Ästhetik - Die Frage nach dem Schönen 9783495807965, 9783495487211


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Präliminiarien: Der Ausgangspunkt
Einleitung
Erster Teil: Fixpunkte
Erstes Kapitel: Begriffe, Positionen – oder: ›Aesthetica in nuce‹
Zweiter Teil: In der Spannung von Kunst und Theorie
Zweites Kapitel: Über das Schöne und das Göttliche – Platons erscheinende Idee
I. Grundlinien
II. Polis und Schönheit
III. Bild und Idee
IV. Sprache und Kunst
Drittes Kapitel: Die Kraft der Poiesis.
I. Stoa und Neuplatonismus: Topoi des Schönen
II. Aristotelische Poiesis
Viertes Kapitel: ›Pulchritudo‹ – vom göttlichen Sein
Fünftes Kapitel: Vom absoluten Blick. Cusanus’ Koinzidenzvision
Exkurs I: Über den Manierismus
Exkurs II: Shakespeare und die formbildende Macht der Geschichte
Sechstes Kapitel: Geschmack und der spielende Homo humanus. Über die Dimensionen der ›Kritik der Urteilskraft‹
I. Vorgeschichten
II. Exemplum – Kunst als Symbol der Sittlichkeit. Ein Dreiergespräch über die Tragödie: Nicolai, Lessing, Mendelssohn
III. Kantische Konstellationen
1. Zusammenhänge
2. Die Exposition des ›Sensus communis‹
3. Deduktion der reinen ästhetischen Urteile und Gemeinsinn
4. Gemeinsinn und Metaphysik der Moral
5. Gemeinsinn und subjektive Zweckmäßigkeit
Exkurs: Zwischen Natur und Kunst – Landschaftsarchitektur
Siebtes Kapitel: Naturlandschaften des Schönen. Herders ›Aesthetica‹ und Winckelmanns Vermessungen ›edler Einfalt‹
Achtes Kapitel: Morgenland des Schönen und Schädelstätten der Geschichte – ästhetische Diskurse um 1800 aus dem Herzen der Kunst
I. Schiller und Goethe
II. Das absolute Fragment: Frühromantische Stimmen
Neuntes Kapitel: Kunst im System – Hegel, Schelling, Schleiermacher und Hölderlins Poetologie der ›gegenstrebigen Fügung‹
I. Strukturen und Differenzen
II. Dreifache Systemgestalt und was sich dem System entzieht
Hegel
Hölderlinsche Kontrapunkte
Novalis und der ›Ordo inversus‹
Schelling
Schleiermacher
Zehntes Kapitel: Horizonte der Moderne
I. In den Geheimkammern der Modernität: Geschichtsverläufe und -zeichen
II. Über die Schönheit der Blumen des Bösen – Baudelaires Labyrinthe
III. Warum das Leben kein Irrtum ist – Nietzsches Perspektiven
Elftes Kapitel: Das gebrochene und das nicht zu brechende Glücksversprechen – Adorno und die ästhetische Negativität
Zwölftes Kapitel: Unvoreingenommene Noesen – Phänomenologen betrachten Kunstwerke
I. Die Sache selbst und der Ursprung des Kunstwerkes: Von Husserl zu Heidegger
II. Bild und Verstehen: Hermeneutica
Dreizehntes Kapitel: Welterzeugung und Wiederverzauberung – aus den Skizzenbüchern neuerer analytischer Kunstphilosophie
Vierzehntes Kapitel: Zwischen Kristallisationen – die Postmodernedebatte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts
Dritter Teil: Lebensästhetiken des Gebrauchs und der Performanz
Fünfzehntes Kapitel: Lebenskünste oder: Die andere Ästhetik – über die Schönheit des Dienlichen
I. ›Verweisen‹ und ›Bedeuten‹ – Grundzüge einer Philosophie des Designs
II. Über Gebrauch und Funktion
III. Stoff und Form: Eine kleine Philosophie des Holzes
IV. Trend und Tendenz – »Geschrumpfte Gegenwart« und »musealisierte Geschichte«
V. Der Zeit-Raum – Philosophische Randgänge zu Fragen der Architektur
Sechzehntes Kapitel: Verwandelnde Wiederkehr des Kultus – Ästhetik der Performanz
Epilog – was bleibt und was folgt. Schlusspunkte
I. Kunst und Religion
II. Interkulturelle Dimensionen
III. Unbeantwortete Fragen: Kunst als Erscheinung
Coda ins Offene
Literatur
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
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Ästhetik - Die Frage nach dem Schönen
 9783495807965, 9783495487211

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Harald Seubert

Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495807965

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B

Harald Seubert Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

In diesem Buch wird zunächst eine Topik ästhetischer Begriffe entwickelt, die dann an wesentlichen Knotenpunkten der Geschichte von Ästhetik und Kunstphilosophie von Platon bis in die Gegenwart erprobt und auf sie angewandt wird. Systematische und geschichtlich konturierte Überlegungen ergänzen einander. Von besonderem Interesse ist dabei die Reflexion von Kunsterfahrung und Kunstwerken durch philosophisches Denken. Auf diese Weise zeigt sich das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen Theorieformen und der Vielfalt ästhetischer Erscheinungen. Dem Verhältnis tradierter Ästhetik und der nicht-schönen Künste der Moderne gilt ein besonderer Fokus. Das Augenmerk der Studie begrenzt sich freilich nicht auf hohe und autonome Kunst; vielmehr richtet es sich besonders auch auf die Architektur und Gebrauchskunst. Auch der Ästhetik des Performativen und ihrer Rolle in der Kunst der Moderne gelten eingehende Analysen.

Der Autor: Harald Seubert, geboren 1967, ist seit 2012 Professor für Philosophie und Religionswissenschaften an der STH Basel und lehrt seit 2010 auch an der Hochschule für Politik in München. Zahlreiche Buchund Aufsatzveröffentlichungen.

https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Harald Seubert

Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Laiotz – Fotolia.com Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48721-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80796-5

https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Dem Gedenken an meinen Lehrer Manfred Riedel (1936–2009)

https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

11

. . . . . . . . . . . . . .

17

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Erster Teil: Fixpunkte Erstes Kapitel: Begriffe, Positionen – oder: ›Aesthetica in nuce‹

35

Zweiter Teil: In der Spannung von Kunst und Theorie Zweites Kapitel: Über das Schöne und das Göttliche – Platons erscheinende Idee . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Drittes Kapitel: Die Kraft der Poiesis. Antike Philosophenschulen und die poietische Wissenschaft des Aristoteles .

97

Viertes Kapitel: ›Pulchritudo‹ – vom göttlichen Sein Augustinus, Duns Scotus Eriugena und die gotische Kathedrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Fünftes Kapitel: Vom absoluten Blick. Cusanus’ Koinzidenzvision

122

Exkurs I: Über den Manierismus . . . . . . . . . . . . . . . . 133 7 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Inhalt

Exkurs II: Shakespeare und die formbildende Macht der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Sechstes Kapitel: Geschmack und der spielende Homo humanus. Über die Dimensionen der ›Kritik der Urteilskraft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Exkurs: Zwischen Natur und Kunst – Landschaftsarchitektur

. 184

Siebtes Kapitel: Naturlandschaften des Schönen. Herders ›Aesthetica‹ und Winckelmanns Vermessungen ›edler Einfalt‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Achtes Kapitel: Morgenland des Schönen und Schädelstätten der Geschichte – Ästhetische Diskurse um 1800 aus dem Herzen der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Neuntes Kapitel: Kunst im System – Hegel, Schelling, Schleiermacher und Hölderlins Poetologie der ›gegenstrebigen Fügung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Zehntes Kapitel: Horizonte der Moderne . . . . . . . . . . . 281 Elftes Kapitel: Das Gebrochene und das nicht zu brechende Glücksversprechen – Adorno und die ästhetische Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Zwölftes Kapitel: Unvoreingenommene Noesen – Phänomenologen betrachten Kunstwerke . . . . . . . . 325 Dreizehntes Kapitel: Welterzeugung und Wiederverzauberung – aus den Skizzenbüchern neuerer analytischer Kunstphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Vierzehntes Kapitel: Zwischen Kristallisationen – die Postmodernedebatte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

8 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Inhalt

Dritter Teil: Lebensästhetiken des Gebrauchs und der Performanz Fünfzehntes Kapitel: Lebenskünste oder: Die andere Ästhetik – über die Schönheit des Dienlichen

363

Sechzehntes Kapitel: Verwandelnde Wiederkehr des Kultus – Ästhetik der Performanz . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Epilog – Was bleibt und was folgt. Schlusspunkte

. . . . I. Kunst und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . II. Interkulturelle Dimensionen . . . . . . . . . . . III. Unbeantwortete Fragen: Kunst als Erscheinung . . Coda ins Offene Literatur

. . . .

. . . .

. . . .

475 475 481 483

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

Personenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507

9 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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Vorwort

Die Frage nach dem Schönen und damit die philosophische Disziplin der Ästhetik begleiten mein philosophisches Interesse von Anfang an. Im Zusammenhang der intensivierten religionsphilosophischen Arbeiten der letzten Jahre habe ich auch die Linien zwischen Kunst, Religion und einer Theorie des Absoluten weiter verfolgt. Damit verbinden sich Fragen nach der Sagbarkeit des Unsagbaren, Bild und Bilderverbot und der Medialität von Transzendenz. Dieses Buch beruht auf einer Reihe von Ästhetikvorlesungen, die ich seit 2004 an verschiedenen Orten gehalten habe: an den Universitäten Halle, Poznan, Erlangen und Bamberg, vor Studierenden der Philosophie, Kunstwissenschaften und Theologie. Diesen Texten habe ich ein neues Gesicht gegeben. Für das dritte Kapitel des Zweiten Teils wurden Teile eines längeren, der Bildlichkeits- und Darstellungsproblematik gewidmeten Platon-Aufsatzes und für den Fragekomplex von Kunst und Religion, vor allem im Vierten und Fünften Kapitel des Zweiten Teils, Motive aus meiner religionsphilosphischen Monographie mit freundlicher Genehmigung der Verlage aufgenommen. 1 Das Buch soll die wichtigsten Denkformen und -versuche der Frage nach dem Schönen und der Ästhetik nachzeichnen, denn sie alle erhellen Facetten des Themas, die anders in ihrem Sachgehalt Es handelt sich im ersten Fall um: H. Seubert, Srpache und Bild im Platonischen Logos, in: P. Engelhardt, C. Strube (Hgg.), Die Sprachlichkeit in den Künsten. Berflin 2007, S. 123–151, und im zweiten um H. Seubert, Zwischen Religion und Vernunft. Vermessung eines Terrains. Baden-Baden 2013, S. 525–567. Im Zweiten Teil, sechstes Kapitel, wurde darüber hinausgehend noch mein Aufsatz: Der ›sensus communis‹ in Kants Theorie der Urteilskraft. Zu einem Problem am Rande der Kantischen Kritik und seinen Implikationen, in: Perspektiven der Philosophie 34 (2008), S. 147–179 herangezogen. Ebenso verweise ich auf die Audio-Publikation meiner Ästhetik-Vorlesung an der LMU München, SS 2013: Ästhetik. 14 Vorlesungen zur Ästhetik und Philosophie der Kunst. Von der Antike bis zur Hypermoderne. Verlag Andreas Mascha. München, Sommer 2014.

1

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Vorwort

nicht sichtbar würden. So sollte im Idealfall gerade keine bloße Doxographie entstehen, sondern ein Gedankengang erkennbar werden, den der Leser, sei er am Anfang der Beschäftigung mit dem Problemfeld oder sei er damit seit langem vertraut, frei mitvollziehen und kritisch konterkarieren kann. Es geht nicht um den ohnedies kaum erfüllbaren Anspruch, eine Geschichte der Ästhetik im Ganzen zu entwickeln. Vielmehr werden Knotenpunkte profiliert, mitunter durchaus disproportional zu den Heerstraßen der Philosophiegeschichte, aber so strukturiert, dass jene Konstellationen besondere Aufmerksamkeit finden, an denen die Verbindungen von Philosophie und Kunst in exemplarischer Weise hervortreten. Mein Ziel ist es, so in die Ästhetik einzuführen, dass ihre differenten, teilweise diametral entgegengesetzten, teilweise sich überlappenden Begriffs-, Problem- und Unbegrifflichkeitsschichten ein Netz bilden, in dem die phänomenalen Vollzüge zwischen Werk und Betrachter, Autor und Interpreten sich sammeln und bündeln können. Dabei versuche ich auch, Theorie zu erzählen, um in ein gleichermaßen fundiertes Denken und Sehen einzuführen. Dies geschieht nicht zuletzt im Blick auf eine jüngere Generation, die in einer medialen Metawelt beheimatet ist und die Erfahrung des nicht-konstruierten Authentischen, auch in seinem Ausbleiben, nicht selten erst nachholen muss. 2 Dabei flankiert dieses Buch meine umfangreiche religionsphilosophische Monographie, 3 aber auch meinen Versuch über politische Philosophie im 21. Jahrhundert, die ebenfalls in diesem Jahr erscheinen wird. 4 Das vorliegende Buch ist die Verdichtung lange zurückreichender Gespräche, Lektüren und Anschauungen. Den Bildern und Zeichnungen von Vroni Schwegler danke ich mehr als sie weiß. Begegnungen mit Künstlern aller Sparten haben – wenn auch indirekt – meine Gedanken bestimmt. Ich hoffe, dass dieses Buch leicht genug ist, um auch die Kunsterfahrung sinnfällig zu machen, und hinreichend schwer, um die Diaphanie des Schönen nicht zu verfehlen. Dazu R. Sennett, Handwerk. Berlin 32008. H. Seubert, Zwischen Religion und Vernunft, a. a. O. 4 H. Seubert, Gesicherte Freiheiten. Eine politische Philosophie für das 21. Jahrhundert. Baden-Baden 2015. 2 3

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Vorwort

Es liegt in der Natur der Sache, dass im Genre der Ästhetik nur indirekt, durch die prismatischen Brechungen der Philosophie hindurch, auf die Phänomene der Kunst hingewiesen werden kann. Hier macht sich das nicht immer spannungsfreie Verhältnis von Philosophie und Kunst bemerkbar. Indessen wurde mein Staunen über Werk und Ereignis der Kunst in der Reflexion immer größer, statt sich zu verflüchtigen. Aus diesem Staunen ist das vorliegende Buch geschrieben. Über Kunst hätte ich in dieser Weise nicht nachdenken können ohne meinen Lehrer Manfred Riedel. Seinem Andenken ist dieses Buch gewidmet. Das ›Phainesthai‹ (die Selbsterscheinung) des Schönen war eines seiner bestimmenden Themen. Er ließ die Kunsterfahrung in Philosophie und Leben gleichermaßen sichtbar werden. Mit Stephan Otto (1931–2010) und Werner Beierwaltes (* 1931) hatte ich in München zwei weitere bedeutende und prägende philosophische Lehrer, die die strenge Arbeit des Begriffs mit dem Blick auf das Mysterium des Schönen zu verbinden wussten: der erste im Licht der Memoria und der auch fundamentalphilosophisch zentralen Differenz von Denken und Darstellung, der zweite im platonisch-neuplatonischen Sinn des Inbildes des Einen in der Perspektive sichtbarer Harmonie. Vorbildlich für die Art, wie der Philosoph über Kunst nachdenken sollte, sind mir die Arbeiten von Walter Biemel (* 1918–2015). Ihm danke ich für seine Freundschaft und Anerkenntnis über die Grenze zweier Generationen hinweg, die mir gerade während schwieriger Phasen meiner Laufbahn von unschätzbarer Bedeutung waren. Dass Kunstphilosophie und die Lehre vom Schönen tiefer reichen als der neuzeitliche Problemtitel der Ästhetik, ist nur allzu offensichtlich. Mein Freund Michael Stahl, dessen Buch ›Botschaften des Schönen‹ als eine der tiefsten Annäherungen an die griechische Kulturgeschichte auf mich Eindruck machte, hat mich auf die ingeniöse Deutung der griechischen Antike durch Gerhard Nebel hingewiesen. Sie ging in die Korrekturen und Modifizierungen des Manuskripts ein. 5 Der Begegnung mit Michael Stahl und seinen bereichernden Kommentaren in Kritik und Zustimmung verdankt dieses Buch sehr viel. Ebenso danke ich der Freundschaft mit dem Theologen Dr. Werner Neuer wichtige Hinweise auf die diaM. Stahl, Botschaften des Schönen. Kulturgeschichte der Antike. Stuttgart 2008; G. Nebel, Das Ereignis des Schönen. Stuttgart 1953.

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Vorwort

phane und theophane Dimension der Kunst. Ein gründliches Korrektorat danke ich Herrn René Kaufmann, M.A., Dresden. Das Buch hat drei Teile, die eine je spezifische Absicht verfolgen: im ersten Teil wird, wie in einem angelsächsischen Vertragswerk, die Klärung grundlegender Begriffe der Ästhetik unternommen. Im zweiten Teil werden besonders markante Knotenpunkte der Geschichte der Ästhetik in der Spannung zu den Kunstwerken thematisiert, in deren Gegenüber die Reflexionen ansetzen. Im dritten Teil wird ein von der philosophischen Ästhetik kaum je eingehend gewürdigtes Feld aufgeschlossen: Der Zusammenhang von Kunst und Gebrauchsdingen. Dabei ist dann die Rede von ›Design‹, Architektur, Lebensgestaltung. Für die Hörer und Hörerinnen der Vorlesungen sei, nicht nur pars pro toto, Frau Dr. phil. Franziska Thron gedankt, deren formale Intelligenz und musikalische Kunsterfahrung mir durch Jahre hindurch Nervus probandi für viele Thesen und Überlegungen gewesen sind. Wie das meiste, was ich in den letzten Jahren hervorgebracht habe, wäre auch dieses Buch nicht, oder zumindest nicht so, ohne die Präsenz meiner Frau Chris entstanden. Sie hat in grundlegenden Gesprächen und Revisionen diesem Buch mehr als jedem früheren ihre eigene und damit unsere gemeinsame Signatur aus vielen gemeinsamen Jahren eingeschrieben. Dass ohne Erfahrung des Schönen, nicht zuletzt ihre Affinität zum Eros, Schönheit nicht Teil der Reflexion werden kann und dass der Philosoph nicht vom Schönen sprechen sollte wie der Blinde von der Farbe, ist mein durchgehendes Credo. Ich hoffe sehr, dass das vorliegende Buch die Reflexion, aber auch die Präsenzspur dieser Glückserfahrung mitteilen kann. Geschrieben ist dieses Buch im Wissen um Lücken – als Kartographie zur Orientierung. Es müsste durch Einzelstudien instrumentiert und ergänzt werden. Vielleicht kommt es dazu. Gerade im Blick auf die Ästhetik gilt die Aussage von Schelling, die die gegenwärtige Philosophie nur zu ihrem eigenen Schaden vergessen mag: »Nicht, wie muss das Phänomen gewendet, vereinseitigt oder verkümmert werden, um aus Grundsätzen, die wir uns einmal vorgesetzt nicht zu überschreiten, noch erklärbar zu sein, sondern wohin müssen unsere Gedanken sich erweitern, um mit 14 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Vorwort

dem Phänomen im Verhältnis zu stehen«. Geschrieben ist dieses Buch in der Konzentration auf die für mich wesentlichsten Stimmen eines fast unendlichen Stroms. Deshalb begrenzen sich auch die Fußnoten auf das Nötigste und das Literaturverzeichnis gibt die Titel an die Hand, die mir besonders essentiell sind. Zur Notation: Nicht selten werden Leserin und Leser fremdsprachige Zitate oder Begriffe finden. Sie stammen vor allem aus dem Griechischen und dem Lateinischen. Dabei wurde nach Möglichkeit so verfahren, dass die Wiedergabe eines Terminus in Kleinschrift und einfachen Anführungszeichen erfolgt, wenn er unmittelbar einem Text entnommen ist. Wenn er der Sache nach in die eigene Darstellung integriert wird, ist ein solcher Begriff dagegen in die deutsche Syntax integriert. Harald Seubert

Nürnberg, München, Basel Frühjahr 2015

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Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

1.) Hans-Georg Gadamer schrieb vor Jahrzehnten über die »Aktualität des Schönen«: 1 Gemeint war damit das Wirksamsein der Schönheit, deren Erscheinen nicht nur im Werk gefangen ist, sondern eine eigene Energetik entfaltet. Noch elementarer soll hier gefragt werden, warum der Komplex des Schönen und der Kunst noch immer – oder heute erst recht – für die Philosophie Anstoß zu Reflexion und Quelle von Faszination ist. Während noch 1968 in Deutschland der ›Tod der Kunst‹ und das Ende der Fiktionen ausgerufen wurde, während die Reportage an die Stelle der fiktionalen Literatur treten sollte, das Soziogramm an die Stelle des Gedichtes, gingen künstlerische Avantgarde und Leben im roten Mai in Paris schon neue Verbindungen ein. »Fantaisie au pouvoir!« war das Votum. Der ›Tod der Kunst‹ erinnerte an ein älteres Hegelsches Muster. Im Sinn Hegels war indes nicht die Kunst tot. Nicht ihr tatsächliches Ende oder Verenden wurde verkündet. Hegel hielt nur fest, die Kunst könne nicht länger Ausdruck des Unbedingten und Absoluten sein. Die Verbindung zwischen Leben und Kunst ist seither in unerwarteter Weise in der Entwicklung der Künste in den Vordergrund getreten: Design und Inszenierung bestimmen in zuvor kaum gekanntem Maß Politik und Stilgefühl von Generationen. Marshall McLuhans Votum: »The medium is the message« hat visionär ein virtuelles Zeitalter eingeleitet. Je mehr die Netzrealitäten und Designs die Wahrnehmung bestimmen, umso kleiner und flacher ist die Welt geworden und umso kürzer der Aufenthalt in der Gegenwart. Die Umbrüche und Veränderungen reichen weiter als in vormodernen Zeiten, wenn die Virtualität den Taktschlag abgibt. Die Konturen zwischen ›Virtualität‹ H.-G. Gadamer, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest (1974), in: ders., Ästhetik und Poetik Band I. Gesammelte Werke Band 8. Kunst als Aussage. Tübingen 1993, S. 94–143.

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Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

und dem vermeintlich ›Realen‹ verschwimmen. McLuhan hatte das Schibboleth vor Augen, dass der Computer wie eine Prothese den menschlichen Leib verlängern würde. Dem freudschen Diktum vom Menschen als »Prothesengott« gibt dieser Gedanke eine unerwartete Anschaulichkeit. Und mittlerweile kann man mit guten Gründen von einer Prothetik für die gesamte Kultur sprechen. Medizinische und genetische Tendenzen zur Perfektionierung, ein Enhancement der ersten Natur machen den eigenen Leib zur Skulptur. Kunst kann in einem kaum gesehenen Ausmaß die Natur verändern. Dabei ist es bereits eine Diagnose der klassischen Moderne seit dem späten 19. Jahrhundert, dass das Gute und das Schöne nicht notwendigerweise miteinander einhergehen müssen. Es gibt eine Ästhetik des Hässlichen und des Bösen, wie sich vor allem von Baudelaire her zeigt. Dass ›Faszination und Terror‹ (H.-U. Thamer) auch realhistorisch eng zusammenhängen, darüber belehrt die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zu nennen sind nur die Ästhetisierungen totalitärer Politik, wie sie etwa in Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm ›Triumph des Willens‹ sichtbar werden. Diese selbe Geschichte belehrt auch darüber, dass Kitsch, wie schon Hermann Broch wusste, 2 keineswegs nur eine ästhetische, sondern zugleich eine moralische Kategorie ist. Die Monumentalität der Wolkenkratzer als Insignien des babylonischen Traums vom unbegrenzten Boom des Kapitalismus, die megalomanen rechteckigen Hochhaus-Quader des Stalinismus oder die zum großen Teil nur erträumten, nicht realisierten Kuppeln des NS-Faschismus sprengen alle Kategorien hergebrachter Ästhetik, auch die des Kitsches. Eine schauderhafte Faszinationskraft geht von der Kunst im totalitären Zeitalter in jedem Fall noch heute aus: von der Kälte und Inkommensurabilität des stalinistischen Erbes, die ein ästhetischer Psychoanalytiker wie Boris Groys mit dem Phallussymbol verglich, und von der dumpfen Schoßwärme des Faschismus, die derselbe Groys mit Brust und Schoß konnotierte. 3 Atavismus und Selbstüberholung der neuen Zeit berühren sich in diesen Hermann Broch, Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933), in: Broch, Schriften zur Literatur 2. Theorie. Frankfurt/Main 1975, S. 119 ff., siehe auch ibid., S. 158 ff.: Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches. Siehe für den weiteren Rahmenbezug: Broch, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik. Hier nach Frankfurt/Main 1979. 3 Siehe B. Groys, Topologie der Kunst. München, Wien 2003; vgl. auch ders., Das kommunistische Postskriptum. Frankfurt/Main 2005. Vgl. auch: B. Groys und 2

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Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

ungeliebten Vermächtnissen des 20. Jahrhunderts, wie den Aufmarschstraßen der Stadt der Reichsparteitage Nürnberg. Um ihren »Ruinenwert« (Albert Speer) taxieren zu können, kann man sie mit den zerstörten Städten und Wüsteneien konfrontieren, die der Dreißigjährige Krieg des 20. Jahrhunderts zurückließ. Es war eine bedrängende Frage nach 1945, wie die Kunst ihre Sprachen wiederoder neu finden kann, nachdem sie durch den Schlamm dieses Zeitalters gewatet war: überdauernd wie Beckett-Figuren, lachend, weil das Gräuel überlebt ist? Entstiegen die Künstler dem Sumpf nicht wie Grimmelshausens des 20. Jahrhunderts? Tradierte Formen waren verschlissen. Viele derer, die sich ihrer bedient hatten, waren zutiefst korrumpiert. Adornos berechtigtes Diktum, dass in der Kunst der Moderne nichts mehr selbstverständlich sei, ist nicht nur immanent ästhetisch, sondern auch in diesem konkreten Sinn zu thematisieren. Daraus wurden in dem besagten Menetekeljahr 1968, vor allem in seiner deutschen Spielart, moralistisch jakobinische Funktionalisierungen der Kunst. Wahr daran ist aber, dass eine jede heutige Ästhetik immer auch historisch und politisch dimensioniert ist. Dies kann jedoch gerade das Eigenrecht der Kunst, ihre Widerständigkeit und Präsenz herausfordern. Die jüngste Vergangenheit sah große, teils monströse Versuche einer politisierten Kunst: Bleiben werden, zumindest als historische Zeugnisse, die Selbstexperimente einzelner wie Sartre, die aus den ›Situationen‹ heraus Literatur, Kunst und Engagement nicht trennen konnten. Sie wussten, dass sie ihre Unschuld verloren und spielten mit diesem Verlust. Erst recht zeigt sich dies bei jenen, die wie der hoch sensible Georg Lukács ästhetische Maßstäbe einer Parteidoktrin opferten. Versuche einer auch reflexiven Verschmelzung der ästhetischen Avantgarde mit jener der Oktoberrevolution schlugen in den frühen zwanziger Jahren bereits fehl. Doch auch die Kunst um der Kunst willen verliert bei näherem Blick ihre Eindeutigkeit. Michael Stahl sprach jüngst von einer »anderen Moderne«. 4 Sie M. Hagemeister (Hgg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2005. 4 Ich zitiere hier nach dem ungeküzten Manuskript, in das mir der Verfasser freundlich Einblick gegeben hat: M. Stahl, Die andere Moderne. Schöpferische Erneuerung durch ästhetische Erziehung. Baden-Baden 2016 [im Erscheinen].

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Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

unternahm es, gegen die brechenden Dämme das bleibend und immer wahre Schöne wie Burgmauern eines ›ästhetischen‹, ›geheimen‹ Staates zu errichten: Abkühlung des Blickes, ornamentale Bannung, sei es in der kühlen Desinvoltura, der Nicht-Beteiligung von Ernst Jünger, sei es in der Konzeption einer Gemeinschaft (synousia) der Dichtung wie im Kreis um Stefan George. Dabei spielte die spannungsreiche Zwiesprache mit der antiken Welt, die ›Querelle des anciens et des modernes‹ in jedem Fall eine besondere Rolle. Auch jene zeitabgekehrte Moderne, die niemals heutig sein wollte, hat ihre Spuren hinterlassen. Die eine und die andere Moderne wird man jedoch nicht gegen einander ausspielen wollen. 2.) Das weltweite Netz hat nicht nur Kunstrichtungen und Tendenzen verschiedener Zeiten allverfügbar und -zitierbar gemacht. Walter Benjamins Diagnose von der ›Kunst im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit‹ ist damit in unerwarteter Weise überholt worden. Die ›Postmoderne‹ mit der These von der kulturellen Kristallisation rief letztlich das Ende von Epochenstrukturen überhaupt aus. Wenn nichts genuin Neues mehr möglich sein soll, nur noch Variierungen im Kristallgitter, so ist man eben im ›Posthistoire‹ angelangt, einem, wie Queneau im Anschluss an Hegel geschrieben hatte, permanenten Sonntag des Lebens und zugleich einem großen Stillstand. Die rasanten, mit quasi kunstreligiöser Haltung zur Kenntnis genommenen Umbrüche in der technologischen Welt aber – hier kann man exemplarisch an Steve Jobs’ Inventionen und Innovationen denken – könnten einem auf die Traditionen europäischer Kunst sensiblen Blick dennoch wie innovative Montagen und Permutationen erscheinen. Technische Künstlichkeit wird damit zur ästhetischen Transformation des Humanum. Dabei muss man nicht nur an das ›Enhancement‹ der Medizintechniker denken. Gender und Queer Studies nehmen den Leib und die menschliche Identität überhaupt als Einschreibefläche von Selbst- und Fremdentwürfen, die sich überkreuzen, erweitern, widersprechen. Mit der Gegenwartsschrumpfung und Virtualisierung wächst wiederum der Wunsch nach einem Aufenthalt in den Räumen der Vergangenheit, die auch der Gegenwart ein Gesicht zu geben verspricht. »Musealisierung der Gegenwart«, nannte Hermann Lübbe diese Dimension, die seit den achtziger Jahren in der Pflege des »kulturellen Gedächtnisses« und der Begründung einer Vielzahl von 20 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

Museen sich manifestierte. 5 In einer Welt der rasenden Virtualität wurde vor allem die alte Handwerkskunst von neuer, weil selten gewordener Attraktivität. In Holz und Stein gehauene Form, Skulptur und Bildwerk, aber auch der Gebrauchsgegenstand, der in seiner Sachgemäßheit zugleich schön ist, faszinieren die späte Moderne. Ob solche Gegenstände zur Kunst zählen oder nicht, scheint nicht mehr wichtig. So bemerkt Ernst Bloch beim Anblick eines alten Kruges, das sei zwar kein Kunstwerk, doch so könnte ein Kunstwerk aussehen. Und ein genialer Designer der Moderne wie Otl Aicher wollte nichts vom abgegrenzten Kunstbezirk wissen und sprach von sich als »Entwerfer«. Richard Sennett, der den Typus des ›flexible man‹ als Figur der globalen Welt thematisierte, hat wenige Jahre später der Einzigartigkeit des »Handwerks« ein sensibles Buch gewidmet. 6 Handwerk hat die Signatur des Originären angenommen und ist damit zum Prototyp der alten europäischen Traditionen geworden. Diese Seltenheit äußert sich schon darin, dass viele Techniken, die einmal weit verbreitet waren, kaum mehr beherrscht werden. Man muss weite Wege zurücklegen, um einen Zimmerer zu finden, der alte Fachwerkhäuser errichten oder restaurieren kann. Wagnerei oder Seilerei, aber auch der alte Bleisatz, dessen Druckbild doch einen beträchtlichen ästhetischen Mehrwert erzeugt, sind gesuchte Tätigkeiten geworden. Auch deshalb wird es sich empfehlen, die Frage nach dem Schönen weiter zu fassen als es gängig war, solange Traditionen sich wie von selbst verstanden. Dies bedeutet auch einzusehen, dass halb schon vergessene Traditionen Kategorien exponieren, die die veränderte Situation des frühen 21. Jahrhunderts lesbar machen können. Das eine ist in der gegenwärtigen Moderne nicht ohne das Andere. Man wird nicht die Authentizität hier der Virtualität dort monolithisch entgegenstellen: auf der einen Seite die Reste und H. Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. Berlin, Heidelberg u. a. 1992. Siehe fernerr ders., Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Berlin, Heidelberg, New York 1990. In ähnlicher Weise begreift dies die Kompensationstheorie von Odo Marquard, der zufolge Kunst, Philosophie und Religion, aber auch der weitere Rayon der Geisteswissenschaften das Sinndefizit der modernen wissenschaftlichtechnischen Zivilisation ausgleichen. 6 Siehe Richard Sennett, Handwerk, a. a. O.; vgl. auch im Gegenbild ders., Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 2005. 5

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Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

Trümmer eines untergegangenen Abendlandes, auf der anderen Seite die »brave new world« der Virtualitäten. Vielmehr durchkreuzen sich die Linien: Authentische Kunstwerke spiegeln auch im Antidotum jene virtuellen Welten, in deren Kontext sie – trotz allem oder gerade deshalb – entstehen. Schwarmintelligenzen ballen sich zusammen und werden vielleicht gerade dann signifikant, wenn sie auf das Authentische und das in den virtuellen Netzen nicht Abbildbare hinweisen. Wie Lebensformen des ›freien Künstlers‹ und Kompetenzen des Urhebers freilich in der Zukunft fortbestehen werden, das bleiben offene Fragen. Daher wird sich eine nicht weltflüchtige Ästhetik in der Gegenwart, die sich nicht soziologischen Reduktionismen beugt, aber soziologische Parameter durchaus berücksichtigt, immer wieder vor Paradoxa finden: In Zeiten, in denen im Zeichen der Wissensgesellschaft Invention und Innovation größer geschrieben werden als je zuvor, wird unter dem Signum des ›open access‹ die Verwertung produktiver Leistungen dem Urheber so weitgehend entzogen wie nie zuvor in der Geschichte der Neuzeit. Der ›auctor‹ droht leer auszugehen. Ein Marktgeschehen, das auch die Kunst umfassen soll, wirkt als Katalysator, Beschleuniger und Vernichter von Inventionen. Unmöglich wird unter der Hand, was nicht den Marktkriterien entspricht. Die Suche nach Authentizität und dem alten Handwerk dürfte auch darin ihre Wurzel haben, dass manches ein für alle Mal zu vergehen droht. In der Welt der neuen Inventionen wird auch viel Hässliches und Gemeines kreiert: eine weltumspannend gleiche Popkultur mit wiederkehrenden, auf schlichteste Weise produzierten Tonfolgen, ebenso wie die Betonalbträume von Großstädten, eine Typisierung von Häusern und Haustypen, die der ›Kolonisierung der Lebenswelten‹ ihre äußerliche Entsprechung geben. Und nicht zuletzt ist die Zeit der Allverfügbarkeit und -zitabilität im Netz auch eine Epoche umfassenden Vergessens. Der im Gedächtnis verfügbare Kanon klassischer Kunst und Literatur schmilzt zusammen. Allenfalls filmisch bleibt er noch präsent und in Mythen, die nie vergehen. Lustlosigkeit, sich auf Allusionen, abseits von Selbstrekurrenzen im Film, einzulassen, nüchtern kommentierte Umfragewerte, wonach es ›out‹ sei, klassische Literatur überhaupt noch zu kennen, deuten auf ein Abreißen des Fadens hin, das endgültig zu werden droht. Konservativ kulturkritische Klagen und Träume helfen nicht weiter. Wo aber sollte der popularisierte Traum von ästhetischer Bildung noch ansetzen? Es mag sein, dass 22 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

im geschichtsphilosophischen Verlauf unumgänglich Rebarbarisierung auf das Ende der Avantgarden folgt. Dennoch ist der Zusammenhang von Kunst und Paideia, wenn er auch nur vereinzelt in elitären Sonderkulturen überdauert, zu wichtig, um ihn einfach preiszugeben. Man denke an die Diagnose von Schiller: »Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? […] der Tat nach möchte man ihn wohl nur […] in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden […]« (Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 27. Brief, letzter Absatz). 3.) Tieferliegend ist die noch immer virulent diskutierte Relation zwischen Kunst und Religion. »Es hilft nichts, die Knie beugen wir nicht mehr«, so hatte Hegel das Ende der Kunstreligion thematisiert, die ihren Höhepunkt, Hegel zufolge, im klassischen Zeitalter der Griechen hatte. Und T. S. Eliot respondiert im 20. Jahrhundert: Wenn man Religion habe, so habe man »the real thing«. Die Kunst könne diese schlechthinnige Realität doch nur imitieren. Doch auch hier wird man mit Paradoxa balancieren müssen. Denn zumindest in der Moderne trat, als die Religion ihre Bindekraft verlor, Kunst vielfach an ihre Stelle. Dies zeigt sich exemplarisch in der Romantik. Eliot wäre, contre coeur, auch so zu verstehen, dass »the real thing« gar nicht anders als im Schein zu haben ist. Dass dies freilich auch bedeutet, dass Kunst nicht nur in Konstruktionen und Projektionen zu fassen ist, sondern dass sie – wie sehr von aller Naivität auch immer gereinigt, doch zu »realer Gegenwart« vordringt, eben dies hat George Steiner in die Form der Meditation über die Frage gebracht, ob und inwieweit »unser Sprechen Inhalt« habe. 7 Die Aktualität des Schönen und der Kunst ist daher, auch wo sie nicht explizit thematisiert wird, im Folgenden Stachel der Überlegungen. Deshalb fragen sie nach Kunst und gerade nicht nach den Symbolisationsformen einer spezifischen Kultur. Im Spiegel der Werke der Kunst, die ich erinnere, geht es primär um die Genealogie des Schönen in Europa. Wenn die Gegenküsten am Rande mit wahrgenommen werden, so doch eher als Kontrast und Gegen- oder Nebenbild. Es steht zu hoffen, sicher ist es jedoch keineswegs, dass dies 7

G. Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990.

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Präliminiarien: Der Ausgangspunkt

nicht eine Abschiedsgeschichte ist. Das technokratisch fantasielos gedachte Europa fingiert auf seinen Geldscheinen und Münzen die Brücken und Bauwerke, die sein Antlitz prägen. Sie sind durch die Computersimulation verwischt. Besonders kenntlich sind sie nicht mehr. In der Vergangenheit dagegen wurde stets durch Personen, Herrscher, große Denker und Erfinder die Identität versinnbildlicht. Demgegenüber ist die neue Dürftigkeit mit Händen zu greifen. Was das Schöne war, was es sein kann: davon zu erzählen und dies zu reflektieren, scheint alles andere als müßig zu sein.

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Einleitung

1.) »Das Schöne ist nur durch die Schönheit schön, alles andere macht mich nur verwirrt«, 1 heißt es in einem Platonischen Dialog. Und Goethe notiert in seinen Aufzeichnungen ›Der Sammler und die Seinigen‹ : »›Können Sie mir sagen, was Schönheit sei?‹ […] ›Vielleicht nicht‹, versetzte ich, ›aber ich kann es Ihnen zeigen!‹« 2 Die platonische Aussage zeigt an, dass Schönheit auf eine nichtsinnliche Grundgestalt zurückgeführt werden kann, die Idee, die sich aber in den einzelnen schönen Erscheinungen manifestiert. Sie strahlt auf, wenn immer in einer sinnlichen Gestalt ihr Glanz erfahren wird. Zwischen Erscheinung (Phänomen) und Realität gibt es, wie Platon zeigt, keinen Bruch. Das erscheinende Schöne ist zugleich seine Idee. Bei Kant liest man es anders, nämlich im Licht der reflektierenden Subjektivität der Urteilskraft. »Es ist schön!«, ist ein Urteil, das Begründungen weder erfordert noch zulässt. Es ist evident und gewiss. Es wird mit Allgemeinheitsanspruch geäußert. Zugleich ist es subjektiv. Kant versucht von hier her die genauere Bestimmung des Schönheitsurteils freizulegen, das ein Urteil eigener Art ist. Schönheit ist eine Idee ohne Begriff, die sich in unendliche Variationen auseinanderlegt. Kant begreift sie als ein Spiel der Gemütskräfte von Einbildungskraft und Verstand. In Platons Aussage klingt an, dass Kunst nicht als Mimesis von endlichem Seiendem begriffen wird, sondern als eine Mimesis des Absoluten (Hegel), Göttlichen. Von ihm zu sprechen, es zur bildlichen Darstellung zu bringen, spielt sich immer an der Grenze der Darstellbarkeit ab. Kant hat diese Dimension entschärft, wenn er Schönheit auf die 1 2

Platon, Phaidon 100 d. Goethe, Der Sammler, GA XIII, S. 286.

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Einleitung

Konstitution durch die Wahrnehmung des Betrachters konzentriert. Dennoch kommt auch noch bei ihm, am Ende der Behandlung der teleologischen Urteilskraft, der intellectus archetypus Gottes ins Spiel. Damit berührt sich die Frage nach dem reinen Schönen mit der Sphäre der Religion. 3 An einem eminenten Kunstwerk der Prämoderne wird nahezu unfehlbar sinnfällig, dass es aus dem Kultus hervorgegangen ist. Auch daher rührt der auratische Charakter der Kunstwerke, dies, dass sie doch ›the real thing‹ sind. 4 Doch schon die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Ästhetik ist alles andere als klar. Aisthesis, Wahrnehmung, dieser grundlegende Begriff zielt, wie der Begriffsgebrauch ›transzendentaler Ästhetik‹ in der ersten kantischen Kritik anzeigt, auf die Bedingungen aller Erfahrung: auf Raum und Zeit. Als strittige Linie durch die Theoriegeschichte der Ästhetik zieht sich aber damit die Frage, ob sie es mit dem schönen Gegenstand zu tun hat, ob es darum geht, die Objektivation des Kunstwerks oder des performativen Aktes in Gedanken zu fassen. Die andere Option hat Kant verfolgt. Die Sache der Ästhetik ist demnach die Bestimmung der Gemütskräfte, die sich, durch einen als schön befundenen Gegenstand von Kunst oder Natur initiiert, in ein freies Spiel bringen: eine spezifische Betätigung der Subjektivität, die das Urteil ›Etwas ist schön‹ begleitet. 5 Nietzsche hat in polemischem Sinn eine ›weibliche‹ Ästhetik des Genießens als Zeichen der Dekadenz eines bürgerlichen Zeitalters desavouiert und von der männlichen ›Artistenmetaphysik‹ unterschieden, dem über die erste Natur und ihr Leiden hinausgehenden Schaffen. Nur die letztere habe plastische Kraft. Nur sie könne zeigen, dass die Kunst das Leben erträglich macht, dass ohne sie, zumal ohne Musik, das Leben ein Irrtum sei. 6 Dazu u. a. R. Löw, Über das Schöne. Warum das Schöne schön ist. Stuttgart und Wien 1994, siehe zu dem Problem auch: H. Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München 2005. 4 Vgl. R. Spaemann, ›Kunst ist immer Simulation‹. Gespräch der Herausgeber mit Robert Spaemann, in: Joachim Ritter, Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik. Herausgegeben von Ulrich von Bülow und Mark Schweda. Göttingen 2010. Marbacher Schriften. Neue Folge 6, hier S. 179 ff., insbes. S. 194 f. 5 Dazu D. Henrich, Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehten – Kunst. München 2001. 6 Vgl. Kritische Studienausgabe (KSA) Band 1, S. 23 ff. Dazu auch: M. Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Weltanschauung. Stuttgart 1998 und: ders., 3

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Einleitung

Sobald ästhetische Theorien selbst konkrete Kunstwerke in den Fokus nehmen, wie es vor allem in den großen ästhetischen Systemen der klassischen deutschen Philosophie mit Schelling, Hegel, Schleiermacher, den Brüdern Schlegel beginnt und wie es sich im Fokus des 20. Jahrhunderts mit Heidegger und Adorno fortsetzt, ergreifen sie nicht einseitig für das schaffende Subjekt Partei, so wie dies Nietzsche nahelegt. Vielmehr denken sie in der Spannung zwischen Schaffenden und Wahrnehmenden. Heidegger spricht von der Gebrauchsdimension der Kunst, dem Aufenthalt bei den Werken. Dass das Schöne in das Zentrum ästhetischer Reflexion rückt, versteht sich nicht von selbst. Seit der späten Antike wird an seine Seite die Kategorie des Erhabenen gerückt. Im 18. Jahrhundert und zuletzt wieder in der Moderne des 20. Jahrhunderts (Lyotard) widmet man ihm hohe Aufmerksamkeit. Das Erhabene entzieht sich Form und Gestaltung. Es ist daher auch das Schreckliche, oder zumindest das erschreckend Erstaunliche, Irreguläre, an dem in einer vorläufigen Bannung im Kunstwerk oder an Naturphänomenen wie den hohen Gebirgen und dem offenen Ozean eine den Menschen überwältigende Macht sichtbar wird. Rilke schreibt deshalb einmal: »Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang«. Das Erhabene zeigt deutlicher als alle Schönheit seine Nähe zum Bereich des Numinosen. Die Grenze zwischen Endlichem und Absolutem, Göttlichem, Dämonischem, die Frage von Darstellung und ihrer Grenze bricht an der Kategorie des Erhabenen jäh auf. Auch die ›schuldlose Schuld‹ (hamartia), das Lernen durch Leiden, wie es Gegenstand der antiken Tragödie ist, dürfte sich weniger in Kategorien der Schönheit, sondern vielmehr im Erhabenen manifestieren. Das Erhabene ist zugleich das Sublime (so der griechische Begriff: ›hypsos‹ ; und der lateinische: ›sublimis‹). Es deutet über die sinnliche Anschauung hinaus auf das Selbst, das sich am eminenten Kunstwerk selbst gewahr wird. Die Einsicht in die physische Unterlegenheit verweist gleichsam symbolisch auf den Menschen als noumenales und sittliches Wesen zurück. Die Moderne geht über das Erhabene noch einmal hinaus auf eine eigene Ästhetik des Hässlichen. In ihr kristallisiert sich die FasVorspiele zur ewigen Wiederkunft. Nietzsches Grundlehre, hgg. von Harald Seubert unter Mitarbeit von Friedemann Sprang. Wien, Köln, Weimar 2012.

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Einleitung

zination angesichts des Abstoßenden und des Grauens. Baudelaires ›Blumen des Bösen‹ exemplifizierten dies mit besonders weitreichender Wirkung. Auch in diesem Bereich rührt Kunst an Religion: in der Darstellung des Todes, der Verwesung, des Verfalls, der selbst seine Blumen und Arabesken aus den Kadavern hervortreibt. Die Moderne hat auf dieser Klaviatur besonders virtuos zu spielen gewusst, von Gottfried Benns ›Morgue‹-Gedichten, deren Anlass das Pariser Leichenschauhaus ist, dem Zerfalls-Topos bei Trakl bis hin zu Josef Winklers Todes-Szenarien. Baudelaire eröffnete diesen Totentanz in virtuoser Verbindung von Schrecken, Schönheit, Amoralität. Das Schreckliche kann, etwa im Schrei, eingefroren werden, ohne dass eine Verklärung durch Erhabenheit geschieht. Munchs gleichnamiges Bild ist eine Inkunabel, ein Bann dieser Zusammenhänge. Die Verbindung des Schönen zum Amoralischen und Grauenhaften ist allerdings, gegen den Anschein, offensichtlich keineswegs nur ein Moderne-Phänomen: Die christliche Kunst des Mittelalters, namentlich in der Gotik, setzt sich derselben Grenze aus. Und sie tut es nicht zufällig und ohne Grund. Gipfelt doch die Menschwerdung Gottes gerade nicht in der Verkörperung in einer schönen, vollkommenen Gestalt, sondern im Tod am Kreuz, also in radikaler Entbildlichung und Kenose. »Da war kein Bild und Anschein, die uns gefallen hätten«, heißt es in den Gottesknechtsliedern des Propheten Jesaja. 7 Der leidende, sterbende, gemarterte Mensch, in dem christlicher Glaube die Gottheit Gottes noch im Letzten realisiert sieht, ist in den Martyriologien des Mittelalters die eigentliche Darstellung des Heiligen. Man kann auch hier an eine spezifische Inkunabel denken, den Isenheimer Altar. Dies führt zu einer Kunst, die sich schönem Anschein und freiem Spiel notwendigerweise entzieht. Die Schönheit in Schmerz und Schrecken, die kenotische Kunst, scheint dem christlichen Kerygma allein angemessen. In der Leidensdarstellung variiert und bricht christliche Kunst das Bilderverbot anderer monotheistischer Religionen, vor allem im Judentum und im Islam. Sie stellt dar und zeigt, um zugleich zu signalisieren, dass kein Zeichen und keine Darstellung angemessen sind. Dabei sucht sie zugleich nach der ›vera eicona‹, die im Namen der ›Veronika‹ nachklingt, die das Schweißtuch mit den umgekehrt im Leichentuch eingeprägten Zügen des sterbenden Christus aufbewahrt haben soll. 7

Jesaja 52,12–53,13.

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Einleitung

Dieses erste und einzig wahre Abbild, in dem sich das Urbild invers einprägt, kann nach Auffassung des Glaubens nicht von Menschen hervorgebracht sein. Es ist erste Manifestation des numinosen Antlitzes, in das sich die Gottheit Gottes selbst einzeichnete. Das Bilderverbot der monotheistischen Religionen ist zugleich ein Schweigegebot. Es verbietet, den Namen des Einen, Heiligen auszusprechen – ein Problemzusammenhang, der säkular in der ästhetischen Moderne und der Krise, auf die sie reagiert, wiederkehrt: das zu-Wort-Kommen am Rand des Schweigens, jenseits einer mimetischen Darstellung. Von den hier berührten Phänomenen her erhebt sich die weitergehende Frage, ob überhaupt der Bezirk dessen, was schön oder erhaben sein kann, eindeutig abzuzirkeln ist. Diese Grenzsetzung verläuft in Analogie zur Abgrenzung zwischen Heiligem und Profanem in der Religion. Gerade in der Moderne werden in bemerkenswerter Affinität zu kultischer Kunst ›Dinge‹ evoziert, die nicht als Kunstwerke intendiert waren; so der viel zitierte alte Krug, der sowohl Bloch wie Heidegger vor Augen stand. 8 Als eine weitere, in der Ästhetik immer wieder erwogene Grenzfrage erweist sich dabei, ob Natur Ort des Schönen und Erhabenen sein kann, ob sie überhaupt in die Sphäre der Ästhetik gehört. Es gibt den klassischen Topos von der Kunst als Imitation (Mimesis) der Natur. »Die Kunst steckt in der Natur. Wer sie heraus kann reißen, der hat sie«, so hat es Dürer gesagt, und noch Goethe hat Kunst als »Auslegerin der Natur« bestimmt. 9 Schelling vertieft diesen Ansatz, wenn er in Umkehrung der tradierten Mimesis-Verhältnisse festhält, Natur sei eigentlich Nachahmung der Kunst, weil sie den Logos, die inneren Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Welt herauspräpariert und diese unsichtbare innere Idee sichtbar macht. E. Bloch, Der Geist der Utopie. Berlin 21923, S. 5 ff., dazu Adorno, Henkel, Krug und frühe Erfahrung, in: Ernst Bloch zu Ehren. Beiträge zu seinem Werk, hg. von S. Unseld. Frankfurt/Main 1965, S. 9 ff., und M. Riedel, Krug, Glas und frühe Begegnung. Zum Auftakt von Blochs Philosophie, in: J. R. Bloch (Hg.), Perspektiven der Philosophie Ernst Blochs. Frankfurt/Main 1997, S. 225 ff. 9 Zu dem Topos in Gesprächen mit dem Kanzler von Müller und seinem Sinn vgl. M. Riedel, Kunst als ›Auslegerin der Natur‹. Naturästhetik und Hermeneutik in der klassischen deutschen Dichtung und Philosophie. Köln, Weimar, Wien 2001, insbes. S. 135 ff. Vgl. zu dieser Konzeption auch klassisch: Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur (1807), in: ders., Texte zur Philosophie der Kunst. Herausgegeben von Werner Beierwaltes. Stuttgart 1982, S. 53 ff. 8

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Nachdem Hegel in seiner Ästhetik das Naturschöne von vorneherein aus der Sphäre des Schönen ausgeschieden hatte, weil Schönheit im emphatischen Sinn des Ingeniums des Geistes bedürfe, zeigte erstmals Heidegger wieder, wie die ›physis‹, verstanden als das aus der Verborgenheit (aletheia) sich entbergende Sein, in der ›techné‹ der Kunst ins Werk gesetzt wird. 10 Und auch Adorno entnimmt den ersten, gleichsam ein Anders-sein-können ansinnenden Atemzug der Kunst den Augenaufschlägen der Natur. 2.) Ästhetik als Disziplin ist ein Kind der Neuzeit. Die Frage nach dem Schönen ist dagegen so alt wie die Philosophie. Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) forderte eine Ästhetik als »eine neue erst auszubildende Wissenschaft«. Schlagend ist, wie schnell sie ihren Siegeszug antrat. In Frankfurt an der Oder hält Baumgarten 1742 die erste Ästhetik-Vorlesung. Schon 1804 kann Jean Paul dann sagen: »Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Aesthetikern.« 11 Jene Situation in den deutschen Kleinstaaten und ihrer Weltkultur steht in einem europäischen Kontext, in dem Ästhetik zunehmend neben die Logik als Grundlinie theoretischer Erkenntnis trat, um sich von ihr zu emanzipieren. Gegenüber der philosophischen Erkenntnis wird der Kunst die wichtige Rolle zugesprochen, dass sie es sei, die das menschliche Maß zu wahren hätte. »Wenn man den Philosophen als einen Fels vorstellet, der bis über die Hälfte in Wolken gehet, so vergisst man den Menschen«. Diese Defizitanzeige führt zu einer Emanzipation der sinnlichen Vermögen gegenüber der Strenge rein logischer Distinktionen. Allerdings wird die Ästhetik in der rationalistischen Aufklärung noch als ›analogon rationis‹ vorgestellt, als eine ›gnoseologia inferior‹. 12 Ihre erkenntnistheoretische Dignität bemisst sich also nach dem Maßstab der Ver-

M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege. Frankfurt/ Main 1950 u. ö., S. 7 ff. 11 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Sämtliche Werke Band I/5. München 41980, S. 22. Diese Aussage war aber offensichtlich ein Allgemeinplatz, der auch andernorts, etwa in den Halleschen Jahrbüchern, kursierte. 12 Zur begriffsgeschichtlichen und topologischen Problematik vgl. W. Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft. Göttingen 2001. Siehe zu Baumgartens Begriffsstruktur auch Baumgarten, Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben von Dagmar Mirbach. Hamburg 2007. 10

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standesbegriffe. Erst Kant wird das in seiner dritten Kritik korrigieren. Man hat in den Anfängen neuzeitlicher Ästhetik zugleich eine kompensatorische Tendenz erkannt, so etwa Joachim Ritter. Von einer ›Metaphysik des Schönen‹ kann gesprochen werden, weil Welt in ihrer Vollkommenheit (perfectio) im Schönen der Kunst nach wie vor dargestellt werden kann, obgleich die ›zerlegenden Wissenschaften‹ durch den scharfen mikrologischen und makrologischen Blick, der mit Hilfe von Mikroskop und Teleskop möglich geworden ist, zunehmend eine solche Totalität obsolet scheinen lassen. Der Dichter kann weiterhin sagen, »dass die Morgenröte aus dem Meere hervorsteigt«, auch wenn dies keine durch rationale Verstandeserkenntnis gedeckte Rede ist. Die Repräsentation des Alls, die mit Schleiermacher als Proprium der Religion beschworen wird, hat auch in der Ästhetik ihren Ort. Fern sind da freilich noch Zeiten, in denen Vivisektion, Zergliederung, Zerschlagung von Ganzheiten die ästhetischen Verfahrensweisen bestimmen. Diese Entzauberung des Kunstwerks setzt die Reproduktionsmechanismen der Moderne voraus. Damit wird auch jene sakrale Dimension in Frage gestellt, die in der Vorstellung vom Künstler als Genie und als ›anderem Gott‹ seit der Renaissance ihre feststehenden Topoi hatte. Im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist das Kunstwerk, wie Walter Benjamin konstatierte, gleichsam omnipräsent. Der Preis ist freilich hoch. Denn zwischen Original und Reproduktion ist nicht mehr zu unterscheiden. Robert Spaemann konstatierte im Jahr 2000 in einem Vortrag: »Die Kunst war es, die den Weg zur Virtualisierung der Realität gebahnt hat. Aber die Kunst ist es nun auch, die als erste das auf diesem Weg Verlorene, die Wirklichkeit zu erinnern beginnt. In einer immer virtueller werdenden Welt übernimmt sie es, die Kostbarkeit des Seins darzustellen.« 13 Moderne Kunst übernahm jedenfalls, so ließe sich im Blick auf Kandinsky, Beuys oder auch Anselm Kiefer sagen, lange Zeit »eine quasi sakramentale Funktion. Sie macht etwas unsichtbar, damit es als wirklich erinnert wird. In einer Fassadenwelt übernimmt

R. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus, in: A. von Schirnding (Hg.), Was heißt ›wirklich‹ ? Unsere Erkenntnis zwischen Wahrnehmung und Wissenschaft. München 2000, S. 13 ff., insbes. S. 32 ff.

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Einleitung

sie es, die verlorene Wirklichkeit als unsichtbare zu vergegenwärtigen. Sich auf die Wirklichkeit einlassen, heißt, sich auf das Unsichtbare einlassen.« 14

Ibid., S. 33 f. Dazu jetzt auch: J. Ritter, Vorlesungen zur philosophischen Ästhetik, hg. von U. v. Bülow und M. Schweda. Göttingen 2010.

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ERSTER TEIL:

Fixpunkte

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ERSTES KAPITEL:

Begriffe, Positionen – oder: ›Aesthetica in nuce‹

1.) Unter den geprägten Begriffen der Philosophie der Kunst, vor aller Unterscheidung zwischen der neuzeitlichen Ästhetik und älteren Formen einer Metaphysik des erscheinenden Göttlichen, ist ›Schönheit‹ der augenfälligste und naheliegendste. Doch Schönheit ist nicht exklusiv der Kunst vorbehalten. Das Epitheton kann auf Menschen zutreffen, auf Landschaften, aber auch auf Gedanken und Haltungen. Keineswegs ist dieses Epitheton schon eingelöst, wenn harmonische Form und ein arithmetisches oder stereometrisches Gleichmaß besteht. Den ›goldenen Schnitt‹ würde man noch nicht als ›schön‹ bezeichnen, sondern als eine ingeniöse Entdeckung von Proportion. Und die Regularität eines Gesichtes oder von Leibformen, die evolutionistische Erwartungen weitgehend erfüllen, nennt man auch keinesfalls schon ›schön‹. Um legitimerweise von Schönheit zu sprechen, muss ein Überschuss eintreten, der – je nach der Denkepoche und dem in ihr dominierenden Theorierahmen – als göttlicher Glanz oder als die Ungewissheit eines ›je ne sais quoi‹ bezeichnet worden ist. Schönheit stellt sich dabei als Wechsel zwischen Regularität und Abweichung von jener Regularität ein. Man hat seit alters eine Sogkraft mit der Schönheit verbunden, der denjenigen, der von ihr in Beschlag genommen wird, nicht mehr loslässt. Schönheit nimmt damit eine Zwischenposition zwischen subjektiver Empfindung und über-subjektiver Gegebenheit an. Dass etwas schön ist, ist nicht begrifflich zu demonstrieren. Zugleich ist damit aber mehr angezeigt als nur subjektive Gefälligkeit. Kant hat diese Ambivalenzen ausgelotet. Man kann abgelöst vom kantischen Kategorienapparat aber sagen, dass das Schöne das Subjekt über sich hinausführt oder in seinen Grund verweist. Vom Schönen geht eine Selbstgewissheit aus. Mitunter manifestiert sie sich in einer Form der Ekstatik, die der religiösen und erotischen Erleuchtung verwandt ist. Anders als in beiden Verhältnissen ermöglicht das Schöne, jedenfalls 35 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

1 · Begriffe, Positionen – oder: ›Aesthetica in nuce‹

sofern es auf die Hervorbringungen und Entwürfe eines genialen Geistes zielt, eine Artikulation, einen Disput, ein Abwägen und Beibringen von Gründen, die man als ›kritisches Vermögen‹ bezeichnet. Dies dürfte Natur- von Kunstschönheit unterscheiden. Naturschönheit ist solchem Abwägen weniger zugänglich, was aber keineswegs dazu berechtigt, sie aus dem Kanon des Schönen auszugliedern. Man wird in der modernen Kunst nicht nur die Verbindung des Wahren und Schönen mit dem Guten Revisionen unterzogen finden. Es gibt auch Formen, die im klassischen Sinn gerade nicht als schön gelten: kristalline Gebilde oder Wucherungen; Verdrängtes aus Unter- und Zwischenwelten, denen nun die Lizenz gegeben wird, als schön zu gelten. Man sollte deshalb nicht allzu rasch vom Schönen zum Guten ausweichen, nicht zu rasch vom Schönen als ›Symbol des Sittlichen‹ sprechen. Das Schöne ist zweckfrei. Deshalb wurde es mit dem Spiel in Verbindung gebracht. Es lässt von Interessen absehen. Gerade darin hat es entlastende und humanisierende Wirkung. Wenn Kants Bestimmungen insofern berechtigt sind, so widerlegt dies doch nicht Nietzsches auf Stendhal zurückgreifendes Votum, das Schöne sei ›une promesse de bonheur‹. Es eröffnet das Versprechen eines anderen, besseren Lebens: sei es in die Zukunft gerichtet, in einer Ästhetik des Vorscheins, wie sie Ernst Bloch konturierte; oder sei es im Rückblick auf die Kindheit als das Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann, wie sie Adorno bewahrte. In der Verbindung von Regularität und Irregularität kann in der alle Einzelheiten umfassenden Integration des Schönen auch Widerständiges, können Missklang, Disproportion oder eine nackte Materie, die sich der Formung und Gestaltung entzieht, mitschwingen. Die ›gegenstrebige‹ oder ›aus dem Entgegengesetzten tönende‹ Harmonie, von der Heraklit spricht, bezeichnet eben den Gegenhalt zwischen Harmonie und Musikalität einerseits, Schmerz und Tod anderseits, wie er sich exemplarisch am Pestgott Apollon zeigt, der zur Gottheit der Schönheit entsühnt wurde. Das Schöne kann Ende des Schrecklichen sein oder, wie in Rilkes Vers, auch sein Anfang. Im Schönen zeigen sich Einzigartigkeit und Singularität. Wenn es auch aus den Wiederholungen ritueller Akte hervorgegangen ist, so haben seine Säkularisierungen doch eine explizierende Bedeutung. Sie pointieren Individualität und fragile Vergänglichkeit des Schönen. Schönes ist selten; zumal es der Disposition des Augenblickes bedarf, 36 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

1 · Begriffe, Positionen – oder: ›Aesthetica in nuce‹

des Kairos, um die schönen Gestalten auch in ihrer Einzigkeit zu würdigen und wahrzunehmen. So lagert sich ums Schöne mitunter Melancholie. Es ist wie die glückenden Augenblicke der Liebe zu tief und erfüllend, um sich in die Kontingenz und Sterblichkeit der Existenz zu fügen. Man wird sich deshalb fragen: Wie lange kann dies anhalten? Das Vollkommene muss früh vergehen, um mit der disparaten Welt zusammenzustimmen. Und was Epikur vom Schmerz verheißen hat, das trifft auf die ekstatische Schönheitslust ebenso zu. Bei langer Dauer hat man mit abnehmender Intensität zu rechnen. Sei es durch den Grad der Wirkung selbst, sei es durch Gewohnheit. In der poietischen, produktiven Weltgestaltung wird menschliche Endlichkeit überwunden. Diese kreatorische Produktivität zehrt aber, im Sinn der alten Künstlermetaphysik, am Leben. Dem Zirkel war deshalb der Totenkopf beigegeben. Lust und tiefes Leid besingt die Lyrik der Romantik als Embleme der ›hohen Kunst‹ ; und der Teufelspakt, der vom Leben nimmt, was er an Ausdrucksmacht schenkt, trifft – wie Thomas Mann sinnbildhaft gezeigt hat – wohl noch mehr das Problem des Künstlers als die Rolle des gelehrten Weltentschlüsslers, die Goethe seinem ›Faust‹ vorbehalten hatte. Von Schönem kann man gewiss nicht abgelöst von der sinnlichen Wahrnehmung sprechen. Dennoch greift es über die sinnliche Fassbarkeit hinaus: Das ›je ne sais quoi‹ deutet darauf hin, dass in der sinnlichen Evidenz ein Geheimnis bleibt. Das Schöne wird deshalb im Mittelalter unter die Transzendentalien gefasst. Es tritt gleichberechtigt und vollkommen konvertibel neben das Gute und Wahre. Schönheit hat einen ideativen Sinn, in dem aber gleichsam apriorisch die sinnliche und die die Sinnlichkeit transzendierende Dimension eine Koinzidenz eingehen. Dies fordert eine Denkform ab, die der gängigen Klassifizierung und der Summierung des Einzelnen unter Gattung und Art nicht zuträglich ist, wie sie sich die theoretische Philosophie in der Folge von Aristoteles zur Gewohnheit machte. Im einzelnen schönen Phänomen und seiner Evidenz erscheint die Idee. Sie erscheint aber eben nicht als Allgemeinbegriff, sondern als einwohnende Konstellation. Schönes und Schönheit führen also gleichsam zur Koinzidenz des Einzelnen und des Universalen der Idee. 2.) Wie man weiß, war der griechische Begriff für Kunst mit der Bezeichnung für Handwerk identisch. Das eine wie das andere hieß 37 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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›techné‹. Wenn man den Werkcharakter der Kunst betont, so bleibt der Charakter des ›factum est‹, nach den Maßstäben einer überlieferten Tradition bestimmend. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Meister und eine Anonymität, in der der einzelne Künstler hinter die Werkstättentradition zurücktreten konnte, kodifizieren diesen Zusammenhang. Bewundert wurden die antiken Künstler nicht als geniale Schöpfer, sondern weil sie mit Mitteln ihrer Kunstfertigkeiten das Leben erwecken konnten. Niemand aus der Jeunesse dorée wollte Phidias gleichen. Gleichen wollte man Phidias’ Gestalten. Das große Kunstwerk ist nicht in sich abgeschlossen. Dies war schon eine sehr alte Überzeugung. Es eröffnet einen Deutungs- und Lebensraum. Auch dafür hat die griechische Philosophie die ersten Begriffe geprägt. Ergon und Energeia: Hier das Produkt, dort die sich fortsetzende Bewegung, die von ihm ausgeht. Damit verbindet sich die Relation von Poiesis und Praxis; dem Herstellungsakt auf der einen Seite und dem Handlungsvollzug zum zweiten, der Teil einer Lebensform ist. Wenn man nahe an ein Bild herantritt, so sieht man die dunklen, aus Dreck und Erdschwere bestehenden elementaren Bestandteile der Farbe. Aus diesen Partikeln setzen sich Linienzüge der Darstellung zusammen, die nicht nur mimetisch abbilden, was das Auge von der Außenwelt sieht, sondern die dessen Außenhaut durchbrechen und auf die innerliche Form hin transparent werden lassen. In Literatur und Dichtung geschieht eine ähnliche Verwandlung: Worte, die in Alltags- und Fachsprachen ihre spezifische, oftmals abgeschliffene Semantik haben, können sich im Sprachkunstwerk zu magischer Weltbenennung erneuern. Nennkraft, aber auch Verschweigen der Sprache reflektieren das staunende Weltverhältnis. Dies zeigt sich an Sprachschöpfungen wie der Metapher in eminenter Weise. Die neuartigen Worte der Dichtung können Anfänglichkeit ausdrücken, sie vermögen zu vergegenwärtigen und insofern Zeit zu tilgen. Sie haben aber auch die Fähigkeit, die Gebrochenheit des Erinnerns sinnfällig zu machen. Musikalische Klangwelten entstehen aus abbreviativen Bezeichnungen für mathematische Proportionen, die gemeinhin abstrakt bleiben. Bei allen epochalen Veränderungen gibt es dabei eine erstaunliche Kontinuität der »Mimesis des Absoluten«. Die Preisgabe der Zentralperspektive hat es erlaubt, den inneren Kern der Dinge in verschachtelter und faszinierender Vexiersprache zu verschlüsseln, 38 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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und die synästhetischen Aufhebungen aller Grenzen zwischen den Kunstformen haben seit der Romantik eine Perzeption nahegelegt, die nicht auf klare Grenzen der Gestaltung abzielt, sondern auf das ›Apeiron‹, das unendlich Offene und Verwobene des Alls, in dem Hören, Sehen, Schmecken eins werden. Das Zerbrechen der Formen, die Bewegung der Malerei, die als ›Abstraktion‹ in die kunstgeschichtlichen Annalen einging, zielte gerade auf das DiaphanWerden jenes Kerns. Sie ist, wenn man Kandinsky folgt, Inbegriff eines modernen Platonismus. Der tradierte Begriff der Kunst changiert zwischen Vermögen und Fertigkeit. Die Ästhetik der Performanz und der Inszenierungen hat in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit gefunden. Dies ist auch vor dem Hintergrund der Annäherung von Kunst an Leben berechtigt: der erfüllte Augenblick wird dann mit der ästhetischen Eigenmacht identisch. Was Sloterdijk die ›Vertikalspannung‹ 1 nennt, eine Selbststeigerung und -vertiefung des Lebens, kann im performativen Akt auf die Probe gestellt werden. Auch er ist technisch reproduzierbar, durch heutige Medien sogar global zu verbreiten, doch er ist letztlich unwiederholbar. Dies gilt für alle Formen der Aufführung. Es gilt freilich in einem viel umfassenderen Sinn, wenn keine Partitur und kein Text zugrunde gelegt werden kann. Momente der Unverfügbarkeit: Zeit, Raum, Stimmungen, Nerven machen die Performanz unverfügbar, wohingegen ein Werk in Planung und Struktur mit geradezu wissenschaftlicher Akribie geplant werden kann. Man sollte nicht Event oder Inszenierung gegen die Werkästhetik ausspielen: erst in der Komplementarität beider Komplexe können die Facetten des Ästhetischen ermessen werden. Zu bedenken ist dabei, dass Ästhetik und Kunstphilosophie es mit sanften, gleitenden Übergängen zu tun haben. Weniger die schroffe Kontrastierung, vielmehr ein Gleiten, das auf letztendliche Identität hinweist, werden zum Organon, um die Welt der Phänomene zu erfassen. Jede Aufführung ist auch Werk; freilich in Wind, Wellen und Sand geschrieben. Brechts Satz, dass von den Städten bleiben wird, »der durch sie hindurchging: der Wind«, hat hier seine Verifizierung. Durch seine Einzigartigkeit kann sich das performative Ereignis dem Gedächtnis in einer Weise einprägen, die es zum Mythos P. Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern: Über Anthropotechnik. Frankfurt/Main 2009.

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werden lässt. Aufführungen großer Schauspielerinnen des 19. Jahrhunderts wie der Duse oder der Eysoldt, Gesangsabende Carusos behalten in der Nachwelt eine bleibende Erinnerungsspur, auch wenn nur wenige Zeugnisse davon zurückgeblieben sind. Eine weitere Gewichtung des Performativen tritt ein, wenn, wie es vor allem Arthur C. Danto mit Scharfsinn untersuchte, der deklarative Akt der eigentliche Schritt ist, um zwischen Kunst und NichtKunst zu unterscheiden. Legendär sind die Badewanne von Beuys oder die ›Ready mades‹ von Duchamp. Der Eventcharakter des deklarierenden Aktes und damit Situativität und Kontext gewinnen auf diese Weise die Deutungshoheit. Eine Insistenz auf dem Werkgedanken ist schon deshalb unabdingbar, weil er für eine Genauigkeit einsteht, die mikrologisch oder makrologisch sein kann, ohne die aber auch der performative Akt nicht bestehen kann. Ein weiteres Momentum kommt hinzu: Die Poiesis geht immer wieder in Praxis über – in eine durch den Markt entfremdete Praxis, wenn man das Eigenleben von Kunstmärkten und Betrieben, Selbstinszenierungen von Künstlern und Hypes mit in Rechnung stellt. Eine ästhetische Dignität kann dies haben, wenn die dünne Membran zwischen Kunst und Leben im Werk mit dargestellt wird. In diesem Zusammenhang ist es auch zu sehen, dass die Kräfteverhältnisse zwischen der Massenproduktion und dem Dauernden, Seltenen, Bleibenden, zumindest in vordergründiger Perspektive, durch neue Medien und Marktdefinitionen auseinanderdriften. Hier mag man an die Randexistenz von Künstlern denken, die ein bedeutendes Nachleben hatten, und daran, dass die Staats- und Hofdichter in ihrem Ruhm rasch verblasst und vergangen sind. Auf ein Nachleben ist in Zeiten der rasanten Beschleunigung und Geschichtsauslöschung nicht mehr unbedingt zu setzen. 3.) ›Verlust der Mitte‹ hieß ein ausgesprochen modernekritischer Traktat des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr in der Nachkriegszeit. 2 Die Surrealisten hingegen machten sich zur Maxime: ›il faut être absolument moderne‹. Im Licht dieser Modernität erschien auch die Tradition verändert. Manieristische Kunst der Vergangenheit leuchH. Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Berlin 1955.

