lebens das Verhalten der Mutter nicht aktiv beeinflussen kann. Dieses ungleiche Verhältnis wird sich mit dem zunehmenden Erfahrungsschatz und dem Anwachsen des Möglichkeitsbewußtseins des Kindes immer mehr ausgleichen. Was wir am sehr einseitigen Modellfall des Schamerlebnisses untersucht haben, läßt sich auf alle andern Erlebnisse ausdehen, die dieselbe Struktur und Dynamik aufweisen. Wenn wir uns die Erlebnismöglichkeiten des Säuglings vergegenwärtigen, dann ist es unwahrscheinlich, daß es gerade die Scham ist, aus der zum erstenmal das Erfassen einer Fremdexistenz hervorgeht. Es wird sich um weniger differenzierte, globalere Erlebnisqualitäten handeln, die sich allgemein unter dem Titel der ,Versagung* darstellen lassen. Wenn wir uns an das Beispiel des Säuglings erinnern, der zu trinken bekommt, und dessen ,Intention' und (noch sehr geringe) ichliche Aktivität darin besteht, bei diesem ihm angenehmen Erlebnis zu bleiben, und wenn wir uns nun vorstellen, daß das Trinken von Seiten der Mutter beendigt

Die Ungesdiiedenheit des Bewußtseins vor dem Erblicktwerden

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wird, dann wird der Säugling das Abbrechen des Trinkens als unlustvoll erleben. Die Möglichkeit zu trinken, die die seine ist, ist ihm entzogen worden, da die Mutter die Verfügungsgewalt über die Möglichkeit besitzt. — In einem späteren Stadium werden es die Verbote der Mutter sein, die dem Kind seine Möglichkeiten „entfremden", d. h. die es dem Kind verunmöglichen, seine Intentionen zu verwirklichen. — Es ließe sich einwenden, daß es auch materielle Hindernisse gibt, die es einem Menschen, einem Kind verunmöglichen, seine Intentionen zu verwirklichen und daß es deshalb nicht berechtigt sei, in dem Erlebnis der Versagung die Erfahrung der Existenz eines Anderen zu begründen. Dazu sagt Sartre selber, daß es nicht dasselbe sei, ob ich zu Hause bleibe, weil es regnet oder weil es mir verboten worden ist, wegzugehen (360). „Im ersten Falle bestimme ich mich selbst dazu, dazubleiben, und zwar in Ansehung der Folgen meiner Handlung; ich überschreite das Hindernis ,Regen' auf mich selbst hin und mache aus ihm ein Hilfsmittel. Im zweiten Falle stellen sich mir meine Möglichkeiten, wegzunehmen oder dazubleiben, als überschritten und erstarrt dar; eine Freiheit sieht sie voraus und kommt ihnen gleichzeitig zuvor."

3. Die Ungesdiiedenheit des Bewußtseins vor dem Erblicktwerden und die Unmittelbarkeit der Fremderfahrung Wenn Sartre vom Erstarren meiner Möglichkeit spricht, die zwar die meinen bleiben, die mir aber — unter dem Aspekt der Realisierbarkeit — entfremdet werden, dann impliziert der Begriff der Entfremdung, daß mein Möglichkeitsbewußtsein vor dem Erlebnis des Erblicktwerdens eine Einheit oder Ungesdiiedenheit darstellte, in der mir nichts als fremd oder außerhalb meiner Subjektivität erschien. Das bedeutet, daß ich, solange ich vom Anderen in meinen Möglichkeiten nicht begrenzt werde, solange er mich nicht anblickt, mir nichts versagt, nicht verbietet, kein Bewußtsein oder Erlebnis der fremden Subjektivität besitze. Solange die .fremde' Subjektivität in ihren Zielen mit meinen Zielen völlig übereinstimmt, ist es mir nicht möglich, mein Bewußtsein und meine Subjektivität gegenüber der fremden Subjektivität abzugrenzen. Es gibt auch nichts, das mich dazu motivieren könnte, meine Selbstheit und ichliche Aktivität aufzubauen, da ich ohne die Begrenzung meiner Freiheit durch den Anderen meine Passivität und Ohnmacht nicht erleben würde. In Anwendung auf die Säuglingszeit könnte man sagen, daß der Säugling nicht zu ichlicher Aktivität erwachen würde, wenn es der Mutter gelänge, jede Unlust und jede Versagung von ihm fernzuhalten, da in ihm so das Interesse nicht erwachen würde, das Unangenehme fernzuhalten und das Angenehme herbeizuführen, d. h. eigene, gerichtete Aktivität zu entwickeln.

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Entwurf einer Genese des Fremdbewußtsems

Daß die Versagung, in psychoanalytischer Ausdrudssweise: die Frustration, eine bedeutende Rolle beim Lernen und in der Ich-Entwicklung darstellt, betont z. B. R. Spitz 1 . Die ersten wiederholten Frustationen kommen nach seiner Darstellung durch Hunger und Durst zustande, die den Säugling' motivieren, aktiv zu werden, die Nahrung zu suchen, was gleichzeitig bedeutet, daß die Wahrnehmung aktiviert wird und sich zu entwickeln beginnt. Der nächste große Schritt stellt die Entwöhnung dar, die einerseits eine Versagung darstellt, andererseits den Säugling motiviert, autonomer zu werden. — Gleichzeitig zeigen die Untersuchungen über hospitalisierte Säuglinge und Kinder von Spitz 2 , daß ein zu großes Maß an Versagung eine zerstörende Wirkung auf die Entwicklung des Kindes ausüben kann. Umgekehrt bestätigt ein Experiment von H . F. Harlow 3 die Vermutung, daß die uneingeschränkte Befriedigung aller Wünsche die Entwicklung der eigenen Aktivität entscheidend bremsen kann: zwei Rhesusäffchen, die in ihrem instinktiven Anklammerungsbedürfnis nie frustriert wurden, entwickelten die Aktivitäten nicht, die erwachsenen Affen eigen sind und weigerten sich, mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. — Spitz spricht deshalb von den Versagungen, „die beim Aufziehen des Kindes natürlicherweise eingetreten und die nur durch unvernünftige Nachgiebigkeit zu vermeiden sind. In der Auseinandersetzung mit diesen wiederholten Frustrationen erwirbt das Kind im Lauf der ersten sechs Monate immer mehr Unabhängigkeit und wird zunehmend aktiver in seinen Beziehungen zur belebten und unbelebten Umwelt" 4 . — Ein weiterer Blick auf entwicklungspsychologische Theorien zeigt, daß die These von der Ungeschiedenheit des Bewußtseins und der Subjektivität, dem Erlebnis der Versagung vorangeht, keine hypothetische Annahme ist. Die Meinung, daß der Säugling bei der Geburt noch nicht zwischen Ich und Du, zwischen eigenen und fremden Wünschen, Affekten, Intentionen, etc. unterscheiden kann, wird in den verschiedensten Theorien gemeinsam vertreten. Infolgedessen trifft man Begriffe wie folgt für das Verhältnis zwischen Mutter und Kind an: „Masse zu zweit" bei S. Freud 5 , „Dyade" bei R. Spitz®, „sociabilité syncrétique" bei M. MerleauPonty 7 und bei H . Wallon 8 . Die Grenze zwischen der eigenen und der fremden Subjektivität erlebt das Ich dann, wenn es die Verwirklichung seiner Intentionen als seinem 1

Vgl. R. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, S. 164 ff. * Vgl. R. Spitz: Hospitalism.: An Inquiry into the Genesis of Psychiatric Conditions in Early Childhood. 3 Vgl. H. R. Harlow: The Nature of Love. 4 Vgl. R. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, S. 164 ff. 5 Vgl. S. Freud: Massenpsydiologie und Ichanalyse. • Vgl. R. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind, S. 146 ff. 7 Vgl. M. Merleau-Ponty: Les relations avec autrui diez l'enfant, S. 25. 8 Vgl. H. Wallon: Les origines du caractère chez l'enfant, S. 191 ff.

D a s Erfahren meiner Selbstheit und der Existenz des Anderen

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Verfügungsbereich entzogen erlebt, konkret, wenn der ,Andere' etwas tut, das es nidit will, oder etwas nicht tut, das es will. Es wird aus der ek-statischen Einheit des Für-sidi losgerissen und in eine neue Daseins-Dimension hineingestoßen, in die Dimension des nicht-Entdeckten, die außerhalb seines Aktionsbereiches liegt und einer Subjektivität untersteht, die es — aus seinem eigenen Erlebnis der Ohnmacht und Passivität heraus — als unfaßbar, fremd, als nicht eigene anerkennen muß. „Und wenn ich den Blick erfahre und mich als nichtentdecktes Gegenstandsein empfinde, erfahre ich direkt und mit meinem Sein die unfaßbare Subjektivität Anderer" (359). — Es handelt sich um eine unmittelbare Gegenwart des Anderen, in dem Sinne, daß ich den Anderen nicht zuerst als einen Gegenstand und dann als Subjekt erlebe, sondern daß ich den Anderen als das Subjekt erlebe, das sich in einer Weise verhält, die nicht meinen Intentionen entspricht und das ich infolgedessen nicht selber bin. „Der Andere ist mir ohne ein Mittelglied gegenwärtig, und zwar als eine Transzendenz, die nicht die meinige ist" (359).