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tete, Goya oder Tintoretto, als wäre sie zeitgenössisch, nachdem der Expressionismus die Sehgewohnheiten verändert hatte. Die Klassizität verlor ihre Verbindlichkeit. Zwischen den Polen, die das surrealistische Manifest und Sedlmayrs Traditionalismus aufspannen, kann ein geschichtsphilosophisch begründetes Verständnis von Moderne und Tradition angesiedelt werden. Die Mitte klassischer großer Form wäre im Sinn von Sedlmayr Maßstab, um das Bleibende, Achtenswerte vom modisch Zeitbedingten zu unterscheiden. Auffällig ist, dass der ästhetische Konservatismus sich mit politischer Konservativität verbinden kann, aber keinesfalls notwendigerweise muss. Bei Sedlmayr war dies ebenso der Fall wie bei Emil Staiger. Er vertrat als ein an Klopstock und Goethe geschulter Literaturwissenschaftler im Neuen Zürcher Literaturstreit der sechziger Jahre Positionen, die nicht ganz unähnlich der ablehnenden Sicht auf die Avantgarde waren, wie man sie von sozialistischen Parteiästhetikern kennt, zu deren bedeutendstem Georg Lukács wurde. Das ›il faut être absolument moderne‹ befördert meist einen kritisch entfremdeten Blick, der auch die Perzeption des Kanons beeinflusst. Längst gibt es eine klassische Moderne, eine bleibende Heutigkeit, die den tradiert klassischen Kanon ergänzt und erweitert. Was einmal dessen Erschütterung war, ist längst selbst kodifiziert. Und es unterliegt ebenso dem Vergessen der medialen globalen Perzeption wie die alte Klassik. Ein Begriff der Mitte, der vor den zerbrechenden Formen der Expressionisten, der surrealen Wahrnehmungserweiterung, vor konkreter Poesie und Atonalität zurückschreckt, würde zu Recht des Reaktiven, Reaktionären geziehen. Man kann sich den Erschütterungen jener Modernität verweigern: dann schreibt oder malt man an einer ›anderen Moderne‹ mit, zu der der stereoskopische Blick von Ernst Jünger ebenso gehört wie Stefan Georges Begründung der Gemeinschaft zwischen Schülern und Meister. Der Moderne-Grundsatz wird aber gerade auch hier in seiner ganzen Gebrochenheit wahrzunehmen sein. Er ist keineswegs überzeugend, wenn er in einer Selbstüberholungsbewegung befangen bleibt und sich in rasendem Stillstand, den Moden und Märkten folgend, fragt, was es noch Neues geben und wie man es situieren könne. Jede überzeugende Moderne ist allein schon auf der Ebene der reinen Faktur auf die Einsicht des Prager Strukturalismus angewiesen, wonach Kunst aus und gegen Kunst entsteht, in einer Selbstreferenzialität, die Spielmomente haben muss. In idealen Fäl41 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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len werden daraus allerdings Dichtegrade erzeugt werden, die auch den Nicht-Kenner berühren und in andere Zustände versetzen. Die Dialektik von Modernität hat Adorno singulär herausgearbeitet. Ästhetische Moderne reflektiert auf die Modernen der technomorphen Maschinenwelt. Collage, Bricolage, Montage sind Techniken jener Welt, die zu künstlerischem Instrumentarium werden können. Dabei machen sie Verfahrensweisen auffällig, die in der technischen Welt selbstverständlich sind. Die Kunstwerke aber sind nicht Teil eines Funktionszusammenhangs. Sie zeigen dessen Widerständigkeit an und markieren damit die zerstörenden Momente an der Dynamik der Moderne. Zugleich zeigen sie, dass ein Kunstwerk, das heute entsteht, ihr nicht entgehen darf, ebenso wenig aber sich in ihr gefangengeben kann. Die Forciertheit, dem Kunst- und Literaturmarkt Neues bieten zu müssen, bestätigt letztlich den Stillstand einer kulturellen Kristallisation, wie sie als Signatur der Postmoderne firmierte. Die poetische und überhaupt ästhetische Gerechtigkeit, die ein bemerkenswertes Proprium von Kunst ist, ist auch innerhalb der Kunstwelten ständig nötig. Auch sie unterliegen problematischen Auf- und Abwertungen, Hypes und Vergessenheiten, die vielleicht erst nach Jahrzehnten einer Rehabilitierung weichen. Die Werkgenese und die Genese des Oeuvres eines Urhebers ist, auch wenn man beileibe nicht die alten Illusionen vom ›Originalgenie‹ aus dem Sturm und Drang fortschreiben will, durch ein Schielen nach Moden und dem, was man ihren jeweiligen Dikta gemäß nicht mehr tun könne, um ihre Eigenständigkeit gebracht. Und die Annahme scheint naiv zu sein, dass sich am Markt Qualitäten wie von selbst durchsetzen und regulieren würden. Ebenso wenig ist dies durch die immer gleichen Jurymitglieder staatlicher Förderungen zu erwarten. Wer viel hat, dem wird viel gegeben werden: Kurrente Moden, wie der Neorealismus der Leipziger Schule, boomen bis sie sich verausgabt haben. Es können aber auch ingeniöse Gestalten wie Gerhard Richter oder Georg Baselitz durch Jahrzehnte ihr Werk schaffen und mit gutem Recht einen gediegenen Ruhm mehren. Entsprechend der Umsatzerwartungen werden Druckkostenzuschüsse eingefordert oder siebenstellige Honorarvorauszahlungen erbracht. Bestsellerlisten und Charts sind der Maßstab. Dass nicht nur wahnwitzige Herabsetzungen der Autorenrechte und umfassende Verwertungszwänge, sondern auch eine aus42 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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nahmslose Hyperökonomisierung nicht marktkonforme Künste schweigen lassen, ist eine reale Gefahr: Verlage, die zumeist nur noch Teile größerer Trusts sind, haben wenig Interesse an Debüts und Versuchen. Die Synergetik, in der eine Verlagsgeneration mit einer Schriftstellergeneration zusammen wuchs, wie zuletzt nach 1945, gehört scheinbar einer unwiderruflichen Vergangenheit an. Die verwertbaren Gesichter, die klaren (Kindchen-)Schemata überlagern die lange währende Geduld, die erforderlich ist, um mit den Worten des alten Verlegers der Weimarer Republik Samuel Fischer, eine »schreibende Persönlichkeit« hervorzubringen. 3 Mittlerweile bietet das Netz auch hier alternative Strukturen an: Follower auf Facebook und Twitter bestimmen vorab, ob ein Buch schon einige 10.000 Leser aufzuweisen hat, die – interaktiv – dessen Publikation für den Verleger erst interessant machen. Dass auch hier das sublime Spiel mit Anspielung und Verschweigen, Allusionen im Labyrinth der Texte den Heerstraßen des unifizierenden Geschmacks zu weichen drohen, kann ich nicht ohne kulturkritischen Nebenton bemerken. Die ausgefeilten Werbestrategien solcher Follower- und Community-Netzwerke sorgen mindestens der Tendenz nach dafür, dass der »User« nur noch angeboten bekommt, was ihm ohnehin gefällt. Dass die Anstrengung, das Anders-Sein und Anders-Lesen und -Hören selbst ein immer limitierteres Luxusgut ist, beginnt man zu entdecken. Ob sich dieser Seltenheitswert aber nennenswert in den Verkaufszahlen niederschlägt, ist fraglich. Leo Strauss’ und Allan Blooms Diktum, dass der Westen wieder lernen müsse, die großen Bücher seiner Tradition zu lesen, 4 ist nicht nur auf politische Theorie eingeschränkt, sondern kann auch Kunst und Literatur umfassen. Marktkonforme Platzierung und Zuschnitt sind häufig wesentlicher als das Eigenrecht von Form und Gehalt. Es wird daher zu einer eigenen Kunst, den Markt für sich zu beeinflussen. Man sollte allerdings nicht nur die entgrenzten und enthierarchisierten Netzdiskurse als Veränderungen des ästhetischen Paradigmas in Rechnung stellen, sondern auch die Virtuositäten der Werbung, insbesondere der »Brandmarks« heutiger weltweit operierender Konzerne. Hier werZu diesem Credo P. de Mendelssohn, Samuel Fischer und sein Verlag. Frankfurt/ Main 1970, S. 250 ff. 4 A. Bloom, Der Niedergang des amerikanischen Geistes. Ein Plädoyer für eine Erneuerung der westlichen Kultur. Hamburg 1987. 3

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den in einer Gesamtstruktur von Design Erkennungszeichen gesetzt, die die Marke und deren Philosophie überhaupt erst bilden und eine weltweite Ausstrahlung annehmen. In solchen Produkten und ihrer Wünschbarkeit gewinnt die One World mehr als in allen Institutionen Gestalt. Der Unikats- und Singularitätscharakter von ästhetischen Hervorbringungen ist schwerer zu erzeugen. Doch gerade er könnte neue Attraktivität wecken. Ist er doch mit Geld kaum zu kaufen. Die akademische Hitliste bietet keine wirkliche Gegenkonzeption. Auch sie hat gemäß der Schnittigkeit der Leittheorien, die en vogue sind, ihre Favoriten. Und gerade auch im akademischen Zirkus gibt es eine weltweite Unifizierung der Geschmäcker und Kanonisierungen. Mäzenatentum, das selbstredend auch von persönlichem Geschmack mitgeprägt ist, ist nach wie vor eine mögliche Oase begrenzter Freiheit. Der Kauf von exzentrischen Bildern von Malern, die noch nicht durch die neuen oder alten Märkte sanktioniert sind, funktioniert nach demselben Konzept wie in früheren Epochen seit der Renaissance. 4.) Kunst hat im Verhältnis zum Gang der Geschichte eine Kraft zum Kontrafaktischen, zur Gegengeschichte. Sie kann vergessen, was in der Hochgeschichte kodiert war; sie kann erinnern, was aus der Geschichtsmächtigkeit fiel. Dichter können die Epiphanie des Augenblicks beschwören, wie James Joyce oder Peter Handke. Sie können auch die unmittelbare nicht-vergehende Präsenz des Mythos zur Darstellung bringen, die eine Matrix für die Personen der Gegenwart abgibt wie Joyce. Poetische und artistische Gerechtigkeit lotet implizit die Intermedien des kollektiven Gedächtnisses aus. Sie trägt vor aller propositionalen Rede den ›Dialektiken der Aufklärung‹, den ›Dissonanzen des Fortschritts‹ und den Zerstörungen in der Produktivität Rechnung. Eben deshalb ist Kunst auch und oft gerade, wo sie sich als nicht ›engagiert‹ versteht, sehr viel mehr als Kompensation. Das Kompensations-Epitheton von Joachim Ritter und seiner Schule hat Kunst unter die Traditionsressourcen der Moderne summiert, deren die wissenschaftlich-technische und ökonomische Moderne bedürfe, um nicht an den eigenen Selbstbeschleunigungsbewegungen zugrunde zu gehen. Dies ist nicht falsch. Es trifft aber nur einen Aspekt. Das kontrafaktisch Widerständige, Nicht-Lineare, das 44 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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trauernde Kaddisch-Sitzen, wo alle vergessen; aber auch umgekehrt das Vergessen, wo sich alle geistlosen Erinnerungs-Ritualen unterwerfen, eröffnet Möglichkeiten der Kunst, die umso mehr dort überzeugend sein werden, wo sie nicht einem ideologischen Programm, sondern der Eigengesetzlichkeit des Ausdrucks und der Immanenz des Werkes folgen. Das ›Geheimherz‹ der Werke hat hier den Taktschlag vorzugeben. Die Aussage, dass Kunst auch aus und gegen Kunst entsteht, wie sie der Prager Strukturalismus allgemeinverbindlich machte, hat unterschiedliche Realisierungsebenen: Eine von ihnen verweist auf das implizite Gespräch zwischen Lebenden und Toten. Kritik an Prätexten oder deren Rezeption kann sich in Kontrafaktur oder Parodie äußern. Palimpseste bedienen sich einer Vorlage oder der Überlagerung verschiedener Prätexte, um ihre Sinndimension aus den Rändern zu entfalten. Hier eröffnet sich ein weites Spektrum: mythische Vorlagen sind vom Epos über die Epopöe der modernen Welt in Netzspiele und Filme gewandert und aus ihnen nicht wegzudenken. Offensichtlich ist der Bestand belastbarer Mythen sehr begrenzt. Was auf den Wegen einer habituell gewordenen Moderne aus dem Blick geriet, ist vor dem Hintergrund der von George Steiner aufgeworfenen Frage, ob unser Sprechen Inhalt habe, neu zu entdecken: dass es Kunstwerke gibt, die zu einem unausschöpflichen ›Besitz für immer‹ (ktema eis aei) gehören, von dem erstmals Thukydides sprach. Dies zeigt sich an Mythen, die verarbeitet und variiert, vielleicht auch zu einem möglichen Ende gebracht werden. Ihre Anzahl ist immer nur begrenzt, so dass sie mithin einen Gegenhalt gegen die fortreißende Geschichte, aber auch gegen Remythisierungen und Renaturalisierungen bieten. 5.) Kunst beruht auf der Differenzierung zwischen Form und Inhalt. Hegel hat deren Dynamik betont: Das Werk existiert demnach nur im Umschlag von Form in Inhalt, von Inhalt in Form. Beide müssen eine Einheit bilden, die auch spannungsgeladen sein kann. Dabei können schon Formate und Fakturen, etwa die Wahl zwischen Kurzgeschichte oder Roman, zwischen Tuschzeichnung und ausladendem Ölgemälde dem Inhalt gemäß sein oder ihn verfehlen. Reduktionen in dem Sinn, dass entweder die Inhalts- oder die Formdimension eindeutig überwiegt, werden auch von den Umständen, Situationen 45 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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und Sujets diktiert sein. Sartre legte der ›littérature engagée‹ den rauen, vielleicht sogar gewaltsamen Stil nahe. Das politische Gedicht kann Reim und Metrum zerbrechen, weil es der Harmonie misstraut. Zudem gibt es Epochen des Formalismus: sie sind Ausdruck des Versuchs, eine Zeit im Werk bannen zu wollen, um contre coeur die Freiheit des Kunstwerks aufrechtzuerhalten. Dass indirekt auch der Formalismus hochpolitisch sein kann, zeigt sich daran, dass er von den politischen Ideologen verschiedenster Couleur als Nihilismus verfolgt wurde. Wenn man Hegels Bemerkung beim Wort nimmt, wird man das Verhältnis von Form und Inhalt nicht in der Weise statischer Komponenten missdeuten, sondern eher in der Art eines Vexierbildes verstehen, in dem das eine Moment ins andere umschlägt. Deshalb kann es die klassische oder exemplarische Harmonie zwischen beidem geben: Ein Entwurf findet die nur ihm entsprechende Form. Mozarts viel zitiertes Bonmot gegenüber dem österreichischen Kaiser Joseph II., dass in seiner Symphonie genau so viele Noten wären, wie erforderlich seien, drückt dies als unaufdringliches Selbstbewusstsein der eigenen Meisterschaft aus. Es kann aber auch sein, dass das Kunstwerk alle Formen sprengt. Doch in irgendeiner Weise muss auch ein solches Werk mit ausbrechend offenen Rändern sich an Syntax und Grammatik seiner Kunstform halten; dies kann geschehen, indem die Erwartungen einer geschlossenen Form porös gemacht werden. Hegel hat, nur pars pro toto und exemplarisch, eine solche Differenz an christlicher Kunst aufgezeigt, die die schöne Gestalt aufbrechen muss und den, der ohne Gestalt war, als Leidenden und Sterbenden am Kreuz zeigt. Er nannte das Paradigma ›romantische Kunstform‹ in der Unterscheidung von der klassischen. Mit einer Fortsetzung solcher Disproportionen hat man es dann auch in Epochen wie dem Expressionismus oder Surrealismus zu tun. Auch Hegels Konzeption des ›Symbolischen‹, die geschichtsphilosophisch dem Klassischen vorausgeht, hat eine eigenständige Bedeutung: Hier suchen sich Form und Gehalt wechselseitig und gehen ineinander über, ohne die Deckungsgleichheit oder auch nur deren Anschein schon gefunden zu haben. Die monumentalischen Bauten und Skulpturen früher Hochkulturen, wie der ägyptischen Pyramiden, hat Hegel unter diesen Begriff summiert. Umstandslos schön würde man weder die romantische noch die symbolische Kunst nennen. Sie neigen eher zu einer erwartbare Proportionen 46 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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aufsprengenden Mächtigkeit, die man seit Pseudo-Longin als ›Erhabenheit‹ charakterisiert. Dabei bezeichnet diese ›Suchbewegung‹ eher eine grundsätzliche geschichtsphilosophische Option als eine Zwangsläufigkeit. Denn der in seiner tastenden Leichtigkeit selbstverständliche Pinselstrich der Höhlenmalereien von Lascaux und Altamira, eine unmittelbare bannende Schönheit, wie aus der Voraussetzungslosigkeit entsprungen, zeigt, dass keineswegs eine noch unsichere Phase der intuitiven Stimmigkeit vorausgehen muss. Neben der Gegensatzspannung zwischen ›Inhalt‹ und ›Form‹ legt sich die zweite Differenz, das Verhältnis von ›Stoff‹ und ›Form‹ nahe. Beide sind keineswegs deckungsgleich. Der Stoff kann sowohl das mythische oder geschichtlich vorfindliche Material sein, das weiterer formaler Gestaltung zugrunde liegt. Stoff ist aber auch das Holz, die Farbmischung, die Sprache, in die hinein gearbeitet wird. Für Schelling war das Kunstwerk der Indifferenz- und Identitätspunkt zwischen Natur und Geist, weil ein freier Entwurf auf ein stoffliches Substrat treffen muss, das nur begrenzte Formbarkeit aufweist. Das Material setzt deutliche Grenzen: Es ist offensichtlich, dass ein Holzblock oder ein Steinquader nicht jede erdachte Gestalt annehmen können. Deshalb das Eigenleben gerade organischer Materialien, von dem große bildende Künstler wie Michelangelo oder Dürer sprechen. Doch auch ein Sonett oder ein Haiku haben einen kulturell geprägten Gattungsrahmen, der nicht beliebige Inhalte aufnehmen kann. Wenn man solche Formen mit Gehalten, die nie mit ihnen in Verbindung gebracht wurden, verknüpft, wird man Gründe dafür haben müssen. Dann ergeben sich im Idealfall Kontrafakturen, kontrapostische Konstellationen, Spannungen; im Negativfall hingegen Stilbrüche. Es gibt genaue ontologische und phänomenologische Bestimmungen der Schichten und Strukturmomente, die ein Kunstwerk erst konstituieren. 5 Verwandlung des Materials, Polymorphien, Ambivalenzen, Metaphorik und Metonymien im literarischen Kunstwerk sind dabei besonders herauszuarbeiten. Eine jede Formensprache ist aber keineswegs nur Einkleidung des Gehaltes. Dies mochte Dazu sehr differenziert R. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968; ders., Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937– 1967. Tübingen 1969.

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man noch so sehen, solange Dichtkunst nach dem Paradigma der Rhetorik verstanden und von ihrer Lehr- und Lernbarkeit ausgegangen wurde. Die Konzeption vom Genie als jenem Geist, der nicht nach Regeln schafft, sondern sich selbst die Regeln gibt, sprengt diesen Bezugsrahmen auf. Deshalb kann in einer jeden Werkontologie und ihren Schichtungen der klassische aristotelische Grundsatz vom Überwiegen des Ganzen gegenüber der Summe seiner Teile ein Leitfaden sein. Die kunstwissenschaftlichen Betrachtungsweisen zeigen in ihrer oft statisch isolierenden Betrachtungsweise je nach Richtung, in ihrer Einseitigkeit ex negativo, die Berechtigung der verflüssigenden, Form und Inhalt gleichermaßen in Rechnung stellenden Auffassung erst recht an. Am Beispiel der Literaturwissenschaft seien einige Knotenpunkte genannt, die auch in anderen Disziplinen Resonanz finden mögen: in der Folge der Einfühlungshermeneutik von Wilhelm Dilthey haben biographische, die Innenwelt einschließende Interpretationsmodelle besondere Aufmerksamkeit gefunden. Die Korrelationen zwischen dem ›Erlebnis‹ und der ›Dichtung‹ dominierten. In der Folge von Lukács und dem ungarisch-deutschen Germanisten Arnold Hauser ist die dem Überbau-Unterbaumodell und dem Klassenstandpunkt verpflichtete Sozialgeschichte der Literatur von Belang gewesen, während Volkstumsforscher wie Josef Nadler der Kunst der deutschen Stämme und Länder besonderes Augenmerk widmeten. Man entdeckte in der überfälligen Aufarbeitung der Fachgeschichten seit Anfang der neunziger Jahre mit einigem Schrecken, dass bis heute gängige sozial- und kulturwissenschaftliche Erklärungsmuster von solchen Strömungen ausgingen. Nach 1945 wandte sich dagegen der ›New criticism‹ ganz und gar einer immanenten Interpretation zu, die lediglich die textinternen Bezüge aufzuweisen suchte. Deren methodische Naivität und Weltausblendung wurde durch die semiotisch unterfütterten ›Close readings‹ des Strukturalismus erweitert. Es blieb indessen bei der Kultivierung des Weltinnenraums des Kunstwerks. Demgegenüber gilt ›Biographismus‹ in den elitäreren Interpretationszirkeln Alteuropas als Argument gegen eine Interpretation, das keine weiteren Argumente zulässt. Umgekehrt werden in den angelsächsischen Ländern brillante Biographien über Künstler und Dichter geschrieben, die auf jede Werkinterpretation verzichten. Die Methodendebatten seit den sechziger Jahren waren durch 48 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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eine starre Polarität gekennzeichnet: auf der einen Seite die Rezeptionsorientierung, auf der anderen die Dimension der Autorintention. Erstere schien methodisch empirisch eingelöst werden zu können. Sie beruht auf dem Grundsatz der Hermeneutik Gadamers, die eine ›Wirkungsgeschichte‹ annimmt, von der her die Sinnpotentiale eines Werkes sich in einer schier unendlichen Variabilität von Möglichkeiten ausfalten ließen. Autorintentionen hingegen wird man nicht aus externen biographischen Mitteilungen oder poetologischen Zeugnissen, die nicht selten situativ und selbst fingiert sind, allein ablesen dürfen. Man wird solche Zeugnisse deshalb aber keineswegs gering schätzen. Sodann wird zu fragen sein, wie sich die Intention in der Formensprache und der Bezugnahme auf Traditionen im Werk manifestiert und objektiviert. Objektivierte, geronnene und Form gewordene Subjektivität könnte die Zielbestimmung der Autorintention sein. Sie führte zu Recht zur weitergehenden Frage nach dem ›Sinn des Textes‹ 6, die vielleicht erstmals die Interferenzen zwischen Form und Inhalt vollständig ausschöpfen könnte: Strukturelle und rein formale Analysen werden in solche Interpretationen ausdrücklich mit integriert. Demgegenüber wird man angesichts eines überwölbenden, wenn auch nicht sonderlich artikulierten Begriffs von Kulturwissenschaften seither und von Leit-Metaphern wie ›kulturelles Gedächtnis‹ oder ›Erinnerungsorte‹ konstatieren können, dass die subtilen Fertigkeiten der Philologie, die nicht nur in Text-, sondern auch in Bild- und Musikwissenschaften Standards des Verstehens gesetzt haben, in den Hintergrund treten. Wo sie noch aufmerksam beachtet werden, werden sie häufig schamhaft hinter funktionalisierenden geglätteten Deutungen verborgen. Dem Eigenrecht des Ästhetischen dürfte der ›cultural‹ und ›semiotic turn‹ schwerlich gerecht werden. Denn die Funktion von Zeichen- und Bildsprache wird hier schon vorausgesetzt. Kunstwissenschaftlicher Umgang mit dem Form-Inhalts-Verhältnis und der Aufmerksamkeitshaltung des Betrachters, Lesers

H. R. Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/Main 1991; ders., Die Theorie der Rezeption. Rückschau auf ihre unbekannte Vorgeschichte. Konstanz 1998; siehe auch R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975; sowie W. Iser, Der Akt des Lesens.Theorie ästhetischer Wirkung. München 2006.

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oder Hörers sind von der Performanz von Werken in der Aufführung einer Partitur zu unterscheiden. Naiv und völlig selbstüberschätzend nimmt sich die Idee eines Interpreten aus, der sich an der Stelle des aufführenden Musikers sieht, der eine Partitur zum Klingen bringe. Der gebildete Leser bedarf allenfalls des Kommentars, der vergangene Kontexte näherbringt, Biographika bequem erschließt und – vielleicht – Einblicke in die Genese eines Werkes gibt. Ebenso ist es auch für den kunsthistorischen Laien faszinierend, Farbschichten mit moderner Computertechnik aufgedeckt zu sehen, in die Archäologie des Werkes eingeführt zu werden, vielleicht Zeuge von Vorstudien zu werden und sich zu fragen, warum der Künstler sie nicht weiterverfolgt hat und was dies für die Tektonik des Ganzen bedeutet hätte. Das Werk, so wusste Heidegger den Unterschied zwischen ›ergon‹ und ›energeia‹ zu buchstabieren, eröffnet eine Welt. Daran kann man aber nur Anteil haben, wenn man mit dem Werk umgeht und sich bei ihm aufhält. Wenn man liebt, möchte man besser verstehen. Dies ist eine Tendenz, die der religiösen ›fides quaerens intellectum‹ ähnlich ist. Die Faszination von einem Stoff kann den verstehenden Rezipienten in die Netze seiner Textierung und Darstellung einspinnen. Die biographische Berührtheit durch einen Autor wie Kleist oder Hölderlin kann Anlass geben, sich seinen Traum- und Werkgebilden anzuvertrauen. Die unmittelbare Betroffenheit, dass eine Stimmung ausgesprochen und gezeigt wird, die man an sich selbst erahnt hat, aber nicht artikulieren konnte, kann dazu führen, dass sich die eigene Existenz am Werk anders ausnimmt. Der nicht-wissenschaftliche, vor-theoretische Leser oder Betrachter sollte nicht einfach ›naiv‹ genannt und damit abqualifiziert werden. Dies ist auch bei der Kontextierung von Ausstellungen nach den jeweiligen jüngeren und jüngsten museumspädagogischen Einsichten zu bedenken. Er bewahrt, wenn er klug ist und Geschmack entwickelt, die Kraft des Primären. Er kann perzipieren, hinsehen und hinhören und seine Empfindung der Schönheit seinen Gesprächspartnern ansinnen, ohne hinter der ständigen Selbsterneuerung der Lebenswelt eines Werkes die Mattigkeit der Diskurse wahrnehmen zu müssen, die ihm zu verstehen gibt, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe. 6.) Natur ist, seit es ein Nachdenken über die Metaphysik der Kunst gibt, ihr Antidotum und zugleich ihre Voraussetzung. Im organi50 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

1 · Begriffe, Positionen – oder: ›Aesthetica in nuce‹

schen Spiel der Kräfte deutet sich in anthropomorpher Lesart eine Vielgestaltigkeit an, die zu einer Harmonie zwischen Konstanz und Variabilität gelangt. Dieser Wechsel von Einheit und Vielheit scheint auch für die Idee eines vollkommenen Kunstwerks exemplarisch zu sein. Die ›physei onta‹ waren seit jeher Urbilder (Paradigmata) des technisch als vollkommen Darstellbaren. Und wenn ›cultura‹ vom Begriff des ›colere‹, also der Pflege eines natürlichen Wachstums, herrührt und wenn bereits Aristoteles zwischen der ersten und zweiten Natur unterscheidet, so verweist dies auf die Unhintergehbarkeit natürlicher Lebenswelten. Der Ausschluss der Natur aus der Dimension des Schönen, wie ihn Hegel zu exekutieren versuchte, erweist sich als künstlich. Noch deutlicher zeigt sich dies am Erhabenen. Es geht in besonders sprechender Weise an natürlichen Paradigmata auf und ist zuerst in solchen Zusammenhängen beschrieben worden: der unendlich anmutenden Weite des Meeres, den Linienzügen der Wüste, den abweisenden Gebirgen. Die Erhabenheit oktroyiert dem subjektiven Spiel der Erkenntniskräfte eine radikale Andersheit: Im Erhabenen findet sich das Subjekt, anders als im Schönen, nicht unmittelbar wieder. Die subjektiven Anmutungen schlagen am Realen der Kunst leck. Gerade darin kann sich aber das Subjekt traumwandlerisch bewusst werden, dass es Geist ist. Doch dies Andere, Hohe, nicht Gebändigte, sucht die Kunst immer wieder zu erreichen, und zwar gerade dann, wenn sie sich der klassisch gebändigten Formen zu entledigen versucht. Aus dem Gefälle werden auch Haltungsformen gewonnen: der erhabene Charakter, der von der Jungfrau von Orléans bis zu den Geschwistern Scholl die Kraft findet, seinen eigenen Untergang sittlich zu überwinden. Diese Sublimierungen sind bewegend. Im Verhältnis zum Weltlauf, der Individualität einebnet, sind sie hingegen zynischerweise verschwindend gering. Das Organische der Natur bildet darüber hinaus ein sprechendes Bild für eine intelligible, reiche Schöpfung. Deshalb ist es die Dynamik des Organischen, die mechanische Festlegungen aufsprengt und natürliche Vollzüge aufgrund ihrer kreatorischen, selbsterzeugenden Kraft der Lebenssimulation als Inbegriff des vollkommenen Kunstwerks evoziert. Den Gegenpart der Natur auszuhalten, bedeutet zunächst, Spannungen eines Werkes zu ertragen, die nicht subjektiv balanciert sind. Dies erfordert, ein ebenso dunkles wie überwältigendes Spiel hinzunehmen. Denn auch die Formen des Spiels und Gegenspiels 51 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

1 · Begriffe, Positionen – oder: ›Aesthetica in nuce‹

sind nur schmale Ausschnitte aus einer unendlichen Weite und einer kaum durchdringlichen Opazität. Zählende Dichtung der Natur hatte oftmals diese Tendenz in die Selbstpreisgabe. Das Verhältnis zwischen Natur und Kunst wurde in der Ästhetik als Nachahmungsrelation festgeschrieben. Damit konnte keineswegs eine Verdoppelung der augenscheinlichen räumlichen und zeitlichen Realitäten gemeint sein. Vielmehr wurde deutlich gemacht: Kunst interpretiert in ihren Darstellungsweisen das verborgene Innere der natürlichen Welt. Sie bringt deren verborgene Codes zur Erscheinung. Deren Wesensverhältnisse werden durch die Kunstdarstellung so ins Relief getrieben, dass man sich ihrer bewusst werden kann. Deshalb konnte auch immer wieder in Inversion des gängigen Topos davon gesprochen werden, dass die Natur die Kunst nachahmt. Dabei gibt es eine bemerkenswerte Linie poietisch artistischer Selbstverständigung, der gemäß Kunstwerke dazu tendieren, weitgehend zum Verschwinden zu kommen und in der Natur aufzugehen. Natur weist nämlich eine Vollkommenheit auf, die das Kunstwerk sucht. In der Semantik des Naturbegriffs (phyein: ›von sich her wachsen‹ ; nasci: ›geboren werden‹) ist zweierlei impliziert: ein Entstehen und Wachsen, das rätselhaft bleibt und sich plötzlich in Selbstevidenz zeigt; und eine Selbstorganisiertheit, die höchste mögliche Intelligiblität kennzeichnet, aber nicht von einer identifizierbaren Subjektivität geleitet ist. 7.) Damit scheint es lohnend zu sein, an die Grenzen und Ränder der Ästhetik vorzudringen: Ebenso wie die ›Ästhetik des Performativen‹ den klassischen Kanon von Kunst und Kunstwerken sprengt, verhält es sich mit dem Zusammenhang von Kunst und Gebrauch und Kunst und Handwerk. Man kennt die leicht hochmütig abweisende Attitude, in der einmal vom »Musikanten« die Rede war oder vom bildenden Künstler als »einfachem Handwerker«. Die Handwerksmetapher artikuliert indessen auch eine Ruhe und Beständigkeit, die einem übereilten Kunstbetrieb nur selten abgerungen werden kann. Dies muss nicht sogleich mit großstadtflüchtiger Reaktion gleichgesetzt werden. Es bedeutet aber das Verweilen beim Ersten, beim Stoff. Ein Schriftsteller der klassischen Moderne wie Thomas Bernhard sang seine Elogen auf das Bauen und Restaurieren, auf alte Häuser und Vierkanthöfe: 52 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

1 · Begriffe, Positionen – oder: ›Aesthetica in nuce‹

»Es ist das Schönste, höchste Befriedigung, zu bauen […]. Alle haben den Wunsch zu bauen und alle, die bauen, haben diese Befriedigung. Selbst eine philosophische oder eine schriftstellerische Arbeit zu vollenden gibt nicht die höchste Befriedigung, nicht die Befriedigung, die wir haben, wenn uns ein Bauwerk gelungen ist.« 7 Diese Diagnose muss man an der Vollkommenheit der Fensterstöcke und Raumproportionen solcher Gebäude verifizieren. Auch hier gilt das Diktum, dass solche Gebäude keine Kunstwerke seien, dass Kunstwerke aber eben so beschaffen sein müssten. Andererseits verweist die Achtung gegenüber solchen Werken auf Einsicht in die Dekadenz- und Verhässlichungstendenz der Moderne, die mittlerweile so flächendeckend geworden ist, dass sie kaum noch auffällt und für obsolet erklärt wird, wer sie benennt. Wer das Schöne gesehen hat, nimmt die Gemeinheit des Hässlichen wahr: »Überall wird alles vernichtet/überall wird die Natur vernichtet/die Natur und die Architektur/alles/Bald wird alles vernichtet sein/die ganze Welt wird bald nicht mehr wiederzuerkennen sein.« 8 An der Gediegenheit einer in Gestaltung und Entwurf realisierten Hervorbringung werden sich die Kategorien reiner Kunst zu messen haben und umgekehrt. Dass die Tauglichkeit für den Gebrauchenden die Dignität eines Kunstwerkes erst ausmache, dies ist die Herausforderung der Gebrauchskunst. Auch sie wurde von Platon bereits erkannt. Deshalb betonte er, nicht das Leben werde sich nach der Kunst zu richten haben, sondern umgekehrt die Kunst nach dem Leben.

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Thomas Bernhard. Korrektur. Roman. Frankfurt/Main 1975, S. 271. Ders., Wien. Heldenplatz. Frankfurt/Main 1988, S. 85.

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ZWEITER TEIL:

In der Spannung von Kunst und Theorie

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ZWEITES KAPITEL:

Über das Schöne und das Göttliche – Platons erscheinende Idee

I.

Grundlinien

1.) Die Sakralität, die Kunst und Künstler im 19. Jahrhundert zugesprochen wurde und die sich zu einer regelrechten ›Kunstreligion‹ steigerte, kommt nicht von ungefähr. Sie hat eine lange Vorgeschichte, die primär von Platon und dem Platonismus geprägt ist. Zu Recht wird Platons kritische Wendung gegen die Dichter als Schein-Künstler und Lügner als wiederkehrender Topos zitiert. Weil sie lügen, sollten sie aus der idealen Polis unter Bezeugung von allen nur möglichen Ehren vertrieben werden. Platons Bemerkung bereitet sich im dritten Buch der ›Politeia‹ in einer Theologie der Korrektur der alten Götterlehre (›palaion mythos‹) vor, der zufolge die Götter neidisch, rächend und vor allem unbekümmert um das Leid der Sterblichen sind. Die richtig stellende, zugleich kathartische Neufassung der Rede von den Göttern nach dem Maßstab der Vernunft gebietet, sie ganz im Unterschied dazu als konstant gestimmt, als gut und wahrheitsliebend zu begreifen. Dies verlangt weiter, Erzählungen von Verbrechen der Götter auszuschließen, Unwandelbarkeit als festes Epitheton des Göttlichen aufzufassen. Das eine göttliche Gute wird hinter den wechselnden Masken einzelner Götter erkennbar. Dieses Göttliche ist, so Platon, ohne allen Neid (aphtonos). Deshalb sei es unter keinen Umständen den Menschen erlaubt, Gottheiten als Urheber ihrer Leiden und des Schlechten zu benennen. Götter sind ausschließlich die Urheber alles Guten. Mit dem Übel bleibt der Mensch alleine. Er muss sich selbst als Ursache und Verschulder des Elends sehen. Dichtung und die sie begleitende Musik in der gerechten Stadt sollten sich Platon zufolge an diesem Schema orientieren. Er lehrt Einfachheit in Rhythmus und Melos. Einen größeren Variantenreichtum gestand er lediglich denjenigen jungen Adepten zu, deren 57 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

2 · Über das Schöne und das Göttliche – Platons erscheinende Idee

Seelen schon gefestigt sind. Pentatonischen Harmonien wird der Vorrang eingeräumt, woran sich Anthroposophen noch heute halten. Grundlegend ist die Differenzierung zwischen ›Diegesis‹ (Erzählung, Darstellung) und ›Mimesis‹ (Nachahmung), was hier aber nicht Nachahmung der Natur, sondern vor allem der Götter und Zwischenwesen bedeutet. Platon macht deutlich, dass die geglättete Erzählung (diegesis) den Vorzug verdient. Nachahmung hingegen reißt die Seele zu dem Gegenstand hin, den sie darstellt. Dass Aristoteles der Tragödie eine Reinigung (Katharsis) der Seele von ihren Leidenschaften und Fehlorientierungen durch die Erregung von Furcht und Mitleid, ›Eleos‹ und ›Phobos‹, ablesen wird, wäre für Platon noch nicht denkbar. Aristoteles versteht die Künste als einen Thesaurus, auf den auch die Philosophie zurückgreift, während sich Platon noch mit ihr misst. Doch Platon hält explizit fest, dass es eine Bildung der Seele ohne Musenkunst im weitesten Sinn und in freier Anwendung, nicht geben kann. Lyra und Kithara sind in dem Spiel der Neophyten zuzulassen, nicht aber die Flöte, der Aulos. Dem Aulos können nämlich Töne entlockt werden, die sich mit den Affekte entfesselnden Mächten des Dionysoskultes, seinem Fortreißen und Zerreißen verbinden. Es geht in der Musenkunst der freien Bürger demgegenüber primär um eine politische Einstimmung der auseinander tendierenden Seelenteile: »Also Wohlredenheit und Wohlklang und Wohlanständigkeit und Wohlgemessenheit, alles folgt der Wohlgesinntheit (euharmonia, symphonia) der Seele.« 1 An der fundamentalen Kritik gegenüber nachahmender Kunst ändert dies nichts. In den Dialogen, die sich um eine ideale Gesetzgebung gruppieren, in der ›Politeia‹ und mehr noch in den späten ›Nomoi‹, mahnt Platon vielmehr dazu, die Dichter und Schauspieler, Mimen und Rhapsoden, die jeweils der ›Diegesis‹ bzw. der ›Mimesis‹ zugeordnet sind, aus der idealen Polis zu verbannen. Die Ehrerbietung ist bei dieser Vertreibung vor allem den Dichtern zu erweisen. Darin schwingt Platons Hochachtung gegenüber Homer nach. Ebenso werden Epiker und die Bildkünstler als Illusionisten kritisiert. Anders ist es mit der Tragödie. Sie legt, auch im Sinne Platons, Wahrheit frei – über Götter und Menschen und die über beiden

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Politeia 400 d1.

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Grundlinien

schwebende Moira. Doch die ›wahre Tragödie‹, die die Wahrheit des Schicksals zur Klärung der Idee bringt, ist eben die Philosophie. Im zehnten Buch der ›Politeia‹ wird die explizite Begründung für die Verbannung der Dichter und aller Scheinkünstler gegeben. Platon verweist zu diesem Zweck auf einen dreifachen ontologischen und gnoseologischen Abstand von der Wahrheit der Idee. 2 Zu unterscheiden sind der Wesensbildner (Phyturg), der Werkbildner (Demiurg), der auch im Platonischen ›Timaios‹ eine Rolle spielt, und schließlich der Nachbildner, der Mimet. Die bekannte Pointe besagt, dass nur die Idee die Natur der Sache wiedergebe. Dies ist Sache des Phyturgen. Der Demiurg, der als Werkmeister reale Tische und Stühle herstellt, ist daher in größter Nähe zur Wahrheit. Das Eidolon, nur Abbild des Abbildes, als das Platon das Kunstwerk begreift, hat dagegen keinerlei Bezug zur Wahrheit. Das gemalte Bett kann also niemals mit dem realen, hergestellten Gegenstand konkurrieren. Daran schließt sich Platons Auffassung über die Unkenntnis der Dichter und Maler an. Sie sind Tausendkünstler. Dies ist aber nur möglich, da sie keinen Bios (keine Lebensform) und auch kein Ethos haben, denen sie verpflichtet wären. Ihre Hervorbringungen sind Schaumgebilde. Was bei jeder Hervorbringung eines Handwerkers unschwer möglich ist, dass sie nämlich durch einen sachgemäßen Gebrauch (Chresis) zu beurteilen sei, trifft bei Kunstgebilden nicht zu. Homer bedichtet zwar Kampfhandlungen, aber selbst sei er nie als Heerführer aufgetreten. Was qualifiziert ihn dann? Das Urteil gegenüber den »lügnerischen Künsten« könnte vernichtender nicht sein: Sie wenden sich an die schlechten Regungen der Seelen, und sogar gute Naturen bringen sie auf Abwege, so dass diese nur mehr der Herrschaft von Lust und Unlust gehorchen, nicht aber dem in Wahrheit Guten und dem wirklich Nützlichen. 2.) In seinem ›Symposion‹, in der Erosrede des Sokrates, die er von Diotima gehört und aufgenommen hat, zeigt sich ein anderer Zug des platonischen Blicks auf das Schöne: Das sinnlich Schöne erfüllt sich in der Idee des Guten. Da der Aufstieg vom Eros bewegt wird, bestimmt Sokrates den Eros als dämonisches Doppelwesen. Er ist kein Gott, sondern ein Spross aus der Überfülle, die er seinem Vater ›Poros‹ verdankt, der Gottheit der Auswege und Findigkeiten, und 2

Ibid. 595 c7 ff.

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der Armut, dem Erbe, das er von seiner Mutter ›Penia‹ erhalten hat. Die Anziehungskraft des Schönen kann gemäß dieser Doppelnatur auch in Abgründe stürzen lassen. Ihr Ziel ist aber der Aufstieg. »Es ist aber dies eine göttliche Sache, und in dem sterblichen Lebenden etwas Unsterbliches die Empfängnis und die Erzeugung. In dem Unangemessenen aber kann dies unmöglich erfolgen; denn unangemessen ist das Hässliche allem Göttlichen.« 3 Liebe will Ewigkeit, sie will die Zeit hinter sich lassen, was noch in Nietzsches Sätzen nachklingt: »Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!« Im Dialog ›Phaidros‹ spricht Sokrates vom Eros als göttlichem Wahn (Mania). Er ist, so wird in Übereinstimmung mit dem ›Symposion‹ bemerkt, Wiedererinnerung an das Seiende selbst, das die Seele am überhimmlischen Ort (hyperouranios tópos) geschaut hat. Dadurch erweckt er Schmerz, Sehnsucht nach der verlorenen Urheimat des Schönen. Die eingangs zitierte platonische Sentenz, das Schöne sei nur durch die Schönheit schön, gewinnt damit ihr Gewicht: Im Schönen wird das Seiende im höchsten Grad und unverkürzt zur Darstellung gebracht. Das Schöne ist deshalb das »ekphanestaton«, das, was am schönsten leuchtet, was reine Erscheinung ist. Bezogen auf das Schöne hat die Unterscheidung zwischen Urbild und Abbild keine Bedeutung. Schönheit ist Urbild in seinem Erscheinen. Es reißt deshalb hin und drängt auf eine Vereinigung, wie es die jeweiligen Abbilder der Gerechtigkeit und anderer Tugenden nicht vermögen. Im Schönen wird die eine Idee für alle Sinne zur Erscheinung gebracht. Ansonsten aber bleibt sie als göttliches Eines, als ›Epekeina tes Ousias‹, Jenseits des Seienden, der Darstellung entzogen. Platon spricht daher auch von der »Flucht des Guten in das Schöne«. Wenngleich wenig beachtet, so ist doch das Bild Kern der Platonischen Schönheits-Konzeption. Es ergibt sich dabei eine Bildlogik, der zufolge im Abbild die Urbildlichkeit in unmittelbarer Evidenz präsent ist. 4 Man kann die Intention dieses Gedankens so umschreiben: »Es Symposion 206c. Vgl. dazu Belting, Das echte Bild, a. a. O. Siehe auch H. Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Frankfurt/Main 2010. Nach wie vor höchst aufschlussreich: G. Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? München 1994. Für Gespräche über die Bildlichkeit aus semiotischer Sicht danke ich meinem geschätzten Bamberger Kollegen Helmut Pape.

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Grundlinien

ist, als ob das Schöne riefe: ›Hör auf, Worte zu machen! Hör auf das Bild, höre auf sein Schweigen!‹« 5 Daraus wird die weitergehende Konsequenz gezogen, dass der Logos, der interpretierende Begriff, diese einzigartige Evidenzgewissheit des Bildes seinerseits verstehbar zu machen hat. Was im ›Phaidros‹ eigentlich thematisch ist, das Problem der guten, die Sache treffenden, und der verfehlenden Reden, ist als Suche nach einem Logos zu verstehen, der die Überhelle des Schönen auf die begriffliche Wahrheit der Idee hin transparent macht. Das Schöne verlangt daher nach Auslegung und Kommentar, obgleich es den Inbegriff der Wahrheit schon in sich enthält und darstellt. Die detailliertesten Bemerkungen über das Bild findet man im platonischen ›Sophistes‹. Dabei zeigt sich, dass die Verbindung des Seienden mit dem Nichts, die im ›Sophistes‹-Dialog zu der Gattung des ›thateron‹ führt, keineswegs nur aus einer Erklärung der Täuschung, sondern eben auch aufgrund der Bildlogik gefordert ist. Theätet gibt versuchsweise eine Definition des Bildes: »Was sollten wir anders sagen, dass ein Bild sei, o Fremdling, als das einem wahren ähnlich gemachte andere solche? (eidolon an phaimen einai plèn ge to pros talethinòn aphomoioménon heteron toiouton).« 6 Ein Bild kann nicht das ›wahre Seiende‹ sein. Es ist vielmehr »ein Scheinbares gewiss«. »Aber Bild ist es doch wirklich.« 7 Denn wo laufen die Linien von Wahrheit und Täuschung so dicht zusammen wie im Bild? Damit zeichnet sich der zentrale Gedanke ab, wonach das Schöne der ›Idee des Guten‹ am nächsten steht, weil es ebenso wie sie im Bereich der noumenalen Welt in der Sphäre der Sichtbarkeit alles andere übertrifft. Es sei nur angedeutet, dass die Bild- und Ähnlichkeitsrelation auch für den platonischen ›Timaios‹, Platons kosmogonische LehrRede, leitend sein wird. 8 Der ›Timaios‹ entwickelt nicht eine KosmoG. Wohlfart, Das Schweigen des Bildes, in: G. Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? München 1994, S. 163 ff., hier insbes. S. 170. Ich selbst habe mich der platonischen Spur versichert in: H. Seubert, Sprache und Bild im Platonischen Logos, in: P. Engelhardt und C. Strube (Hgg.), Die Sprachlichkeit in den Künsten. Berlin, Münster 2007, S. 123 ff., darin auch W. Biemel, Zur Sprache der ungegenständlichen Kunst, a. a. O., S. 219 ff. 6 Phaidros 240a. 7 Ibid. 240b. 8 Dazu H. Seubert, Timaios. Bild der Welt und der Polis. München 2014 (i. E.), die 5

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logie, sondern eine Kosmogonie: Er ist Lehrgedicht von der Entstehung der Welt als eines sterblichen Gottes nach den Maßstäben der ewigen, überzeitlichen Ideen. Der Dialog beschreibt die Genese der Welt. Sie entsteht als Bild des noetischen Kosmos, bei dessen Strukturbildung der Demiurg den Blick zuerst auf das Urbild, nicht das Abbild gerichtet habe. Implizit wird damit auch verdeutlicht, dass im geordneten Kosmos die Voraussetzung politischer Ordnung liegt. All und Kosmos werden also im doppelten Sinne verstanden: als Kunstwerk und als die grundlegende Form der idealen Polis. Dabei unterscheidet der ›Timaios‹ zwei Anfänge: den ersten Anfang der Vernunftursache, mit dem die Hauptgattungen des Seins und des Werdens verbunden werden. Eine dritte Gattung, die ›Chora‹, chaotischer Grund und zugleich Matrix des Werdens, tritt erst in einem zweiten Anfang zutage, der die Vernünftigkeit und Vorordnung der Elemente nicht mehr voraussetzt. Indem sie im Zusammenhang der platonischen Dialoge verhandelt wird, stellt sich auch die Frage der Sprachlichkeit in den Künsten. Dass der platonische Logos Anhaltspunkte für einen solchen Rückgang bietet, ist gewiss nicht unmittelbar einleuchtend. Nicht nur weil durch die Vertreibung der Dichter aus der idealen Polis eine amusische Tradition der Philosophie ihren Anfang zu nehmen scheint; sondern auch, weil die Idee die konkrete Sprachform überwölbt und letztlich Sprache zu einem bloßen Medium des Begreifens macht. Gegenüber allzu bekannten Urteilen und Vorurteilen kann aber in einem etwas tiefergehenden Blick auf das Geflecht platonischer Dialoge gezeigt werden, wie im Abbild das Urbild aufscheint, wie Sprache und Bild als Wechselphänomene aufgefasst werden und, nicht zuletzt, wie der platonische Logos beides, Sprache und Bild, in sich einschließt. 9 kosmo-politische und zugleich aisthetische Dimension in der Linie des ›Timaios‹ wird sehr schön sichtbar gemacht in: R. Brague, Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken. München 2006 (frz.: La sagesse du monde. Paris 1999). 9 Im Blick auf die weit verbreitete Strittigkeit, was die Methodik der Platon-Interpretation angeht, soll der Ort der hier vorgelegten (und auch anderwärts verfolgten) Überlegungen im Sinn der von Schleiermacher und Hegel geteilten Maxime, dass bei Platon des ›Esoterische‹ nur im ›Exoterischen‹, die Gedankenentwicklung in der Dialogmitteilung liegen könne, beschrieben werden. Es scheint mir sinnvoll, von hier

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Polis und Schönheit

II.

Polis und Schönheit

1.) Platons kritischer Blick auf die Künste spiegelt seinerseits die Realität des griechischen Bürgerstaates wider. Die Ästhetik des Politischen ist in der Polis für die Schaffung der Ethik des Politischen unabdingbar. Die Rolle, die Platon den Dichtern zuschreibt, liegt durchaus in der Linie der griechischen Tradition; zumal die griechische Dichtung niemals im Belieben des einzelnen Individuums stand. 10 Sie war nicht, wie modern anachronistische Überlegungen nahelegen könnten, Ausdruck von geistiger Freiheit oder Originalität. Sie war immer auf die Bürgergemeinschaft bezogen und deshalb konnte sie auch sittlich nicht indifferent sein, so wie es in der spätmodernen Trennung des Schönen vom Guten denkbar geworden ist. Platon radikalisiert diese Tradition aber, indem er die Rolle der Kunst im Bürgerstaat erstmals reflektiert und damit ihr Telos zutage bringt. Dann wird klar, dass nur noch die gemeinschaftsdienliche Kunst ihren Platz in der Polis haben kann. Eben hier sollte man das Wechselspiel sehen, in dem der Künstler zur Forderung der Stadt steht. Nur wer als Künstler zugleich ein guter Bürger ist, weil er sich der Idee des Guten verpflichtet weiß, ist im Sinn der Grabinschrift des Aischylos auch ein guter und also geduldeter Künstler. Insbesondere das Epos reflektiert jedoch die der Polis zuwiderlaufende Scheinhaftigkeit. Deshalb muss der Epiker aus der platonischen Polis verbannt werden. Im zehnten Buch der platonischen ›Politeia‹ wird bekanntlich die Vertreibung der nachbildenden (mimetischen) Künste aus der griechischen Polis besiegelt. Es gibt, so lehrt das Beispiel von den drei Sorten von Bett, eine dreifache Nähe bzw. Entfernung von der Wahrheit; das Urbild, also die ›Physis‹, dessen erstes Nachbild die konkrete Hervorbringung ist und schließlich die Hervorbringungen der Scheinkünstler. Sie haben allenfalls noch einen vermittelten Zugriff auf das Urbild. Deshalb versuchen die Mimesis-Künstler zu täuher die Dialoge als einen Rhizomzusammenhang zu begreifen, aus dem einzelne Fäden herauszulösen sind. Dies wird in Grundzügen entwickelt und in der gegenwärtigen Platon-Forschung verortet in dem Buch H. Seubert, Polis und Nomos. Studien zu Platons Rechtslehre. Berlin 2005. 10 Vgl. dazu u. a. H. Ottmann, Geschcihte des politischen Denkens. Band 1. Stuttgart 2001, S. 19 ff., siehe auch bis heute grundlegend: A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur. Bern, München 31971.

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2 · Über das Schöne und das Göttliche – Platons erscheinende Idee

schen und einen Tisch klein und aus der Ferne darzustellen, so dass Unkundige und Uneinsichtige ihn zumindest für ein gleichrangiges Exemplar eines Einzeltisches halten. Die Nachbild-Kritik ist aufs engste mit der Frage nach dem ›idion ergon‹, der Leistung einer jeweiligen Fertigkeit, verbunden. Gefragt wird in diesem Zusammenhang indessen auch, ob die Nachahmungskunst überhaupt eine Techné sei. Es ist der kundige Gebrauch (Chresis), der eine jeweilige Hervorbringung nach ihrer Güte zu qualifizieren vermag. Nur derjenige, der mit einem Ding umgeht, kann ein kundiges Urteil darüber abgeben, ob es taugt oder nicht. Im Fall von Nachahmungen scheidet das Kriterium des kenntnisreichen Gebrauches aber von vorneherein aus; denn wem sollte Scheinhaftes dienlich sein? Deshalb beruhen die Nachbildungen nicht auf irgendeiner wohl begründeten Einsicht und noch nicht einmal auf richtiger Meinung (Orthé doxa). Platon lässt Sokrates an etwas früherer Stelle wie zur Kontrastbildung die Art der möglichen Kenntnisse des Nachbildners, jenes ›Tausendkünstlers‹, erwägen, immer unter dem Vorbehalt, dass nicht gewiss ist, ob es überhaupt ›Kenntnisse‹ sind. Wären sie es, so würde jeder Künstler ein ganzes Universum umfassen: ein Maler oder Dichter müsste sich auf alles verstehen, was in seinen Werken zur Darstellung kommt. So müsste Homer unter anderem Heerführer und Staatsmann gewesen sein. Der Abbildkritik, die sich allerdings zugleich einer der Rechenschaft fähigen Verteidigung der Mimesis nicht grundsätzlich verschließt, 11 kommen weitere Überlegungen zu Hilfe: die mimetischen Künste wirken lediglich auf die nicht-vernünftigen Seelenteile. Sie haben es nur »aus großer Ferne mit der Wahrheit« zu tun und beziehen sich deshalb auch nicht auf die Vernunft in der Seele. 12 Und vor allem: mimetische Kunstfertigkeit sucht den schlechten Seelenregungen zu gefallen. Sie schmeichelt ihnen deshalb durch Nachbildung; womit sich die – aus der Unterscheidung zwischen gleichförmiger Diegesis und Mimesis schon vertraute – Unterscheidung aus dem dritten Buch der ›Politeia‹ fortsetzt. Nachbildungen der Affekte in ihrer Vielheit und ihren auseinandertreibenden Tendenzen sind eingängig und gefällig, wie Platon eingesteht. Dabei sind sie aber

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Politeia 607 b – 608a. Ibid. 604 c.

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Polis und Schönheit

zumeist gesetzeswidrig (›parà nomon‹), zielt das Gesetz der Vernunft doch darauf, die Seele zur Ruhe zu bringen. Die Gefährdung, die von der Mimesis ausgeht, wird sich schwer einhegen lassen. Denn sie prägt die Seele auf Lust und Unlust und vermag daher auch gute Naturen zu verwirren. 13 In diesem Zusammenhang nimmt Platon gleichermaßen Malerei und Dichtung in den Blick. Der Vorwurf, die Seelen zu verderben, wird aber auf die Wortkunst, auf Komödie und Tragödie zugespitzt: was im Hinblick auf das Ende des platonischen ›Symposion‹ besonders aufschlussreich ist. Denn dort wird bekanntlich eingefordert, dass ein und derselbe kunstfertige Mann Tragödien- und Komödiendichter sein müsse. 14 Im zweiten und dritten Buch der ›Politeia‹ hatte Platon es unternommen, die Musenkunst als die eine Grundstrebe der Paideia von der Täuschung zu reinigen. Nicht nur die Dichtung, sondern ihr in unvordenkliche Zeiten zurückreichender mythischer Stoffbestand ist dabei auf das Eine, Offenbare des Wesens des Göttlichen (›to theion‹) hin zu orientieren. Platon formuliert bekanntlich den Grundriss aller gerechtfertigten dichterischen Rede von dem Göttlichen, wonach der »Gott einfach und wahr [ist] in Wort und Tat und [er] verwandelt sich weder selbst, noch hintergeht er Andere weder in Erscheinungen noch in Reden, noch indem er ihnen Zeichen (semata) sendet, weder im Wachen noch im Schlaf.« 15 Damit hängt das schon erwähnte Moment zusammen, dass ›der Gott‹ ausschließlich als Urheber des Guten benannt werden soll. Es erschiene als großes Missverständnis anzunehmen, dass auf diese Weise das tragische Geschehen und der Schmerz minimiert oder weggedeutet würden. Jenem Irrtum erlag indes Nietzsches Deutung der Sokratesgestalt als untragisch. Ganz im Gegenteil ist der Mensch damit völlig in eine Schwebelage versetzt, im Sinn des pindarischen ›Hängens‹. 16 Er ist in seiner schuldlosen Schuld alleine der Notwendigkeit zur Selbst-Kenntnis ausgesetzt.

Ibid. 605 c6 ff. Symposion 223 d5. 15 Politeia 382 e8 ff. 16 Vgl. dazu M. Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit. München 2000, vor allem S. 79 ff., S. 102 ff., S. 120 ff. mit weiteren Verweisen auf die frühgriechische Dichtung und die einschlägige Forschungsliteratur. Siehe auch ders., Schicksal 13 14

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Es ist auch augenfällig, dass Platon die Korrektur (Agraphé) der alten Mythen mit ständigen Signalen der Wertschätzung für die alte Überlieferung verbindet. 2.) An den Grundriss schließen sich unzweideutige Bestimmungen zum Formgefüge der Musenkunst an: Vorzug verdient die ›ungemischte‹ Vortragsweise, die dem Seelengleichmaß entsprechende Schrittfolge der Rhythmen und des Melos, einschließlich der Einschränkungen im Instrumentengebrauch. 17 Ideal, wenngleich in ihrer Reinheit kaum durchführbar, wäre deshalb die Rückführung der Musik auf den einen Ton. Grundlegend für alle diese Einschnitte, die Sokrates übrigens erkennbar nicht als Sachkundiger in der Musenkunst, sondern als vergesslicher Schüler des Musikmeisters Damon vorträgt, ist die Unterscheidung zwischen Diegesis, erzählender Darstellung, einerseits und Mimesis (abstandslos unmittelbarer Nachahmung) andererseits. Charakteristikum der diegetischen Darstellung ist es dabei, dass jeweilige Reden (Rheseis) vorgetragen werden und zugleich das, was zwischen (›metaxy‹) diesen Reden liegt. 18 Die Sprache verhält sich dabei zu dem, was in ihr präsent gemacht wird, abständig und qua Distanz. Der diegetisch Darstellende verwandelt sich die verschiedenen Stimmen nicht an. Dagegen bedeutet die Mimesis ein Eingehen in die jeweiligen Stimmführungen und Dispositionen, die Affekte (Pathemata) der Seele. In der Paideia ist nur die Nachbildung vollkommener Seelen zuzulassen. Sie führt an das Urbild des Guten heran. Tragödie ebenso wie Komödie, jene beiden Dichtungsarten also, mit denen das Denkdrama der Philosophie im Sinn des platonischen ›Symposion‹ in einen Agon treten soll und in engem Bezug steht, 19 sind mimetisch verfasst. Nicht anders ist es mit der dithyrambischen in Antike und Moderne. München 2004 (Sonderdruck der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung). 17 Vgl. Politeia 399 a – 400 b. 18 Ibid. 393 b8. 19 Vgl. Dazu H. Kuhn, Die wahre Tragödie. Platon als Nachfolger der Tragiker, in: K. Gaiser (Hg.), Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis. Hildesheim, New York 1970, S. 231 ff., S. Benardete, The Tragedy and Comedy of Life. Plato’s Philebus. Chicago and London 1993, S. 87 ff. Ausführliche Auseinandersetzungen zu diesem Problemzusammenhang in meinem Buch Polis und Nomos. Studien zu Platons Rechtslehre. Berlin 2004, S. 460 ff.

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Polis und Schönheit

Dichtkunst des Dionysos-Kultes, während Platon das Epos als eine Mischung von Rhesis und Mimesis begreift. Der philosophische Gesetzgeber der Politeia-Unterredung versteht sich selbst nicht als Dichter. Er soll aber der musischen Kunst ihre Grundlinie vorzeichnen. Was befähigt ihn dazu? Hier bricht die Linie des großen Streits zwischen Philosophie und Dichtung auf. Die philosophischen Gesetzgeber müssen sich dem Logos der Dialektik und seinen Begründungen anvertrauen, um das Wesen der Gerechtigkeit in der großen Schrift der Stadt lesbar zu machen. Dies geschieht gleichsam in einer ›Mimesis‹ des noch nicht Gegebenen. 20 An diesem Logos entscheidet sich, ob Komödien- und Tragödiendichter in der Polis geduldet werden sollen; 21 und dies eben nicht nach dem Belieben der platonischen Philosophen-Gesetzgeber, sondern nach der Maßgabe des Logos von der idealen Polis. Der Logos macht dann die Vertreibung der Scheinbildner und mit ihnen der Dichter aus der Polis zur Auflage; wobei sie keineswegs leichten Herzens geschieht. Deshalb erinnert der platonische Sokrates an seine Verehrung und Liebe zu Homer. In den späteren ›Nomoi‹ wird dieser Zug noch deutlicher hervortreten: Die Tragöden und Rhapsoden sollten als ›göttliche Männer‹ betrachtet werden, die bekränzt und geehrt aus der Polis verwiesen werden sollen. Seit dem platonischen Frühdialog ›Ion‹ hat die Rede von dem Dichter als dem göttlichen Mann, der aber nicht vernünftiger Rechenschaft über sein Tun fähig ist und damit zugleich dem Wahn nahe steht, stets auch einen hintergründig ironischen Zug. Noch Schelling wird ihn aufnehmen, um das spezifische Ingenium seines Jugendfreundes Hölderlin zu kennzeichnen. 22 Hier legt sich eine weitere Beobachtung nahe: dem platonischen Logos ist selbst ein Zug spezifisch mimetischer Macht eigen, wenn man ihn aisthetisch aus einer Außenperspektive betrachtet. Im Dialoggang der ›Politeia‹ oder der ›Nomoi‹ wird real vollzogen, wovon in der philosophischen Unterredung gehandelt wird; ein Korrelat

In der Sachstruktur könnte man hier eine deutliche Vorzeichnung des Topos von der Kunst als ›Mimesis des Absoluten‹ in der idealistischen Ästhetik, namentlich bei Hegel, finden. 21 Vgl. Politeia 394 d5 f. 22 Vgl. dazu im einzelnen: M. Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen 1996 (im Anhang eine Edition von Schellings Studienheften 28 und 34). 20

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dazu, dass der Logos immer Logos von Etwas (legein ti) ist. Der Dialog ist daher selbst originäre Begründung der gerechten Polis oder der Gesetzgebung. Zugleich deutet sich aber eine leichte Distanz zwischen dem Dialog und seinem Gegenstand an, eine ironisierende Geste, wodurch das Spiel mit der Mimesis weiter verdeutlicht wird: die ›Nomoi‹ etwa setzen sich in einem ›ernsten Spiel‹ der Notwendigkeit zur Gesetzgebung aus, mit einer erkennbaren Erleichterung, dass das, was sie als Gesetz vorschreiben, nicht unmittelbar real wird. 3.) Zu einem aufschlussreichen Hinweis auf die Unverzichtbarkeit der Musenkunst kommt es im ›Phaidon‹, dem Dialog, der in der fiktiven Chronologie auf den Tag des Todes des Sokrates datiert. Er teilt dort seinen Freunden einen Traum mit, der als oft wiederkehrend in verschiedener Gestalt berichtet wird. 23 Darin sagt ihm sein Daimonion: ›Sokrates treibe Musik!‹ Und Sokrates, der immer davon ausgegangen war, dass die Philosophie die vortrefflichste Musik sei, 24 widmet sich nun der ›gemeinen‹ Musik und dichtet und komponiert kleine Hymnen auf den Gott des Festes, Apollon. Dabei, so wird berichtet, folgt er den äsopischen Fabeln; ist er sich doch seiner nur arbiträren Begabung für die Musenkunst völlig bewusst. Dies ist das Indiz einer Rückbindung des philosophischen Logos an die alte, tradierte Musikkunst, so wie andernorts an Ritus und Kultus, wenn man sich an den Ausgang des ›Phaidon‹ mit Sokrates’ Aufforderung erinnert, dem Asklepios nun einen Hahn zu opfern. 25 Das Wagnis bleibt aber begrenzt. In dionysische Meere begibt sich der Philosoph nicht.

Phaidon 60 e4 f. Ibid. 61 a7 f. 25 Vgl. dazu H. M. Baumgartner, Ist der Mensch absolut vergänglich? Bonn 1998 und, in ausgezeichneter Freilegung der kultischen und religiösen Züge im ›Phaidon‹ : Chr. Schefer, Platon und Apollon. Vom Logos zurück zum Mythos. St. Augustin 1996 (International Plato Studies 7) sowie dies., Platons unsagbare Erfahrung. Ein anderer Zugang zu Platon. Basel 2001 (Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft Band 27). 23 24

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Bild und Idee

III. Bild und Idee 1.) Bild und Blick kommt, was leicht übersehen wird, eine herausragende Bedeutung im Zusammenhang des Sich-Selbstkennens zu. Dies zeigt sich in der inneren Zwiesprache der Seele mit sich über das, was sie untersucht. 26 Damit wird ein entscheidender Moment des sokratischen Philosophierens berührt. Einschlägig ist dafür schon der erste ›Alkibiades‹-Dialog. Für den delphischen Orakelspruch ›Gnothi seauton‹ – ›Erkenne dich selbst!‹ – soll es nur einen Beispielfall der Erläuterung geben, nämlich den Gesichtssinn (Opsis). 27 Denn er eröffnet die Bezüge eines Blickes, der in seinem Schauen zugleich das Gesehene und sich selbst gewahrt, ähnlich wie es beim Spiegelbild (Kátoptrá) der Fall sei. 28 In der Mitte des Auges findet sich ein Sehvermögen, in dem die Spiegelung in deutlicher Ausprägung angelegt ist: 29 nämlich in der Pupille, die als die eigentliche Tugend des Sehens begriffen wird. »Ein Auge also, welches ein Auge betrachtet, und in das hineinschaut, was das Edelste darin ist, und womit es sieht, würde so sich selbst sehen.« 30 Der so verstandene Augen-Blick kann in Analogie zur Selbsterkenntnis verstanden werden, die nur gewonnen wird, wenn »die Seele […] in eine Seele sieht.« 31 In deren Innerem, der Tugend der Seele (Psyches arete), der das Ähnlichkeitsbild der Pupille entspricht, gewahrt sich der Erkennende selbst. Die Seelen-Arete wird als der Seele einwohnende Weisheit begriffen. Sie ist das Göttliche in der Seele »und wer auf dieses schaute und alles Göttliche

Vgl. Theätet 189 e 6 f. Vgl. Alkibiades 132 d3. 28 Ibid. 132 e2. 29 Die Spiegelbildlichkeit sollte in der Frage des Selbstwissens eine nachhaltige gewichtige Rolle spielen: einerseits im Zusammenhang der Philosophie der Renaissance, vgl. Carolus Bovillus, Liber de intellectu. Liber de sensibus et al. Paris 1510, ein Nachdruck dieser Werksammlung erschien Stuttgart, Bad Cannstatt 1970, dazu auch S. Otto, Renaissance und frühe Neuzeit (= Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Band III). Stuttgart 1984, S. 287 ff.; andererseits in der frühidealistischen und frühromantischen Metaphysik der Subjektivität, vor allem in den Fichte-Studien des Novalis, dazu einführend: M. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/Main 1989, S. 248 ff. und S. 262 ff. 30 Platon, Alkibiades 133 a1 ff. 31 Ibid. 133 b6 f. 26 27

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erkennte, Gott und die Vernunft, der würde so auch sich selbst am besten erkennen.« 32 Im Abbild ist also eine spiegelbildliche Lesbarkeit des Eigenen im Anderen angezeigt, deren Bildlogik allerdings nur vordergründig auf das Abbild (die fremde Seele) eines Urbildes (die eigene Seele) orientiert ist. In der Fokussierung auf die Pupille wird am Anderen vielmehr spiegel- oder abbildlich das Urbild der eigenen Seele, deren göttliche Arete, erkennbar. Gegenüber jenem Urbild-Sehen im Abbild, das konstitutiv für die Ähnlichkeitsverhältnisse im ›Timaios‹ sein wird, ist das Hin- und Hersprechen gesprochener Sprache und dialektischer Vergegenwärtigung der Wahrheit ein mitschwingendes, sekundäres Phänomen. Dies wird sinnfällig in einer berühmten Sequenz im ›Theätet‹. 33 Der Denkvollzug wird dort als der Logos expliziert, »welchen die Seele bei sich selbst durchgeht über das, was sie erforschen will.« 34 Solange sie denke, vollziehe sie nichts anderes, als sich mit sich selbst zu unterreden. Die äußerlich verlautende Befragung gibt nur eine äußerliche Versinnlichung (ein Abbild) davon, wie sie sich selbst antwortet, in Bejahung und Verneinung. 35 Auch das doxazein: ein jeweils fixierendes Vorstellen, das das Durchgehen der Rede abbricht, ist, ebenso wie das Denken, innerlich gesprochene Rede, »nicht mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst«. 36 Die hörende Dimension der Sprache 37 hat also am Grund des platonischen Logos einen kaum bemerkten Ursprungsort. Die Verbildlichung, die in der Analogie von Gesichtssinn und Denken im Sonnengleichnis von Platon immer wieder variiert wird, gibt dem inneren, stimmlosen Sprechen seine Struktur vor. Als ›Ekgonos‹ (Sprössling) der Erkenntnis der Idee des Guten muss Ibid. 133 c9 f. Theätet 189 e4. 34 Ibid. 189 e6 ff. 35 Ibid. 189 e8 – 190 a1. 36 Ibid. 190 a6 f. 37 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 151984, S. 160 ff. (= § 34: Dasein und Rede. Die Sprache), Siehe auch, stärker bezogen auf die Spätphilosophie Heideggers in ›Unterwegs zur Sprache‹ und in spekulativer Eigenständigkeit M. Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Frankfurt/Main 1990, S. 7 ff. sowie das Gespräch Manfred Riedels mit Steffen Dietzsch, Auf die Sprache hören, in: H. Seubert (Hg.), Verstehen in Wort und Schrift. Europäische Denkgespräche – für Manfred Riedel. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 170 ff. 32 33

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Bild und Idee

man allerdings nicht einzelne Momente, sondern den ganzen Bildzusammenhang sinnlicher Wahrnehmung verstehen. Die Analogie des Sonnengleichnisses verläuft deshalb zwischen der gesamten Phänomenstruktur von ›sehen‹ (›horan‹) und ›denken‹ (›noein‹). 38 Denn der Gesichtssinn, der, indem er auf die Vielheit schöner Erscheinungen geht, immer ein Sehen des Abbildes ist, unterscheidet sich von aller anderen Gestalt sinnlicher Wahrnehmung dadurch, dass er aus einem Dritten zu Sehsinn und Gesehenem erst ermöglicht ist, dem Licht, das in der Sonnenhelle (Helios) seinen höchsten Grad erreicht. Wiederum, in der Anlage ähnlich wie im ›Charmides‹, führt das Abbild anagogisch oder apagogisch auf das Urbild zurück: »Dieses also, was dem Erkennbaren Wahrheit (aletheian) mitteilt und dem erkennenden (to gignoskonti) das Vermögen (dýnamin) hergibt, sage, sei die Idee des Guten« 39; was einschließt, dass Erkenntnis und Wahrheit in der Idee ihre Ursache haben. Eben in dieser Urbildlichkeit besteht ihre ›über alles Auszumessende hinausgehende Schönheit‹ (›améchanon kállos‹). 40 Der Zusammenhang zwischen Sehen und Denken ist im Spiel, sobald nur »das Schöne selbst, das Gute selbst« und alles ihm entsprechende Viele »als eine Idee eines jeden« 41 ›gesetzt‹ wird; ein Schritt, der für die Gewinnung platonischer Dialektik, ausgehend von der Sokrates-Frage ›ti estin‹, maßgebend ist. Man denke an die Rede vom ›Schema‹ oder ›Eidos‹ des Gesuchten in den Frühdialogen bzw. an die ›Hypothesis des Eidos‹, den Ein-schritt auf die Idee in der Frage, was etwas in Wahrheit ist. Die Noesis ist daher Erblicken des Urbildes, so wie das ›horan‹ als Bild-Sehen, in klarer und eindeutiger Unterscheidung von Formen des unterscheidenden, durchnehmenden Wissens, expliziert wird. In solchem Sehen kommt die Dialektik zu ihrem Ziel und Ende, wodurch die Abgegrenztheit der ›Idea tou agathou‹ weitere und schärfere Konturen gewinnt. Sokrates hatte sie einerseits als das erste, als ›arché‹ und ›aitia‹, gekennzeichnet, von dem nicht nur das Erkanntwerden, sondern auch das Werden und Sein herrühre. 42 Er

38 39 40 41 42

Politeia 507b. Ibid. 508 e1 ff. Ibid. 509 a6. Ibid. 507 b6. Ibid. 509 b6 f.

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hat ihr damit gleichermaßen gnoseologische und ontologische Bedeutung gegeben. Alles Wissen, das nicht auf jenen Grund des Einen zurückführe, sei ungegründet; den in dem ›megiston mathema‹ Unbewanderten sollte deshalb unter keinen Umständen das Wohl der Polis anvertraut werden. Gleichwohl handelt Sokrates von jenem Wissen seinerseits als von einer bloßen Hoffnung (Elpis). Man sollte an dieser Stelle nicht übersehen, dass er über die Struktur des ›noein‹ im ›Theätet‹, das stimmlose innere Zwiegespräch der Seele mit sich selbst, auch nur als ein ›Nichtwissender‹ geurteilt hatte. Als den gegenüber ihrer Propädeutik in den mathematischen Künsten auszeichnenden Wesenszug der Dialektik charakterisierte Platon im siebten Buch der ›Politeia‹ die nicht fortschreitende, sondern auf den Anfang zurückgehende Schrittfolge einer sich auf ihre Voraussetzungen zurückbeziehenden Denkart: 43 die Dialektik geht, anders als die dianoetische Wissensform der propädeutischen Disziplinen, einschließlich der Mathematik, nicht von Hypothesen aus, um deren Herkunft und Begründetheit sie nicht weiß. Sie verfolgt deren Reihe zurück, um den Anfang festzumachen, »auf diese Art alle Voraussetzungen aufhebend gerade zum Anfange selbst.« 44 Die Genauigkeit, die jene höchste Wissensform kennzeichnet, öffnet sich nur einer intuitiven, sehenden Berührung, nicht einem propositionalen ›Wissen, dass‹. 45 Das höchste Wissen ist Sehen kat’ exochèn, wie eine Vorgestalt der aristotelischen ›noesis noeseos‹ als Inbegriff des metaphysischen Gottes und der Theoria als göttlicher Lebensform, das durch kein Ähnlichkeitsbild angenähert oder substituiert werden kann. 46 Wer die ›Idea tou agathou‹ nur zufällig und ohne den Rückgang in den Anfang kennen würde, »würde dieses Leben verträumend und verschlummernd in die Unterwelt kommen.«

Sie ist zumindest auf einer Linie von Platon über Descartes bis hin zu Schellings negativer Philosophie und Husserls Epoché ein Leitfaden philosophischer Methode geblieben, den es einmal im einzelnen zusammenhängend freizulegen gälte. 44 Politeia 533 c8. 45 Dazu heute einschlägig W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, insbesondere S. 150 ff., S. 236 ff. und S. 252 ff. 46 Vgl. Politeia 534 c–d, wo der Kontrast als ein zufällig durch Meinung getroffenes Bild bezeichnet wird. 43

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Bild und Idee

2.) Vor der kontrastierenden Folie der Mimesis-Kritik im abschließenden Buch der ›Politeia‹ und vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sollte man die Erwägungen über Bild und Nachbild im ›Kratylos‹ mit besonderer Aufmerksamkeit prüfen. Denn während in der ›Politeia‹ bildende, insbesondere nachbildende Tätigkeit überhaupt als gesetzeswidrig (›parà nomon‹) gedeutet wird, wird im ›Kratylos‹ die Frage nach dem Bild in die Erwägung eingeführt, um kenntlich zu machen, wie der Gesetzgeber und erste Benenner verfährt, um den seienden Dingen den ihnen angemessenen Namen zu geben. Als ›Bildner der Wörter‹ muss er für jedes Seiende einen »seiner Art nach gearteten Namen« wissen. 47 Die dazu erforderliche Genauigkeit ist allerdings keineswegs ›akribisch‹ im Sinn des platonischen Akribie-Ideals, einer Begründung, die bis auf die Einzelheiten führt. 48 Im Hinblick auf die Instanz des sachkundig Gebrauchenden wird darauf verwiesen, dass, um Brauchbarkeit zu erreichen, nur dasselbe Grundbild zugrunde gelegt werden müsse, auch wenn es in unterschiedlicher Materie realisiert wird. Die selbe Grundgestalt macht zum Beispiel ein Werkzeug identifizierbar und nützlich, auch wenn es in Eisen von verschiedener Härte oder Herkunft gefertigt ist. »Und ebenso wirst du auch dafür halten, dass unser Gesetzgeber, der hiesige wie der unter den Barbaren, so lange er nur die Idee des Wortes (Onomatos eidos), wie sie jedem insbesondere zukommt, wiedergibt, in was für Silben es auch sei, kein schlechterer Gesetzgeber ist.« 49 Es ist, wie in den Belangen der Kunst, der Gebrauchende, der darüber allein die Aufsicht führen soll. Im Fall der sachgemäßen Benennungen ist er der ›dialektische Mann‹ ; da er sich auf jene Fertigkeit versteht, welche die Idee der Worte ans Licht bringen soll: nämlich darauf, zu fragen und zu antworten, ist er gerade dazu prädestiniert, die Sprachgesetzgebung zu überwachen. Das Verhältnis von Abbild und Namengebung wird an späterer Stelle des Dialogs wieder aufgenommen, wenn festgehalten wird, dass sie beide Nachahmungen gewisser Dinge sind (μιμήματα εἴναι πραγμάτων τινῶν) 50. Eben damit muss aber Kratylos’ Behauptung

Kratylos 389 d4 f. Vgl. dazu D. Kurz, AKRIBEIA. Das Ideal der Exaktheit bei den Griechen bis Aristoteles. Göttingen 1970. 49 Kratylos 390 a5 ff. 50 Ibid. 430 b4, vgl. auch 431 a. 47 48

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in Zweifel gezogen werden, dass Benennungen ›immer‹ zutreffend seien und gar nicht in die Irre führen könnten. Abbildung wird dabei ihrer Idee nach als eine Zuteilung begriffen, die jedem das ihm zukommende oder doch ähnliche zuteilt (προσῆκόν τε καὶ τὸ ὅμοιν) 51 – Sokrates beharrt in diesem Zusammenhang gegenüber Kratylos auf der unbedingt erforderlichen Strukturgleichheit zwischen Wortgebung und Bildlichkeit. In beiden Fällen, beim Bild unmittelbarer einsichtig, kann das Unrichtige für etwas ausgegeben werden, das es nicht ist, womit das Grundphänomen der Täuschung bestimmt ist. Offenkundig richtet sich die Forderung an diesem Punkt des Dialoges nicht auf die ›eine Idee‹ und ›eine Gestalt‹, sondern vielmehr auf Angemessenheit bzw. Ähnlichkeit in der Zuweisung proportionaler Verhältnisse und der Wiedergabe des Einheitssinns der Gestalt. Wenn dies gewährleistet ist, kann die einzelne konkrete Gestaltgebung variieren. Im Hintergrund steht eine Erwägung über die Struktur der Gerechtigkeit. Dabei wird, anders als am Dialogbeginn, ein poietisches Maß angelegt: Wer alle zu einem Wesen zugehörigen Züge darstellt, wird schöne ›Grammata‹ und Bilder (Eikónas) hervorbringen. Wer hingegen etwas auslässt oder zu viel hinzugibt, der macht zwar Bilder und Zeichnungen, aber schlechte. 52 Die poietische Explikation nötigt dazu, vor der Frage, ob die Etymologie von Stammwörtern Aufschluss über das Wesen der bezeichneten seienden Dinge gibt, zu verdeutlichen, dass eine Nachbildung, die soweit irgend möglich nichts auslässt, gerade das Spezifikum von Bild bzw. Bezeichnung verfehlen müsste. Denn ein derart ›belebtes‹ Bild, bei dem nicht nur Farbe und Gestalt, sondern auch »Weichheit und Wärme, und dann auch Bewegung, Seele und Vernunft« 53 zur Ansicht gebracht würden, ergäbe einen zweiten Kratylos, eine Verdoppelung des Urbildes, eine Art von Klon. Daher muss nach einer ›anderen Richtigkeit‹ 54 gesucht werden: nach der spezifischen Richtigkeit des Bildes und der Wortbenennungen. Sie wird auf den ›Typos‹ des darzustellenden Dinges bezogen, auf Grundzüge, die auch noch erkennbar sind, wenn einzelne Konturen überzeich51 52 53 54

Ibid. 430 c12 f. Kratylos 431 c1 ff. Ibid. 432 c1 f. Ibid. 432 c7 f.

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Bild und Idee

net, andere ausgelassen sind. Die Orientierung auf Ähnlichkeit und Typos weist auf das bis zu dieser Stelle nicht wieder aufgenommene Verhältnis zwischen dem Sprachgesetzgeber und dem Dialektiker zurück, der die Hervorbringungen des Nomotheten beurteilen können sollte. Denn eine vollständige, in allen Zügen genaue Mimesis, wie sie Kratylos vorschwebt, ist unmöglich. Sie würde die Trefflichkeit des Bildes den Beurteilungen des Augenscheins zugänglich machen. Die dialektische Beurteilung wird erforderlich, weil ein in den Einzelheiten nicht-übersehbares ›Zwischen‹, eine ›gewisse Ähnlichkeit‹ zwischen den Nachbildungen (Wort und Bild) und den Pragmata, entsteht. Deshalb wird die spezifische Befähigung des Dialektikers benötigt. Um aber überhaupt die Wirksamkeit des Gesetzgebers der Sprache ermessen zu können, muss ein Zugang zum Wesen der seienden Dinge unabhängig von der Sprache angenommen werden; wobei es als zusätzliches Dilemma, in der Grenzziehung zwischen den großen Gattungen von Ruhe und Bewegung, erkannt wird, dass manche Benennungen auf einen fließenden und bewegten, andere hingegen auf einen in sich ruhenden, in den Stammwörtern sichtbar werdenden Charakter der Sprache orientiert sind. 55 Erst mit der Forderung, die Dinge »nicht durch die Worte«, sondern im Bezug auf sie selbst zu erforschen, 56 ist die Position des Dialektikers erreicht. Die Benennung wird nicht als Mimesis, sondern als Darstellung charakterisiert. Sie ist Kundmachung (Déloma) des Gegenstandes »durch Silben und Buchstaben.« 57 In einer tiefgründigen Analogie dazu ist zunächst ein Verhältnis wie jenes zwischen den Farben eines Gemäldes und den dargestellten Dingen angedeutet. Die Farben müssen etwas von dem Seienden an sich haben, sonst könnten sie es nicht freilegen. 58 Die Erkenntnis dieser ›Ähnlichkeit‹ ist aber, eben weil sie sich jeweils auf das Werdende und Vergehende bezieht, außerordentlich dürftig. Vgl. zum ›Kratylos‹ im Einzelnen: A. Soulez, Grammaire philosophique chez Platon. Paris 1991. 56 Von hier her verweist der ›Kratylos‹ auf das noetische Gefüge im ›Sophistes‹, gleichermaßen aber auf eine okular am eidetischen Sehen orientierte aisthetische Fixierung der Sprache im eidetischen Logos. Auf diesen Grundzug hat mich Edmund Braun zutreffend hingewiesen. 57 Kratylos 433 b3. 58 Ibid. 434 b1 f. 55

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Dies führt zu der Modifizierung, dass das ›deloun‹, die eröffnende Kraft des Wortes, nicht nur in einer Ähnlichkeit, sondern auch in der Gewohnheit (Ethos) grundgelegt sei, die auf Sich-Verabreden (Xyntheke) beruht. Letzteres gesteht Kratylos nur sehr zögerlich zu. Zu fragen ist von hier her: »was für ein Vermögen die Wörter eigentlich haben, und wie wir sagen wollen, dass sie uns Schönes ausrichten.« 59 Kratylos will nicht weniger behaupten, als dass Einsicht in das Wesen eines Dinges, sein Eidos, nur über das Wort angegeben werden kann. Wenn die Worte ›Darstellungen‹ sind, die zeigen, was ist, so liegt diese Auffassung tatsächlich nahe. Sie bringt aber weitere fundamentale Probleme mit sich. Dies erweist sich in einer sprachgenealogischen Betrachtung. Denn bis hier her bleibt die Frage unbeantwortet, was wäre, wenn der erste Gesetzgeber sich geirrt hätte. Kratylos möchte diesen Zweifel, die Annahme gleichsam eines frühen ›spiritus malignus‹ gar nicht zulassen. Der erste Benenner und Gesetzgeber soll vielmehr notwendigerweise als ein Wissender gedacht werden. Der dafür angegebene Grund ist indes außerordentlich problematisch. Vorausgesetzt wird der vollkommen ausgewogene harmonische Zusammenhang zwischen den Dingen. Bei näherem Zusehen zeigt sich aber, dass ein solcher Zusammenhang zumindest im buchstäblichen Sinn gar nicht existiert. Er kann der Natur ebenso wenig abgelesen werden, wie der natürliche Nous des Anaxagoras fehlschlagen muss. Worte zeigen die Dinge in Bewegung, soviel ist dargelegt worden; sie zeigen sie aber auch in Ruhe. Wenn man den Urgesetzgeber und Erstbenenner als Wissenden bezeichnet, dann muss er vor aller Sprache ein Wissen vom WesensWas der Dinge gehabt haben. Dieses erweist sich freilich im ›Kratylos‹ als wenig stabil und beständig. Vielmehr zeigt sich die phänomenale Dualität zwischen Sein und Werden, dem einen Sein des Parmenides und dem Logos der ›gegenstrebigen Harmonie‹ Heraklits. 60 Auf der mythologischen Ebene der Darlegungen ist es offenIbid. 435 d1 ff. Vgl. zur Sache grundlegend K. Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Berlin, New York 1980, vor allem S. 494 ff. und S. 545 ff. Im inneren Rhizom des platonischen Dialogwerks verweist der ›Kratylos‹ damit aufs engste auf ›Theaitetos‹, ›Parmenides‹, Sophistes‹. Dazu näheres in Verf., Platon. Eine Einführung (im Erscheinen für 2016).

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Bild und Idee

sichtlich, dass die Zweiteilung eine göttliche Genese ausschließt und allenfalls eine daimonische Genealogie zulässt. »Wohlan denn, beim Zeus, haben wir nicht oft eingestanden, dass wohlabgefasste Worte müssten demjenigen, welchem sie als Namen beigelegt sind, ähnlich, und also Bilder der Gegenstände sein.« 61 Noch einmal zeichnet sich eine subtile Modifizierung der Abbildrelation ab: von der Mimesis über das ›deloun‹ führt sie nun zu ›eikon‹, einem Ähnlichkeitsbild. Die volle platonische Bedeutung dieses Wortes wird sich erst im ›Timaios‹ entfalten. Die Erkenntnis der Dinge (Onta) durch die Worte wäre dann nur abbildlich, also nicht vollkommen; die schönere und sicherere Art der Erkenntnis aber wäre jene durch die Prágmata: eine Erkenntnis der Dinge selbst. Die Zweiteilung in Ruhe und Bewegung gibt zugleich zu verstehen, dass die Sprache selbst als Hall und Hauch im Fluss der Zeit, dem ›panta rhei‹ der Herakliteer, wie Platon sie im ›Theaitetos‹-Dialog behandelt, befangen bleiben muss. Dennoch ist sie abbildfähig für die eidetischen Urbilder. 62 Bei näherem Blick zeigt sich, dass die Erschließungskraft der Sprache mittels der Idee schon an viel früherer Stelle im ›Kratylos‹Dialog vorgezeichnet ist. Das Nennwort soll nämlich das Wesen der bezeichneten Dinge oder Sachverhalte und nicht deren sinnliches Korrelat nachahmen. 63 Damit ist die Erschließungskraft der Etymologie relativiert. Der Grammatiker erweist sich lediglich als eine Art Physiker der Sprache. Er beschreibt nur die äußeren Bewegungen, aber nicht deren Grund. Wittgenstein hat die Frage nach dem ›Ordnungszusammenhang der Sprache‹ im ›Kratylos‹ wohl zu Recht, als Urbild unlösbarer Probleme begriffen. 3.) Die platonische Rehabilitation des Ähnlichkeitsbildes findet ihre unmittelbarste sachliche Fortschreibung in der Bestimmung der ›guten Logoi‹ im zweiten Teil des ›Phaidros‹. Dort wird nämlich deutlich, dass die Kunstgemäßheit von Logoi verlangt, dass der Redner erkennt, was jedes Seiende ›in Wahrheit‹ ist. Alle Kenntnis der Rede, die sich auf diesen dialektischen Anfangspunkt nicht versteht, ist nur in die Vorhalle der Redekunst eingedrungen. Bezeichnenderwei61 62 63

Kratylos 439 a1 ff. Ibid. 439 b1 ff. Vgl. ibid. 388 und 389.

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se sollen Meister der Kunst den Maßstab vorgeben, an dem sich auch die Redekunst orientieren muss. Auf ihre Überredungsmacht und die Erzeugung von ›Dissoi Logoi‹ zielende Redner sind nicht besser als ein Mann, der sich als in musikalischer Harmonielehre Kundiger präsentiert, obwohl er nur eine Saite stimmen kann oder wie ein anderer, der verschiedene ›Reden‹ dichtet und sich den großen Tragikern Sophokles oder Euripides als Tragödiendichter präsentiert. Die gutem Reden vorausgehende Erkenntnis der Wahrheit verlangt Kenntnis der Dialektik in ihrer zweifachen Betätigungsweise: zum einen als die Fähigkeit, Getrenntes zusammenzuschauen (xynorònta ta pollachè), und zum anderen, es wieder nach Begriffen zu zerteilen, »gliedermäßig wie jedes gewachsen ist.« 64 Damit werden implizit zugleich ›Symploké‹ und ›Dihairesis‹ als doppeltes dialektisches Grundverfahren expliziert. Zugleich wird deutlich, dass die wahre Rede noch tiefer reicht, 65 nämlich bis in die Prinzipienerkenntnis des nicht voraussetzungshaften Anfangs, des ›Anhypotheton‹. Die gute Redekunst, unter die auch die Dichtung fallen soll, muss Kenntnis von der Natur des Seienden haben, von welchem sie spricht. Eben deshalb ist sie das genaue Gegenstück zur mimetischen Tausendkünstlerei im Sinn von ›Politeia‹ Buch X. Sie wird dezidiert von dem ›spitzfindigen und hochfliegenden Geschwätz‹ abgegrenzt, das Perikles von der Nouslehre des Anaxagoras entliehen hätte. 66 Mit dieser polemischen Abgrenzung wird die Grenzsetzung gegenüber einer nicht auf Prinzipien basierenden Naturerkenntnis wiederholt. Solche Prinzipienkenntnis ist vom ›guten Redner‹ zu verlangen, da er gleichsam eine medizinisch therapeutische Aufgabe zu erfüllen hat: er soll die Seelen derjenigen, an die er sich wendet, im Sinn der Katharsis reinigen und stärken. Zuerst muss er also die Natur der Seele kennen, was nicht möglich ist ohne Kenntnis der Natur im Ganzen τῆς τοῦ ὅλου φύσεως; 67 und diese wiederum ist, wie der Verweis auf den Nous des Anaxagoras zeigt, nicht aus der Phaidros 265 e2. Im ›Sophistes‹ kann die Einteilung über ›Symploke‹ und ›Dihairesis‹ offensichtlich nicht zur Auffindung des Tausendkünstlers führen. Dies zeigt sich Sophistes 231 b10 – 232 b1. Und dieses Fehlschlagen nötigt erst zu der den dialektischen Logos grundlegenden Frage nach der möglichen Verflechtung von Sein und Nichts, die ihrerseits über die Explikation der großen, noetischen Gattungen gewonnen wird. 66 Phaidros 270 a. 67 Ibid. 270 c2. 64 65

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Bild und Idee

Natur selbst, sondern nur in der zweitbesten Seefahrt der Ideen zu gewinnen. Jedwede ›techné rhetoriké‹ muss daher philosophische Seelenkenntnis und damit eine Form der Seelenführung (Psychagogia) sein. Dabei geht es vor allem darum, zu unterscheiden, »ob die Seele eins ist und sich überall ähnlich oder auch nach der Gestalt des Leibes vielartig [verhält].« 68 Zur philosophischen Vorkenntnis der guten Logoi gehört auch das Wissen, wann zu reden und wann vielmehr zu schweigen ist. 69 Der Umriss einer auf Wahrheit, nicht auf Schein beruhenden Redekunst liegt dann der Sage von Theuth, dem Schriftbegründer, und Thamus, seinem Beurteiler, zugrunde, der zur Einsicht gelangt sein soll, dass vieles am Schreiben nur ›Spiel‹ sei. Deshalb sollte die Bedeutung der Buchstaben (Grammata) nicht überschätzt werden. Sinn und Legitimation haben sie nur, wenn sie als Erinnerungszeichen (Mimemata) gebraucht werden. Der bessere verschriftlichte Logos ist jener, der weder, um zu ›belehren‹, noch, um zu ›überreden‹ (peithein) abgefasst wird. Es ist die Rede, »welche mit Einsicht (epistémes) geschrieben wird in des Lernenden Seele, wohl im Stande sich selbst zu helfen, und wohl wissend zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides soll.« 70 Man sollte nicht übersehen, dass die Bestimmung wahrer Rede im ›Phaidros‹ im Horizont einer halb ironischen Warnung vor der Sogkraft der Kunst expliziert wird. Von dieser Gefahr weiß Phaidros freilich nichts. Ruhepunkt des Gesprächs ist der hohe Mittag, die Panstunde mit ihren zirpenden Zikaden. Sie sind einer Legende zufolge Metamorphosen von Menschen, die sich verzückt an die Musen verloren und über dem Wohlklang vergessen hätten zu essen und zu trinken und deshalb verhungert wären. Die Gnade, die der Gott den Zikaden angedeihen lässt, besteht darin, dass sie »ohne Speise und Trank sogleich singen bis sie sterben, dann aber zu den Musen kommen und ihnen verkünden, wer hier jede von ihnen verehrt.« 71 Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass die Erwägungen über den guten Logos einen untergründigen Bezug auf die Urbild-Abbild68 69 70 71

Ibid. 271 a7. Ibid. 272 a4. Ibid. 276 a6 f. Ibid. 259 c5 f.

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frage aufweisen. Denn die Erinnerung an die Schau des überhimmlischen Ortes, wie sie vor allem der Eros eröffnet, wird bei den Wenigen, die sich des Urbildes noch inne sind, ein ›Entzücken‹ verursachen. Sie werden in einen göttlichen Wahnsinn versetzt und »sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen.« 72 In diesem Zusammenhang entfaltet Platon die strikte Unterschiedenheit des Sehsinns von allen anderen Sinnen in einer sehr bemerkenswerten Passage, die mit der nur der Idee des Guten vergleichbaren Ausnahmestellung des Schönen eng zusammenhängt: »Denn das Gesicht ist der schärfste aller körperlichen Sinne, vermittelst dessen aber die Weisheit nicht geschaut wird, denn zu heftige Liebe würde entstehen, wenn uns von ihr ein so helles Ebenbild dargeboten würde, durch das Gesicht noch auch des anderen liebenswürdigen. Nur der Schönheit aber ist dieses zu Teil geworden, dass sie uns das hervorleuchtendste (ekphanestáton) ist und das liebreizendste (erasmiotaton).« 73 Dies ist eine schmerzende Helligkeit, die unmittelbar, nicht in der Art von Urbild und Abbild anagogisch zur höchsten Idee führt. Dafür sind die Strukturen der Idee des Guten und des Schönen selbst allzu verwandt, es ergibt sich gleichsam ein doppelter ›Gipfel der Betrachtung‹ 74. Das Nächste muss in eine gewisse Differenzierung geführt werden. Entbildlichung und Distanzierung sind erforderlich, um im Schönen die Idee zu erfassen. Es liegt nahe, die Schrittfolge dieser entzerrenden Versinnbildlichung im Sonnengleichnis und im ›Symposion‹ zu finden. Die Schönheit hat eine Evidenzkraft, die alle anderen Tugenden, ›aretai‹, als ›Abbild‹ (eikonas) des überhimmlischen noetischen Kosmos nicht erreichen. »Denn der Gerechtigkeit, Besonnenheit, und was sonst den Seelen köstlich ist, hiesige Abbilder haben keinen Glanz, sondern mit trüben Werkzeugen können auch nur Wenige von ihnen mit Mühe jenen Bildern sich nahend des Abgebildeten

Ibid. 250 a7–b1. Ibid. 250d3 ff. 74 Der Titel bezieht sich auf die Schrift des Nicolaus Cusanus: De apice theoriae. Die höchste Stufe der Betrachtung, an Ostern 1464, wenige Monate vor dem Tod des Cusaners verfasst, hier nach der Edition von Hans-Gerhard Senger, Hamburg 1986 (Heft 19 der lateinisch-deutschen Parallelausgabe). 72 73

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Geschlecht erkennen.« 75 Daraus ist nun die Konsequenz zu ziehen, dass der Logos die Evidenzgewissheit des Bildes erst auslegen muss; nicht weil sie dunkel wäre, sondern weil sie überhell ist. Zur Verdeutlichung wäre auf eine durchgängig platonische Differenz bei Hölderlin zu verweisen: das Bild vom ›Feuer vom Himmel‹, das bewahrt, beseelt, in die ›Kraft der Darstellung‹ übersetzt werden muss. 76 4.) Der Agon mit der Kunst ist platonischem Philosophieren an verschiedenen Stellen noch ausdrücklich eingeschrieben. Darüber hinaus lässt Platon diesen Grundzug in der kunstvollen Gestalt der Dialogfügung mehrfach implizit erkennen. In den ›Nomoi‹ wird die Philosophie als die ›wahre Tragödie‹ ausgezeichnet. Besonders aufschlussreich scheint vor diesem Hintergrund auch der Hinweis des Sokrates am Ende des ›Symposion‹, dass es sich für einen und denselben zieme, dass er »Komödien und Tragödien dichten« könne. 77 »Der kunstfertige (techné) Tragödiendichter wäre zugleich auch kunstfertiger Komödiendichter.« 78 Im ›Symposion‹ führt Platon dies durch. Beide Stimmen sind dort vertreten, aber gleichsam seiten- oder spiegelverkehrt: Es ist der Komödiendichter Aristophanes, der von der ursprünglichen Verfassung des Menschengeschlechts, der sphärischen Grundgestalt und ihrem Verlust spricht; und es ist der Tragöde Agathon, der Eros als die Macht lobt, die »in den Gemütern und Seelen der Götter und Menschen« 79 ihren Wohnsitz aufschlägt und Urheberin von allem Guten ist. Erst mit der Geburt des Eros, so hält er fest, sei die Macht der Notwendigkeit zurückgedrängt worden und »alles Gute bei Göttern und Menschen« hervorgegangen. Beide Seiten, Tragödie und Komödie, können erst zusammen Phaidros 250b1 ff. Einschlägig ist hier insbesondere Hölderlins Brief an Casimir Böhlendorff aus dem Spätherbst 1802 (StA VI, Nr. 240, S. 1086 ff.). Siehe dazu Heideggers große Abhandlung: Hölderlins Erde und Himmel, in: GA I, Band 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt/Main 1981, S. 152 ff. Siehe auch Heideggers Rheinhymnenvorlesung GA II Band 39 (WS 1934/3) bzw. die Vorlesung über die Ister-Hymne GA II Band 53, SS 1942. 77 Phaidros 223 d4. 78 Ibid. d 5. 79 Symposion 195 e4 f. 75 76

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verständlich machen, dass Eros ein Daimon ist, ein Zwischen-Wesen. Was aber bedeutet es, wenn der philosophische Logos gleichermaßen Tragödie und Komödie ist? Diese Frage soll hier nicht beantwortet werden. Sie führt ins Zentrum der platonischen Philosophie, das immer noch mit der Analogie zur Kunst behaftet bleibt. 5.) Im platonischen ›Timaios‹ wird das Verhältnis von Urbild und Abbild vor dem Problematon der Genesis des ›Werdens zum Sein‹ zum durchgehenden, generierenden Prinzip. Timaios gesteht ein, als die Reihenfolge der Rede an ihn kommt, dass er von der Genesis des Kosmos keine genaue Kenntnis, sondern nur in einem ›eikos mythos‹ oder ›eikos logos‹, »eine nach allen Seiten und in allen Stücken mit sich selbst übereinstimmende und zugleich der Sache genau entsprechende Darstellung« geben könne. 80 Eine begriffliche Genauigkeit zu erreichen, ist deshalb nicht möglich, weil, wie Timaios zu verstehen gibt, ›alle‹, er als Darsteller und seine Zuhörer, nur von menschlicher Natur seien. Sie können deshalb den göttlichen Plan nicht entschlüsseln. Deshalb müsse man mit der Wahrscheinlichkeit des dargebotenen Mythos vorliebnehmen. Die nur wahrähnliche und das heißt zugleich bildhafte Exposition hat darin ihren Ursprung, dass der Kosmos selbst Abbild von etwas Ewigem ist. Allein von dem Ewigen, immer Seienden aber ist genaue Erkenntnis gemäß der Idee möglich, vom Abbild nur annäherungsweise Einsicht. Die Kosmogonie hat es mit dem Kosmos als dem ›schönsten von allem Entstandenen‹ zu tun. 81 Dieses ist aber ein Abbild eines immer seienden, nicht-gewordenen Urbildes. Das auch im ›Kratylos‹ strittige Verhältnis der beiden großen Gattungen von Ruhe und Bewegung 82 durchzieht auch den ›Timaios‹. Zunächst hat man sich daran zu erinnern, dass der Timaios der Fiktion nach am Tag nach dem ›Politeia‹-Gespräch datiert. Er soll die Gründungslegende der »Polis in Bewegung« entwickeln, des Eidos in der Zeit. Sein politischer Subtext besteht darin, die naturwüchsigen Voraussetzungen der ›Politeia‹ kenntlich zu machen. In der ›Politeia‹ Timaios 29 c6. Ibid. 29 a5. 82 Als ›megista gené‹ (große Gattungen) werden sie aufgewiesen im ›Sophistes‹ 254 b8 – 255 e, wo die Fünfzahl solcher eigenständiger noetischer Gattungen als Grundgefüge der Dialektik expliziert wird: Seiendes (on), Bewegung (kinesis), Ruhe (stasis), Selbiges (tauton), Verschiedenes (thateron, heteron). 80 81

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war der ideale Staat als ›ewiges‹, wandelloses Gebilde expliziert worden. Der Kosmos ist mithin Urbild der Stadt und des Kunstwerkes gleichermaßen. Um die Genesis des Kosmos begreiflich zu machen, soll die Orientierung des Demiurgen, des Welt-Urhebers, soweit dies in einem ›eikos mythos‹ möglich ist, dargestellt werden. Gefragt wird, ob er nach dem Selbigen und Unveränderten oder aber nach einem selbst entstandenen Abbild blicke? Die zweite Möglichkeit ist eigentlich gar keine, da sie die Schönheit und Vollkommenheit des Kosmos nicht verständlich machen könnte. Das gleichsam gesetzeshaft zu Beginn des Erörterungsganges Ausgeschlossene kommt aber immer wieder irritierend ins Spiel, was sich auch in der Unterscheidung dreier Anfänge im ›Timaios‹ zeigt. In einem ersten Annäherungsweg wird die Entstehung des Kosmos aus der Wirkung der Vernunft gezeigt. 83 Dass auf diesem Weg tiefere Schichten der Weltgenesis ausgeblendet werden, wird eben an der Stelle erkennbar, an der es um die Erschaffung des Menschen geht. Darauf folgt ein zweiter Anfang, der das durch blinde Notwendigkeit Gewordene evoziert, und schließlich, in den Deutungen oft übersehen, 84 wird das durch Vernunft und Notwendigkeit gemeinsam Bewirkte in einem dritten Anfang in den Blick genommen. 85 Die drei Anfänge unterscheiden sich auch methodisch deutlich. Dennoch sind sie alle Modulierungen der Urbild-Abbild-Relation des Demiurgen: zu Beginn der Genese aus dem Vernunftanfang hält Platon fest, dass der Gott, in Anähnlichung an seine eigene Vollkommenheit, die Vernunft (logismo) in eine lebendige Seele (psyché) und die Seele wiederum in einen Körper (somati) eingebildet habe. Er »fügte so aus ihnen den Bau des Weltalls zusammen.« 86 Dabei folgt er dem Rechtsspruch, dass der Beste nur Bestes verrichte, ganz im Sinn der Reinigung der mythischen Logoi im II. und III. Buch der ›Politeia‹. In Entsprechung zu deren Grundlinien zeigt sich der DeTimaios 47 d1 ff. Ibid. 69 a6. 85 Ich bereite eine größere monographische Untersuchung über den Zusammenhang von ›Timaios‹ und platonischer Dialektik vor. Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem: L. Brisson, Le même et l’autre dans la structure ontologique du ›Timée‹ de Platon. Paris 1974 und R. Sorabji, Time, Creation and the Continuum. Theories in Antiquity and the Early Middle Ages. Ithaca/N.Y. 1983. 86 Timaios 30 b4 ff. 83 84

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miurg als eine neidlose Gottheit. Die hervorgebrachte Welt ist ein ins Sichtbare übersetztes Ähnlichkeitsbild des ihr zugrundeliegenden noetischen Kosmos. Bereits diese Orientierung rückt das Problem fürs erste in den Hintergrund, ob es nur eine oder mehrere Welten gebe. Der demiurgische Akt im ersten Anfang ist keinesfalls nach der Art einer ›creatio ex nihilo‹ vorzustellen. Vielmehr wird hier bereits der Bereich berührt, der im zweiten Anfang dann bestimmend sein wird. Denn der Demiurg führt ›aus der Unordnung in die Ordnung‹ ; 87 der ›Ausgangspunkt des Werdens‹ ist also auch im ersten Anfang eine Unordnung, die der Demiurg vorfindet. Die Ordnung des Weltkörpers ist aber durch die vier Elemente und die Kreisform als Sinnbild vollkommenen Gleichseins und der Ganzheit des Kosmos vorgeformt. Dem entspricht eine Bewegung, die sich kreisend, wie eine Rückkehr zu sich selbst, vollzieht, also keine physischen Hindernisse überwinden muss. Der Weltkörper wird dabei als Ergebnis einer Nachahmung und eines Nachdenkens begriffen. Der Gott, »der erst ins Dasein eintreten soll«, ahmt die Gottheit nach, die »von Ewigkeit her ist.« 88 Eine erste Schwierigkeit ist dadurch angezeigt, dass, ehe von der Genesis der Seele eigens gehandelt werden kann, berichtet wird, wie diesem Weltkörper die Seele in die Mitte eingebildet sei, 89 so dass sie zugleich durch das Weltall gespannt ist und den Weltkörper von außen umfasst. Auch das Teil-Ganzes-Verhältnis wird zunächst in einem Vorgriff exponiert; worüber nichts weiter bemerkt wird, als dass der Weltkörper aus einzelnen Körpern gebildet sei, die ihrerseits schon vollkommen (téleon) seien. 90 Die Genesis der Seele hingegen vollzieht sich im Sinn einer Mischung. Sie besteht aus drei Teilen (meroi): der Natur des Selbigen (tauton), jener des Verschiedenen (thateron), womit zwei der großen Gattungen aus dem ›Sophistes‹ auch hier angesetzt werden, und schließlich der einen dritten Wesenheit, ›ousia‹ (meist übersetzt als ›Seelensubstanz‹), die zwischen ihnen die Mitte hält. 91 Jenes Ganze wird seinerseits wieder geteilt und die Teile werden

87 88 89 90 91

Ibid. 30 a5 Ibid. 34 b1. Ibid. 34 b4 f. Ibid. 34 b2. Ibid. 35 a3.

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nach einem komplizierten, dem arithmetischen Mittel folgenden Zahlenverhältnis einander zugewiesen, wobei ›tauton‹, ›thateron‹ und die zwischen ihnen die Mitte haltende Ousia sowie das ihnen jeweils zugehörige Seiende wiederum miteinander verbunden werden. Damit wird erst die Bewegung der Seele als Rückkehr zu sich expliziert. 92 Sie erkennt aufgrund ihrer Strukturverfassung als ›Selbigkeit‹ und ›Andersheit‹, »wenn sie mit irgend Etwas in Berührung tritt«, dieses Seiende und kann von ihm Kenntnis geben. Im Licht dieser Abbildhaftigkeit der Seele erweist sich Zeit als Abbild der Ewigkeit nach der Zahl: nicht Fortgang in infinitum, sondern vielmehr, im Sinn des Richtwortes von Parmenides so, dass Hinweg und Rückweg das Gleiche sind. Die Vollkommenheit von Weltkörper und Weltseele zeigt sich im ersten Anfang daran, dass die Verleiblichung (Einkörperung) nicht eigens erwogen wird; während bei der Einbildung der Seele in den sterblichen Menschenleib 93 die dabei sich vollziehende Erschütterung ausdrücklich thematisch werden wird. An der Schrittfolge des ersten Anfangs ist zudem auffällig, dass die Sterblichkeit erst an einer relativ späten Stelle in die vollkommene Verbindung von Seele und Körper eingetragen wird. Dabei übergibt der ›Vater‹ und ›Meister‹, der Demiurg, den Götter-Söhnen, seinen Helfern, die Leitung über die Genese des sterblichen Teils der werdenden Lebewesen, unter ihnen der Mensch. Diese Mit-Schaffenden sind selbst ›gemischte Wesen‹. Ihre sterbliche und ihre unsterbliche Natur sind durch Bänder verknüpft, die auflösbar sind. Ein stärkeres Band indes knüpft sie an den Demiurgen, der sich verpflichtet, die Bindungen niemals tatsächlich zu lösen, so dass sie, obwohl endlich, nicht sterben werden. Auch aus der Sicht des ersten vernunfthaften Anfangs bliebe die Kosmogenese unabgeschlossen, wenn nicht sterbliche Bestandteile mit erschaffen würden. Denn nur dadurch ist das All ein wirklich seiendes All (ontos hapan), nur durch die sterblichen Bestandteile tritt die erscheinende Welt in die Wirklichkeit. Der Demiurg behält sich aber die Genese des ideenhaft unsterblichen Teils sowohl in der Seele als auch am Körper vor. Dennoch wirken bei der Genese eines realen sterblichen Kosmos und seiner 92 93

Ibid. 37 a2 ff. Vgl. Timaios 42 a1 ff.

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Bewohner Mächte mit, die nach dem ›Timaios‹ ›synaitiai‹ sind, Hilfsursachen, »welche Gott als dienende Kräfte verwandte« 94. Es ist diese Kontingenz, die auf den zweiten Anfang, das durch ›blinde‹ Notwendigkeit (Ananke) Hervorgebrachte, verweist. Dabei ist es im Besonderen die Rede vom Menschen, um die schon in der Dichtungskritik und -katharsis der ›Politeia‹ ein Ring des Schweigens gelegt war, 95 die nach Notwendigkeit und Schicksal fragen lässt. Wenn jemand die Entstehung des Alls so darstellen wolle, wie sie wirklich gewesen sei, so müsse er auf die Vorgängigkeit der Notwendigkeit (Ananke) achten. Neben Sein und Werden wird die ›Mutter‹ oder ›Amme‹ des Werdens, die ›Chora‹, als proteushafte, nicht in eine fixierte Gestalt gefügte Matrix eingeführt. Von ihr kann offensichtlich nur im Ähnlichkeitsbild, nicht im Begriff gesprochen werden. Damit ist, wie im ›Timaios‹ unzweideutig festgehalten wird, noch nicht auf den Uranfang von allen Dingen (ἀρχὴν […] ἀρχάς) gestoßen. 96 Allerdings führt die Chora in eine tiefere Schicht, in der die Vernunft noch nicht die Notwendigkeit ›überredet‹ (peithein) hat. 97 Innerhalb der Chora sind die Aggregatzustände, die einmal zu den vier Elementen führen sollen, in einem permanenten Übergang begriffen. Deshalb kann von diskreten Zuständen im Sinn eines ›dies ist‹ oder ›das ist‹ nicht gesprochen werden. Diskret zu unterscheidende Einzelpunkte lassen sich nicht isolieren. 98 Die ›Chora‹ als ›aufnehmende Gattung‹ ist das, was der Materie zugrunde liegt. In ihr zeigt sich ein ungehemmtes, radikales Dahinfließen und Verfließen von Seiendem, gleichsam ein Heraklitismus in nuce. Sie ist zudem gestaltlos. Denn das, »was alle Gattungen in sich aufnehmen soll, (muss) selber ohne alle Gestalt sein.« 99 In die Chora soll also im zweiten Anfang erst eine Ordnung eingestiftet werden, die im vernünftigen Weltursprung vorausgesetzt ist. Die dritte Gattung wird daher zur Matrix, um das Eine (Selbe), »unerzeugt und unvergänglich, weder in sich ein Anderes von an94 95 96 97 98 99

Timaios 46de1 f. Vgl. Politeia 392 a. Timaios 48 c3. Ibid. 48 a. Ibid. 49 e2 f. Ibid. 50 e5.

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derswo her aufnehmend, noch selbst in irgend ein Anderes eingehend« 100, und die Andersheit des Werdenden und Vergehenden, Urbild und Abbild, in ein Verhältnis zu bringen. Dass der unwandelbare, ewige Aion und die sich nur in dem Doppelaspekt des Auftauchens und Erscheinens einerseits und Sich-Entziehens andererseits erschließende Zeit überhaupt in einer Relation zueinander stehen, versteht sich keineswegs von selbst. Mit Parmenides’ Lehrgedicht wäre der Weg des Werdens und Vergehens gerade auszuschließen. Die Chora selbst hat aber in dieser Funktion einen sehr ambivalenten Status. Denn sie ist selbst »den Sinnen unzugänglich«, während sie zugleich allem sinnlich Wahrnehmbaren ›eine Stätte‹ einräumt. 101 Auch für die Noesis ist sie nur durch den ›träumenden‹ Fehlschluss, wonach alles Seiende an einem Ort (im Raum) sein müsse, zu fassen. 102 Jener Vorordnung der Elemente, die in ihrer stereometrischen Verbildlichung sämtlich auf Elementardreiecken beruhen und in das Fluidum der Chora eingeprägt werden, wird von Platon höchste Bedeutung für die Struktur und die Verhaltensweise der Materie eingeräumt. Nach ihrem Maß bestimmen sich die Wahrnehmungen von Lust und Unlust, Wärme und Kälte, Härte und Weichheit. Lust und Schmerz, die große Anzahl kleinster, in der Weise der leibnizianischen ›petites perceptions‹ kaum wahrnehmbarer Sinneseindrücke beruhen auf der Integration oder dem wechselseitigen Konflikt, der Durchschneidung der Dreiecksformen. Der zweite Anfang des ›eikos mythos‹ zeichnet also eine Art von Urgeschichte der Wirklichkeit des bewegten Seienden und zugleich des Wahrnehmungsvollzuges vor. 6.) Dabei verweist dieser zweite Anfang an seinem Endpunkt auf die Gottheit als Sachwalter einer dialektischen Kunstfertigkeit, die menschlicher Natur entzogen bleibt. Es ist der Gott, der »zwar wohl das Viele in Eins zu verbinden und das Eine wieder in Vieles aufIbid. 52 a3 f. Ibid. 52 b1 f. 102 Die Affinität der Chora zur Idee hat deshalb mit Überzeichnungen, aber im Blick auf das Phänomen durchaus einleuchtend Jacques Derrida besonders betont: Ders., CHORA. Hg. von P. Engelmann. Wien 1990. Vgl. auch H.-G. Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos ›Timaios‹ (1974), in: ders., Griechische Philosophie II. Gesammelte Werke Band 6. Tübingen 1985, S. 242 ff. 100 101

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zulösen hinlängliche Einsicht und zugleich Macht besitzt, von den Menschen aber keiner weder das Eine noch das Andere ins Werk zu setzen weder jetzt im Stande ist noch auch hinfort jemals dazu im Stande sein wird.« 103 Die Notwendigkeit soll, wie sich erst vom Ende des ›Timaios‹ her zeigt, als Hilfursache der ›einen göttlichen Ursache‹ in diesen Rahmen eingefügt werden. 104 Sie bleibt zwar unabdingbar und im ersten Anfang ›unvordenklich‹. Durch eine Mischung aus erstem und zweitem Anfang wird sie aber eingehegt. Ihr kommt mithin kein höherer Rang zu als den demiurgischen Hilfskünsten im ersten Anfang. Der Demiurg nahm, so heißt es zusammenfassend, die Ursachen der Notwendigkeit zu Hilfe. Zur Vollendung führte er den Bau aber einzig aus sich selbst heraus. 105 Daraus wird dann die gleichermaßen gnoseologische, ontologische und praktische Folgerung gezogen, dass zwischen zwei Ursachen zu unterscheiden sei, der göttlichen und der menschlichen. 106 Angedeutet ist im letzten Teil des Lehrgesprächs eine Mischung: ein ›dritter‹ Anfang, der sich dem von Notwendigkeit und Vernunft gemeinsam Bewirkten zuwendet. Erst hier wird ausdrücklich nach der Genealogie der sterblichen Seele gefragt. Die sterbliche Seele ist im Zusammenhang des ›Timaios‹ nicht in einem Mythos präsent, wie in der ›Politeia‹ oder im ›Phaidros‹. Im Rückgang auf die Notwendigkeit tritt die Vielheit des Lebens, die sich in der Seele verdichtet, in den Blick: von der Differenz der Geschlechter bis hin zu den Krankheiten als den elementaren Störungen von Harmonie. Jene Passage schließt mit einer hymnischen Evokation auf das »Abbild des Demiurgen«, den sinnlich wahrnehmbaren Gott, jenes organische, belebte Kunstwerk der Welt, in dem das noetische Urbild der Polisordnung in Bewegung zu erkennen sein soll. 7.) Die platonische Kosmogonie erweist sich insgesamt als eine ›Abbildlehre‹. Sie gibt zugleich eine Urgenesis von Aisthesis, sinnlicher Wahrnehmung und der in ihr allgegenwärtig möglichen Täuschung (vgl. ›Theätet‹, ›Sophistes‹). Doch setzt nicht der ›eikos mythos‹ der auf den Prinzipienanfang zielenden Ideenerkenntnis auch Grenzen, 103 104 105 106

Timaios 68 d6 f. Ibid. 68 d6 f. Ibid. 68 e3. Ibid. 69 a1.

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eine kosmisch ontische Grenze des Wirklichen, die Sokrates nicht überschritt, als er sich lediglich an die ›anthropine sophia‹, das menschliche Wissen, gebunden sah und die auch das reine Ideendenken nicht überschreitet? 107 In seiner impliziten Auseinandersetzung mit der Projektionsund Abbildtechnik, der ›techné optike‹, unternimmt es Platon immerhin, die Proportionsverhältnisse nicht auf das ›sichtbar Erscheinende‹, das Werdende und Vergehende, sondern auf das Eine der Idee als Grundmaß zu beziehen. Dieses Maß kann allerdings nicht unmittelbar anvisiert werden, sondern lediglich im Sinn des Mathematikers, der, wie Platon andernorts lehrt, nur ›träumend‹ von der Wahrheit sprechen kann. »Die Platonische Mathematik stellt den Versuch dar, eine Himmelsoptik zu entwickeln, welche, frei von Täuschung, die Welt in ihrer reinen Liniengestalt, mit der sich das Unsichtbare sichtbare Erscheinung gibt und damit die Weltgestalt als Abbild des Seienden erfasst.« 108 Erst im eikos logos aber wird jener Bildzusammenhang seinerseits transparent und explizierbar. Zwischen dem Aufstieg in die Idee des Guten und dem ›Timaios‹ ist insofern eine doppelte Verbindungslinie freizulegen. Ihr einer Strang führt vom Aufweis der Täuschung am Leitfaden der ›Hypothesis des Eidos‹ auf das ›Anhypotheton‹ der Idee des Guten. Ihr anderer Strang aber setzt sich der nicht-logifizierbaren Notwendigkeit aus, um die Wirklichkeit des bewegten Seienden zu erfassen. Vom Werden weiß man, wie Sokrates’ Einlassung zu Beginn 107 Jene Begrenzung auf die nur menschliche Weisheit scheint Sokrates nach dem Zeugnis in Aristophanes’ ›Wolken‹, 522, in seiner Frühzeit nicht gewahrt zu haben. Diese Auffassung würde sich dann auch als ein Wahrheitskern in den Denunziationen seiner Ankläger spiegeln. Vgl. dazu im einzelnen Leo Strauss, The City and Man. Chicago 1964, ders., Socrates and Aristophanes. New York, London 1966 und ders., Xenophon’s Socrates. Ithaca NY/London 1972, sowie in Fortsetzung von Strauss: Heinrich Meier, Warum politische Philosophie? Stuttgart 2000. Vgl. auch wiederum Benardete, The Tragedy and Comedy of Life. Plato’s Philebus. Chicago and London 1993. 108 Vgl. dazu den sehr anregenden Aufsatz Margaretha Huber, EIKON – das Bild. Woher der Schein? – Ein Beitrag zum antiken Bildverständnis. Eine größere Publikation der Verf. zum Thema ist in Vorbereitung. Siehe auch dieselbe, Della Prospettiva: Sul rapporto tra ›pensare‹ e ›vedere‹ partendo dal ›Timeo‹ di Platone, in: R. Sinisgalli (Hg.), La Prospettiva. Fondamenti teorici ed esperienze figurative dall’antichità al mondo moderno. Firenze 1998, hier S. 43 f.

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des ›Timaios‹ kundgibt, keineswegs durch das Ideen-Wissen. Sonst müsste auch nicht nach der ›Polis in Bewegung‹ gesucht werden, die durch die Ideen offensichtlich nicht erkennbar ist. Dem Sehen kommt in der platonischen Kosmogonie eine zentrale und initiierende Bedeutung zu. Im ›eikos mythos‹ bleibt unzweideutig der Grundzug eines an der Welt, dem Seienden im Ganzen sich entzündenden, freudigen und staunenden Sehens bewahrt. Dieses Sehen des Kosmos ist Selbstbewegung und es ist frei von Leid und Schmerz. Der ›Timaios‹ steht daher in einem engen rhizomatischen Zusammenhang mit dem zentralen Buch X des Spätdialogs ›Nomoi‹, wo diejenige Bewegung aufgesucht wird, die nicht von außen angestoßen ist, sondern in sich kreisend konstant bleibt und in der deshalb jede Phase »gleichermaßen als ein Sich-Wegbewegenvom Ausgangspunkt und als ein Sich-zum Ausgangspunkt-Zurückbewegen« betrachtet werden kann. 109 Platon beschreibt sie zudem als eine Bewegung, die ›der Vernunft ähnlich‹ ist. 110 Diese vernunfthafte, lebendige Selbstbewegung kann ihrerseits nur in einem Bild betrachtet werden, wie ganz im Sinn des platonischen Liniengleichnisses bemerkt wird. Wer unvermittelt auf sie blicken würde, wäre offenbar ebenso geblendet, wie man es vom ungeschützten Blick in die Sonne (Helios) ist. An der Selbstbewegung bildet sich die Göttlichkeit der Welt als sinnfälliger Verweis auf den unsichtbaren Ideenkosmos aus. Auch das platonische Dialogwerk über die Gesetze, die ›Nomoi‹, beansprucht, grundlegendes Kunstwerk der Polisbürgerschaft zu sein; ein Werk, das Tragödie und Komödie umfasst und über beide hinausweist. Der Doppelsinn von ›nomos‹ : Melodie und Gesetz, der sich auch in kleinere Strukturen, wie die Doppeldeutigkeit von ›Prooimion‹ als Gesetzespräambel und musikalisches Vorspiel, fortschreibt, unterstreicht dieses Selbstverständnis des Gesetzesdialogs als Kunstwerk. 111 Im anderen Anfang, dem Ausgang von der Notwendigkeit (Ananke), wird die Ahnung formuliert, dass die Schönheit des Kos-

109 Dazu Klaus Held, Zeit als Zahl. Der pythagoreische Zug im Zeitverständnis der Antike, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zeiterfahrung und Personalität. Frankfurt/Main 1992, S. 13 ff. 110 Nomoi 897 e4. 111 Vgl. dazu vom Verf. Polis und Nomos, a. a. O., pass.

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Bild und Idee

mos in den Tod gerissen werden kann. Lediglich der Demiurg sichert, dass die Bänder, die das All halten, nicht reißen. 112 Da der ›Timaios‹ gleichermaßen die Schönheit und die Sterblichkeit des Kosmos festhält, ist überdeutlich, dass die kosmogonische Ordnung jederzeit von der Ananke bedroht wird. Der eigentlichen Rede des Timaios geht Kritias’ Bericht über das untergegangene Ur-Athen voraus. Damit eröffnet sich eine Tiefenflucht der Geschichte. Kritias habe, so berichtet er, den Bericht von Ur-Atlantis von seinem damals neunzigjährigen Großvater gehört. Dessen Erzählung verweist wiederum auf eine Erzählung des großen Gesetzgebers Solon über dessen ägyptischen Aufenthalt in Sais, das Platon als die Athen am nächsten verwandte ägyptische Stadt bezeichnet. Dort wurde Solon in die verschriftlichte Tradition des Tempels eingeführt, die neunhundert Jahre zurückreicht und in der die Griechen, die selbst ein solches Gedächtnis nicht aufbewahrt hätten, auf ihre eigene Ur-Polis treffen. Kritias’ Bericht führt damit freilich nur in einen historisch relativen Anfang. Prinzipiell tiefer weist die Frage nach der Genesis der Welt als des bewegten, sterblichen Gottes. Ist doch der Kosmos das Urbild jeder politischen Ordnung. 8.) Die Bild-Problematik geht leicht modifiziert und in für die Formation platonischer Dialektik essentieller Weise in den ›Sophistes‹Dialog ein. Um begrifflich kategorial den Sophisten ›einzufangen‹ und seine Kunst zu bestimmen, unterscheidet Platon zwei Formen von Mimesis voneinander. Die erste ist auf das Ebenbild eines Urbildes gerichtet (eikastiké). 113 Um sie geht es, »wenn jemand nach des Urbildes (paradeígmatos) Verhältnissen«, aber auch hinsichtlich der farblichen Erscheinung seine Nachahmung orientiert. Dabei wird er nicht umhin können, sich zugleich auf die Normalmaße des Schönen (das Eine) zu beziehen, während dagegen ein Trugbild (phantasma) dadurch gekennzeichnet ist, dass jene Maße nur zum Schein und aus bestimmten verzerrten Perspektiven wahrnehmbar nachgezeichnet werden. Eine solche Kunstform führt offensichtlich auf das für die

112 Die Rede vom Katechonten ist genuin biblischen Ursprungs: vgl. 2. Thess., 2. Im 20. Jahrhundert spielt sie eine herausragende Rolle im Zusammenhang der geschichtsphilosophischen Überlegungen von Carl Schmitt, vgl. vor allem ders., Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Ius Publicum Europaeum. Berlin 31988, S. 28 f. und S. 55. 113 Sophistes 235 e3 ff.

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dialektische Klärung des ›Sophistes‹ grundlegende Phänomen des Seins des Nicht-seienden, auf dem jedwede Täuschung beruht. Erst wenn das Wesen der Täuschung entschlüsselt ist, kann der Sophist ›gestellt‹ und ›entlarvt‹ werden. Dadurch aber ist es auch erst möglich, ihn vom Philosophen zu unterscheiden. Seine Täuschungskunst kulminiert indessen darin, dass er in seinen verwirrenden Reden (›Dissoi logoi‹) einen Gesichtspunkt verneint, der situationsinvariant Wahrheit und Täuschung voneinander zu sondern erlaubt. Er geht sogar noch weiter und bestreitet, dass Täuschungen überhaupt existieren. Das Phänomen, dass ›das Seiende mit dem Nichtseienden‹ in einer Verflechtung (›symploké‹) stehen kann, 114 was zunächst völlig a-topisch (ungereimt) erscheint, wird nun bezeichnenderweise durch die Frage, was ein Bild ist, erhellt. Denn, »was wir überall mit einem Bilde (eidolon) meinen« 115, muss schon allein deshalb geklärt werden, weil die beiden grundlegend verschiedenen Arten von Bild, das Ähnlichkeits- und das Trugbild, doch unter einen Namen fallen und weil der Sophist, den es im Zwiegespräch zu ›stellen‹ gilt, jede Berufung auf die Phänomene zurückweisen und einzig den Rekurs auf die Namenserklärung für gültig ansehen wird. Im Einzelnen wird auf Eidola »im Wasser, in den Spiegeln, sodann aber auf gemalte oder geschnitzte Bilder« verwiesen, die offensichtlich gleichermaßen epagogische Aufgabe der Hinführung zur Wahrheit der Idee im Sinn des Liniengleichnisses einlösen und als Bilder andererseits täuschen können. Die grundlegende Strukturverfassung des Bildes gibt der junge Theaitetos unter der Anleitung des Fremden in der folgenden Form wieder: ἕτερον δὲ λέγεις τοιοῦν ἀληθινόν ἣ ἐπὶ τίνι τὸ τοιοῦτον εἲπες; »Was sollten wir also anders sagen, dass ein Bild sei, o Fremdling, als das einem Wahren ähnlich Gemachte andere Solche?« 116 Es kann aber, wie die weiteren Rückfragen ergeben, nicht seinerseits ein Wahres sein, sondern bleibt ›scheinbar‹. Weiter zeigt sich – was wiederum für Ebenbild und Phantasma gleichermaßen zutrifft –, dass das Bild eben nicht ontos on: in Wirklichkeit Seiendes ist. In diesem Zusammenhang spricht Platon weitgehend synonym von Wahrheit und Sein. Damit hängt aber von der kategorialen Ver114 115 116

Ibid. 240 c2 f. Ibid. 239 d3 f. Ibid. 240 a9 f.

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Bild und Idee

bindung des Seienden und des nicht in Wahrheit Seienden nicht nur die Möglichkeit zur Täuschung ab. Dieselbe Verflechtung ist auch grundlegend für die Möglichkeit, von Bild oder Analogie her auf das Wesen der Sache zu treffen, deren sich platonisches Philosophieren auf entscheidenden Weg-Abschnitten, etwa im Zusammenhang der Einführung der ›idea tou agathou‹ bedient. Erst an dieser Stelle, also vom Bildbegriff her, kann der Grundsatz des ›Vaters Parmenides‹, dass nur das ›Eine Sein sei‹, bezweifelt werden, und Platon erweist den Satz des Parmenides, dass »das Seiende nicht sei und das Nichtseiende sei« 117, als falschen Logos. In jedem anderen platonischen Dialogzusammenhang hatten Achtung und Scheu vor dem ›Vater Parmenides‹ verhindert, dessen ontologisches Leitzeichen in ähnlicher Weise in Frage zu stellen, wie es mit der radikalen Flusslehre der Herakliteer geschehen war. Man vergleiche etwa den ›Theätet‹, der durch die Wiederaufnahme der Theaitetos-Figur im Sophistes-Zusammenhang mit der Genese platonischer Dialektik aufs engste verbunden ist. Die Kategorie der Andersheit, die auf ideendialektischem Weg die gesuchte Verflechtung des Seienden mit dem Nichtseienden denkbar machen wird, ist Voraussetzung für Bildlichkeit, und sie bedeutet deren Herauslösung aus der Metaphysik des Einen. Am Ende des ›Sophistes‹ kommen die Überlegungen auf das Bildproblem zurück. Es ist eine zweifache Artung (Dihaires) der hervorbringenden Kunst, die dabei in einem paradigmatischen Blick auf den göttlichen Urheber unterschieden wird: nämlich ›die Sache selbst‹ (to men auto) durch die auturgische Kunst (in Politeia X war in einer etwas anderen Nuancierung von ›Phytourgia‹ die Rede) einerseits und die Bilderkunst (›eidolopoiike‹) andererseits. 118 Diese ist aber selbst in einer göttlichen Demiurgie grundgelegt: »Jegliches von diesen begleiten Bilder (Eidola), welche nicht die Sache selbst sind, aber durch göttliche Mechané hervorgebracht« wurden. 119 Von hier her kommt es dann zu einer abschließenden Dihairese, deren Netz nun erstmals so eng geknüpft sein soll, dass sich der Sophist darin verfängt: Sie verläuft über äußere Merkmale, die Unterscheidung einer Abbildkunst, die mit Werkzeugen ins Werk gesetzt 117 118 119

Ibid. 241 a1. Ibid. 266 a10. Vgl. ibid. 266 b.

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wird, gegen einen anderen Typus, in dem der menschliche Leib selbst das Werkzeug ist. Sie zielt dann aber auf die Differenz zwischen der Schein-Nachahmung gegenüber einer Nachahmung, die aus selbst erfahrener Kenntnis schöpft. 120 Diese wiederum kann sich in Reden oder Illusionskünsten betätigen. Sie kann zur öffentlichen Volksrede und zur sophistischen Antilektik gerinnen, die den jeweiligen Gesprächspartner zwingt, sich selbst zu widersprechen, so wie Platon es exemplarisch im Euthydemos-Dialog zeigte.

IV. Sprache und Kunst Am Ende kann damit auf zwei Linien platonischen Denkens verwiesen werden: Sie haben beide mit der Darstellung des Denkbaren zu tun, einerseits in Sprache und andererseits in Kunst. 1.) Platons Orientierung des Dialogs an der Tragödie, 121 die Evokation der Philosophie als ›wahre Tragödie‹, ist ein wesentliches Moment in der Kritik an der sophistischen Antilektik. Während die Antilektik den Gesprächspartner in die Enge treibt, geht in der sachgemäßen stimmhaften oder verschwiegenen Bewegung am Leitfaden der Logoi eine innere Katharsis vonstatten, ein Denkdrama, das auf den Nullpunkt des Nicht-ein-noch-aus-Wissens führt. Es wird besonders sinnfällig im Bild von Sokrates als dem eine unbesorgte Logos-Zeugung lähmenden Zitterrochen. 122 Bemerkenswert ist dabei die Genealogie der Selbstzeugung des Logos im ›Menon‹. Der junge Sklave muss an den Nullpunkt des Nicht-ein-noch-auswissens gelangen, um zur Anamnesis befähigt zu werden. Erst aus dem Engpass der Aporie heraus kann er authentisches Wissen und Ibid. 267 e2 f. Dafür einschlägig W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982, S. 13 ff. und S. 38 ff. Jene Reflexion auf das Formgefüge des platonischen Dialoges bestimmen die hermeneutische Platon-Interpretation von Schleiermacher bis Gadamer. Ich versuche ein Resümée in der Einleitung meines Buches: Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Berlin 2005, S. 11 ff. Vgl. heute auch V. Hösle, Platon interpretieren. Paderborn, München, Wien, Zürich 2004, insbes. S. 55 ff. 122 Menon 79 e8. Wesentlich ist der dieser Stelle vorausgehende Umschlag von der zweiten Definition zur Aporie, ibid. 78 d1 f. 120 121

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Sprache und Kunst

Erkennen ›zeugen‹. 123 Das Denkdrama als die »je eigene Erfahrung des Einzelnen«, ein, wie Laszlo Tengelyi nachgewiesen hat, 124 in der aristotelischen Ethik und Politik nicht mehr einholbarer Zusammenhang, wird in den verschiedenen Gesprächszusammenhängen der platonischen Dialoge augenfällig vollzogen. Die Sprache ist dabei jeweils auf die Ideen durchlässig, die sie gemäß dem ›Kratylos‹ transzendieren. Doch umgekehrt wurzeln sich die Ideen in die Darstellbarkeit der Sprache ein und haben methektisch Anteil an ihr. Diese Dimension war im ›Kratylos‹ noch nicht sichtbar gemacht worden. So formt sich der Logos, der sich darin aus dem Schein löst, dass er ein ›legein ti‹ ist, so aus, dass, mit Goethe, »ein Begriff bei dem Worte« ist. Die Philosophie als ›wahre Tragödie‹ ist dabei, gemäß den platonischen Forderungen in der Reinigung des alten Mythos mimetisch, 125 insofern sie die innere Bewegung der Seele, die ›entos praxis‹ ab- und vorausbildet. Sie bleibt aber insofern ganz diegetisch, als in der Aufsuchung der zur Erörterung stehenden Sache zugleich der Logos geklärt und geprüft werden muss. Eigener Erörterung wäre es wert, wie die Komödie eine Lachen machende Selbstklärung in den tragischen Grundcharakter mit einschreibt. Jener Umgang mit dem eigenen Streben und Begehren, der vor den Anfängen der Ethik als eigenständiger praktischer Disziplin firmiert, wird mit Aristoteles aus der Tektonik der Ersten Philosophie ausgeschlossen und verlagert sich in die Enthymeme der Rhetorik. Die Katharsis-Problematik der Tragödie wird zwar zum Gegenstand philosophischer Erörterung. Doch die Philosophie hat nicht länger an der Kunst ihr großes Gegenbild. 126 Für Aristoteles ist die kathartisch wirkende Tragödie ein ›meataballein ten psychein‹ : eine Verwandlung in der Seele. Auch er hat über Schönheit nachgedacht und gezeigt, dass sie auf Proportion und der Integration von Differentem beruht, die sich nur in einer Art von Phronesis, von Takt und Klugheit ermitteln lässt. Ibid. 80 d6. Vgl. ders., Maß, Ordnung und Mitte bei Platon und Aristoteles, in: Phänomenologische Forschungen 2003, S. 39 ff. 125 Vgl. hierzu Politeia Bücher II und III. 126 Vgl. dazu Heideggers Vorlesung: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, SS 1924 (GA Band 18), hg. von Mark Michalski. Frankfurt/Main 2002, siehe auch J. König, Einführung in das Studium des Aristoteles an Hand einer Interpretation seiner Schrift über die Rhetorik, hg. von N. Braun. Freiburg, München 2002. 123 124

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2 · Über das Schöne und das Göttliche – Platons erscheinende Idee

2.) In Platons Bestimmung des Schönen ist aber der Widerstreit von Kunst und Logos noch unmittelbar für das Selbstverständnis der Philosophie maßgeblich. Der ›Timaios‹ schließt im Blick auf diesen Doppelcharakter mit den Worten: »Und nunmehr möchten wir denn auch behaupten, dass unsere Erörterung über das All ihr Ziel erreicht habe, denn nachdem diese Welt in der obigen Weise mit sterblichen und unsterblichen belebten Wesen ausgerüstet und erfüllt worden, ist sie (so selbst) zu einem sichtbaren Wesen dieser Art geworden, welches alles Sichtbare umfasst, zum Abbilde des Demiurgen und sinnlich wahrnehmbaren Gott und zur größten und besten, zur schönsten und vollendetsten, die es geben konnte, geworden, diese eine und eingeborene Welt (eis ouranòs hode monogenès on).« 127

Dass sich das Urbild im Abbild zeigt, ist Vorbedingung dafür, dass von Einer Welt und nicht mehreren möglichen Welten gesprochen werden kann.

127

Timaios 92 c.

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DRITTES KAPITEL:

Die Kraft der Poiesis. Antike Philosophenschulen und die poietische Wissenschaft des Aristoteles I.

Stoa und Neuplatonismus: Topoi des Schönen

1.) Die metaphysisch theophane Konzeption des Schönen, die es am Göttlichen misst, tritt in der Spätantike in den Hintergrund. Damit bildet sich die Vorstellung heraus, dass das Schöne in der Kunst seinen bevorzugten Ort hat, dass aber das Vermögen des Künstlers primär formaler Natur ist. Das Wahre und das Gute fallen nicht notwendigerweise in seine Kompetenz. Ein Schönes, das nicht zugleich gut ist, wird auf diese Weise denkbar. Lust und Unlust im Bereich der Lust (Hedoné) werden mithin als genuines Feld der Kunst bestimmt. In diesem Sinn ist Horaz’ wohlmeinende Aufforderung zu verstehen: »Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci, lectorem delectando pariterque monendo«. »Jegliche Stimme gewinnt, wer das Nützliche mit dem Süßen mischt und den Leser im gleichen Maße ergötzt wie ermahnt.« 1 Quintilian (35–100 n. Chr.), der große Rhetorik-Lehrer seiner Zeit, spricht von der Kunst als der Kraft, Phantasia, also Einbildungen oder Visionen, zu wecken. Kunst ist auch »die Fähigkeit, uns die fernliegenden Gegenstände mit so großer Genauigkeit vorzustellen, dass wir glauben, sie vor unseren Augen zu haben. Wer solche Gestalten erschaffen kann, wird in den Leidenschaften hervorragen.« 2 In Fortsetzung der platonischen Logos-Philosophie weist Quintilian darauf hin, dass es der philosophisch rhetorischen Interpretation bedürfe, um sicherzustellen, dass die Faszinationsmacht der Künste der Wahrheit dient. Stoische Philosophen akzentuieren hingegen die kosmischen Dimensionen des Schönen. Es lässt den Glanz des Alls begreifen. Es fügt dessen Vollkommenheit (Perfectio) in exemplarische Gestalten. 1 2

Horaz, Ars poetica, Vers 343 f. Quintilian, Institutio oratoria VI, 2, 29.

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2 · Die Kraft der Poiesis

Die Frage nach dem Schönen und die nach der Kunst und ihrer artistischen Hervorbringung treten damit auseinander. So lehrt Seneca (5/4 v. Chr. – 65 n. Chr.) die Einheit des Seins mit der kosmischen Harmonie und Vollkommenheit. Diese Macht ist zwar nicht wie die platonische Idee über-seiend. Sie übersteigt aber menschliches Maß. »Alles, was das Beste für den Menschen ist, liegt außerhalb menschlicher Macht und kann weder gegeben noch entrissen werden, nämlich diese Welt, das Größte und Schönste, was die Natur geschaffen hat, und der Geist, der Betrachter und Bewunderer der Welt, ihr herrlichster Teil, uns eigen und unverlierbar.« 3 Die Schönheit des Alls ist dabei nur Abglanz einer nicht-sinnlichen, ewigen Naturordnung, auf die der Weise durch das Schöne hingelenkt wird. Zugleich hat Seneca in seinen Schriften eine Lehre von der ›ars‹ als der menschlichen Kunst entfaltet. Sie ist gleichzusetzen mit der griechischen List der Herstellung (mechané) und ohne Verbindung zum göttlichen Schönen. 4 Es geht in der Kunst um den Bau menschlicher Kulturwelt und der klugen Benutzung ihrer Ressourcen mit Hilfe von technischen Mitteln. Odysseus oder Ikarus sind die großen Vorbilder der Künstler. Hier hat die lange bestimmende Konzeption von der ›Imitatio naturae‹ ihre Wurzeln. Jede ›ars‹ oder ›techné‹ muss, um wirksam zu werden, »Nachahmung der Natur« sein. Maßgeblich für die Rekonstruktion der Leistungen der techné ist die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles, die Form-, Zweck-, Stoff- und Wirkursache voneinander unterscheidet. 5 Seneca nennt, unabhängig von den vier Ursachen, deren ›Vorbild‹, nämlich den Entwurf in einer verbindenden Idee. Ideen sind Inbegriff jener Formen, »welche Plato die unsterblichen, unveränderlichen, unerschöpflichen Ideen nennt«. Von hier her wird künstlerische Kreativität bestimmt: Seneca, Trostschrift an seine Mutter Helvia (Ad Helviam matrem consolatione) 53. Epistolae 65, 7. 5 Vgl. dazu W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles. Göttingen 31992, insbesondere S. 254 ff. und S. 278 ff.; siehe ferner Wielands wegweisenden Aufsatz über die poietische Philosophie: W. Wieland, Aristoteles und die Idee der poietischen Wissenschaft. Eine vergessene philosophische Disziplin?, in: Th. Grethlein und H. Leitner (Hgg.), Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie. Festschrift für Manfred Riedel. Würzburg 1996, S. 479 ff. 3 4

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Stoa und Neuplatonismus: Topoi des Schönen

»Das eine, die Idee, ist das Urbild, das andere die dem Urbild entlehnte und auf das eigene Werk übertragene Form. Die erstere ahmt der Künstler nach, die letztere ist sein eigenes Werk. Eine Statue hat das ihr eigentümliche Gepräge: eben ihr Eidos. Aber auch das Urbild selbst hat ein gewisses Gepräge, das dem Auge des Künstlers vorschwebte, als er seine Natur gestaltete: das ist die Idee. Verlangst du noch eine weitere Unterscheidung, so vernimm: die Eigenart ist an dem Werk selbst, die Idee ist außerhalb des Werkes, und nicht nur dies, sie liegt auch vor demselben.« 6

In der Stoa wird von solchen Ansätzen her die exoterische platonische Dichterkritik weitergeführt. Sie wird aber zu einem Maßstab, um zwischen ›guter‹ und ›schlechter‹ Kunst zu unterscheiden. Das Eidos kann sich verselbständigen, die Schönheit sich von Sein und Wahrheit lösen. Dann wird die Kunst Lüge, bestenfalls Illusion. Cicero kommt in dieser hier nur anzudeutenden Problemgeschichte eine besondere Bedeutung zu. Er hält in der platonischen Linie daran fest, dass ein Werk nach der Idee geschaffen wird. Das bedeutet, dass es Mimesis einer Idee ist und nicht bloß einer gegebenen Naturvorlage, eine höchst folgenreiche Einsicht. Dadurch ist immer eine noch größere Vollkommenheit denkbar, als sie der Künstler erreichen kann. Cicero bemerkt: »Indessen bin ich der Ansicht, es gebe in keiner Gattung etwas so Schönes, dass nicht dasjenige noch schöner wäre, von dessen Zügen jenes gleichsam ein Abbild ist und das nicht Gegenstand der Augen oder der Ohren oder sonst eines Sinnes werden kann, sondern einzig im Denken und Geist von uns erfasst wird.« 7 Die Gestalten des Phidias seien zwar das Vollkommenste, was bislang tatsächlich von einem bildenden Künstler hervorgebracht wurde; man könne sich aber noch Vollkommeneres denken. Cicero hat die Wirksamkeit von Kunstregeln deutlich eingrenzen wollen. Das Ingenium sollte dadurch emanzipiert werden. Sinnlicher Beurteilung ist Schönes letztlich nicht zugänglich. Die sinnlich orientierte Urteilskraft bleibt auf taktile Qualitäten wie Rauheit, Härte, Weichheit, Nähe, Entfernung, Ruhe und Bewegung begrenzt. Zudem ist sie nur relativ, variierend nach der Umgebung und nach den Wahrnehmungen, die vorausgingen. Deshalb müsse ein ›natürliches Gefühl‹ hinzukommen, an das in einem weiteren Schritt der 6 7

Epistolae 58, 21. Cicero, Orator 8.

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2 · Die Kraft der Poiesis

kritische Maßstab des Vernunfturteils gelegt werden kann. Die Seele ist Ort dieses Vermögens, insofern sie die Betätigung der einzelnen Sinne zusammenfügt. 8 2.) In den Kunstlehren der Spätantike, die sich von der Metaphysik des Schönen gänzlich getrennt haben, sind, bei aller Unvollständigkeit und fehlenden Systematik, zwei Überlegungen von besonderer Bedeutung. Zum einen wird eine schaffende, produktive Einbildungskraft (Phantasia) zunehmend höher gewichtet als die Mimesis. Dies hat mit der Einsicht in die verweisende Kraft der Kunst zu tun. Die Phantasie, die grundlegend für die Nachahmung ist, vermag, wie Philostratos im 3. Jahrhundert n. Chr. lehrt, auch das zu erinnern, was nicht sinnlich gegenwärtig ist. Sie ist daher der ›feinere Künstler‹ als alle Nachahmung. »Die Nachahmung stellt die Dinge, die man gesehen hat, dar, aber die Phantasie stellt die Dinge dar, die man nicht gesehen hat.« 9 Sie erschaffe Ziele mit dem inneren Auge, wohingegen die Nachahmung auf die Schulung des äußeren Auges angewiesen ist. Und Vitruv zieht daraus in seinem Traktat ›De architectura‹ Folgerungen für die Bildung des Architekten. Sie solle vor allem durch zwei Grundelemente geprägt sein: zum einen die Praxis des Bauens (fabrica), worin überlegte Erfahrung und Klugheit eine entscheidende Rolle spielen (usus meditatio). Das zweite Element ist eine Theorie des Herstellens nach dem ideehaften Vorentwurf, die ›ratiocinatio‹, womit ein Begriff geprägt wird, der noch bei Kant eine große Rolle spielen sollte. »Die Theorie ist es, welche das handwerksmäßig Hergestellte durch inneres Verständnis und auf Grund der Verhältnisgesetze erklären und erörtern kann.« 10 Damit kann auch funktional nach den Zweckbestimmungen der Kunst gefragt werden. In diesem Sinn ist in römischen Dichtungslehren vom »prodesse« die Rede. ›Belehrung‹ ist nicht einfach nur als moralische Unterweisung zu begreifen, sondern als eine kulturbildende, gemeinschaftliches Zusammenleben ermöglichende Ordnungsmacht, die, wie der mythische Sänger Orpheus zeige, auch

Vgl. dazu O. Seel, Cicero. Wort, Staat, Welt. Stuttgart 1961, insbes. S. 261 ff. Flavius Philostratos, Das Leben des Apollonius von Tyana 6, 19. München, Zürich 1983. 10 Vitruv, De architectura (Zehn Bücher über die Architektur). I I. 1. Dazu E. Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike. Köln 1962, insbes. S. 163 ff. 8 9

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Stoa und Neuplatonismus: Topoi des Schönen

die Natur mit umgreift. Indem er neben dem ›delectare‹ das ›prodesse‹ (die Freude) befördert, kann gerade der Dichter leisten, was ihm Platon ausdrücklich absprach. Er kann eine Lebensform begründen. Dichtkunst wird damit der Redekunst parallel gesetzt. Beide entrücken sie die Seele des Zuhörers, »Non satis est pulchra esse poemata: dulcia sunto / Et quocumque volent animum auditoris agunto.« 11 Nicht nur schön, auch süß, persuasiv, Leidenschaften ansprechend, worin Platon gerade ihre Gefahr gesehen hat, sollen Reden und Dichtungen sein. Dann werden sie die Seelen der Zuhörer dort hinführen, wohin diese wollen. Als Qualitätsmerkmal von Kunst wird ein neuer Begriff evoziert: das ›simulare‹ als die Kunstfertigkeit, den Gegenstand in möglichst weitgehender Ähnlichkeit vor Augen zu führen (›fingere‹). 3.) Mit der Kategorie des Erhabenen wird ein Gegengewicht gegen solche Konzeptionen entwickelt. Dieser Begriff sucht nach einer Darstellung von Größe, die das Maß des Schönen und erst recht des ›Angenehmen‹ sprengt. Größe muss evident sein. Sie muss überwältigen. Longin polemisiert dabei gegen hellenistische – aber auch schon sophistische – Forderungen der ›Reinheit‹ und Makellosigkeit des Kunstwerkes. Sie bedeuteten Mittelmaß. Zum Topos wird die rhetorische Frage: Was wäre ein kleines Flämmchen, auch wenn es rein leuchtete? Die Regelgebungen der Techné machen noch längst keine hohe Kunst. Noch einmal klingt hier die negative Dichtungslehre des platonischen ›Ion‹ nach, der zufolge der Dichter ein göttlicher – und – wahnsinniger Mann sei. Naturkategorie ist das Erhabene zunächst nicht. Sie ist ein rhetorisches und poetologisches Stilideal. Naturbilder sind es aber, die andeuten, was ein erhabenes Kunstwerk sein soll: das weite Meer, geschlossen und gleichwohl unendlich, das hohe Gebirge, der Sturm, die Wüste. Jenes Über-gewöhnliche, das wir groß nennen, ist nicht mit artistischen Maßstäben herzustellen. Es entzieht sich daher auch technischer Handhabbarkeit und Erlernbarkeit. Es »überredet nicht, sondern verzückt die Hörer« (eis ekstasin agei). Es ist Unterbrechung des Weltlaufs. Auch darin gleicht es der Epiphanie eines Gottes. »Das Erhabene aber, welches im rechten Augenblick hervorbricht, zer11

Horaz, Ars poetica 99.

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2 · Die Kraft der Poiesis

streut alle Dinge nach der Art des Blitzstrahls.« 12 Longin ist also ein poietischer Platoniker, ein früher Artisten-Metaphysiker, der im erhabenen Kunstwerk eine Überlegenheit gegenüber dem Schein erkennt, der nur gefallen möchte und vordergründig für sich einzunehmen versucht. 4.) Der Neuplatonismus entwickelt hingegen noch einmal eine Metaphysik des Schönen. Plotins (205–269/70) Lehre vom Schönen beschreibt den apagogischen Weg, der von der einzelnen, sinnlich erfahrenen Schönheit bis zu dem Umschlagspunkt hinaufführt, an dem die Idee der Schönheit selbst erreicht wird. Plotin öffnet damit in einer negativen Theologie das Undarstellbare des Einen doch der Darstellung. Auch bei ihm ist, in impliziter Präsenz des ›Symposion‹, von den Triebkräften von Eros und Sehnsucht die Rede, einer Sehnsucht indessen, die sich nicht in sinnlicher Zeugung erschöpft. Das Sich-Zeigen der Idee in einer noetischen, die sinnliche Welt transzendierenden Gestalt ist Plotin zufolge die eigentliche Manifestation des Schönen. »Die Schönheit einer einfachen Farbe entsteht durch eine Form, welche die Dunkelheit der Materie beherrscht, und durch die Gegenwart (parousia) eines unkörperlichen Lichtes, das Logos und Idee ist.« 13 Schönheit kann nicht nur in Sehen und Hören, sie muss auch in Handlungen und in einem Ethos präsent sein. In der schönen Form berührt die in der Zeit seiende und Zeit einende Seele den Nous in seiner Selbstgleichheit, und sie greift zugleich voraus auf die Einheit des überseienden Einen selbst. Die zeitlich bestimmte Seele ist in der Berührung mit dem Schönen, im wörtlichen Sinne, ekstatisch aus sich herausversetzt. Die präsente Nähe der Idee wirkt Staunen erregend und zugleich ›erschreckend‹. Wenn die Seele die nicht-sinnliche Idee sieht, »empfindet sie Freude, ein Gefühl der Verwunderung und zugleich des Schreckens, die viel größer sind als zuvor bei der Perzeption sinnlicher Schönheit, denn nun handelt es sich darum, dass sie das Unverborgene (alethes) Göttliche selbst berührt.« 14

(Pseudo-Longin), Über das Erhabene. Peri Hypsous. I. 4. Vgl. hier die Edition von Otto Schönberger. Stuttgart 1988, vgl. auch M. Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Band V. Düsseldorf, Zürich 2003. 13 Plotin, Enneade I 6, 3. 14 Ibid. I 6, 4. 12

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Aristotelische Poiesis

In dieser neuplatonischen Schönheitslehre kommt dem Künstler große Bedeutung zu. Denn Plotin denkt, in Radikalisierung des Begriff der ›Chora‹ aus dem platonischen ›Timaios‹, die Materie in ihrer Negativität so, dass sie »außerhalb des wahren Seins im Nichtsein« gründet. 15 Sie ist »eine Art Wesen des Nichtseienden« (hoion eidos ti tou me ontos). 16 Ihr kommt, gemäß dem Begriff der ›Chora‹ im ›Timaios‹, keinerlei Bestimmung zu. Plotin zieht daraus die Folgerung, dass alle Materie geistferner Stoff ist, der täuscht und betrügt. Sie ist das eigentlich Falsche (protos kai ontos pseudos), erzeugt vom täuschenden Demiurgen. Unendlicher Mangel an Sein, wie es Schelling später formulieren wird, ist der Materie eigen. Nur durch Aufprägung der Formkraft des Nous entgeht sie der beständigen Gefahr, in die Nichtigkeit der Materie gezogen zu werden. Diese Formgebung aber vollbringt der Künstler. Nicht der bösartige Demiurg, sondern ein gütiger und weiser Gott ist sein Vorbild. 17 Aber nicht nur die Bewunderung des Künstlers rechtfertigt sich von hier her, sondern auch jene des Kunstwerkes. Ist es doch ›erscheinender Geist‹. Das Kunstwerk und selbst die Welt als Werk ist aber nur Bild des Geistes, der seinerseits Bild des undarstellbar Einen ist. Hier ist auf den Imperativ ›Aphele panta!‹ – ›Tue alles hinweg!‹ zu verweisen, der ein Erwachen zu sich selbst, zugleich die Einung mit dem Einen, bedeutet. Diese Einung wird im Kunstwerk zumindest antizipiert.

II.

Aristotelische Poiesis

1.) Aristoteles hat an mehreren aussagekräftigen Stellen seines ausladenden Werkes ein trichotomisches, nicht ein dichotomisches Gliederungsschema der Wissenschaften entwickelt. Er kennt daher neben der theoretischen eine praktische und eine poietische Wissenschaft. 18 Allerdings hat er jene poietische Wissenschaft, von der

Ibid. II 5, 5, 28 f. Ibid. I 8, 3, 4 f. 17 Hierzu grundsätzlich: W. Beierwaltes, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen. Frankfurt/Main 2001. 18 Vgl. etwa Metaphysik VI 1, 1025b 22 ff.; Met IX 2; Met. XI 7; Topica VI 6. 15 16

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›Poetik‹ abgesehen, nicht im Einzelnen entfaltet. Umrisse sind gleichwohl erkennbar. So werden die Konturen des Poietischen einerseits im Kontrast zur Praxis expliziert. Anders als Poiesis ist Praxis (das nicht- herstellende Handeln) nicht auf ein Resultat ausgerichtet, mit dem es endete. Deshalb liegt der eigentliche Zweck des Handelns in dem freien Handeln selbst. Es ist im strengen Sinne daher gar nicht zu trennen vom guten Leben. Allerdings ist Handlungs-Wissen (ethisches Wissen) als Wissen gerade nicht Zweck seiner selbst. Es vielmehr ein Wissen, um des Handelns willen. Im sechsten Buch der ›Nikomachischen Ethik‹ hat Aristoteles die Poiesis vor allem als Kontrastfolie zur Praxis eingeführt. Aufschlussreich ist aber auch der in den Büchern I und II der ›Physik‹ unternommene Vergleich der Poietik und der Physik nach ihrem jeweiligen Gegenstandsbereich. Es geht um die Unterscheidung zwischen natürlichen Dingen (physei onta) und Artefakten (techné onta). Beide Bereiche weisen nach Aristoteles immerhin so viel an phänomenaler Gemeinsamkeit auf, dass sie verglichen werden können. Der Künstler wird sich an natürlichen Dingen orientieren. Umgekehrt wird der Physiker das Lebendige erklären, als wäre es von einem Werkmeister hervorgebracht. Der Unterschied wird erst auf dem Weg einer Interpretation von Bewegung (kinesis) und ihres Prinzips entfaltet. Im Fall des natürlichen Seins folgt diese Bewegung einer inneren Teleologie. Sie kann zwar kurzfristig abgelenkt werden; etwa indem ein Stein in die Höhe geworfen wird und die Bewegung nach einiger Zeit wieder in ihre Bahn zurückkehrt. Auch Entstehen und Vergehen eines Dinges, Genesis und Phthora, sind in dieser Weise an ihr inneres Telos gebunden. Die natürliche Teleologie des Naturseins entwickelt exemplarisch der berühmte Grundsatz: »Ein Mensch zeugt einen Menschen.« 19 Anders ist es mit den technisch hervorgebrachten Dingen. Sie haben ihr Bewegungsprinzip außerhalb ihrer selbst. Gleichwohl ist für Aristoteles klar, dass es kein nur künstlich hergestelltes Ding gibt. Der Naturstoff muss auf jeden Fall mit in die Formgebung eingehen. Insofern behält die physis gegenüber der techné stets den Vorrang. Dieser liegt auch in der teleologisch teleonomen Struktur des Herzustellenden. Die Natur dient als Vorbild. Da sie aber rätselhaft bleibt, da sie, wie Heraklit bemerkt, es liebt, sich zu verbergen, 19

Aristoteles, Physik II 7, 198a 26 f.

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sind wiederum die Artefakte der Zugang, an dem entlang sich erklären lässt, wie die Welt beschaffen ist. Im berühmten sechsten Buch der Nikomachischen Ethik firmiert die Kunstfertigkeit (techné) als eine dianoetische Tugend neben anderen. Die von Aristoteles entwickelte poietische philosophische Disziplin betrifft zunächst in keiner Weise die Frage nach dem Wesen des Schönen. Sie zielt eher auf die Deutung der kulturell geprägten Lebenswelt. Dabei ist offensichtlich, dass eine poietische Philosophie in einer primär durch Artefakte veränderten Lebenswelt von Bedeutung bleibt. In einer Welt, die der Mensch hergestellt hat, setzt nicht mehr zunächst die Natur den Horizont seines Verhaltens, sondern eben die Natur. 2.) Ein Stück jener Poietik hat Aristoteles allerdings ausgearbeitet. Es zu einem der meist kommentierten Passagen seines Korpus geworden: nämlich die Lehre von der Dichtung, die ›Poetik‹. Die ›Poetik‹ ist eine rückschauende, deskriptive Dichtungslehre, beschreibt sie doch gut einhundert Jahre nach deren Abfassung und erster Aufführung die klassische griechische Tragödie. Aristoteles geht dabei von der »diegesis mimesis« aus. Er verbindet also ›Diegesis‹ und ›Mimesis‹, die bei Platon strikt getrennt gewesen waren. Synkritisch zur Tragödie behandelt Aristoteles das Epos. Weitläufige Mythen und Legenden ranken sich indes um seine Komödientheorie, die verloren gegangen sein soll. Dies ist der Stoff, aus dem viele Intrigengeschichten, auch Umberto Ecos ›Der Name der Rose‹ schöpften. Damit ist das Verständnis der ›Poetik‹ einerseits durch eine überlieferungs- und rezeptionsgeschichtliche Kontingenz erschwert. Dass Aristoteles keine zusammenhängende Theorie der Lyrik bietet, hat aber andere Gründe. Die griechische Antike kannte nicht den zusammenhängenden Gattungsbegriff des ›Lyrischen‹, wohl aber eine Vielzahl von Sprechformen zwischen den intimen Liebesliedern der Sappho und Pindars Siegliedern und Oden. Diese Lücke scheint daher zunächst historisch bedingt zu sein. Aristoteles kann indes auch aus systematischen Gründen die lyrische Rede kaum zur Geltung bringen. Denn seine Poetik konzentriert sich um das Problem der Mimesis und der affektiven Bewegungen, die sie erzeugt. Mimesis (Nachahmung) ist zuerst Mimesis von Handlungen, nicht von Charakteren. Allerdings ist sie nicht begrenzt auf Wirkliches, sei 105 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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es Gegenwärtiges oder Vergangenes, sondern auch auf »die Dinge, wie man sagt, dass sie seien und wie sie zu sein scheinen und auch die Dinge, wie sie sein sollten«, bezogen. Mehr noch: Aristoteles betont, dass die Mimesis des Wirklichen weniger ›philosophisch‹ sei als die Imagination des Möglichen. Die ›Poetik‹ lotet von hier her die dreifache ontische Verfassung von Werken der Kunst aus. Einerseits sind sie Artefakte, Ergebnisse eines technischen poietischen Herstellungsvorgangs; andererseits stellen sie Wirkliches und wahrscheinliches Mögliches dar, und schließlich üben sie eine reale Wirkung aus. Sie bilden Initialpunkte zur Entfaltung einer realen Bewegung, der Katharsis (Reinigung) durch die Weckung der Elementaraffekte von Furcht und Mitleid (Eleos und Phobos). Wolfgang Wieland hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Aristoteles sich dabei am allgemeineren Begriffsrahmen der ›causa movens‹ orientiere, also der Bewegungskausalität. 20 Die Dichtungswerke, die in der ›Poetik‹ untersucht werden, haben darin freilich einen Sonderstatus inne. Denn einerseits sind sie Artefakte. Aber, anders als andere Artefakte, werden sie zugleich zum möglichen Ursprung intentionaler Bewegungen. Damit berührt sich die ›Poetik‹ wiederum aufs engste mit der ›Rhetorik‹, in der es um die Weckung und Hegung von Affekten gleichermaßen zu tun ist. Eleos und Phobos sind, wie eine differenzierte klassisch-philologische Diskussion seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt hat, nur unzureichend als ›Furcht‹ und ›Mitleid‹ zu übersetzen. 21 In diese deutschen Begriffe hat sich allzu viel pietistisch aufklärerische Moralauffassung eingelagert, bis hin zu dem lessingschen Satz: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch«, der die Auffassung von der »Schaubühne als moralischer Anstalt« prägt. Wie Dirlmeier und Kommerell erstmals konsequent gezeigt haben, sind Eleos und vor allem Phobos Elementaraffekte und keinesDazu den grundlegenden Aufsatz: W. Wieland, Aristoteles und die Idee der poietischen Wissenschaft. Eine vergessene philosophische Disziplin?, in: Th. Grethlein und H. Leitner (Hgg.), Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie. Festschrift für Manfred Riedel. Würzburg 1996, S. 479 ff. 21 Vgl. M. Kommerell, Lessing und Aristoteles. Frankfurt/Main 21984; W. Schadewaldt, Furcht und Mitleid? Zur Deutung des aristotelischen Tragödiensatzes, in: ders., Hellas und Hesperien. Zürich 21970, S. 194 ff. sowie H. Flashar, Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie, in: Poetica 16 (1984), S. 1 ff. sowie jetzt die souveräne Summe: ders., Aristoteles. Lehrer des Abendlandes. München 2013, S. 154 ff. 20

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wegs willentlich eingenommene Haltungen des Mitleidens. Die Terminologie ist, wie oft bei Aristoteles, medizinisch unterlegt. Sie bezeichnet mithin einen elementaren Reinigungsvorgang, wie man ihn beim Blutschröpfen anwenden mag. 22 Die Emotivität, die durch Rhythmus und Melos erzeugt wird, ist für Aristoteles durchaus ein probates Mittel der bürgerschaftlichen Integration in die Polis (politike koinonia). 23 Das ›metaballein ten psychein‹, die Verwandlung in der Seele, schafft erst Sympathien. Das Tragische ist also eine nicht zu unterschätzende politische Macht, die die verschiedenartigen Individuen, aus denen per definitionem die ›politike koinonia‹ besteht, überhaupt erst zu einer Bürgerschaft zusammenstimmen kann. Die seelische Verwandlung kann man im Sinn affektiver Urteile verstehen, die in einem engen Zusammenhang zu anderen Lebensund Erfahrungszusammenhängen stehen. Im vierten Kapitel der ›Poetik‹ spricht Aristoteles dem ›theorein‹, der Betrachtung, hohe Bedeutung für die Perzeption von Nachahmungen zu. Das Betrachten ist nicht nur sinnlich perspektiviert. Es ist auch nicht auf die Betrachtung der Ideen – im platonischen Sinn – eingeschränkt. Vielmehr führt es zu Lernen (manthanein) und Reflexion (syllogizesthai), an deren Anfang nach Aristoteles eine Erschütterung stehen kann. 3.) Aristoteles hat allerdings, über den Bereich der Poiesis hinausgehend, immer wieder über Schönheit nachgedacht. Dabei hat er konstatiert, Schönheit beruhe auf einer Proportion, einer Integration von differenten Einzelmomenten oder Strukturen, die sich nur in einer Art von Takt und Klugheit (Phronesis) ermitteln lässt und nicht ein für alle Mal dieselbe ist. Symmetrie und Proportion sind, wie Aristoteles bemerkt, nicht wie in der für Kunstkonzeptionen bis zur byzantinischen und Renaissance-Kultur maßgeblichen Lehre des Bildhauers Polykleitos, in mathematischen Grundverhältnissen grundgelegt. Sie stellen sich erst gemäß der Einsicht ein, etwa im Einblick in »nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgende Ereignisse.« Dabei gibt es eine weitreichende Vgl. die näheren Nachweise bei H.-J. Schings, »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch«. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980. 23 Vgl. dazu Politik VIII, Kap. 5. 22

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Affinität zwischen Gebilden der Kunst und dem Körper der Polis. In beiden Fällen geht es um ein »Maß an Größe«, das getroffen werden muss und nach dem sich die Angemessenheit der Form richtet. Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit nötigen zu einer selektiven Perzeption von Mythen-Stoffen, sofern sie in der Tragödie behandelt werden sollen, wohingegen das Epos ein ganzes Geflecht von Digressionen, Vor- und Rückgriffen erlaubt. Das gute Maß ist also je nach Kunstgattung verschieden. Aristoteles redet deshalb ausdrücklich der Relativität des Schönheitsbegriffs nach Kunstgattungen und Situationen das Wort. Dies entfernt ihn gleichermaßen von der aufleuchtenden Platonischen Idee in der Manifestation des Schönen, aber auch von der Vorstellung, es lasse sich die eine, definitive gute Form finden. Im ersten Buch der ›Rhetorik‹ ist, freilich im Fokus auf körperliche Schönheit, die Konzeption relativer, phronetisch zu ermittelnder Schönheiten angedeutet. Aristoteles hat dazu bemerkt: »Schönheit ändert sich mit jedem Lebensalter: Die Schönheit des Jünglings besteht darin, einen Körper zu haben, der Strapazen im Laufen und in Kraftanstrengungen aushalten kann, eine wahre Augenweide; daher sind die Fünfkämpfer sehr schön, weil sie von der Natur zur Kraft und Schnelligkeit zugleich geschaffen sind. Die Schönheit des Mannes, der in der Blüte seiner Jahre steht, zeigt sich in kriegerischen Anstrengungen, er gilt als gefälliger und furchterregender Anblick zugleich. Der alte Mann ist schön, wenn er die notwendigen Anstrengungen hinreichend bewältigen kann und ohne Beschwerden ist, weil er nichts an sich hat, was das Alter verunstaltet.« Es ist also nicht die Idee der Schönheit, die sich feststellen lässt, nicht ihr ideales Erscheinen ein für alle Mal als ›ekphanestaton‹. Es ist vielmehr die Schönheit ›pros ti‹ nach bestimmten Hinsichten. Doch nicht nur darin zeigt sich die Differenz zu Platon. In Platons Reflexionen über das Schöne ist, wie wir sahen, ein Sich-Messen mit dem Mythos und mit seiner künstlerischen Darstellung unverkennbar. Der Gigantenkampf zwischen Kunst, vor allem der Dichtung, und der Philosophie wird ausgetragen. Für Aristoteles gewinnen die Stoffe der Literatur hingegen den Charakter von Exempla für die Philosophie. Sie sind nicht mehr bedrohliche Gegenmacht, sondern Anschauungsraum der Kultur. Aus der Spannung aristotelischer und platonischer Tendenzen erzeugt sich die komplexere Vorstellung, dass das Schöne zwar in der 108 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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Kunst seinen bevorzugten Aufenthaltsort hat, dass aber zugleich das Vermögen des Künstlers primär formaler Natur ist; so dass das Wahre und das Gute nicht notwendig an die Form des Schönen gebunden sind.