4. Das Erfahren meiner Selbstheit und der Existenz des Anderen Wenn ich die Grenzen, die der andere mir vorschreibt, einsehe, mich in meiner Ohnmacht und Passivität erlebe, so geht aus diesem Erlebnis als positive Konsequenz hervor, daß ich aus der Ungeschiedenheit meines Bewußtseins herausgetreten bin und midi als ein Ich-Selbst, wenn auch als ein ohnmächtiges und aller ichlichen Aktivität beraubtes erlebe, im gleichen Zuge aber auch die Existenz einer anderen, freien und mir vorerst unfaßlichen Subjektivität erfahre. Ich erfahre mit Sartres Worten den Anderen als denjenigen, der nicht ich ist. Diese Verneinung, die mich auf der Ebene des nicht-setzenden Bewußtseins zu einem Ich-selbst konstituiert, kann nicht unmittelbar sein. Die fremde Subjektivität, die meine Möglichkeiten überschreitet und meiner Freiheit Grenzen setzt, stellt die Vermittlung her, durch die es mir gelingt, mich als denjenigen aufzufassen, den der Andere zu sein nicht gewillt ist und den Anderen als denjenigen von mir abzusetzen, der ich nicht zu sein vermag. Diejenige Subjektivität, die mich abweist, indem sie mit meinen Intentionen nicht übereinstimmt, kann ich meinerseits abweisen, indem ich mich als das von ihr abgewiesene Ich ergreife. Ich entziehe mich dem Anderen, indem ich ihm mein entfremdetes Ich in den Händen lasse. . . . Mein Michlosreissen vom Anderen, das heißt mein Ich-selbst, ist infolge seiner Wesensstruktur Annahme dieses vom Anderen zurückgewiesenen Ich als das meinige, es ist sogar nur das" (377).

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Entwurf einer Genese des Fremdbewußtseins

5. Die Entfremdung als Eröffnung neuer Horizonte ichlicher Potentialität Das Ich ist, wie wir im ersten Teil unserer Untersuchung gesehen haben, stets darauf aus, Unbekanntes in seinem Horizont in gegenständliche Intentionalhabe zu verwandeln. Es ist darauf aus, noch nicht realisierte Möglichkeiten zu aktivieren, sowohl seine Aktivität wie Verfügungsgewalt zu erweitern. Von diesem Gesichtspunkt her wird einsichtig, warum das Oberschrittenwerden durch die fremde Freiheit ein „Unbehagen" auslöst, warum das Ich sich angesichts der Welt, die es noch nicht erkennen, erst ahnen kann, in Gefahr fühlt. Es ist das Erleben der eigenen Passivität, die das Unbehagen auslöst, das seinerseits das Ich zu einer aktiveren Haltung motiviert. Passiv erlebt sidi das Ich seiner Dimension des Nicht-Entdeckten gegenüber, in die es hineingestoßen wird und die den unendlichen Möglichkeiten des freien Anderen untersteht. In die Dimension seiner nicht-entdeckten Eigenschaften wird das Ich durch den Anderen gestoßen, was zwar nicht bedeutet, daß ihm der Andere sein Sein schenkt, was aber durchaus bedeutet, daß ihm der Andere die Grundlage seiner Selbstheit schenkt. Er schenkt sie ihm, indem er ihm einerseits aber einen Horizont von Vermöglichkeiten eröffnet, die es in seiner abstandslosen Anwesenheit beim Anderen nicht zu ahnen vermocht hätte. Grundsätzlich handelt es sich für das Kind um den ganzen Horizont der aktiven und autonomen Lebensbewältigung, den es in der Versagung und in den Anmutungen, Förderungen und Forderungen zu ahnen beginnt, um die Möglichkeiten seines Menschseins, die in ihm angelegt sind, die aber durch die Mutter und die menschliche Gemeinschaft geweckt werden müssen, damit es sie als eigene ergreifen kann. Das Ergreifen der geahnten, noch nicht-entdeckten Möglichkeiten vollzieht es aus Gründen der „Selbsterhaltung' (vgl. I. Teil, K a p . G, 2), was bedeutet, daß das Ich stets bestrebt ist, Einstimmigkeit mit sich selber zu erlangen, um sich auf Grund dieser Einstimmigkeit aktiv und zielgerichtet verhalten zu können. — In dem Moment, in dem es erlebt, daß ihm seine Freiheit oder Aktivität „gestohlen" worden ist, wird es versuchen, die entfremdete Dimension seines Ich (wieder) mit sich zu vereinigen; das .wieder' muß in Klammern gesetzt werden, da es dem Ich, nachdem es die Freiheit einer fremden Subjektivität erfahren hat, nicht mehr gelingen wird, die ursprüngliche Einheit, d. h. die Ungeschiedenheit des Bewußtseins wiederherzustellen. Wenn das Erlebnis der Versagung ein einmaliges Ereignis darstellen würde, wäre es beim Kind denkbar, das es sein unangenehmes Erlebnis .vergißt' und in die ursprüngliche Einheit zurückkehrt. Die Fremdexistenz stellt aber eine ständige Aufforderung dar, das Erlebnis der Versagung und des eigenen Ungenügens wird dem Ich immer wieder und immer neu auf-

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gezwungen, es wird zu einem wiederholten Erlebnis, das sidi infolgedessen als ein habituelles niederschlägt und das das Ich als eine Eigenheit anerkennen muß. Seine Einheit mit sich selber kann das Ich nur herstellen, wenn es die entfremdet bzw. „fremde" Dimension seines Idi ergreift und seiner eigenen Freiheit unterstellt. Der erste Schritt dazu besteht in der Anerkennung der eigenen Grenzen, wodurch es ihm gelingt, sidi vom Anderen „loszureißen" und den Anderen gleichzeitig in seine eigenen Grenzen zu verweisen. Ich gestehe dem Anderen zu, daß er mächtiger ist, daß er über mich verfügen kann. In diesem Zugeständnis aber entdecke idi meine eigene begrenzte und zugleidi ungrenzbare Spontaneität. Indem ich den Anderen begreife als denjenigen, der sich mir versagen kann, oder der mir vorausgreift, ist seine mir vormals unfaßbare Freiheit zu einer Freiheit geworden, die ich einsehen kann als eine, die in der oder jener konkreten Situation über mich verfügen will. Gleichzeitig mit dieser Einsicht ist in mir der Wunsch entstanden, den freiheitlichen Handlungen des Anderen zuvorzukommen, ihn in seinen Freiheiten meinerseits zu begrenzen. Mit dem Erwachen meiner Spontaneität habe idi aber die Dimension meines nichtentdeckten Ich noch nicht erobert. Das Für-mich-Sein des Anderen in seiner Faktizität erschließt sich mir nicht in derselben unvermittelten Weise wie mein Für-Andere-Sein. Es bedarf dazu der Durchdringung der ganzen Welt, die ich erst ahne, die noch dem Anderen ihre .Bildseite' zukehrt und mich im Ungewissen läßt (357/59), welche Beziehungen er zu den Gegenständen in ihr aufrecht erhält. Es wird nun deutlich, was unter der Dimension meines nicht entdeckten Ich verstanden werden kann. Es sind alle die Möglichkeiten unserer gemeinsamen Welt, die sich der Andere bereits angeeignet hat und die ich unter seinem Blicke erst zu ahnen vermag als einen Horizont von Möglichkeiten, den ich mir nun Stüde für Stück anzueignen versuchen werde. Dem Anderen wendet die Welt ihre Bildseite zu, d. h. für ihn ist sie strukturiert, während sie mir ihre undifferenzierte Rückseite zukehrt. — Die Gegenwart des Anderen noch jenseits meiner nichtentdeckten Möglichkeiten kann mir dazu dienen, mir meine nicht-entdeckten Möglichkeiten anzueignen. Nachdem ich meine Spontaneität, meine ichliche Aktivität erlebt habe, bin idi mir bewußt als eines Brennpunktes unbegrenzter Möglichkeiten; gleichzeitig habe ich die Möglichkeiten des Anderen in begrenzte Möglichkeiten verwandelt, d. h. in solche, die ich grundsätzlich erkennen, explizieren und voraussehen kann. Wenn wir das ungleiche Verhältnis von Aktivität und Passivität in der Mutter-Kind-Beziehung betrachten, dann stellt das Bewußtsein der Spontaneität einen ersten Versuch des Kindes dar, sidi aus seiner erlebten Ohnmacht zu lösen und die Mutter seinen Wünschen entsprechend zu beeinflussen. Wenn es seinen Einfluß erweitern will, muß es einerseits eigene, aktive, zielgerichtete Verhaltensweisen entwickeln und muß andererseits Einsicht in

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Entwurf einer Genese des Fremdbewußtseins

die Mittel gewinnen, durch die es seiner Mutter gelingt, ihm seine Wünsche zu versagen. Diese beiden Aspekte stellen zwei Seiten desselben Lernvorganges dar: wenn die Mutter dem Kind sein Spielzeug nimmt, mit dem es gern spielen würde und es außerhalb seiner Reichweite hinstellt, dann kann das Kind das Erlebnis der Versagung durch die Mutter dadurch überwinden, daß es das Spielzeug selber zurückholen will. Diese seine Intention kann es nur dann verwirklichen, wenn ihm das Mittel, nämlich die dazu nötigen motorischen Operationen, bekannt sind. Das Mittel aber lernt es kennen, indem es die Mittel der Mutter kennenlernt, mit denen sie ihre Ziele erreicht. Ein Beispiel wäre die Nachahmung der Bewegung, wobei das Gelingen außerdem von Übung und Gewöhnung abhängig ist. — Das Kind versucht Einsicht zu gewinnen in die Beziehungen der Mutter zu ihren und seinen Gegenständen und sich die ,Wege' anzueignen, auf denen sie ihre Möglichkeiten realisiert. Die Mutter eröffnet ihm neue und immer neue Horizonte, indem sie sich ihm einerseits versagt und dadurch seine eigene ichliche Aktivität weckt und indem sie ihm andererseits die Wege vermittelt, auf denen es seine Intentionen realisieren lernt. Die Dimension des Nicht-Entdeckten, in die das Ich unter dem Blick des Anderen gestoßen wird, bedeutet für das Kind, daß der Andere, die Mutter, es von ihren freieren und aktiveren Möglichkeiten her betrachtet und im Bewußtsein der eigenen Möglichkeiten weiß, was aus dem Säugling werden kann. Sie sieht die Möglichkeiten, die dem Säugling selber noch nichtentdeckt sind. Das Entdecken der nicht-entdeckten Dimension ist nicht so zu verstehen, daß mit dem ersten Auftreten des Bewußtseins ichlicher Spontaneität der ganze Horizont explizierbarer Möglichkeiten mit einem Schlage in den Blick genommen wäre. Wie wir früher gesehen haben, geht die Horizonterweiterung Schritt um Schritt vor sich. Mit jeder neuen Möglichkeit, über die das Ich verfügt, erweitert sich der Horizont um einen Schritt, so daß der Horizont, in gleicher Weise wie für den Wanderer, eine Grenze darstellt, die nie erreicht werden kann. — So ist es möglich, daß der Säugling seine Freiheit über die Mutter darin erleben kann, daß es ihm gelingt, sie durch sein Schreien dazu zu bewegen, daß sie ihm sein Spielzeug zurückgibt. Dieses Vermögen hat es sich dadurch erworben, daß es den Zusammenhang zwischen seinem Hungerschrei und der darauf folgenden Befriedigung erfaßt hat. Zwischen den beiden wiederholten Erlebnissen, dem des eigenen unlustvollen Schreiens und dem darauf folgenden Reagieren der Umwelt, hat es eine assoziative Verbindung hergestellt und ,weiß' nun, was es tun muß, damit es zu seiner Befriedigung kommt. Dieses Wissen wird in der psychoanalytischen Literatur als erstmaliges Auftreten des „AllmachtGefühls" interpretiert. Vom Standpunkt des Dritten aus gesehen ist die ichliche Aktivität des Kindes gemessen an den Möglichkeiten, die die Mutter hat, um sein Ver-

Entfremdung als Eröffnung neuer Horizonte ichlicher Potentialität

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halten zu beeinflussen, noch sehr gering. Für das Erleben des Kindes aber kann das Schreien „Allmacht" bedeuten, weil es über seinen — ebenfalls noch sehr kleinen — Horizont verfügen kann. In einem späteren Stadium, nach dem Erwerb motorischer Fähigkeiten und der entsprechenden Horizonterweiterung, wird es sich dann als frei und aktiv der Mutter gegenüber erleben, wenn es sein Spielzeug selber holen kann. Seine Unabhängigkeit besteht nun auch darin, daß es sich aus der Reichweite der Mutter entfernen kann. Aber auch in diesem Stadium wird es erleben, daß die Mutter über seine Möglichkeiteen verfügen kann, z. B. indem sie ihm verbietet, das Spielzeug zu holen. — Sie ,verfügt' aber auch in einem positiven Sinn über seine Möglichkeiten, indem sie es führt und ihm zeigt, was es selbst noch als ,unentdeckte' Möglichkeiten besitzt, die es sich mit ihrer Hilfe aneignen kann. Die Freiheit, die das Ich gegenüber dem Anderen und von ihm her gewinnen kann, ist kein endgültiger Erwerb im Sinne der Habitualität. Sie ist ständig bedroht durch die Freiheit der Anderen, sie ist gekennzeichnet durch ihre „eigentümliche Unbeständigkeit", die ihren Grund darin hat, daß der Andere midi im Hinblick auf Möglichkeiten sieht, die mir selber noch nicht-entdeckt geblieben sind. — Korrelativ dazu ist mein Mensch-Sein, meine Selbstheit nie abgeschlossen, da ich meine Freiheit ständig neu zu begründen habe, indem ich durch Anerkennung meiner Grenzen dem Anderen eine Position zuweise und mich ihm gegenüber als ein immer stärker und inhaltlich immer differenzierter werdendes Ich-selbst bestätige und immer neu bestätige.

AUSBLICK

Vergleich der phaenomenologisdi erarbeiteten Grundbegriffe mit psychoanalytischen Konzepten und empirischen Ergebnissen zur Genese des Ich und des Selbstbewußtseins

Im Vorwort wurde die ursprüngliche Absicht formuliert, aufbauend auf einer philosophischen Grundlegung die metapsychologischen, psychologischen und empirischen Konzepte zur Entstehung und Entwicklung des Ich und des Selbstbewußtseins zu überprüfen. Im Kapitel I G „Entwurf einer Genese des Ich und des Selbstbewußtseins" wurde unter Punkt 1 ferner abgeleitet, daß sich in einem Bereich, der der Erinnerung und der Reflexion nicht direkt zugänglich ist, nur aus der gegenseitigen Stützung von grundsätzlichen Überlegungen und empirischen Beobachtungen gesicherte Ergebnisse erarbeiten lassen. Unter diesen Aspekten und im Sinne programmatischer Hinweise sollen im folgenden einige Vergleiche zwischen phaenomenologischen, psychoanalytischen und empirischen Ergebnissen angestellt werden:

1. Die „Teleologie in der Entwicklung" und das Konzept der „Konfliktfreien Sphäre des Ich" In der klassischen psychoanalytischen Theorie wurde das Ich in erster Linie durch seine Abwehrtätigkeit definiert (S. Freud, 19261; A. Freud, 19362). Es wurde als mit einem Energie-Potential ausgestattet angesehen, wobei diese Energien durch einen Prozeß der Neutralisierung der Libido-Energien erklärt wurden (S. Freud, 19233). In Freud's Theorie entwickelt sidi das Ich grundsätzlich aus dem Es, aus der triebhaften Organisation des Mensdien, und es ist durch die notwendigen Adaptionsleistungen der Triebbedürfnisse an die Realitätsanforderungen motiviert (S. Freud, 19114). Dasselbe Modell wurde für die Entstehung und Entwicklung des Ich im ersten Lebensjahr benützt, in dem Sinne, daß sich das Ich aus der Konfrontation einer primär egozentrischen Organisation mit den ersten realen Gege-

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Freud, Freud, Freud, Freud,

S.: Hemmung, Symptom und Angst. A.: Das Ich und die Abwehrmechanismen. S.: Das Idi und das Es. S.: Formulierungen über zwei Prinzipien des psychischen Geschehens.

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Grundbegriffe, Konzepte und Ergebnisse zur Genese des Ich

benheiten entwickelt (A. Freud, 1952 5 ; R. A. Spitz, 1967"; O. Fenidiel, 1954 7 ). Unserem Gedanken, daß sich das Ich aus einem eigenen Ursprung heraus entwickelt, kommt zunächst der Beitrag von Heinz Hartmann (i960 8 ) entgegen. Er postuliert eine „konfliktfreie Ichsphäre", da sich einige Prozesse der Wahrnehmung, der Intention, des Lernens, des Gedächtnisses, der Produktivität, aber audi einfache motorische Verhaltensweisen des Kindes, wie Kriechen, Greifen, etc. nicht notwendig und allein aus der Befriedigung von libidinösen oder agressiven Trieben oder aus der Frustations- und Angstvermeidung ableiten lassen: „die Aktivitäten, die das Realitätsprinzip konstituieren, können in sidi selber lustvoll sein" (H. Hartmann, 195 6 9 ). — Hendrick schlug einen „instinct to master" als angeborenen Trieb zur Aktivität und zum Lernen vor (1942, 1943 a, 1943 b 10 ) und Mittelmann betonte die Bedeutung der Selbstbehauptung und des Selbstwertes in der Auseinandersetzung mit der Realität (1954 u ). In unterschiedlichen Begriffen ausgedrückt geht es allen diesen Autoren um das Postulat und den Beweis eines ursprünglich auf die Realität und ihrer Bewältigung und die eigene Strukturierung angelegten Ich. In besonders expliciter Form hat Robert W. White dieses Postulat aufgenommen (1963 1 2 ), er wollte zeigen, daß es unabhängige Idienergien gibt, die so ursprünglich sind wie die Triebe und eine ebenso offensichtliche Bedeutung für das Uberleben haben. Gleichzeitig machte er auf die Bedeutung der Selbsterfahrung, der Erfahrung der eigenen Leistungen aufmerksam und führte in diesem Zusammenhang die Begriffe „Wirksamkeit" und „Kompetenz" ein. Gestützt auf empirische Beobachtungen von Gesell und Ilg (1952, 1954 18 ), Piaget (1936, 1937 14 ) und Stott (1961 1 6 ) bewies er, daß schon beim neugeborenen Kind ein Explorierverhalten festzustellen ist, das sich außerhalb der Reaktionen und Aktivitäten zur Triebbefriedigung und' Unlustvermeidung abspielt: „Ihre (der Wirksamkeit) Bedeutung liegt in der

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Freud, A. : The Mutual Influences in the Development of Ego and Id. Spitz, R. A. : Vom Säugling zum Kleinkind. Fenichel, O.: Early Stages of Ego Development. Hartmann, H . : Idipsydiologie und Anpassungsproblem. Hartmann, H. : Notes on the Reality Principle. Hendrick, I.: Instinct and the Ego during Infancy; Work and the Pleasure Principle; The Discussion of the Instinct to Master. Mittelmann, B. : Motility in Infants, Children and Adults. White, R. W.: Ego and Reality in Psychoanalytic Theory. Gesell, Ilg.: Säugling und Kleinkind in der Kultur der Gegenwart; Das Kind von fünf bis zehn. Piaget, J . : La naissance de l'intelligence chex l'enfant; La construction du réel diez l'enfant. Stott, D . H . : An empirical Approach to Motivation based on the Behavior of a young Child.