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VIERTES KAPITEL:

›Pulchritudo‹ – vom göttlichen Sein Augustinus, Duns Scotus Eriugena und die gotische Kathedrale

1.) Aurelius Augustinus gibt, namentlich in seinen ›Confessiones‹ X und XI im Zusammenhang der Analysen zu Gedächtnis (memoria), Zeit und Ewigkeit, dem Begriff der Schönheit (pulchritudo) eine theologische Tiefenschärfe. Dabei ist es Augustins Grundsatz, dass die ›Visio Dei‹ in der ›Visio rei‹, der Schau der Dinge, abbildlich aufscheint. Schönheit erweist sich als Erscheinung des neuplatonisch gedachten Einen und damit Gottes in den Dingen. Das Eine erscheint dabei niemals unmittelbar, sondern vermittelt durch das ›Wort‹, als göttliche ratio, die das Seiende belebt. Auch die Erinnerung richtet sich nicht auf vergängliche Dinge, sondern auf dieses innere Seiende. Deshalb ist nur in der Memoria Zeit, wie Augustinus im elften Buch seiner ›Confessiones‹ zeigt, in allen ihren Gestalten, dem Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen, in einer Präsenz zu halten, während die Frage nach dem Sein von Zeit sonst in die Aporie führt. Erinnern wir uns an die berühmten Frage-Aporien: ›Ist‹ Zeit überhaupt, die doch verfliegt? Dass Erinnerung möglich ist, dessen wird sich die Seele im Schönen inne. Inmitten der Zeit kann in der Vollkommenheit des Schönen ihr ewiger Ursprung berührt werden. 1 Die ›natura creatrix‹, die nach Augustinus im Schöpferwort den höchsten Punkt erreicht, wird geliebt, weil sie anziehend ist. Sie ist vollkommenste Schönheit (›pulchritudo‹). Schönheit ist für Augustinus eine harmonische Stimmung und Fügung des Gegensätzlichen. Die Beredsamkeit der Dinge (eloquentia rerum) zeigt sich als ›beredtes Schweigen‹ 2, als »tönende und beredte Stille der Wahrheit«, in der das ›glückselige Leben‹ zu bleibender Gegenwart wird. Im Akt Vgl. dazu J. Kreuzer, Pulchritudo – Vom Erkennen Gottes bei Augustin. Bemerkungen zu den Büchern IX, X und XI der Confessiones, München 1995. 2 Vgl. dazu Augustinus, De civitate Dei, Buch XI. 1

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der Memoria wird sich der Geist des schöpferischen Grundes in den Dingen inne. In der Schönheit wird dabei, anders als dies im anagogischen Sinn Platon und der Neuplatonismus denken, in den Dingen selbst deren nicht-zeitlicher Grund berührt. 2.) Man ist seit langem darauf aufmerksam geworden, dass die neuplatonisch christliche Ästhetik, wie Augustinus sie beschwört, besonders prägnant in der Baukunst der Gotik, namentlich der fränkischen Königsabtei Saint-Denis, dem Prototyp der gotischen Kathedrale, sichtbar wird. 3 Der Planer und Bauherr, Abt Suger, verfolgte, wie in zweien seiner Schriften ›De rebus in administratione sua gestis‹ und ›De consecrationis‹ in Umrissen deutlich wird, das Ziel, in der Schönheit des Ganzen des Baus und seiner Teile das Sichtbare so zu zeigen, dass es auf seinen intelligiblen Grund hin durchscheint. Auf dem mittleren Westportal ließ Suger die Inschrift anbringen: »Das edle Werk leuchtet, aber das Werk, das edel leuchtet, soll die Geister erleuchten, dass sie hingehen durch wahre Lichter zum wahren Licht, wo Christus die wahre Tür ist. Wie sehr das wahre Licht in diesen Lichtern ist, zeigt das goldne Tor (das Portal): Der stumpfe Geist hebt sich zum Wahren durchs Stoffliche, vormals versenkt, steht er jetzt auf im Anblick dieses Lichtes.« 4 Diese Schönheitsund Lichttheologie zeigt sich auch konkret in der Baukunst selbst. Die Materie weist durch Mittel der Spiritualisierung (vor allem das ästhetische Lichtprinzip in den Chören) auf ihren nicht-materiellen Grund, und darin ist die Fleischwerdung des Wortes, die Inkarnation in Christus, fassbar. Das Bauwerk soll ein Leben aus der Betrachtung anleiten, das zur eigentlichen Quelle führt. In Vézelay ist dieser Atemzug im Bauwerk etwa höchst eindrucksvoll zu erleben. Maßgeblich für die ästhetische Theologie Sugers waren, wie Vgl. dazu O. von Simson, Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung. Darmstadt 1970 u. ö. Siehe auch W. Beierwaltes, Realisierung des Bildes, in: ders., Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt/Main 1985, S. 73 ff. 4 Einwände gegen diese Deutungslinie erhebt: Chr. Markschies, Gibt es eine »Theologie der gotischen Kathedrale« nochmals: Suger von Saint-Denis und Sankt Dionys vom Areopag. Heidelberg, Winter, 1995. Ungeachtet des zeitgeistkonformen destruierenden Gestus scheinen mir die Einwände nicht stichhaltig zu sein. Man wird wohl keine unmittelbare Einflussnahme im Raum zwischen der neuplatonischen Mystik und dem Abt Suger behaupten können, wohl aber ein vielfach gestaffeltes, gemeinsames geistiges Umfeld. 3

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man vermutete, die Schriften des Dionysios Areopagites, dessen Codices nicht zufällig im Kloster von Saint Dénis aufbewahrt werden. 5 Um den Autor rankt sich insofern eine Legende, als Dionysios – nach einer typologischen Selbstdarstellung in seinen Texten – mit jenem Dionysios aus der Apostelgeschichte gleichgesetzt wurde, der mit einigen wenigen Anderen nach der Areopagrede des Paulus, in der er Jesus Christus als den »unbekannten Gott« der griechischen Mysterien identifizierte, bei Paulus geblieben sein soll. »Paulus ging weg aus ihrer Runde. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden glaubend. Unter ihnen auch der Areopagit Dionysios und eine Frau namens Damaris – und andere mit ihnen.« 6 Dem tatsächlichen Dionysios Areopagites, einem Theologen des späten 5. Jahrhunderts, verdankte sich eine Engelslehre und eine mystische Theologie, die von der Vielnamigkeit Gottes über seine Namen- und Prädikatlosigkeit (der platonische Dialog ›Parmenides‹ spielt hier eine entscheidende Rolle) hin zu einer Evidenz führt, die jenseits von negativer und positiver Theologie verortet ist. Dionysios ist in der älteren Erforschung des Neuplatonismus ein ›christlicher Proklos‹ genannt worden. Dies verweist auf seine dialektische, Entgegensetzungen zusammenführende Denkform. Dabei ist es ein grundlegendes Motiv, dass die Einung mit der Zuwendung des göttlichen Einen zum endlichen Seienden verbunden wird. Zentrales Gottesprädikat des Areopagiten ist Liebe, die aber eher im Sinne von Eros als von Agape verstanden wird: »Das Alles Verursachende liebt Alles, schafft Alles, vollendet Alles, hält Alles zusammen und führt Alles zurück.« Der Eros führt also in eine Aufstiegsbewegung und zugleich führt er zurück in die Einheit mit dem Einen, in den Grund des göttlichen Intellektes. Damit ist die Nähe zu dem letzten großen Denker des Neuplatonismus, Proklos Diadochos (412–485), tatsächlich greifbar. Er hatte in einer spekulativen Etymologie das Epitheton ›kalon‹ von ›kalein‹, als ›rufen‹ oder ›bezaubern‹ verstanden. Es ›ruft‹ Seiendes und Denkendes zu sich. Solche Linienzüge spiegeln sich in frühmittelalterlicher Schönheitslehre, wie sie sich dann vor allem bei Johannes Scotus Eriugena Die Einwände von Markschies stellen m. E. diese Erkenntnisse nicht grundsätzlich in Zweifel. 6 Acta 17, 33 f. Dazu W. Beierwaltes, Platonismus im Christentum. Frankfurt/Main 1998, insbes. S. 44 ff., S. 85 ff. 5

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(810–877) manifestiert. Explizit hat er das theophane, auf Gott durchscheinende Wesen des Schönen freigelegt. Welt insgesamt ist Erscheinung des Nicht-Erscheinenden, des göttlichen Einen. »Alles was eingesehen und sinnenfällig erfahren wird, ist nichts anderes als Erscheinung des Nicht-Erscheinenden, […] Zugang zum Unzugänglichen, Einsicht in das Nicht-Einsehbare, Körper des Unkörperlichen […] Welt ist also selbst seiende Metapher, göttliche Metapher.« 7 In der mystischen Theologie seit Dionysios Areopagites war es geläufig geworden, zwei Wege der Erkenntnis des göttlichen Einen voneinander zu unterscheiden, einen Weg der Affirmation und einen der Negation. Dieser spricht göttlichem Ursprung ab, was jener ihm zuerkennt: Gottesprädikate, wie Sein, Leben, Wahrheit, treffen das Wesen Gottes nicht. Sie beschreiben also eher, was Gott nicht ist, als das, was er ist. Eriugena weist darauf hin, dass die ›Negatio‹ die Bejahung, und damit die Analogie zur menschlichen Welt, nicht einfach durchstreiche oder gar ad absurdum führe. Vielmehr ist durch Verneinung als Oberton über allen positiven Bestimmungen, die über das göttliche Eine getroffen werden können, das ›unendliche Nichts‹ (nihil per infinitatem) des Unendlichen freigelegt. Nur dadurch, dass Gott Nichts zu allem positiven Seienden ist, können überhaupt Analogien behauptet werden. Der Schöpfung, ›creatio‹, kommt damit eine wichtige Bedeutung zu. Das Göttliche bleibt nicht reines Nichts, nicht die ihrer selbst bewusste, kreative Möglichkeit und Seinsfülle, die sich zurückhält. Die patristische Formel der ›creatio ex nihilo‹ findet von hier her eine pointierte Deutung, die ebenfalls bereits bei Augustinus vorbereitet ist. Jenes Nichts wird mit dem göttlichen Einen identifiziert, das sich als Erscheinendes in der Schöpfung der Welt zeigt. Der Übergang ins Seiende wird auch nicht, wie im Neuplatonismus im Allgemeinen und bei Dionysios im Besonderen, von Eriugena als jäher Umschlag und Plötzlichkeit (›exaiphnès‹) aufgefasst, sondern als ein poietischer Vorgang in der Dreiheit von Sprechen (Welthervorbringung im ›Wort‹), Denken (›Weisheit‹) und Sehen. Das Schöpfungsgeheimnis wird also artikuliert, und daP III 4; 58, 12–19, dazu W. Beierwaltes, Negati Affirmatio: Welt als Metapher. Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik, in: ders., Eriugena. Grundzüge seines Denkens. Frankfurt/Main 1994, S. 115 ff. Vgl. auch die anderen Beiträge dieses herausragenden Bandes.

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mit erfährt die Kunst als Analogon zur Schöpfung eine neue Gewichtung. Das Erscheinen, so wird immer wieder festgehalten, leuchtet. Damit leuchtet auch alles Seiende, was erscheint (omne quod apparet lucet). Licht ist die absolute Metapher für Erscheinen. Deshalb kann der »Bau dieser Welt […] zum größeren Licht [werden], aus vielen Teilen wie aus vielen Leuchten in eins gefügt, zur Entdeckung und Betrachtung der reinen Gestalten der intelligiblen Dinge durch die Spitze des Geistes«, die in den verschiedenen Lichtern deren Grund, das ›principium illuminandi‹ gewahrt. 8 Im Einzelnen ergeben sich Grade und Abstufungen solcher Schönheit. In der ungeformten Materie ist sie bereits angedeutet. Je mehr der Stoff eine Formung durch Identität, Entsprechungen, Harmonien, Zahlverhältnisse erfährt, umso reiner leuchtet das Urbild auf. Kunstgebilde, von der Ganzheit des Kathedralenbaues bis zu den alttestamentarischen, typologisch auf Christus hin verweisenden Glasfensterdarstellungen und der Schönheit des gebildeten Edelsteins sind daher Spuren oder zumindest Zeichen theophaner Wahrheit. Sichtbare Formen der Materie versteht Eriugena als Handreichungen (manudictiones). Die Materie ist also nicht, wie für Plotin und Proklos, verfinstert. Noch einmal tiefer befragt, sind sie EinBildungen (imaginationes) jener unsichtbaren Schönheit, in der das Wesen des Schönen begründet ist: Leerraum der Erscheinung, der selbst nicht erscheint. Dieser Grund deutet sich am ehesten in Symbolen an, die über ihre sinnhafte Bedeutung hinausverweisen, wie Sonne, Feuer, Wind, Wolke, Holz, Stein, Fluss, Rad, Wagen oder, vor allem, dem Menschen selbst. Die Grade der Schönheit bemessen sich dabei im Sinn einer immer weitergehenden Reinigung und einer immer höhergradigen, intensivierten Verbindung von Sein und Nicht-sein. Das Maß gibt nach Eriugena das Zusammenbestehen (concordia) von Ähnlichem und Unähnlichem vor. Es ist eine Harmonie, die auch noch Gegensätze umfassen kann. Schönheit erfordert eine Differenz, die im Letzten eine Verbindung von Sein und Nicht-Sein (im Sinne der beiden Wege der ›Negati affirmatio‹) anzeigt. 9 Die Schön8 9

Beierwaltes, ibid., S. 120 ff. Im Hintergrund dieser ontologischen Problematik erkennt man die Konstellation

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heit, wie sie in der Kathedrale als einem Gesamtkunstwerk exemplarisch realisiert werden soll, nennt Eriugena eine ›vielstimmige Melodie‹ (organicum melos), die einen Wohlklang (dulcedo) ergeben soll. Kunst wird durch jene Integrationsmacht des Entgegengesetzten zugleich Indiz der Rückkehr des Seienden in seinen Ursprung: der conversio bzw. resolutio oder restauratio, und dies bedeutet auch: der Tilgung der zerstörenden Spuren der Endlichkeit. Es ist eine restitutio ad integrum, die nach christlicher Auffassung erst am Ende der Zeiten mit der Wiederkehr Christi erreicht sein wird, die in der Integrationskraft des eminenten Kunstwerks vorausleuchtet. Werner Beierwaltes verwies darauf, dass, so wie die Welt Theophanie ist, das Kunstwerk eine Erscheinung des Schönen selbst sei, eine Kallophanie: »Endliche, geschaffene Erscheinungsform des absolut Schönen, welches als Theophanie auf den Grund seiner Erscheinung hinführen will.« 10 Damit verbindet sich eine bemerkenswerte Vorstellung vom Künstler. Er sei ars ipsa, die Ordnung des Ganzen, nach der auch Gott in seinem absoluten Schaffensakt die Welt zur Erscheinung brachte. Der Mensch kann deshalb nur in einem analogischen, Gott imitierenden Sinn Künstler sein. Er schafft aus Einsicht in die transzendenten Ideen, soweit sie ihm zugänglich sind. Dabei arbeitet er die im absoluten Schöpfungsakt gesetzten Ideen gleichsam in Harmonien und Bildwerken heraus. Er ist also, sehr im Unterschied zu der platonischen Konzeption des bloßen Nachbildners, Nachahmer göttlichen Bildens: Eriugena spricht von der ›imitatio in imagine‹, was aber, obgleich notwendigerweise eine Einschränkung, zugleich eine Auszeichnung ist. Es könnte zutreffend sein, dass die aristotelische Rehabilitierung der Würde der Mimesis eine Voraussetzung dieses Gedankens ist. Allerdings ist damit auch die grundsätzliche Überholbarkeit der Kunst für die Erscheinung des Göttlichen festgehalten; als Problemtopos wird dies bis zu Hegels systematischer Verortung der Kunst als zwischen platonischem ›Parmenides‹ und ›Sophistes‹ : die Verbindung von Sein und Nichts als Emanzipation der ›Dialektik‹ und zugleich der Bildlehre von den Grundsätzen des Einen Seins beim ›Vater Parmenides‹. Näheres dazu hoffe ich in näherer Zeit in problemgeschichtlichen und systematischen Studien zu den Grundformen der Dialektik vorlegen zu können. Diese Arbeit wird voraussichtlich 2016 erscheinen. 10 Beierwaltes, Eriugena, a. a. O., S. 147.

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»Mimesis des Absoluten« im Medium der sinnlichen Gestalt nachwirken. Die Gedankenfigur Eriugenas wäre kaum denkbar ohne den platonischen ›Phaidros‹, die Orientierung des ›eu legein‹ und der Schönheit auf die logisch dialektische Kenntnis des Alls, der Welt und der Seele. In der spätantiken Architekturtheorie fanden sich schon Andeutungen dieses Gedankens, wenn der eidetischen Entwurfskraft des Architekten eine Dominanz gegenüber dem poietischen Akt zugesprochen wurde. Mimesis ahmt die Logoi nach, die apriorischen Ordnungsstrukturen des Seienden. So muss auch für Eriugena der ›intellectus artificis‹ bzw. ›intellectus artis‹ unbedingt dem ›artificiatum‹ vorausgehen. Damit wird auch den Hierarchisierungen des ›gemischten‹ und damit guten Lebens, wie es im platonischen ›Philebos‹ vorgezeichnet ist, Rechnung getragen. Eriugena wendet große Aufmerksamkeit dem Versuch zu, Abschattungen und Intervalle freizulegen, wie die Materie auf die sie innerlich bestimmende Form transparent ist. In den konkreten Harmonien des Kunstwerkes geht es um verschiedene Mischungsverhältnisse zwischen dem Einen und dem Vielen, dem Sein und dem Nichts. Man denkt unweigerlich an die Bestimmung im ›Philebos‹, wonach sich die Kunst des wahren Dialektikers darin erweist, dass er nicht das Eine schroff dem Anderen gegenüberstellt, sondern die Differenzen zwischen den Gegensätzen artikuliert. Bei Eriugena geschieht dies auch in der Fügung des vollkommenen Kunstwerkes. 3.) Ist dies nun der Hintergrund für die gotische Kathedrale? Es sei nicht verschwiegen, so wenig die Debatte hier im Detail aufgenommen oder gar entschieden werden kann, dass die Bedeutung Abt Sugers – und damit der Linie vom mystischen Neuplatonismus christlicher Prägung – auf Saint Denis und den Kathedralenbau in jüngerer Forschung seit Beginn der neunziger Jahre (Kidson, Markschies, Andreas Speer) zum Teil eher skeptisch gesehen wird. Damit werden die Forschungen von Erwin Panofsky, der in Kooperation mit der Warburg-Bibliothek in den zwanziger und dreißiger Jahren die Edition der Schriften Eriugenas besorgte, aber auch die von dort sich herleitende architektur- und kunsthistorische Einzelforschung, insbesondere von Otto von Simson, teilweise in Frage gestellt. Haupteinwand ist es, dass die neuplatonischen Bestimmungen über die Schönheit nicht unmittelbar kunsttheoretischen, ästhetischen Cha116 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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rakter haben. Ein unmittelbarer Nexus zwischen Metaphysik des Schönen und künstlerischer Wirklichkeit sollte tatsächlich nicht angenommen werden. Derartiges haben Panofsky und Saxl auch niemals behauptet. Eine indirekte Beeinflussung ist aber auch nicht auszuschließen. Mit Willibald Sauerländer, einem anderen großen Kenner mittelalterlicher Kathedralenkunst kann man formulieren: »Eine intelligente Bautechnik, ein arbeitsteilig organisiertes Bauhandwerk wurden entwickelt, um Gebäude zu errichten, welche die natürliche Begreifbarkeit durch ein raffiniertes Kalkül aufheben und das Mysterium der göttlichen Erleuchtung architektonisch inszenierten.« 11 Otto von Simson hat von hier her die weitergehende These formuliert, »dass ohne die falschen Angaben eines anonymen syrischen Schriftstellers, der sechshundert Jahre zuvor gelebt hatte, die gotische Architektur gar nicht entstanden wäre.« 12 Nach Sache und Begriff muss, dies zeigt Sauerländers Einlassung ganz zu Recht, die Alterität gegenüber heutigen Erwartungen an das Verhältnis von Kunst und Reflexion herausgehoben werden. Deshalb vermag ich nicht zu sehen, dass mit den neueren Bemerkungen Otto von Simsons These hinfällig würde. Schon von ›mittelalterlicher Ästhetik‹ oder ›Kunsttheorie‹ zu sprechen, bleibt hochproblematisch, nicht anders übrigens als die Rede von antiker ›Ontologie‹ oder ›Erkenntnistheorie‹. Die Kraft neuplatonischer Gedanken als Normativität künstlerischer Gestaltung sollte aber keinesfalls unterschätzt werden. 13 Dies aber geschieht, wenn Kidman einen Mann wie Abt Suger einen ›verwässerten Platoniker‹ nennt, der die Sonne am Morgen grüßte, »and feels that ›God’s in his heaven, all’s right with the world‹.« Als Korrektiv solcher vermeintlich desillusionierender Ergebnisse mag man sich die Einsicht Friedrich Schlegels vor Augen führen, wonach geisteswissenschaftliche Hypothesen nicht überzeugender sind, je mehr sie Vergangenes an die trivialen Vorannahmen eigener Zeit angleichen. Schlegel hält fest: W. Sauerländer, Das Jahrhundert der Großen Kathedralen. Köln 1989, S. 8. Ibid., S. 8 f. 13 Vgl. unter den neueren Arbeiten zum Thema: A. Speer, Vom Verstehen mittelalterlicher Kunst, in: Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11.–13. Jahrhunderts, hg. von C. Binding und A. Speer. Stuttgart 1993, S. 13 ff., siehe auch: P. Kidson, Panofsky, Suger and St. Denis, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 50, 1987, S. 1 ff. Beierwaltes, Eriugena, a. a. O., Fn. 131., spricht sehr zu Recht von einer nivellierenden Einschätzung. 11 12

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»Die beiden Hauptgrundsätze der sogenannten historischen Kritik sind das Postulat der Gemeinheit und das Axiom der Gewöhnlichkeit. Postulat der Gemeinheit: Alles recht Große, Gute und Schöne ist unwahrscheinlich, denn es ist außerordentlich und zum mindesten verdächtig. Axiom der Gewöhnlichkeit: Wie es bei uns steht und um uns ist, so muss es überall gewesen sein, denn das ist ja alles so natürlich.« 14 En détail laufen jüngere Forschungen darauf hinaus, darzulegen, dass es in den Schriften Sugers eher eine »einfache Lichtterminologie« gebe, wie man sie ähnlich auch in Dedikationsinschriften der Spätantike finde, die also keineswegs auf ein spezifisches Dionysios-Studium hinweisen müssten. Bemüht werden auch die vielfachen mittelalterlichen Hinweise auf die Dunkelheit des dionysischen Korpus. Johannes Saracenus etwa notierte, einige Zeit nach Sugers Tod, die Sätze des Dionysios seien »so schwer, dass sie wegen übergroßer Verständnisschwierigkeiten kaum von jemandem gelesen werden. Auch hat der Übersetzer (eben Duns Scotus Eriugena), der meines Erachtens weniger gebildet war, als es nötig gewesen wäre, nicht wenig an Dunkelheit hinzugefügt.« Nichts ist dagegen einzuwenden, wenn die Verbindung hochmittelalterlicher Theologie und Philosophie auf eine »solidere Basis gestellt werden« soll. Zu warnen ist aber davor, die Schriften Sugers nun nach dem keineswegs empirisch nachweisbaren Bild seiner Unkenntnis, der Vorstellung von einem Abt, der nicht gelesen habe, zu interpretieren. Wie sich Aneignungen in Texten verdichten, was verschwiegen und was ausgesagt wird: dies alles sind komplexere hermeneutische Fragen, als auf diese Weise suggeriert wird. Hochproblematisch wird es aber, wenn die Kritiker Konjekturen der folgenden Art bemühen: »Eine nach dem System der areopagitischen Mystik aufgebaute Kirche müsste doch wenigstens vorsichtig in das urgöttliche Dunkel (›ho theios skótos‹) mystagogisch einführen, sollte also […] nicht als aufgehellter Bau, sondern partiell vielleicht als dunkle Höhle gestaltet sein.« 15 Diese Vorstellung entspringt einer ahistorischen Phantasie. Verzeichnet wird auch die Relation zwischen ›negativer Theologie‹ und Affirmation: Das Dunkel Gottes ist nämlich in der dionysischen F. Schlegel, Kritische Fragmente Nummer 25, hier nach Schlegel, Studienausgabe Band 1, hg. von E. Behler und H. Eichner. Paderborn 1988, S. 240. 15 Markschies, a. a. O., S. 66. 14

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Denkbewegung immer nur das Komplement seiner Überhelle im Sinne der »negati affirmatio«. Und eine unmittelbare Nachbildung spekulativer Theologie und Philosophie im Bau, wie sie hier angenommen wird, ist nie sinnvoll behauptet worden. Man wird vor allem die Liturgie als Vermittlungsinstanz zu begreifen haben, die den Stein und die spekulative Theologie miteinander in Verbindung bringt. Den Zusammenhang von Diaphanie und Theophanie verkennen moderne Deuter, die, in ihrer Weise ähnlich einseitig wie eine vergangene Einfühlungshermeneutik, den Maßstab der eigenen Zeit zum Grundkriterium erheben. 4.) Der Begriff der Harmonie, wie er ausgehend von Eriugena formulierbar ist, wurde implizit bereits in Anspruch genommen. Er ist in seiner grundsätzlichen Relation und den daraus sich ergebenden musikästhetischen Folgerungen näher zu bestimmen. Eriugena steht die Idee einer Harmonie in »absoluter Form« vor Augen, die sich dadurch auszeichnen soll, dass sie untrennbar und nicht-zusammengesetzt ist. Sie geht also über die Verbindung unterschiedlicher bzw. ähnlicher Teile explizit hinaus: »Est ineffabilis unitas inseparabilisque incompositaque harmonia universaliter differentium seu similium partium copulationem supergrediens.« 16 Er ist sich auch darüber im Klaren, dass Harmonie schließlich eine Harmonie der Gegensätze sein muss. Sie gründet in einem ›Gegensatz der Gegensätze‹, was in der nun schon vertrauten sprachlichen Ambivalenz einmal den Ursprung von einzelnen Gegensätzen meint, die in diesem Ursprungspunkt zusammengehalten und so verbunden sind, dass sie nicht aus dem harmonischen Gleichgewicht ausbrechen. Zum anderen ist damit aber auf ein Über-Gegensätzlichsein verwiesen. Die Über-Gegensätzlichkeit »sammelt und komponiert alles durch eine schöne und unaussprechbare Harmonie in Eine Fügung.« 17 In diesem Sinn versteht Eriugena den Kosmos als eine große Komposition, in die selbst das Böse als ›augmentum‹ ein-

Peri Physeon (De divisione naturae), Buch I–III, nach der kritischen Ausgabe von I. P. Sheldon-Williams, Patrologia Latina ed. H. J. Floss. Paris 1853, II, 17 und 19 f. Die folgenden wenigen Überlegungen verdanken vieles W. Beierwaltes, Eriugena. Grundzüge seines Denkens. Frankfurt/Main 1994. 17 P I 72; 206; 33 ff. 16

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bezogen wird. Der springende Punkt ist damit bezeichnet: Harmonie ist nicht Differenznivellierung, sondern -steigerung, indem in einem nicht sinnlichen, sondern nur denkbaren Vorgang die gegensätzlichen Wesenheiten umfasst werden können. Eriugena setzt zwar Schönheit wiederholt mit Harmonie gleich. Diese sei freilich nur dem ›inneren Sinn‹ des Geistes erfahrbar, als anmutige Süße (harmonica suavitas). Nicht der einzelne Ton trägt die Harmonie, sondern die nicht sichtbaren Proportionen und Beziehungen, die in Simultaneität Gegensätzliches wie hohe und tiefe Töne in der intelligiblen Ausrichtung des Harmoniegefüges zusammenfügen. Eriugena spricht vom ›organicum melos‹, das aus »unterschiedlichen Quantitäten und Qualitäten der Töne entsteht, die, sofern sie einzeln und getrennt voneinander wahrgenommen werden, weit voneinander entfernt sind, die aber, sobald sie ineinandergefügt werden, gemäß festgelegten und vernunftmäßigen Regeln der musikalischen Kunst einen naturhaften Wohlklang erzeugen.« Das Melos entsteht aus der Mehrstimmigkeit. Die Stimmen verbinden sich in konstanten Analogien zur Harmonie des Kosmos in einer Simultaneität, die erst verbürgt, dass die Harmonie mit der Bewegung und dem Fortgang der Zeit sich fortsetzt. In der Scholastik, namentlich bei Thomas von Aquin, kam dann eine weniger auf Gegensatz-Integration konzentrierte Schönheitskonzeption zu ihrem Recht. Sie steht in enger sachlicher Verbindung mit Bernhard von Clairvaux’ Forderung, das Schöne solle nicht unruhige Neugier erregen, sondern beruhigen, die Sinne nicht anspannen und ermüden, sondern aufheitern. Drei Qualitäten werden daher ins Zentrum gerückt: claritas, perfectio, proportio. ›Perfectio‹ ist deshalb ein Ideal, weil durch sie die Dinge in ihrer Unversehrtheit dargestellt werden sollen. Wenn sie fragmentiert sind, ihre äußere Gestalt lädiert ist, dann wird man sie nicht schön nennen können. Das Kriterium der Klarheit der Linien entspricht der Intelligiblität des inneren Lichtes im Sinn der neuplatonischen Überlieferung. Allerdings geht es Thomas gerade nicht um die Akzentuierung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem. Den Schmerz, den Platons ›Phaidros‹ mit dem Erblicken des Schönen verbunden hatte, ein erfahrungsevidenter Topos, der spät in Versen wie August Graf von Platens: »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben« Resonanz findet und 120 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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von hier her in der Kunstepoche der Décadence, etwa in Thomas Manns ›Tod in Venedig‹ nachklingt, hat bei Thomas von Aquin keinen Ort. Man könnte bei ihm eher schon die erste Figuration eines ›Wohlgefallens ohne alles Interesse‹ als Bestimmung des Schönen ausmachen. Damit wird das Schöne auch gegenüber dem platonischen Verständnis depotenziert. Die Befriedigung an der Gegenwart des Schönen stellt sich erst in der Erkenntnis ein. Das Gute hingegen rufe ein Verlangen hervor, das erst zur Ruhe kommt, wenn das Ziel erreicht ist. 18 Es tritt also geradezu die Inversion der platonischen Figur einer ›Flucht des Guten in das Schöne‹ ein. Platon hatte sie im Blick auf die sinnfällige Darstellung von Schönheit, die Lust und Verlangen erregt, evoziert. So beruht das Schöne nach Thomas auf einer ›Wahrnehmungserkenntnis‹ und auf der ›causa formalis‹ (der Formursache), während das Gute der ›causa finalis‹ (der Zweckursache) folgt. Maß und Angemessenheit sind der Zweckursache zugeordnet. Verfehlt die Kunst dies, so gleichen, wie Thomas karikierend sagt, ihre Hervorbringungen einem gesattelten Ochsen oder einem mit Waffen bewehrten Schwein. Die platonische Linie des Aufstiegs, der Sehnsucht, wird aber bei dem großen Antipoden des Heiligen Thomas, beim Heiligen Bonaventura, in der Scholastik fortgeschrieben. ›Claritas‹ ist bei ihm nicht die ideale Umgrenzung eines angeschauten Objektes, sondern Teilhabe am Urlicht und seinem Glanz. Die Differenz ist dabei von Bedeutung: Nicht die Ruhe kennzeichnet die Erfahrung des Schönen, sondern ein Unbefriedigtsein der Sinne, wodurch überhaupt erst ein Aufstieg in die wahre Schönheit in Gott möglich ist. Er führt auf den Inbegriff des Schönen, das von allen materiellen und körperlichen Schlacken befreit sein soll. 19

Summa theologiae I, qu. 39, art. 8. Dazu J. Ratzinger, Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras. Freiburg/Br. 2009 (Gesammelte Schriften Band 2). Diese Ausgabe ermöglicht erstmals die genaue Kenntnis des seinerzeit nicht eingereichten zweiten Teils der Habilitationsschrift von J. Ratzinger.

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FÜNFTES KAPITEL:

Vom absoluten Blick. Cusanus’ Koinzidenzvision

1.) Nicolaus von Kues, geboren 1401 in Kues an der Mosel, päpstlicher Legat, Bischof von Brixen, Freund zweier Päpste und an den Intrigen der Kurie leidender Kardinal, maßgeblich an Verhandlungen um die ›Concordantia catholica‹ und die Einheit von Ost- und Westkirche beteiligt, der im August 1464 bei der Vorbereitung eines Kreuzzugs gegen die Türken stirbt, ist für die Ausprägung eines Verständnisses des Schönen als Annäherung an das Göttliche von höchster Bedeutung und dies aus zwei Gründen: zum einen wegen der spekulativen Dimension seines Theorems von der »visio facialis« und »visio absoluta«, zum anderen aber, weil er der Poietik und Artistik eine grundlegende kulturtheoretische, anthropologische und theologische Bedeutung zuweist. Ein kurzer Blick gelte zunächst dem ersten Problemzusammenhang: Die erste für die Frage nach Kunst und Schönheit einschlägige Schrift des Cusaners ist die Abhandlung ›De visione Dei‹ aus dem Jahr 1453, dem Jahr des Falls von Konstantinopel. Hier weist er die Verschränkung zweier Aspekte des absoluten Sehens auf: Gott sieht und er wird zugleich gesehen. Die begriffliche Evozierung dieser Duplizität wird, wie zumeist beim Cusaner, durch ein Experiment eingeleitet. Er sendet den Mönchen vom Tegernsee, den Adressaten seiner Schrift, eine ›icona Dei‹. Es war wohl eine perspektivische Darstellung des göttlichen Blickes, der so perspektiviert ist, dass die ›Visio absoluta‹ auch denen zugewandt bleibt, die sich von ihm abwenden. Der göttliche Blick richtet sich individuierend auf jeden einzelnen Betrachter. Als Grundakt Gottes erscheint dabei das Sehen selbst – vielleicht in Anspielung auf die Etymologie von ›Theos‹ auf ›Theia‹ : den Blick –, das vom begrenzten Sehen unterschieden ist, es dabei jedoch begleitet. Gott zeigt sich in der ›Visio absoluta‹ als absolutes, seinen umfassenden Blick und die Hinsichten einer endlichen Annäherung an ihn einendes Begreifen, das auch sinnlich zu122 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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tage tritt. Im Hintergrund steht die gedankliche Konstellation, dass das Abbild durch das Urbild hindurch gesehen werden kann, wodurch sich das Urbild selbst allererst sieht. Genitivus obiectivus und Genitus subiectivus werden auch sprachlich zusammengeführt, um die Koinzidenz der Blickrichtungen zu signalisieren. ›Sehen‹ wird im beseligten, absoluten Blick als Gesehenwerden und Gesehenwerden wird als Sehen erfasst, in einer vollständigen Übereinstimmung des endlichen und unendlichen Blicks. »Gottes Sehen ist sein Gesicht«, »Visus tuus, domine, est facies tua«, wie es Cusanus ausdrückt. Dies hat zur Entsprechung, dass, wer Gottes Gesicht sucht, sich darin selbst sieht; noch ungleich radikaler bedeutet dies zugleich, dass Gott Urbild aller endlichen Gestalt ist. Das Bild Gottes verheißt bei Cusanus dem Betrachter: »sis tu tuus, et ego ero tuus: »Sei du du [selbst] und ich werde du sein.« 1 Man vergewissere sich, dass die Verbindung von Sehen und Gesehenwerden bei Cusanus als Visio facialis mit dem differenzlosen Akt eines wechselseitig zugewandten Blickes ›von beiden Seiten‹ verbunden ist. Damit bezeichnet sie auch den engen dialogischen Bezug zwischen Abbild und Urbild. Dieser Vorgang ist gleichermaßen reflexiv, denn im Anderen, dem Medium des auf das göttliche Bild gerichteten Blickes, wird sich das Sehen erst seiner selbst inne, in einem Reflexivität und Differenz auflösenden, sie einenden Vorgang. Diese spekulative Lehre vom Blick ist nicht ohne enge Verbindung mit der bildenden, perspektivischen Kunst in der Zeit des Cusanus zu verstehen. Man hat nicht ohne Plausibilität eine Vermittlung cusanischen Denkens an Albrecht Dürer über Willibald Pirckheimer vermutet. Dann läge es aber nahe, dass Albrecht Dürers Selbstbildnisse, so das berühmte christusartige Eikon von 1500, auf eine solche Theorie des Sehens und der Verbindung von Urbild und Abbild Bezug nehmen könnten. Der Ansatz einer koinzidentalen Visiologie beim Cusaner ist aber auch unabhängig davon eigener Aufmerksamkeit wert. Er hat N. Cusanus, De visione Dei, Widmung, 99 r. siehe dazu K. Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Frankfurt/Main 1998, S. 383 ff., siehe zu den spekulativen Implikationen auch: W. Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus. Heidelberg 1980; ders., Visio absoluta. Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus. Heidelberg 1978; im Blick auf die Konzeption der einen, aber perspektivisch gebrochenen Wahrheit vgl. H. Seubert, Nicolaus Cusanus interkulturell gelesen. Nordhausen 2005.

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den Mönchen vom Kloster Tegernsee, mit denen er ein enges Korrespondenzverhältnis unterhielt, eine Art Versuchsanordnung gegeben: Verschiedene Personen vergleichen ihre verschiedenen Sehpunkte. Dabei eröffnen sich selbstverständlich unterschiedliche Gesichtsfelder. Obwohl sie aber die Blickweise der anderen nicht teilen können – diese Einstimmigkeit in der Differenz wird künftig ein Leitfaden für ästhetische Wahrheitserfahrungen sein –, glauben sie einander und sehen damit die Relativität der partialen Blickweisen in der Einheit des absoluten Sehpunktes der Visio Dei zusammenlaufen. Gottes Sehen ist beides, Ruhe und Bewegung. Damit aber ist Gott den Gegensätzen entzogen. Dies führt auf die bei Eriugena vorformulierte ›oppositio oppositionis‹ zurück, den Ursprung der Gegensätzlichkeiten. Überdies hat diese Theorie des Sehens eine große konzeptionelle Nähe zur wenig früher abgefassten Schrift ›De pace fidei‹, also der im Zeichen der Einnahme Konstantinopels durch die Türken entstandenen Abhandlung des Cusaners über den Religionsfrieden. Die ›vera religio‹ zeigt sich demnach in einer intellektualen Denkart, die in der Lage ist, die Grenzen des Verstandes zu überschreiten und in den verschiedenen Religionen die Manifestation Gottes zu erkennen. 2 Doch noch mehr: In einem lange kaum beachteten Zeugnis hat der Cusaner damit auch die Unterscheidung zwischen negativer und affirmativer Theologie als Problem der Perspektive bezeichnet. Die Wahrheit schreie auf den Gassen, gibt Cusanus seine philosophische und methodische Neuentdeckung um das Jahr 1450 zu erkennen: »Dass Gott verborgen ist, bedeutet, dass ihn niemand sehen kann, es sei denn Gott blicke ihn an: was aber doch geschieht.« Die aristotelische kategoriale Unterscheidung von kinesis, Bewegung als Wesenszug der endlichen Welt, und stasis, des göttlichen Grundes, der überhaupt erst diskrete Identitäten aus sich hervorgehen lässt, wird damit preisgegeben. Den Abglanz des Absoluten im Endlichen gewahrt der endliche Blick in einer konkret sinnlichen Manifestation der Idee: in einem Abbild, in dem das Urbild aufscheint. Von hier her ist es nur ein Schritt bis der Verfertiger dieses Abbildes selbst eigens in den Zusammenhang der Visio absoluta genommen wird.

Dazu Flasch, a. a. O., S. 330 ff. und die einschlägigen Bemerkungen bei Seubert, Cusanus, S. 45 ff. pass.

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Vorbereitet ist diese Rehabilitierung der Poietik durch die 1450 vollendete ›Laienphilosophie‹ des Cusaners. Damit ist die zweite, vielleicht noch folgenreichere Invention benannt. Ein Redner (orator) und ein für seine Zeit hochbedeutender Philosoph, die sich ihrer Bedeutung bewusst sind, steigen hinunter in die Ladenwerkstatt des Laien (idiota), der in seinem unter der Straße gelegenen Geschäft mit Löffelschnitzen beschäftigt ist. Die beiden gelehrten Herren debattieren dabei um die Bestimmung der ›mens‹, die nicht auf den Begriff zu bringen ist. ›Mens‹ ist, so kann man vorläufig festhalten, die Kraft (vis), die die Urbilder aller Dinge in sich enthält. Die endliche, jeweils individuelle Mens zeigt sich am ›Idiota‹, der einer konkreten und begrenzten Verrichtung, dem Löffelschnitzen, hingegeben ist. Aus der Beobachtung erkennen die Gelehrten, dass der Geist, wenn er ganz bei einer Verrichtung ist, das Maß finden kann, das Alles und Vieles voneinander und von der ihm vorausgehenden Einheit scheidet und, im Sinn des platonischen Grundverhältnisses von ›symploké‹ und ›dihairesis‹, zugleich miteinander verbindet. 3 Im Licht dieser Einsicht umschreibt Cusanus den Menschen mit dem alten Wort des Sophisten Protagoras als das ›Maß aller Dinge‹ und als einen zweiten Gott, der die Welt der Kultur und der Begriffe erschafft. Weil er dabei, das Urbild messend, Abbilder schafft, hat er gerade darin einen originären Zugang zur Welt der Ideen, ja zur göttlichen ›mens‹ selbst. Dass auf diese Weise die platonische Lehre aus Buch X der ›Politeia‹ vom dreifachen Abstand von der Wahrheit samt der Missachtung des ›Täuschungskünstlers‹ hinfällig wird, ist offensichtlich. Doch noch mehr: Es wird auch ein Vorrang des erzeugten Wirklichen, des raum-zeitlich Seienden gegenüber den Ideen, konstituiert, der daraus rührt, dass nur die wirklichen Dinge tatsächlich gesetzt sind. 4 ›Mens‹ als ›mensura‹, der Geist als Instanz des Messens, steht im Fokus dieser neuen poietischen Philosophie, und dies in Verbindung mit der Ansinnung einer neuen spekulativen Optik, die Cusanus wiederum metaphorisch als Blick durch den ›Beryll‹ umschreibt. Mittels des Berylls, des Steines aus dem Brillen geschliffen wurden, soll das unteilbare Prinzip, der Uranfang aller Dinge berührt werden. 3 4

Vgl. zur Explikation des Ansatzes der Laienphilosophie: Flasch, a. a. O., S. 251 ff. Cusanus, De beryllo, cap. 37 ff.

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Dieser Blickpunkt macht es möglich, die Einheit von Minimum, dem Kleinsten, und Maximum, dem Größten, in den Blick zu bringen. »Der Beryll ist ein leuchtender weißer und durchscheinender Stein, dem zugleich eine konkave und konvexe Gestalt gegeben wird. Und wenn dann jemand durch ihn hindurchschaut, so berührt er das früher Unsichtbare. Wenn den geistigen Augen ein vernunfthafter Beryll angepasst wird, der die größte und zugleich die kleinste Form hat, so wird durch seine Vermittlung der unteilbare Uranfang aller Dinge berührt.« 5 Die umwälzende Kraft des Denkens des Cusaners ist schon Zeitgenossen vor allem an der Beryll-Schrift aufgefallen, und sie war ihnen zugleich ein Ärgernis. Diese Radikalität zeigt sich vor allem daran, dass er an die Unumstößlichkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch rührt. Aus der zeitgenössischen philosophisch-theologischen Kontroversliteratur sei die folgende Sentenz von Johannes Wenck von Herrenberg zitiert, die das Ärgernis ahnen lassen, das der Cusaner erregte. »Und wenn besagter Magister der Docta ignorantia aller Gegensätzlichkeit zuvorkommen will, dann wird dort kein Widerspruch mehr sein […]. Mit einer derartigen Behauptung aber reißt er die Wurzel aller Wissenschaft aus, die nämlich sagt: Es ist unmöglich, dass dasselbe ist und nicht ist. Wahrhaftig, dieser Mann kümmert sich wenig um die Worte des Aristoteles, weil er sagt, dass er von diesem Fundament immer weiter schreite.« 6 ›Mens‹ und ›intellectus‹ sind für Cusanus ›kreative Kraft‹. Alles, was ist, ist deshalb in seinem Grund Intellekt oder doch dem Intellekt ähnlich. Das Urprinzip der Vernunft ist selbst kreativer Natur und kann deshalb auch nur kreative, schaffende Substanzen ins Sein bringen. Cusanus' kreatorische Metaphysik ist daher, zumindest in der Figuration der ›Beryll‹-Schrift, auf den schöpferischen und imaginativen Akt bezogen. Sie berührt, ohne sie zu nennen, die Frage: ›Warum ist etwas (Seiendes) und nicht vielmehr nichts?‹ Damit zielt sie aber auf den Ursprung und Grund des ›Esse‹ im Actus des Seins. 7

Ibid., I. 1. Vansteenbergen, De docta litteratura de Jean Wenck von Herrenberg contre Nicolas de Cusa, S. 21 f. Bezug genommen wird dabei durchgehend auf das vierte Buch der aristotelischen ›Metaphysik‹. 7 Vgl. im Blick auf Übereinstimmungen mit dem klassisch scholastischen Denken von Thomas: Heinrich Beck, Der Akt-Charakter des Seins. Eine spekulative Weiterfüh5 6

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Neu an diesem Gedanken ist, dass der Cusaner nicht mehr in der Form einer Aufstiegsbewegung vom Sinnlichen zum Übersinnlichen ›per visibilia‹ zu den unsichtbaren Dingen geht. Diesen ›ascensus‹ hatte Platon im ›Symposion‹ exemplarisch zur Darstellung gebracht. Nikolaus von Kues dagegen richtet sich auf den produktiven Intellekt selbst, der aus sich heraus sinnlich Gegebenes und Einsehbares erfasst. »Denn mit dem Sinn (sensus) misst er das Sinnliche (sensibilia), mit dem Intellekt (intellectus) das Einsehbare und das, was über dieses hinausgeht, berührt er im Überstieg (excessus).« Die Mehrdimensionalität der Mens verifiziert den Grundsatz des Protagoras, wonach der Mensch das Maß aller Dinge sei, der seienden, dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind. Nicolaus Cusanus bestimmt in einer Rehabilitierung des berüchtigten sophistischen Kern- und Grundsatzes den Menschen als »Maß aller Dinge«. Berechtigt ist diese Bestimmung, weil der Mensch mit seinem Geist (mens) das All durchmisst. Dass der Mensch in seinem eigenen Gliederbau ein Maß für die Schönheit habe, dass er der Mikrokosmos sei, in dem sich der Makrokosmos spiegele, war so neu nicht. Doch der Cusaner löst sich auch konsequent von der ›imitatio naturae‹-Konzeption. Im Anschluss an die hermetische Tradition kann er im sechsten Kapitel der ›Beryll-Schrift‹ den Menschen als ›alter Deus‹, als zweiten Gott begreifen. Am Menschen zeigt sich eine generatio aequivoca: eine bis in die Identität gehende ›Analogie‹ göttlichen und menschlichen Schöpfertums. Menschliche Kreativität freilich ist zeitlich bedingt und sie ist kontingent. Sie kann sein und sie kann nicht sein. Sie kann sich auch in unterschiedlichen Vollkommenheitsgraden manifestieren. »Denn so wie Gott der Schöpfer des wirklich Seienden und der natürlichen Formen ist, so der Mensch der Schöpfer der Verstandesdinge und der künstlichen Formen. Diese sind nichts anderes als Ähnlichkeiten seines Denkens, so wie die Geschöpfe Gottes Ähnlichkeiten des göttlichen Denkens sind. Dem gemäß hat also der Mensch sein Vernunftdenken, das eine Ähnlichkeit des göttlichen ist, im schöpferischen Tun.« 8 rung der Seinslehre Thomas von Aquins aus einer Anregung durch das dialektische Prinzip Hegels. Frankfurt/Main 22001. 8 Rudolph Berlinger, Philosophie der Kunst. Zum Homo-Creator-Motiv des Nikolaus von Kues, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jb. 20 (1994) S. 13–30.

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Alle Werke und die ihnen zugrundeliegenden Formen sind Ähnlichkeiten, Spuren und Gleichnisse des menschlichen Intellektes (similitudines intellectus). Rudolph Berlinger hat die Crux dieser Überlegung prägnant und treffend so formuliert: »Die spezifische Problemverschiebung des neuzeitlichen Ansatzes (Cusanus) besteht darin, dass der Mensch als Maß dessen begriffen wird, was er selbst hervorbringt.« 9 Der Einschnitt gegenüber der platonischen und neuplatonischen Schönheitsauffassung wird damit in seiner ganzen Tragweite deutlich. Kreationsprinzip ist bei Cusanus der endliche Mensch selbst, nicht der göttliche Grund, den Augustinus im Rückgang auf sich selbst suchte. Augustinus hatte geschrieben: »Gehe nicht nach außen, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Wenn du deine Natur als wandelbar entdeckst, so strebe dorthin, wo das Licht der Vernunft entzündet wird.« 10 An der Vis creativa des menschlichen Geistes, nicht an anderen Kunstwerken, sind daher auch Kunstwerke zu messen, was der Annahme, eines von ihnen könne unbedingte und zeitübergreifende Gültigkeit beanspruchen, Abbruch tut. Wenn die Metaphysik des Schönen derart mit der Metaphysik des schöpferischen Geistes verflochten ist, eröffnen sich ganz neue Möglichkeitsdimensionen. 2.) Neben diesen Umbrüchen im ästhetischen Denken artikuliert sich im Kräfteumfeld der Renaissance auch eine Schönheitsmetaphysik, die nach wie vor platonisch orientiert ist. Marsilio Ficino arbeitet eine Kosmologie aus, in der der Eros des platonischen ›Symposion‹ und ›Phaidros‹ als einigendes Band firmiert. Dabei haben Ficinos Äußerungen, was für einen philosophischen Traktat in der abendländischen Welt einzigartig sein dürfte, Einfluss auf die Entwicklung der Liebesdichtung genommen; wäre ohne sie doch der »dolce stile nuovo« Petrarcas schwer denkbar. Ficinos Schrift ›De amore‹ war zugleich Weltlehre und Traktat über Schönheit. Schönheit ist für Ficino ganz im klassisch platonischen und neuplatonischen Sinne Manifestation des hervorgehenden Einen, Wahren. Das Schöne ist der Lichtstrahl, der alles durchdringt. Zugleich wird es als anziehende Macht begriffen (›gratia‹). Dabei kann auf die 9 10

Ibid., S. 29 f. Aurelius Augustinus, De vera religione 72.

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Creatio absoluta ebenso wie auf die endlichen Kreationen in der Kunst als Manifestationen des Schönen verwiesen werden. Schönheit weckt Ficino zufolge allererst Sein. Sie ist konstitutiv für alles Seiende, Kunst und Natur. Grundgelegt ist sie in der Schönheit Gottes, der als Zentralpunkt von Einheit gedacht wird, die die Vielheit der Erscheinungen sammelt, und in dem Willen, Lieben, Denken miteinander identisch sind. Nicht äußerliche Symmetrie allein, diesen uns aus früheren Problemkonstellationen geläufigen Zug muss man hier noch einmal erinnern, sondern innere Formgesetzlichkeit, maßvolle Consonantia (Zusammenstimmen), Ordo (Ordnung), Modus (Maß), Species (Gestalt, Form) machen die Verfassung des Schönen aus. Der Referenztext für Ficino ist eine Stelle aus dem platonischen ›Philebos‹ (64 b5): die Benennung von »Schönheit, Verhältnismäßigkeit und Wahrheit« als Formen des Guten, die angeben, wie sich Eines und Vieles mischen können. Mit einem treffenden Begriff spricht Ficino von der ›lucida proportio‹, der lichten Proportionalität, die im Bereich des Sinnlichen zur Erscheinung kommt. Vor allem aber bestimmt er Schönheit als erscheinende Intelligibilität. Zugleich denkt er sie in Anspielung auf die Etymologie des ›kalon‹ als ›kalein‹ : rufen, als ›provocatio‹, als Aufforderung zur Erhebung über die Sinnlichkeit, zur Einung mit dem Einen, auf die der Impetus der Liebe (amor) antwortet. Die Liebe ist die alles durchdringende kosmische Macht. Sie ist nach Ficino, die Weise, in der die Weltseele das All belebt und in allen seinen Teilen präsent ist. Ficino fasst sie als ›synecheia‹ als durchdringende Kontinuität. Nur durch die Liebe des Einen kann die Welt Bild und Spiegel göttlicher Form, Erscheinung absoluter Schönheit sein, ein Motiv, das im ›Timaios‹ so nicht grundgelegt ist. Das Wesen der Kunst wird aus dieser kosmologischen metaphysischen Schönheitskonzeption profiliert. Kunst wird in einer Weise ins Zentrum metaphysischer Erkenntnis gerückt, die für einen Platoniker undenkbar wäre und die auch über die Konstellationen des Neuplatonismus weit hinausgeht. Kunst ist für den frühneuzeitlichen Platoniker Ficino die erste Manifestation menschlicher Würde und Macht, durch die der Mensch seinem Intellekt die Materie unterwirft und führt (die Verben sind ›imperare‹ und ›gubernare‹). Dabei emanzipiert sich der Künstler von der Natur, während der Magier ›Diener der Natur‹ bleibt und sich an ihre Gesetzmäßigkeit bindet. »Ars imitatur natur129 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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am et perficit eam«. Kunst ist, daran hält Ficino fest, Nachahmung der Logoi und Vernunftstruktur der Natur und ihre Darstellung. Sie entschlüsselt gleichsam das unsichtbare Eidos der Natur. Darin betrachte sich das Wesen der Dinge gleichsam selbst, und durch diese Betrachtung schaffe es sich Ähnlichkeits- und Spiegelbilder (das »veri-simile«). Die natürlichen Phänomene drängen notwendig auf Kunstwerke hin, auch – und gerade, wenn diese sich wie Emendationen von Naturformen ausnehmen. Durch die Warburg-Schule, insbesondere Erwin Panofsky, ist gezeigt worden, dass Ficinos Kunstlehre wohl unmittelbar auf die Kunst seiner Zeit wirkte. 11 Die Venus Botticellis könnte eine unmittelbare Ficino-Resonanz sein, denn Ficino benannte die liebende, auf Vollkommenheit zielende menschliche Seele metaphorisch als Venus. Botticellis Bilder ›Primavera‹ und ›Geburt der Venus‹ illustrieren dann die Grundzüge von Ficinos Kunstphilosophie in mehr als nur vordergründigem Sinn. Venus ist Erscheinung göttlicher Schönheit, die sich in die Gestalten der drei Grazien emaniert. Sie ist aber auch Sinnbild der in die Einheit zurückkehrenden Seele, was in der Muschel versinnbildlicht wird. In anderen Bildern der Renaissance wurde die doppelte Erscheinung des einen Prinzips der Liebe, die intellektuelle und die sinnliche Liebe, als »amor sacro e profano« (Tizian, Villa Borghese, Rom) in Szene gesetzt. 12 Das Verhältnis von Ficino und Botticelli, von ästhetischer Philosophie und Bild, ist nicht auf Allegorien zu verkürzen. Die Crux bei Ficino ist vielmehr, dass sinnliche Gestalt und Symbolkraft untrennbar sind. Nur im Schein kommen auch die Idee und ihre Intelligibilität zu voller Erscheinung. Das Kunstwerk ist zwar Symbol, doch kann es nur »sich selbst aussagen«, es verweist gerade nicht zeichenhaft von sich weg auf anderes, über sich hinaus. Es ist, wie Schelling bemerkt, nicht ›Allegorie‹, sondern ›Tautegorie‹. 13 Hegel wird zwar diese platonische Einheit bestreiten. Er wird sie aber in einer dialektischen Entzweiung zugleich festhalten, wenn er das Kunstwerk so charakterisiert sieht, »dass der Inhalt nichts ist als Vgl. E. Panofsky, Studies in Iconology. New York 1962, S. 129 ff., siehe auch: H. Gombrich, Botticelli’s mythologies. A Study in the Neo-Platonic Symbolism of his Circle, in: Symbolic Images. London 1972, S. 33 ff. 12 Dante Alighieri, Das Gastmahl (Convivio), ders., Philosophische Werke Band 4. Hamburg 2004. 13 Schelling, Werke Band VI, S. 198. 11

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das Umschlagen der Form in Inhalt, und die Form nichts als Umschlagen des Inhalts in Form.« 14 3.) Die ästhetischen Studien im Kraftfeld der Renaissance kulminieren in der Rede vom Künstler als ›anderem Gott‹ (alter Deus). Giovanni Pico della Mirandolas berühmte ›Oratio de dignitate hominis‹ enthält die Gott in den Mund gelegte Aussage: »Ich habe dich, Adam, weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du gleichsam als freier und würdiger Bildner und Schöpfer deiner selbst dich sicher selbst hervorbringst.« 15 Das also soll der Mensch sein: »Plastes, pictor et fictor«, Bildner und Erfinder seiner selbst. Auch bei Ficino sind immer wieder Ausrufe über das »große Wunder Mensch« zu hören, wobei auch die Proportionenanalogie: »homo quidam Deus, Deus in terra« beschworen wird. Der Mensch ist als Selbstschöpfer zugleich ›ultima Dei imago‹. Diese Linie wird noch weiter getrieben, bis hin zur Beschwörung, die Welt sei nur des Menschen wegen überhaupt geschaffen worden (Carolus Bovillus). In jedem Fall sei er ›lux mundi‹, das innere Licht dieser Welt. Winzig an Substanz ist er, wird hinzugefügt, aber groß an Wissen. Er sei schwankend wie ein Schilfrohr im Verhältnis zu dem jeweils in eine fixierte Ordnung eingelassenen Seienden der Natur. Doch allein er ›weiß‹ die Welt von ihrem Prinzip her. Er allein emaniert sie im Abbild. Jene philosophische Auffassung und Extrapolation des Menschen beeinflusst auch die Vorstellung der Kunst. Sie ist, wie sich besonders eindrücklich bei Ficino erkennen lässt, gleichsam die materialisierte Mittlerschaft zwischen noetischer und sinnlicher Welt, eine Mitte, die sich in der intelligiblen Vollzugsweise der Seele konkretisiert. Der Geist wird damit als Quelle wahrer Kunst verstanden, als Schaffen in Analogie zur Schöpfertätigkeit Gottes; die Generierung einer unsterblichen Form in der sterblichen Materie. An der Fähigkeit zum Formschaffen in der Kunst sieht Ficino angedeutet, dass der

Hegel, Theorie-Werkausgabe Band 8, S. 265. Diese Bestimmungen beziehen sich nicht nur auf das ästhetische Verhältnis, sie haben einen grundlegenderen, logischen Anspruch. 15 P. de la Mirandola, De dignitate hominis, übers. von N. Baumgarten; herausgegeben und eingeleitet von A. Buck. Hamburg 1990, S. 5 f. 14

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Mensch in der Lage ist, den Erdkreis zu kulturieren. Kultur heißt Verbesserung der Natur (emendatio naturae), die ihre eminenteste Ausformung in der Kunst findet.

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EXKURS I:

Über den Manierismus

1.) Der Manierismus bildet sich am Ende der Renaissanceepoche aus. Er durchzieht und durchädert auch noch das Barock. Gustav René Hocke, der eingehende Forschungen zu jener Kunstform angestellt hat, spricht davon, dass sie die Welt »als Labyrinth« zeige. Die Melancholie, eine Grundstimmung, die auf Saturn zurückgeführt wurde, 1 bestimmt die manieristische Kunst. Sie bewegt sich in der Zerrissenheit zwischen dem Wunsch, die tiefsten Geheimnisse des Weltlabyrinthes zu entschlüsseln einerseits und der Suche nach einer unmittelbaren Harmonie mit den Weltkräften andererseits. Ficino hatte auch bereits auf die melancholische Tendenz hingewiesen. Er evozierte Melancholie in enger Verbindung mit der Inventionskraft. Melancholie verbindet sich mit Genialität, die auch schon den Platonikern als Saturnkind galt. Kennzeichnend am Manierismus, und ein Grund dafür, dass Hocke ihn als Paradigma der »entzentrierten Moderne« überhaupt kennzeichnete, 2 ist die Abweichung von der Mimesis der Natur, sei diese nun an der äußerlichen Außenerscheinung der Dinge oder vielmehr an deren innerem Eidos orientiert. Bewusste Komposition, durchdachte Faktur und drastische Schockwirkungen kennzeichnen die ›maniera moderna‹. El Grecos

Vgl. dazu Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur. Reinbek 1987, und derselbe, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst. Hamburg 1959. Siehe jetzt auch die aus dem Nachlass edierte Autobiographie Hockes: Im Schatten des Leviathan. Lebenserinnerungen 1908–1984. München, Berlin 2004. 2 So Hocke, Die Welt als Labyrinth, a. a. O.; siehe auch ders., Malerei der Gegenwart. Der Neo-Manierismus. Vom Surrealismus zur Meditation. Wiesbaden 1975; ferner ders., vgl. auch die Reflexionen desselben: Im Schatten des Leviathan, a. a. O., S. v. a. S. 569 ff. 1

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Exkurs 1: Über den Manierismus

und Tintorettos scharfkantige Gestaltgebungen und jähe Farbeffekte sind dafür exemplarisch geworden. Es ist nicht verwunderlich, dass die Darstellung des Jüngsten Gerichtes ein wiederkehrendes, besonders geeignetes Sujet manieristischer Künstler ist. Die Vorstellung von der Renaissance als der Wiederentdeckung der Antike wird durchbrochen, wenn man dem Manierismus-Phänomen folgt. Erschütterungen finden Eingang in die bildende Kunst. Zugleich aber gerät die Welt in die Schwebe. Manieristische Künstler wie Parmigianino setzen die Realitäten der Dingwelt und des Raumes außer Kraft. Dabei kreisen ihre Darstellungen immer wieder um eine leere, gleichsam freigesetzte Mitte. Sie zeigen – eine Linie, die sich bis Dalí und Ernst Fuchs in der manieristischen Kunst fortsetzen sollte – Deformationen von Gestalten und Figuren; das Changieren menschlicher in tierische Züge und umgekehrt. Und sie verbinden diese Chimären mit harschen Kontrasten, die paradoxe Wirkungen hervorrufen. Auch in erotischen Sujets zeigt sich in der ›maniera serpentinata‹ eine Entgrenzung. Unruhe, ein Wandern und Fragen, das an kein Ziel gelangt, ist für die Kunst des Manierismus kennzeichnend. Dabei setzt sich aus der Renaissance die Positionierung des Menschen zum »alter Deus« fort. Der Topos verliert aber seinen triumphalen Gestus. Der Mensch ist und bleibt »Deus in terris«. Doch die Magie der Natur wird er nicht beherrschen und auch nicht sich selbst. Machiavelli ist mithin mit seinem Wissen um die Zufälligkeit und Unsicherheit der Welt, dem bleibenden Grauen der Polis, ein genuiner Zeuge des manieristischen Zeitalters. Der Manierismus ist von einer eigenwilligen Anknüpfung an die platonische Ideenlehre gekennzeichnet. Federico Zuccari hat sie in seinen Begriff des ›Concetto‹ zu integrieren versucht. Die Idee kann sich demnach von den Bindungen an sinnliche Realität ablösen. Neben dem ›disegno naturale‹, also der klassischen Naturnachahmung, werden das ›disegno artificiale‹, die Umbildung natürlicher Vorlagen in ein Kunstbild, und vor allem das ›disegno fantasticoartificiale‹ akzentuiert, dessen Erfindungskraft auch über die Fähigkeit zur Darstellung des Ungewöhnlichen (ghiribizzi) und zu extremen Phantasiespielen gebietet. Auf die Affinität des Manierismus zu den Anfängen der ästhetischen Moderne um 1890 ist immer wieder hingewiesen worden. Die Analogien mögen mitunter überzeichnet worden sein. Wie 134 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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schon eingangs bemerkt, sensibilisiert eine spätere Avantgarde für die Darstellungskraft der früheren Kunst. Hier wie dort stößt man jedenfalls auf »Weltängste« und Untergangsvisionen. Fabrizio Clerici malt eine eindrückliche scheiternde Arche Noah, und es entwickeln sich spannungsreiche Evokationen zwischen dem Schönen und dem Grauen. 3 Man mag sich nach der Unschuld des Paradieses sehnen; zugleich ist man sich bewusst, dass man ein für alle Mal aus dem Paradies vertrieben ist. Das menschliche Antlitz wird entstellt und ins Monströse verzerrt dargestellt. Bracelli erträumte etwas wie Roboter-Wesen. Die Idee durchscheinen zu lassen, dies bedeutet keineswegs, die Kunst zu einer höchst möglichen Klarheit zu führen, sondern allenthalben auf Bedrohung und Abgrund zu stoßen. Zu den Ambivalenzen, die im Manierismus in verschiedenen Epochen thematisiert werden, gehört auch der Hermaphroditismus. Er ist im Sinn des ›Symposion‹ die platonische Signatur einer ursprünglichen Welt-Einheit, der aber, wenn er im Zeichen der Entzweiung wiederaufgenommen wird, eher monströse Züge hat. Auch das Grab wird zum Sujet von wechselnden Phantasien. Es wird zum Ort »irrealer Phantastiken« (Hocke) und kann wechselnd den Charakter einer Burg oder einer Wandelhalle annehmen. In manieristischer Dichtung ebenso wie in bildender Kunst wird die Zeit, symbolisiert in der Uhr, als Spiegel des Vergangenen und Verlorenen figuriert. Góngora nennt die Uhr »den allgemeinen Wegweiser der Enttäuschung.« 4 Ebenso hat der deutsche Barockdichter Andreas Gryphius die Paradoxalitäten des Zeitmaßes benannt: es ist und ist nicht. Von ihm nimmt man die Maße der Existenz ab. Zugleich aber führt die Uhr vor Augen, wie das Leben ins Nichtsein verrinnt. 2.) Man wird gegen Hockes Aktualisierung einer manieristischen Linie bis hin zum Surrealismus kunsthistorisch einige Einwände vorbringen können. Vor allem die Deutung des Manierismus als eines überhistorischen Phänomens ist dabei problematisch. Hockes Marcel Brion, Fabrizio Clerici, Milano 1955. Sergio Troisi, Fabrizio Clerici. Opere 1937–1992. Catalogo della mostra (Marsala 7 luglio-28 ottobre 2007) Sellerio Editore, Palermo 2007. 4 Hocke, Die Welt als Labyrinth, a. a. O., S. 82. 3

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Analyse ist aber darin treffend, dass sich beim Phänomen des Manierismus verbindende Querschnittsansichten über die Zeiten hinweg nahelegen: bis hin zu Dalís zerrinnenden Uhren. Gattungsmischung ist ein Charakteristikum des Manierismus. Besonders explizit wird mit Überkreuzungen zwischen Malerei und Architektur gespielt. Zu der Imitatio fantastica gehören wesentlich mythische Sujets, die zeigen, wie Monstren in die alltägliche Welt eindringen. Der ›Schlaf der Vernunft‹ und Laokoon in der drastischen Stunde seines Sterbens sind wiederholt aufgenommene Motive. Ebenso augenscheinlich begegnet das trojanische Pferd als Inkunabel und Kuriosum, aus dem das Verderben entspringen wird. Das Labyrinth-Motiv hat dabei tatsächlich eine zentrale Bedeutung. Es führt mit Sogkraft auf die entzogene Mitte hin. Und man wird nicht zu weit gehen, wenn man in der verborgenen Mitte der ›Welt-Verknotung‹ das Rätsel ausnimmt, zu dem sich der Mensch selbst geworden ist. 5 Die Anamorphose des Manierismus wird gleichsam durch den Nullmeridian der Ordnungslosigkeit hindurchgeführt. Daher eröffnen sich neue Möglichkeiten, um die Figuren, die ihren Raumsinn verloren haben, wieder zu positionieren. Die Erkenntnis Keplers, dass die Planetenbahnen nicht im Kreis laufen, nicht also der Autonomie der geschlossenen Bewegung folgen, sondern in Ellipsen, wird für diese Auflösung der klassischen Formen und Formationen wesentlich. Die höchste mögliche Modernität bis ins Bizarre und zugleich der Rückgriff auf den Anfang des Seins, das Ur-Ei, verbinden sich in der manieristischen Weltauffassung. Manier, als eine Kunstform, durch die Hand (manus) gestaltet, und Mania als Wut und Raserei, bilden den Spannungsbogen, der sich durch die Begriffstopik des Manierismus hindurchzieht. Der Ruhm der Manieristen dauerte in den verschiedenen Epochen, in denen sie auftraten, weniger lang als der von Künstlern, die sich der klassischen Formkraft verschrieben hatten. Ein zum Daseinszweifel neigender, tiefründend grübelnder Kaiser, Rudolf II., versammelte die neuen Künstler am Hof zu Prag. Seine Förderung war dafür wesentlich, dass der Manierismus ein Zentrum fand und zu einer singulären Blüte kam. In der Dichtung prägte der Manierismus eine Formenvielfalt der dunklen Schreibweisen und Tonarten aus. Er trat mit dem Ziel 5

So die Ausführungen bei Hocke, ibid., S. 120 ff.

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Exkurs 1: Über den Manierismus

an, den ›mundus subterraneus‹, die unterirdischen Geschichtswelten, zu vermessen, nach den möglichen Formen und Spielarten des Irregulären zu suchen. Man spricht auch von einer ›Speleologie‹, also einer Höhlenforschung, die in die Abgründe von Seele und Welt eindringt. Der Manierismus hat gerade in der Barockzeit ›Paradis artificiels‹ kreiert, die die mystische Innenseite von Christentum oder Judentum zu einer eigenen Seelen-Selbsterfahrungskunde ausweiteten: mit dem Titel von Eusebius Nieremberg ›Occulta Philosophia de la Sympathia y Antipathia‹. Zahlenmagie und Wortspiele, die durch Buchstabenkombinatorik ihre Geheimbotschaften enthüllen sollten, wurden in Dichtungen hineingelegt, aber auch, namentlich aus Shakespeare, in hermetisch hermeneutischem Deutungsfuror herausgelesen. Zahlenmystik und -metaphysik, die sich an kabbalistischen Formen orientiert, geht gleichfalls in die Dichtung des Manierismus ein; und auch die Ars combinatoria des Mallorquiner Denkers Ramon Llull bleibt nicht unbekannt. Mittels solcher Kombinationen kann man, so ist zumindest die Erwartung, an die Wesensbedeutung der Buchstaben herankommen und bis in das ›Geheimherz‹ der Sprache eindringen. So werden Wortgitter konzipiert, wie sie auch Shakespeare anwandte, wobei etwa im Changieren zwischen ›I‹ und ›Ay‹, Hoch- und Tiefsinn, Sinnkondensierung und Sinnauflösung eng benachbart sind. Ebenso verbinden sich auch in der Wortkunst Entgegensetzungen. Die Grenzlinie zwischen frei fliegendem Ingenium und einer Mechanik der Effekte ist schmal. Stilprägend für die Barocklyrik sind aber in jedem Fall Antithesen. In formaler und figuraler Antithetik zeigen sich Gegensatz-Effekte an, zugleich aber ein Verschwimmen des Differenten und eine umfassende Formauflösung. Doch auch die Kontrafaktur changiert frei zwischen geistlichem und weltlichem Text, zwischen Demut (Unterwerfung) einerseits und alchemistisch spekulativen Aufschwüngen der chymischen Hochzeit andererseits.

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EXKURS II:

Shakespeare und die formbildende Macht der Geschichte

Wenn im Manierismus in der bildenden Kunst das Gleichmaß der Schönheit in die Bizarrerie, das Groteske und das ausufernde Spiel überschritten wird, so stellt sich auch das Problem der tragischen Darstellung im 17. Jahrhundert in einer gegenüber der antiken Tragödie veränderten Weise. Das später als klassisch bewunderte Mirakel einer Figurierung des abgründigen Leidens in einer Formensprache, die nicht lügen müsse, die dem dionysischen Schmerz die apollinische Form aufprägt, hatte die antike Tragödie geprägt. Im Zeichen christlicher Erlösung ist die tragische Welterfahrung ortlos geworden. Doch wenn der Himmel des christlichen Gottes leer und der Thron des Königs umkämpft und die Legitimationsfrage offen ist, so formt sich das von Platon bezeichnete Problem des Dichters, der gleichermaßen Tragödien und Komödien zu verfassen wüsste, in neuer Weise. Walter Benjamin hat, lange bevor die germanistische Wissenschaft zu solchen Einsichten kam, in seiner in Frankfurt eingereichten und gescheiterten Habilitationsschrift das Proprium des ›Deutschen Trauerspiels‹ der Barockzeit thematisiert. 1 Er hat damit gezeigt, dass jenes Trauerspiel weder, wie es in der Literaturwissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gängig war, am Maßstab der antiken griechischen Tragödie noch der klassischen deutschen Dramen zu messen ist. Wohl aber ist eine große Nähe der deutschen Trauerspiele zu Shakespeares dramatischen Umkreisungen einer aus den Fugen geratenen Zeit zu konstatieren. Der Zentralort, der Thron Gottes und des Souveräns, wird erkennbar in Szene gesetzt. Doch er bleibt unbesetzt. W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Benjamin, Abhandlungen Band I.1. Frankfurt/Main 1974, S. 203 ff., siehe auch M. Opitz, E. Wizisla (Hgg.), Benjamins Begriffe. 2 Bände. Frankfurt/Main 2000.

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Barocke Trauerspiele überschreiten immer auch Grenzen zur bildenden Kunst, namentlich geschieht dies durch die emblematisch allegorische Figuration, die die Protagonisten als Verbildlichungen einer ›subscriptio‹ auffassen lässt. Die ›vanitas‹ und das ›memento mori‹ manifestieren sich in der Personendarstellung. Die Personen werden nicht individuell-psychologisch, sondern vor der Typologie des Grundkonfliktes entwickelt. Hier zeichnet sich ein weiterer Differenzpunkt ein: Nicht der Mythos, wie in der griechischen Antike, sondern die Geschichte bildet die historische Vorlage des Trauerspiels. Ebenso hinfällig werden damit die Regentschaft von Tyche und Moira und das Verhängnis der Hamartia, in der der Untergang des Helden zugleich der Beginn seines Erwachens zu einem seiner selbst bewussten Leben ist. Die Mitte des Labyrinthes wird von einem in vollkommener Souveränität gedachten Gott gebildet, der aber selbst entmachtet oder ins Exil geschickt ist. Shakespeares Tragödien kreisen ihrerseits um die Erfahrung der Geschichte und der Politik in der Krise alter Legitimationen, bis hin zu König Lear. Sie zeigen, wie die große politische Intrige bis in die Selbstzerstörung getrieben werden kann. Wenn der Himmel leer ist, eröffnen sich im Zeichen des abwesenden absoluten Souveräns Gottes neue Konfigurationen des Tragischen. Man hat bei Shakespeare ebenso wie im deutschen Trauerspiel das Christentum nicht mehr als bestimmende Macht, sondern nur als Drapierung zu verstehen. Shakespeare ist der Größe des Bösen, die seit Lessing in der deutschsprachigen Dramaturgie keinen Ort mehr hat, nicht ausgewichen. Er hat die Gestalten der großen Verbrecher gezeichnet, der Schurken auf dem Thron, die zugleich Schauspieler ihrer Affekte sind. »I can add colours to the camaeleon Change shapes with Proteus for advantages And set the murderous Machiavell to school.« 2 Henry VI. 3.2. 183. Siehe dazu auch: G. Rohrmoser, Shakespeare – Erfahrung der Geschichte. München 1971; siehe ferner M. Beyer, Never was monarch better fear d’ and lov’d. Zum Herrscherbild in Shakespeares Historien, in: U. Baumann (Hg.), Basileus und Tyrann. Frankfurt/Main 1999, siehe auch: J. Dollimor, A. Sinfield (Hgg.), Political Shakespeare. New Essays in Cultural Materialism. Manchester 1985. Eine gute Übersicht über die politischen Implikationen gibt auch: H. Ottmann, Geschichte des Politischen Denkens. Band 3/1. Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen

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Er zeigt dabei das bizarre Machtstreben des Missgestalteten. Richard III., Paradigma dieses Herrschertypus, hegt Hass gegen die Freuden des Tages und er sucht die Empfindung der Leere und Düsternis durch grenzen- und maßlose Macht zu kompensieren. Virtuos ist er nur als Intrigant. Er beherrscht wie in einer negativen hermaphroditischen Begabung gleichermaßen männliche Brutalität und weibliche List und er bedient sich beider Neigungen. Darüber hinaus zeigt sich düsteres Faszinosum: Dieser Herrscher entscheidet sich wissentlich und bewusst für das Böse. Eine Option, die in der klassischen, durch Aristoteles geprägten Politik und Ethik noch als unmöglich gegolten hatte. 3 Er ist ein intellektueller, hoch reflektierter Charakter. Doch Sitte und natürliche Instinktsicherheit sind ihm zerbrochen. Seine Schlaflosigkeit quält ihn. Er meidet aus Furcht vor schlechten Träumen, ein fester Topos der Herrscher-Pathologie, den Schlaf. Sein Bewusstsein ist gespalten. Damit wird der Riss im Königtum sichtbar gemacht: Lässt sich die endliche Person so weitgehend von der zeitübergreifenden Funktion dieses Königs trennen, dass der Schurke als menschliches Wrack das Königtum verkörpern kann? Sein ›Julius Caesar‹-Drama schreibt Shakespeare in den Jahren 1598/99. Hier werden alle Dimensionen des Tyrannenmordes ausgelotet. Cassius ist der schwankende Charakter, der Opportunist und Zyniker, der zugleich an den Maßstäben des alten Adels orientiert ist. Marc Antons Rede nach der Ermordung Caesars zeigt – und obwohl Shakespeare vieles aus den Quellen übernommen hat, sind doch gerade diese Reden in ihrer Komposition seine originäre Schöpfung –, dass mit dem Herrscher nicht zugleich der Caesarismus getötet werden kann. Dessen Wirksamkeit dauert an. Deshalb ist auch der Mord insofern tragisch, als er gar nicht zu politischem Erfolg führen kann. Caesar vergleicht sich in der Tragödie mit dem unbeweglichen Polarstern. Er ist mehr als einer der sterblichen Menschen. Darin behält er Recht. 4 Caesar ist aber selbst ein Zerrissener.