Die „Teleologie in der Entwicklung"

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Überzeugung, daß der menschliche Organismus abgesehen von den Instinkten eine ruhelose Kreatur ist, die sich ständig ihrer Umgebung zuwendet und durch Erfahrung lernt, welche Effekte in der Umgebung hervorgerufen werden können, welches die Art der Beziehung ist, die zu ihr aufrechterhalten werden kann. . . . Es sind diese erfahrenen Zusammenhänge, die die Vorstellung der Realität konstituieren. . . . Unsere Kenntnis dieser Energie ist ausschließlich vom spielenden und explorierenden Verhalten und dessen Produktion abgeleitet. Deshalb habe ich meine Theorie eine Aktionstheorie g e n a n n t . . ( S . 181). Parallel zu Whites Konzepten sind Versuche unternommen worden, die Spuren oder Vorläufer des Ich in der physiologischen oder somatischen Organisation nachzuweisen (Colby, 195518; Lustman, 1956 17 ; Nagera, 196818). „Was die visuelle Wahrnehmung von der Stufe primitiver sensorischer Impressionen zu dem erhebt, was wir Sehen nennen, ist die Existenz eines psychologischen Ich-Apparates der Wahrnehmung. Damit meine ich eine unabhängige, nicht materiale Organisation mit einer eigenen funktionalen Struktur." (Nagera, 196818). „Wirksamkeit" und Kompetenz" sind in der Konzeption von White begleitet vom „Gefühl der Wirksamkeit" und vom „Gefühl der Kompetenz". Selbstbezug wurde in der klassischen Psychoanalyse (Freud, 191419 Ferenczi, 191320 Fenichel, 194521) in Abhängigkeit von der narzißtischen Libido definiert. Silverberg hat 195222 einen neuen Begriff der Selbstwahrnehmung geschaffen, der auf einer Theorie der Interaktion von eigener Aktivität und Konfrontation mit der Umwelt basiert und der von White aufgegriffen wurde. „Selbstschätzung hat ihre tiefsten Wurzeln in der Erfahrung der Wirksamkeit. . . . Sie entspringt aus dem, was jemand durch Schreien, Signalisieren oder durch koordinierte kompetente Handlungen in der Umgebung hervorruft. Allmachtsphantasien können durch die Erfahrung des Kindes, daß es die Umgebung beeinflussen kann, ihm zur Verfügung zu stehen oder durch seine Erfahrung, die Umgebung durch seine eigenen Anstrengungen beherrschen zu können hervorgerufen werden" (S. 192). Auf experimentellem Gebiet hat Nagara (196423) einen Versuch unternommen, Freud's Konzept des Narzißmus zu revidieren und eine Beziehung zwischen Autoerotismus und Ichentwicklung herzustellen: Auf einer ersten 15 17 18

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Colby, K. M.: Energy and Structure in Psychoanalysis. Lustman, S. L.: Rudiments of the Ego. Nagera, H.: The Concept of Ego Apparatus in Psychoanalysis; Including Considerations Concerning the Somatic Roots of the Ego. Freud, S.: Zur Einführung des Narzismus. Ferenczi, S.: Stages in the Development of the Sense of Reality. Sex in Psychoanalysis. Fenichel, O.: The Psydioanalytic Theory of Neurosis. Silverberg, W. V.: Childhood Experience and Personal Destiny. Nagera, H.: Autoerotism, Autoerotic Activities, and Ego Development.

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Grundbegriffe, Konzepte und Ergebnisse zur Genese des Ith

Stufe lernt der Organismus, daß eine Flucht von äußeren, nicht aber von inneren Stimuli möglich ist, womit eine erste Unterscheidung von Selbst und Außenwelt in Gang kommt. Die Möglichkeit zur Autoerotik baut diese Unterscheidung weiter aus, da alle Eigenaktivität zum eigenen Körper und Selbst gerechnet wird. Unterstützende Ergebnisse zu diesem Bereich lieferte Hoffer (1949, 1950, 195224), der die Entwicklung des „Körperich" untersuchte. Auch er spricht von einem angeborenen Ich-Kern (Jeanne Laml-de Groot, 194725), der vererbt sei und dessen Differenzierung phylogenetisch angelegt sei. Er untersuchte z. B. das Fingerspiel des Kindes (Berühren der einen Hand mit der andern) in seiner Bedeutung für die Selbstwahrnehmung und die Unterscheidung und Selbstrepräsentanz und Objektpräsentanz. Solche und weitere Untersuchungen scheinen unserer Theorie der Genese des Ich recht nahe zu kommen und fordern zu einer eingehenderen Auseinandersetzung auf.

2. „ H a b i t u a l i t ä t , Vermöglichkeit" u n d der Begriff „Schema" bei J e a n Piaget „Schema" ist in Piagets Entwicklungskonzept ein zentraler Begriff, der in einem direkten Zusammenhang mit den Organisations- und Adaptionsleistungen steht, die das Kind in der Herstellung einer Realitätsbeziehung einsetzt (Piaget, 1936, 193726). Ein Schema ist eine kognitive Organisation, die die vorangegangenen Erfahrungen mit seinem Realitätsgehalt impliziert und Aktionsmuster für die weitere Auseinandersetzung mit demselben Realitätsgehalt vorgibt. Piaget sagt z. B., daß das Kind, das eine gerichtete Sequenz von Greifverhalten durchführt, ein Greifschema an die Realität anwendet, das auf früheren Greiferfahrungen gründet, so daß infolgedessen das Greifverhalten selber das Schema konstituiert. Die assimilatorische Funktion hat eine spezifische kognitive Struktur ausgebildet, die selber wieder die Disposition zu neuem Greifen nach Objekten impliziert. Schemas sind aber „mobile Rahmen", die sukzessiv auf verschiedene Inhalte angewendet werden können, die ihre Struktur aufgrund neuer E r j fahrungen ständig ändern, die aber darauf tendieren, neue Erfahrungen zu assimilieren, d. h. gemäß dem vorhandenen Rahmen zu interpretieren. So ist eines der wichtigsten Charakteristika des Schemas seine Tendenz zur Répétition. Diese Répétition ist der ursprünglichsten, von der Geburt an " Hoffer, W. : Mouth, Hand and Ego-Integration. — Ders.: Development of the Body Ego. — Ders.: The Mutual Influences in the Development of Ego and Id: Earliest Stages. 25 Lampl-de Groot, J.: On the Development of the Ego and Superego. 29 Piaget, J.: La naissance de l'intelligence chex l'enfant. — Ders.: La construction du réel chez l'enfant.

„Habitualität, Vermöglidikeit" und „Schema" bei Jean Piaget

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feststellbaren, assimilatorischen Aktivität bereits eigen. Organisierte Verhaltenstotalitäten, z. B. das Saugen, sind von Geburt an zu beobachten und werden immer und immer wieder in Bewegung gesetzt, sodaß die ersten Erfahrungen von „Realität" und von „Selbst" an diese reproduktiven Aktivitäten geknüpft sind. Die Wiederholung dient der Verfestigung der Organisation und gleichzeitig der Anwendung auf neue und versdiiedene Objekte. Diesen Prozeß, das zweite Charakteristikum des Schemas, nennt Piaget „generalisierende Assimilation". Das dritte besteht im komplementären Prozeß der inneren Differenzierung: einerseits generalisiert der Säugling des Schema „Saugen" auf die Finger, das Kissen, die Kleider, etc., gleichzeitig lernt er unterscheiden in Dinge, die man saugen oder nicht saugen kann und später auf Saugverhalten, das den Hunger stillt oder nicht stillt. Assimilation erscheint somit unter drei Formen: als Wiederholungstendenz, als Generalisierung und als motorisches Wiedererkennen. Der ursprüngliche Reflex wird aufgefaßt als eine organisierte Totalität, die dazu tendiert, sich durch Funktionieren selber zu erhalten und zu verselbständigen (Wiederholung), ständig neue Objekte aufzunehmen (Generalisierung) und verschiedenen Situationen verschiedene Arten von Aktivität zuzuschreiben (motorisches Wiedererkennen). In gleicher Weise tendieren die einzelnen Schemata (z. B. Saugen, Greifen, Sehen) durch reziproke Assimilation zur gegenseitigen Verbindung und Organisation, d. h. zu einer übergreifenden Generalisierung und Differenzierung. Aufgrund von Beobachtungen stellte Piaget z. B. fest, daß von der ersten Orientierung im Sehen an eine Koordination zwischen Sehen und Hören besteht, die er damit erklärt, daß das Kind nicht schaut, um zu schauen, sondern um aktiv zu sein oder zu handeln, und deshalb ein fallendes Objekt gleichzeitig fallen sieht und fallen hört. Es geht um eine progressive Organisation des visuellen Schemas, das nicht den Sinn hat, immer präzisere Bilder zu vermitteln, sondern Aktionssequenzen vorzubereiten und eine immer universalere und differenziertere Organisation herzustellen. Das Leben des kleinen Kindes beginnt nach Piaget mit gewissen elementaren Schemata (Saugen, Bewegen). Ihre Anwendung führt zu einer völlig ungeschiedenen Erfahrung zwischen Objekt und assimilierender Tätigkeit. Das erste Universum besteht in mobilen und plastischen Wahrnehmungsbildern, die auf die persönliche Aktivität zentriert sind. Da diese Aktivität ungeschieden ist von den Dingen, die sie ständig assimiliert, wird die eigene Subjektivität nicht wahrgenommen; die externe Welt ist vermischt mit einem Selbst, das sich selber nicht gewahr ist. Von Anfang an ist aber dem assimilativen ein gegenläufiger Prozeß entgegengesetzt. Während die Assimilation dazu tendiert zu konservieren und die Umgebung dem Organismus unterzuordnen, lösen die wechselnden Ereignisse im Verlaufe repetierter Verhaltensweisen die Akkommodation aus, die die Quelle aller Erfahrungen von

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Grundbegriffe, Konzepte und Ergebnisse zur Genese des Idi

Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit ist und zur sukzessiven Anerkennung der Umgebung führt. Differenzierung und Gleichgewicht von Assimilation und Akkommodation haben eine zunehmende Objektivierung der Umgebung und ein zunehmendes Sichselbstgewahrwerden zur Folge: „Die Assimilation und die Akkommodation sind die zwei Pole einer Interaktion zwischen Organismus und Umgebung, die die Bedingung jedes biologischen und intellektuellen Funktionierens ist; eine solche Interaktion setzt von Anfang an ein Gleichgewicht zwischen den Tendenzen der beiden Pole voraus. Die Frage besteht darin zu wissen, welche Formen dieses Gleichgewicht im Verlaufe seiner Konstitution sukzessive annimmt. Wenn also die Assimilation der Realität an die Schemata des Subjekts eine fortgesetzte Akkommodation derselben impliziert, widersetzt sich die Assimilation nicht weniger jeder neuen Akkomodation, d. h. jeder Differenzierung der Schemata in Abhängigkeit bisher unbekannter Umweltsbedingungen. Wenn die Akkommodation sie umgekehrt mit sich nimmt, d. h. wenn das Schema sich differenziert, werden dadurch neue Assimilationen ausgelöst. Man sieht also, daß die intellektuelle Aktivität mit einer Ungeschiedenheit zwischen der Erfahrung und dem Bewußtsein von sich selber beginnt» indem eine chaotische Undifferenziertheit zwischen Akkommodation und Assimilation besteht. Anders gesagt beginnt die Kenntnis der äußeren Welt mit einer unmittelbaren Benützung der Dinge, während das Bewußtsein von sich selber durch diesen rein praktischen und utiliären Kontakt unterbunden ist. Es gibt deshalb einfach eine Interaktion zwischen der oberflächlichsten Zone der äußeren Realität und der rein körperlichen Peripherie meiner selbst. In dem Maße aber, in dem die Differenzierung und die Koordination der Assimilation und Akkommodation fortschreiten, dringt die erfahrene und akkommodierende Aktivität in das Innere der Dinge, während die assimilierende Aktivität sich bereichert und organisiert. Immer tiefere und ausgedehntere Zonen der Realität werden somit mit immer intimeren Operationen der eigenen Aktivität in eine progressive Beziehung gebracht. Die Intelligenz beginnt also weder mit der Erkenntnis meiner selbst, noch mit derjenigen der Dinge als solchen, sondern mit ihrer Interaktion, indem sie sich simultan den beiden Polen dieser Interaktion zuwendet; indem sie die Welt organisiert, organisiert sie sich selber." (1937, S. 309 ff.) Dieses Zitat, das dem schlußfolgernden Kapitel aus „La construction du réel" entnommen ist, stellt nicht etwa eine theoretisch-abstrakte Hypothese dar, sondern ist das Ergebnis von Überlegungen, die sich auf eine lange Reihe empirischer Beobachtungen und Experimente aus dem ersten Lebensjahr stützen. In seiner inhaltlichen Ubereinstimmung mit unseren Begriffen der Habitualität, Vermöglichkeit, Erweiterung und Differenzierung der Horizonte, weist Piagets Konzept und seine Herleitung eine Möglichkeit zur Überpüfung unserer grundlegenden Theoriebildung auf.

Der Begriff der „Entfremdung"

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3. D e r Begriff der „Entfremdung" und die Bedeutung von „Identifikation" und „Projektion" Ohne auf die Diskussion um die Definition der Begriffs „Identifikation", „Imitation", „Introjektion", „Projektion", „Externalisation" (Sandford, 1955 2 7 ; Kagan, 1958 2 8 ; Jacobson, 1954 2 »; Novick und Kelly, 1970 30 ) einzugehen, sollen diejenigen Konzepte herausgegriffen werden, die in eine inhaltliche Beziehung zu unserem Begriff der „Entfremdung" als Prozeß der Entdeckung neuer Horizonte in der Begegnung mit dem Anderen gebracht werden können. Daß das Kind zu Beginn seines Lebens nicht unterscheiden kann in interne und externe Stimuli, in Selbst und Andere und daß die Prozesse der Introjektion, Identifikation und Projektion eine wichtige Rolle in der Ausbildung der Selbst- und Objektrepräsentanz spielen, sind allgemein anerkannte Bedingungen: die Dominanz des Lustprinzips bewirkt, daß Objekte, die als Quellen der Lust erkannt werden „inkorporiert" und „ein Teil des eigenen Selbst" werden und daß Unlust bewirkende Objekte in die externe Welt projiziert werden (S. Freud, 1915 3 1 ; 1920 32 ). Einen genetischen Zugang hat Brodey (1967 3 3 ) versucht, der seine Überlegungen auf der Beobachtung der Familien junger Schizophrener basiert: Der Prozeß der Differenzierung ist nach ihm ein Lernprozeß, der in Abhängigkeit steht von der Art der Mutter, auf die Aktivitäten des Kindes zu antworten. In dem Maße, in dem es sowohl dem Kind als auch der Mutter gelingt, diese Aktivitäten in Abhängigkeit von den Lust-Unlust-Erfahrungen des Kindes aufzufassen, entsteht eine Differenzierung in Ziele der Mutter und Ziele des Kindes. Diese Differenzierung der Ziele ist aktivitätsorientiert, nicht Person-orientiert, d. h. das Gefüttertwerden wird zum Ziel, nicht die Person, die füttert, oder der Mund wird benützt, um herauszufinden, was er beim Füttern leisten kann und nicht als ein Objekt an sich: „Funktion oder Ziel ist die Grundlage der Identität, nicht wer oder was bewirkt." Die Mutter verhilft dem Kind durch ihre Beziehung zu einer Differenzierung und Trennung. Sie versucht sich auf die Bedürfnisse des Kindes einzustellen, gleichzeitig konfrontiert sie es mit unerwarteten Ereignissen, z. B. eine volle Flasche, wenn das Kind nicht hungrig ist. Die Mutter hält des Kindes Erwartungen normalerweise gerade in einer Spannung, in

Sanford, N . : The Dynamics of Identification. Kagan, J . : The Concept of Identification. 2» Jacobson, E.: The Seif an the Object World. 3 0 Novick, J., Kelly, K . : Projection and Externalisation. 3 1 Freud, S.: Triebe und Triebschicksale. 32 Freud, S.: Jenseits des Lustprinzips. 3 3 Brodey, W. M.: On the Dynamics of Narcissism: I. Externalisation and Early Ego Development. 27