Revolutionen. Stuttgart, Weimar 2006, S. 249 ff. Siehe weiterhin das magistrale Werk: H. Bloom, Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen. Berlin 2000. 3 Dazu Chr. von Eichel-Streiber, Die Dramatisierung des Konflikts von Individuum und Gesellschaft in Shakespeares Richard III. Frankfurt/Main 1982. 4 Shakespeare, Julius Caesar III. 1. Siehe: P. A. Cantor, Shakespeare’s Rome. Republic and Empire. Ithaca u. a. 1976.

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Nicht zu heilen ist der Konflikt zwischen seiner Liebe zu Rom und der menschlichen Liebe zu Brutus: »Nicht weil ich Caesarn weniger liebte, sondern weil ich Rom mehr liebte […]. Weil Caesar mich liebte, weine ich um ihn. Weil er glücklich war, freue ich mich; weil er tapfer war, ehre ich ihn; aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn.« Über Brutus wird in der Volksversammlung ausgerufen: »Let him be Caesar!« 5 Damit tritt er in Caesars Nachfolge. Auch ihn locken nun die Verführungen und Dämonien der Macht. Brutus wird in der Tragödie als sanfter Römer im Sinn der besten Traditionen gezeichnet, integer und in Übereinstimmung mit Frömmigkeit und ›mos maiorum‹. In ihm wird noch einmal die Einheit zwischen Person und Transzendenz des Amtes, mit Hegel gesprochen, zwischen Allgemeinem und Einzelnem, sichtbar gemacht und damit auch die Gefahr beschworen, dass sie ein für alle Mal zerfallen kann. Sie ist Spiegel der gebrochenen, aus den Fugen geratenen Zeit. 6 An exponiertem Ort in Shakespeares Szenerien erscheint der zögernde Hamlet. Er eröffnet Einblicke in eine Welt des Spiels, der Illusionen und der Auslotung der Aporien der Macht. Fortuna wird für Hamlet zur launischen Hure, die keine Sicherheit gewährt. Dies knüpft an Machiavelli an. Es radikalisiert aber zugleich sein Denken. Der Hamlet-Stoff spielt mit dem Verhältnis von Tod und Schlaf; was Machiavelli fern gelegen hätte. Die Schlüsselszene, in der ihm der Geist des eigenen Vaters erscheint, macht dieses Zaudern, dieses Ende aller Selbstverständlichkeiten der Macht, zur quälenden Selbstbefragung: Ist der Geist Stimme des eigenen Gewissens oder ist er vielmehr eine Ausgeburt der Hölle? Goethe und die Romantiker sahen in Hamlet eine Epochengestalt. Gerade aufgrund seiner Zweifel konstruieren sie ihn als Genie. Goethe verglich Hamlet sogar mit Christus: »Dass Christus auf eine Hamletische Weise zugrundeging, und schlimmer, weil er Menschen um sich berief, die er fallen ließ, da Hamlet bloß als Indivi-

Julius Caesar III. 2. Dazu geschichtsphilosophisch sehr prägnant: Rohrmoser, a. a. O., S. 43 ff. und S. 90 ff. Jetzt auch die Beiträge in S. L. Woffard (Hg.), William Shakespeare: Hamlet. Boston, New York 1994 und: F. Yates, Die okkulte Philosophie im Elisabethanischen Zeitalter. Amsterdam 1991.

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duum« bestand. 7 Gegner Hamlets ist die Welt der Geschichte in ihrer Verrohung. Er verachtet sie und möchte sie meiden. Dabei muss er sich aber gleichwohl ihrer Gesetze bedienen. 8 Dagegen steht Fortinbras, der die ältere, nicht-reflexive Form von Macht verkörpert. Eine Macht, die immer Bestand hatte, wohingegen Hamlet seine eigene Gestalt und Unsicherheit in die Legitimationsfrage einträgt. Fortinbras’ Worte: »Schafft mir gleich die Leichen weg. Ich will euer König sein!« markieren den ganzen Kontrast. Die Legitimation der Macht wird in ihrer Unmöglichkeit vor Augen gestellt. Die Macht ist gleichsam in ein reflexives, ›sentimentalisches‹ Stadium eingetreten. Dies zeigt sich in unterschiedlichen Facetten an allen Gestalten: Claudius ist durch den Brudermord an die Macht gelangt. Er ist ein Wahlkönig, der Fortinbras, dem Sohn des vom Vater Hamlets getöteten Norwegerkönigs, das Recht zum Durchzug seiner Truppen einräumt. Damit tut sich ein Spiel im Spiel auf: die Bühne wird frei für den von Pyrrhus erschlagenen Priamos, ebenfalls einen Zögerer und Zauderer. Und daraufhin entwickelt sich das Geschehen zum Mord am Herzog Gonzago, dessen Witwe den Mörder heiratet. Immer wieder sind es Macht und Machtverlust, um die Shakespeares Personal kreist. Nur einige weitere Personen aus einem schier unendlichen Thesaurus seien genannt. Sie bestätigen die James Joyce zugesprochene Aussage, nächst Gott habe Shakespeare am meisten geschaffen. Macbeth, der zunächst im offenen Kampf stand, wird zum Königsmörder und Tyrannen. Auch er ist eine gebrochene Persönlichkeit, deren zaudernde Überlegungen die Tathandlung lähmen. In der Nähe solcher Evokationen vernimmt man die Stimme des Nihilismus: »Life’s but a walking shadow […]. A tale / Told by an idiot, full of sound and fury. Signifying nothing«. 9 Einen anderen AggreGoethe, Hamburger Ausgabe Band 12, S. 375. Vgl. dazu die selbst schon topisch gewordenen und gleichwohl umstritten gebliebenen Deutungen: C. Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel. Stuttgart 1985; R. Schneider, Das Bild der Herrschaft in Shakespeares Drama, in: ders., Pfeiler im Strom. Wiesbaden 1968, S. 65 ff. Zur Kritik solcher Deutungsmodi: M. Pfister, Hamlet und der deutsche Geist: Die Geschichte einer politischen Interpretation, in: Shakespeare-Jahrbuch 128 (1992), S. 13 ff. 9 Shakespeare, Macbeth V. 5. Dazu M. Lüthi, Shakespeare. Dichter des Wirklichen und Nichtwirklichen. Bern, München 1964 und Th. Metscher, Zukunft in der Ver7 8

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gatzustand stellt Shakespeare als ›verlorene Macht‹ im ›King Lear‹ vor Augen. Doch auch der halb märchenhafte Prospero in ›The Tempest‹ hat seine Macht verloren, weil er sich allzu sehr in einem monomanischen, letztlich verbotenen Übermaß in Bücher und die Kontemplation versenkt hat. Ihn umweht aber in der Gestalt des Geistes Ariel eine transzendente ästhetische Gegenkraft, Ausdruck einer unerhörten Leichtigkeit. Prospero wird, indem er sich der Mächtigkeit der Magie ergibt, in einer freieren Weise souverän, als er es je zuvor gewesen ist. 10 So kann er auch seinen Widersachern vergeben. Diese Möglichkeit ist, wohl zu Recht, immer auch als Zeichen einer tiefen Resignation aufgefasst worden, als Indiz dafür, dass von der Gestaltung der Zukunft Verbesserung nicht zu erwarten ist. Ariel bedarf selbst der Hilfe, und er erfährt sie durch Prospero, der ihn aus den Fängen der bösen Hexe Sykorax befreit. Die beiden magischen Wesenheiten im Abschiedswerk Shakespeares, eben Ariel, der Luftgeist, und Caliban, der Erdgeist, verweisen zugleich auf die Grenzen der Macht. Caliban ist Triebwesen, durch die Erdenschwere begrenzt. Er ist der eigentliche angestammte Ureinwohner der Insel, die der Exilant Prospero, ohne es zu wissen, widerrechtlich besetzt hat. Am Ende lösen sich die Tempel, Paläste und anderen Figuren der irdischen Macht in Luft auf. Prospero entsagt am Ende der Magie. Die Gesellschaft verlässt die Insel. Die wundervolle, tief melancholische Schluss-Sequenz ist auch als eine Art Schwanengesang Shakespeares gelesen worden: »[…] And all my ending is despair: We are such stuff As Dreams are made on; and our little life Is rounded with a sleep.« 11

gangenheit. Zur Utopie der Liebe bei Shakespeare und in Goethes Faust II., in: Shakespeare-Jahrbuch 124 (1988), S. 203 ff. 10 Dazu: D. Devlin, Caliban – monster, servant, king, in: L. Cookson, B. Loughrey (Hgg.), Critical Essays on ›Macbeth‹. London 1988, S. 20 ff.; P. Hulme, W. H. Sherlman, ›The Tempest‹ and Its Travels. London 2000. 11 Der Sturm, IV. 1, Strophen 156 ff.

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Geschichte rückt also gleichsam in die Optik des Traums. So nur kann sie in der entgöttlichten Welt bestanden oder doch zumindest verwunden werden. 12

Vgl. A. Legatt, Shakespeare’s Political Drama. The History Plays and the Roman Plays. London, New York 1988 und E. Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen. Stuttgart 2000.

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SECHSTES KAPITEL:

Geschmack und der spielende Homo humanus. Über die Dimensionen der ›Kritik der Urteilskraft‹

I.

Vorgeschichten

1.) Kant ist der Philosoph, der zwischen den Klippen von Rationalismus (Dogmatismus) einerseits und Skeptizismus andererseits dem eigenen Anspruch nach den dritten Weg anzeigte, der einzig noch gangbar war. Seine ›Kritik der reinen Vernunft‹ hat er daher auch als ›Tractatus‹, als Friedensvertrag zwischen diesen Wegen konzipiert. Die Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer durch David Hume einerseits und die rationalistische Schulphilosophie andererseits bilden dabei die Parameter. Auch in der Ausbildung der Kategorien seiner ›Kritik der Urteilskraft‹ ging Kant, der physisch in Königsberg fest verwurzelt war, auf philosophische Weltfahrt: Er studiert die ästhetische Terminologie Baumgartens, die sich auf die Wolffische ›Perfectio‹-Lehre begründet und die Begriffsform der Ästhetik als die einer ›gnoseologia inferior‹ bestimmt. Maßstab für diese Klassifizierung der ›niederen Erkenntniskräfte‹ ist die schließende und urteilende Rationalität der Logik. Mithin ist die Ästhetik auch als ›analogon rationis‹ zu bestimmen. Entscheidend ist weiterhin die teleologische Determiniertheit jedes Gegenstandes, der als ›schön‹ soll gelten können. Kants große Bedeutung für die Geschichte der Ästhetik besteht darin, dass er diese Strukturen aufkündigt. Zugleich fragt er nach der Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils und legt dessen Eigenständigkeit frei. Wolfgang Wieland konnte darüber hinausgehend sogar nahelegen, dass die reflektierende Urteilskraft sich für Kant als der Kern und das Substrat philosophischen Denkens erweist. 1 Das Reflexionsurteil liegt aller Erkenntnis zugrunde. Man W. Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft. Göttingen 2001, 15 ff. Diese bahnbrechende Arbeit geht vor allem der von Kant selbst aufgeworfenen

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stößt hier auf die phänomenale Matrix der Bejahung, bzw. Verneinung als Indikator der Beurteilung von Sachverhalten als ›wahr‹ oder ›falsch‹. Der ›große Leibniz‹ hatte bekanntlich niemals eine Ästhetik geschrieben. Dennoch zeichnete er der späteren ästhetischen Debatte, die binnen eines Jahrzehnts eine Fülle von Ästhetiken hervorbrachte, mehrere Muster und Orientierungslinien vor: Zum einen – und im makrologischen Maßstab – geschah dies durch eine monadische Metaphysik, die selbst Kunstcharakter hat. Sie nimmt sich wie ein immens proportioniertes Spiegelkabinett aus: mit der Architektur eines geschlossenen Systems, in dem es keine Fenster gibt, so dass die Monaden einander nicht sehen können, wohl aber die Summe und Allheit der anderen Monaden in sich selbst gespiegelt finden. Diese unendlichen Spiegelungen sind ihrerseits auf die Zentralmonas, auf Gott, zentriert. 2 In dieser Struktur sollten abstrakte Denkverhältnisse in eine Darstellungsrelation gebracht werden. Leibniz geht es bekanntlich um das Verhältnis des inneren Wesens der Dinge, eben die ›verités eternelles‹, zueinander. Im göttlichen Blick sind die verschiedenen monadischen Ansichten geeint. Die Darstellung verhilft unter Auspizien der endlichen Welt dazu, dass die eine Sphäre zur anderen Zugang hat. Diese Einsicht der prästabilierten Harmonie ist selbst dezidiert ästhetisch verfasst. Leibniz hat seine Monadologie sogar in der Form eines Balletts zur Aufführung gebracht. Neben der Spiegelung ist es aber Leibniz’ Widerspruch gegen die Lockesche Vorstellung vom Geist als ›tabula rasa‹, die in hohem Grad ästhetische Überlegungen und Differenzierungen erlaubt. Wenn nichts im Geist ist außer eben dem Geist selbst, so bedeutet dies, dass man ihn als Matrix von vielfachen und komplexen Denkund Vorstellungsstrukturen aufzufassen hat. Die Vorstellungen sind Frage nach, »was denn dasjenige für eine geheime Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird«. AA II, S. 60. 2 Vgl. zur grundsätzlichen Orientierung: A. Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus. Berlin, New York 1974; weitere, wichtige Aspekte berührende Gesamtdarstellungen: G. Martin, Leibniz. Logik und Metaphysik. Berlin 21967; siehe auch K. Kaehler, Leibniz’ Position der Rationalität. Die Logik im metaphysischen Wissen der ›natürlichen Vernunft‹. Freiburg/Br., München 1989; sowie in der Gesamtperspektive wichtig: N. Jolley (Hg.), The Cambridge Companion to Leibniz. Cambridge 1995.

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in ihm implizit angelegt, ehe sie sich entfalten. Durch Analysis und begrifflich definitorische Artikulation besteht die Möglichkeit, dass sie auseinandergenommen und in ihren Einzelartikulationen sichtbar werden. Dies eröffnete einem Erkenntnisbegriff das Feld, der sich vom Ideal der klaren und distinkten cartesischen Erkenntnis löst, die an der Beweisform der Euklidischen Geometrie orientiert ist. An ihre Seite tritt dann eine ›undeutliche‹ Erkenntnis, die nach dem ›Analogon‹ der Vernunft verfährt und ihr dabei auch untergeordnet ist. Schließlich hat Leibniz’ Denken zwei einander gegenläufige, bei ihm aber in prästabilierte Harmonie gebrachte Grundoptionen aufgestellt: Zum einen die Auffassung, dass es niemals zwei Seiende ein und derselben Art geben könne, die einander vollständig gleich seien. Nicht die Identität, nur die Ähnlichkeit bestimmt das Sein der einzelnen Individualitäten zueinander. Zum anderen entwickelt er eine Urteils- und Wahrheitskonzeption, die jeden Satz auf einen Identitätssatz zurückführt. 3 Einheit in größter möglicher Verschiedenheit ist der leitende Ansatz in dieser Konzeption. Dies ermöglichte eine Sensibilität für die schier unendliche Fülle der einzelnen Erscheinungen, in Verbindung mit der Vorstellung, dass sie im letzten durch eine innere Mitte, in einer Einheit, gehalten werden. Moses Mendelssohn wird, vermittelt durch das harsche Gerüst der Schulphilosophie und in Kenntnis der baumgartenschen Ästhetik, die leibnizschen Grundeinsichten in einen ästhetischen Diskurs übertragen. Damit eröffnet er zugleich die notwendigen Spielräume, um sich jener ›Auslegungskunst der Gestalten‹ zuzuwenden, die sich nicht durch Metaphysik, sondern nur durch die Urteilskraft des ›gentilhomme‹ erschließt. Daran wird Kant anschließen können. Eine grundlegende Differenz der leibnizschen Vorzeichnungen gegenüber dem aristotelischen Erbe der ›Poetik‹ und ›Poietik‹ liegt aber darin, dass Leibniz’ Grundlinien der Harmonie nicht die Praktische Philosophie oder gar einen Appendix dieser Praktischen Philosophie betreffen, sondern ein Spiegel der Metaphysik und Ersten Philosophie sind, also der Suche nach dem Erkenntnis- und Seinsgrund selbst. Dazu liefert eine gründliche Untersuchung: H. Burkhardt, Logik und Semiotik in der Philosophie von Leibniz. München 1980. Ferner V. Peckhaus, Logik, Mathesis universalis und allgemein Wissenschaft. Leibniz und die Wiederentdeckung der formalen Logik im 19. Jahrhundert. Berlin 1997.

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Für Baumgarten ist in der Folge von Leibniz die Ästhetik die Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitivae), mit deren Hilfe die Gesamtheit aller Vorstellungen erkannt werden kann, die unterhalb der Schwelle ›streng logischer Unterscheidung‹ liegen. 4 Es sind Fülle und Differenziertheit der sinnlichen Eindrücke, die sich auf diese Weise mitteilen und die Individualität des Lebendigen erfassen lassen. Diese Dimensionen sind durch begriffliche Zergliederungen nicht zu erschließen. Dass auch in der nicht-logischen ästhetischen Erkenntnisart die Perzeptionen keineswegs zerfallen, sondern sich zu einer eigenen Ordnung fügen, wird durch den harmonischen Zusammenhang der vollkommenen, oder doch vervollkommnungsfähigen Hervorbringungen gesichert. »Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (bzw. Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint.« 5 Wesentlich ist dabei die von Leibniz übernommene Einsicht, dass die Individualität nie in zwei Exemplaren gleichermaßen begegnet und gleichsam inkommensurabel ist. Neben den feinen Differenzen und Divergenzen der Schulphilosophie mochte hier allerdings auch ein weiter gefasster Ästhetikbegriff eine wichtige Rolle spielen, wie ihn der Hallenser Georg Friedrich Meier begründete. Schleiermacher sollte ihn aufnehmen und eigenständig fortführen. Es ging dabei um eine Ästhetik nicht der Kunstwerke, sondern der erweiterten Kommunikation, die zentral das gestische und mimische Symbolisieren mit einschloss. Auch eine tiefe Orientierung an der Antike, auf die Kant nur vereinzelt und dann fast intuitiv zugreift, geht in seine Vorstudien und Erwägungen ein. »Die Alten waren der Natur näher, wir haben zwischen uns und der Natur viel tändelhafte oder üppige oder knechtische Verderbnis – unser Zeitalter ist das Säkulum der schönen Kleinigkeiten, Bagatellen oder der erhabenen Chimären.« 6 Die Frage, die Kant vor allem beschäftigt, betrifft die MitteilAlexander Gottlieb Baumgarten, Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (= Aufklärung. Band 20). Herausgegeben von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach. Hamburg 2008. 5 Baumgarten, Aesthetica, § 14. Siehe dazu auch die verschiedenen Beiträge des Bandes: M. Beetz, G. Cacciatore (Hgg.), Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Redaktion von Harald Seubert. Köln, Weimar, Wien 2000. (Reihe Collegium Hermeneuticum Band 3). 6 Kant, AA XX, S. 71. 4

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barkeit des Geschmacksurteils. Damit nähert er sich den Diskursen über Gesellschaft und Geselligkeit im England jener Zeit, der Philosophie der Sympathetik bei den schottischen und britischen Moralphilosophen. Sie nahmen eine ›Naturgeschichte‹ des ästhetischen Common sense an, der auf gemeinsamen Kanon, Kenntnis und Takt eingeschworen war und schon deshalb nicht nach apriorischen Begründungsmustern suchen musste. Auch ein humanes Gespräch über das Schöne prägt sich hier im Zeichen der Gemeinsinnigkeit aus. Dieser Begriff des Common sense hat letztlich zwei Bedeutungen. Zum einen meint er die Verbindung aller Sinne zu einer kultivierten und damit umhegten Sinnlichkeit. Dies ist der Sinn der Reflexionen über Urteil und Geschmack, in die Edmund Burke, Protagonist dieser Kulturprägungen, seine Analytik des Erhabenen einschreibt. Zum anderen ist nicht der extreme Weg des einzelnen Künstlers im Fokus der Betrachtung, sondern ein gesellschaftlich geteilter oder doch zumindest teilbarer Geschmack. Dabei bleibt ein platonisches Element unverkennbar: die sinnliche Vollkommenheit ist nicht nur ›Erscheinung‹. Sie soll in sich selbst wahr sein. Man sieht: Hier bildet sich die Differenz zwischen einer rousseauistischen Natur in Unschuld und der Kultur begrifflich aus. Bestimmend für Kant war dabei durchgängig die weltmännnische Lehre vom Geschmack. Es ist nicht der Schulfuchs, sondern der viel- und welterfahrene Hofmann, der Corteggiano, der am meisten zur Geschmacksbildung beiträgt. Der Weltmann sieht zugleich, dass das, was gefällt, sich den Regeln entzieht. Ein ›je ne sais quoi‹, wie in dem gesteigerten Selbstempfinden der Liebe, macht den Evidenzpunkt aus. In logische Urteilsstrukturen ist dies nicht zu überführen. Kant konnte in der Folge dieser Gedankenformationen auch der sprachlichen Überschneidung zwischen ›sapor‹ (Geschmack) und ›sapientia‹ (Weisheit) luzide Einsichten abgewinnen. Seine Neigung liegt zunächst eindeutig auf der Seite der Engländer und der Franzosen, wenn Kant bemerkt: »Der Philosoph Baumgarten in Frankfurt hatte den Plan zu einer Ästhetik als Wissenschaft gemacht. Allein richtiger hat Home die Ästhetik Kritik genannt, da sie keine Regeln a priori gibt, die das Urteil hinreichend bestimmen, wie die Logik, sondern ihre Regeln a posteriori hernimmt, und die empirischen 149 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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Gesetze, nach denen wir das Unvollkommenere und Vollkommenere (Schöne) erkennen, nur durch die Vergleichung allgemeiner macht.« 7 Der Begriff der ›Ästhetik‹ war Kant sowohl durch die Cognitio inferior-Konzeption der Baumgarten-Schule verleidet wie durch die transzendentale Ästhetik bereits besetzt. Die europäische Ästhetikdiskussion des 18. Jahrhunderts hatte er nämlich sehr genau verfolgt. Sie verlief zwischen den klassischen Rationalisten, für deren Denkweise, pars pro toto, Baumgarten steht. Charakteristikum der Bestimmung der Ästhetik als ›gnoseologia inferior‹ ist die Undeutlichkeit. Sie ist ›obskur‹ und ›konfus‹, wird also das cartesianische Ideal des ›clare et distincte‹ nicht erreichen. Sie orientiert sich an der Sinnlichkeit. Doch eine eigenständige Erkenntnisart ist sie nicht. Es wird der zentrale Anspruch von Kant sein, die Eigenständigkeit des Geschmacksurteils und damit des Beurteilungsvermögens am schönen Gegenstand in einer Weise darzulegen, die nicht nur ihre Eigenständigkeit, sondern gleichsam auch ihre leitende Bedeutung für die Tektonik der Vernunft anzeigen kann. 8 Der Eindruck legt sich Kant nahe, dass im ästhetischen Rationalismus die spezifischen Unschärfen des Schönen, die doch sein Proprium ausmachen, verfehlt werden, weil sie an einem Maßstab gemessen werden, der nicht der ihre sein kann. Die Welt- und Hofmänner der westlichen Tradition der romanischen Länder, die Exponenten der anderen Seite, lassen begriffliche Distinktionen ganz und gar hinter sich. Sie würden es für pedantische Schulfüchserei gehalten haben, mit solchen Mitteln dem Geschmack auf die Spur kommen zu wollen. Sie sehen im Geschmack eine begrifflich gerade nicht anzuleitende und einzuübende Begabung. Durch den Umgang mit hohen oder anmutigen Charakteren, mit höfischen Sitten und mit schönen Gegenständen indes kann der Geschmack, bei trefflicher Anlage, unmittelbar und an der Reflexion vorbei befördert werden. Und die Empfindung des Schönen orientiert sich, mit einem Begriff, der in die Nähe der auch aller Verstandesrationalität entzogenen erotischen Wahl rückt, gerade an der Abweichung von der Ideal-Norm, an dem, was als ›je ne sais quoi‹ Kant, AA IX, S. 15. Vgl. hierzu neue Maßstäbe setzend und Perspektiven eröffnend W. Wieland, Urteil und Gefühl, a. a. O., S. 130 ff.

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bezeichnet wird. Es ist dieses, später spießbürgerlich als ›gewisses Etwas‹ Bezeichnete, das ein Wohlgefallen hervorruft, an dem man den anderen teilhaben lassen kann, das aber nicht auf Allgemeinbegriffe zu bringen ist. Kant spricht vom ›Ansinnen‹ des Schönen. Zugleich waren seinerzeit die Bestimmungen über die Formensprachen der Künste selbst noch in den Bereich der Poetiken oder Kunstlehren gebannt: Sie waren Teil der Artisten-Systeme, die die Natur überlisten wollten. 2.) Zum umfassenden Erbe der vorkantischen und rationalistischen Ästhetik gehört indessen die schon angedeutete Problemlinie einer semiotischen Ästhetik, wie sie von dem Hallenser Ästhetiker und Logiker Georg Friedrich Meier differenziert entwickelt wurde. Meier betonte, dass die Entzifferung der Zeichenschrift nicht allein auf Kunstwerke zu beziehen ist, sondern auch auf Gestik, Mimik, Körpersprache und schließlich auf die Rhetorik. Auf sie fokussierte sich Meier in einer Weise, die das Missfallen mancher seiner Zeitgenossen erregte, so vor allem von Moses Mendelssohn. 9 Es ist nicht mehr das Analogon rationis, sondern vielmehr eine Philosophie der Actio, des freien Handelns, die diese Ästhetik bestimmt und imprägniert. »Zu der ganzen Handlung des Redenden, indem er redet, werden – außer der Rede – mit Recht alle Bewegungen gerechnet, welche zugleich neben der Rede den Sinn derselben mit ausdrücken«. 10 Seinem Lehrer Baumgarten folgt Meier darin, dass auch er die ›AestheVgl. dazu den ausgezeichneten, mit ausführlichen Hinweisen auf weiterführende Forschungsliteratur versehenen Abschnitt: Kontext: ›Aufklärung‹. Philosophische Strömungen und ideengeschichtliche Situierung, in: M. Fick, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2004, S. 33 ff., siehe zum Verhältnis Mendelssohns zu Meier auch ibid., S. 228 ff. Zu Meier jetzt auch: G. Schenk, Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle/Saale 1994 und Riccardo Pozzo, Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«: eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. 10 G. F. Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Mit einer Einleutung herausgegeben von A. Bühler und L. C. Madonna. Hamburg 1996, S. 52 (§ 133). Dazu auch: O. R. Scholz, Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier, in: A. Bühler (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frankfurt/Main 1994, S. 158 ff. Ferner: W. Alexander, Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993; sowie M. Beetz, Georg Friedrich Meiers semiotische Hermeneutik, in: Beetz, Cacciatore (Hgg.), Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, a. a. O., S. 17 ff. 9

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tica‹ als eine »Wissenschaft der Regeln« begreift, »die man bey der sinnlichen Erkenntnis und der Bezeichnung derselben überhaupt beobachten muss, wenn beyde schön seyn sollen.« 11 Die Semiotik ist dabei Teil der umfassenden Bezeichnungskunst (characteristica), die ihrerseits in zwei Bestandteile zergliedert wird: die Erfindungskunst (characteristica heuristica) und die Auslegungskunst (hermeneutica). Meier ging aber noch einen wesentlichen Schritt weiter: Für ihn führte die ästhetische Semiotik in den Kernbereich der Anthropologie und einer Lehre von den Leidenschaften, die nicht physiologisch, sondern von ihrer leiblichen Manifestation her in den Blick genommen wird: »Man kann eine Sprache des Zorns, der Traurigkeit, der Liebe u. s. w. annehmen. Alle Glieder sind die Werkzeuge dieser Sprache, und man kann eine Sprache der Augen, der Füsse u. s. w. denken. Ja, diese kunstreiche Sprache kann alle Dinge zu ihren Werkzeugen machen.« 12 Mit dem 18. Jahrhundert beginnt, wie das Zeitalter der Sensibilität und Empfindsamkeit als Kehrseite der empirischen und rationalen Epoche zeigt, die Kunst eine kompensatorische und erinnernde Bedeutung zu entwickeln. Einzig sie kann noch sagen und zeigen, was im cartesianischen und baconschen Paradigma nicht mehr namhaft zu machen ist: Welt als Präsenzform des Göttlichen. Dass in der aufgehenden Sonne die Spuren von Homers »rosenfingriger Eos« präsent sind, während der Wissenschaftler nur Korpuskeln und Wellen wahrnimmt, solche Realitätseinsichten bleiben der Kunst vorbehalten. T. S. Eliots Unterscheidung des Kunstwerks, wo es ›Mimesis‹ des Abwesenden und letztlich des Absoluten ist, vom ›real thing‹, der religiösen kultischen Erfahrung selbst, 13 unterliegt freilich einem Irrtum, der im Licht jener vertieften Sensibilität deutlich wird. Man kann des ›real thing‹ unter den Konditionen der Moderne G. F. Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Halle 1754–1759, 3 Bände. Nachdruck Hildesheim, New York 1976, § 2, S. 3. 12 Meier, Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt (1744). Neudruck Frankfurt /Main 1971, S. 9; siehe auch R. Campe, Affekt und Ausdruck. Tübingen 1990. 13 Dazu wieder R. Spaemann, Kunst ist immer Simulation, in: J. Ritter, Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik, a. a. O., S. 194 f. Siehe auch ders., Was heißt: ›Die Kunst ahmt die Natur nach‹ ?, in: R. Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze. Band II. Stuttgart 2011, S. 321 ff. 11

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Exemplum – Kunst als Symbol der Sittlichkeit

oft nur ansichtig werden, wenn man seine Manifestation in der Kunst in den Blick nimmt. Die Wiederverzauberung durch ein Gegenwärtigbleiben des numinosen Redens und Zeigens zeichnet sich in der Epoche der Empfindsamkeit eindrücklich als einzig legitimer Zugriff auf Transzendenz ab. In der deutschen Literatur zeigt sich dies besonders wirkmächtig an Klopstocks Hymnen, die nach dem Vorbild Miltons geformt werden konnten. Die Wiedergewinnung einer Rede vom Göttlichen korrespondiert dabei bemerkenswert der Absicht, die Sinnlichkeit und das Gefühl aus der Hegemonie der Vernunft herauszulösen. Daran knüpfte später die Romantik mit Schlegel und Novalis an

II.

Exemplum – Kunst als Symbol der Sittlichkeit. Ein Dreiergespräch über die Tragödie: Nicolai, Lessing, Mendelssohn

Die Tragödie folgt mit relativer Stabilität durch die Literaturgeschichte hindurch aristotelischen Mustern. Zugleich erweist sie sich als ein Kreuzungspunkt, an dem die Bestimmungen über einzelne Künste zusammengeführt und mit dem Blick auf das Wesen des Menschen verbunden werden. Die Genese des Bürgerlichen Trauerspiels sollte dabei nicht ohne weiteres, wie es lange Zeit üblich war, auf den »politisch-sozialen Erfahrungsgehalt« des Bürgertums und die Desillusionierung des Adels zurückgeführt werden. 14 Lineare Kausalitäten kennt die Geschichte nicht. Eher ist von Wahlverwandtschaften zwischen Bürgeremanzipation und Differenzierung der Innerlichkeit auszugehen. Der Anteil des Standes sei in der hohen Tragödie, darauf hat Lessing hingewiesen, nur gering. Diese ›Höhe‹ werde aus dem »ganzen menschlichen Geschlecht« und der Weise bezogen, wie der einzelne Vertreter von Humanität ist. Zugleich aber vollzieht sich eine Moralisierung, die nicht nur die aristotelischen Elementaraffekte (tarache) So für eine gewisse Zeit in der Germanistik bestimmend und unstrittig auf höchstem Niveau: P. Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister Frankfurt/Main 1975. In der von der heutigen Forschung her exponierten kritischen Sicht auf diese Perspektive folge ich M. Fick, Lessing-Handbuch, a. a. O., S. 135 ff. Siehe auch P. Pütz, Die Leistung der Form. Lessings Dramen. Frankfurt/Main 1986.

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auf die Moralität von ›Furcht‹ und ›Mitleid‹ umzeichnet. Die Begriffe ›eleos‹ und ›phobos‹ hatten, wie wir sahen, bei Aristoteles eine andere, elementarere Dimension. Sie bezeichneten zur Kennzeichnung der Wirkungsweise des ›alten Dramas‹ (palaion drama) der Griechen die Elementaraffekte einer Mitfurcht und eines Mit-leidens mit den großen, heroischen Gestalten des bearbeiteten Mythos. Katharsis ist im Verständnis des Arztsohnes Aristoteles zuerst und vor allem ein Durchleiden und Durchleben der mythischen, allmenschlichen Schrecken, eine Art Reinigung des Blutes, ein Durchschütteltwerden durch die Wiederholung des Grauens. Mitleid widerfährt elementar. Seine Position muss gerade nicht eigens kultiviert und eingenommen werden. Moses Mendelssohn hat dementsprechend klassisch in seinen ›Briefen über die Empfindungen‹ das Laster definiert und konturiert. »Was nennt man sonst Laster, als die Tyranney der Leidenschaften über die Vernunft?« 15 – und der Philanthrop und Moralphilosoph Pfeil behält ebenfalls eine große Nähe zur antiken Radikalität, wenn er in seinen Meditationen über die Tragödie andeutet, sie zeige, auch wenn sich das allgemeine sittliche Empfinden darüber empöre, wozu jeder Mensch fähig sei und wie schmal die Grenze zum Verbrechen ist. Dennoch ist dieses Ergebnis alles andere als eindeutig. Lessings Tragödientheorie bedeutet demgegenüber eine Moralisierung, die auch auf seine poetische Praxis als Dramatiker abfärbte. Es ist bekannt, wie nicht zuletzt durch Nicolais und Lessings Verdikte eine Größe im Laster, das überwältigend Böse, aus dem Kanon der tragischen Literatur extrahiert wurde. Eine Gestalt wie ›Phädra‹ mit ihrer inzestuösen Liebe im Zeichen einer verzehrenden Leidenschaft, wurde als eine Figur gelesen, für deren Darstellung es keine Legitimation mehr gebe. Lessing hatte dennoch schon früh seine Präferenzen für die Grenzen der Rationalität in der Kunst deutlich bezeichnet und Leibniz den Vorzug gegenüber der ›beschränkten‹ Schulphilosophie eingeräumt, die alles und jedes systematisiere. Leibniz habe nämlich in seiner ›prästabilierten Harmonie‹ dem Grundsatz ›individuum ineffabile est‹ Rechnung getragen, und er habe die eigene Wahrheitsfähigkeit des Außerrationalen eingeräumt und gewürdigt. M. Mendelssohn, Briefe über die Empfindungen, 13. Brief, in: ders., Gesammelte Schriften Jubiläumsausgabe. Stuttgart, Bad Cannstatt 1971 ff., Band 1, S. 93.

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Exemplum – Kunst als Symbol der Sittlichkeit

Auch Nicolai, dem die Regularien der Sittlichkeit nicht wirklich fraglich wurden, gab allerdings in seinen ›Abhandlungen vom Trauerspiele‹ eine bemerkenswerte Lizenz: In der Kunst geht es vor allem darum, die Leidenschaften zu wecken. Dafür brauche die Handlung Größe; und um der Erregung der emotionalen Leidenschaften willen sei auch eine vordergründig moralische Wirkungsabsicht zunächst zu suspendieren. Das Dreiergespräch zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai beginnt mit der Behauptung Nicolais, Verbesserung oder Reinigung der Affekte sei gar nicht im Plan der Tragödie vorgesehen. 16 Lessing antwortet, indem er das Mitleid als ›moralisches Gefühl‹ fokussiert; es ist ihm dabei auch um eine Synkrisis von Leidenschaft, Empfindung einerseits und Vernunft andererseits zu tun. 17 In der Selbstreflexivität der Aufklärungsepoche ist der Versuch einer solchen Koordinierung immer wieder zu beobachten. Auch Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ liefert noch einmal Beispiele für jene Zuordnungskunst. Die Sehnsucht nach den großen Gefühlen, wie Nicolai sie evoziert, orientiert sich indessen dezidiert am Erhabenen und nicht mehr am Schönen. 18 Eben hier entgegnete ihm Moses Mendelssohn mit der Frage nach der Bewegungsrichtung dieses Strebens. Lessing antwortet im klassischen aristotelischen Sinn: Die Seele sei von einem permanenten Streben bestimmt, dies ist die aristotelische ›orexis‹, die in allen Vorstellungen auf Vollkommenheit gerichtet ist. 19 Mit der Schulmetaphysik gibt Mendelssohn aber zu verstehen, dass es sich bei jenen Leidenschaften um die ›unteren‹, ›sinnlichen‹ Seelenkräfte handle. Sie können dabei, gemäß der Lehre von der Cognitio inferior, »zu den Vollkommenheiten eine Zuneigung« haben. 20 Deshalb empVgl. dazu Fick, Lessing-Handbuch, a. a. O., S. 140 ff. Zur Position von Nicolai vgl. insbesondere H. Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974. 17 Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von W. Barner u. a. Frankfurt/ Main 1985 ff., Band 3, S. 669 ff. 18 Ibid. Vgl. auch Nicolai, Jubiläumsausgabe Band 1, S. 110. 19 Vgl. die sehr schöne Zusammenstellung bei Fick, a. a. O., S. 143 ff., siehe auch Lessing, Werke Band 3, S. 698 ff. 20 Siehe dazu K. Weimar, ›Bürgerliches Trauerspiel‹. Eine Begriffserklärung im Hinblick auf Lessing, in: DVJS 31 (1977), S. 208 ff., siehe auch H. J. Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980 und J. Schulte-Sasse, Der Stellenwert des Briefwechsels in der Ge16

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findet die Seele Lust an tragischen Gegenständen. Sie weiß um den Erfindungscharakter der Kunstwerke und kann von der Gefahr absehen, in den Sog realen Unglücks zu kommen. Die vielberufene Vollkommenheit kann ihrerseits nur in der Dimension ›sinnlichen Fühlens‹ erreicht werden. Die übergeordnete Vernunft wird durch das tragische Schauspiel gerade nicht geweckt. Allerdings unterscheidet Mendelssohn: Mitleid bindet seiner Auffassung nach an die sinnliche Natur, die Bewunderung dagegen führt über sie hinaus. Es ist deshalb der Held, der sich, wo man einen gebeugten Menschen erwarten würde, in innerer Integrität und Widerständigkeit erhält, der in einen intelligiblen moralischen Zustand erheben kann. 21 Wie man weiß, hat Lessing diese Auszeichnung der Bewunderung nicht akzeptiert. »Durch Erzeugung der Leidenschaften« könne das Trauerspiel bessern, war der springende Punkt, an den sich die gesamte Konzeption von der »Schaubühne als moralischer Anstalt« heftet. 22 Bestimmung der Tragödie sei es also, »unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, zu erweitern«, wobei es, wie Lessing hinzufügt, um ein großes Mitleiden zu erregen, auch »großer Vollkommenheiten« bedarf. 23 Mendelssohn bemerkte wohl, dass Lessing auf die ›moral sense‹-Lehre zurückgriff und auf Hutchesons Konzeption eines »inneren Sinns«. Emotionalität und Moralität verbinden sich mithin in der Weise, dass das eingesehene Gute zugleich und unmittelbar zu guten Handlungen motiviert. 24 Zwischen Lessing und Mendelssohn klaffte daher auch die Differenz zwischen dem ›Bel esprit‹, dem Theatermann und Empiriker, und dem in der rationalistischen Schulphilosophie geprägten Geist auf. Mendelssohn bemüht sich, durchaus contre coeur, die lessingsche Betonung des Mitleids zu

schichte der deutschen Ästhetik, in: G. E. Lessing, M. Mendelssohn, F. Nicolai, Briefwechsel über das Trauerspiel, hg. und kommentiert von J. Schulte-Sasse, München 1972, hier insbes. S. 168 ff. 21 Ibid., gute Bemerkungen dazu bei Schulte-Sasse, a. a. O. 22 Lessing, Werke, Band 3, a. a. O., S. 694, siehe auch ibid., S. 579 f., S. 680 ff. und 696. Es fällt durchgehend die weitaus kritischere Anthropologie auf, die Lessing gegenüber Mendelssohn erkennen lässt. 23 Lessing, ibid., S. 649. 24 Dazu jetzt auch P. Michelsen, Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des 18. Jahrhunderts. Würzburg 1990, S. 126 ff.; vgl. auch H. B. Nisbet, Lessing’s Ethics, in: Lessing-Yearbook 25 (1993), S. 1 ff.

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akzeptieren. Er muss sie aber zu diesem Zweck in eine schulphilosophische Güterlehre übersetzen, wonach »alle Betrübnis, welche von Tränen begleitet wird, […] eine Betrübnis über ein verlorenes Gut« sei. »Nun findet sich bei dem verlornen Gute nicht allein die Idee des Verlusts, sondern auch die Idee des Guts, und beide, diese angenehme mit jener unangenehmen« Idee verknüpft, ergeben die »vermischte Empfindung«, wie sie der Tragödie zugrunde liegt. Nur bedingt kann Lessing diesem Idealbild der Vollkommenheit folgen. Klar ist für ihn, dass das höchste Maß von Vollkommenheit Gott zukommen würde. Tragödienhelden aber, die schon so stilisiert sind, als wären sie keine leibhaften, verwundbaren Wesen, finden bei Lessing wenig Gnade. Mehr noch: Sie sind für ihn letztlich komisch. Im Blick auf Voltaires ›Alzire ou les Americains‹ (1736) wird bemerkt, er sei mit Eigenschaften ausgestattet, die »wir der ganzen menschlichen Natur nicht zugetrauet hätten.« 25 Und dem Briefpartner Mendelssohn hält er unmittelbar entgegen: »Sie haben einen zu richtigen Begriff von der menschlichen Natur, als daß sie nicht alle unempfindliche Helden für schöne Ungeheuer, für mehr als Menschen, aber gar nicht für gute Menschen halten sollten.« 26

III. Kantische Konstellationen 1.

Zusammenhänge

Dies sind einige der Kraftlinien, vor denen Kant am Ausgangspunkt seiner ›Kritik der Urteilskraft‹ die fundamentale Antinomie in der geläufigen Sentenz artikuliert, wonach sich über Geschmack streiten bzw. nicht streiten lasse. Zu schlichten vermag Kant diesen Widerspruch, indem er festhält, dass das Geschmacksurteil sich zwar auf einen Begriff (eines Grundes überhaupt von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft) fundiere, dass dieser Grund aber gerade nicht ›bestimmend‹ wirke. Er trägt für die Objekterkenntnis nichts aus. Der Widerspruch zwischen der Thesis und der Antithesis kann aufgelöst werden, indem erkannt wird, dass das »Geschmacksurteil sich 25 26

Lessing, Werke Band 3, S. 678. Ibid., S. 690.

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auf einen, obzwar unbestimmten Begriffe« bezieht. 27 Damit ist, jedenfalls im Sinne der kantischen Problemstruktur, auch bereits die zweite Hauptfrage der ›Kritik der Urteilskraft‹ in den Blick genommen, die Frage nach der Teleologie. Obgleich die Problemata des Urteils über das Schöne und das Erhabene und die Naturteleologie aus unterschiedlichen Untersuchungszusammenhängen hervorgegangen sind und miteinander verschmolzen wurden und ihr Verhältnis in der Kant-Forschung noch immer strittig ist, spricht doch manches dafür, sie systematisch zusammenzusehen. Es gibt nach Kant eine Zweckmäßigkeit der Natur und der Kunst. Denn in beiden sucht der Betrachter, der ihre Gestalten auslegt, nach dem Prinzip der Vollkommenheit. Diese Zweckmäßigkeit untersteht freilich nicht Kategorien und sie ist nicht Realeigenschaft von Dingen. Sie kann aber von einem ›Idealism‹ erkannt werden, der subjektiv die Zweckhaftigkeit imaginiert. Sich Natur- und Kunstschönes als zweckhaft zu denken, auch wenn es zumal in der Natur nicht möglich ist, den Zweck als Eigenschaft zu identifizieren, gibt einen Horizont frei, in dem Natur als Organismus verstanden werden kann, was nichts anderes bedeutet, als dass jedes Glied eines organischen Zusammenhangs zugleich Ursache ist und Wirkung. Kants Beitrag schließt dabei noch einmal an die Frage nach den unteren, ›sinnlichen‹ Erkenntnisvermögen in der Schulphilosophie von Wolff und Crusius an. Er zeigt in Auseinandersetzung mit deren Theoremen erstmals das Eigenrecht der ästhetischen Betrachtungsart. Sie ist nicht als ›gnoseologia inferior‹ zu missdeuten; sie wird vielmehr zum Dreh- und Angelpunkt des Denkens und Urteilens. Eine Ästhetik im Sinn späterer Epochen, die große Werke der Kunst in ihrer Faktur und ihrer Wirkungsgeschichte durchdringt, ist sie freilich nicht. Deshalb mag es berechtigt sein, wenn im Folgenden nicht noch einmal, wie schon oft und differenziert geschehen, die kantische Begründung der Urteilskraft im Detail aufgenommen, sondern vielmehr zwei Hörner des Problems gepackt werden: zum einen die reflektierende Urteilskraft als Dreh- und Angelpunkt kantischen Denkens über das Schöne, zum anderen die humanisierende Kraft, die sich mit der Form und Kommunikativität des Geschmacksurteils verbindet. 28 27 28

Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V, S. 340 f. Es ist nicht möglich, hier auf die Details der sehr elaborierten jüngeren Interpreta-

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Kant hat, wie in einer Art impliziten Platonismus, das Schöne als ›Symbol der Sittlichkeit‹ bestimmt. 29 Es ist ein indirektes Symbol, bei dem nicht mehr aber auch nicht weniger übereinstimmt als die Art der Reflexion im symbolisierenden und im symbolisierten Glied des Analogieverhältnisses. Im Sinne dieser Symbolik lassen sich ästhetische Ideen und Vernunftideen aufeinander beziehen. Denn »so wie an einer Vernunftidee die Einbildungskraft mit ihren Anschauungen den gegebenen Begriff nicht erreicht: so erreicht bei einer ästhetischen Idee der Verstand durch seine Begriffe nie die ganze innere Anschauung der Einbildungskraft, welche sie mit einer gegebenen Vorstellung verbindet. Da nun eine Vorstellung der Einbildungskraft auf Begriffe bringen so viel heißt, als sie zu exponieren, so kann die ästhetische Idee eine inexponible Vorstellung derselben (in ihrem freien Spiele) genannt werden.« Nur in dieser ›Rücksicht‹ als ›Symbol des sittlich Guten‹ gefalle das Schöne, »[…] mit einem Anspruche auf jedes anderen Beistimmung, wobei sich das Gemüth zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewusst ist und anderer Werth auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urtheilskraft schätzt.« 30 Dennoch lässt sich nicht einfach behaupten (was Jean-Francois Lyotards auf das Erhabene bezogene These sein sollte 31), dass Kant die Ästhetik in Ethik überführe. Er gibt vielmehr die Übereinstimmung und die Differenz der symbolischen Analogie an: 1. Das Schöne gefällt unmittelbar, doch nur in reflektierender Anschauung, nicht wie das Sittliche im Begriff. 2. Es gefällt ohne alles Interesse; wohingegen das Sittliche-Gute ein Interesse nach sich zieht, das freilich nicht vom Wohlgefallen ausgelöst wird, sondern dieses nach sich zieht. tionsgeschichte der kantischen ›Kritik der Urteilskraft‹ hinzuweisen; vgl. aber Chr. Fricke, Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Berlin, New York 1990 und A. Esser, Realität und Referenz der ästhetischen Beurteilung in Kants Theorie des Schönen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 49 (1995), S. 430 ff.; ferner J. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt/Main 21994. 29 Kant, AA V, S. 351 ff. 30 Ibid., V, S. 191. 31 J.-F. Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 2 (1984), S. 151 ff., siehe auch ders., Der Widerstreit. München 1987. Dazu Chr. Pries (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989.

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3.

Freiheit der Einbildungskraft steht im Schönheitsurteil in Übereinstimmung mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes (eine Art von Selbstverhältnis), im moralischen Urteil hingegen geht es um Übereinstimmung des Willens mit sich. 4. Das subjektive Prinzip des Schönheitsurteils ist allgemein anzusinnen, es steht aber nicht unter Begriffen. Dagegen ist das Prinzip der Moralität objektiv, begründet auf die Apriorität des Sittengesetzes. Von hier her hat Kant die Architektonik des Geschmacksurteils im Einzelnen analysiert. Er hat es nach den kategorialen Hinsichten des Urteils betrachtet. Damit wird es seiner Qualität nach als Wohlgefallen oder Missfallen ohne alles Interesse begriffen, 32 was das Schöne sowohl vom Angenehmen als auch vom sittlich Guten unterscheidet. Es geht um ein Wohlgefallen, das nicht daran gebunden ist, dass der Gegenstand existiert, der das Wohlgefallen erregt. Der zweiten Urteilskategorie der Quantität nach bestimmt Kant das Geschmacksurteil als Objekt eines »allgemeinen Wohlgefallens«, wobei diese Allgemeinheit aus einem wechselseitigen humanen Umgang und einem wechselseitigen Ansinnen hervorgeht. 33 Sie konstituiert sich daher, ohne eines Allgemeinbegriffs zu bedürfen oder einen solchen auch nur zuzulassen. Dem dritten Moment, der Relation der Zwecke zufolge, ist das Schönheitsurteil für Kant Zweckmäßigkeit ohne Zweck. 34 Hier zeichnet sich einerseits die Brechung der tradierten Teleologie des Rationalismus ab, die sich des Begriffs der Vollkommenheit (perfectio) bediente. Dennoch stellt sich der Eindruck der Zweckhaftigkeit ein. Schließlich und nach dem vierten Moment der Modalität eignet dem Schönheitsurteil eine ›Notwendigkeit‹ des Wohlgefallens. Diese ist zwar subjektiv. Doch die einzelne Subjektivität ist auf den geteilten Gemeinsinn durchlässig. Eine grundlegende Perspektive auf diese hier nur nochmals kurz zu erinnernden Zusammenhänge eröffnet sich, wenn das Augenmerk auf Ursprung und Ziel von Kants ›Theorie der Urteilskraft‹ im Ganzen gerichtet wird. Wolfgang Wieland 35 hat in seinem Buch

Kant, AA V, S. 211. Ibid., S. 218 f. 34 Ibid., S. 226 f. 35 Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft. Göttingen 2001, vor allem S. 123 ff. und S. 220 ff. 32 33

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›Urteil und Gefühl‹ darauf hingewiesen, dass die Frage nach Ursprung und Vollzugsweise des Urteilsvermögens Kant über lange Jahre »beschäftigt, ja sogar irritiert« habe. 36 Schon in einer frühen Schrift des Jahres 1762 fragt Kant: »was denn dasjenige für eine geheime Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird.« 37 Das Problem der Urteilskraft ist, wie Wieland auch darlegt, in den ersten beiden Kritiken suspendiert worden, was genealogisch damit zusammenhängen mag, dass Kant erst spät das apriorische Prinzip der Urteilskraft auffindet, das Voraussetzung einer jeden Kritik sein kann. Darüber gibt ein Brief an Reinhold vom Dezember 1787 Rechenschaft: »So beschäftige ich mich jetzt mit der Kritik des Geschmacks, bei welcher Gelegenheit eine neue Art von Principien a priori entdeckt wird.« 38 Erst in der dritten Kritik wird die Urteilskraft, die in den Prinzipienuntersuchungen der ersten beiden Kritiken je spezifisch, wenn auch nur partiell, in Gebrauch genommen wurde und ihnen elementar zugrunde liegt, thematisch gemacht. Dies kann zu einer weiteren Überlegung veranlassen: 39 In seinem Brief an Christian Garve vom 7. August 1783 hat Kant das mit seiner ersten Kritik begonnene Unternehmen so charakterisiert, dass er eine »ganz neue und bisher unversuchte Wissenschaft«, nämlich die »Kritik einer a priori urteilenden Vernunft«, 40 zu umreißen versuche, wodurch die dem Menschen ›natürliche‹ Metaphysik deutlich gemacht werden solle. Die dritte Kritik erbringt dazu zumindest einen Beitrag. Von hier her können Rolle und Tektonik eines zentralen Stückes innerhalb jener Theorie der Urteilskraft freigelegt werden, des ›sensus communis‹, den Kant ins Spiel bringt, um die fundamentale Bedeutung des nicht begrifflich bestimmten Urteils, eben des Geschmacksurteils, für jeden Urteilsvollzug zu exponieren. Dass die Ansinnung einer nicht-begrifflichen Allgemeinheit ein Schlüssel für das Verständnis des Geschmacksurteils ist, zeigen zwei Nachlass-Reflexionen: »Das Urtheil des Wohlgefallens an der Schönheit […] besteht bloß in dem Urtheil über die Allgemeinheit des WohlIbid., S. 15. Kant, AA II, S. 60 38 Ibid., X, S. 514. 39 Manfred Riedel, Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung. Frankfurt/Main 1989. 40 Kant, AA X, S. 340. 36 37

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gefallens an einem Gegenstand.« 41 »Das Urtheil des Geschmacks betrifft eigentlich die Allgemeingültigkeit und das Wohlgefallen an dem Gegenstand um dieser allgemeinen Gültigkeit willen.« 42 In Anbetracht solcher Keimzellen nimmt es wunder, wenn nach wie vor Kants Rückgang auf den sensus communis als eine eher konventionelle Theorieanleihe aus der Popularphilosophie der Aufklärung aufgefasst wird. 43 Tatsächlich verweist in Kants Begriffsgebrauch der sensus communis während der Zeit seines Studiums von Rousseau und David Hume 44 einerseits auf die ›ratio sana‹, die nicht-verderbte, bloß folgernde Vernunft, durch die das Allgemeine in »concreto« betrachtet wird. ›Bon sens‹ und ›sensus communis‹ werden einander dabei nachgerade gleichgesetzt. 45 Die ›gesunde Vernunft‹ gründe sich nicht auf Logik, diese diene ihr allenfalls. Dabei sei die ›ratio sana‹ das Vermögen, »nach Gesetzen der Erfahrung zu urtheilen oder von der Erkenntnis in concreto zu der in abstracto oder vom besonderen zum allgemeinen zu steigen«, 46 wobei die ›Critick‹ eben als »Wissenschaft der gesunden Vernunft« 47 der ›Doktrin‹ als Wissenschaft der Gelehrsamkeit kontrastiert wird. Kant spielt damit auf die Urteilskraft (vis iudicandi) der ›bona mens‹ an, die auch nach Descartes als vorwissenschaftliche Berufungsinstanz der Logik fungiert; 48 und er gibt an einer für unseren Zusammenhang aufschlussreichen Stelle ›sensus communis‹ mit »der gemeingültige Sinn« wieder, 49 dessen Popularisierung der Geschmack sei. Es Kant, Refl. 686. Ibid., Refl. 830. 43 Vgl. dafür beispielhaft Manfred Frank, Kommentar in ders., V. Zanetti (Hgg.), Kant, Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Frankfurt/Main 1996, S. 1237 f. u. ö., mit der Feststellung, dass Kant von jenem Theoriestück einen ›rationalistischen‹ Gebrauch mache. 44 Wieland, Urteil und Gefühl, a. a. O., S. 14 ff. weist zu Recht darauf hin, dass in der dritten Kritik auch Überlegungen von größter Bedeutung seien, die in die ersten beiden Vernunftkritiken allenfalls am Rand Eingang finden. 45 Kant, Refl. 1573, AA XVI, S. 14. 46 Ibid., Refl. 1575. 47 Ibid., S. 15. 48 Vgl. Riedel, Urteilskraft und Vernunft, a. a. O., S. 68. Vgl. auch M. Riedel, Sensibilität für die Natur. Ästhetische Erfahrung und Interpretation in Kants Philosophie des Schönen, in: ders., Kunst als ›Auslegerin der Natur‹. Naturästhetik und Hermeneutik in der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 27 ff. 49 Kant, Refl. 1930, ibid., S. 160. 41 42

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scheint bemerkenswert, dass Kant vom ›sensus communis‹ zunächst in einem logischen Kontext Gebrauch macht, indem er ihn als jenes Organ der Urteilskraft versteht, das anzeigt, dass der metaphysische Grundsatz vom zureichenden Grund und der logische Grundsatz des zu vermeidenden Widerspruchs sich ihrerseits auf die Duplizität im Urteilsvollzug stützen, bejahen und verneinen können. Zugleich aber bildet sich sein Verständnis des ›sensus communis‹ in Auseinandersetzung mit der Rede vom ›moral sense‹ in der britischen Moralphilosophie eines Hume oder Hutcheson. Hutcheson hat den Moral sense als »Power of perception« erläutert, die fähig sei »to receive necessarily certain ideas from the presence of objects.« Die Unterscheidung zwischen sensus communis und gemeinem Menschenverstand, auf der Kant insistiert, 50 ist strukturell in dieser Tradition vorbereitet, denn der ›moral sense‹ soll gerade nicht mit einem Wahrnehmungssinn verwechselt werden. Sein Charakteristikum ist vielmehr, den Betrachter unmittelbar mit der Idee der Schönheit zu affizieren: »The Pleasure does not arise from any knowledge of principles, proportions, causes, or of the usefulness of the object; but strikes us at first with the Idea of beauty: nor does the most accurate knowledge increase this pleasure of beauty […].« 51 Zudem ist in der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts, die Kant in seinen Reflexionen jahrzehntelang begleitet, der systematische Ort des ›sensus communis‹ angedeutet: So zeichne sich, worauf unter anderem Leibniz verwiesen hatte, 52 das Wohlgefallen durch ein nicht begrifflich bestimmtes instinktives Gefühl, ein »je ne sais quoi« (nescio quid) aus, das nur der geübte, gute Geschmack erfasst. Zugleich verweise schon Voltaire (Dictionnaire philosophique Art. »Goût«) darauf, dass der ›intellektuelle‹ Geschmack, der die stumme Empfindung des Schönen zum Sprechen bringt, notwendigerweise in der Gesellschaft mitteilbar sein müsste. In einer Reflexion aus Kant, AA V, S. 293 ff. Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue. ND 1969, S. IV. Dazu Wolfgang Leidhold, Ethik und Politik bei Francis Hutcheson. Freiburg, München 1985, S. 132 ff. 52 Vgl. Leibniz, ed Guhrauer, Schriften I, S. 420 und Erdmann, Opera, S. 197. Gratians Handorakel ist der locus classicus einer von der Dominanz der ratio sich emanzipierenden Sprache des Geschmacks. Vgl. Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Halle 1923. 50 51

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den Jahren 1776–78 nimmt Kant darauf Bezug, wenn er »die Qualität der Empfindung, da sie Lust oder Unlust erregt« als »allgemein verständlich« begreift, »weil sie aufs Leben überhaupt geht. Ist nicht objektiv, aber doch das einzig wahre der affektion der Sinne.« 53 Diesen vier nur anzudeutenden Formen des ›sensus communis‹ soll etwas weiter nachgegangen werden.

2.

Die Exposition des ›Sensus communis‹

1.) In der ›Kritik der Urteilskraft‹ exponiert Kant den Gemeinsinn erstmals im Zusammenhang der Untersuchung des ästhetischen Urteils nach der Maßgabe der Modalität. In dieser kategorialen Hinsicht wird die dem ästhetischen Urteil zukommende ›Notwendigkeit‹ als ›exemplarisch‹ ausgezeichnet und von der ›theoretisch objektiven‹ Notwendigkeit des Erkenntnisurteils und der ›praktischen‹ des moralischen Urteils unterschieden, das aufgrund »eines reinen Vernunftwillens, welcher frei handelnden Wesen zur Regel dient«, apodiktisch gilt. 54 Beide, das Erkenntnisurteil und das moralische Urteil, bestimmen ihren Gegenstand mittels von Begriffen. Im Unterschied zu theoretischer und praktischer Notwendigkeit ist die dem Geschmack zukommende Notwendigkeit aber ›subjektiver‹ Natur. Ihr exemplarischer Charakter wird als »Nothwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Urteil« bezeichnet, das »wie ein Beispiel einer allgemeinen Regel« fungiere, die man aber nicht angeben könne. 55 Notwendigkeit kann das Geschmacksurteil für sich beanspruchen, da es, freilich nur ›bedingt‹, ein ›Sollen‹ ausspricht. Die Bedingung besteht darin, dass die Pflicht der Beistimmung ihrerseits unter der Voraussetzung eines Grundes steht, »der allen gemein« ist. Im Folgeparagraphen dann 56 wird jener Grund als ›subjektives Princip‹ von Geschmacksurteilen charakterisiert, »welches nur durch Gefühl und Kant, Refl. 579. Vgl. auch die Bestimmungen über den ›geselligen Charakter‹ des Geschmacks in einer Reihe von Reflexionen u. a. Nr. 702, 742, 806. Siehe zu den moralphilosophischen Folgerungen, die Kant von hier her zieht, und der Bedeutung der stoischen Ethik in diesem Zusammenhang Klaus Reich, Kant und die Ethik der Griechen, in: ders., Gesammelte Schriften. Hamburg 2001, S. 113–147, hier S. 145. 54 Kant, AA V, S. 237. 55 Ibid. 56 Ibid., S. 237 f. 53

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nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder missfalle.« 57 Kant lässt seine Exposition vorläufig in die Bestimmung münden, dass dies Prinzip als »Gemeinsinn« aufgefasst werden solle, der aber von dem ›zuweilen‹ auch als ›sensus communis bezeichneten‹ gemeinen Menschenverstand deutlich unterschieden wird. 58 Dieser nämlich urteile nicht, wie der Gemeinsinn, nach Gefühl, sondern nach (freilich ›verworrenen‹ und ›undeutlichen‹) Begriffen. Er wird daher jener ›cognitio inferior‹ zugewiesen, die im vorkantischen Rationalismus, namentlich bei Baumgarten, den Wissenstypus der Ästhetik charakterisierte. Der Gemeinsinn ist eine »bloße idealische Norm« 59 und kann in keiner Weise auf Erfahrung gegründet werden, da er »zu Urtheilen berechtigt«, die ein ›Sollen‹ enthalten. 60 Um seine Verbindlichkeit anzuzeigen, wird unter Wahrung der vorausgegangenen Disjunktion doch eine Analogie zur Apodiktizität des Sollens in der Moralmetaphysik gezogen: Mit einem Urteil, in dem wir etwas für schön erklären, verstatten wir ›keinem‹ anderer Meinung zu sein. 61 Überdies wird die Verbindlichkeit in ein analogisches Verhältnis zum Erkenntnisurteil gesetzt. Das Geschmacksurteil soll unter der Voraussetzung des Gemeinsinns »gleich einem objecitven […] allgemeine Beistimmung fordern« können, 62 obgleich das unter der Bedingung eines Gemeinsinns anzusinnende Geschmacksurteil ausschließlich auf einem Gefühl gründet. Es bleiben daher zwei grundlegende, von Kant selbst zugegebene Unsicherheiten: Prekär scheint schon die ›Anmaßung‹, ein Geschmacksurteil überhaupt zu fällen, da man sich, wie Kant im fraglichen Zusammenhang eingesteht, nicht gewiss sein kann, ob die wechselseitige Subsummierung von Einbildungskraft und Verstand »richtig« vorgenommen wurde, ob also die subjektive Proportion eines Geschmacksurteils getroffen wurde oder in das Urteil Kontaminationen Ibid., S. 238. Vgl. dazu auch die Abgrenzung AA V, § 40, S. 293 ff. mit der in der Sache schon hier formulierten Differenz, dass der Geschmack als »sensus communis aestheticus«, der gemeine Menschenverstand aber als »sensus communis logicus« zu bezeichnen sei. 59 Kant, AA V, § 22, S. 239. 60 Ibid. 61 Ibid. 62 Ibid. 57 58

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durch Reiz oder Rührung einerseits oder durch Begriffsbestimmungen andererseits eingehen, so dass das Gefühl der Lust im Geschmack mit dem Wohlgefallen am Angenehmen, Nützlichen oder Guten verwechselt wird. Zum anderen ist auch der Status des Gemeinsinns keineswegs eindeutig bestimmbar. Es wird erwogen – und soll zunächst noch offen gelassen werden, ob »Geschmack ein ursprüngliches und natürliches, oder nur die Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen« sei. 63 Solche Erwägungen sind eng mit der zweiten Frage verbunden, »ob es in der That einen solchen Gemeinsinn als constitutives Princip der Möglichkeit der Erfahrung gebe, oder ein noch höheres Princip der Vernunft es uns nur zum regulativen Princip mache, allererst einen Gemeinsinn zu höheren Zwecken in uns hervorzubringen.« 64 Umso mehr aber muss man sich über die Begründung verständigen, die im Expositions-Zusammenhang dafür angegeben wird, dass ein subjektives Prinzip der Geschmacksurteile eingeführt werden kann, das »nur als ein Gemeinsinn angesehen werden« könne. 65 Jene Proportion, in der Einbildungskraft und Verstand zuträglich miteinander verbunden sind – »in Absicht auf Erkenntnis gegebener Gegenstände überhaupt«, 66 stellt sich als Gefühl ein. Dieses aber muss sich mitteilen lassen, sonst bliebe es »subjektives Spiel der Vorstellungskräfte.« 67 Kant knüpft daran eine weitergehende Überlegung: wenn sich »Erkenntnisse und Urtheile« nicht »sammt der Überzeugung, die sie begleitet, allgemein mitteilen« ließen, so »käme ihnen keine Übereinstimmung mit dem Object zu.« Die Voraussetzung des Gemeinsinns liegt also der Fundierung des Objektbezugs in der Kohärenz von Urteilen noch zugrunde, wie sie Kant in seinen Reflexionen zur Logik expliziert hatte. »Sie (sc. die Wahrheit) stimmt mit dem objekt, wenn sie mit sich selbst stimmt. 68 In einer anderen Reflexion aus demselben Zusammenhang heißt es: »Das objective criterium der Wahrheit ist Übereinstimmung der Vorstel-

63 64 65 66 67 68

Ibid., S. 240. Ibid. Ibid., S. 238. Ibid., S. 238 f. Ibid. Kant, Refl. Nr. 2124, AA XV.1, S. 244.

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lungen in einem Urteil unter einander nach den allgemeinen Gesetzen des Verstandes oder der Vernunft […] Das subjective criterium der Wahrheit ist die Übereinstimmung Eines Urteils mit einem anderen so wohl in demselben subjekt als in Verschiedenen.« 69 Die Überlegung, ob ein Gemeinsinn mit guten Gründen voraus gesetzt werden könne, weist also auf die subjektive Bedingung aller Erkenntnis hin, die in jeder Logik und Urteilslehre ihrerseits muss vorausgesetzt werden können, wenn diese nicht ausdrücklich und radikal skeptische Konsequenzen ziehen soll; keineswegs ist sie nur auf das Geschmacksurteil und dessen Mitteilbarkeit eingegrenzt. Der Gemeinsinn, der im Geschmacksurteil vorausgesetzt werden muss, ist daher nur ein spezifizierter Fall des Gemeinsinns, dessen wir uns in der Mitteilbarkeit eines Gefühls überhaupt bedienen. Er ist freilich, wie man annehmen darf, eine Spezifizierung, bei der die allgemeinen Grundzüge besonders deutlich erkennbar werden. 2.) Kant hält (§ 22 KU) als Aufgabe fest, das Geschmacksvermögen ›für jetzt‹ nur »in seine Elemente« aufzulösen, die »zuletzt in der Idee eines Gemeinsinns« vereinigt werden sollen. 70 Dies weist auf jenen Abschnitt (§ 9) zurück, in dem er in Aussicht stellte, einen »Schlüssel zur Kritik des Geschmacks« zu liefern. 71 Dabei wird bereits von einer elementaren Voraussetzung dafür, den Gemeinsinn anzunehmen, Gebrauch gemacht. Kant bestimmt als Aufgabe zu untersuchen, ob das Gefühl der Lust der Beurteilung des Gegenstandes oder dieser jener vorausgeht, womit er auf die »allgemeine Mitteilungsfähigkeit« des Gemütszustandes »in der gegebenen Vorstellung« Bezug nimmt. Es ist die sich in der »Beurtheilung des Gegenstandes« einstellende »Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen«, 72 die dem Gefühl der Lust ausdrücklich vorausgehen muss. Dieser Aussage kommt für die spätere Explikation des Gemeinsinns tatsächlich insofern eine Schlüsselrolle zu, als sie die Mitteilbarkeit als ein Bewusstseins- und Selbstverhältnis sichtbar macht. Die »subjective allgemeine Mittheilbarkeit« der Vorstellungsart im Geschmacksurteil wird mit dem Gemütszustand im frei69 70 71 72

Ibid., Refl. Nr. 2128, S. 246. Kant, AA V, S. 240. Ibid., S. 216. Ibid., S. 218.

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en Spiel der Erkenntniskräfte gleichgesetzt. 73 Zugleich soll die Einhelligkeit das Bewusstsein allgemeiner Mitteilbarkeit in sich schließen und eben daraus ihre Lust ziehen. Vor diesem Hintergrund wird in dem Paragraphen die »mindere«, für unseren Zusammenhang aber höchst aufschlussreiche Frage erörtert, ob jenes Bewusstsein »unter einander« durch den inneren Sinn und die Empfindung, oder »intellektuell« zustande kommt. Die Antwort fällt aufgrund der Unabhängigkeit des Geschmacksurteils von Begriffen denkbar eindeutig zugunsten der ersten Alternative aus. In seiner ›Anthropologie in pragmatischer Hinsicht‹ hat Kant den ›inneren Sinn‹ dahingehend charakterisiert, dass er nicht »ein Bewusstsein dessen [sei], was der Mensch thut, denn dieses gehört zum Denkungsvermögen, sondern [desjenigen], was er leide, »wiefern er durch sein eignes Gedankenspiel afficirt wird.« 74 Der Bezug auf den ›inneren Sinn‹ kann darin eine weitere Rechtfertigung finden, dass die vier Momente des ästhetischen Urteils je spezifisch auf die »wechselseitige […] subjective Übereinstimung der Erkenntniskräfte unter einander im Geschmacksurtheile« verweisen und auf diese Weise in ihrem Ausschmecken und Erproben des Gegenstandes untereinander ›geeint‹ sind. In den vier verschiedenen Modalitäten des Urteils geht es, der Sache nach, um die Vereinigung mit dem Gegenstand in einem unmittelbaren Genuss, gemäß der Spezifik des Reflexionsurteils einen Gegenstand nur im Blick auf die Beschaffenheit ›schön‹ zu nennen, »in welcher [er] sich nach unserer Art [ihn] aufzunehmen richtet.« 75 In der ersten, sich nach der Qualität bestimmenden Modalität des Geschmacksurteils liegt der Akzent darauf, dass sich das Subjekt, »wie es durch die Vorstellung afficirt wird«, selbst fühlt, 76 während in der Modalität der Quantität, welche die ›Allgemeinheit‹ des ästhetischen Urteils aufweisen soll, auf eine »allgemeine Stimme in Ansehung des Wohlgefallens« hingewiesen wird, die sich allein »durch den Ausdruck der Schönheit« ankündige. Ibid., S. 217 f. Kant, AA VII, S. 161 f. Vgl. zum Folgenden detailliert: Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, a. a. O., S. 293 ff. 75 Kant, AA V, S. 282. Dazu P. Menzer, Kants Ästhetik in ihrer Entwicklung, a. a. O., S. 158. 76 Ibid., S. 204. 73 74

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Aus diesen Beobachtungen kann nun ein vorläufiges Resümee gezogen werden: in der Idee eines Gemeinsinns wird die »allgemeine Mitteilbarkeit« einer nur empfindbaren inneren Proportion der in der Urteilskraft zusammenstimmenden Gemütsvermögen expliziert. Die Idee des Gemeinsinns besagt, dass in der Ansinnung eines Gefühls das ›Bewusstsein‹ der Urteilskraft mitteilbar ist. 77 Ich selbst erfahre das Geschmacksurteil als ›Einstimmigkeit‹ meiner Gemütskräfte und teile es unter der Annahme einer Gefühlsgemeinschaft mit. Das Gefühl wird im Urteilsvollzug zwischen mich und den Anderen gelegt und so in einer Interpretation ausgelegt. 78 Indem der Gemeinsinn von dieser Struktur her auf allgemeine Mitteilbarkeit und auf die Zusammenstimmung der urteilenden Gemütsvermögen gleichermaßen verweist, ist Kants Rede vom ›Gemeinsinn‹ sehr wohl noch auf das in der humanistischen Tradition verankerte Verständnis des »gemeinschaftlichen Sinns« durchsichtig, aus dem er sich nach Gadamer herauslöste: 79 jenes Sinnes, der ausgehend von Aristoteles’ Lehre von der koiné aisthesis als des Sinnes, mit dem gemeinsame Wahrnehmungsgegenstände wie Ruhe, Gestalt, Größe etc. wahrgenommen werden, 80 die Findungskunst und Topik anleitet, indem er nicht auf logische Wahrheit begrenzt ist, sondern sich auf das Wahr-ähnliche (verisimile) bezieht. Im Sinne einer solchen ›transzendentalen Topik‹ begriffen, leistet der bei Kant vorausgesetzte ›Gemeinsinn‹ nicht nur eine Unterscheidung der Erkenntnisvermögen und ihrer Proportion, er beschreibt vielmehr ihre ›gefühlte‹ Zusammen- und Übereinstimmung. 81 Insofern könnte man von einer ›Universalität des Schönen‹ Ibid., S. 238. Vgl. dazu M. Riedel, Sensibilität für die Natur. Zum Verhältnis von Geschmacksurteil und Interpretation in Kants Philosophie des Schönen, in: G. Schönrich, Y. Kato (Hgg.), Kant in der Diskussion der Moderne. Frankfurt/Main 1997, S. 506 ff. 79 Vgl. zu dieser Tradition, freilich mit der Tendenz, Kant gerade aus ihr auszuschließen: Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke Band 1. Tübingen 1996, S. 24 ff., insbesondere im Blick auf die konjekturale rhetorische Freilegung des ›Wahrähnlichen‹ (verisimile), die Ars inveniendi und den Rückgriff auf das griechische Kunstwort der ›koinonoemosyne‹, das bei Gadamer zu der Vermutung Anlass gibt, die Gemeinsinnstradition könne sich nicht auf die griechische Philosophie berufen, in ihr schwinge lediglich ein »stoischer Oberton« nach. Grundlegend hierzu wäre zu vergleichen: Aristoteles, De anima 424b22–425a13. 80 Dazu Aristoteles, De anima 425a12. 81 Vgl. dazu Rudolf Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneuti77 78

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und einer ›ästhetischen Vorgeschichte der Erkenntnis‹ sprechen, die sich nicht an zu bestimmenden Gegenständen, sondern nur im Urteilsvollzug zeigt, der in der Betätigung der reflektierenden Urteilskraft am schönen Gegenstand verweilen oder zu einem bestimmenden Erkenntnisurteil Anlass geben kann. Das Urteil über das Schöne, so deutet es schon eine Nachlassreflexion an, »erkennt nicht die Vernunft zum Richter, sondern zum Dolmetscher für die, welche die Sinnensprache nicht genug verstehen. Wir erkennen viel und die Vernunft setzt, was wir im Sentiment dachten, nur auseinander.« 82

3.

Deduktion der reinen ästhetischen Urteile und Gemeinsinn

Die Aufgabe der ›Deduktion der Geschmacksurteile‹, mit der seine Analytik des Schönen steht und fällt, gehört Kant zufolge einerseits unter »das allgemeine Problem der Transcendentalphilosophie« und das heißt unter die allbekannte Frage: »Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?« 83 Zugleich steht sie unter der spezifischen Voraussetzung des Geschmacksurteils als eines ›Einzelurteils‹, wonach die reine Urteilskraft in ästhetischen Urteilen »sich selbst subjectiv Gegenstand sowohl als Gesetz ist.« 84 Da eine Deduktion im Allgemeinen nur dann erforderlich ist, »wenn das Urtheil Anspruch auf Nothwendigkeit macht«, 85 besteht offensichtlich ein enger Bezug zwischen der Deduktion und dem vierten Moment des Geschmacksurteils, eben seiner Notwendigkeit. Dies mag den von Kant immer wieder geäußerten Eindruck einer Zirkularität der Deduktion bis zu einem gewissen Grad erklären; 86 und auch die Auffassung, sche Tragweite von Kants ›Kritik der Urteilskraft‹. Paderborn u. a. 1997, S. 198 ff., wo Makkreel in deutlicher Abweichung von Gadamers Situierung des kantischen sensus communis-Begriffs auf dessen Zusammenhang mit der rhetorisch humanistischen Tradition verweist. Ich trage dieser Problematik weiter oben unmittelbar im Rückgriff auf die ›koiné aisthesis‹ bei Aristoteles Rechnung. 82 Kant, Refl. 748, AA XV, S. 328. 83 Kant, AA V, S. 289. 84 Ibid., S. 288. 85 Ibid., S. 280. 86 Vgl. dazu unter anderem: Jens Kulenkampff, Vom Geschmacke als einer Art sensus communis.- Versuch einer Neubestimmung des Geschmacksurteils, in: A. Esser (Hg.), Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik. Berlin 1995, S. 25 ff., hier insbes. S. 36. Vgl. auch die Kritik von Menzer, Kants Ästhetik in ihrer

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dass die Deduktion keinen ›Fortschritt‹ gegenüber dem ›Schlüssel des Geschmacksurteils‹ erbringe und auf »eigentümliche Weise« hinter ihrer Aufgabe zurückbleibe, dürfte an diesem Punkt verankert sein. 87 Kant geht aber ausdrücklich davon aus, dass die ›Deduktion‹, (»d. i. Legitimation seiner Anmaßung«) »über die Exposition desselben (sc. des Geschmacksurteils) noch hinzukommen muss.« 88 Dieser zusätzliche Schritt besteht darin, dass im Geschmacksurteil Wohlgefallen oder Missfallen nur die »Form des Objektes« betreffen sollen. Die empirische Untersuchung bereitet Kant zufolge eine transzendentale Erörterung nur vor, die aus der inneren Natur des Geschmacks als nicht ›egoistisch‹, sondern notwendig ›pluralistisch‹ aber mit Notwendigkeit folgt. 89 Noch vor dem Beginn des Deduktionsganges wird daher, wie in einem sachlichen Vorgriff auf Gemeinsinn, festgehalten, dass der Geschmack Prinzipien a priori zugrunde liegen haben müsse, sonst »könnte er unmöglich die Urtheile anderer richten und über sie auch nur mit einigem Scheine des Rechts Billigungs- oder Verwerfungsaussprüche fällen.« Noch vor jeder Prüfung der einzelnen Argumentationsschritte ist indes einzusehen, dass die ›Deduktion‹ des Geschmackurteils auf die subjektiven Bedingungen des Vermögens zu urteilen selbst bezogen sein muss; und daher nicht der transzendentalen Deduktion der ersten Kritik folgen kann, der es lediglich auf die Urteilsinstanz des Verstandes ankommt, um erklären zu können »wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können« (vgl. KrV § 13). Dabei ist es gerade Sache der »Deduktion der Geschmacksurteile« sicherzustellen, dass »Wohlgefallen oder Missfallen« allein an der »Form des Objects« orientiert sind. Sie ist also von größter Bedeutung für die Gewinnung der ›Reinheit‹ des Geschmacksurteils, bei dem die Vorstellung der Form eines gegebenen Gegenstandes in einem Gefühl empfunden wird. 90 Entwicklung. Berlin 1952, S. 155 ff., der darauf verweist, dass die ›objektive Geltung‹ der Geschmacksurteile nicht abgelöst vom jeweiligen Gegenstand, also dem Einzelfall eines Urteils sei und die Deduktion aus diesem Grunde nicht befriedigen könne. 87 J. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt/Main 21994, S. 106 ff., insbesondere S. 111 f. 88 Kant, AA V, S. 279. 89 Ibid., S. 278. 90 Wie Stolzenberg, das freie Spiel der Erkenntniskräfte, a. a. O., darlegt, wird die ›Reinheit‹ des Geschmacksurteils in einer Reihe von jüngeren Arbeiten dadurch ver-

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Für die Methode der Deduktion ist es dabei Kant zufolge hinreichend, die Form der Geschmacksurteile mit jener der objektiven Urteile, wie sie die Logik vorschreibt, zu vergleichen. Dies soll ausdrücklich in einem reinen Form-Vergleich, also unter Absehung vom Inhalt des ästhetischen Urteils, dem Gefühl der Lust, geschehen. 91 Damit sind am Übergang von dessen ›Exposition‹ zu seiner ›Deduktion‹ die beiden Eigentümlichkeiten des Geschmacksurteils offen zu legen, die in der Analytik des Schönen stillschweigend schon in Anspruch genommen wurden. Die Aufgabe der Deduktion bringt Kant in die Formulierung: »Wie ist ein Urtheil möglich, das blos aus dem eigenen Gefühl der Lust an einem Gegenstande unabhängig von dessen Begriffe diese Lust, als der Vorstellung desselben Objects in jedem andern Subjecte anhängig, a priori, d. i. ohne fremde Beistimmung abwarten zu können, beurtheilte?« 92 Damit scheint der Gemeinsinn, der im Zuge der Deduktion ans Licht kommen soll, schon ›vorausgesetzt‹ zu sein. Dennoch dürfte sich der (suggestive) Eindruck, an dieser Stelle in einen Circulus vitiosus zu geraten, bei genauerer Prüfung kaum halten lassen. Denn in der Deduktion soll aufgrund der Rückführung auf die bloße Form des Geschmacksurteils ausschließlich die »Allgemeingültigkeit dieser Lust, die mit der bloßen Beurtheilung eines Gegenstandes im Gemühte als verbunden wahrgenommen wird« 93, erwiesen werden. Nicht erwiesen wird hingegen eine inhaltliche Gleichheit in der Verwendung des Prädikates ›ist schön‹ : setzte diese doch eine begrifflich bestimmte Quantität des Urteils voraus, die im Geschmacksurteil aufgrund seiner Eigenheit gerade ausgeschlossen ist. Zirkulär wäre also eine Argumentation der Art: »Der Gemeinsinn, der selbst nur behauptet ist, hilft die Allgemeinheit des Schönheitsurteils, die zunächst nur vermutet wird, begründen.« 94 Zum fehlt, dass sie auf begriffliche Bestimmungen des Gegenstandes zurückbezogen wird. Dieser Tendenz unterliegen mit unterschiedlichen Argumentationen u. a. Kulemkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, a. a. O. und Chr. Fricke, Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Berlin, New York 1990, aber auch D. Henrich, Aesthetic Judgment and the moral image of the world. Stanford 1992. 91 Kant, AA V, S. 281. 92 Ibid., S. 288. 93 Ibid., S. 289. 94 Vgl. Wilhelm Vossenkuhl, Die Norm des Gemeinsinns. Über die Modalität des Geschmacksurteils, in: Esser, Autonomie der Kunst?, a. a. O., S. 99 ff., insbes. S. 104.