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Grundbegriffe, Konzepte und Ergebnisse zur Genese des Ich

der das Kind sie als getrennt wahrnehmen muß. Dadurch wird ein Lernprozeß in Gang gesetzt, der die Trennung begünstigt. Derselbe Lernprozeß führt später zur Imitation der Mutter, die ihrerseits das Kind imitiert. Sie imitiert es, aber auf ihre Weise, und dieser Unterschied ist gerade genug, um den Differenzierungsprozeß in Gang zu setzen. Es nimmt den Unterschied und damit das Unbekannte, Unerwartete, die neue Möglichkeit wahr und versucht, sie zu imitieren. Dieser Prozeß kann nun in den Begriffen von Piaget: „Generalisierung" und „Differenzierung" der Schemata gefaßt werden. Piaget hat die frühesten Stufen der Imitation aufs genaueste untersucht (1945 3 4 ): Die Entwicklung der Nachahmung im ersten Lebensjahr beginnt mit der Wiederholung von Aktionen (Laute, Bewegungen) eines Modells (z. B. der Mutter, eines anderen Kindes), wenn die Aktion genau den bereits entwickelten Schemata entspricht. Durch wiederholtes Üben des Nachahmungsprozesses entsteht die Möglichkeit zur Differenzierung, zur Wahrnehmung der Unterschiede, zur Modifikation der eigenen Schemata und damit zur Nachahmung von unterschiedlichen oder unbekannten Aktionen. Diese Nachahmungstätigkeit wird immer spontaner und mit mehr Freude durchgeführt und nimmt komplexere Formen an bis zur Nadiahmung einer früher beobachteten Aktion aus dem Gedächtnis. Die Freude an der Nachahmung verweist uns auf das Konzept des Kompetenzgefühls von White (s. Punkt 1), das hier interpretiert werderi kann als die Sicherheit, die entsteht, wenn die unerwarteten und fremden Aktionsvarianten oder -möglichkeiten wahrgenommen und assimiliert werden können und den Bereich der eigenen Kompetenz erweitern. Was hier nur andeutungsweise und ohne vertiefte Auseinandersetzung formuliert werden konnte, mag als Programm zur Verifizierung der phaenomenologisch erarbeiteten Hypothesen der Entstehung und Entwicklung des Ich und des Selbstbewußtseins angesehen werden.

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Piaget, J. : da formation du symbole chez l'enfant.

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C 6 : Erster Anfang eines methodischen Abbaus der urphaenomenalen Gegenwart, . . . Urstrukturen der lebendigen G e g e n w a r t . . . , 1930. C 7 I : Von der Epoche aus eine Reduktion auf das primordinale Sein des Ego als urtümliches Strömen, 1932. C 8 I : Zur Konstitution der intersubjektiven Welt in der universalen Zugangsform der ,unendlichen Zeit' und des,unendlichen Raumes', 1929. C 10: Das gehört zum Komplex der urtümlichen Gegenwart, 1931. C 13 I I I : Konstitution von Seienden in Zeitmodalitäten als Modalitäten eben des Seins: Konstitution von Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft; von Seiendem und Vorseiendem; Wiedererkennen als Urfunktion der Zeitung, 1934. C 1 5 : Urassoziation und Urzeitigung, zunächst in der hyletischen Kernsphäre betrachtet. Ohne Datierung. C 16 I I I : Verschiedener Sinn von aktuellen und nicht aktuellen Akten, 1932. C 16 IV: Gefühl und Urkonstitution. Lust und Affektion. Urkonstitutiver Aufbau der Welt in ihren Seinsregionen und Leitung der Urinstinkte. Sinn der Scheidung von Urseinssphäre — Natur und Welt von Gütern im gewöhnlichen Sinne — Instinkt und Kinaesthese; „Neugier", 1932. C 16 V: Zum Studium der ichlichen Strukturen der lebendigen Gegenwart, 1931. C 17 IV: Zur lebendigen Gegenwart. Passive Zeitigung des Erlebnisstromes gegenüber der Verzeitlichung der Akte, Vorzeitigung und eigentliche Z e i t i g u n g . . . 1930/1932. D 1 0 I : Zur Konstitution der physischen Natur. Zuerst Leib-Außending; dann rückführend auf Hyle und Kinaesthese, 1932. D 10 I I I : Konstitution als Perspektivierung in ihren Stufen . . . 1932. D 10 IV: Schwierigkeiten der Kinaesthesen, 1932. D 12 III: Zur Konstitution der Tastwelt, 1931. D 12 IV: Zwei wichtige Manuskripte: 1. Die konkrete Gegenwart als Einheit der Konfiguration der Wahrnehmungsgegebenheiten, die „erste Welt". 2. Die Konstitution der Anderen, des Leibes als erstes Objekt der außerleiblichen Umwelt, 1931. D 13 I: Zur Konstitution des Raumes . . . 1921. D 13 IV: Typologie des Visuellen Feldes und die zugehörige Kinaesthese. Grundstücke einer Lehre von den Kinaesthesen . . . 1921. E III 9: Instinkt, Welt, Gut, Teleologie, Normstruktur der Persönlichkeit, 1931—33. E III 6: Manuskripte zur Ausarbeitung des Krisis-Artikels, 1934—1936. K III 11: Ohne Titel. Thema: Urschöpferische Akte, 1935. Jacobson, E.: The Seif and the Object World. Psa. Study Child, 9, 1954. Kagan, J.: The Concept of Identification. Psydiol. Rev., 65, 1958. Keller, W.: Vom Wesen des Menschen, Basel, 1943. —: Psychologie und Philosophie des Wollens, München, 1954. —: Das Selbstwertstreben, Wesen, Formen, Schicksale, München, 1963. —: Das Problem der Willensfreiheit, München, 1965. —: Der positive Begriff der Existenz und die Psychologie, Schweiz. Zeitschrift f. Psychologie, Bd. VII, 1948. Koffka, K.: The Growth of the Mind, London, 1925. Lampl-de Groot, J.: On the Development of the Ego and Superego, Psa Study Child, 3, 1947. Landgrebe, L.: Der Weg der Phaenomenologie, Gütersloh, 1963. Lustman, S. L.: Rudiments of the Ego. Psa. Study Child, 11, 1956. Merleau-Ponty, M.: Phaenomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966. —: Les relations avec autrui chez l'enfant, Paris, 1967.

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SACHREGISTER Abschätzungen 54 Absolutes 16, 46 Abstand, zu sidi selber des Ich 18, 23, 25, 29, 33, 35, 41, 48 Affektion 87, 93, 101, 103 f., 115 f., 119 f., 130 affektive Kraft 95 ff. affektives Relief 96 affektive Weckung 97, 122 Affizierbarkeit 28, 91 Akkommodation 182 f. Akt 14, 20 Akt als Fluß 23 Akt Vollzug 15 reine Idiakte 16, 19 Aktivität des Ich 15, 19, 104, 172, 184 Aktivität/Passivität 28 f., 36 f., 50, 69, 86, 89, 92, 109, 121, 124, 130, 168—173 Allgemeingegenständlidikeit 70 Allgemeinheiten 8 f. Allkonstituierend 152 Allmacht 174, 180 Allzeitlidikeit 44, 46, 49 Analogie 47, 50, 77, 102, 150 Andere, der (anderes Idi, anderes Selbst, Alter Ego) 9, 47 f., 110, 136, 138, 142—144, 151—154, 162, 171, 184 als Objekt in der Welt / Subjekte für die Welt 145, 150, 155, 164 natürliche/transzendentale Erfahrung von ihm 146—149 Anfang der Affektion 115 des Ichlebens 106—119 der Selbstgegenwart 112 der Konstitution 102 Anonymität, anonym 33, 40 f., 44, 47, 49, 55, 102, 106 anonyme Funktionsgegenwart 45, 50, 51 Anwesenheit bei sich 167 Apparenz 73, 76, 78, 80 Apperzeption analogisierende 142 apperzeptive Einheit der Person 19 apperzeptive Intentionen 68

assoziative 22 Selbstapperzeption 12, 54, 82 sinnlicher Daten 54 Weltapperzeption 10 Apriori 4, 9, 11, 14, 62, 136 Assimilation 182 f. Assoziation 69 f., 92 f., 127 Bewußtsein Dumpfheit des 17 der Fremdexistenz 155 kinaesthetisches 71, 83 setzendes 157 ff., 171 Bewußtseinsnähe 23 ungeschiedenes 169—172 unreflektiertes 23, 158 Urbewußtsein 33, 37, 39, 155 Blick 157—162 Cartesianisdie Idee 136 -s Cogito 155 Cogito, s. Idi Dasein 56—61 Differenzierung 182—185 Ego, s. Ich Egologie 136 f. solipsistisdie 138 egologische Einstellung 9 Egozentrische Organisation 178 Eidos, eidetisch 4, 8, 9, 44, 46 Eigentlichkeit 59 Eigenvollzug 62 Einfühlung 110, 112, 142, 148 transzendentale 150 f. Einheit, einer Genesis 71 einer Erfahrung 8 einer Monade 71 im Erlebnisstrom 13, 66 Mensch 143—151 von Körper und Seele 141 f. Einheitsstiftungen 70 Einstellung, natürliche 4 Einstimmigkeit mit sidi selbst 100, 120, 172 f.