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anderen soll in der Deduktion nicht die Behauptung legitimiert werden, es könne einen Übergang zwischen dem urteilenden Selbstgefühl eines Subjekts zu dem Selbstgefühl anderer geben. Im Sinn einer treffenden Formulierung von Wilhelm Vossenkuhl besteht die spezifische Ambition der Deduktion gerade darin, das empirische Problem einer Erkenntnis des Fremdpsychischen auszuschließen. 95 Aufgrund der strukturellen Besonderheit des Geschmacksurteils, »sich selbst subjectiv Gegenstand sowohl als Gesetz« zu sein, 96 legt es sich aber nahe, dass gemäß der Deduktion »diese Lust als Gegenstand und Bestimmungsgrund einer Beurteilung zugleich« fungieren soll. 97 In der zweiten Vorrede zur dritten Kritik nannte Kant die unmittelbare »Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust« 98 das Rätselhafte in dem Prinzip der Urteilskraft. Die ›Deduktion‹ macht diese Dunkelheit explizit, indem sie als grundlegende Eigenschaft des Geschmacksurteils dies erkennt, dass es sich selbst normiert, sich ein Maß gibt, indem es sich in seiner Einzelheit als ein Allgemeines setzt. Dabei folgt Kant der Methodenanleitung, von den beiden einander diametral entgegengesetzten ›Eigentümlichkeiten‹ des Geschmackurteils auszugehen: 99 seinem Anspruch auf jedermanns Beistimmung, als wäre es objektiv, 100 und der Eigenschaft »gar nicht durch Beweisgründe bestimmbar« zu sein, »gleich als ob es bloß subjectiv wäre«. 101 Der eigentlich einschlägige sehr knappe, ›Deduktion der Geschmacksurteile‹ (§ 38) überschriebene Paragraph trägt dieser doppelten Eigentümlichkeit Rechnung, indem er »dasjenige Subjektive, welches man in allen Menschen (als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich) voraussetzen kann« aufsucht. 102 Die in Parenthese gesetzte Universalisierung verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn sie zeigt an, dass die Deduktion auf die ›Vorgeschichte‹ aller Erkenntnis und nicht nur auf das Schönheitsurteil bezogen ist – gemäß der schon etwas früher (in § 35) getroffenen Feststellung, dass das Prinzip des Geschmacks das subjekVossenkuhl, in: Esser, S. 104 f. Kant, AA V, S. 288. 97 Wolfgang Wieland, Urteilskraft und Vernunft, a. a. O., S. 280. 98 Kant, AA V, S. 169. 99 Vgl. KU §§ 32 ff. 100 Kant, AA V, S. 282 f. 101 Ibid., S. 284. 102 Ibid., S. 290. 95 96

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tive Prinzip der Urteilskraft überhaupt ist, 103 also »dasjenige Subjective, welches man in allen Menschen (als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich) voraussetzen kann«. 104 Die Deduktion der Geschmacksurteile greift damit auf die »subjektive Bedingung […] der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt« zurück. 105 »Urteilskraft überhaupt« ist »weder auf die besondere Sinnesart, noch einen besondern Verstandesbegriff eingeschränkt«. Kant nennt jene Deduktion ›leicht‹, weil sie, anders als die Deduktionen der beiden ersten Kritiken, nicht die objektive Realität eines Begriffes zu rechtfertigen hat. Sie hat vielmehr nur zu zeigen, dass das Geschmacksurteil ein Einzelurteil von allgemeiner Struktur ist, das der moralisch und a priori urteilenden Vernunft in ihrem Urteilsvollzug stets zugrunde liegt, wobei ihr dies zumeist nicht auffällig wird.

4.

Gemeinsinn und Metaphysik der Moral

1.) In der »Deduktion der Geschmacksurteile« (KU § 38) wird auf die rein formale Struktur des Gemeinsinns Bezug genommen, ohne dass dieser namentlich genannt würde. Dies ist folgerichtig, denn vom Gefühl wird in Konzentration auf die »bloß logische Form« der Geschmacksurteile abgesehen. 106 Es ist dem § 40 vorbehalten, den Geschmack als »eine Art von sensus communis« zu charakterisieren, wobei die uns bereits bekannte Abgrenzung zwischen ›sensus communis‹ und gemeiner Menschenvernunft wiederholt wird. 107 Kant hält fest, dass es nicht gerechtfertigt, obgleich gebräuchlich sei, den ›sensus communis‹ 108 mit einem Wahrnehmungssinn gleichzusetIbid., S. 286. Ibid., S. 290. 105 Ibid., S. 212. 106 Ibid., S. 281 und S. 289. 107 Ibid., S. 293. Dass der gemeine Menschenverstand als Gemeinsinn prädiziert werde, habe seinen Grund darin, »dass man unter dem Worte g e m e i n (nicht bloß in unserer Sprache, die hierin wirklich eine Zweideutigkeit enthält, sondern auch in mancher andern) so viel als das vulgare, was man allenthalben antrifft, versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder Vorzug ist« (ibid., S. 293). 108 Wenig später, S. 295, in einer Anmerkung, wird er zur Abgrenzung vom gemeinen Menschenverstand, den Kant dann als ›sensus communis logicus‹ bezeichnet, als ›sensus communis aestheticus‹ begriffen. Die Schärfe der Unterscheidung wird dadurch 103 104

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zen. Er sei aber vielmehr ein »Beurteilungsvermögen«, das in einer nicht durch Regeln gebundenen Reflexion sein eigenes Urteil »gleichsam« (und auf der Indizierung dieses ›gleichsam‹ liegt der Akzent!) an die »gesamte Menschenvernunft« hält. Mit dem Wort ›Sinn‹ wird die »Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt« bezeichnet. Der sensus communis ist also mit Kants Ausdruck als ›Operation der Reflexion‹ 109 zu umschreiben, wobei im Reflexionsvollzug von der Materie des Vorstellungszustandes, die mit der Empfindung gleichgesetzt wird, abstrahiert werden kann. Man darf annehmen, dass erst in der Betätigung des Geschmacks »als einer Art von sensus communis« im Urteilsvollzug sich Klarheit darüber einstellt, ob ›richtig subsummiert‹ wurde, ob also überhaupt ein reines Geschmacksurteil vorliegt. 2.) Es verdient nun Aufmerksamkeit, dass der »Geschmack als eine Art von sensus communis« gekennzeichnet wird. Wenn er als eine Art (im Sinne von »Spezies«) neben anderen fungiert, so ist die Frage zu stellen, was weitere Spezies des ›sensus communis‹ sein könnten. Auf die Linie einer mehrfachen Bedeutung des ›sensus communis‹ deutet schon eine frühere Erwägung hin, in der Kant darauf verweist, dass »ich mein Geschmacksurtheil hier als ein Beispiel« vom Urteil des Gemeinsinns abgebe. 110 Wenig später werden in dem in Rede stehenden Argumentationskontext drei »Maximen des gemeinen Menschenverstandes« aufgestellt, 111 die »nicht hieher [gehören], als Theile der Geschmackskritik«. Es handelt sich um die Maxime der vorurteilsfreien Denkart, also das Selbstdenken, dann um die Maxime der erweiterten Denkart, an der Stelle jedes anderen zu denken, und schließlich um die Maxime der konsequenten Denkungsart, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. Im Anschluss an diese Einschaltung abgemildert, dass, wie auf S. 293 festgehalten wird, auch dem »gemeinen und gesunden Verstande, den man bei jedermann voraussetzen darf,« die Proportion des Erkenntnisvermögens im Geschmack erforderlich ist. In diesen Zusammenhang gehört es auch, dass Kant die Erwägung anstellt, ob die deduzierte ›Reflexion‹ der Urteilskraft vielleicht doch eine allzu künstliche Operation sei, um einem Vermögen, das als ›gemeiner Sinn‹ gilt, beigelegt werden zu können (ibid., S. 294). 109 Ibid., S. 294. 110 Ibid., S. 239. 111 Ibid., S. 294.

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weist Kant darauf hin, dass sie den Charakter einer ›Episode‹ habe (griech. epeisodios: von außen hinzukommend, eingeschoben), wodurch die drei genannten Maximen vom Hauptstrang der Argumentation abgegrenzt werden, zumal in Anschluss an die ›Episode‹ ausdrücklich darauf verwiesen wird, dass nun der ›Faden‹ (nämlich der Leitfaden der Unterscheidung des ›sensus communis‹ vom gemeinen Menschenverstand) wiederaufgenommen würde. 112 Schon aus einem grundsätzlichen systematischen Grund würden Maximen des »gemeinen Menschenverstandes« offensichtlich missverstanden, wenn sie als integraler Bestandteil des Geschmacksurteils gedeutet würden: Ist doch dieser gemeine Menschenverstand nicht das Vermögen reflektierender Urteilskraft. 113 Gleichwohl ist die Episode auf subtile Weise in den Argumentationsgang verschränkt. Sie tritt in eine Spannung zur rein formalen Regelstruktur der Geschmackskritik und kann auf diese Weise plausibel machen, dass neben dem ›Geschmack‹ als »einer Art« (i. S. von Spezies) tatsächlich andere Arten des ›sensus communis‹ denkbar sind. Daraus lässt sich ein erster Hinweis auf die systembildende Rolle des sensus communis gewinnen, namentlich auf den Zusammenhang von ästhetischer Urteilskraft und Moral. Die drei Maximen ihrerseits geben gemäß ihrer Situierung in einer ›Episode‹, nicht die Regeln an, wie das ästhetische Urteil gebildet werden soll. Der Rückgriff auf Maximen legt aber nahe, dass jedes Reflexionsurteil, dem alle möglichen Arten des ›sensus communis‹ zugehören müssten, ›gleichsam‹ Handlungscharakter hat, weshalb es ›gleichsam‹ Maximen befolgt. 114 Episode und ›Haupttext‹ 115 sind so aufeinander bezogen, dass das »sich an die Stelle jedes anderen«-Versetzen der Maxime auf die vorentworfene Urteilsform des Gemeinsinns abgebildet werden kann: Diese wird in einem Abschnitt unmittelbar vor Beginn der ›Episode‹ dadurch ausgezeichnet, dass von der Materie des Vorstellungszustandes abstrahiert wird und lediglich die »formalen Eigenthümlichkeiten« der Vorstellung und des Vorstellungszustandes beIbid., S. 295. Vgl. dazu B. Recki, Ästhetik der Sitten, a. a. O., S. 117 ff. 114 Diese ›gleichnisweise‹, analogische Beziehung soll hier auch über Reckis wichtige Hinweise hinausgehend besonders betont werden. Sie ist im Blick auf die für die Tektonik der Urteilskraft zentrale Bestimmung des Schönen als eines Symbols des Sittlichen, KU § 59 von besonderem Belang. 115 M. E. wird diese bei Recki zu wenig berücksichtigt. 112 113

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achtet werden sollen, was zugleich bedeutet, von den Zufälligkeiten des eigenen Urteils abzusehen und das eigene Urteil an die möglichen Urteile anderer zu halten, nicht an ihrerseits durch Kontingenz limitierte etwaige faktische Urteile. 116 Es ist der Zusammenhang zwischen dem ›Leitfaden‹, der darlegt, dass der Geschmack mit mehr Recht als ›sensus communis‹ benannt werden kann als der ›gesunde Verstand‹, und der ›Episode‹, worin sich die innere Verfassung des ›sensus communis‹ als einer ›Operation der Reflexion‹ weiter aufklärt: Im Urteilsvollzug profiliert sich eine Art von doppelter Stimmenführung, als ein Selbstgespräch und als innere Zwiesprache, in der die ›exemplarisch notwendige‹ Form des Geschmacksurteils begründet ist. Ihr zufolge kann »das in demselben (sc. im Geschmack) ausgedrückte Wohlgefallen an einem Object für jedermann mit Recht zur Regel« gemacht werden. 117 Da der sensus communis die allgemeine Beistimmung in Hinsicht auf das Gefühl von Lust und Unlust legitimieren können soll, das auf den ersten Blick die Urteilenden doch aufs Schärfste voneinander zu isolieren scheint, ist er als eine Übereinstimmung im gefühlten Bewusstsein der Urteilskraft zu kennzeichnen. 118 Er bleibt als Selbstverhältnis (Selbstgefühl) ausschließlich auf das »Gefühl der Lust und Unlust« bezogen, mit dem »gar nichts im Objecte bezeichnet wird«, sondern in dem einzig das Subjekt, »wie es durch die Vorstellung afficirt wird, sich selbst fühlt.« 119 In der ›Episode‹ wird, wie schon Birgit Recki bemerkt hat, »eine Erweiterung und Präzisierung des Reflexionsbegriffs, des Umfangs und der allgemeinen Relevanz reflektierender Urteilskraft« dargelegt, die insbesondere auf die moralisch urteilende Vernunft zielt. 120 Dies stellt unter anderem Gadamers Einwand in Frage, dass der Charakter des Sittengesetzes »die vergleichende Reflexion auf andere grundsätzlich« ausschließt (womit auch die Auffassung fragKant, AA V, S. 294. Ibid., S. 239. 118 Vom ›Prinzip der Kommunikation‹ spricht F. Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis bei Kant. Würzburg 1984, S. 143; vgl. auch Früchtl, Von der Mitteilbarkeit des Nichtmitteilbaren, in: Ästhetische Reflexion und kommunikative Vernunft. Bad Homburg 1993, S. 54 ff. sowie L. Wingert, Gemeinsinn und Moral. Grundzüge einer intersubjektivistischen Moralkonzeption. Frankfurt/Main 1993. 119 Kant, AA V, S. 204. 120 Recki, a. a. O., S. 124. 116 117

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lich wird, dass Kant den Begriff des Gemeinsinns im Zusammenhang einer ›Subjektivierung der Ästhetik‹ auf das Geschmacksurteil ›verengt‹ habe). 121 Der in der ›Episode‹ angezeigte Handlungscharakter der Reflexion darf dabei im Kontext durchaus als vorbereitender Hinweis auf die Erläuterung von Schönheit als Symbol der Sittlichkeit verstanden werden. 122 Wenn sie auf ihren eigenen Handlungscharakter befragt wird, so zeigt sich, dass die dem Sittengesetz verpflichtete Maximenprüfung ihrerseits der Maxime folgt, dass das Urteil ›gleichsam an die gesamte Menschenvernunft‹ gehalten werde. Diese Überlegungen gehören in den Zusammenhang der Frage, wie kategorische Imperative die Urteilskraft so orientieren können, dass deren Autonomie in einen die Moral selbst erst etablierenden Vollzug überführt wird. In einigen ›Bemerkungen‹ im Umkreis der ›Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‹ hat Kant den inneren Bezug des Sittengesetzes zur gemeinsinnigen Reflexion ausdrücklich skizziert und davon gesprochen, dass es zur Moralität gehöre, »Stationes zu machen«, also Reflexionen (Erörterungen) einzuschalten. »Erstlich im Urtheil andrer über die That […] zweytens im (Urtheil) der Empfindungen andrer […] damit man ihre Noth oder ihr Glück empfinde«; 123 und dabei »betrachtet sich der Mensch zugleich in consensu mit dem allgemeinen Willen.« 124 In der ›Anthropologie‹ findet sich sodann eine Verschränkung zwischen Geschmackskritik und Moralität, die in dieser unmittelbaren Verknüpfung nicht in die dritte Kritik eingegangen ist, die aber doch der Überlegung wert ist: nämlich in der Aussage, man könnte »den Geschmack Moralität in der äußeren Erscheinung nennen.« 125 Kant fügt hinzu, dass der ideale Geschmack »eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität« habe. 126

121 122 123 124 125 126

Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 40 ff. Vgl. KU § 59, AA V, S. 351–54. Kant, Bemerkung 120. Kant, Bemerkung 109. AA V, S. 244. AA VII, S. 244.

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5.

Gemeinsinn und subjektive Zweckmäßigkeit

Kants Identifikation des Geschmacks mit »einer Art von sensus communis« 127 könnte schließlich ein Indiz dafür sein, dass die im Zusammenhang der ästhetischen Urteilskraft in Anspruch genommene Gemeinsinnigkeit auch für die teleologischen Urteile Geltung beanspruchen dürfte. Ein, wenngleich nur indirekter Hinweis dafür, dass jene Vermutung zutrifft, kann der Bemerkung entnommen werden, wonach ein Zusammenhang zwischen dem Schönen der Natur und ihrer Zweckmäßigkeit angenommen werden kann, während die »Ideen des Erhabenen« von jenem Konnex ›ganz abgetrennt‹ sein sollen. 128 Am Ende der Anmerkung zur »Deduktion« der Geschmacksurteile (§ 38) wird die Linie in die teleologische Urteilskraft direkt ausgezogen. Wenn die Frage gestellt würde: »Wie ist es möglich, die Natur als einen Inbegriff von Gegenständen des Geschmacks a priori anzunehmen?« 129 so müsste als der ihrem Begriff mit Notwendigkeit sich anschließende ›Zweck der Natur‹ aufgefasst werden, »für unsere Urteilskraft zweckmäßige Formen aufzustellen«. Grundlegend für die damit skizzierte Frage ist die »Auflösung der Antinomie des Geschmacks« (KU § 57) in der ›Dialektik der ästhetischen Urteilskraft‹, in der der Gemeinsinn tatsächlich mit der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur verbunden wird. Die Thesis dieser Antinomie besagt: »Das Geschmacksurtheil gründet sich nicht auf Begriffen, denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweise entscheiden)« und die Antithesis: »Das Geschmacksurtheil gründet sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich ungeachtet der Verschiedenheit desselben darüber auch nicht einmal streiten (auf die nothwendige Einstimmung anderer mit diesem Urtheile Anspruch machen«). 130 Indem Kant in der Auflösung der Antinomie festhält, dass dem Geschmacksurteil ein Begriff zugrunde liegen müsse, da anders sein »Anspruch […] auf allgemeine Gültigkeit nicht zu retten« wäre, 131 scheint die Leistung der Deduktion eingeschränkt zu

127 128 129 130 131

Recki, a. a. O., S. 119. Kant, AA V, S. 246. Ibid., S. 209. Ibid., S. 338 f. Ibid., S. 340.

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sein. Möglicherweise ist das begriffslose apriorische Prinzip der Urteilskraft damit selbst in Frage gestellt. Dies ist aber nur scheinbar der Fall. Die Auflösung der Antinomie zeigt nämlich, dass das Geschmacksurteil tatsächlich nur die Anwendung eines Prinzips, eben des in Rede stehenden, nicht bestimmten Begriffes, ist. Er ist als jenes »höhere Princip der Vernunft« zu erkennen, das »es uns zum regulativen Princip mache, allererst einen Gemeinsinn zu höheren Zwecken in uns hervorzubringen.« 132 Wenn man, um hier klarer zu sehen, die Antinomie des Geschmacks und ihre Auflösung näher in den Blick nimmt, so zeigt sich, dass die Leistung des Gemeinsinns als einer Operation der Reflexion auf die Möglichkeit zum Streit eingeschränkt wird (»auf die nothwendige Einstimmung anderer mit diesem Urtheile Anspruch machen«). Die Auflösung der Antinomie scheint also nur eine Minimalbedingung zu begründen, die einem jeden Streit um Fragen des Geschmacks zugrunde liegt: dass die beiden »dem Scheine nach widerstreitende(n) Sätze einander in der That nicht widersprechen, sondern neben einander bestehen können.« Dabei aber muss dem Geschmacksurteil ein Begriff zugrundegelegt werden, der sich nicht »durch Anschauung bestimmen« lässt und durch den sich auch nichts Bestimmtes an dem Gegenstand erkennen lässt. »Ein dergleichen Begriff aber ist der bloße reine Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, was dem Gegenstande und auch dem urtheilenden Subjecte als Sinnenobjecte, mithin als Erscheinung zum Grunde liegt.« 133 Der zugrundeliegende ›Begriff‹ wird dann in einer Argumentation weiter erörtert, die dreierlei leistet: sie bindet die Reflexion des Gemeinsinns an den bestimmungslosen Begriff, identifiziert diesen mit der ›subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur‹ und legt die Verknüpfung von unbestimmtem ›Begriff‹ und seiner allgemeinen Gültigkeit offen, indem sie den Bestimmungsgrund jenes Begriffes – wenngleich nur ›hypothetisch‹ (»vielleicht«) – aufweist. »Das Geschmacksurteil gründet sich auf einem Begriffe (eines Grundes überhaupt von der subjectiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft), aus dem aber nichts in Ansehung des Objekts erkannt und bewiesen werden kann, weil er an sich unbestimmbar und zum 132 133

Ibid. Ibid.

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Erkenntniss untauglich ist; es bekommt aber durch eben denselben doch zugleich Gültigkeit für jedermann (bei jedem zwar als einzelnes, die Anschauung unmittelbar begleitendes Urteil): weil der Bestimmungsgrund derselben vielleicht im Begriffe von demjenigen liegt, was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann«. 134 Mit der letztgenannten Erwägung wird die abschließende Hauptfrage der Philosophie nach der Bestimmung des Menschen in den Überlegungszusammenhang eingeführt. Höchst aufschlussreich ist vor diesem Hintergrund die Exemplifizierung des Überganges vom Kunst- zum Naturschönen in der dritten Kritik: Kant spricht davon, dass zumindest in einer kultivierten Gesellschaft der Mann Achtung verdiente, der den Bildersaal im städtischen Museum verlässt und sich dem Schönen der Natur zuwendet. Grund für die Achtung ist die Weckung eines »unmittelbaren Interesses«, das sich dadurch einstellt, »dass die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat.« 135 Denn die Spontaneität natürlicher Erzeugungen ist Kant zufolge, auch wenn Kunstprodukte eine höhere Differenziertheit an den Tag legen können, schlechterdings nicht zu übertreffen, da sich der Betrachter an den Kunstprodukten der Herkunft aus einem gemeinsamen Stamm mit der Natur als der ›übersinnlichen Bestimmung‹ seiner (ersten) Natur selbst inne wird. Dies deutet auf Kants grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem ›letzten Zweck der Natur‹ und dem ›Endzweck der Schöpfung‹ voraus, die beider Konvergenz in der Leibniz- Wolffischen Tradition grundsätzlich in Frage stellt. In Rückgriff auf die ›Zweckhaftigkeit ohne Zweck‹ im ästhetischen Urteil wird festgehalten, dass das, was »etwa noch für die Natur ein letzter Zweck sein könnte […], doch als Naturding niemals Endzweck sein könne.« 136 In § 84 der dritten Kritik entfaltet Kant schließlich die Anforderung an einen ›Endzweck des Daseins der Welt‹ dahingehend, dass dieser von einer Art sein müsse, dass »er in der Ordnung der Zwecke von keiner anderweitigen Bedingung als bloß seiner Idee abhängig ist.« 137 Die Struktureigentümlichkeit des Geschmacksurteils, »sich selbst subjectiv Gegenstand sowohl als Gesetz« zu sein, kehrt hier 134 135 136 137

Ibid. Ibid., S. 299. KU § 82, ibid., S. 426. Ibid., S. 435.

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6 · Geschmack und der spielende Homo humanus

vor einem transzendental-anthropologischen Horizont wieder. Dessen Gesichtskreis verweist auf den Abschlussbegriff von einem Endzweck als »demjenige(n) Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf.« 138 Kant fasst den Menschen als dieses ›Ding‹ auf, das als Vernunftwesen (homo noumenon) ein in der sinnlichen Welt unbekanntes Wesen bleibt und folglich nur aus der ›Idee seiner eigenen Gesetzgebung‹, also indem er sich aus dem Gesichtspunkt der Freiheit bestimmt, erkannt werden kann. Darin kann man eine vereinigende tektonische Leistung an ihr Ziel kommen sehen, in der nicht nur das Gewebe der ›Kritik der Urteilskraft‹ zu einer Einheit verknüpft ist, 139 sondern kraft deren die Urteilskraft geeignet ist, reine theoretische und praktische Vernunft zu verbinden. Sie hängt aber, wie sich am Ende zeigt, wesentlich von der spezifischen Reflexionsform des ›sensus communis‹ ab, die anzeigt, dass sich der Geschmack »seiner Aktivität im Modus eines Gefühls bewusst wird«. 140 Insofern ist das Gefühl des Gemeinsinns als Bewusstsein der Urteilskraft zu begreifen; und es zeigt sich zugleich, dass die Urteilskraft selbst weder einen aktiven noch passiven, sondern einen medialen Grundsinn hat. Sie ›lässt‹ gleichsam urteilen, ohne willkürlich beherrschbar zu sein. Dass Kant mit dem Gemeinsinn ein transzendentalanthropologisches Bewusstsein in den Blick zu fassen sucht, das die Urteilskraft in ihrem Vollzug begleiten soll, artikuliert sich auch in dem Brief, den er am 16. August 1783 an Moses Mendelssohn richtete. Er hält dort zuerst fest, dass alle »mögliche speculative Erkenntnis a priori« nicht weiter reiche »als auf Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nur mit dem Vorbehalte, dass dieses Feld möglicher Erfahrung nicht alle Dinge an sich befasse, folglich allerdings noch andere Gegenstände übrig lasse, ja so gar als nothwendig voraussetze, ohne dass es uns doch möglich wäre von ihnen das mindeste bestimmt zu erkennen.« 141 »Wären wir erst soweit«, dies einsehen zu können, so fügt Kant hinzu, »so würde sich die Auflösung, darin sich die VerIbid., S. 343. Wie sich dieser Einheitssinn zu den Bemühungen um System und Abschlussgedanke im ›Opus postumum‹ verhält, zeigt G. Lehmann, Kants Nachlasswerk und die Kritik der Urteilskraft, in: ders., Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants. Berlin 1969, S. 295 ff. 140 Wieland, Urteil und Gefühl, a. a. O., S. 287. 141 Kant, AA X, S. 346. 138 139

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nunft selbst verwickelt, wenn sie über alle Grenze möglicher Erfahrung hinauszugehen versucht, von selbst geben«. Und er nimmt das Bild vom »sicheren Leitfaden« auf, an dem entlang man »in einem Labyrinthe herum [… spazieren] könne«, »darin man sich alle Augenblicke verwirrt und eben so oft den Ausgang findet.« 142 Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ ist, so hielten wir eingangs fest, keineswegs im Sinn der späteren großen klassischen Syteme eine Ästhetik. Sie exponiert vielmehr jenen Zustand reinster Humanität, der durch das interesselose Wohlgefallen befördert werden soll. Mithin greift die landläufig verbreitete Auffassung zu kurz, dass Kants Ästhetik den Beginn eines modernen Subjektivismus im Geschmacks-, d. h. Schönheitsurteil bedeute und Schönheit demnach im Auge des Betrachters liege. Letztlich wäre dann das philosophische Sprechen über Schönheit nicht mehr möglich. Man verfinge sich vielmehr in einer der von Kant exponierten ästhetischen Antinomien. Wenn es aber den Gemeinsinn als Begleiter des Urteils gibt, dann ist für die Objektivität ein neuer Grund gewonnen. Es ist die Gemeinsinnigkeit, in eins mit dem Darstellungsproblem, die, sich weitgehend von den Vorbildern der englischen Moralphilosophie ablösend, in der nachkantischen Philosophie in Kunst und Kunstwerk die Einheit der Vernunft, die Identität des Absoluten, sucht. Es geht bei Kant mithin auch nicht darum, vom Objekt des Schönen abzusehen, sondern in einen freien Umgang der Erkenntniskräfte (Einbildungskraft und Verstand) zu führen.

142

Ibid.

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EXKURS:

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1.) Die kantische ›Kritik der Urteilskraft‹ ist nicht an den großen Kunstwerken orientiert, sondern eher an der Formung der Humanität durch das Schöne: an Mustern, Tapeten, an denen sich das Wechselspiel von Einheit und Vielheit in seiner Weise zeigt. Und auch musikalisch ist es eher der ornamenthafte Anfang von RokokoKunst und Tafelmusik als die Erhabenheit Bachs, die ihm exemplarisch zu Gebote steht. Das Widerspiel zwischen Natur und Kunst, wie man es im 18. Jahrhundert in Landschafts- und Gartenarchitektur liebte, ist der Humanisierungskonzeption der dritten Kritik tatsächlich kongenial. Dieser Exkurs geht von einem bevorzugten Muster aus, der Verwandlung von Natur in Kultur in der neuzeitlichen Gartenkunst. Er muss allerdings mit längeren Geschichtsräumen spielen und er muss große Traditionen berühren. Denn schon in römischer Zeit ist der Garten Erweiterung des Hauses und Verbindung zwischen dem Haus und der Welt. Der Garten gilt als Modell eines Ortes, den es in der endlichen, für die Christen später: der gefallenen Welt eigentlich nicht mehr geben darf. Wenn schon altägyptische Gärten mit dem Symbol der Lotosblüte verbunden wurden, so war damit die Signatur eines nicht-vergehenden Lebens verbunden. Jüdisch-christlich knüpft sich dies an die Erwartung des unvergänglichen Paradieses. Dass die Kräfte und das Wachstum der Natur selbst aus dem Bereich der Natur in die Sphäre der Kunst hinüber verweisen, hat, nachdem die Römer eher handfeste Hinweise auf die Nutzbarkeit des Ertrags gaben, Albertus Magnus angedeutet: »Es gibt gewisse Plätze, die weniger dem Nutzen und reichen Fruchtertrag bestimmt sind als dem Vergnügen.« 1 Er nennt sie zur Abgrenzung und Kenn1

Hier zit. nach: E. Kluckert, Gartenkunst in Europa. Von der Antike bis zur Gegen-

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zeichnung deshalb auch ›Viridantia‹. Hier erweitert sich die Formensprache des Gartens hin zum Liebes- und Lustgarten, aber auch zum Paradiesgärtlein, das die heilige Familie beherbergt. Diese Gartentopik wird vielfach variiert und erweitert. Der Handel mit den Gewürzen und Kräutern der Levante bot dazu Anlässe und Möglichkeiten. Die Zweckfreiheit des Gartens und das Widerspiel von Natur und Kunst werden in den Gartentheorien der Renaissance zum Schlüssel für das Verständnis der Gartenkunst. So schreibt Leon Battista Alberti, der uomo universale der Renaissance, vom Ideal eines Schlupfwinkels und Rückzugsorts, der tunlichst in der Nähe der Stadt gelegen sein solle und wohin man sich zurückziehen könne, um zu tun, was man wolle. Alberti sah in der Gartenkunst die Lebenskunst der Muße, des ›otium‹. Auf die Frage hin, was er dort im Garten tue, antwortet er: »Nur wenig. Frühstücken, trinken und singen, spielen, baden und essen. Ruhen, lesen sodann. Ab und zu neck’ ich die Musen.« 2 Zypressen, von Efeu umrankt, das Widerspiel zwischen streng geometrischen Anlagen und dem freien Spiel der Äste und Blätter, dazu ein Baumbestand, der nach dem Fünfauge (Quincunx) geordnet sein sollte, bestimmt die Gartenstruktur. Dass man in den Garten die Überfülle von Welt hineinholen will, motiviert zu immer neuen Gartenanlagen. Treffend bemerkte Erasmus von Rotterdam dazu: »Wozu uns die Mittel fehlen, das ersetzen wir durch Kunst.« 3 Die seltenen und edlen Tiere und Pflanzen, denen man nicht habhaft werden kann, sollen durch bildliche Darstellungen kompensiert werden. Es war Francesco Colonna, der die Anlage des Renaissance-Gartens maßgeblich und epochemachend prägte. Er sah eine Aufgliederung des Gartens in drei Zonen vor: Waldring, Wiesenring und das Parterre, mit den pittoresk geschnittenen Buchsbäumen, die auf ganz Europa eine faszinierende Wirkung ausübten. An den Schnittpunkten jener Achsen markieren Pavillons die Übergänge. Von den Hauptachsen abgetrennt existierte der ›giardino segreto‹, der geheime Garten als Rückzugsrefugium des Hausherrn. In seiner Son-

wart. Köln 2005, S. 27. Den hervorragenden Texten und Überlegungen dieses Bandes bin ich in der Darstellung der nächsten Seiten sehr verpflichtet. 2 Nach Kluckert, a. a. O., S. 40. 3 Wiederum zit. nach Kluckert, a. a. O., S. 42. Vgl. auch C. A. Wimmer, Geschichte der Gartentheorie. Darmstadt 1989.

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derung von den übrigen weitläufigen Parkanlagen entspricht er dem mittelalterlichen ›hortus conclusus‹. Oftmals liegt er in der Nähe des Schlafzimmers. Er kann auch wie eine Insel angelegt sein, mit weitem, mitunter spektakulärem Ausblick auf ausgedehnte Landschaften. Mit dem geheimen Garten verbanden sich die Visionen vom edlen Tier, dem Einhorn, aber auch dem Jungbrunnen und der Lust des gemeinsamen Badens. Vielfältig ist die Realität solcher Gärten variiert und ästhetisch durch Brunnen mit Flussgöttern und mythologischen Arabesken erweitert worden, die im Lichtspiel der Bäume und unter den Schichten der Moose selbst wieder zu Naturmächten werden. Auch die französischen Gärten orientierten sich an diesem Vorbild. Oftmals sind sie von Wasserflächen und von traumhaften Inseln durchzogen. Dabei werden Blickachsen herausgearbeitet, die Kreuzsymbolik und die geometrische Struktur der Rabatten und Beete. A.-J. Dézallier d’Argenville hat der Übergeometrisierung französischer Gärten ein Antidotum entgegengesetzt. Er wiederholt den schönen Gartentopos, dass Gärten einzig und allein dem Vergnügen dienen sollten. Sie sind die Orte des Spiels, der Muse (scholé) und damit des freien zwang- und zwecklosen Umgangs. Die Kunst dient der Natur; nicht umgekehrt. Natur wird gleichsam in der idealtypischen Formung des Gartens herauspräpariert. Fächerförmige Alleen, die Entenfüße (pattes d’oies), durchbrechen die geometrische Struktur und begrenzen die verschiedenen Parterres und Maueröffnungen, die d’Argenville ›Ahas‹ nennt, nach dem Erstaunen, das sie hervorrufen sollen. Sie liegen »ohne Gitter auf der Ebene der Alleen […] mit einem breiten und tiefen Graben darunter und auf beiden Seiten gemauert […].« 4 Sie lassen den Blick freier, als Gitterstangen es täten. Der Schlossgarten von Versailles bietet mit seinen AhaMauern eine besonders weiträumige Anschauung dieser Verfahrensweise. Die neue Natürlichkeit führt dazu, dass d’Argenville von großen Treppenanlagen und besonders üppigem Brunnenschmuck Abstand zu nehmen rät. Er legt seine Gartenkonzeption indessen in durchaus bewusster Kompositorik an: Lust-Wald (Bousket) und Blumen-Stücke (Beetkompartimente) sollten einander wie in einer systematischen Kontapunktik entsprechen. Sie sollten einander ent4

Nach Kluckert, a. a. O., S. 228 f.

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gegengesetzt sein und das Gebilde durchziehen, was in Musterplänen der ›Bibel der Gartenbaukunst‹, die dem Werk beigegeben waren, weiter illustriert wurde. D’Argenvilles Gartentheorie machte für längere Zeit Schule. Anders war es mit der Theorie des Englischen Gartens. Sie ging den Phänomenen in der Regel nicht voraus, sondern beschrieb sie nachträglich. Thomas Whatley hat erstmals in seinem fundamentalen Werk ›Observations on Modern Gardening‹ (1770) die Analogie zwischen Gartenkunst und Landschaftsmalerei gezogen. 5 Erstere sei der Letzteren überlegen wie das Original der Kopie. Der Garten kann Landschaft in einer besonders inventiven Weise abbilden. Dabei formt er seinerseits auch die Natur. Er ist die intensivste und plastischste Form der Landschaftsmalerei. Von ihr ist mehr als einzelne Motive eine Haltung zu übernehmen: nämlich, dass auch die Gartenkunst der Inspiration bedarf, nicht einfach Handwerk ist. Stephen Switzer, der seinen eigenen Idealgarten noch im strengsten geometrischen Maßstab an der französischen Geometrie ausrichtete, 6 formulierte zugleich den Zusammenhang von Nutzung und Vergnügen als normativ für die Gartenkunst. Umzäunungen und ›Ahas‹ erhielten damit eine neue Aufgabe. Sie sollten das Vieh daran hindern, in die Gärten einzubrechen. Markant wird in England die Unterscheidung zwischen Garten und Park. Letzterer wird zum ›Sentimentalen‹ und zum exotischen Garten, mit Chinoiserien, zu denen Sir William Chambers durch seine Fernreisen inspiriert worden war. Die Analogie zur Landschaftsmalerei reicherte sich bei dem Gartenkünstler William Gilpins, dem Pfarrer aus Boldre und Freund des Dichters der ›Gothic novels‹, Horace Walpole, mit Arsenalen aus der Architektur an. So wurden Staffagen aufgerichtet, Blickachsen in Fluchtpunkte verschoben, die von der Vordergrundansicht eines Teichs in die Ferne verliefen, von Bäumen umstellt. Den Zielpunkt bildete zumeist eine Ruine, die nicht in jedem Fall architektonisch ausgeführt werden musste. Sie konnte auch auf Leinwand angedeutet werden. Dazu P. Willis, Charles Bridgeman and the English Landscape Garden. London 1977. 6 Vgl. neben Kluckert, Gartenkunst, a. a. O., auch F. Pizzoni, Kunst und Geschichte des Gartens. Stuttgart 1999 und spezifischer: D. Wiebenson, The Picturesque Garden in France. Princeton 1978, sowie A. S. Weiss, Miroirs de l’infini – Le jardin à la française et la métaphysique au XVII. siècle. Paris 1992. 5

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Humphry Repton differenzierte Garten und Park weiter in der Weise, dass der Garten in Hausnähe angelegt sein sollte. Er sollte geometrisch geordneten Vorgaben entsprechen. Der Park hingegen, weiter vom Haus entfernt, eröffnete Spielräume zur freieren Gestaltung. Dabei sollten pittoreske Wirkungen entwickelt werden. Doch Repton war zugleich an Formen der Prästabilierung gelegen. »Die Gartenkunst muss die beiden gegenseitigen Merkmale ursprüngliche Wildnis und künstlichen Komfort einschließen, jedes dem Genuss und dem Charakter des Ortes angepasst; jedoch auch eingedenk, dass nahe dem Sitz des Menschen Bequemlichkeit und nicht pittoreske Wirkung den Vorrang haben muss, wo immer auch sie im gegenseitigen Wettbewerb eingesetzt werden.« 7 Gewisse Wellenbewegungen zwischen Natur und Kunst sind in der Geschichte der Garten-Architektur unübersehbar: In dem Grade, in dem die Verdrängung der freien Räume in den großen Städten zum Problem wurde und die soziale Frage auf die Aporie einer eigenständigen Lebensgestaltung führte, traten die hoch ambitionierten ästhetischen Vorhaben in den Hintergrund. Vielmehr wurde von Theoretikern wie John Loudon, Sohn eines schottischen Gutsbesitzers, und erst recht von Shirley Hibberd betont, dass jeder Mensch über Geschmack verfüge und daher auch in der Lage sei, Gärten verantwortlich und schön zu gestalten. Die strengere geregelte Form bot sich dafür an: der Miniaturgarten, zumal er wenig Platz benötige. 2.) Ein eigenes Faszinosum bilden die komplexen hydraulischen Systeme im 16. Jahrhundert. Descartes hat sie, neben den staunenswertesten Uhren oder den Orgeln als Metapher verwendet, um zu zeigen, dass man für die Analyse des menschlichen Körpers keineswegs der Zuflucht zu organischen Vorstellungen bedarf. Hinreichend ist vielmehr die Vorstellung eines hochkomplexen Mechanismus und Automatismus. So bemerkt er: »Womöglich haben Sie an den Grotten und Fontänen in den Parks unserer Könige beobachtet, dass die bloße Kraft, die das Wasser beim Austritt aus einer Quelle bewegt, verschiedene Maschinen antreiben und sie sogar je nach der Anordnung der Leitungsrohre Instrumente spielen oder Worte aussprechen lassen kann. Und in der Tat lassen sich die Nerven der Maschi7

Zit. nach Kluckert, Gartenkunst in Europa, a. a. O., S. 394.

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ne, die ich Ihnen beschreibe [sc. der menschlichen Apparatur; H. S.], sehr gut mit Rohren dieser Fontänenmaschinen vergleichen; ihre Muskeln und Sehnen mit den verschiedenen Apparaturen und Triebwerken, die ihrer Bewegung dienen.« 8 Bemerkenswert ist, dass Descartes in diesem Sinnbild nicht nur die äußerliche Funktionsfähigkeit beschreibt, sondern auch die Wirkungsweise des Intellekts. In seinen ›Cogitationes Privatae‹ betätigte sich Descartes selbst mit der Fingierung einer künstlichen Taube und eines Seiltänzerautomaten. Die Minimalannahme, deren es dazu bedarf, wird pointiert so bestimmt: »Gott oder die Natur hätten Automaten gebildet, die unsere Tätigkeiten nachahmen. Ich unterstelle, dass der Körper nichts anderes als eine Plastik oder Maschine aus Erde ist, die Gott ausdrücklich dazu bildet, um sie uns so ähnlich wie möglich zu machen; so dass er ihr nicht nur von außen die Farbe und Gestalt unserer Glieder verleiht, sondern auch innen alle Teile anbringt, die erforderlich sind, damit sie geht […]«. 9 Die ästhetische Inszenierung der Wasserspiele konnte auch darin besonders analogiefähig werden, dass sie mehrere komplexe Systeme in einer Steuerungszentrale, dem Wasserverteiler, zusammenführte. Die Wasserspiele sind mehrpolig und keineswegs auf ein lineares Zentrum verweisen, wie Uhr oder Orgel. Dies entsprach der Zirbeldrüse im mittleren Ventrikel, die Descartes als Inbild der Transportfähigkeit des tierischen Nervensystems für die Lebensund Animalgeister verstehen konnte. Äußere Objekte, die auf diesen komplexen Mechanismus einwirken, deutet Descartes ausdrücklich als bloße Fremdkörper, und er fährt wieder in der Sinnbildlichkeit der Wasserspiele fort: »Wir können sie nur betreten, wenn wir bestimmte Steinplatten berühren: diese sind so angeordnet, dass sie zum Beispiel, wenn wir uns einer badenden Diane nähern, sie dazu bringen, sich im Schilf zu verbergen; und wenn wir sie weiter verfolgen, einen Neptun auf uns zueilen zu lassen, der uns mit einem Dreizack bedroht; oder wenn wir in irgend eine andere Richtung Descartes, Oeuvres Publiés par Ch. Adam et P. Tannery. Neuausgabe Paris 1964– 1967 und unter der Betreuung von J. Beaude u. a. Vol. XI, S. 130 ff. Siehe auch R. Specht, Descartes. Reinbek 1986, S. 110 ff. Die Übersetzung folgt der Übersetzung, die Specht dort anführt. Ferner zu den Hintergrundannahmen: Th. Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes – Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs. Frankfurt/Main 1992. 9 Descartes, ibid. 8

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gehen, ein Meerungeheuer hervorkommen lassen, das uns Wasser ins Gesicht speit; oder ähnliche Dinge, wie es den Ingenieuren, die sie machen, gerade einfiel. Wenn aber in diesen Maschinen eine vernünftige Seele ist, hat sie ihren Hauptsitz im Gehirn und ist dort wie der Röhrenmeister, der sich im Verteiler aufhalten muss, in dem alle Rohre zusammlaufen, wenn er Bewegung hervorrufen, verhindern oder verändern will.« 10 Dass Descartes damit Tiere als Automaten klassifizierte und unter den Leidenschaften der Seele (passions de l’âme), in harscher Abwendung von Aristoteles, nur die äußeren physiologischen Regungen gelten ließ, hat ihm schon von Zeitgenossen Kritik eingetragen. Wo bleibe dabei das Phänomen des Lebens, ist gefragt worden. Descartes verweist darauf, dass Leben nur an der Wärme des Herzens abzulesen sei, also selbst physiologischen Charakter hat. Vom Garten als Simulation des Paradieses hatte er sich damit aber weit entfernt. 3.) Gärten waren im Mittelalter in den Umfriedungen der Klöster idyllische Orte, in denen sich das vielfache Spiel der Natur abzeichnete, aber in einem befriedeten und gehegten Zustand. Sie waren das Paradies hinter Klostermauern, der ›locus amoenus‹. Dass die Welt zum Garten werde, ist das Bildungsideal der Epikureer. Tod und Vernichtung, auch jene, die aus der Natur kommt, sind im Garten gebannt. Exemplarisch konnte diese Welt in den Garten in einer Kunst- und Kultivierungsform hineingeholt werden, die mehr als alles andere Kunst und Natur aufeinander bezog. Dieses Ideal wurde freilich nicht in klösterlicher Selbstbescheidung bewahrt. Aus ihm ging auf labyrinthischen Wegen, die hier nicht im Einzelnen nachzuzeichnen sind, die Idee hervor, die Welt in den Garten zu holen. Exemplarisch muss man in diesem Zusammenhang an das Gartenreich von Dessau-Wörlitz erinnern, durch das sich Goethe an ein Märchen gemahnt sah. Fürst Franz, der es hatte anlegen lassen, schuf damit eine Art Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste des 18. Jahrhunderts. Und mit dem »großen Stein« legte er sogar die Imitation des feuerspeienden Vesuv an. 11 Auf dem Giebelrelief des 10 11

Ibid. Vgl. dazu jetzt den Sammelband: Der Vulkan im Wörlitzer Park. Herausgegeben

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Wörlitzer Pantheon ist exemplarisch und programmatisch der Streit zwischen den Sirenen, den Naturmächten, und den Musen, den Kräften der Kunst, dargestellt, gerade in dem Augenblick, wie er von Athene geschlichtet wird. Franz ließ sich von dem weitgereisten Architekten und Weltmann Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff beraten. Chippendale-Möbel wurden nach Wörlitz geholt und der englische Palladio-Stil manifestierte sich nicht nur in Bauwerken. Er wurde zugleich als Prägeform einer ›pädagogischen Provinz‹ nach den Vorbildern der Schriften von Basedow eingerichtet. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass der »Denkstein«, der für Rousseau auf der Wörlitzer Insel errichtet wurde, letztlich auf einem Missverständnis beruhte. Rousseau hatte die Verbindung zwischen Natur und Kunst mit großer Konsequenz durchtrennt, während Wörlitz gerade den Zusammenhang zwischen beiden zu knüpfen suchte. Eine »Kraftmaschine« der deutschen und europäischen Politik war das Gartenreich nicht, wie Michael Stürmer zu Recht bemerkt hat. 12 Preußische Heeresmaschinerie und Militärstaatlichkeit lagen dem Fürsten fern. Näher lag ein Weltbürgertum, das Verständnis einer Verbindung zwischen dem Fürsten und den Untertanen, das der Virginia Bill of Rights und der umfassenden Suche nach dem Glück näher stand, als dem Zwangsstaat, aber auch dem revolutionären Furor, der von Frankreich aus aufbrandete. Suche nach dem Glück, Glückseligkeit und moderne Freiheitsidee bilden gemeinsam den Horizont des Dessau-Wörlitzer Kulturbürgertums und seiner Reformen. Sie hatten ein agrikulturelles Fundament, die Reform der Obstbaumzucht durch die differenzierten Fruchtfolgen, für die man sich an England orientierte. 13 Schule, Kirche und Synagoge fügten sich als Bildungsanstalten einer zweiten Natur in dieses Zauberspektrum aus Kunst und Natur ein; ergänzt durch ein ambitioniertes publizistisches Unternehmen, die ›Allgemeine Buchhandlung der Gelehrten‹, mit der die meisten herausragenden Geister des 18. Jahrhunderts in Verbindung stanvom Vorstand der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz. Berlin 2005. Ferner: Den Freunden der Natur und Kunst. Das Gartenreich des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau im Zeitalter der Aufklärung. Ostfildern 1997. 12 M. Stürmer, Scherben des Glücks. Klassizismus und Revolution. Berlin 1987, S. 21 ff. 13 Hier folge ich Stürmer, ibid. Vgl. auch ders., Luxus, Leistung und die Liebe zu Gott. David Roentgen 1743–1807. Königlicher Kabinettmacher. München 1993.

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den. Der klassizistische Stil wirkte zuerst geradezu revolutionär, und David Roentgen und seine Manufaktur erwarben sich durch die Aufträge aus Dessau-Wörlitz erst die Fähigkeit, klassizistische Möbel nach dem britischen Vorbild zu schaffen. 14 Man hat im Blick auf Wörlitz von der »edlen Simplizität und geschmackvollen Anordnung« gesprochen; einer Baukunst, die sich von allen barocken Idealen entfernt hatte und die den ersten englischen Garten hervorbrachte, der nicht zunächst als Retraite für den Fürsten diente, sondern allgemeiner Nutzung zugänglich war. Es ist die lose Synthesis von Gestaltung und selbst-waltender Naturkraft, die Wörlitz als Nachbild der großen englischen Gärten und als Urbild, das – etwa auf der Kasseler Wilhelmshöhe – vielfach kopiert wurde, auszeichnete. Hellas und Arkadien werden unangestrengt auf den Garten und seine Eigendynamik zurückbezogen. Ebenso erscheint paradigmatisch die Weltarchitektur im Bauernhaus und im Pantheon: Dies ist nicht nur Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern auch eine Weitung auf europäische Maßstäbe. Michael Stürmer, einer der besten Kenner dieser Zusammenhänge, hat gelegentlich vermutet, dass es gerade der ›Dilettantismus‹ Erdmannsdorffs gewesen ist, der ihn so unbefangen und offen die verschiedenen Einflüsse aufnehmen und verbinden ließ. 15 Geschult war Erdmannsdorff freilich durch die Glanzzeit Sachsens in der Epoche Augusts des Starken. Und er war begnadeter Zeichner, der Architektur ebenso wie Natur erfassen und aufeinander beziehen konnte, bis in die Interieur-Darstellungen. Goethe pilgerte wie viele andere in der Anfangszeit der Einrichtung des Gartens nach Wörlitz. Doch die Italienische Reise entzauberte Wörlitz in seiner Wahrnehmung, so wie vieles andere im Norden nun seine Faszinationskraft einbüßte. 16 Er sah durch den Kontrast der italienischen Gartenanlagen erst kritisch auf die »Unart« der neueren Zeit, im Ästhetischen um jeden Preis originell sein Zu den Hintergründen wiederum u. a. die genannten Werke. Siehe auch Stürmer (Hg.), Herbst des alten Handwerks. Meister, Gesellen und Obrigkeit im 18. Jahrhundert. München 1986; sowie das magistrale Werk desselben, Handwerk und höfische Kultur. München 1981. Ferner: J. M. Gerber, Abraham und David Roentgen. Möbel für Europa. Band 1. Starnberg 1980. 15 M. Stürmer, Scherben des Glücks, a. a. O., insbes. S. 42 ff. 16 Vgl. über die Einflüsse und Veränderungen der Italienischen Reise auf Goethe: N. Miller, Der Wanderer. Goethe in Italien. München 2002, insbesondere S. 554 ff. 14

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zu wollen. Die britische Kultivierung des Natürlichen machte tatsächlich Charme, aber auch Grenze von Wörlitz aus. Sie konnte als eine weltabgewandte, ja weltferne Imagination erscheinen. In das Widerspiel von Natur und Kunst einzuführen, war indessen ein philanthropisches Projekt. Über die humanisierende und bewahrende Bedeutung solcher Landschaftsarchitektur ist gerade in den letzten Jahren viel nachgedacht worden. Hier zeichnet sich offensichtlich ein Kompensationsbedarf der späten Moderne ab. Wenn solche Potentiale wirksam werden sollen, so müssen sie weitergebildet werden. Sonst bleibt es bei ›konservatorischen Inseln‹, mehr oder minder künstlichen Haltepunkten im Strom der Gegenwart. Nur wenn die Welt im Ausschnitt als Oikos angeschaut werden kann, wird sich auch eine vertiefte ökologische Sensibilität einstellen: eben dies haben die Arbeiten von Scruton und anderen in den letzten Jahren eindrucksvoll gezeigt. 17 Die eingeschliffenen Begriffe vom Schönen und vom Erhabenen verlieren angesichts der Phänomene von Landschaftsarchitektur und der schmalen Grenzen von Natur- und Kunstschönem ihre klaren, deutlich abgezirkelten Konturen. Nicht ins Große hinein, sondern in die wohnliche Miniatur. Eine alte Scheune mit FachwerkStruktur, ein Nutzraum, der sich aber in Kathedralenhöhe erhebt und in unendlichen Brechungen Lichtgarben in sich einlässt – gewachsen unter Umständen in mehreren Bauphasen, die sich aber zu einer harmonischen Geschichte verbinden, kann ungeachtet seines Gebrauchscharakters als ›schön‹ erscheinen. Man könnte einem solchen Raum unter Umständen auch das Epitheton der Erhabenheit zuerkennen. Nicht im Sinn einer Überwältigung, wohl aber eines ›Monumentum‹, also des Gedächtnisses der Generationen, das sich im Alltäglichen einstellt. An der Gartenarchitektur kann wie bei kaum einer anderen Kunst evident werden, dass das wohnliche Schöne nur möglich ist durch den menschlichen Schöpfungsakt. Die Natur ist losgelöst von menschlicher Zuwendung nicht auf ein Formenspiel bezogen, in dem sich der menschliche Geist wiederfinden kann. Sie wirkt eher abweisend und daher, wie die Kategorie des überwältigend ErhabeVgl. R. Scruton. Schönheit. Eine Ästhetik. München 2012, und: Ders., How to Think Seriously about the Planet: The Case for an Environmental Conservatism. London 2012.

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nen exemplarisch zeigt, unter Umständen inhuman. Deshalb ist immer wieder bemerkt worden, Naturschönheit entstehe erst mit der menschlichen »Zutat«. Dies ist im Übrigen bereits in Rom erkannt worden, wie die Villenbriefe von Plinius d. J. plastisch zeigen. Agricultura blieb keineswegs auf den Landbau beschränkt. Schon hier geht es um die Erschließung der Natur als einer eigenen Sphäre des Schönen. Überdies sind die Gärten gesteigert erfahrbare Kunstwerke, da sie die Menschen ganz und gar in das Kunstwerk hineinstellen. Sie schaffen eine Lebenswelt, die als Ganze zum Kunstwerk wird. Deshalb eignet den Gärten oft auch eine politische Dimension. Auch dies beginnt mit den Römern. Die kaiserlichen Parks in Rom, deren Ausmaß man sich gar nicht groß genug vorstellen kann, wurden für die ganze Bevölkerung geöffnet. Es sind monumentale Kommunikationsräume, in denen sich der Herrscher an Senat und Volk von Rom wendet. In Abglanz und Anspielung darauf entwickelt auch Wörlitz die politisch-pädagogische Absicht im Kleinen. 4.) Die Verbindung von Ästhetik und Teleologie in Kants Lehre von der Urteilskraft zeigt deutlich, dass Werke in Lebensgestaltungen einfließen. Mithin kann am Ende dieses Exkurses der Faden noch einmal auf den großen Königsberger Denker, der die Exkurse liebte, zurückgespielt werden. Eine nicht-begrifflich definible Teleologie durchdringt auch bereits die Aussagen über das Schönheitsurteil. Die teleologische Urteilskraft setzt hier an und versucht, das subjektive Beurteilungsund Auslegungsprinzip, die Deutung von Dingen als Naturzwecke, zu entfalten. Architektonisch rückt Kant damit Natur und Kunst in einen engen Zusammenhang. Nicht explizit, aber in der sachlichen Struktur schreibt dies die Deutung des Kosmos als des ersten Kunstwerkes fort, die seit Platons ›Timaios‹ her wirkmächtig geworden ist. Kant spricht, um zu betonen, dass diese Teleologie nicht aus begrifflicher Bestimmung der Dinge selbst zu gewinnen ist, von einer ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹. Zweckhaftigkeit ist, anders als bei Aristoteles und in der von ihm bestimmten klassischen Physik und Metaphysik, nicht objektive Bestimmung des Seienden. Sie öffnet eine Betrachtungsweise, die zur Analyse der Natur als »Mechanismus« komplementär ist. Teleologie stellt sich in einer ›subjektiven Reflexion‹ ein, die die Zwecke zu erkennen vermag. »Ein 194 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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Ding existirt als Naturzweck, wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist.« 18 Kant wählt das Beispiel des Baumes, der einen anderen Baum nach dem Naturgesetz hervorbringt. Nicht als objektive Bestimmung, aber als Reflexion der Urteilskraft lässt sich von ihm sagen, er erzeuge sich selbst als Gattung wieder. Zudem – durch den Holzstoff – erzeugt er sich selbst als ›Individuum‹. Weiter ist in ihm als einem organischen Wesen (mit Goethe: als geprägte Form, die lebend sich entwickelt) jedes Glied einem anderen gleichermaßen Mittel und Zweck. »Ein organisirtes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.« 19 Das Gegenbild sieht Kant im großen Mechanismus der mechanischen Uhren, in dem einzelne Räder der Mechanik weggelassen oder herausgebrochen werden können, ohne das Ganze zu gefährden oder gar zu zerstören. Das einzelne mechanische Glied kann durch Kunstfertigkeit wieder eingefügt werden und das Gebilde ist weiterhin funktionsfähig. Kant gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff einer ›Technik der Natur‹, der nicht ›dogmatisch‹, also als kategorialer Lehrgehalt zu entwickeln ist. Vielmehr legt er nahe, mit der Erklärung der Natur als eines Mechanism soweit zu gehen, wie es nur möglich ist. Die Natur spielt aber Phänomene zu, die auf diese Weise nicht verstehbar sind. Man kann sie zwar erklären; doch damit zerstört man schon ihre Phänomenalität. Von einer ›Deduktion‹ ist im Zusammenhang der teleologischen Urteilskraft, anders als im Blick auf das Schönheitsurteil, nicht die Rede. Allerdings gibt Kant in § 77 eine spezifische Subjektivitätsstruktur an, die den Begriff eines Naturzwecks erst möglich macht. In ihm liege die ›Idee eines andern möglichen Verstandes‹. Als möglich begreift ihn Kant im Sinn der logischen Schuldefinition so, dass sein Gegenteil nicht notwendig ist. Der Naturzweck bedarf nicht der analytischen Allgemeinheit (des Begriffs). Er ist vielmehr auf eine synthetische Allgemeinheit bezogen. 20 Er kann also die Ganzheit als solche anschaulich machen. Dies ist nichts anderes als der Grenz-

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Kant, Kritik der Urteilskraft, AA VI, S. 370; § 64. Kant, Kritik der Urteilskraft, AA VI, S. 376. Ibid., S. 407.

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begriff des göttlichen Intellektes und der ›intellektualen Anschauung‹. 21 Intellektuale Anschauung erfasst intuitiv, im Sinn des Aristotelischen Begriffes von ›Theoria‹, mit einem Mal. Sie enthält also die »Zufälligkeit der Verbindung der Theile nicht in sich«. Endlicher Verstand hingegen kann »ein reales Ganze der Natur nur als Wirkung der concurrirenden bewegenden Kräfte der Theile [an]sehen.« 22 Das so urteilende Vernunftvermögen stößt unabweisbar auf den ›intellectus archetypus‹. Die »Vorstellung eines Ganzen« kann so gedacht werden, das sie »den Grund der Möglichkeit der Form desselben und der dazu gehörigen Verknüpfung der Theile enthalte.« 23 Damit verweist die teleologische Naturauslegung unmittelbar in den Horizont des Gottesbegriffs. Die Moraltheologie, wonach die Vernunftideen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele nur als Postulate der reinen praktischen Vernunft festzuhalten sind und ebenso die Rückführung aller historischer Gottesbeweistypen auf den ontologischen Gottesbeweis und seine Destruktion in der ersten Kritik (vor der These: »Sein ist kein reales Prädikat«) unabweisbar ist, wird damit nicht außer Kraft gesetzt. Der physiko-theologische Gottesbeweis müsste, wenn er als rationaler Begriff eingeführt werden sollte, bereits daran scheitern, dass der diskursive Verstand niemals das Ganze als Zweckzusammenhang denken kann. Der ›intellectus archetypus‹ würde aber, so der Abschlussgedanke, eine zweckhafte Welt im Ganzen wie in einer intellektualen Anschauung überschauen können. Die teleologische Reflexionsbetrachtung führt (§ 83 der KU) zu der Annahme eines letzten Zweckes der Natur als eines teleologischen Systems: Er liegt, wie schon angedeutet wurde, nicht in der Glückseligkeit, sondern eben in der Kultur. Kultur hat zur formalen Bedingung die Fähigkeit, die Natur als Mittel zum Zweck einer weltbürgerlichen Gesellschaft zu gebrauchen. Dies sollte Kant auch in

Für diese spekulative Visio intellectualis ist exemplarisch Spinoza, aber auch schon der Nous-Begriff des Aristoteles in Met. XII; er evoziert ein denkendes Wissen, das nicht im Nacheinander der Bestimmung, ›dianoetisch‹, sondern gleichsam plötzlich und mit einem Mal (exaiphnès) aufnimmt. 22 Ibid. 23 Ibid., S. 407 f. 21

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seiner Schrift über den ewigen Frieden betonen, wenn er die Natur als Garantin des dauerhaften Kulturzustandes begreift. 24 Und schließlich ist vom »Endzwek des Daseins einer Welt« die Rede. Der Endzweck ist nach Kant derjenige Zweck, »der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf.« 25 »Nun haben wir nur eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Causalität teleologisch, d. i. auf Zwecke gerichtet, und doch zugleich so beschaffen ist, dass das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben«, von Naturbedingungen unabhängig ist. Vom Menschen als moralischem Wesen könne nicht weiter gefragt werden, warum er existiere. 26 Damit ist ein Horizont aufgespannt, der vom Grenzbegriff des ›intellectus archetypus‹ bis hin zur Begründung der Kultur, der Relation zur Natur und der Theologie reicht. Wenn sie sich auch im Einzelnen anders formieren, werden spätere Ansätze zur Ästhetik dieser Dimension Rechnung tragen müssen.

Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg 1795. Zusatz: Von der Garantie des ewigen Friedens, S. 47 ff. 25 Kant, AA V, S. 443. 26 Ibid. 24

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SIEBTES KAPITEL:

Naturlandschaften des Schönen. Herders ›Aesthetica‹ und Winckelmanns Vermessungen ›edler Einfalt‹

1.) Herder hat sich in einer Gegenperspektive zu Kant, den er als ›Prometheus‹ sah, zum ›Epimetheus‹ erklärt. Die Metakritik an Kants Kritiken, geführt im Namen gesprochener Sprache und leibhafter, vernehmender Vernunft, führte zu einer grundsätzlichen Kritik an der apriorischen, von Geschichte absehenden Vernunft im kantischen Sinne. Zugleich aber wollte sich Herder nicht mit der vorkantischen Exposition der »Cognitiones« abfinden, wie sie die rationalistische Ästhetik, namentlich Baumgarten, entwickelt hatte. 1 Denn bei dem ›fundus animae‹, dem dunklen Grund der Seele, könne es sich nicht um eine ›cognitio inferior‹ handeln. Finde doch im Seelengrund eine Distinktion und Artikulation gar nicht statt, wie sie für jede Cognitio unverzichtbar sei. Der ›fundus animae‹ ist der ›gantze Grund‹ der Seele. Aus seiner Selbsterfahrung geht Wahrnehmung hervor. Seinsgewissheit ist in menschlicher philosophischer Erkenntnis schlechterdings unhintergehbar. Herder wendet schon gegen die Aufklärungsästhetik ein, dass sie sich in Nominaldefinitionen verliere: »willkührliche Definitionen, ekelhaft wiederholte Demonstrationen«. In seiner Kritik gegenüber Baumgartens ›Meditationes‹, mit der er die klassische rationalistische Schulmetaphysik insgesamt trifft, hat Herder Wert darauf gelegt zu zeigen, dass eine ›cognitio historica‹ und dass Fakta, nicht aber moralische Raisonnements dem Urteil vorausgehen müssen. »Das unentdeckte Land, was wir suchen, ist kein metaphysisches

Vgl. dazu die gründliche Monographie von M. Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchung zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763– 1778). Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Hrsg. v. d. Dt. Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 17, Hamburg 1994.

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Wortgeschwätz, es ist innere Physik des Geistes, eine fruchtbare und nützliche Gegend in der Seelenlehre des Schönen.« 2 Die eigene Natur zu erkennen und zu vervollkommnen, ist für Herder der Grundsatz nicht nur der Ästhetik als Kunstlehre, sondern darüber hinaus des menschlichen Lebens insgesamt. Die ›gemeine Erkenntnis‹ geht daher, sowohl was Alter wie auch was den Adel angeht, der Logik voraus. Sie gibt nach Herder für deren Beurteilungsmaßstäbe das Kriterium ab, nicht umgekehrt. Es geht zunächst, und dies nennt Herder ›Erste Logik‹, um die Sammlung des inneren Sinns, die Fassung der Prägnanz des Dunklen. Bei aller Kritik war Herder von der Pointiertheit der baumgartenschen Definitionen immer beeindruckt, vor allem die Wendung: ›oratio sensitiva perfecta est Poema‹ hatte es ihm ihrer Prägnanz wegen angetan. In ihrem Geist formulierte er, die Ästhetik sei »die strengste Philosophie über einen würdigen und sehr schweren Inbegriff der menschlichen Seele und der Nachahmungen der Natur; sie ist ein Teil, ein schwerer Teil der Anthropologie, der Menschenkenntnis«. Keinesfalls bloß Theorie der schönen Wissenschaften sollte die Ästhetik sein; vielmehr wird sie, wie jüngere Arbeiten gezeigt haben, 3 bei Herder als ontologische und als gnoseologische Bedingung eines leibgebundenen Philosophierens insgesamt exponiert. Herder fokussiert sich auf die Ästhetik, weil es ihm programmatisch darauf ankommt, den Sinnen zu trauen, sie als Bedingung von Erfahrung vorauszusetzen. Die ›Ästhetik‹ wird daher zur ersten Philosophie. Der Vorrang der Sinnlichkeit sei, wie er bemerkt, unhintergehbar auch für die Transzendentalphilosophie. Wahrheit könne gar nicht anders denn leibhaftig, Schönheit nicht anders denn als Schönheit in der Erscheinung verstanden werden. Vor diesem Horizont liefert Herder oft rhapsodisch bleibende, aber dennoch tief dringende Beiträge zur Haptik, dem Erfühlen von Form, die allenfalls in den ästhetischen Überlegungen des 18. Jahrhunderts, etwa bei G. F. Meier schon vorbereitet sind. Herder, Kritische Wälder, 4, Werkausgabe Band IV, S. 97. Dazu auch: H. Adler, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1990 (Studien zum 18. Jahrhundert, Band 13). 3 M. Heinz, Sensualistischer Idealismus, a. a. O. In dieser herausragenden Arbeit wird man die wesentlichen Bestimmungen Herders unschwer finden können. Siehe auch U. Gaier, Poesie als Metatheorie. Zeichenbegriffe des frühen Herder, in: Johann Gottfried Herder. 1744–1803, hg. von G. Sauder. Hamburg 1997, S. 202 ff. 2

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Die verschiedenen Sinne, so Herders gleichsam protophänomenologischer Zugang, erschließen auch die Welt in einer jeweils veränderten Weise. Das ›Gefühl‹ als haptischer Sinn sei träge. Als ertastete sind die Dinge, wirklich die, die sie sie sind. Daher stellt sich auch die Empfindung von Vollkommenheit am ehesten im Gefühl des Tastens ein. Der optische Sinn ist demgegenüber zwar klarer, aber er ›erfasst‹ nur an der Oberfläche. Das Real-Sein ist, so Herder, nicht Folge, sondern schlechterdings Grund. Kant verwies bekanntlich in seiner prominenten Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises darauf, dass ›Sein‹ kein ›reales Prädikat‹ sei, sondern reine Position. Diese Überlegung geht auch in Herders ›Versuch über das Sein‹ ein, doch so, dass für Herder Sein selbst unvordenklich ist. Gerade deshalb kommt der Präsentation im Kunstwerk entscheidende Bedeutung zu. »Das Sein [sc. ist] unerweislich. Kein Dasein Gottes erweislich – […], alle Existenzialsätze, der größte Teil der menschlichen Erkenntnis nicht zu beweisen – o alles ungewiss, nein nicht ungewiss, auch nicht im Erweise ungewiss, sondern gewiss und gar nicht zu erweisen. Diese Gewissheit ist uns angeboren.« 4 Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt dabei die seit Lessings Laokoon-Schrift viel diskutierte Frage nach der phänomenalen Grenze zwischen redenden (klingenden) und bildenden Künsten, sowie zwischen Koexistenz im Raum und Konsekution in der Zeit. Unverkennbar schließt Herder an diese Explikation an. Ihm geht es zunächst um den subjektiven Grenzstein zwischen haptischen Künsten, namentlich Architektur und Bildhauerei, und optischen, der Malerei. Bei der optischen Erfassung werden Teile neben- und nacheinander perzipiert und diskret voneinander unterschieden. Töne sind im Nacheinander, im Tastsinn hingegen Teile nebeneinander oder ineinander verschränkt präsent. Sie erklingen in einer untrennbaren Simultaneität. In der betastbaren Skulptur manifestiert sich für Herder die Wahrheit des griechischen ›Hen kai Pan‹. Im Tasten ist das Alles Eins, das Eins Alles, und nach Herder ist diese konkrete Sensualität vom bloßen freien Spiel der Erkenntnisvermögen bei Kant zu unterscheiden. Denn es ist die artikulierte Grundkraft des Werkes als eines Dings, die diese Verbindung konstituiert. Diese Bestimmungen kommen den Skulpturbeschreibungen J. G. Herder, Frühe Schriften 1764–1772, hg. von U. Gaier. Frankfurt/Main 1985, S. 12.

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Winckelmanns mitunter erstaunlich nahe. Winckelmann suchte Schönheit von Proportion und Linienführung her zu verstehen – ein nicht geringer Teil seiner Kenntnis antiker Plastiken rührt von Abbildungen her –, wohingegen Herder auf die Notwendigkeit der Verkörperung verweist. Prägnanz, eine klare Erfassung, die aber nicht über den Begriff verläuft, stellt sich ein, indem der Eindruck der Skulptur im Fühlen »in uns hinüber« geht. Leib korrespondiert hier mit Leib, der Leib des Wahrnehmenden mit dem Leib des Kunstsujets, ähnlich wie in eminenter Einfühlung, Eins-werdung im ekstatischen erotischen Akt: »Wir werden mit der Statue gleichsam verkörpert oder diese mit uns beseelet.« 5 Die Skulpturen ›umfassen‹ uns. Aufschlussreich ist dabei, dass Herder seine Anthropologie und vor allem die Spezifizierung der verschiedenen Sinne in Bezug auf die Perzeption von Kunstwerken gewinnt. Kunstwerke ermöglichen allererst die Ausgestaltung und Differenzierung der Sinne. Geradezu invers zu Winckelmann geht er in aller Konsequenz davon aus, »dass alle Umrisse und Linien«, auch in der Malerei, vom dreidimensionalen belebten Leib abhängen. Lineare Elementarformen in der Zweidimensionalität wie die Schönheitslinie Hogarths seien demgegenüber bloße Abstraktionen. Durch den Leib geht die sinnliche Erfahrung in einen inneren Sinn ein, den Herder mit Leibniz mit einem durchwebten Meer gleichsetzt, in dem der dunkle Grund der Seele wahrnehmend differenziert wird. 2.) Neben der Konzentration auf die Plastik wenden sich die ästhetischen Reflexionen schon des jungen Herder der Dichtung zu. Gerade die Wortkunst müsse »im verborgensten Grunde der Seele«, dem ›fundus animae‹ graben. Der Vergleich der gegenwärtigen Hervorbringungen mit der Dichtung der Vergangenheit, namentlich der Griechen, wird eingefordert: ein »Winckelmann der Poesie« müsste auch Dichter sein, um die Alterität vergangener Kunst-Epochen und zugleich das Verbindende erkennen zu können. Von einem einmal erreichten Höhepunkt auszugehen und auf ihn zurückzublicken, sieht Herder keinen Grund. Daher widerspricht er der klassizistischen Auffassung von der ›imitatio veterum‹ und dem bei den GrieHerder, Sämtliche Werke Band VIII, S. 60. Dazu H. D. Irmscher (Hg.), ›Weitstrahliges‹ Denken. Studien zu Johann Gottfried Herder. Würzburg 2009.

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chen einmal gefundenen Normalmaß, das sich schlechterdings nicht übertreffen lasse. Die historisch genetische Ausforschung der ›Geschichte der lyrischen Dichtkunst‹ tritt bei ihm an die Stelle von Winckelmanns Normal-Maß, ganz im Sinn von Herders geschichtsphilosophischer Situierung jeder Epoche unmittelbar zu Gott. Die Kulturkreise sind für Herder die Linienzüge des Fingers Gottes in der Weltgeschichte. Poesie ist, wie Herder in Anknüpfung an Hamann, den Magus des Nordens, seinen zweiten Königsberger Mentor neben Kant, sagt, »Muttersprache des menschlichen Geschlechts.« Sie ging ex origo aus dem Kultus hervor und ist zunächst »kurzes sinnliches Gebet voll ausgesuchter, starker Worte«, lebendige Handlung in der Zwiesprache mit den Göttern. Dies wird im Blick auf die Grundformen von Ode und Hymnus, die zunächst ›einfältig‹, monologisch gewesen seien, dann aber sich in Strophen und sogar in dialogische Strukturen entfalteten, dargelegt. Entscheidend ist, dass Herder die Genese von ›Neuem‹, innovative Kraft aus Fiktion und Analogie herrühren sieht. »Meistens wars Ein neues Bild, eine Analogie, Ein auffallendes Gleichniß, das die grössten und kühnsten Theorien geboren.« 6 Imagination erweitert den Umkreis des Geistes und führt zur Verknüpfung von vordem geschiedenen Sphären. Der Poesie ist die Kraft zu letztlich unbegrenzten Verknüpfungen immanent. Sie geht nicht nur von Einem Sinn aus; insofern ist sie ›gemeinsinnig‹, nach dem Modell des Gemeinsinns in der aristotelischen Seelenlehre. 7 Damit ist sie erster und entscheidender Schlüssel zum Verständnis einer Kultur. Man muss in diesem Zusammenhang festhalten, dass Herder der Wahrnehmung (Aisthesis) eine grundlegende Rolle nicht nur in der Wahrnehmung der Kunst, sondern auch bei der Rekonstruktion von Geschichte zuerkennt. Geschichtliche Verläufe sind nur aus Erfahrung zu vergegenwärtigen. Eine gewisse polemische Wendung gegen den apriorischen Gedanken eines »Fortschritts« im Sinn der kantischen Geschichtszeichen wird man auch hier heraushören können. »Eine Metaphysik der Geschichte hat nur der, bei dem alle Geschichte als schon verHerder, Werke Band 4, S. 330. Vgl. dazu: Aristoteles, Über die Seele III. Kap. 1. Siehe dazu die aufschlussreiche jüngere Deutung von H. Seidl, Einleitung, in: Aristoteles, Metaphysik. Hamburg 1995, S. IX ff.