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Sachregister

Einzigartigkeit, Einzigkeit 31, 49—52, 138 Ek-statische Einheit 159—161, 171 Empfindung 72, 84, 87—91, 101, 105, 116 -sdaten 14, 72, 75 Datenempfindung/Stellungsempfindung 73 Empirie, empirische Psychologie 4 f. Energie-Potential 178 Entfremdung 47, 159, 163 f., 169, 184 Enthaltung, Epochi 7, 10, 15, 140 Entwicklungspsychologie 5, 55, 170, 178 Erfahrung 4, 6, 15, 18 Erinnerung 24, 26, 31, 49, 110, 126, 130 f. Erwachen zur Aktivität des Ich 117, 127, 129 Erwartung 24, 30, 92, 97, 120 -sintentionen 100, 121 Explorieren 179 Externalisation 184 Faktizität, faktisch 8, 42, 54 f., 65, 155 Faktum 46 f., 162 Feld 74—76, 80 Fragestellung ontologisdie 3 philosophische 3 transzendentale 4 Freiheit 158—173 Fremdbewußtsein 137 Fremde Eigenheitssphäre 142 Fremderfahrung 9, 42, 48, 106, 111, 141, 153 transzendentale 144—146, 169 Fremder Leib 149 Fremde Subjekte 140 f., 148 Fremde Vorstellung von mir 152 Fremdexistenz 154, 156, 165 Gefühl 104, 115 Gefühlsmäßiges Dabeisein 105 Gegenwärtighaben 25, 28 Gegenwärtigung 48 Gegenwart 26 f., 130 lebendige 34 f., 39, 46, 69, 121, 124, 130 lebendig-strömende 29, 129, 131 des Ich 30 Gegenwartsein 35

Gemeinschaft des Ich mit sich selbst 51, 65 Genese, Genesis 3, 107, 138 aktive 20 der Erwartungen 92 der Fremderfahrung 106 des Selbstbewußtseins 22 transzendentale 20, 68 von Ich und Anderem 153 genetische Nachwirkung 70 genetische Phaenomenologie 5 genetischer Ursprung 27 Gesetze der Assoziation 108, 112, 121, 123 der Genesis 68, 71, 101, 112 der passiven Synthesis 123 Gestalttheorie 88 Habitualität 33, 70, 77, 108, 117, 123, 128, 151, 168, 175, 183 habituelle Eigenheiten 15, 20, 31, 167 Habe des Ich 14, 30 Ich der höheren Habitualität 116 Horizont 6, 8, 30, 49, 125, 173 f. -bewußtsein 8, 39, 85, 128 -erweiterung 44, 175 -struktur 75, 77, 79 der Vergangenheit 28, 34, 77, 94, 102,111 der Welt 87 der Zukunft 30, 34, 77 endloser 19 Eröffnung neuer Horizonte 165, 184 möglicher Ziele 113 protentialer 120 unbekannter 159, 172 unbestimmter 14, 136 Hyle, hyletisch 68, 72, 75, 86, 104, 108, 115, 119 f., 130 hyletische Antizipationen 120 hyletische Zukunft 120 Ich, aktives 14, 129, 169 bleibendes, ständiges verharrendes 31 f., 38 f. erwadiendes 113 identisches 7 letztfungierendes 37 f., 44, 46, 51, 55 reines 7, 8, 12, 15, 17—19, 138 strömendes, jeweiliges 31, 32 transzendentales 10, 15, 43, 46, 52, 68, 138

Sachregister vorreflektives 22 f., 35, 130 Ich als Person, persönliches Ich 12, 17, 20 f. Ichbeteiligung 29, 36, 50, 69, 105, Ich bin dabei 7 Ich denke, ich fungiere 15—17, 44 f., 58, 104 Ith der Freiheit 13 der Intentionalität 13 des konstitutiven Anfangs 103, 114 f. gerichteter Instinkte 114 Mensch 10, 15, 18 f. Ich, Ego 116, 118 Ich kann 20, 30, 76, 82, 86, 167 Ichliche Aktualität/Inaktualität 17, 77 Geriditetheit, Zuwendung 101, 117 Pluralität 52 Idilichkeit, Grundstruktur der 12 ursprüngliche 13 eigentliche 13 lebloses Streben 104 Ichlosigkeit 39 Ichpol 7, 15, 31, 33, 40, 130 -einigung 48, 51 Ichtätigkeit 7 Ichversunkenheit 21 Idealismus der Freiheit 59 Identifikation 48, 184 Identisches Substrat 20 Identität 48, 58, 65, 123, 184 des Gegenstandes 27 des Ich 10, 35 des letztfungierenden Ich 44 des Vollziehers 32 Identitätspol 20, 31, 39 Imitation 184 f. Immanenz 65 Immer-schon-vorweg-sein 155 In-der-Welt-sein 159 Individualität 27, 48, 70, 138 Innenweltlichkeit 156 Innere Negation 156, 162 Instinkt 114—117, 179 f. Instinktive Richtung 116 Intentionen 117, 119, 121 F., 127 Triebinten tionalität 117 Intentionale Analyse 7, 54 Erlebnisse 17 f. -s Ich 13 -r Kern 19 Leistung 54 Morphi 72

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Intentionalität 6, 37, 72, 86, 118, 129, 156 empirische 15 formaler Aspekt der Intentionalität 15 implizite 121 konstituierte 17 passive 36 Zentrum der 18, 20 Intentionen 120, 168 ff. leere 119 gerichtete 119 Triebintentionen 121—130 Interesse 70, 99, 109, 115 an sich selber 129 f. ichliches 28, 92, 128 transzendentales 11 Interessenintentionalität 127 Intersubjektive Gemeinschaft 143 Konstitution 110, 132, 137 Phänomenologie 136 InterSubjektivität (-stheorie) 47, 112, 134, 140, 151 f. transzendentale 154 Introjektion 184 Jemeinigkeit des Ich 138 f. Jetzt 24—26, 33 strömendes 31 Jetztphase 27 Kern eigentlicher Gegenwart 25, 34 des Ich 180 der Innenweltlichkeit 54 der Welt 79 Kinaesthese 72—79, 116, 127, 130 Kinaesthetischer Ablauf 73, 131 — Bewegungsgestalten 123 -s Bewußtsein 69, 71, 83—89, 105, 124 f. -s System 73—77 — Vermöglidikeit 83, 85 Kindheit 102, 126 Kompetenz 179 f. Konfliktfreie Sphäre 179 Konnex des Ich 30 f., 34, 38, 51 f., 123, 126, 131 anonymer 105 mit Anderen 144 f. präreflexiver 132 Konstituiertwerden 152

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Sachregister

Konstitution 45 des Anderen 137, 139, 166 des fremden Leibes 140 des individuellen Ith 5, 21, 124 des Leibes 79, 82—84 des realen Menschen 144 der objektiven Welt 139, 143, 166 des Raumes 80 des Selbst 12, 21, 45 durch Mannigfaltigkeit 19 haptische 83 intersubjektive 110 passive 103 perspektivierende 81, 83 Sinn konstituierendes Bewußtsein 8 Vor-Konstitution 36, 127 Körperich 181 Lage 73 Lebendigkeit der Gegenwart 52 Leib 13, 79 Leibbewußtsein 85, 87 Leitfaden 14, 54, 71, 166 Leitidee 5 Lernen 179, 184 Libido-Energie 178 Limes 106—108, 112 Mängelwesen 62, 117 Metaphysik 55 Methode der Psychologie 3 des Rückganges 101 phänomenologische 5, 53, 68 reiner Selbsterfahrung 7 transzendentaler Selbsterfahrung 46 Methodischer Leitfaden 14 Standort 5 -s Vorbild 5 -r Weg 44 Mitbewußthaben 25 f., 30, 39 Miteinander 59, 161 Miterinnerung 48 f. Mitgegenwart 47—50 Mitgemeintes 14 f. Mittelbarkeit 16 transzendentale 145 der Fremderfahrung 142, 145 f. Mittelglied 157 Mitzeitigung 32, 45 Monade 68 Motivation 4 Motivationsbeziehungen 148 f.

Nichts, mein eigenes 157 Noesis/Noema 7 f., 18, 32, 68, 72, 87 Nunc Stans 44 f. Okulomotorisches System 78 — Perspektivität 79, 83 Organisierung 83 Phänomenologie 55 apriorische 6 egologische 9 eidetische 9 genetische 5, 68, 153 intersubjektive 138 statische 68, 138, 152 transzendentale 55, 138 Phänomenologische Erfahrung 8 Reduktion 137 Selbstbesinnung 136 Phantom 72—86 Philosophische Anthropologie 55, 62 Positive Psychologie 10 Positivismus 9 Positivität 11 Potentialität 76 f., 85 Präreflexives Ureinigsein 39, 48, 52 Präreflexivität 38 f., 45 Präsenzfeld 26—29, 48, 69 Breite des P. 28, 126 Struktur des 121 Projektion 184 Protention 25—30, 39, 45, 69, 121 Psychoanalytische Theorie 178 Psychologie, als objektive Tatsachenwissenschaft 5 empirische 4 mundane 4 reine 5, 11 transzendentale 4 f. von oben / von ünten 88 Raum Raumbewußtsein 85 Raum-Zeitlichkeit 5, 80 f. Reduktion 11, 16, 34, 144 phänomenologische 7, 89 psychologische 10 transzendentale 10, 136 Reflexion, reflektieren 6, 20—23, 33, 39—41, 53 auf eine Reflexivität 12, 41 Bewußtseinsreflexion 7 radikalisierte 45