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gangen daliegt. So ein Mann ist nun wohl der Herr Professor Kant, so wohl in seiner Weltbürgeridee, als in seiner reinen Vernunft, aber ich nicht.« 8 Es kann nach Herder also nicht um die Konstruktion eines transzendentalen Plans weltgeschichtlicher Verläufe als ›Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‹ gehen, wie Hegel dies später formulieren wird; erst recht nicht um die Konstruktion eines gesetzlichen Geschichtsverlaufs ›in re‹. Vielmehr muss sich Geschichtsphilosophie am Leitfaden der Entwicklung der Kunst an die Facta im doppelten Sinn halten: die ›gemachten‹, ›erzeugten‹ Dinge und die unüberschreitbaren Tatsachen. Gegen eine apriorische Geschichtskonstruktion wendet sich Herder mit ähnlichen Argumenten wie gegen Versuche einer logischen Begründung und Implementierung der Ästhetik in ein rationales Begriffssystem in der Nach-Leibnizischen Tradition. Es ist unverkennbar, dass Herders evokative Sprach-KunstTheorie ihre Aufmerksamkeit besonders auf eine Volkspoesie richtet, die man heute weitgehend als ›Konstrukt‹, wenn nicht als Erzeugnis verschiedener Ideologien verstehen wird. Ihr ›fundamentum in re‹ macht Herder in der folgenden Weise deutlich: Die Vorstellung von einem Gedicht, das unmittelbar aus dem Sprachgeist und aus der Volkspoesie geboren wird, orientiert sich an dem großen, exemplarischen Dichter, der selbst Sprachgeist ist. Shakespeare firmiert dabei als exemplarische Gestalt neben Homer, Dante und der erhofften keltischen Parallele Ossian, dessen Opus sich in einem europaweit ausgetragenen Disput als Fälschung erweisen sollte. 9 Dass ein solcher Dichter vielleicht, wie Homer, gar nicht als Individuum existiert, mindert seine Bedeutung in keiner Weise. Im Gegenteil: Der Name wird zu einer Projektionsfläche des numinosen Sprachgeists. Wenn die Bildhauer der griechischen Antike nicht als Personen, sonHerder an Wieland. Weimar Ende Januar 1785. J. G. Herder, Briefe Band 5. Briefe, Gesamtausgabe 1763–1803. Weimar 1986, S. 103. Vgl. zu Herders sprachphilosophischer Auseinandersetzung mit Kant: Herder, Sprachphilosophische Schriften, hg. von Erich Heintel, dazu die Einleitung. Hamburg 1960, S. XV ff.; siehe aus der weit verzweigten Literatur, in der es immer auch um die Sprache als Vorzeichnung und erste Konzeption von Kunst geht: T. Borsche, Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts. Stuttgart 1981 und: J. Trabant, Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache. Frankfurt/Main 1998. 9 Vgl. dazu H. Schmid, Kunst des Hörens. Orte und Grenzen philosophischer Spracherfahrung. Köln, Weimar, Wien 1999 (Collegium Hermeneuticum Band 1). 8

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dern durch die Anthropomorphie ihrer Werke faszinierten und die Jeunesse dorée dessen Abbildern, nicht aber einem Künstler wie Phidias gleichen wollte, so begegnet in der Evokation der Volkspoesie eine Umkehrung dieser Verhältnisse: Es ist vor allem der große Künstler selbst, der fasziniert: weil er so viel an Welt und Menschen wie in einem Okular in sich einzufangen vermag. Herder legt deshalb auch sein besonderes Augenmerk auf das Volkslied, das in der Romantik vor allem durch Brentanos und Arnims Sammlung ›Des Knaben Wunderhorn‹ zu einem eigenen Odium der Sprache werden sollte. Die Sprache ist nicht mehr Medium, sondern ›Energeia‹ und damit Kunst. Auf diese Weise kommt es freilich auch zu der eigentümlichen Paradoxie, dass oftmals erst im Kunstlied die Aura der Naturpoesie rekonstruiert und eigentlich inszeniert werden kann. Sein kunsttheoretischer Ansatz wäre nicht denkbar ohne Herders Sprachkonzeption, die Sprachlichkeit nicht als ein Vermögen neben anderen, sondern als grundlegend für die bewusste Besonnenheit, die Reflexivität des Menschen begreift. Sprache ist damit zugleich die Kunstfähigkeit kat’exochen. Auch damit hat er weitergewirkt: von Humboldt bis Heidegger reicht der Bogen dieses Zeitalters der ›Energeia‹. 10 Dabei spielt, um die Artikuliertheit der Sprache denken zu können, das innere Bild, Abbild der Bilder, die die Götter auf einer »großen Lichttafel vorgemalt haben«, die zentrale Rolle. Auf die innere Verbildlichung legt Herder seinen Akzent. Humboldt setzt diese Klärung voraus, wenn er seinen Grundsatz formuliert, wonach die Sprache eben nicht totes Werkzeug ist, sondern Energeia, also Vollzug, Am-Werk-Sein. 11 Die Antithetik versteht sich keinesfalls von selbst, ist doch bei Aristoteles Energeia der Oberbegriff des Tuns, Ergon aber das mit einigen Formen von Energeia (jenen der Poiesis im Unterschied zur Praxis) einhergehende Merkmal spezifischer Differenz. Energie wird demgegenüber schon in der Zeit vor Humboldt als zentrale Kraft poetischer Kunst begriffen, etwa bei James Harris. 12 Diesen Faden nimmt auch der Vgl. ibid., S. 25 ff. Dazu auch M. Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Frankfurt/Main 1990, S. 387 ff., siehe auch: E. Hoffmann, Die Sprache und die archaische Logik. Tübingen 1925, S. 4 ff. 12 Dazu Schmid, a. a. O., S. 255 ff. Vgl. auch H. D. Irmscher, Zur Ästhetik des jungen Herder, in: G. Sauder (Hg.), J. G. Herder 1744–1803, a. a. O., insbes. S. 45. Vgl. auch 10 11

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junge Herder auf und bereitet damit Humboldts Dichotomie vor, wenn er etwa formuliert: »Wenn die Wirkung einer Kunst Energie ist: so kann die Vollkommenheit solcher Kunst nur während der Dauer wahrgenommen werden; ist sie ein Werk: so ist die Vollkommenheit nicht während der Energie, sondern erst nachher sichtbar.« 13 Klassisches Betätigungsfeld dieses Streitfalles war die Auseinandersetzung um die Einheit oder liedhafte Diversifikation der homerischen Lieder seit den ›Prolegomena ad Homerum‹ des Hallensers F. A. Wolf. Herder reflektiert vor dem Hintergrund der Homer-Debatte über das Melos als die grundlegende Synthesis der Poesie-Werke. Den Tod der Poesie bedeutete es aber, wenn die Energeia auf ein fixiertes, abgeschlossenes Werk reduziert würde. Dies führt bei Herder und abgeschwächt auch bei Humboldt gerade nicht auf einen »Phonozentrismus«, die Annahme des Vorrangs der Stimme. Vielmehr bleibt die Orientierung an Bild und bildender Kunst immer mit leitend. Humboldt bemerkt in der Folge Herders: »Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch sein!« 14 3.) Für Herder ist Ästhetik zugleich der Schlüssel zur Anthropologie, weil sich in ihr Menschsein in exponierter Weise zeigt. In seinen anthropologischen Evokationen schließt er an die tradierte Lehre von der Seele an. Nur in der ›Würkung‹, in der Erkennbarkeit durch die Sinne, also die Aisthesis, teilt sich der verschlossene Grund der Seele überhaupt mit. Der ›Aisthesis‹-Begriff steht dabei in großer Nähe zur ›Einfühlung‹. Diese ist »Verstehen seiner selbst«, aber im strengen Verständnis der ästhetisch wahrzunehmenden Verwandtschaft von Subjekt und Objekt und vor allem ihrer wechselweisen Einwirkung aufeinander. Geht es doch darum, eine nicht-summierende, den Fall unter Allgemeinheiten fassende Erkenntnis des schlechterdings Individuellen und insofern Einzelnen zu gewinnen. Die so erschlossene Aisthesis öffnet sich wiederum auf Religion im Blick auf den Einfluss, den Hamann auf Herder ausübte: G. Nebel, Hamann. Stuttgart (1973) und die gründlichen Studien von O. Bayer, Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart, Bad Cannstatt 2002. 13 SW III, S. 159. 14 W. von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, in: Humboldt, Werke Band III, S. 11.

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und Offenbarung. Sie stellt das Undarstellbare dar, und damit erschließt sie nach Herder ein »Wunderbuch voll Weissagung«, das allerdings mit sieben Siegeln verschlossen ist und der Auslegung bedarf. Nicht das Schöne, das Erhabene ist dabei der Maßstab für die vollkommene Aisthesis: Geschichte ist eben, in einer Metaphorik, die Hegel aufnehmen wird, der »Gang Gottes über die Nationen«, aber in eins damit der »Gang der Vorsehung über Millionen Leichname«, in dem das Ich zu Nichts reduziert wird. Auch eine weitere signifikante, in Hegels Geschichtsphilosophie, in der Vorrede zu den ›Grundlinien der Philosophie des Rechtes‹ begegnende Ambivalenz zeichnet sich im Umriss bereits bei Herder ab: der Gedanke, dass eine Gestalt der Geschichte erst im Abendlicht erkennbar wird, wenn sie der Aisthesis nichts mehr bietet. Denn das ›Greisenalter des Geistes‹ ist durch Reflexion getrübt, der originären Wahrnehmung ist es kaum mehr zugänglich. Man wird sich an Hegels Rede von der Geschichte als der »Schädelstätte des Geistes« am Ende der ›Phänomenologie des Geistes‹ erinnern. Ein aussagekräftiges Zeugnis ist für die ästhetische Geschichtsphilosophie ein von Herder notierter ›Wachtraum‹ : »Was ich sah, war die jetzige Welt und die Zukunft; ich glaubte (so mischen wir im Traum die Dinge untereinander!) mit physisch-moralischem Geist von der unmittelbaren Gegenwart der Dinge auf ihre Folge zu schließen, oder vielmehr nicht zu schließen, weil in der wachenden Erscheinung Gegenwart und Zukunft nur noch Eins war. Es war die Blume in voller Gestalt; es war der Baum mit allen seinen Früchten. Ach, sprach ich zu mir selbst, Ephemeren, die wir glauben, mit uns gehe Himmel und Erde unter! Blinde, die so selten gewahr werden, woran sie selbst arbeiten, und was sich vor ihnen entwickelt. Die Gegenwart ist schwanger von der Zukunft; das Schicksal der Nachwelt ist in unsrer Hand, wir haben den Faden geerbt, wir weben ihn, und spinnen ihn weiter.« 15 Die Traumlandschaft erschließt also einen auf Erinnerung und Hoffnung ausgespannten Zeithorizont, der sich niemals in seiner Gänze überschauen lässt. Die Ästhetik Herders scheint auch im Licht dieser in ihr implizierten Geschichtstheorie einer ausschnittweisen Repräsentanz des Ganzen eine bis heute tragfähige Referenz zu sein.

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Herder SW IV, S. 108.

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4.) Wie kein zweiter hat J. J. Winckelmann, mit ungeheurer Wirkung auf seine Zeitgenossen, die griechische Kunst-Religion für das 18. Jahrhundert beschreibend erschlossen. 16 Während sich für Herder die Freilegung der bleibenden, schönen Formen im Geflecht der Volkspoesien manifestiert, präludiert Winckelmann das hellenische Antlitz der Klassik. »Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und schmeckt«, so hat Winckelmann im Blick auf die römischen Kopien griechischer Plastiken in Dresden geschrieben, als man sie erstmals im hellen Tageslicht sehen konnte. Wie Manfred Riedel gezeigt hat, gehen Ästhetik und Hermeneutik bei Winckelmann eine tiefe innere Verbindung ein. Betrachtung und Deutung konkreszieren zu einer unlösbaren Einheit. 17 Goethe hat im Rückblick auf Winckelmann in seinem Beitrag zum ›Gedenkbuch‹ diesen springenden Punkt kongenial formuliert: »Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.« 18 Dies ist eine bemerkenswerte Sentenz, die die tradierten Mimesis- und Imitatio-Konzepte geradewegs umkehrt. Winckelmann war durch seinen vorzeitigen, gewaltsamen, das ästhetische Europa schockierenden Tod im Jahr 1768 nicht nur die Begegnung mit der kantischen Philosophie versagt, auch die ›Querelle des anciens et des modernes‹, wie sie Schiller und Goethe allenthalben diskutieren sollten, hat ihn nicht mehr erreicht. Die Stücke in den Vatikanischen Museen, wie den Apoll von Belvedere oder den ›Torso‹ und ›Laokoon‹ konnte er zwar in Augenschein nehmen. Zumeist bezog sich seine Kunstwahrnehmung auf Exponate, die in unterirdischen Gemächern und Katafalken vom flackernden Licht der Fackeln beleuchtet waren. Nur wenige Jahre länger hätte er leben müssen, um sich seine Anschauungswelten in ganz anderen Lichtverhältnissen zu erschließen. Eine seiner leitenden Maximen war indes, dass die Modernen »groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden« nur vermögen, wenn sie die Alten, die Kunst der Antike nachahmen. Siehe auch den einer subtilen Winckelmann-Aneignung gewidmeten Prolog von M. Stahl, Botschaften des Schönen, a. a. O., S. 15 ff. 17 Riedel, Kunst als ›Auslegerin der Natur‹, a. a. O., S. 47 ff., siehe auch ibid., S. 77 ff. 18 Goethe, Winckelmann und sein Jahrhundert, Hamburger Ausgabe Band XII, S. 102 ff. Siehe dazu auch: M. Riedel, Der hermeneutische Kanon des Klassischen. Goethe und Winckelmann, in: ders., Kunst als ›Auslegerin der Natur‹, a. a. O., S. 47 ff. 16

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Kunst und Natur konvergieren in seiner Ästhetik. Ein winckelmannscher Kerngedanke besagt, dass das Naturschöne dem Kunstschönen die Richtung vorzeichne, dass aber das Kunstschöne ›mehr als Natur‹ sei. Seinen Maßstab hat dieses Mehr-sein im ›richtigen Maß‹, dessen Grund nicht naturwüchsig erscheint, sondern der künstlerischen Präparation bedarf. Winckelmanns ›Klassizismus‹ orientiert sich dabei an platonischen und neuplatonischen Bestimmungen des Idealmaßes, namentlich an Proklos. Was exemplarisch ist und »Werk der ersten Klasse«, erschließt sich für Winckelmann allerdings nicht durch einen feststehenden Normenkanon, sondern erst in der Selbstanschauung, wobei auch die lineare Zweidimensionalität der Zeichnung an die Stelle der Primärwahrnehmung treten könne. So folgt er durchgehend seiner eigenen Maxime: »Komm und sieh!« und gesteht ein, dass er in einem ganzen in Rom verbrachten Jahr sich keinen Plan gemacht hätte, sondern auf der Suche nach Autopsien gewesen sei, nicht selten überraschenden, in jäher Evidenz aufgehenden. 19 Darin ähneln die Impressionen seines italienischen Aufenthaltes denen Goethes. Mit dem Schönen verbindet sich in Winckelmanns Ästhetik aufs engste die Kategorie des Erhabenen, und dies schon deshalb, weil Schönheit selbst ›mehr als sinnlich‹ ist und in das Reich der Schatten verweist. »Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur, die idealische Schönheit die erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche.« 20 Die vielberufene Formulierung von der ›edlen Einfalt und stillen Größe‹ ist näher betrachtet daher auch eher eine reflexive, mit Schillers späterem Begriff müsste man sagen: ›sentimentalische‹ Kategorie als eine aus unmittelbarer Anschauung resultierende ästhetische. Dies zeigt sich an der Korrelation dieser Kategorien zur griechischen Philosophie, wie Winckelmann sie herstellt. An entscheidender Stelle seiner ›Gedanken über Nachahmung‹ hat Winckelmann bemerkt: »Die edle Einfalt und stille Größe der griechischen Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der griechischen Schriften aus den besten Zeiten, der Schriften aus Sokrates’ Schule, und diese EigenVgl. dazu C. Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen. Leipzig 21898. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), in: Kleine Schriften und Briefe. Weimar 1960, S. 35. Vgl. zum Verhältnis zu Platons Timaios auch Proklos, Timaios-Kommentar 81b-d, I, 264 f.

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schaften sind es, welche die vorzügliche Größe eines Raffael ausmachen, zu welcher er durch die Nachahmung der Alten gelangt ist.« 21 An ihren nervus probandi und zugleich an ihre Grenze kommt eine solche Ästhetik des in sich gespannten Zusammenhangs von Schönheit und Erhabenheit in der Beschreibung der Laokoon-Gruppe, des geformten und damit gebannten Schmerzes. Der Schmerz ist in der Schönheit der Form gehalten, ein Grundunterschied etwa zur Abbildung des Schrecklichen in moderner Kunst seit Munchs ›Schrei‹. Winckelmann hat dabei darauf hingewiesen, dass gerade der Mund Laokoons nicht schreie. »Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen […] Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt und gleichsam abgewogen.« 22 Hier deutet sich ein Grundproblem der winckelmannschen Kunst des Sehens an. Goethe hat sie in seiner Gedächtnisschrift mit der auf Harmonie bezogenen Wahrnehmung des Naturforschers verglichen. Dass die Formel ›eine edle Einfalt und eine stille Größe‹ gerade am Paradigma der Schmerzdarstellung des ›Laokoon‹-Bildnisses gewonnen wird, ist auf den ersten Blick überraschend, es ist aber in Winckelmanns gedanklicher Logik alles andere als zufällig: An einer Negativempfindung wie dem Schmerz kann der Grund und Nervus probandi von Schönheit erprobt werden. An ihm zeigt sich ein über-natürlicher, Natur transzendierender Horizont. Im Schmerz wird die große, sich in der Auflösung noch bewährende Seele erkennbar. Sie bleibt auch im Tod noch im Zustand einer inneren stoischen Ruhe. Dabei ist das ›Laokoon‹-Werk auch deshalb so faszinierend, weil in ihm Form und Ausdruck, Syntax und Semantik in unübertrefflicher Weise miteinander konvergieren. In Lessings Auslegung des ›Laokoon‹-Problems liegen die Dinge erkennbar anders. Lessing sah darin primär ein Unterscheidungskriterium zwischen den Kunstgattungen. Das Schreien widerspricht dem Medium der räumlich orientierten Skulptur. Auf dem Theater, in die Konsekution der Zeit versetzt, könnte und müsste Laokoon dagegen ›schreien‹. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, a. a. O., S. 24. 22 Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, in: W. Senff (Hg.), Kleine Schriften und Briefe. Weimar 1960, S. 176. 21

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In seiner Beschreibung des Apollo von Belvedere hat Winckelmann noch einmal das Schöne als Ziel der Seelenführung und als Erhebung zur Einheit umschrieben. Seine Position gewinnt an Überzeugungskraft und Plastizität, wenn man sie vor dem Hintergrund der Schmerz-Analyse interpretiert: »Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten und versuche, ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen; denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die menschliche Dürftigkeit erfordert.« 23 Solche Passagen illustrieren Goethes Diktum, dass Winckelmann nach einer Sprache für die Formen bildender Kunst gesucht habe. Deshalb musste er Poet sein, ob er wollte oder nicht. Dies ist insofern eine bemerkenswerte Einlassung, als Winckelmann Ästhetiker ist aufgrund seiner Kunst der Beschreibung. Seine Ästhetik bildet sich nicht an vorherbestimmten Kategorien. Sie stellt sich progredierend ein in den Blickbahnen und Perspektiven, die die Kunstwerke ihm nahelegen. Vor allem faszinierte ihn dabei das gerade nicht klassisch Abgeschlossene, die Welt der Torsi und Fragmente. Spätere vollendete Werke, wie die Werke Michelangelos versteht er nur als künstlerische Figurationen und damit als Interpretationen solcher Torsi. »Bei dem ersten Anblick dieses Stückes wird man nichts anderes gewahr als einen fast ungeformten Klumpen Stein, aber sobald das Auge die Ruhe angenommen und sich fixiert auf dieses Stück, so verliert das Gedächtnis den ersten Anblick des Steins und scheint er weichliche, zarte Materie zu werden.« 24 Das Auge will innehalten. Es sucht Ruhepunkte und Pausen. Dem wird das Werk gerecht. Am Torso verselbständigen sich jedoch die Proportionen und einzelnen Linien und greifen ins Unendliche aus: »[Wie in der] anhebenden Bewegung des Meeres die zuvor stille Fläche in seiner lieblichen Unruhe mit spielenden Wellen anwächst, wo eine von der anderen verschlungen und aus derselben wieder hervorgewälzt wird: ebenso sanft aufgeschwellt und schwebend gezogen, fließt hier eine Muskel in die andere, und eine dritte, die sich zwischen ihnen erhebt Winckelmann, An Francke, 20. März 1756, in ders., Briefe aus Rom. Hgg. von M. Distelkamp.Mainz 1997, S. 55. Auch in: Kleine Schriften und Briefe, a. a. O., S. 295. Dieser Text, in dem man zu Recht die Kondensierung des gesamten ästhetischen Antikeprogramms von Winckelmann erkennen konnte, ist nur eine Seite lang. 24 Entwürfe zur Beschreibung des Torso im Belvedere im Florentiner Manuskript, in: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, a. a. O., S. 281. 23

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und ihre Bewegung zu verstärken scheint, verliert sich in jener und unser Blick wird gleichsam mit ihr verschlungen.« 25 Der Torso verweist deshalb gerade in der Annäherung an Unendlichkeit auf das Göttliche und das All. In der Unabgeschlossenheit – eine These, die die Frühromantiker weiterführen werden – wird das Kunstwerk diaphan auf das Absolute. Im Kunstwerk, so die angedeutete geschichtsphilosophische und ästhetische Überlegung Winckelmanns, ›zeigt‹ sich noch einmal, dass Menschen und Götter vom Ursprung her einer Familie entstammten. Verbunden waren sie durch den Heros, den ältesten Stammverwandten und Mittler zwischen ihnen. Schiller hat in seinem Bericht vom Antikensaal zu Mannheim die winckelmannsche Torso-Beschreibung und ihre Implikationen aufgenommen, zu ihrem Recht gebracht, sie aber zugleich geschichtsphilosophisch auf die ›Querelle des anciens et des modernes‹ hin interpretiert. »Hier stehe ich vor dem berühmten Rumpfe, den man aus den Trümmern des alten Roms einst hervorgrub. In dieser zerschmetterten Steinmasse liegt unergründliche Betrachtung! Freund, dieser Torso erzählt mir, dass vor zwei Jahrtausenden ein großer Mensch dagewesen, der so etwas schuf, Ideale gab, dass dieses Volk an Wahrheit und Schönheit glaubte, weil einer aus seiner Mitte Wahrheit und Schönheit fühlte, dass dieses Volk edel gewesen, weil Tugend und Schönheit nur Schwestern der nämlichen Mutter sind. Siehe, Freund, so habe ich Griechenland in dem Torso geahndet. Unterdessen wanderte die Welt durch tausend Verwandlungen und Formen, Throne stiegen, stürzten ein. Festes Land trat aus den Wassern – Länder wurden Meer. Barbaren schmolzen zu Menschen, Menschen verwilderten zu Barbaren [sc. Man denke an die großen geschichtsphilosophischen Dichtungen wie ›Der Spaziergang‹ und ›Die Götter Griechenlands‹]. Der milde Himmelsstrich der Peloponnes entartete mit seinen Bewohnern […]. Und doch, Freund, lebt jene goldene Zeit noch in diesem Apoll, dieser Niobe, diesem Antinous, und dieser Rumpf liegt da – unerreicht – unvertilgbar – eine unwidersprechliche ewige Urkunde des göttlichen Griechenlandes, eine Anforderung dieses Volkes an alle Völker dieser Erde.« 26 Ibid., S. 170 f., vgl. auch C. Justi, Ein Manuskript über die Statuen im Belvedere, in: Preußische Jahrbücher 28 (1871), S. 586. 26 F. Schiller, Der Antikensaal zu Mannheim, in: Schiller, Werke Band 13, S. 101 f. In der starken Gewichtung dieser Beschreibung folge ich Manfred Riedel. 25

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ACHTES KAPITEL:

Morgenland des Schönen und Schädelstätten der Geschichte – Ästhetische Diskurse um 1800 aus dem Herzen der Kunst I.

Schiller und Goethe

1.) Als Schiller seine »philosophische Bude« eröffnet und 1791 ein überaus intensives Kant-Studium aufnimmt, liegt ein reiches dramatisches Frühwerk zwischen den ›Räubern‹ und dem ›Don Karlos‹ hinter ihm. Hinter ihm liegt auch die gründliche Befassung des Historikers mit der Epoche des Zeitenbruches in der frühen Neuzeit, dokumentiert in seiner ›Geschichte des Abfalls der Niederlande‹ und ›Geschichte des dreißigjährigen Krieges‹. Die Freundschaft mit Goethe ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich Ereignis geworden. Dem Vortrefflichen gegenüber könne es keine andere Haltung geben als Liebe, sollte Schiller später die quälend langsame Annäherung kommentieren. Zu dieser Liebe war er vorerst noch nicht bereit und nicht in der Lage. Vor dem Jahr 1791 hatte Schiller, durchaus im Unterschied zu Goethe, Kant kaum zur Kenntnis genommen, nun zeigt er sich elektrisiert von der dritten Kritik. Gleichzeitig aber war der junge Schiller zu philosophischer Reflexion prädestiniert: Die sensualistische und empiristische Popularphilosophie hatte er seit der Zeit auf der Karlsschule rezipiert. Anregungen hatte ihm dabei sein Lehrer Abel gegeben. Die Theorie der Körpermechanismen, der physiologischen Bedingtheit des Geistes, die in der Vivisektion ihren ›nervus probandi‹ findet und die sich auch in den Monologen und Dialogen der ›Räuber‹ spiegelt, ergänzt sich der junge Mediziner aber durch eine empfindsame Philosophie der Liebe. Schiller lernt sie als den »schönste[n], edelste[n] Trieb in der menschlichen Seele«, als »die große Kette der empfindenden Natur« aufzufassen. Ähnlich ambivalent ist Schillers frühe Sicht auf die Geschichte. Die Jenenser Antrittsvorlesung vom 26. Mai 1789, wenige Monate vor der Französischen Revolution gehalten: ›Was heißt und zu wel212 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Schiller und Goethe

chem Ende studiert man Universalgeschichte?‹ mit ihrer topisch gewordenen Unterscheidung des ›Brotgelehrten‹ vom ›philosophischen Kopf‹ entwickelt eine Universalgeschichte der Zivilisation nach Maßgabe von Kants transzendentalem Grundsatz des Fortganges der Menschheit zu Freiheit. Die anfänglich verlorene Gleichheit, die die Menschengattung durch den Eintritt in die Gesellschaft verlor, werde »wiedergewonnen durch weise Gesetze«. Später sollte Schiller dies als den Weg vom paradiesischen Arkadien in das eschatologische Elysium umschreiben. Mithin ist jeder geschichtliche Augenblick Kristallisation, Verdichtung des Ganges der Weltgeschichte im Ganzen, wie Schiller eindrücklich formuliert. »Selbst dass wir uns in diesem Augenblick hier zusammen fanden, uns mit diesem Grade von Nationalkultur, mit dieser Sprache, diesen Sitten, diesen bürgerlichen Vorteilen, diesem Maß von Gewissensfreiheit zusammenfanden, ist das Resultat vielleicht aller vorhergehenden Weltbegebenheiten: die ganze Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, dieses einzige Moment zu erklären.« 1 Anders liest es sich im philosophischen Exkurs seines Geisterseher-Romans. Hier wird die Kontinuität durchbrochen. »Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhängen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat […] Viele sehen ihren eigenen Schatten, die Gestalten ihrer Leidenschaft vergrößert auf der Decke der Zukunft sich bewegen und fahren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen […] Eine tiefe Stille herrscht hinter dieser Decke, keiner, der einmal dahinter ist, antwortet hinter ihr hervor; alles was man hörte, war ein hohler Widerhall der Frage, als ob man in eine Gruft gerufen hätte.« 2 Wie ließen sich solche Widerspruchsknoten lösen. Allenfalls im Blick auf die Kunst. Die Distanz nehmende philosophische Reflexion entwickelte sich in der Zeit der ersten schweren Erkrankung Schillers, die tödlich hätte enden können. Dass er überhaupt weiterlebte, glich in der Wahrnehmung der Freunde einem Wunder. Erstes Ergebnis der Auseinandersetzung mit Kants dritter Kritik, in deren Die Nachweise im Folgenden beziehen sich auf F. Schiller, Werke in 5 Bänden, hg. von Herbert G. Göpfert, P.-A. Alt, W. Riedel u. a. München 2004. Hier Band IV, S. 758. 2 Schiller, Werke, Band V, S. 166. 1

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Licht er dann die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ versteht, sind die an den Dresdner Freund Gottfried Körner gerichteten Kallias-Briefe. Sie bedeuten zum einen eine radikale Abkehr von dem PerfectioIdeal, und sie zeigen die Tendenz, Schönheit nicht mehr länger ›logisch‹ bestimmen wollen. Im Sinn dieser Abwendung von den Topoi der Aufklärungsästhetik versteht Schiller schon die kantischen Darlegungen. Es geht ihm um eine von Grund auf ästhetische Lesart des Schönen. Schiller schließt den ersten Brief: »Ich bin wenigstens überzeugt, dass die Schönheit nur die Form einer Form ist und dass das, was man ihren Stoff nennt, schlechterdings ein geformter Stoff sein muss. Die Vollkommenheit ist die Form eines Stoffes, die Schönheit ist hingegen die Form dieser Vollkommenheit, die sich also gegen die Schönheit wie der Stoff zu der Form verhält.« 3 Er bestimmt von hier her Schönheit als Freiheit und Autonomie in der Erscheinung. Damit setzt er sich auch von der Konfiguration in Kants dritter Kritik (§ 59 Auflösung der Antinomie des Geschmacks) ab, wonach das Schöne das Symbol des Sittlichen sei. Im Sinne Schillers besteht zwischen Schönheit und Sittlichkeit kein Symbol-, sondern ein Analogieverhältnis. Ein Symbolverhältnis würde ein Drittes erwarten lassen, in dem die symbolisch verbundenen Glieder zu einer Deckung kommen. Doch ›schön‹ ist in diesem Sinne eine Form, die keine Erklärung fordert 4 oder sich doch ohne Begriff erklärt. Man erkennt schon in den geistreichen Bemerkungen der Kallias-Briefe, dass Schiller auf das Kunstwerk und seine Produktion hindenkt. Dies ist der entscheidende Schritt über Kant hinaus und seine genuine Perspektive als Dichter und Ästhetiker in einer Person. Sehr prägnant hat er formuliert: »Wir nennen ein Gebäude vollkommen, wenn sich alle Teile desselben nach dem Begriff und dem Zwecke des Ganzen richten und seine Form durch seine Idee rein bestimmt worden ist. Schön aber nennen wir es, wenn wir diese Idee nicht zu Hilfe nehmen müssen, um die Form einzusehen.« 5 Signifikant ist dabei auch die Aussage, dass sich das Einzelne einschränken muss, um das Ganze zur Entfaltung zu bringen und dass die Darstellung dadurch selbst gleichsam frei werde. Dies heißt in concreto: Der Stoff muss Form werden, der Körper in die Idee sich verlieren, die Wirk3 4 5

Ibid., S. 395. Ibid., S. 403. Ibid., S. 420.

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lichkeit in der Erscheinung. Schiller hat dies an einem Beispiel skulpturaler Kunst so formuliert: »Ist an einer Bildsäule ein einziger Zug, der den Stein verrät, der also nicht in der Idee, sondern in der Natur des Stoffes gegründet ist, so leidet die Schönheit; denn Heteronomie ist da.« 6 Der Marmor, ein harter und spröder Stoff, müsse in die Wesensnatur menschlichen Fleisches ›untergegangen‹ sein, das umgekehrt ›biegsam und weich‹ ist. Es folgt die Schrift ›Über Anmuth und Würde‹. Sie exponiert letztlich Folgebegriffe des Schönen und Erhabenen, die die ästhetischen Kategorien anthropologisch interpretieren. Die Rede ist hier von der erscheinenden Sittlichkeit im Menschen. Damit leistet Schiller freilich zugleich eine Selbstvergewisserung als dramatischer Dichter, indem er zwischen ›architektonisch fixierter‹ und ›dynamisch bewegter‹ Schönheit unterscheidet. Anmut begreift Schiller dementsprechend als eine bestimmte Form des Willens, in der die »Person oder das freye Principium im Menschen es auf sich nimmt, das Spiel der Erscheinungen zu bestimmen«. Sie ist eine jeweils, in einem bestimmten Zeitmoment aufscheinende, möglichst vollkommene Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung. 7 An diesem Punkt präfiguriert sich schon Hegels moralphilosophische Frage, inwieweit sich die ›schöne Seele‹ angesichts der Wogen der Welt rein erhalten kann. Würde bedeutet im Unterschied zur Anmut die Beherrschung der Triebe durch moralische Kraft, die sich auch sinnenfällig in der Erscheinung zeigt, aber nur dann überzeugend sein wird, wenn Erscheinung und Wesen zu vollständiger Deckung kommen. Im Drama verteilen sich Anmut und Würde auf verschiedene Dramatis personae. Selten, aber doch mitunter seien sie »in derselben Person vereinigt«. Beispielhaft dafür ist Schiller die Liebe, die zuerst ein anmutiges Wesen entzünden mag, die aber, um sich nicht in der Sinnlichkeit zu verlieren, einen exzentrischen Kurs auf die Würde nehmen muss. Würde setzt erst ein, wenn die äußere Welt ihre Grenzen und Schranken bemerkbar werden lässt. Jene rasch entworfene Schrift fand Kants Gefallen: bis auf einen Ibid., S. 429. Vgl. P.-A. Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit. Zweiter Band. München 2000, S. 27 ff. und S. 100 ff. Siehe auch nach wie vor zu den kunsttheoretischen Fragestellungen: B. v. Wiese, Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, vor allem S. 395 ff., S. 428 ff.

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Punkt in der »mit Meisterhand verfassten Abhandlung«, so übt er in der ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ zurückhaltend Kritik. Es gebe unnötige Missverständnisse in moralischen Fragen. 8 Man wird den Differenzpunkt wohl im Zusammenhang von Sittengesetz und Postulatenlehre, Glückswürdigkeit und Glückseligkeit präzisieren können, zumal Kant nicht ohne Berechtigung notierte, dass Schiller hier einen nur sehr einseitigen Gebrauch von seinen, Kants, Theoremen mache. Goethe reagierte ablehnender, fast verstimmt. »Gewisse harte Stellen sogar konnte ich direkt auf mich deuten, sie zeigten mein Glaubensbekenntnis in einem falschen Lichte«. 9 Kritisch hatte Schiller vor allem das goethesche pantheistische Credo zur Natur gesehen. Bleibt doch Natur nach Schiller immer der »erworbenen Kraft des Geistes« unterlegen. Deshalb spricht er sich gegen den »Geburtsadel des Genies«, die Vorstellung von Schönheit als einem Naturerzeugnis aus. Seine Präferenzen fallen also, im Sinn der späteren Linienziehung, schon hier eindeutig ›sentimentalisch‹ aus. Eine kleine Schrift ›Vom Erhabenen‹ hält dann die Ambivalenz zwischen einer auf ein Objekt (einen Gegenstand) bezogenen und einer auf die innere Empfindung des Selbstseins korrelierten Sichtweise fest. »Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsere sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freyheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch d. i. durch Ideen erheben.« 10 Schiller zieht die Folgerung, dass der Mensch am erhabenen Gegenstand als Sinnenwesen abhängig, als Vernunftwesen aber frei sei. Das Gefühl des Erhabenen wird in einem inneren Widerstreit gefunden, dem Gefühl der Ohnmacht, die es verhindert, den Gegenstand physisch zu erfassen, und dem gegenläufigen Gefühl einer Übermacht, »welche vor keinen Grenzen erschrickt, und dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsre sinnlichen Kräfte unterliegen.« 11 Kants dynamisch Erhabenes verschiebt sich bei Schiller, in ver-

Kant, AA VI, S. 23; vgl. auch die aufschlussreichen Vorarbeiten AA XXIII, S. 100 ff. Hier nach F. W. Riemer, Mittheilungen über Goethe. Band 2. Berlin 1841, S. 343 f. 10 Schiller, Werke Band V, a. a. O., S. 489. 11 Ibid., S. 362, in der Abhandlung ›Über den Grund des Verfnügens an tragischen Gegenständen‹, S. 358 f.; vgl. auch S. 806 f., S. 810 ff. 8 9

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Schiller und Goethe

stärkender Betonung, auf den dramatisch tragischen Konflikt des pathetisch Erhabenen. 12 Auch hier ist das Interesse des dramatischen Autors unverkennbar. Zwei Hauptbedingungen und Charakterzüge verbinden sich: Die lebhafte Vorstellung des Leidens, um einen Konflikt zu erregen (die leidende Natur), und die Darstellung moralischer Selbständigkeit im Leiden. 13 2.) Mit der Schrift ›Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen‹ fasst Schiller seine Auffassung des Ästhetischen zusammen und rückt sie, ähnlich wie dies Herder tat, in einen geschichtsphilosophischen Horizont. Eng verbunden ist diese Explikation mit dem Programm der ›Horen‹, das im Dezember 1794 in der ›Allgemeinen Litteraturzeitung‹ veröffentlicht wird und in dem Goethes und Schillers Handschrift sich gleichermaßen niederschlagen. Darin wird als Maxime festgeschrieben, dass von allem ›unreinen Partheygeist‹ Abstand genommen werden solle. Vom »allverfolgenden Dämon der Staatskritik« im nachrevolutionären Europa müsse man aber umso klarer Abschied nehmen. So verbindet sich in den ›Briefen‹ Schillers eine überaus scharfsinnige geschichtsphilosophische Diagnostik moderner Zeiten, gleichsam eine erste fundamentale Anatomie der ›Dialektik der Aufklärung‹, mit der Exposition der Ästhetik als der Mitte zwischen sinnlicher Befangenheit und Emanzipatorik von Wissenschaft und Politik. Andernorts hat Schiller festgehalten, dass der Künstler nicht Verbündeter eines Zeitgeistes sein dürfe. Gleichwohl weiß er: »Man ist eben so gut Zeitbürger als man Staatsbürger ist.« 14 In einer solchen Zeit des Umbruchs und der doppelten Verwerflichkeit der alten und der neuen Ordnung befangen, muss er sich klar machen, dass seine eigene Zeit vom Schönen weit entfernt ist. Der Nutzen sei ihr großes Ideal. Er beugt eine »gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch«. Naturstaat, ein Regressionsmodell der alten feudal absolutistischen Welt, und Vernunftstaat, im Terror der französischen Revolution, treten als unversöhnliche Extreme auseinander. Keiner der beiden Zustände kann Staat der Freiheit sein. Sie zeigen jeweils nach einer Seite Destruktion und Vgl. zur Tektonik auf jetzigem Forschungsstand: P.-A. Alt, Schiller. Leben-WerkZeit. Eine Biographie Band II. München 2000, S. 100 ff. 13 Ibid., Bd. V, S. 512. 14 Ibid., S. 575. 12

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Negativität. Am Ende der Schrift wird der ›ästhetische Staat‹ als die Mitte zwischen Sinnlichkeit und Freiheit in sein Recht gesetzt. Er könne eine »Totalität des Charakters« ausbilden, auch dies Explikationen von großer Bedeutung für Hegels Philosophie des objektiven Geistes. Dieser ästhetische ›Staat‹, wobei Schiller mit der Ambivalenz der Rede von ›status‹ spielt, die auch ›Zustand‹ meint, ist für Schiller die einzig mögliche Antwort auf die unüberbrückbaren Brüche und die latente Destruktivität der eigenen Zeit. In einer seiner prägnanten Antithesen hat er notiert, dass die neue Freiheit sich nicht mit der alten Harmonie verbunden hätte. Als Gegenbild des antagonistischen Zustandes der Gegenwart sieht er die griechische Polis, in der alle Reize der Kunst und Würden der Weisheit miteinander verbunden seien. Dagegen fällt der ›Einblick in das, was ist‹ (Hegel), ebenso düster aus, wie er unbestechlich ist: und zwar gleichermaßen nach der Seite der Jakobinerherrschaft und nach jener der Hybris und Erschlaffung von Bürgertum und höfischer Welt im sterbenden Ancien régime. Die beiden Extreme berühren sich und formen gemeinsam ein Weltalter aus, das Schiller wohl unschwer mit Fichte als »Zeitalter vollendeter Sündhaftigkeit« charakterisieren würde. »So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.« 15 In der weiteren argumentativen Struktur der Abhandlung entwirft Schiller die entgegengesetzten Dualismen, die einander gegenseitig ausschließen. Nur in einem höheren, sie überschreitenden Dritten – und eben dies soll der Ort des Ästhetischen sein – lassen sie sich zusammenführen: die Antithesen von Sinnlichkeit-Sittlichkeit, Natur-Kultur, Freiheit-Notwendigkeit sind die Indikatoren von Entzweiung, die auf einen doppelten Trieb zurückgeführt werden – eben auf Stoff- und Formtrieb. Der erstere sei an die Materie gebunden. Der letztere dagegen entwerfe sich in Freiheit. Er sei in der Lage, »Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen«. ›Vereinigt wirken‹ können beide Triebe nur in einem Dritten, eben im Spieltrieb. Er verbindet daher das Innere und Äußere, er ist gleichsam das Band zwischen Subjektivität und Welt. Der Spieltrieb 15

Ibid., S. 581.

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Schiller und Goethe

mag ein Postulat ästhetischer Vernunft sein. Er ist aber vor allem als Antwort auf die »Bestimmung des Menschen« entworfen: bezieht er sich doch auf den Menschen als ›homo ludens‹, gemäß Schillers Maxime: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Der ästhetische Zustand ist ein Zustand höchster Freiheit und Gelassenheit, weder sinnlich noch qua Sittlichkeit ist der Mensch in diesem Zustand zu nötigen, und daher erfährt er sich als vollkommen frei. Im ›ästhetischen Staat‹ manifestiert sich jene Mitte, in der der Stoff durch die Form ›vertilgt‹ wird. Anders als später in Schellings identitätsphilosophischer Konzeption der Kunst, soll die Materie also gerade kein Eigenrecht erhalten, sondern in die Idee hinein aufgezehrt werden. »Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet.« 16 Hier konvergieren mehrere Linien: Schillers Rede vom Staat nimmt den kantischen Topos vom ›Reich des Geschmacks‹ beim Wort. Staatsrechtlich und -wissenschaftlich aber hat er seine Funktion im normativen und kontrafaktischen Verweis auf die Unhintergehbarkeit staatlicher Gesetzeskraft und übergesetzlicher Humanität. Zudem ist der ästhetische Staat eine Vorgestalt von Elysium, dem Vollkommenheitszustand, der sich einstellen soll, nachdem die Entfremdungen der Aufklärungsepoche durchlaufen und in einer höheren Einheit wieder zusammengeführt sind. Es folgt, als letzte große Theorie-Abhandlung, bevor die ›philosophische Bude‹ ein für alle Mal 1795 geschlossen wird (so in einem Brief an Goethe vom 17. Dezember jenes Jahres), der Text ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹. Schiller rekurriert darin auf den naturwüchsigen Ursprung der Kunst und des Schönen. In intaktem Zustand sieht er ihn im homerischen Zeitalter, in der, wie die Goethezeit noch zu sagen wagte, heroischen griechischen Dichtung. Das naive Genie, das in diese Kunstperiode gehört, verfahre intuitiv, nur von Natur und Instinkt, »seinen schützenden Engeln«, begleitet. Es ist Naturgenie oder es ist gar nicht. Es verfügt über eine Kraft des Ausdrucks, in der das Zei16

Schiller, Werke V, S. 668 f.

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chen ganz im Bezeichneten verschwindet, wie Schiller die künstlerische Darstellung und Figuration der Idee erläutert. Die Differenz des Naiven und Sentimentalischen ist damit Teil der ›Querelle des anciens et des modernes‹. Sie setzt den Verlust dieses Naturzustandes aus. Das Naive ist dabei der antiken, das Sentimentalische der modernen Seite der Kunst zugeordnet. Ebenso auffällig ist aber, dass diese Differenz nur von der sentimentalischen Seite des Phänomens her überhaupt formuliert werden kann. Die gesamte Verhältnisbestimmung ist also ihrerseits, worauf Peter Szondi schon vor Jahrzehnten treffend hingewiesen hat, 17 ›sentimentalisch‹. 18 Die Asymmetrie muss man festhalten: Natur erscheint dabei in einem geschichtsphilosophischen Blick als die Vergangenheit des Geistes. »Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr seyn können, und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluss willkührlicher und künstlicher Formen erfahren oder doch mit demselben zu kämpfen gehabt haben, da werden sie als die Zeugen und als die Rächer der Natur auftreten. Sei werden entweder Natur seyn, oder sie werden die verlorene suchen.« 19 Prägend für die Kluft ist, dass der naive Dichter seinen Kosmos gleichsam aus sich und seiner Natur ›heraussetzt‹, wohingegen der ›sentimentalische‹ seine Produktion immer in einer durch Reflexion einzuholenden Abständigkeit gewinnt. Daher ergreift naive Dichtung in unmittelbarer Weise, sentimentalische hingegen, die auf reflektierender Distanz beruht, bedarf ihrerseits der Reflexion, um verstanden zu werden. Diese Dichotomie war für Schiller, wie man weiß, auch ein Mittel, um sich selbst im Verhältnis zu Goethe zu charakterisieren und das eigene Spezifikum und das von Goethe in einem Typos zu verallgemeinern. Übrigens hatte gerade Goethe von Schiller gefordert, dass er sich selbst und den Anderen exemplarisch charakterisieren sollte. Die Gewichtung dieses Unterschiedes bleibt später leitend, etwa wenn Schiller zum Erläuterer der Mysterien und Leerstellen von Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ wird, gerade auch dem P. Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung, in: ders., Schriften Band II. Frankfurt/Main 1978, S. 59 ff. 18 Ibid., insbes. S. 65 ff. 19 In der ›entgötterten Natur‹ hat Schiller in seinem Gedicht ›Die Götter Griechenlands‹ diesen Zusammenhang noch einmal sichtbar gemacht. Siehe Schiller, Werke, hg. von W. Riedel a. a. O., Band I, S. 169 ff. 17

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Verfasser gegenüber. Der Sentimentalische kann den Naiven sich selbst gegenüber erklären. Sentimentalische Dichtung, die erst in historischer Zeit entstehen und unter Umständen der Reflexion sich erst voll entfalten kann, misst in ihrer Formensprache die Differenzen zwischen Ideal und Wirklichkeit aus. Dabei bedient sie sich entweder der Satire oder der Elegie, die in der ›Idylle‹ eine spezifische Ausprägung findet: Ausdruck der Rückschau in einen arkadisch paradiesischen Urzustand des Schönen. Wenn die Gattungstradition auf eine zeit-enthobene Bukolik gerichtet war bzw. auf eine Wendung ins Vergangene, so greift Schiller auf die Idylle als Zukunftsgestalt aus, auf die Antizipation für »den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurück kann, bis nach Elysium.« Der Begriff der Idylle sei der Begriff »eines völlig aufgelösten Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen, als in der Gesellschaft, einer freyen Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze« einer zur sittlichen Würde ›hinaufgeläuterten‹ Natur: kurz das Ideal der Schönheit, auf das wirkliche Leben angewandt. Dieser Vollbegriff der ›Idylle‹, die Schiller vorschwebte, die er aber als Kunstwerk nicht realisieren konnte, wäre schließlich auch eine Ausgleichung der Differenz von Naivem und Sentimentalischem. In ihr hätte sich Schillers Überzeugung unmittelbar zur Darstellung bringen sollen, dass beide Kunsthaltungen einander in Komplementarität verlangten. Nur so könne das »Ideal schöner Menschlichkeit« ausgeschöpft werden. Damit wäre der Gesichtspunkt dem Vollkommenen gegenüber, eben die Liebe, doch charakterisiert. Im Blick auf sein Verhältnis zu Goethe schreibt Schiller schon 1796 an Wilhelm von Humboldt: »Man wird uns […] verschieden specificieren, aber unsere Arten nicht unterordnen, sondern unter einem höhern idealischen Gattungsbegriffe einander coordinieren.« 20 Der gesuchte Koinzidenzpunkt ist es auch, der Schiller von der Komödie fasziniert sein lässt und von der Oper: Die Komödie vermag, »die Freyheit des Gemüths hervorzubringen«. Sie wehrt den Andrang von Leidenschaften ab oder dämmt ihn zumindest ein. Sie Schiller an Humboldt, 21. März 1796, NA Band 28, S. 204 f. Vgl. dazu auch R. Safranski, Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. München 2004, S. 402 ff., sowie ders., Goethe und Schiller. Die Geschichte einer Freundschaft. München 2009.

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könnte die Tragödie überflüssig machen. Doch erst im Zustand von Elysium sei sie möglich. Auf Darstellungen vollkommener Verklärung, wie sie Goethe in den Helena-Szenen und wieder am Ende des zweiten Teils des Faust andeutete, richtete sich auch Schillers Interesse. Er sah die Oper als eine Möglichkeit der Realisierung. Eine andere Option erwägt er in den nachgelassenen Skizzen und Andeutungen ›Herkules im Olymp‹ : »alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freyheit, lauter Vermögen – keinen Schatten, keine Schranke, nichts von dem allen mehr zu sehen.« 21 Ihn schwindle ordentlich, hat er hinzugefügt, wenn er an diese Aufgabe denke. Ihre Realisierung ist ihm letztlich versagt geblieben. 3.) Was Goethe im Gespräch mit Schiller, aber auch über dieses Gespräch hinausgehend über Kunst festhielt, hat oftmals anti-ästhetische Pointen, ja einen gegen die philosophische Ästhetik gerichteten Affekt. Dies zeigt sich schon in der Frühzeit in der ›Rede zum Shakespeares Tag‹ oder der Schrift ›Von Deutscher Baukunst‹ über Erwin von Steinbach den Erbauer des Straßburger Münsters. Als naturhaftes Genie ließ er seinem eigenen Urteil nach die Ästhetik hinter sich. Diese neue, rasch expandierende Disziplin werde der Kunst gerade nicht gerecht: »Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst, ja oft wahrer und größer als die schöne selbst.« 22 Ähnlich sagt er es auch noch in seinem Beitrag zu der Gedenkschrift auf Winckelmann: »Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unsern Verstand immer unendlich: es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden.« 23 Die kantische Frage nach der Struktur des Schönheitsurteils scheint Goethe weitgehend für irrelevant gehalten zu haben. Er sagt das niemals direkt, hält aber fest, das Ideal dürfe nicht aus Ideen, sondern müsse aus der vollen Ausschöpfung der Formensprache gewonnen werden. »Alle hohen Kunstwerke stellen die menschliche Natur dar […] Die Kunst hat

Der Plan manifestiert sich allerdings bereits in einem Brief an Wilhelm von Humboldt, 30. November 1795, Schiller, Sämtliche Werke Band V, S. 1180 f. Zu Schillers späten ästhetischen Visionen: Alt, Schiller Band II, S. 600 ff. 22 Goethe, Hamburger Ausgabe (HA) XI, S. 13. 23 HA XII, S. 56. 21

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Schiller und Goethe

Stufen, auf jeder derselben können vorzügliche Künstler erscheinen, ein vollkommenes Kunstwerk aber begreift alle Eigenschaften, die sonst nur einzeln ausgeteilt sind«, in sich. 24 Damit verbinden sich die eher herabsetzenden Urteile über die ästhetische Wissenschaft. »Gott erhalte unsre Sinnen, und bewahre uns vor der Theorie der Sinnlichkeit und gebe jedem Anfänger einen rechten Meister!« 25 Goethe verwahrt sich in diesen Zusammenhängen gegen eine rationalistische Logik, die die Sinnlichkeit zum Gegenstand macht. Schönheit sieht er in engem Zusammenhang mit Schein, mit der Darstellung des Charakteristischen, das auf die in ihm verborgenen all-menschlichen Harmonien und Entsprechungen hin durchsichtig gemacht wird. In den ›Maximen und Reflexionen‹ verbindet er dies mit der Reflexion über das offenbare Geheimnis: »Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.« 26 Dies ist durchaus wörtlich gemeint. Das Urphänomen des Schönen, so Goethe an anderem Ort, komme »nie selber zur Erscheinung«, sein Abglanz sei aber »in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar […] und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist [er] als die Natur selber.« 27 Schönheit sei also die Manifestation der Natur, die verborgen geblieben wäre, wenn sie sich nicht im schönen Schein manifestiert hätte. 28 Auch noch in späteren Aufzeichnungen aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat Goethe an der Unausschöpfbarkeit einerseits des Mak’anthropos, der seine Hervorbringungen wie in nuce in sich enthalte (mit Shakespeare als Paradigma, der seine Welten aus Charakteren nur habe schaffen können, weil er sie in sich trug), andererseits an der Unerschöpfbarkeit der Natur festgehalten: »Die Klarheit der Ansicht, die Heiterkeit der Aufnahme, die Leichtigkeit der Mitteilung, das ist es, was uns entzückt; und wenn wir nun behaupten, dieses alles finden wir in den echt griechischen Werken, und zwar geleistet am edelsten Stoff, am würdigsten Gehalt,

Ibid., S. 56. Goethe’s Werke. Sophienausgabe Band XXXIII, S. 34. 26 HA XII, S. 467. 27 Goethe, Gespräch mit Eckermann Mittwoch, 18. April 1827. Goethe, Sämtliche Werke. Münchener Ausgabe Band XIX, S. 555. 28 Vgl. Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 25 ff., HA XII, S. 368 ff. 24 25

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mit sicherer und vollendeter Ausführung, so wird man uns verstehen, wenn wir immer von dort ausgehen und immer dort hinweisen. Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er sei’s!« 29 Dieser transversale Blick, der ein Universalkunstwerk konstituieren kann, bestimmt auch Goethes Begriff der Weltliteratur. Er meint nicht mehr und nicht weniger als eine Kulturen, Zeiten und ihre Begrenzung überschreitende Literatur: Faust II, mit Szenen im germanischen Norden und der Orientierung in den Osten illustriert diesen Zug. Er zeigt sich auch im ›West-östlichen Divan‹ und seiner Ausfahrt in vorklassische Horizonte. In dieser Tendenz berührt sich Goethe mit den Reflexionen und der poetischen Praxis der frühen Romantik auf ein offenes Kunstwerk – ungeachtet der Verdikte, die der Olympier gegen die junge Generation schleuderte. Ein wesentliches Motiv, das in der Korrespondenz zwischen Goethe und Schiller berührt wird, in Goethes Schriften aber noch lange nach Schillers Tod seine Fortsetzung findet, entzündete sich als Debatte über die Hauptgattungen der Dichtung. Goethe nennt sie ›Naturformen‹. Man erinnert sich hier an die Bestimmung der Kunst als »Auslegerin der Natur«. Dass die Kunst einer ›Auslegerin‹ bedarf, verweist auf den tiefen Bruch, den gerade Goethe zwischen Kunst und Natur erkennt. Zwar hält er immer fest, dass das Genie selbst ein im höchsten Grade gesteigertes Naturvermögen sei. Der Differenz ist er sich aber in hohem Grade bewusst: »Die Natur ist von der Kunst durch eine ungeheure Kluft getrennt, welche das Genie selbst, ohne äußere Hülfsmittel, zu überschreiten nicht vermag. Alles, was wir um uns her gewahr werden, ist nur roher Stoff, und wenn sich das schon selten genug ereignet, dass ein Künstler durch Instinkt und Geschmack, durch Übung und Versuche, dahin gelangt, dass er den Dingen ihre äußere schöne Seite abzugewinnen, aus dem vorhandenen Guten das Beste auszuwählen und wenigstens einen gefälligen Schein hervorzubringen lernt, so ist es, besonders in der neuern Zeit, noch viel seltner, dass ein Künstler sowohl in die Tiefe der Gegenstände als in die Tiefe seines eigenen Gemüts zu dringen vermag, um in seinen Werken nicht bloß etwas leicht und oberflächlich Wirkendes, sondern, wetteifernd mit der Natur, etwas geistig Organisches hervorzubringen und seinem Kunstwerk einen solchen

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HA XII, S. 176.

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Gehalt, eine solche Form zu geben, wodurch es natürlich zugleich übernatürlich erscheint.« 30 In der Auseinandersetzung zwischen Goethe und Schiller um das Proprium des Rhapsoden und des Tragikers, der die griechische Differenz zwischen Diegesis, der darstellend Abstand nehmenden Kunst, und Mimesis wieder aufnimmt, macht sich der Streitfall geltend, ob die moderne, zerrissene Welt selbst noch des Tragischen und des Epischen im Sinne der Naturformen der Antike mächtig ist. Deshalb bricht eben hier nicht nur die geschichtsphilosophische ›Querelle‹ auf. Es vertieft sich auch die Debatte zwischen Natur und Kunst. Das ›bürgerliche Trauerspiel‹ ist nicht Tragödie, der Roman allenfalls bürgerliche Epopöe, konstatiert Goethe. Der tragische Stoff wird dabei gewissermaßen entsühnt und humanisiert. Goethe selbst nannte, wie man weiß, seine ›Iphigenie‹ »verteufelt human«. 31 Goethes Bemerkungen zur Kunst sind ästhetisch bedeutsam, gerade wo sie in Analogie einen Blick auf die eigene Produktion freigeben. Er betont, Kunst habe es immer mit symbolischer Mehrdeutigkeit zu tun. »Durch Worte sprechen wir weder die Gegenstände noch uns selbst völlig aus« oder, in knappster Prägnanz formuliert: »Die Schönheit kann nie über sich selbst deutlich werden […] Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen; darum scheint es eine Torheit, sie wieder durch Worte vermitteln zu wollen. Doch indem wir uns darin bemühen, findet sich für den Verstand so mancher Gewinn, der dem ausübenden Vermögen auch wieder zu Gute kommt.« 32 Nur in der Gegenwart großer Kunstwerke, solle und könne über diese gehandelt werden: Dies ist die weitergehende Folgerung.

II.

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1.) Um das Jahr 1800 rückt eine neue Metaphysik des Schönen und des Kunstwerks in das Zentrum der Debatte zwischen Philosophie und Kunst, die den großen ästhetischen Systemen der klassischen deutschen Philosophie vorausgeht und die zugleich Signale der ab30 31 32

Goethe, Morphologie. Werke (Sophienausgabe) Abt. II, Band 6, S. 9 f. Goethe, Münchner Ausgabe III/1, S. 764. HA XII, S. 468.

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soluten und dabei fragmentarischen Kunst enthält, die weit in die Epoche der ästhetischen Moderne vorausverweisen. Der Blick auf Schillers ästhetische Schriften hat die Anknüpfung und zugleich eine Veränderung gegenüber Kants dritter Kritik gezeigt, die sich in der Generation der frühen Romantik fortschreibt. Den jungen Künstler-Philosophen ging es darum, die – immer entzogene – spekulative Objektivierung des Schönen ans Licht zu bringen; in eins mit einer zunehmenden Orientierung am Kunstwerk, in dem sie zur Erscheinung kommt. Die ›Zwecklehre‹ der ›Kritik der Urteilskraft‹ faszinierte diese junge Jenenser Generation, die unter Fichtes Katheder ihre philosophische Inspiration erhielt. Die transzendentalphilosophisch aufgeklärte Teleologie schien geeignet zu sein, einen Medius terminus zwischen Sinnlichkeit und Verstand, praktischer und theoretischer Vernunft zu exponieren. Mit Schiller war dies als »mittlere Stimmung, in welcher das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt und doch auf beide Art tätig […] und bestimmbar ist«, zu benennen. 33 Diese Mitte solle nicht nur im Urteil, sondern ›in re‹ verankert sein. Das Interesse an der Erscheinung der Idee verbindet sich dabei mit einer Kunst- und Literaturrevolution und der endgültigen Loslösung von der Rokoko-Kultur und ihrem Reiz des Angenehmen. In der Aufnahme dieser Revolution folgen die Romantiker Herder und gegen Goethe den am Rande liegen gebliebenen Dichtern des Sturm und Drang. Sie artikulieren das Wesen der Subjektivität, die in jenem »Expressivismus« erstmals in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß entfesselt wurde. Die Romantiker nehmen den kantischen Faden in der Rede von der reinen Spontaneität des Spiels der Erkenntniskräfte auf, die sich an der schönen Gestalt entzündet. Kant sprach von jener Spontaneität als der »unbestimmte[n] Idee des Übersinnlichen in uns«, dem »einzige [n] Schlüssel der Enträtselung dieses uns selbst seinen Quellen nach verborgenen Vermögens.« Schlegel führt diese Überlegung aber so weiter, dass die Manifestation des Schönen im ästhetischen Akt gerade in dessen Performativität zu Tage tritt. Dies ist implizit schon

Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen XX. Brief, a. a. O., S. 633. Auf die starke Wirkung, die Schiller auf die romantische Denkform ausübte, hat M. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/ Main 1989 hingewiesen, vor allem S. 104 ff., im Licht der kantischen ›Kritik der Urteilskraft‹.

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das Plädoyer für ein offenes Kunstwerk. Und noch ein weiteres zeigt sich: das Ungenügen an der ›Deduktion‹ der Möglichkeitsbedingungen für das Geschmacksurteil, die bei Kant eng an den ›sensus communis‹ gebunden war. Als Avantgarde der extremen Individualitäten, die zwar in ihren Coenakeln Geselligkeit zelebrierten, aber dennoch eigenste Wege gehen, scheinen die Romantiker an der Konsensualität des Schönen gezweifelt zu haben. Dies kann man exemplarisch an Friedrich Schlegel verdeutlichen. Er beginnt in seinen Überlegungen über Objektivität und Regelhaftigkeit mit der Anknüpfung an die Geschmackskritik der Ästhetiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts, kommt dann aber schon nach wenigen Jahren, 1797, zu der Aussage: »Alle eigentlichen aesthetischen Urtheile sind ihrer Natur nach Machtansprüche und können nichts andres sein. Beweisen kann man sie nicht, legitmieren aber muss man [sich? oder ›sie‹ ? – die Lesart bleibt unentschieden! H. S.] dazu.« 34 Bei der Aufsuchung der metaphysischen Wahrheit im fragilen Schönen wird nach einem Zustand gefahndet, in dem sich die noumenale Subjektivität selbst ansichtig werden kann. Damit stellt sich die Frage nach der ontologischen Wahrheit des Kunstwerks, die im 20. Jahrhundert von Heidegger und Gadamer expliziert werden sollte, in der frühen Romantik mit besonderer Verve. Wahrheit, die an und in der Kunst erscheint, wird offensichtlich nicht oder zumindest nicht ausschließlich propositional verfasst sein. Sie verweist in eine tiefere Schicht, auf die sinnenfällige Entdeckung des sinnlicher Präsentation entzogenen Grundes von Natur und Verstand. 2.) In der Frühromantik, aber auch bei Schelling und Hölderlin zeigt sich eine Tendenz, das reflexiv nicht einzuholende Absolute als Einheit zu fassen, die die Trennung (Hölderlin spricht von ›Ur-teilung‹) zwischen Subjekt und Objekt übergreift. In ein Begründungssystem ist dieses Absolute aber nicht ohne weiteres integrierbar. Damit wird das Kunstwerk zugleich zur Manifestation des Selbstbewusstseins, das als der unvordenkliche, reflexiv nicht einzuholende, jäh aufblitzende Grund in der Kunst zur Darstellung kommt. Dieter Henrich F. Schlegel, Kritische Ausgabe Band XVI, hg. von H. Eichner. Paderborn u. a. 1981, S. 91, Nr. 71. Vgl. hierzu und zu dem weiteren Zusammenhang: M. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/Main 1989, vor allem S. 121 ff., S. 287 ff.

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hat dazu unter anderem bemerkt: »So hat die Erfahrung, dass Selbstsein kraft inneren Prinzips auf sich und nur auf sich bezogen ist, zu ihrem Komplement nicht nur die Gewissheit, dennoch aus unverfügbarem Grunde zu sein, sondern auch das Wissen, dass dieser Grund ihm unzugänglich bleibt.« 35 Mit sich selbst, wenn auch auf einer ›exzentrischen‹ Bahn, zusammengeschlossen zu sein, bedeutet diesem Bewusstsein, dass es »aus unverfügbarem Grund und somit jenseits seiner selbst« ist. Hölderlin umschreibt sie in großen poetischen Bildern als »Heilig Gedächtnis auch, wachend zu bleiben bei Nacht«. 36 Die Romantiker indessen erfassen als eine ausgezeichnete und zugleich radikalisierende Weise der Kunst, sich dieses Grundes anschauend und in Gefühl und Empfindung innezuwerden, während dagegen alle Reflexion sich nur in unendlicher reflexiver Annäherung zu ihm verhalten kann. Daraus ergibt sich eine Gegensatzspannung, eine Relativierung und Auflösung jedweden fixierten Blickpunktes, die Ironie freisetzt. Das romantische Kunstwerk verklärt. Es löst aber die Verklärungen und Apotheosen auch sogleich wieder in einen Strudel der Entzauberungen hinein auf. Novalis hat etwa bemerkt: »Je mannigfaltiger etwas individualisiert ist, desto mannigfacher ist seine Berührung mit anderen Individuen, desto veränderlicher seine Grenze- und Nachbarschaft. Ein unendlich charakterisiertes Individuum ist Glied eines Infinitonomiums. So unsere Welt – Sie gränzt an unendliche Welten – und doch vielleicht nur an Eine.« 37 Deshalb wird immer wieder konstatiert, dass dort, wo die Philosophie aufhöre, die Kunst beginne. Alles »Filosofiren«, so hatte Novalis sekundierend bemerkt, müsse »bey einem absoluten Grunde endigen«, dieser Grund ist aber eben nie gegeben. Daher ist Philosophieren »eine unendliche Thätigkeit – und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfniß nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ gestillt werden könnte – und darum nie aufhören würde.« 38 D. Henrich, Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel, in: Poetik und Hermeneutik Band II. München 1966, S. 11 ff. 36 Hölderlin, Brod und Wein, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. von M. Knaupp. München 1992, Band I, S. 373 ff. (zweite Fassung des Gedichts). 37 Novalis, Schriften III, S. 261. 38 Novalis, Schriften II, S. 269. 35

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Schlegel hat daraus ästhetische und insbesondere poetologische Konsequenzen gezogen, wobei ironisierende Transzendentalphilosopie und Poetik, Kunst und spekulative ›Reflexion der Reflexion‹ gar nicht rein voneinander getrennt werden können. Seine Reflexionen beruhen auf einer für die Zeit charakteristischen spinozanischen Deutung des Grundes als ›absoluter‹, einer Substanz. Wenn man sich den Übergang zwischen der einen Substanz und den einzelnen artikulierten Individualitäten denken wolle, so Schlegel, könne dies nicht anders geschehen, als dadurch, »dass wir zwischen beyden noch einen Begriff einschieben, nämlich den Begriff des Bildes oder Darstellung, Allegorie (eikon).« 39 Daraus wird nun die weitreichende Konsequenz gezogen, wonach »alle Schönheit – Allegorie« sei. Schellings Deutung der Kunst als ›Tautegorie‹, also als Einheit des darstellenden Symbols und des gesuchten Dargestellten, ist auch als Replik auf diese Konzeption zu verstehen, mit der er durch Einblick in Schlegels Notizbücher eng vertraut war. Allegorie ist zugleich ›Bedeutung‹, ›Allusion‹, ›unendliche Annäherung‹. »Jedes Gedicht, jedes Werk soll das Ganze bedeuten, wirklich und in der Tat bedeuten, und durch die Bedeutung und Nachbildung auch wirklich und in der Tat sein, weil ja außer dem Höheren, worauf sie deutet, nur noch die Bedeutung Dasein und Realität hat.« 40 Vernichtung, Negation, auch Selbst-Destruktion der schönen Form und ihres Scheins gehen damit in die Werkgestalt ein. Deshalb konnte die Romantik als krank oder destruktiv abgetan werden; und dies von keinem Geringeren als Goethe, der, wie wir sahen, in seinem Konzept der Weltliteratur, durchaus formale und thematische Affinitäten zu ihr erkennen ließ. Neben der ›Allegorie‹ pointiert Schlegel, in Reprise auf die englische und französische Ästhetik des 18. Jahrhunderts den Begriff des ›Witzes‹. Wenn nämlich die Zielrichtung der Allegorie darauf geht, »den Schein des Endlichen zu vernichten«, so richtet sich die gegenläufige des ›Witzes‹ darauf, in einem Aufblitzen, einem jähen, sich dann flackernd abschwächenden Licht die absolute Synthesis zu verkörpern. Von ›chaotischer Synthesis‹, dem ›Versteinern‹ einer flüssigen Magma des Vorstellungsstromes ist in diesen Zusammenhängen die Rede, einem Einfall, der eine Art von Ganzheit enthalte. Die Spannweite des unter ›Witz‹ Bezeichneten reicht vom geistrei39 40

F. Schlegel, KA XII, S. 39. F. Schlegel, KA II, S. 414.

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chen Aperçu bis zur Epiphanie der unbefragbaren Evidenzgewissheit. Witz ist deshalb »fragmentarische Genialität,« in Kairos und Momentum Evidenz des vergehenden Augenblickes, wie Schlegel dies umschreibt. Allegorie und Witz verschränken sich aber in der ›romantischen Ironie‹ zu einem zusammenhängenden Syndrom. Schlegel hat auch hierzu wiederum treffende Bestimmungen gegeben: etwa, Ironie sei das »Wechselspiel des Unendlichen und des Endlichen«, von »Schaffen und Vernichten«. In harscher Gegenrichtung zu Fichtes erster Wissenschaftslehre, die freilich der wesentliche Referenzpol bleibt, geht es dabei um ein Ich, das sich strictu sensu nicht ›setze‹, sondern ›suche‹. Dieses ›Ich‹ »findet sich als in sich selbst gespalten und getrennt, voller Widersprüche und Unbegreiflichkeiten, kurz als Stückwerk, der Einheit vielmehr entgegengesetzt. 41 Als Interpretament ging die Frage nach der Zeit in die Raisonnements ein. 42 Zeit wird einerseits als Endlichkeitsindiz und Grenzsetzung markiert. Sie ist aber als Fließen und Vergehen zugleich selbst unendlich. Daher kann man die romantische Zeitkonzeption mit Manfred Frank als eine »nicht endende Endlichkeit« begreifen. 43 Bezogen auf die Divergenz zwischen Zeit und Ewigkeit hat Novalis betont, dass der über-zeitliche Grund nur ›in ordo inverso‹ zur Darstellung zu bringen ist: in einer Umkehrung, deren Struktur Novalis in seinen ›Fichtestudien‹ ausführt. 44 Sie zeigt sich einerseits philosophisch als die spiegelverkehrte Repräsentation des mit sich identischen Gefühls in der Reflexion, andererseits manifestiert sie sich in der Kunst in einer Anschauung, die aufs radikalste mit dem Perfectio-Ideal und den geschlossenen Formen bricht. Auch aus diesem Grund findet man Antizipationen der Ästhetik der Avantgarde der Moderne des 20. Jahrhunderts, insbesondere des Surrealismus, Schlegel, KA XII, 381. Siehe auch den Sammelband: K. Maurer, W. Wehle (Hgg.), Romantik. Aufbruch zur Moderne. (Romanistisches Kolloquium Band 5). München 1991. 42 Vgl. dazu die Dissertationt von M. Frank, Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. München 1972. 43 Frank, ibid., S. 50 ff. 44 Eine Monographie von Violetta Waibel zu dieser bemerkenswerten Fichte-Rezeption ist seit Jahren angekündigt, bislang aber nicht erschienen. Waibel projektiert offensichlich ein zweibändiges Werk, dessen erster Teil den Fichte-Studien von Novalis gewidmet sein soll. Der Titel ist als ›System der Systemlosigkeit‹ angekündigt. 41

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erstmals in der Frühromantik. Novalis hat bemerkt: »Die höchsten Kunstwerke [sind darum] schlechthin ungefällig. Es sind Ideale, die uns nur approximando gefallen können – und sollen – ästhetische Imperative.« 45 Oder als weitere Bestimmung: »Die ganze (dichterische) Repraesentation beruht auf einem Gegenwärtig machen – des Nicht Gegenwärtigen und so fort – (Wunderkraft der Fiction) […]. So die Annahme – der ewige Frieden ist schon da – Gott ist unter uns – hier ist Amerika oder Nirgends- das goldene Zeitalter ist hier – wir sind Zauberer – wir sind moralisch und so fort.« 46 Aufs engste bedingen sich Romantisierung (›progressive Universalpoesie‹) im Sinne von Schlegels programmatischem Begriffswort und Ironisierung, spiegeln sich Verzauberung und Desillusionierung ineinander. Novalis hat dies wieder in einer Weise verdeutlicht, die schon auf die poetologische Praxis der philosophisch abgekühlten, ästhetisch versierten Heidelberger und Berliner Romantik, von Tieck oder E. T. A. Hoffmann vorausgreift: »Romantisiren ist nichts, als eine qualitative Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnissvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten [man denke an Motive wie die Verwandlung des Amtsrates in einen Drachen, seiner Töchter in Schlänglein in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen; H. S.], dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarithmisirt – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. […] Wechselerhöhung und Erniedrigung.« 47 Solger, ein genialer, jung verstorbener Theoretiker der frühromantischen Schule und der einzige Romantiker, den Hegel schätzte, hat das Problem vielleicht zu seiner höchsten Zuspitzung gebracht. Das Absolute, so Solger, komme zur Erscheinung, wenn der Schein, an dem es aufbricht, sich gleichsam selbst vernichte. 48 »In 45 46 47 48

Schlegel, KA II, S. 413. Schlegel, KA III, S. 421, Nr. 782. KA II, S. 545. Vgl. M. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, a. a. O., S. 307 ff., siehe

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diesem Moment des Vergehens zündet sich das göttliche Leben an. Es ist eine Anschauung, die sich selbst aufhebt, an deren Stelle das Absolute selbst tritt.« 49 Romantische Ironie ist, das muss an dieser Stelle besonders betont werden, nicht in Semantik und Gehalt der Werke zu suchen. Sie ist Stil, »poetische Ecriture« (Manfred Frank). Daher verweist sie auf die Selbstreflexion der Rede im Sinn der Exposition schärfster Widersprüche. Dies pointiert Schlegel in seiner Einsicht, dass ein System zu haben, gleichermaßen tödlich sei wie keines zu haben und dass ein Buch, das den Widerspruch, also die selbst-fragmentierende Aufhebung nicht kenne, notwendig unvollständig sei. 50 Der idealtypische Romantiker versucht, bestimmt und unbestimmt zugleich zu sprechen, was jener Ironie ihre Schwebe und ihre formale Extremheit einträgt. Es ist eine ungleich radikalere Form der Ironie als diejenige von Thomas Mann, in der der auktoriale – oder personale Erzähler, dieser ›raunende Beschwörer des Imperfekts‹, stets die Fäden in der Hand behält. 51 Die Destruktion spart jedenfalls auch das Ich nicht aus, das in den Sog von Zerstückelung und Dissemination gerissen wird. 3.) Einen philosophisch zu wenig bekannten, kraftvollen Einspruch hat die die Frühromantik insgesamt bewegende transzendentalpoetologische Konzeption durch Jean Paul erfahren. Zunächst replizierte der ›andere Meister von Bayreuth‹ auf Fichte. Er tat dies in seiner ›Clavis Fichteana seu Leibgeberiana‹. Der fingierte Verfasser ›Leibgeber‹ ist eine Figur aus Jean Pauls ›Siebenkäs‹-Roman. Schon der Name macht deutlich, dass, wie Jean Paul Fichte verstand und zugleich missverstand, dem sich selbst und die Welt wie eine Spinne aus sich heraussetzenden Ich ein Leib gegeben werden müsse. Das transzendentale Ich ist gleichsam ›entleibt‹. Damit aber sei es reine auch ders., Die Philosophie des sogenannten ›magischen Idealismus‹, in: Euphorion 63 (1969), S. 88 ff. Siehe auch Hegel, Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel, in: Theorie-Werkausgabe Band II. Frankfurt/Main 1970, S. 205 ff., worin sich zeigt, dass Hegel gegenüber Solger sein Verdikt, wie er es sonst gegen die Romantik richtete, aufbricht. 49 Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Herausgegeben von L. Tieck und F. von Raumer. Band 2. Leipzig 1826, S. 283. 50 F. Schlegel, Kritische Ausgabe Band II, S. 160, Nummer 108. Dazu auch E. Behler, Romantische Ironie und literarische Moderne. Paderborn 1997. 51 Darauf hat Martin Walser in seinen Vorlesungen: Selbstbewußtsein und Ironie. Frankfurt/Main 1981 hingewiesen.

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Abstraktion. So lässt Jean Paul dieses leib-lose, luft-kutschierende Ich der Nach-Fichtezeit sich selbst charakterisieren: »Es frappiert mich selber, dass ich das All und Universum bin; mehr kann man nicht werden in der Welt als die Welt selber und Gott und die Geistwerwelt dazu. Nur so lange Zeit (die wiederum mein Werk ist) hätt ich nicht versitzen sollen, ohne darauf zu kommen, dass ich die ›natura naturans‹ und der Demiurgos und der (Atlas) des Universums bin.« 52 Leibgeber preist sein »alles gebährendes, fohlendes, lammendes, werfendes, setzendes Ich«. Jean Paul hat, wo er im eigenen Namen spricht, die Transzendental-Poetik so kommentiert, dass der Mensch, der ohne Störung im Reich seiner Ideen regiere, in Wahrheit sei wie »Johann ohne Land […], wie ein Philosoph, der alles macht, was er denkt – wo er auch seinen Körper aus den Wellen und Brandungen der Außenwelt zieht und Kälte, Hitze, Hunger, Nervenschwäche und Schwindsucht und Wassersucht und Armuth ihn nicht mehr antasten und den Geist keine Furcht, keine Sünde, kein Irrthum im Irrhause.« 53 Mit Jacobi in Pempelfort, mit dem er in einem engen freundschaftlichen Briefwechsel steht, hält Jean Paul, auch wenn er die theologischen Folgerungen nicht teilt, an einem unvordenklich Realen fest. Dieses Reale sei ein irreversibles Punctum, das sich auch der radikalen Ironisierung entzieht. Dies verweist einerseits auf das ›commercium mentis et corporis‹, das Genie im Mechanismus des Leibes. Jene naturphilosophische Explikation beim frühen Jean Paul wird später im Umkreis seiner ›Vorschule der Ästhetik‹ weiter phrasiert: als ein Instinkt der Seele, der uns zwingt, »an fremde Ichs neben unserem zu glauben, da wir ewig nur Körper sehen – also unsere Seele in fremde Augen, Nasen, Lippen überzutragen.« »Wir sind unvermögend, uns nur eine Glückseligkeit vorzustellen«, denn »jede Zit. nach G. Müller, Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik und des deutschen Idealismus, in: W. Jaeschke (Hg.), Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Hamburg 1999, S. 159 ff., hier S. 160. 53 Jean Pauls sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von E Berend. Weimar 1927 ff. Band I, 9, S. 332 f. Dies wäre um viele weitere Stellenbelege zu erweitern. Vgl. G. Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983 und W. Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jeans Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg/München 1975; ferner: G. Och, Der Körper als Zeichen. Zur Bedeutung des mimisch-gestischen und physiognomischen Ausdrucks im Werk Jean Pauls. Erlangen 1985. 52

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Liebe und jeder Hass, jeder Schmerz und jede Freude fühlen sich ewig und unendlich. So gibt es auch eine »Furcht vor etwas Unendlichem«. Das Ich erfährt sich, im Sinn des Außenseitermotivs, den auch die frühe Romantik allzu gut kennt, als »der fremde Geist, vor dem es schauert, der Abgrund, vor dem es zu stehen glaubt.« 54 Der Traum und die Übergangszustände des Erwachens sind herausgehobene Orte dieser Selbstbegegnung. Das ›commercium‹ zeigt sich an der physiognomischen Spur des Geistes im Leib, einer »Physiognomik des Universums«, wie Jean Paul Lavater paraphrasiert. Jean Paul betont dabei immer wieder, dass Körpermaschine und Geist nur fallweise in Harmonie miteinander verbunden seien. Wenn sich das Ich in die Natur in ihrer Schönheit und Erhabenheit versenkt, dann kann es sich mitunter in glücklichen Augenblicken in einer Totalität mit ihr empfinden. Doch erst, wenn die Membran zur Außenwelt durchsichtig wird, stellt sich die Harmonie zwischen unterschiedenen Kräften ein. Harmonie setzt also den Verlust der Totalitätsempfindung voraus und ist daher immer schon fragil. Jean Paul denkt monadologisch, leibnizianisch, und gerade nicht cartesisch, wenn er seine anti-fichteanischen Pfeile schießt. Doch er kennt, gerade in den Phasen seiner sich verlierenden Versenkung in das eigene Ich, den Zerfall des Selbstbewusstseins, so dass sich das Ich-Selbst als Automaten-Mensch begegnet. Die Unheimlichkeit des Doppelgängermotivs hat hier ihren Ort. Ein Beispiel aus der Selbstwahrnehmung des Victor im ›Hesperus‹-Roman mag diesen Zug illustrieren: »Denn ihn schauerte vor diesem fleischfarbnen Schatten seines Ich. Schon in der Kindheit streiften unter allen Gespenstergeschichten solche von Leuten, die sich selber gesehen, mit der kältesten Hand über seine Brust. Oft besah er abends vor dem Bettegehen seinen bebenden Körper so lange, dass er ihn von sich abtrennte und ihn als eine fremde Gestalt so allen neben seinem Ich stehen und gestikulieren sah.« 55 Ein Bündnis besteht zwischen Geist und Leib; ein fragiler Vertrag, nicht mehr. Das Bestehen auf der Bedeutung des Leibes bedeutet mithin auch, dass seine Zerbrechlichkeit und Hinfälligkeit in den Blick kommt. In diesem Horizont beginnt Jean Paul, leibnizianisch inspiriert, doch vor dem Hintergrund der schlegelschen Ironiekonzeption, sei54 55

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Werke I. 5, S. 45. Jean Paul, Hesperus, Sämtliche Werke I. 1, S. 711 f.