Sachregister reflektive Blickwendung 17 Reflektierbarkeit des Erlebnisstromes 37, 40 reflexive Erkenntnis 156 reine 15 unendlich iterierbare 40 universale 53 Reflexionsphaenomen 157 Reflexionsvermögen 16, 18, 44 Relief 78, 81 Retention 25—30, 39, 96 Retentionales Entgleiten 27 f., 121 — Modifikation 26, 33, 36 f., 97 — Reihe 27 f., 121 Rezeptivität 86 f., 89, 98, 105, 109, 116, 124 Rückgang 6 Schema 181, 185 Schlaf 17, 108 Sein, absolutes 10 des Bewußtseins 156 des Menschen 53, 56—58, 65, 66 der Welt 66, 167 Idee des 55 Stellung des Menschen im S. 53 subjektives 14, 167 Seinsgesetz des Für-sich 167 Seinsweise, fundamentale 55 Selbstaffektion 87 Selbstapperzeption 12, 21 Selbstbesinnung, radikale 5 transzendentale 43, 148 Selbstbestimmung 60, 62, 64 Selbstbewußtsein 3—5, 12, 85—91, 167 Selbstbezogenheit 57, 180 Selbsterfahrung 7, 17, 20, 61 f., 68, 91, 111, 179 natürliche 13 psychologische 10, 15 transzendentale 10, 13, 15 Selbsterhaltung 113, 130, 172, 179 Selbsterkenntnis 11 Selbstgegenwärtigung 12, 34, 48 präreflexive 35, 41, 112 reflexive 41 Selbstgegenwart 15, 43, 47, 58, 166 f. Selbstheit 167, 169, 175 Selbstidentifikation 35 Selbstinnesein 41, 71 Selbstobjektivierung 10 Selbstreflektion 17

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Selbstrepräsentanz 180, 184 Selbstschätzung 180 Selbstsein 43, 55, 59, 60, 62, 64, 88, 91 Bei-sich-selbst-sein 58, 61, 105, 130, 167 Selbstvergangenheit 15 Selbstvergemeinsdiaftung 43, 50—52 Selbstvollzug 59—61 Selbstwahrnehmung 16, 180 f., 183 Selbstwert 179 Selbstzeitigung 37, 51, 59, 151 Sidi-Selber-Wissen 3 Sich-selbst-Empfinden 84, 89, 105, 123 Sinne 88 Sinneseindrücke 105 Sinnesfelder 13, 93, 95 Sinneswelt 13 Solipsismus 49, 137, 144, 152, 155 Sozialphilosophie, -ontologie 140, 153 f. Spontaneität 70, 86 f., 90, 163, 173 Ständigkeit des Ich 33, 39, 40, 44, 46 f. Stellungsdatum 75, 82, 84 Strom, Bewußtseins-, Erlebnis- 13, 17, 24, 36, 68, 103, 121, 138 Einheit des 44 Reflektierbarkeit des 37 transzendentaler 37 urtümlicher 25, 105 f. Strömen 35, 38 Ichlichkeit des 36 Strömendes Gegenwärtigen 25 — Ständigkeit 33 Subjekt, der Intentionalität 14 idealisiertes 53 personales 12 reines 16 von Vermögen 20 Subjektivität, absolute 139 Feld der 12 je-eigene 140 letztlich fungierende 10 transzendentale 68, 136, 151 Synthese, Synthesis 51 aktive 34, 70, 129, 131 assoziative 92, 125 Deckungssynthesis 73, 130 der Gleichheit 122 explikative 69 im Präsenzfeld 28 passive 14, 29, 68, 70, 92, 129

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Sachregister

prädikative 70 präreflexive 38, 71 vorsynthetisches Ureinigsein 40 Synthetische Konfigurationen 123 f. Wahrnehmungen 13 Tastphantom 82 Teleologie 45, 69, 100, 112, 114, 121, 123, 128 Transzendentale Absolutheit 16 Begründung der Psychologie 5 Einstellung 11, 150 Erkenntnis 140 Fragestellung 4, 9 Genesis 20 — gereinigtes Bewußtsein 9 Intersubjektivität 173, 135 Philosophie 11 Selbsterfahrung 10, 21 Selbstgegenwärtigung 12 Theorie der Fremderfahrung 140 Theorie der objektiven Welt 140 Vermögen 15 Transzendenz 65 des Anderen 160, 163 objektive 140 überschrittene 160, 162 Unbeteiligter Zuschauer 7, 53 Unmittelbarkeit des Anderen 154, 159 f. der Fremderfahrung 144—146, 152, 162, 166, 171 des sozialen Aktes 149 Uraffektion 103 f., 129 Uranlage des Ich 115 Urapperzeption 68 Urbewußtsein 37, 39 Urdistanz 33 Ureinigsein 38 f. Urgeschichte der Objekte 69 Urich 18, 152 Urimpression 25—30, 94, 96, 104 Urkonstitution 27 Urpassivität 29, 35, 36, 38, 4 1, 44, 50, 52 Urphänomen 41—43 Urphänomenale Gegenwart 40, 45 Ursprünglichkeit 6, 23 des Ich 24 der Lebendigkeit 17 des Selbstbewußtseins 91, 179

Urstiftungen 70 Ursynthesis 69 Urtümliches Strömen 25 Vereinheitlichung des Ich 114 Verfügbarkeit 121, 130, 160, 168, 171 f. über Horizonte 131 Vergangenheit 26, 31, 48 -shorizont 25 Vergegenwärtigung 26 Vergemeinschaftung 49, 52, 145, 149, 152 Verhältnis zu sich selbst 57 Vermittel theit 162 Vermittlung durch den Anderen 151, 167 f. Vermögen 15, 18, 20, 21, 102, 174 meines reinen Ich 16 Vermögenshorizont 100 Vermöglichkeit des Ich 23, 37, 70, 82, 86, 121, 125, 130, 168, 183 des kinaesthetischen Systems 76 f., 83 Vermöglichkeitsbewußtsein 87, 124, 129, 130 Vorgegebenheit 14 Vor-Ich 109 Vor-Konstitution 36 f. Vor-Sein 38, 104 Vor-Zeit 36, 37, 40, 103, 164 Wachsein des Ich 98, 103 Wahrnehmung 72, 116 Weckung 28, 94, 96 f., 99, 103, 108 f., 122, 126 Wegbewußtsein 124 f. Wege, System von — 76, 85 Welt 155 -bewußtsein 85 f., 87, 91, 128 des Anderen 151 -erfahrung 68 -erkenntnis 11 für alle 144, 151 gemeinsam konstituierte 47 -horizont 128—130 natürliche 4 objektive 138—140 Weltjenseitigkeit 161 Weltlosigkeit 108 Wesen des Daseins 54 des Menschen 56 Wesenseigentümlichkeit 13

Sachregister Wesensformen 44 Wesensgeltung 9 Wesensgenesis 68 Wesensnotwendigkeit 46 f. Wiedererinnerung 28, 48, 70, 102, 111, 131 Wiedererwe&barkeit 27 Zeit-analyse 22 -bewußtsein 16, 24, 54, 68, 84 inneres 18, 36, 69, 77 -horizont 39, 77, 123, 126 immanente 16, 22, 33

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-konstitution 86 phänomenologische 24 -stelle 27 f., 32, 44, 46 -struktur des Ich 30 Zeitigung 27 anonyme 33 des Idipols 35 des transzendental-phänomenologisierenden Idi 37 passive 36, 127 Selbstzeitigung 37 f. Zeitlichkeit 22, 37, 153 Zweiseitigkeit im Erlebnisstrom 104

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Klaus Holzkamp

kälter de Gruyter Berlin-New"ibrk Wissenschaft als H a n d l u n g Versudi einer neuen Grundlegung der Wissenschaftslehre Groß-Oktav. XII, 397 Seiten. 1968. Ganzleinen DM 48,— ISBN 3 11 005145 1

Michael Theunissen

Der Andere Studien zur Sozialontologie der Gegenwart Groß-Oktav. XVI, 538 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 68,— ISBN 3 11 005149 4

Michael Theunissen

Michael Theunissen

Gesellschaft und Geschichte

Zur Kritik der kritischen Theorie Oktav. VIII, 40 Seiten. 1969. Kartoniert DM 3,80 ISBN 3 11 001195 6

Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat

Groß-Oktav. XIV, 459 Seiten. 1970. Ganzleinen DM 56,— ISBN 3 11 006353 0

Ernst Tugendhat

Der Wahrheitsbegriff

bei Husserl und Heidegger

2., unveränderte Auflage Groß-Oktav. XII, 415 Seiten. 1970. Ganzleinen DM 38,— ISBN 3 11 002556 6

w DE

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Walter de Gruyter Berlin-New^brk Kants Werke Akademie-Textausgabe. Unveränd. photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. 9 Bände. Oktav. 1968. Paperback DM 140,— ISBN 3 11 001433 5

Fichtes Werke Herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte. 11 Bände. Oktav. 1971. Paperback DM 132,— ISBN 3 11 006486 3 Diese Ausgabe ist ein photomechanischer Nachdruck von Johann Gottlieb Fichtes sämmtlidie Werke. Hrsg. von I. H. Fichte. 8 Bände. — Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke. Hrsg. von I. H. Fichte. 3 Bände.

Wolfgang Janke

Fichte Sein und Reflexion — Grundlagen der kritischen Vernunft — Groß-Oktav. XVI, 428 Seiten. 1970. Ganzleinen DM 58,— ISBN 3 11 006436 7

Wolfgang Müller-Lauter

Gerd Brand

Nietzsche Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie Groß-Oktav. VIII, 195 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 38,— ISBN 3 11 003577 4

Die Lebenswelt Eine Philosophie des konkreten Apriori Groß-Oktav. XXXVIII, 651 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 98,— ISBN 3 11 006420 0