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nen Humor-Begriff zu entfalten, durchaus und bewusst als Antidotum zur romantischen Ironie, aber gleichfalls als Programm einer romantischen Poesie angelegt. Treffender als in allen Versuchen einer Begriffsbestimmung hat er das wesentliche Momentum des Humors in einem Bild formuliert. Mit dem Humor fliege man, »den Blick nach unten gerichtet, rückwärts dem Himmel zu.« 56 Humor ist so das ›umgekehrte Erhabene‹. Der Humorist 57 sucht nicht, wie der Ironiker, die Endlichkeit zu vernichten. »Es gibt für ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt; er hebt – ungleich dem gemeinen Spaßmacher mit seinen Seitenhieben – keine einzelne Narrheit heraus, sondern er erniedrigt das Große, aber – ungleich der Parodie – um ihm das Kleine, und erhöhet das Kleine, aber – ungleich der Ironie – um ihm das Große an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten, weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts.« 58 Zum »Lausedichter«, der die Mikrologie alltäglichen Lebens zum Stilprinzip macht, wird Jean Paul, indem er sich der Unendlichkeit des Humors zuwendet, einer Unendlichkeit, die weitet, nicht ängstigt, wie es sonst die Furcht vor dem Unbegrenzten, dem Apeiron tut. Subjektivität und Sinnlichkeit bilden den humoristischen Gestus aus. Leiden an sich selbst und die Möglichkeit der Verklärung können im Humor koexistieren. Insofern ist der Humor auch eine Art von Theodizee. 59 Diese humoristische ›Entübelung des Übels‹ (Odo Marquard) bemüht noch einmal ein Motiv aus der leibnizischen ›Theodizee‹ : »Man muss jedoch auch Leiden und Missgeburten zur Ordnung rechnen, und man tut gut daran, sich klar zu machen, wie viel besser es doch ist, diese Mängel und diese Missgeburten zuzulassen, als die allgemeinen Gesetze zu Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Band V, S. 124 f., siehe auch die ›kleine Nachschule‹, ibid., S. 469 ff. mit weiteren Detaillierungen und Spezifizierungen zum Humor. 57 Aus diesem Begriff sind freilich biedermeierliche Akzente späterer Zeit völlig fernzuhalten. Für Jean Paul ist der Humor geradezu die theologische Funktion der Kunst. In ihm vollzieht sich eigentlich Theodizee. Dies steht in bemerkenswerter Differenz zu Hegels Auffassung, dass im Humor die Kunst ihre Kraft, Mimesis des Absoluten zu sein, gerade preisgegeben hat. Siehe: Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule (1825), § 9. Über den Werth des Humors (I, 16, S. 431). 58 Ibid., I, 11, S. 119. Vgl. auch § 35 der ›Vorschule der Ästhetik‹ : ›Humoristische Sinnlichkeit‹. 59 Vgl. O. Marquard, Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie, in: ders., Apologie des Zufälligen. Stuttgart 1986, S. 22, S. 24 f. 56

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verletzen […] Es verhält sich damit wie mit den gelegentlichen Unregelmäßigkeiten in der Mathematik, die schließlich auf eine große Ordnung hinauslaufen.« 60 Für Jean Paul wurden dennoch der ›Tod Gottes‹ und ein ›Nihilismus‹, auf den kein Trost antwortet, so sehr zur existentiellen Erfahrung, dass die prästabilierte Harmonie und der universale Kalkül ihm schwerlich Trost geben. 4.) Mit dem ›Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ ist eine Grundform im ästhetischen Denken der nachkantischen Philosophie auf den Plan gebracht, an der Schelling und Hölderlin sich orientieren werden, während sich Hegel sehr bald die Kunst als Manifestation des Absoluten entthronen sollte. Jene explosive idealistische Frühschrift beginnt mit der Beschwörung der Ästhetik. Sie ist Anfang und Ende der Philosophie. Die Idee, die alle anderen Ideen vereinigt, also vor allem die theoretische und die praktische Idee, sei die »Idee der Schönheit« 61 »das Wort in höherem platonischen Sinne genommen.« 62 Der höchste Akt der Vernunft soll ein ›ästhetischer Akt‹ sein, was dann zu der Maxime motiviert: »Monotheismus der Vernunft« und »Polytheismus der Einbildungksraft und der Kunst«. Beide aber, Monotheismus und der Polytheismus, sollen gleichermaßen für eine philosophische und künstlerische Elite und das Volk gelten. »So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen.« 63 In seinem ›System des transzendentalen Idealismus‹ im Jahr 1800 legt Schelling darüber Rechenschaft ab, dass eine solche »neue Mythologie« niemals nur die »Erfindung des einzelnen Dichters« sein könne, sondern (die Homerische Frage und ihre Lösung in der Destruktion der Dichter-Identität wird hier mit eingegangen sein) nur des »Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechtes«. Man sollte nicht übersehen, dass die Dichtung geraLeibniz, Die Theodizee. Übersetzung von A. Buchenau. Hamburg 1968, S. 287 f. Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus wird zitiert nach: Hegel, Frühe Schriften. Theorie-Werkausgabe Band 1. Frankfurt/Main 1970, S. 234 ff. Nachweise unmittelbar in Klammern im Text. Vgl. dazu: Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel, hg. von Chr. Jamme und H. Schneider. Frankfurt/Main 1990. 62 Ibid., S. 235. 63 Ibid., S. 236. 60 61

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dezu aus ihrer Mythen schaffenden Kraft bestimmt wird. Auf solche originären Mythen, deren es nicht allzu viele gibt, werden auch die anderen Künste zurückgreifen. Die Dichtung hat dann für sie eine erschließende Funktion. Auch hier wird ein geschichtsphilosophischer Index eingetragen. Die eigene Zeit wird nicht als Spätzeit, sondern als Inkubation einer künftigen Epoche, eines kommenden Gewitters oder einer anbrechenden Revolution verstanden, von der die französische nur ein Teilmoment ist. Spuren davon gehen in Hölderlins Dichtung ›Brod und Wein‹ ein: der Gedanke eines neuen Bundes, einer Einung von Christus und Dionysos im kommenden Gott, der sich im Mysterium – in der Nacht – vorbereitet. Dieser ›kommende Gott‹ kündigt sich in götterloser Zeit an. Er entspringt aus den alten Kulten. Im Mythos verbindet sich die Kunst mit der Religion. Die Religion könne, so Schelling in seiner Schrift ›Philosophie und Religion‹ »selbst im vollkommensten Staat, will sie zugleich sich selbst in unverletzt reiner Idealität erhalten, nie anders als esoterisch oder in Gestalt von Mysterien existieren«. 64 Der späte Schelling wird lehren, dass das eigentlich der Mitteilung Entzogene der Mysterien nichts anderes bedeutete, als dass sie über das polytheistisch sanktionierte Gesetz der Polis hinausführten und den Untergang jener Gottheiten und den Aufgang des noch verborgenen, kommenden Gottes beschworen. 65 Die Frage ist, ob die kommende Gottheit und damit auch die Scheidung von esoterischem und exoterischem Kultus im Christentum ein für alle Mal erreicht und aufgehoben ist, oder ob jüdisch-christlicher Monotheismus selbst zu einer Vergangenheitsgestalt werden wird. Dass die Epiphanie des Göttlichen über die christliche Offenbarung hinausgehe, meinte Schelling zumindest zeitweise. Die Romantiker teilten diese Position. Die These von der Unüberholbarkeit de Christentums sollte dagegen der Kern der Hegelschen Lehre vom ›Tod der Kunst‹ werden. Sehr im Unterschied zum späteren 19. Jahrhundert wird allerdings in der MythologieDebatte um 1800 verdeutlicht, dass der kommende Gott in der Spannung zwischen Altem und Neuem Bund und griechischer MysteSchelling, Philosophie und Religion, in: ders., Werke Band VI, S. 65. Vgl. zu den einschlägigen Texten in dieser Formationsphase die Dokumentation: Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Materialband. Hg. von W. Jaeschke. Hamburg 1999.

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rienreligion als eine Epiphanie in den Blick kommt. Schelling hat in diesem Sinn bemerkt: »Alle Symbole des Christentums zeigen die Bestimmung, die Identität Gottes mit der Welt in Bildern vorzustellen, die dem Christenthum eigentümliche Richtung ist die der Anschauung Gottes im Endlichen.« 66 Auch wenn Hegel diesem Weg dezidiert nicht folgen wird, auch wenn er der Kunst-Religion im Namen des offenbarten Christentums nicht mehr die Rolle einer adäquaten Mimesis des Absoluten zuerkennt, bleibt auch bei ihm die Verbindung zwischen Religionsund Kunstphilosophie eng geknüpft. Die Kunst bleibt die Weise, wie der ›absolute Geist‹ in einer Gemeinde zur Erscheinung kommt.

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NEUNTES KAPITEL:

Kunst im System – Hegel, Schelling, Schleiermacher und Hölderlins Poetologie der ›gegenstrebigen Fügung‹ I.

Strukturen und Differenzen

1.) Aus dem ›Ältesten Systemprogramm‹, demzufolge die alle übrigen vereinende Idee die ästhetische Idee ist, hat Schelling in seinem ›System des transzendentalen Idealismus‹ weitreichende Konsequenzen gezogen. Zwei Jahre später in seiner ›Philosophie der Kunst‹ 1802/03, hat er expliziert, worauf es ihm dabei ankam: »nicht auf das Besondere der Kunstphilosophie, sondern darauf »das Universum in der Gestalt der Kunst, und Philosophie der Kunst als Wissenschaft des All in der Form« der Kunst zur Darstellung zu bringen. 1 Im System des transzendentalen Idealismus’ findet sich die denkwürdige Bezeichnung der Kunst als des »wahren und ewigen Organon zugleich und Dokuments der Philosophie.« Denn in der Kunst komme das Bewusstlose im Handeln und Produzieren in seiner ursprünglichen Identität mit dem Bewusstsein zu Erscheinung und Darstellung. Schelling verbindet damit die These, dass die ästhetische Anschauung des Genieprodukts die einzige adäquate Veranschaulichung der sinnlicher Perzeption sich entziehenden, intellektualen Anschauung sei. Bewusstes Entwerfen und bewusstlose Materie können nicht von einander getrennt bleiben, freier Entwurf und Gebundenheit an die Materie müssen an einem Punkt ›in eins‹ zusammenfallen. Das System der Transzendentalphilosophie verschiebt sich damit schrittweise auf ein Identitätssystem, in dem sich Anfang und Ende zusammenschließen. »Das Kunstwerk nur reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat; was also der Philo-

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soph schon im ersten Akt des Bewusstseins sich trennen lässt.« 2 Die Trennung zwischen dem Subjekt und der All-Identität freilich bleibt in der Philosophie bestehen, eine deutliche Differenz zur frühen IchSchrift von 1795, wo in der intellektualen (Selbst-)Anschauung des Ich und daher in der Philosophie jene Einheit aufgesucht wurde. Schelling spricht an dieser Stelle und in seinen ›Vorlesungen über das akademische Studium‹ (1803) von der ›heiligen Kunst‹, bzw. der Kunst als Werkzeug der Götter. Dass sich nach Platons ›Ion‹ die Kunst zwischen Wahn (mania) und hieratisch heiliger Erhebung bewegt, hat Schelling als Grundproblem der Kunst gesehen und in Anziehung und Abstoßung an seinem Freund Hölderlin beobachtet. Faszination und eine Selbstimmunisierung gegen die bedrohliche Seite dieses intimen Verhältnisses des Dichters zum Göttlichen versucht er daher in ein fragiles Gleichgewicht zu bringen. Die Philosophie eröffnet Schelling zufolge den ›objektiven‹ Gesichtspunkt, von dem her die Kunst gedeutet und kommentiert werden kann. Kunst ist kommentarbedürftig. Wissenschaftliche philosophische ›Construktion‹, die Aufhebung von Gegensätzen in das ›identisch Eine‹, wird sich dabei dem Organon der großen Werke, der Epen Homers und Dantes, der antiken Tragödien, der Malerei Raffaels zuwenden und zeigen müssen, was an ihnen kontingent und was Darstellung des Absoluten ist. Bemerkenswert ist die geschichtsphilosophische These, die jener Hegels vom Tod der Kunst exakt entgegengesetzt ist: Nach Schelling ermöglicht die Verbildlichung reiner göttlicher Liebe im Christentum erst, dass die Bewegung der Philosophie sichtbar werden kann. Von besonderer Bedeutung, auch weil sie nicht einer SystemKonzeption unterworfen ist, ist Schellings Rede ›Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur‹ vor dem bayrischen König Maximilian im Jahr 1807. Zu diesem Zeitpunkt ist Schelling bereits Kustos der Kunstschätze des bayrischen Königs. 3 In der programmatischen Rede geht Schelling über den Sachgehalt von Goethes Topos von der Kunst als ›Auslegerin der Natur‹ hinaus. Die Kunst wird Prinzip und Norm für die Beurteilung der Schelling, System des transzendentalen Idealismus, hier zit. nach ders., Texte zur Philosophie der Kunst. Stuttgart 1982, S. 118 f. 3 Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur, in: Texte zur Philosophie der Kunst, S. 53 ff. 2

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Naturschönheit. Eine Landschaft, durch das Organon einer Darstellung in Zeichnung, Bild oder der literarischen Beschreibung gesehen, zeigt sich erst von der Kunstdarstellung her in ihrer inneren Artikuliertheit. 4 Dabei zollt Schelling einem Topos der neuplatonischen Metaphysik des Schönen Tribut. Plotins Enneade 3, 8: ›Von der Natur, von der Betrachtung und von dem Einen‹ hatte er in der Übersetzung des Freundes Creuzer vor Augen. Diesem Text zufolge ahmt die Kunst die Ideen des Seienden nach, sie bringt sie ans Licht und enthüllt ihr inneres Wesen. Trotz dieser Referenz auf das ›Denken des Einen‹ wird in der Rede, stärker als in anderen Schriften, der Fragmentcharakter der Kunst akzentuiert. An diesem Punkt ist Schellings Kunstphilosophie von der Romantik inspiriert. Kunst sei, lehrt er, »unmittelbares Nachbild der absoluten Produktion oder der absoluten Selbstaffirmation.« Grenze und Begrenztheit (›Peras‹ und ›Apeiron‹, von denen Platon im ›Philebos‹ spricht), verbinden sich im Kunstwerk. Eminente Kunstwerke eröffnen gleichsam den Blick auf das Ganze der Natur. Die Wahrnehmung entzündet sich an einer konkreten Gestalt, die mit anderen Gestalten in Zusammenhängen gesehen werden kann. Dadurch können verschiedene Überlieferungen der Kunst als Perzeptionen der Welt erfasst werden. Prägnant hat Schelling formuliert, das große Kunstwerk sei »Absolutheit in der Begrenzung.« Die synthetisierende, schaffende Kraft im Menschen versteht er als tätige »Seele der Form«, wodurch der Mensch sich über alle »Selbstheit« erhebt. Wie es wohl zuletzt in der Renaissance geschehen ist, rückt Schelling damit den schaffenden Künstler in das Zentrum seiner metaphysischen Kunstphilosophie. Dies bedeutet in keiner Weise, dass der Betrachter des Bildes oder der Zuschauer der Aufführung von Schelling übergangen werden würde. Am ›Genieprodukt‹, der Form »produktiver Einbildungskraft«, wird sich der Betrachter seines Ingeniums bewusst, auch wenn er keineswegs zum produktiven Künstler wird. Was der Akt des Absoluten ist, die Schöpferkraft des Gottes, zeigt sich exemplarisch an großer Kunst. Die Rede vom »dunklen Begriff des Genies« wird von Schelling verwendet, um eine spezifische Weise des Selbstempfindens von Dazu Beierwaltes, Einleitung, in: Schelling, Texte zur Philosophie der Kunst, a. a. O., S. 4 ff.

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Subjektivität zu bezeichnen – so wie sie sich in künstlericher Produktion und ästhetischer Rezeption einstellt. Am Genie wird eine Kraft zur Integration verschiedener Momente, der diversen Membra disiecta sichtbar, die sich ähnlich auch im menschlichen Geist manifestiert. Aufgrund seiner schöpferischen Begabung ist das Genie daher der große Mensch (mak’anthropos). Die komponierte, nach Heraklit gegen-wendige Harmonie des Kunstwerkes, wird Indiz für den Einheitsgrund der Welt. Schelling bemerkte im ›System des transzendentalen Idealismus‹ emphatisch, Kunst sei der (einzige) Gottesbeweis, die »einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existiert hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müsste.« 5 Der Grenzgedanke des einen Kunstwerks, in dem alle Fäden der Weltkunst zusammenlaufen, hat Schelling nachhaltig beschäftigt. Zugleich blickt er auf die temporale Orientierung der Kunst und ihre mögliche Erneuerung. »Aus der Asche des Dahingesunkenen« könne Kunst nicht ihre Funken schlagen. Kunst bleibt auch gebunden an die jeweilige Kultur eines öffentlichen Raumes. Den Radikalexperimenten, den wenigen, einzelnen, wie sie die Frühromantik betrieb, wird damit eine Grenze gesetzt. Schelling meint, dass nicht zuletzt die Philosophie der Kunst ihre Form geben und sie aus ihrer Ermattung reißen könne. Von dem Grundriss der ›Philosophie der Kunst‹ (1802/03) ist zu sprechen, weil er die Seite der ›objektiven Darstellung‹ weiter konkretisiert. Schelling geht es dabei, wie er in begleitenden Briefen an den Freund August Wilhelm Schlegel schreibt, nicht einfach um ›Ästhetik‹, sondern um ›Wiederholung‹ der Philosophie, in diesem Fall also seiner Identitätsphilosophie, in deren höchster Potenz: der Identität schaffenden Potenz der Kunst. Schelling geht davon aus, dass alle Kunst theophanen Charakter habe: Gott selbst ist ihr Grund. Die Verbindung von Real-Sein und Ideal-Sein, Bewusstsein und Bewusstlosigkeit im großen und gelungenen Kunstwerk verweist unmittelbar auf die Ermöglichung dieser Einheit in Gott. Kunst begreift Schelling daher in Beziehung neuplatonischer Elemente auf die Ästhetik als Emanation des Gottes, der sich in Ideen mitteilt und in Differenzen auseinandertritt. Er bewahrt dabei aber seine In-differenz. Das Absolute bleibt nicht in einer amorphen Ge5

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staltlosigkeit, wie man mit Hegels bösem Vorwurf der Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, der hegelschen Identitätsphilosophie unterstellen könnte. Es profiliert und differenziert sich in der Gestalt von ›ästhetischen Ideen‹, die sich in Mythos und Symbolen manifestieren, dem Thesaurus, aus dem Kunst schöpfen kann. Nach Schelling tritt in der Kunst in Einzelgestalten auseinander, was im Absoluten Strukturen jenes göttlichen Geistes sind, deren Einzelheit freilich sofort wieder vom Einheitssinn des Geistes übergriffen werden. Dass Kunst nur aus Mythologie geschöpft werden kann, und dass das Arsenal der Mythologie begrenzt ist, ist eine Grundannahme Schellings. Allerdings begreift er später die Auffassung des ›Ältesten Systemprogramms‹ als Illusion, es ließe sich eine ›neue Mythologie‹ gleichsam aus dem Nichts erschaffen. Mythologie der Antike und Mythologie des Christentums bilden den Fundus; niemals ist die Mythologie Ergebnis der Hervorbringungen eines einzelnen Genies. Aber in einzelnen großen Ingenien verdichtet, variiert und manifestiert sie sich. 6 Am Ende des ›Systems des transzendentalen Idealismus‹ kann Schelling deshalb festhalten, dass die Wissenschaft und die Philosophie wieder, wie am Anfang der Menschheit, auf die Kunst zurückgehen sollten. Höchste Form der Kunst ist daher für Schelling, auch wieder in strikter Entgegensetzung zu Hegel, die symbolische Kunst, in der sich die Idee selbst gestalthaft ausspricht: in einer sinnlichen Erscheinung, die in ein der Darstellung Entzogenes, Verschwiegenes zurückverweist. Symbolische Kunst zeigt, dass die Idee nicht in der Darstellung aufgeht. Jener Ansatz ist gerade bei Schelling, der lange Jahre der bedeutenden Gemälde- und Skulpturensammlung in München als Präsident der Akademie der Schönen Künste und zugleich als oberster Kurator vorstand, von einem intensiven Umgang mit Werken vorwiegend der Dichtung und der bildenden Kunst bestimmt gewesen: Aristophanes, Dante, Ariost, Shakespeare; unter den Malern Leonardo, Raffael, Tizian, Correggio und bei den neueren Philipp Otto

Zur Auseinandersetzung um dieses Diktum und die sich damit verbindende immer deutlichere Ausprägung der Differenzen zwischen Schelling und Hegel vgl. jetzt mit weiteren einschlägigen Verweisen: W. Jaeschke, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München 2012, insbesondere S. 573 ff.

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Runge nennt er mit besonderem Nachdruck. Als höchste Manifestation von Kunst fasst Schelling dabei die ›tautegorische‹ Kunst auf, eine Kunst, in der sich die Idee unmittelbar selbst ausspricht, die mithin nichts anderes bedeutet als sich selbst. Allerdings hat sich diese starke Orientierung an der Kunst bei Schelling später relativiert, ja verloren. Namentlich, als ihm die Systemgestalt selbst fraglich wird, als die Wirklichkeit der Freiheit und des Bösen deren Tektonik sprengt, tritt auch die eminente Bedeutung der Kunst in den Hintergrund. Der Schweizer Literaturhistoriker Emil Staiger hat jenen Wechsel in Schellings Lebens- und Denkweg mit wenigen Linien holzschnittartig, doch eindrücklich gezeichnet: »Die alte Mahnung ›Primum vivere, deinde philosophari‹ wurde ihm unbarmherzig eingeprägt. Man pflegt die Wendung mit dem Tode seiner Gattin zu begründen. Zu Unrecht! Sie beginnt schon früher. Der Klatsch um seine Verbindung mit Caroline und ihre Ehe mit Schlegel […], die Verödung der Jenaer Universität, die Auflösung des romantischen Kreises: dies alles entsprach so gar nicht seiner hochgemuten Metaphysik, bewies die Existenz des Ungefügen und Hinderlichen so scharf, dass die serene Stimmung, der Traum von einer universalen Harmonie, allmählich einer nicht minder universalen Gereiztheit wich. Um diese Zeit bemerken wir in Schellings Charakter zum erstenmal auch tückische und dämonische Züge, den Hass, in den ein allzu großes verletztes Vertrauen so leicht umschlägt, die zornige Ungeduld, die einen Menschen wohl befallen mag, der deutlich sieht, was nach seiner heiligsten Überzeugung nicht sein kann.« 7 Wie im Brennpunkt verdichtet sich dies für Staiger in zwei Sätzen, der erste aus der ›Philosophie der Kunst‹ (1802): »Das Universum ist in Gott als absolutes Kunstwerk und in ewiger Schönheit gebildet.« Und dann aus der Zeit der ›Weltalter‹ : »Ein Hemmendes, Widerstrebendes drängt sich überall auf: dies andere, das, so zu reden, nicht sein sollte, und doch ist, ja sein muss, dies Nein, das sich dem Ja, dies Verfinsternde, das sich dem Licht, dies Krumme, das sich dem Geraden, dies Linke, das sich dem Rechten entgegenstellt, und wie man sonst diesen ewigen Gegensatz in Bildern auszudrücken versucht hat.« 8

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So Emil Staiger, Kunst der Interpretation. Zürich 1955, S. 189. Schelling, Werke VIII, S. 211.

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2.) Hegel unterscheidet sich auch kunstphilosophisch explizit und pointiert von Schelling. Er fügt Kunst in das System des absoluten Geistes ein. In der ›Erhebung‹ vom Endlichen zum Unendlichen kommt im Sinn des Systemfragments von 1800 der christlichen Kenose-Vorstellung mit der Liedstrophe: »Den aller Himmel Himmel nicht umschloss, der liegt nun in Mariä Schoß« entscheidendes Gewicht zu. Obwohl Kunst damit noch eine Einheit des Endlichen und des Absoluten figuriert, deutet sich darin behutsam die Abkehr von dem Gedanken an, dass sich in der Kunst die All-Einheit eröffne. Im Zug seiner Abkehr von der Kunstreligion des ›Ältesten Systemprogramms‹ wendet sich Hegel dem Problem der geschichtlichen Freiheit zu, also der Sphäre, die er später als ›objektiven Geist‹ kennzeichnen sollte. Dieser Bereich wird dann geschichtsphilosophisch spezifiziert: auf der einen Seite die griechische Polis, die sich von den Spannungen und Spaltungen der modernen Welt andererseits unterscheidet. In Jena um 1800 arbeitete Hegel sein System aus und klärte damit auch die Positionierung der Kunst. In der Ausarbeitung ›Naturphilosophie und Philosophie des Geistes‹ von 1805/06 ist im Kern und mit später gültig bleibenden Formulierungen erstmals seine Positionierung der Kunst expliziert. Der absolute Geist sei »unmittelbar die Kunst.« 9 In der unmittelbaren Anschauung kann der Geist aber nicht dauerhaft bleiben. Er drängt über sie hinaus oder hinter sie zurück. Deshalb liest man schon hier, die Kunst in ihrer Wahrheit sei Religion. 10 In der Kunst bleibt ein innerer, durch sie nicht aufzulösender Widerspruch. Sie »erzeugt die Welt als geistige und für die Anschauung.« Daher bewegt sie sich selbst in der Dialektik von Inhalt und Form, der Umschlag ist zwar Annäherung an eine vollständige reine Ineins-Bildung, die aber erst vollkommen realisiert werden kann, wenn man über die Kunst hinausgeht, wenn sie »tot« ist. Tot freilich nicht, indem sie in eine prosaische Utilität der Welt und ihres ›Maschinengangs‹ aufgeht, sondern in dem Wissen, dass im gegenwärtigen Weltalter, aufgrund der Entbildlichung des Göttlichen und der Sprengung aller Gestalten im Kerygma von der Menschwerdung Gottes in Christus, Gott nicht mehr als Gestalt Band- und Seitenzahlen beziehen sich auf: G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes; hgg. von R.-P. Horstmann. Hamburg 1987. Hier Jenauer Systementwürfe, III, S. 253. 10 Ibid., S. 255. 9

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verkörpert werden kann. Vor dem Horizont jüdisch-christlicher Religion ist alle künstlerische Darstellung des Absoluten unzulänglich. In den wenigen ungemein eindrucksvollen Seiten von 1805/06 verzichtet Hegel noch auf jede Darlegung des geschichtlichen Verlaufs der Kunst. Um so eindrücklicher macht er das Proprium der Kunst gegenüber Philosophie und Religion deutlich: »Die Kunst erzeugt die Welt als geistige und für die Anschauung – sie ist der indische Bacchus, der nicht der klare sich wissende Geist ist, sondern der begeisterte Geist, der sich in Empfindung und Bild einhüllende, worunter das Furchtbare verborgen ist.« 11 Von hier her entwickelt er eine Gestaltlehre der Kunst zwischen zwei Extremen, plastischer und musikalischer Kunst. Nach Hegel ist die plastische Kunst an der äußeren Gestalt orientiert. Die Musik evoziert hingegen das reine Ich des Geistes. »Die letztere ist das reine Hören, worin die Gestaltung nur das verschwindende Tönen zum Dasein [bringt], und die Melodie der Bewegung unter der Harmonie, dem in sich zurückgekehrten Dreiklang sich bewegt, gestaltlose Bewegung, der Tanz dieser Bewegung selbst ist die anschauungslose – der Zeit angehörige – Darstellung.« 12 Medius terminus ist die Poesie, die sich zwischen rein intellektueller Schönheit sublimer Gedankenlyrik (er denkt an den Landsmann Schiller und vielleicht den unglücklichen Jugendfreund Hölderlin) und der Verbildlichungsmacht des antiken Epos bewegte. Hegel war ein genauer Kenner der Weltliteratur, auch wenn er vermutlich nicht so feinnervig wie Schelling rezipierte. Zwischen Homer, Dante, Shakespeare, Ariost und dem bürgerlichen Roman war ihm der Kanon geläufig. Im Musikalischen und was das Theater anging, hatte er immer eine gewisse Vorliebe für das bürgerlich Einfache, sogar Derbe der Komödien. Dagegen war er, wie Briefe an seine Frau Marie Tucher zeigen, leidenschaftlicher Besucher von Museen und Ausstellungen, der Malerei der Niederländer, der Stilleben des verdämmernden Lichtes. Der ominöse Topos vom »Tod der Kunst« weist darauf hin, dass sich das Absolute 13 nicht mehr in der vollkommenen anthropomorIbid., S. 254. Ibid., S. 253. 13 Schon mehrfach wurde dieser Verweis auf Kunst als permanente Simulation von T. S. Eliot angeführt, die jüngst Robert Spaemann wieder aufgenommen hat. Vgl. 11 12

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phen Form darstellen lasse. Kunst als Ort des Absoluten verweist damit auf die Religion, die ihrerseits auf den reinen Gedanken, die Philosophie transponiert und aufgehoben werden muss. Es ist die Entäußerung in der Kunst und die Kenose, die die konkrete Gestalt ablegt, der hier Rechnung getragen wird. Dieser Gedanke ist im Sinn der geschichtlichen ›tranlsatio imperii‹ als eine Bewegung des Geistes in der Geschichte im Zug seiner Selbstrealisierung und seines Zu-sich-selbst-Kommens positioniert. 14 Er hat also sowohl eine geschichtsphilosophische als auch eine systematische Pointe. In diesem doppelten, wenn auch kaum explizit unterschiedenen Horizont kontrastiert Hegel Kunst und Religion sehr eindrücklich: »Die absolute Religion ist dies Wissen – dass Gott die Tiefe des seiner selbst gewissen Geistes ist […]. Es ist das Wesen, das reine Denken,- aber dieser Abstraktion entäußert, ist er wirkliches Selbst; er ist ein Mensch, der gemeines räumliches und zeitliches Dasein hat – und dieser Einzelne sind alle Einzelnen […] Die absolute Religion aber ist das Tiefe, das zu Tage herausgetreten – dies Tiefe ist das Ich – es ist der Begriff, die absolute reine Macht.« 15 Im Enzyklopädie-System wird diese Konstellation noch einmal präzisiert: »schöne Kunst« könne nur denjenigen Religionen angehören, »in welchen die konkrete in sich frei gewordene, noch nicht aber absolute Geistigkeit Prinzip ist.« 16 Von hier ausgehend entfaltet sich das systematische und geschichtliche Schema von symbolischer, wie Hegel auch sagt: ›erhabener‹ Kunst, in der sich Inhalt und Form jeweils selbst und einander suchen, dann klassischer Kunst, in der das Geistige des Begriffs vollständig in eine anthropomorphe Gestalt (griechische Plastik) integriert werden kann, und romantischer Kunst, die erst ganz menschlich ist. Auf der ersten und der dritten Ebene bestehen zwischen Inhalt und Form vielfache Zufälligkeiten. Die klassische Kunstform, die in der griechischen Plastik und Skulptur ihre vollkommenste Ausprägung gefunden habe, zeige hingegen eine ›Versöhnung‹ im Schein, eine vollkommene Deckung der Erscheinung und des Erders., Was heißt: ›Die Kunst ahmt die Natur nach‹ ?, in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze Band II, a. a. O., S. 321 ff. 14 Vgl. dazu Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion.Theorie-Werkausgabe Band 17, S. 329 ff. 15 Hegel, Gesammelte Werke, Band 8. Jenenser Systementwürfe. Band III, hg. R.-P. Horstmann. Hamburg 1976, S. 280. 16 Hegel, Theorie-Werkausgabe Band 10, S. 371.

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scheinenden. Die ›Idee‹ wandert indessen weiter und löst sich aus der Formgebung. Deshalb kann die griechische Kunst nicht adäquate Repräsentation des Schönen bleiben. Hegels Kanon ist enger gezogen als dies bei Schelling und in der Romantik der Fall war. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass er die Kunst niemals als Organon und Dokument der Philosophie begreift. Die Zielsetzung einer tautegorischen Deckungsgleichheit von Inhalt und Form ist nach Hegel nicht möglich: auch nicht in der klassischen Kunst-Religion. Denn die Verklärung des Göttlichen in einem Bild tritt selbst erst ein, wenn die Unmittelbarkeit sinnlicher Religion schon am Verblassen ist. Doch ähnlich wie Schelling hat Hegel die Subjektivität des Künstlers in einer Duplizität zwischen ›technischem Verstand‹, kontrolliertem bewussten Entwerfen, und dem Pathos göttlichen Wahnsinns und göttlicher Inspiration verortet. Dynamisch entwickelt Hegel die Spannung zwischen Kunst, Religion und begriffenem Geist in seiner ›Phänomenologie des Geistes‹, wo er zeigt, wie die Selbstrepräsentation im Kunstwerk in der griechischen Kulturepoche realisiert ist. Sie tritt mit dem abstrakten Persona-Begriff im römischen Recht und der Menschwerdung Gottes zurück. Diese Bereitschaft, in seinem An-sich-sein unterzugehen, um begriffenes An-und-für-sich-sein zu werden, ist für die Genese des Geistes unabdingbar. In der ›Phänomenologie des Geistes‹ legt Hegel noch eine weitere Engführung zugrunde, der gemäß Kunst nur als Kondensation des Kultus einer bestimmten Religion zur Sprache kommen kann. Höhepunkt ist wiederum die Dynamik der griechischen ›Kunstreligion‹, deren Genese von der Plastik und dem Epos zur Tragödie verläuft. Sie bringt die Differenz des Einzelnen mit der Poliswelt und dem hieratische Raum (beides im Chor) in die Darstellung, und an ihr zeigt sich, wie sich der Kultus in die nicht-öffentlichen Arkana der Mysterien vertieft und unsichtbar wird. 3.) »›Hen diaphoron heauto‹ (das Eine in sich selbst unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden, gab’s keine Philosophie. Nun konnte man bestimmen, das Ganze war da.« 17 Der junge Höl17

Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe III, S. 81.

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derlin suchte von dieser zündenden Einsicht her die kantische Grenzlinie zwischen Einbildungskraft und Verstand zu überschreiten. Dabei schloss er an den platonischen ›Phaidros‹, die ›begeisterte Erinnerung‹ an den entzogenen Grund an. Kant und die Griechen seien seine einzigen Lichter, hat er damals bemerkt. Das erst spät (1961) entdeckte, mittlerweile viel kommentierte und berühmt gewordene Fragment, das die Herausgeber meist mit ›Ueber Urtheil und Seyn‹ überschreiben, expliziert diese Intention knapp aber systematisch. Hölderlin schöpft dabei aus Exzerpten von Jacobis Spinoza-Buch und Fichtes erster Jenenser Vorlesung über die ›Wissenschaftslehre‹ 1794 und er zieht daraus eigenständige Konsequenzen, die ebenso für die Kunstphilosophie wie auch für die Fundamentalphilosophie von Tragweite sind. Hölderlin beschäftigt einerseits, dass die fichtesche Selbstbewussteinsstruktur unhintergehbar auf einer Trennung von Subjekt und Objekt beruht und dass andererseits ein absolutes Ich (Schellings Ich-Schrift) gerade kein Bewusstsein haben kann. Denn Bewusstsein ist immer relational. In einem Brief an Hegel am 26. Januar 1795 bemerkt er: »Ein Bewusstsein ohne Object ist aber nicht denkbar, und wenn ich dieses Object bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit seyn, also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Bewusstsein denkbar.« 18 Bewusstsein versteht er als Beziehung auf den prozessual zu denkenden Grund seiner selbst. Dieser Grund ist Sein im einen, ursprünglichen Sinn des Wortes, zu dem endliches Bewusstsein nur durch Anamnesis einen Schlüssel finden kann; indem es sich nämlich des Schönen innewird, das auf das unverletzte und unverletzliche Sein rekurriert. Seyn sei ein »immanentes Ensoph« in den Teilungen des Bewusstseins. Mit dieser kabbalistischen Anspielung wird auf die Immanenz des All-Einen in jedem Seienden verwiesen: ein spinozanisches Motiv. Eng mit dem Begriff der Kunst verbindet er jenen der Erinnerung, die er im Anschluss an Aurelius Augustinus denkt, den er in der Hymne ›Der Einzige‹ als ›Afrikaner‹ ausdrücklich nennt. Der Gedanke besagt: nur in den Entgegensetzungen zeigt sich Einheit. Sie ist nicht nur im Sinn der Metaphysik des Subjektes zu denken, sondern auch geschichtsphilosophisch in der Relation zwischen Antike und Moderne aufzuweisen. Diesen Faden ver18

Briefe von und an Hegel, hg. von J. Hoffmeister Band 1. Hamburg 1952, S. 18 ff.

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folgte Hölderlin in der Studie ›Der Gesichtspunct, aus dem wir das Alterthum anzusehen haben.‹ 19 Schon früh gewinnen weitere Intentionen und Prägungen Hölderlins auf seiner, dem eigenen Verständnis zufolge, »exzentrischen Bahn« Gestalt: so der Gedanke der ›nephalios methe‹ : lateinisch sobria ebrietas, der heiligen Nüchternheit, die in der vollkommenen Kunst liege. Das künstlerische, dichterische Ingenium hat eine Tendenz, »in die Höhe zu fallen«. Dies ist für Hölderlin das bacchantisch entfesselte Moment an ihr, das aber in der Nüchternheit einen Kontrapunkt findet. Deshalb ist sie als Gegenspannung unerlässlich. In dem Gedicht ›Socrates und Alcibiades‹ heißt es im Sinn dieser Harmonie: »Wer das Tiefste gedacht, / Fühlt das Lebendigste.« 20 Von hier her exponiert Hölderlin eine Poetologie, die nicht an traditionellen Gattungsgrenzen orientiert ist, sondern gattungsübergreifend und -überspringend verschiedene ›Töne‹ und ›Tonarten‹ in den Blick nimmt: den Begriffen ›naiv‹ (episch), ›heroisch‹ (tragisch), ›idealisch‹ (lyrisch) gibt Hölderlin die Qualität von solchen ›Tönen‹. ›Töne‹ sind Positionierungen dichterischer Sprache auf die Wirklichkeit und die Erinnerung an den entzogenen Grund hin. In Aphorismen dieser Zeit verdeutlicht Hölderlin den Primat der Schönheit und auch den Gedanken, dass alle Religion am Ende poetisch sei. »Deswegen sollte alles Erkennen vom Studium des Schönen anfangen – denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern.« 21 Zunehmend erkennt er aber diese Zielsetzung als unmöglich. Geschichtliche Umbrüche in der Folge der Umwälzungen in der Französischen Revolution, vor allem aber der Schock, den es im Jahr 1799 für ihn ähnlich wie für Beethoven bedeutet haben muss, als Napoleon Bonaparte sich als Diktator zeigte, rief »das tiefe Gefühl der Sterblichkeit, des Veränderns seiner [sc. des Menschen; H. S.] zeitlichen Beschränkungen« hervor. Von hier her denkt Hölderlin den Augenblick ›freier Kunstnachahmung‹ als den Übergang zwiHölderlin, Der Gesichtspunkt aus dem wir das Altertum anzusehen haben, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. von J. Schmidt. Frankfurt/Main 1994, Band 2, S. 507–509. 20 Hölderlin, Sokrates und Alcibiades, in: Sämtliche Werke und Briefe Band 1, hg. von M. Knaupp, a. a. O., S. 196. 21 Der leichten Zugänglichkeit wegen wird im folgenden auf diese Ausgabe zurückgegriffen; Hölderlin, Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung, hg. von J. Kreuzer. Hamburg 1998, vgl. insbes. die Aphorismen S. 17 ff. 19

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schen einem Nicht-mehr-sein und einem Noch-nicht in dramatischer Kontinuität durchbrechender, geschichtlicher Veränderung. Das All-Eine, das Asylon des Seins, stellt sich ein »im Untergange oder im Moment, oder genetischer im Werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt.« Dies ist ein Nichts von allem Seienden. Man vergleiche es mit Heideggers Analyse der metaphysischen Langeweile, in der sich die intentionale Welt in dieses Nichts hinein öffnet. 22 Derart gehören für Hölderlin die »ächt tragische Sprache« und die ›intellectuale Anschauung‹ zusammen. Denn in den Übergängen generiert sich die Sprache neu, sinnfällig im dichterischen Enthusiasmus. Zugleich aber ist das Zur-Sprache-Finden ein fragiler Vorgang, der jäh abbrechen, der aber auch in eine hymnische Ekstasis der Einheit münden kann. »[…] seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander«. Hölderlin fügt freilich eine Evokation hinzu, die auf eine künftige Erwartung zielt: »[…] nun aber sind Gesang wir.« 23 Das stammelnde Wort ahmt die Evidenz des Lebendigen nach. Sie hellt die im Schmerz erwartete Inkubation des Göttlichen auf: »Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, / Und, was ich sah, das Heilige sei mein Wort.« 24 Diese Überlegungen sind in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel: »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …« der implizite Subtext. Der dichterische Geist sei im Augenblick des ganzen Sedimentationszusammenhangs einer Überlieferung mächtig, der ›gemeinschaftlichen Seele‹, und damit wisse er um die Notwendigkeit, dass »Ein Geist allen gemein sei«, der »die Göttersprache das Wechseln / Und Werden« fassen lässt. Der poetische Geist gibt sich

Dazu Hölderlin, Das untergehende Vaterland, in: ibid., S. 33 ff. Hölderlin, Versöhnender, der du nimmer geglaubt, 3. Fassung, Stuttgarter Ausgabe II.1, S. 237. 24 Hölderlin, Andenken, in: Sämtliche Werke und Briefe, a. a. O., Band 1, S. 473–475. Vgl. D. Henrich, Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Stuttgart 1986. Henrich hat sich bewusst und dezidiert von der Heideggerschen Deutung Hölderlins als des Dichters des Wesens der Dichtung und der seinsgeschhichtlichen Deutung des am weitesten vorausweisenden Lanthanonten abgegrenzt und Hölderlin eher in die Nachgeschichte kantischer Theoriebildung eingefügt. Dies ist grundsätzlich eine treffende und wichtige Korrektur, doch werden auf diese Weise die antiken Dimensionen Hölderlinschen Denkens zu gering gewichtet. 22 23

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also einen unendlichen Gesichtspunkt. Auf ihn bezogen, kann er im harmonischen Wechsel vor- und rückwärts gehen. Diese Form von Bewusstsein macht erst den Wechsel der Zeiten des Altertums und der neuen Zeit vor einem unendlichen Horizont darstellbar. Hölderlin unterscheidet deshalb dieses höchste dichterische Ingenium von der ›intellectualen Anschauung‹. Diese nämlich enthält einen ›zeitlichen Mangel‹ in sich. Indem sie nicht von der Zeit signiert ist, ist sie eher göttlich als menschlich. Umgekehrt liegt die Ahnung der intuitiven Ganzheit intellektualer Anschauung der tragischen Trennung zugrunde. Erinnernde Erkenntnis und Sprache denkt Hölderlin in einer untrennbaren Verbindung als Heilung dieser Differenz. Er spricht von der »unendlich schöne[n] Reflexion, welche in der durchgängigen Begränzung zugleich durchgängig beziehend und vereinigend ist.« 25 Damit kommt Hölderlins Tragödien-Konzeption ins Spiel. Sie entsteht begleitend zur Arbeit an seinem Empedokles-Drama. Empedokles stürzt sich bewusst in den Ätna, wodurch er die Differenz von Natur und Kunst (›Organischem‹ und ›Aorgischem‹) auflöst und in die All-Natur eingeht. Das Selbstopfer des außerordentlichen Menschen wird gewählt, »damit das Leben einer Welt nicht in einer Einzelheit abstirbt.« 26 Dies würde geschehen, wenn Empedokles die Macht festhalten würde, die ihm angetragen wird. Die hölderlinsche Empedokles-Figur steht daher in einer subtilen Verwandtschaft zu Hegels zeitparalleler Zuwendung zu Christus. Empedokles' Selbstopfer stiftet aber keine Einheit. Es reißt die Differenz zwischen Natur und Kunst erst recht auf. Empedokles’ Natur-Vereinigung kann auch als Hybris und Überschreiten einer gesetzten Grenze aufgefasst werden. Die Arbeit am Empedokles-Komplex zeigte Hölderlin, dass die platonisch-neuplatonische, vor allem auf Proklos zurückgehende Trias von Einheit, Entzweiung und Vereinigung sich nicht schließen lässt. Auch im Kunstwerk kann das nicht geschehen. In seinen tief dringenden Reflexionen über das Tragische hat Hölderlin darauf verwiesen, dass im tragischen Untergang das Zeichen »= 0« werde. ZeiHölderlin, Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist, in: Hölderlin, Theoretische Schriften, a. a. O., S. 39–63, hier S. 62. 26 Über das Tragische (Der Grund zum Empedokles), in: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in 3 Bänden. Hg. von J. Schmidt. Band 2. Frankfurt/Main 1994, S. 425 ff. 25

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chen sind für Hölderlin Erscheinungen des Ursprungs (des »rein Entsprungenen«) und des verborgenen Grundes der Natur in der Realität des endlichen Bewusstseins und der Geschichte. Johann Kreuzer gibt die Pointe dieses Gedankens so wieder: »Die Bedeutung der Tragödie besteht in der Erfahrung der Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte in der radikalen bzw. ursprünglichen Gefährdung eben dieser Bedingungen.« 27 Geschichtlich sedimentierte Zeit kann nicht nur als »reißende Naturmacht« erfahren werden. Sie ist Form des Bleibenden, des gestifteten Zeichens und bleibenden, bewahrten Gedächtnisses: »In der äußersten Grenze des Leidens besteht nemlich nichts mehr als die Bedingung der Zeit oder des Raums. In dieser vergisst sich der Mensch, weil er ganz im Moment ist; der Gott, weil er nichts als Zeit ist.« In der Tragödie, so Hölderlin weiter, werde die Sprache für eine Welt gestiftet, »wo unter Pest und Sinnesverwirrung und allgemein entzündetem Wahrsagergeist, in müßiger Zeit, der Gott und der Mensch, damit der Weltlauf keine Lücke hat und das Gedächtnis der Himmlischen nicht ausgehet, in der allvergessenden Form der Untreue sich mitteilt.« 28 Damit wird zur entscheidenden Frage, wie in Zerreißung und Entgegensetzung die Erinnerung an das unverletzliche Asylon des Seins im einen unverletzlichen Sinn des Wortes erhalten werden kann und wie dies gerade im Kunstwerk zur Darstellung zu kommen vermag. Hölderlin hat in einer Eintragung in sein Folioheft die Tragödienkonzeption aufs äußerste verdichtet: »Unterschiedenes ist gut«. Die »tiefste Innigkeit« in der Tragödie muss in dem ihr Entgegengesetzen erscheinen: die Einheit in äußerster Entzweiung. Eben dies zeigt die Selbstaufopferung des Empedokles. Zugleich kreist Hölderlins Reflexion um die Selbst-Unterscheidung des modernen Dichters von den Griechen, bei denen im Sinn des Böhlendorff-Briefes das ›Feuer vom Himmel‹ den Anfang bezeichnet habe, zu dem die ›plastische Kraft‹ hinzukommen musste, wohingegen bei den späten Heutigen dieses Feuer umgekehrt zu der J. Kreuzer, Einleitung, in: Hölderlin, Sämtliche Schriften, a. a. O., S. XLI. Vgl. zu Hölderlins Konzeption der Tragödie auch J. Söring, Die Dialektik der Rechtfertigung. Frankfurt/Main 1972. Siehe ferner A. Seifert, Untersuchungen zu Hölderlins PindarRezeption. München 1982. 28 Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus, in: Theoretische Schriften, ed. J. Kreuzer, a. a. O., S. 100 f. 27

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immer schon bestehenden ›populären‹, ›nationellen‹ Nüchternheit erst hinzutreten muss. 29 Hier meint er sich selbst und die deutsche Dichtung seiner Zeit, die er in einer ›heiligen Ehe‹ (hieros gamos) mit den Griechen verflochten sieht. Diese Figuration eröffnet bereits ein Spannungsfeld, in das noch einmal die Entgegensetzung von Göttern (den Himmlischen) und den Sterblichen eingezeichnet wird. In der Nähe der Götter drohen sie verbrannt zu werden, wie das von Hölderlin evozierte Schicksal der Semele im Liebesakt mit Zeus zeigt. 30 Doch auch umgekehrt brauchen die Götter die Sterblichen, da sie ihnen erst die Empfindung der Zeit, das Verstehen und Sprache geben. »Und so habe den Dichter der Gott gebraucht als Pfeil, seinen Rhythmus vom Bogen zu schnellen, und wer dies nicht empfinde und sich nicht dem schmiege, der werde nie weder Geschick noch Athletentugend haben zum Dichter, und zu schwach sei ein solcher, als dass er sich fassen könne« 31, so ein Notat Bettina von Arnims, womit sie Hölderlins Anmerkungen zur ›Antigonä‹ des Sophokles meditiert. Heidegger hat Hölderlins Wort über das ›Höchste der Kunst‹, in Präfiguration seiner eigenen Kunstphilosophie, im Blick auf diese Aussagen so zugespitzt: »Die Kunst ist als das zeigende Erscheinenlassen des Unsichtbaren die höchste Art des Zeichens.« 32 Damit wird der Wendepunkt zwischen der Grenzüberschreitung und einem sich erinnernden Innehalten benannt. Die Grenze ist Ort des Schönen. Auf diesen ›Apex‹ spitzen sich Hölderlins späte Gedichte oftmals zu. Die Schlussverse des ›Archipelagus‹ sagen es so: »… und wenn die reißende Zeit mir Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Noth und das Irrsaal Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschütttert, Lass der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.« Hölderlin, Brief an Casimir Böhlendorff: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Band 3, a. a. O., S. 466 ff. 30 Vgl. A. Kossatz-Deissmann, Semele, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC), band VII. Zürich, München 1994, S. 718 ff. 31 Zit. bei Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, in: Heidegger GA Band 4. Frankfurt/Main 1981, S. 154: B. v. Arnim, Sämtliche Werke, hg. von W. Oehlke, Band II, S. 345. 32 Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, in: GA Band 4, S. 162. 29

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Dreifache Systemgestalt und was sich dem System entzieht

Und das Ende der ›Andenken‹-Hymne fasst es in eine SchlussGnomé: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«

Als Kommentar zu dieser Gnomé kann man die Zeilen aus der ›Mnemosyne‹-Hymne verstehen: »Lang ist/Die Zeit, es ereignet sich aber/Das Wahre.« Damit nimmt Hölderlin ein Bild Pindars auf: Am Ende erst komme die Wahrheit der Zeit ans Licht.

II.

Dreifache Systemgestalt und was sich dem System entzieht

Das Verhältnis der Kunst zu den – in der Ästhetik heute für obsolet erklärten – Systemen bleibt eigens zu reflektieren. Die Ästhetik des deutschen Idealismus fügt die Kunst in eine Systemform. Sie fasst sie damit ihrem Philosophiebegriff gemäß als Teil der Selbstentfaltung der Wahrheit, und sie schreibt sie der Architektur der Systemphilosophie als Ganzer ein. Zugleich sollen die einzelnen Kunstepochen und -gattungen als Formationen der Vernunft gedacht werden. Sie sind eben explizit nicht, wie bei Goethe, ›Naturformen‹. Sie sind aber auch nicht historisch kontingent. Es geht also nicht nur um die Kategorisierung eines amorph Wirklichen, sondern um ein Durchlässigwerden der Manifestationen und Spielarten von Kunst auf die Selbstentfaltung des Absoluten. Gefragt wird, wie sich in ihnen der Begriff selbst manifestiert, und strittig ist, ob er sich überhaupt anders manifestieren kann. Aus dem Abstand der Rekonstruktion ist zu fragen, was die Systematik trägt, begründet und organisiert. Dass sie in den Horizonten der Moderne obsolet wurde, wird auch damit zu tun haben, dass die Evolutionen der Kunst die Begriffsarchitektur gleichsam aufsprengten. Ist dies das letzte Wort?

Hegel Hegel setzt in seinen einschlägigen Vorlesungen die Ästhetik, an deren Namen allein nichts liege, mit dem Problemtitel der ›Philosophie der Kunst‹ gleich. Naturschönheit schließt er von vornherein aus dem Bereich der Ästhetik aus. Denn das naturwüchsige Leben 255 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

9 · Kunst im System

ist abhängig von unmittelbarem, sterblichem einzelnen Dasein und seiner Beschränkung. Dies ist der Bann der Natur. Wenn sie nicht durch einen geistigen Entwurf gestaltet worden ist, kann ihr Hegel zufolge Schönheit in einem eminenten Sinn nicht zukommen. Erst die Manifestation der Idee in einer einzelnen sinnlichen Gestalt, der ›Begriff in der Erscheinung‹, nobilitiert das Schöne. Hegel hat deshalb auch hervorgehoben, dass das Schöne »erscheinende Wahrheit« im Sinn seines Philosophieverständnisses, also in der Sinnlichkeit entfalteter Begriff sei. Dies ist eine Apotheose. So sei »das Gebiet des Schönen der Relativität endlicher Verhältnisse entrissen und in das absolute Reich der Idee und ihrer Wahrheit emporgetragen.« 33 Das geistige Schöne ist damit Formgebung und sinnliche Manifestation des Absoluten. Hegel betont von Anfang an, dass die Inkorporationn des Absoluten in der Kunstform nicht mehr gegenwärtig ist. Die ›Ruhe des Ideals‹ ist in den ›gegenwärtigen prosaischen Zuständen‹ in eine Krisis geraten. In diesen Zusammenhang zeichnet Hegel das Portrait des Künstlers, gemäß der Grundlinie, dass er individueller Geist und zugleich Geist vom absoluten Geist sei. Hegels leitende Grundbestimmung von Kunst ist in elementarer Weise dialektisch. Aus dem Umschlag von Form in Inhalt, Inhalt in Form müsse alles hervorgehen, was den Gehalt ausmache. Kein Eklektizismus, keine Willkür erhält die Lizenz. Homer, Sophokles, Raffael, Shakespeare bilden den Maßstab. Nach solchen grundsätzlichen Erwägungen widmet sich Hegel der Entwicklung hin zu den besonderen Formen des Kunstschönen. Es geht dabei um die wirkliche Entwicklung der Idee, ihre Konkretion, die sich sowohl durch sie als auch in ihr vollzieht. Dabei werden die drei Kunstformen voneinander abgehoben: die symbolische, in der »die Idee noch ihren echten Kunstausdruck« suche, sodann die klassische, in der die Einheit von Idee und Form vollzogen sei. 34 Dies bedeutet aber für die Idee, dass sie in ihrer vollendeten Innerlichkeit zugleich ganz Erscheinung und Darstellung werden kann. Schließlich evoziert Hegel die romantische Kunst als dritte Kategorie. Diese Kategorie bestimmt die Kunst unter den VoDie Nachweise zu Hegel beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, wieder auf die Theorie-Werkausgabe. Frankfurt/Main 1970. Die Nachweise sind unmittelbar in den Text eingefügt. Hier Band 13, S. 157. 34 Ibid., S. 390 f. 33

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Dreifache Systemgestalt und was sich dem System entzieht

raussetzungen einer Verabsolutierung der Idee des Schönen einerseits, des freien Geistes andererseits, wenn beide nicht mehr zusammenfinden. Es ist keine Form denkbar, die in der Lage wäre, das zu sich kommende Absolute als Geist in sich zu fassen. Es bricht gleichsam aus seinen Rändern aus. »In dieser Weise sucht die symbolische Kunst jene vollendete Einheit der inneren Bedeutung und äußeren Gestalt, welche die klassische in der Darstellung der substantiellen Individualität für die sinnliche Anschauung findet und die romantische in ihrer hervorragenden Geistigkeit überschreitet.« 35 Dieser Gedankengang wird zunächst im Horizont der Selbstspezifizierung der Idee entwickelt. Erst in einem zweiten Schritt wird er mit der Geschichte konfrontiert. So will Hegel von vornherein begründen, dass die Idee nicht in den Realisierungen aufgeht. Die symbolische Kunst formt sich in einer unbewussten Suche zwischen Inhalt und Form aus, die sich nach und nach über eine phantastische Symbolik (hier hat Hegel indische Götterbilder vor Augen) bis hin zur eigentlichen Symbolik, in der ägyptischen Kunst, dem verschleierten Bild zu Sais und den Rätselverhüllungen der Sphinx entfaltet. Daneben kennt Hegel die bewusste Symbolik, vor allem in literarischen Sprechformen wie Allegorie, Metapher, Gleichnis, die auch in nicht-symbolischen Epochen weiter angewendet werden können. 36 Das klassische Ideal findet Hegel ganz in der Folge Winckelmanns wie selbstverständlich bei den Griechen realisiert. Er situiert die griechische »Kunst-Religion« als »Mitte der selbstbewussten subjektiven Freiheit und der sittlichen Substanz.« 37 Dies setzt wie selbstverständlich voraus, dass keine ›unruhige‹ Suche, keine ›symbolische Gärung‹ mehr geschieht und auch, dass die ›technische Seite‹ des Kunstwerks vollkommen beherrscht werde. Besonders bemerkenswert ist freilich, dass Hegel zeigt, wie die klassische Kunstform ihrerseits schon eine elementare Form von Aufklärung voraussetzt. Sie beruht auf der Degradierung der tierischen Kräfte und Orakelmächte und damit der alten Götter, die in den Mysterien als Titanen überdauerten. Dabei schöpfe allerdings noch die klassische Ibid. Vgl. dazu den knappen Grundriss: Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Mitschrift Kehler, hg. von A. Gethmann-Siefert u. a. München 2004. 37 Hegel, Theorie-Werkausgabe, Band 13, S. 25. 35 36

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Kunstform aus der geheimen, in Mysterium und Orakel verborgenen Potenz dieser Gottheiten: Es zeichet sich also ein genuiner Sublimierungsprozess ab. Die höchste Vollendung der Kunst als Darstellung des absoluten Begriffs scheint, nach Hegel, ihre Endlichkeit und Vergänglichkeit zu ahnen. So liege eine Trauer, der Bann der Moira, über den griechischen Götterbildern; ein Moment, das auch Schelling beobachtet hat. Hegel weist darauf hin, dass die klassische Kunstform zwei Aufsprengungen erfuhr: die eine durch die christliche Verkündigung von der Fleischwerdung des ewigen Wortes Gottes; die andere aber durch die Einsicht, dass sich ›die unendliche Innerlichkeit‹, die Kraft der Subjektivität, nicht in den griechischen Gottheiten einfangen lasse. Deshalb kommt es zum Manierismus, wenn die genuine Menschlichkeit gezeigt werden soll. Wenn der Untergang der symbolischen Kunstform letztlich als eine Teleologie, als gänzliches sich-Finden der geschiedenen Seiten von Form und Inhalt gedacht wird, so ist das Verhältnis klassischer und romantischer Kunstform ein Bruch. Es ist Gewinn und zugleich Verlust. 38 Das »Prinzip der inneren Subjektivität« in der romantischen Kunst, eine Kategorie, die für Hegel alles beschreibt, was im Zeichen des Christentums steht, bedeutet eine Überschreitung der schönen Gestalten und des ihr anhaftenden Scheins. »Denn auf der Stufe der romantischen Kunst weiß der Geist, dass seine Wahrheit nicht darin besteht, sich in die Leiblichkeit zu versenken.« 39 Deshalb geht Hegel im Spannungsfeld seiner Rede vom ›Tod der Kunst‹ davon aus, dass das Bewusstsein der Wahrheit nicht mehr in der Kunst, sondern in der Religion und schließlich in der begrifflichen Explikation des Geistes, in der Philosophie, zu finden ist. Zum Leben und der Verleiblichung des Geistes steht die romantische Kunst also immer schon in einem Abstandsverhältnis. Sie wendet ihm gleichsam den Rücken zu. Hegel hat drei Kreise romantischer Kunstform unterschieden: einen religiösen, der von der Erlösungsgeschichte Christi über die religiöse Liebe der Imitatio Christi zum ›Geist in der Gemeinde‹, zu Buße und Bekehrung, geschlagen wird. Zum zweiten konstatiert er Auf diese Übergänge und die Konkretion der Hegelschen Dialektik wird in der Regel viel zu wenig geachtet, weil nur die Grundformen, nicht aber ihre Durchführung und Realisierung wahrgenommen wird. 39 Hegel, Theorie-Werkausgabe, Band 14, S. 129. 38

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die Verselbständigung der romantischen Tugenden in einer weltlichen, doch christlich geistlich geprägten Lebensform, dem Rittertum (Ehre, Liebe, Treue) und schließlich den Übergang zur bürgerlichen Epopöe und die Darstellung bürgerlicher Gesellschaft. Hegel akzentuiert also besonders lyrische und epische Dichtungsformen als romantisch; weshalb er auch an dieser Stelle seine Reflexionen über Shakespeare (»Das Zufällige in der romantischen Kunstform«) verortet. Was bedeutet aber dann das Diktum, dass die romantische Kunstform selbst untergeht? Dies gibt der Rede vom ›Tod der Kunst‹ eine gegenwartskritische Zuspitzung. Denn damit wäre die für Hegel zeitgenössische Kunst und Literatur Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Hegel diagnostiziert an diesem Punkt ein rettungsloses Auseinanderfallen von empfindender Subjektivität und prosaischer Objektivität: die Letztere manifestiert sich explizit in der »nature morte«, den Stillleben und der Genremalerei, die Hegel seinerseits an den Niederländern besonders wertschätzte. Erstere dagegen zeigt sich im Humor, wie Hegel mit besonderem Bezug auf Jean Paul anmerkt. Der ›Meister von Bayreuth‹ wird allerdings wegen des fehlenden Maßes seiner Romane bei aller Fasziniertheit auch kritisch gesehen, »und doch ist er gerade vor allem anderen auffallend in dem barocken Zusammenbringen des objektiv Entferntesten und dem kunterbuntesten Durcheinanderwürfeln von Gegenständen, deren Beziehung etwas durchaus Subjektives ist.« 40 Nach Hegel sind dies »Hin- und Herzüge« eines nicht formbaren, zügellosen Humors. Hegel hat also vermerkt, dass sich die Zufälligkeiten und Gemeinheiten des täglichen Lebens, »Kneipen, Fuhrleute, Nachttöpfe und Flöhe, ganz ebenso wie in dem religiösen Kreise der romantischen Kunst bei der Geburt Christi und Anbetung der Könige Ochs und Esel, die Krippe und das Stroh« zunehmend verselbständigten. Auf diese Weise verliert die Kunst jeden Anschein einer ›Mimesis des Absoluten‹. Sie wird Gärung des Manierismus, die Maße lösen sich auf. Doch diese Entwicklung wird nicht nur als Defizitanzeige beschrieben. Wenn jener Punkt einmal erreicht ist, so stellt sich wieder eine geglättete Oberfläche ein. Die Kunst gewinnt, nachdem sie aufgehört hat, höchste Manifestation des Geistes zu sein, die Freiheit des Spiels. Sie ist entlastet, freies Spiel des menschlichen Menschen 40

Ibid., S. 230 f.

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mit sich selbst. Exemplarisch zeigt sich dies nach Hegel in einer Dichtung wie Goethes ›Westöstlichem Divan‹ : Die Dichtung kreist aufgrund ihres Kunstcharakters nicht um Liebe, Verliebtheit, Sehnsucht, sondern nur mehr um das spielende, in sich selbst bewegte Gemüt in der Heiterkeit des Gestaltens und der Vielfalt seiner möglichen Formen. Zu resümieren ist, dass die Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen eine Geschichte der Idee in ihrer verschiedenen Manifestationen und zugleich eine Logik dieser Geschichte enthält. Das System der einzelnen Künste folgt der nämlichen Grundmatrix wie die Kunstarten. Der Bogen verläuft von symbolischen über klassische zu romantischen Künsten. Hegel unterlegt damit seinem Schema eine sowohl geschichts-logische als eine formspezifische Typik. Dadurch zeigt sich auch bereits die Differenzierungsfähigkeit hegelscher Ästhetik. Denn sie kann aufweisen, dass auch eine genuin symbolische Kunstform wie die Architektur klassische und romantische Gestaltungen finden kann, die dann allerdings dem überwiegenden symbolischen Prinzip unter- oder beigeordnet werden. Weitere Ungleichzeitigkeiten werden dabei reflektiert. So legt Hegel auch dar, dass die »dienende Architektur« eine späte Entwicklung ist. Anfänglich sei, wie Phallussäulen, Obelisken und ähnliche Gestalten zeigen, ein Schwanken zwischen Baukunst und Skulptur zu beobachten. Wie hochgradig differenziert Hegels Durchdringung der Phänomene ist, ließe sich erst an einer Versenkung ins Detail seiner Kunstbeobachtungen namhaft machen. Hier muss es bei einigen ausgewählten Hinweisen bleiben. Zum einen die Beschreibung des klassischen Tempels: »Nichts strebt empor, sondern das Ganze streckt sich geradeaus breit hin und weitet sich aus, ohne sich zu erheben. Um die Front zu überschauen, braucht sich das Auge kaum absichtlich in die Höhe zu richten, es findet sich im Gegenteil in die Breite gelockt, während die mittelalterliche deutsche Baukunst maßlos fast hinaufstrebt und sich aufwärts hebt. Bei den Alten bleibt die Breite, als feste, bequeme Begründung auf der Erde, die Hauptsache; die Höhe ist mehr von der menschlichen Höhe genommen und vermehrt sich nur nach der vermehrten Breite und Weite des Gebäudes.« 41 Dem korrespondiert die Evokation der gotischen Kathedrale. 41

Ibid., S. 318 f.

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Noch einmal sei Hegels Beschreibung etwas detaillierter zitiert, die nicht vorschnell in das Prokrustesbett der Kategorien spannt, sondern die dramatische Fülle der Realität ausfaltet: »In solchem Dom nun ist Raum für ein ganzes Volk. Denn hier soll sich die Gemeinde einer Stadt und Umgegend nicht um das Gebäude her, sondern im Innern desselben versammeln. Und so haben auch alle mannigfaltigen Interessen des Lebens, die nur irgend an das Religiöse anstreifen, hier nebeneinander Platz. Keine festen Abteilungen von reihenweisen Bänken zerteilen und verengen den weiten Raum, sondern ungestört kommt und geht jeder, mietet sich, ergreift für den augenblicklichen Gebrauch einen Stuhl, kniet nieder, verrichtet sein Gebet und entfernt sich wieder. Ist nicht die Stunde der großen Messe, so geschieht das Verschiedenste störungslos zu gleicher Zeit. Hier wird gepredigt, dort ein Kranker gebracht; dazwischen hindurch zieht eine Prozession langsam weiter; hier wird getauft, dort ein Toter durch die Kirche getragen; wieder an einem anderen Orte liest ein Priester Messe oder segnet ein Paar zur Ehe ein, und überall liegt das Volk nomadenmäßig auf den Knien vor Altären und Heiligenbildern.« 42 Auch in der synkritischen Verdeutlichung der Affinitäten von Kunstarten untereinander zeigt sich dieser Metonymien und Analogien wie selbstverständlich aufrufende Blick, wenn Hegel etwa die Architektur als in den Raum verlagerte Musik begreift. Als romantische Künste werden Malerei, Musik und Poesie summiert. Aufgrund der schon konstatierten Flucht des Geistes aus der Formgebung tritt erst hier die Differenz von Innen und Außen ins Zentrum der Gliederung, und damit jene von Subjekt und Objekt. Die Zurückhaltung im Gebrauch der Subjekt-Objekt-Differenz kommt der Tektonik der hegelschen ›Ästhetik‹ zugute. Denn das Schema will es, dass Malerei als »Hervorscheinen des in sich konzentrierten Inneren« 43 dem anderen Extremum, der Musik, entgegengesetzt wird. Musik ist nach Hegel dadurch gekennzeichnet, dass in ihr das Innere in reiner zeitlicher ideeller Dauer existiert. Die drei Gattungen der Poesie durchmessen die Mitte zwischen den Extremen. Auch dabei ist wiederum eine dreifache Auffächerung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit zu konstatieren, der epischen Dichtung mit ihrer objektiven Aussage eines selbständigen 42 43

Ibid., S. 340 f. Ibid., S. 15.

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Inhaltes kontrastiert die in innerliche Anschauung fließende lyrische Poesie, und die vermittelnde Mitte wird durch das Drama markiert. 44 Es ist augenfällig, dass Hegel im Zusammenhang romantischer Künste den Blick auf die Faktur des Werkes, also die Seite der Objektivation, mit der Aufmerksamkeit auf den performativen Akt der Aufführung verbindet. Auch der Zusammenhang zwischen dem Künstler und dem Wahrnehmenden (Genießenden) kommt hier ins Spiel. Die Neigung zum Performativen zeigt sich in der vorkategorialen Sphäre: besonders eindrücklich sind Hegels Beschreibungen immer dort, wo sie sich gleichsam protoästhetisch um die elementarsten Relationen kümmern: in der Musik zeigt sich dies exemplarisch am Übergang vom Zeitmaß des Taktes über die Harmonie zur Melodie. Es beschäftigt Hegel, wie aufgeführte Musik ganz in das Negative der Zeit fällt; die Harmonie gebe diesem Gefüge erst eine räumliche Gestalt. Man gewinnt an solchen Stellen die Ahnung, dass die dialektischen Kategorien auch deshalb so komplex angelegt sind, weil sie eine noch komplexere Wirklichkeit erfassen sollen. Hegels Rede vom Ende der Kunst ist in den letzten Jahren in innovativer Weise in Frage gestellt worden. Ist nicht, so fragte Robert B. Pippin, gerade die moderne Malerei, die sich nicht auf die Steigerung des tradierten Illusionscharakters der Kunst begrenzt, Indiz für die ›Mimesis des Absoluten‹ ? 45 Pippin rekurriert auf die Erschütterungen, die Manets Gemälde ›Frühstück im Garten‹ und seine ›Olympia‹ in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts auslösten. Die Figuren Manets treten gleichsam aus dem Rahmen der Bildlichkeit heraus. Sie befragen den Betrachter, wie er selbst das Bild sehe, wohin er schaue und wie er überhaupt die Bildlichkeit konstituiert. 46 Damit werde die Subjekt-Referenz und die Gebrochenheit der Vorstellung selbst thematisch. Ist es nicht gerade dies, was Hegel meint, wenn er von der Verdoppelung des Geistes

Peter Szondi verdanken sich grundsätzliche Überlegungen zur Problematik spekulativer Gattungspoetik. Vgl. P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie. Zwei Bände. Aus dem Nachlass hg. von J. Bollack u. a. Frankfurt/Main 1974. 45 Dazu R. P. Pippin, Kunst als Philosophie. Hegel und die moderne Bildkunst. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2011. Frankfurt/Main 2012, insbes. S. 7 ff. und S. 49 ff. 46 So mit weiteren Nachweisen, ibid., S. 55 ff. 44

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spricht, der sich in der Kunst seiner selbst ansichtig werde. 47 Pippin widerspricht mithin Hegels Diagnose vom Tod der Kunst und jeder geschichtsphilosophisch teleologischen Fixierung des Absoluten. Umso mehr versteht er aber gerade Hegel als den Denker, der die eigene selbstreflexive Erkenntnisweise der Kunst ans Licht bringe. Es versteht sich, dass Pippins Hegel näher an die Romantik und die ästhetische Moderne heranrückt. Doch eben dies sichert ihm zugleich Wirkung über den Zeitenabstand hinweg.

Hölderlinsche Kontrapunkte Ein ausgeführtes kunsttheoretisches ›System‹ Hölderlins ist den Systemen von Hegel oder Schelling selbstverständlich nicht an die Seite zu stellen. Spekulation und Artistik, Philosophie und die Figurierung der exzentrischen Bahn des Menschen in Reflexion und poetischer Darstellung verbinden sich bei Hölderlin. Die großen Gedankenbögen werden in schmalen Skizzen, Briefen oder Fragmenten, entwickelt. Heidegger nannte Hölderlin nicht zu Unrecht den ›Dichter des Dichtens‹, der die großen geschichtsphilosophischen Bögen und die Gegensatzverhältnisse, die seine großen Hymmen zur Darstellung bringen, in seinen philosophischen Fragmenten reflektiert hat. So hat Hölderlin die Differenz zwischen Hellas und Hesperien, aber auch zwischen Göttern und Menschen umkreist. Wir erinnern uns: Hellas hat wie von selbst das »Feuer vom Himmel«, schreibt er im berühmten Böhlendorff-Brief auf der Rückkehr aus dem Süden Frankreichs, wo ihn, wie er bemerken sollte, »Apoll geschlagen« habe. Dieses Feuer muss gebannt werden in eine Kraft der Darstellung. Sie ist Hesperien, dem späten Abendland und dabei auch den Deutschen eigen. Daraus entwickelt Hölderlin eine Kontrapunktik zwischen dem Eigenen im Fremden, dem Fremden im Eigenen. Das geschichtsphilosophische Grundverhältnis erfassten wir schon als eine Variation des Verhältnisses, das Hölderlins Hymnen zwischen Göttern und Menschen aufspannen. In die Mitte zwischen ihnen hat er wiederum die ›Halbgötter‹ gesetzt, die den Verkehr zwischen den Polaritäten erst ermöglichen. Denn nicht nur die Sterblichen sind 47

So Pippin mit Blick auf Hegels Deutungen der Olympia-Gestalt, ibid., S. 53 f.

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durch einen Mangel gekennzeichnet: die Endlichkeit. Auch die Götter tragen durch ihre Überfülle ein Negativum, insofern sie nicht mit dem sterblichen Einzelnen mitfühlen können. Mit Präzision hat Dieter Henrich freigelegt, wie Hölderlins Reflexionen und Dichtungen zwischen der ›exzentrischen Bahn‹ der wesentlichen Ziele des Bewusstseins und seines Grundes changieren. Hölderlin gehört einerseits mit seinem spät wieder sichtbar gewordenen Fragment über ›Urtheil und Seyn‹ zu den Höhepunkten in der Theoriegeschichte der nachkantischen Philosophie. 48 Zugleich aber sprengt er sie auf, weil er dem ›Reinentsprungenen‹ nachspürt, einem Anfang, dessen Abglanz er in der vorklassischen griechischen Antike wahrnahm, und weil die Erinnerung (Anamnesis), der ›Gang des Andenkens‹, Hölderlins Dichtung in Atem und in Bewegung hält. 49 Die Selbstbewusstseinskonzeption von ›Urtheil und Sein‹ unterstreicht, dass das Sein im einem unzertrennlichen Sinn des Wortes nicht aus der Disjunktion des Urteils gewonnen werden kann. Identität kann sich, so der Gedankengang jener frühen Aufzeichnungen, nur anamnetisch einstellen. Dichtung im Spezifischen und Kunst im Allgemeinen werden eher in die Dimension des Grundes vordringen als der philosophische Begriff. Der frühe Hölderlin nähert sich daher auch Fichtes Grenzbegriff der »intellektuellen Anschauung« besonders treffend in einem poetischen Bild, indem er ihn mit dem »Übermaass an Innigkeit« zusammenführt. Gegen Ende der Homburger Zeit und angesichts der Zäsuren der eigenen Lebensentwicklung hat Hölderlin den Bruch zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem schärfer gezogen. So klingt das Motiv der Dankbarkeit für Gedächtnis und Erinnerung nach. Zugleich wird er sich aber vermehrt des »Bruchs«, des »Kontrastes« und der Lücke bewusst, die sprunghaft aufbrechen. Hölderlin bezeichnet jene Rupturen gleichwohl als ›Übergänge‹. Er trägt damit dem letztendlichen Abbrechen von Vergangenheit Rechnung. Der Übergang ist ein Weder-Noch, ein Nichts, an dem Kunst erst eigentlich zu sich kommt, in dem Vollzug, den Hölderlin »freie Kunstnachahmung« nennt. Sie ist eben nicht Mimesis eines Vorhandenen oder Gegebenen. »Im ZuDazu im Einzelnen D. Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795). Stuttgart 1992. 49 D. Henrich, Gang des Andenkens, a. a. O., und ders., Der Grund im Bewußtsein, a. a. O., S. 135 ff. 48

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stande zwischen Seyn und Nichtseyn wird aber überall das Mögliche real, und das wirkliche ideal, und diß ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer aber göttlicher Traum.« 50 In diesem Traum sei die »Welt aller Welten« präsent. Hölderlin akzentuiert dabei, dass der Künstler nicht einzelne Weltbezüge im Blick hat, sondern vielmehr den Übergang zwischen ihnen. Präsenz ist selbst nur ›negativ‹ und gebrochen manifest. Damit ist ein schier unendlicher Möglichkeitsraum aufgeschlossen, der »Nichts an Realität«, aber keinesfalls einfach nichts im Sinn eines ›nihil negativum‹ ist. In der »freien Kunstnachahmung« soll dieses Intermedium zwischen Sein und Nichts überschritten werden. Die Erinnerung ist daher zugleich eine Verdichtung, in der alle Punkte gewesenen Lebens erneut durchlaufen werden. Hölderlin bezeichnet dieses Geschehen mit seiner berühmten Formulierung als ›Werden im Vergehen‹. Die sprachbildende Kraft der Erinnerung ist Sprachgewinn, der sich gerade über dem Abgrund des Verlustes jedweder positiven Gegebenheit einstellt. Die nur ex negativo präsente Totalität hat Hölderlin mit dem Inbegriff der Ekstasis als ›Enthusiasmus‹ umschrieben. Sie gibt dem Undarstellbaren Darstellung und Darstellbarkeit durch Zeichen. In einem eigenen großen Fragment: »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist« hat Hölderlin festgehalten, dass jener Geist, auf den der Dichter bezogen ist, der allgemeine, gemeinsame Geist sei. Reale Verschiedenheiten und die Brüche innerhalb der Geschichte werden dabei in eine Einheit überführt, die die Dichtung stiftet. Identitätsphilosphisch ist diese Verbindung nach Hölderlin aber gerade nicht vorauszusetzen. Vielmehr ist es Aufgabe des poetischen Geists, vor- und rückwärts zu gehen und »beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung zu haben.« 51 Wieder bezieht sich Hölderlin dabei auf die Darstellung des Übergangs, des »realen Nichts«, die die Form eines »unendlichen Stillstandes« annehmen kann. »Was bleibet aber, stiften die Dichter«, hieß es in der viel berufenen Schlussgnome von Hölderlins ›Andenken‹-Hymne. 52 Dies verweist in den poetologischen Schriften Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe IV.1, S. 283. Hölderlin, Theoretische Schriften, hg. von J. Kreuzer, a. a. O., S. 49. 52 Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Band I, a. a. O., S. 475. Siehe auch H. Bachmaier, Der Begriff der Erinnerung bei Hölderlin. Stuttgart 1983; sowie U. Gaier, Ge50 51

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darauf, dass der eigene Geist nur in Beziehung auf einen anderen Geist Identität mit sich gewinnt. Wenn er monolithisch in sich bleiben würde, müsste er seine eigene Bestimmung verfehlen. Die Selbstartikulation am anderen seiner selbst ist für Hölderlin der Inbegriff des »transcendentalen Bewusstseins«, den er bewusst der formalen Selbstgleichheit der intellektualen Anschauung entgegensetzt. Sprache ist nicht conditio sine qua non von Erinnerung, wohl aber deren angemessene Dokumentation. Hölderlin hat diese Korrelation treffend beschrieben: »So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntniß.« 53 Die Darstellungsweise der exzentrischen Bahn hat Hölderlin zunächst nicht narrativ, sondern im tragischen Kunstwerk entfaltet. Auf seine Empedokles-Studien bezogen, bemerkte er: »Aber dieses Leben ist nur im Gefühle und nicht für die Erkenntniß vorhanden.« 54 Die Gegensätzlichkeit zwischen Natur und Kunst erfährt zunehmend eine Zuspitzung: Empedokles muss als Dichter über den Gesang hinausgehen, als politischer Mensch über die Tathandlung, die ihm Ruhm einbringt. Das Organische und das ›Aorgische‹, also mechanistisch Konstruierte, können sich erst in der Selbstversagung verbinden. Dieses Opfer und nicht ein Konflikt stehen im Zentrum der hölderlinschen Tragödienkonzeption. Die Selbspreisgabe im Opfer ermöglicht nämlich allererst, dass »das Leben einer Welt [nicht] in einer Einzelheit abstirbt« 55 – dass im Übergang etwas Unverletzliches bleibt. Die Tragödie erschließt zudem den Zusammenhang von Geschichte und Natur; Hölderlin hat Kunst von hier her in Zeichenverhältnissen wiedergegeben. Die triadischen Relationen der Hegelschen Dialektik von Einheit, Entzweiung und Rückkehr zur Einheit hat er dabei in einen offenen Vorgang umgezeichnet: in das Verhältnis von verborgenem, unaussagbarem Ursprung und Zeichen, von Grund und Erscheinung. Der verborgene Grund der Natur ist Ursetz und Kalkül. Hölderlins Dichtungslehre. Tübingen 1962 u. ö., weiter U. Hölscher, Empedokles und Hölderlin. Frankfurt/Main 1965, und H. Hühn, Mnemosyne: Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken. Stuttgart 1997. 53 Ibid., S. 58. 54 Ibid., S. 82. Vgl. hierzu auch J. Kreuzer, Erinnerung. Zum Zusammenhang von Hölderlins theoretischen Fragmenten ›Das untergehende Vaterland …‹ und ›Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …‹ Königstein/Taunus 1985. 55 Ibid., S. 86.

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sprung, wenn das Zeichen »unbedeutend« wird und auf den Nullpunkt zuläuft. Durch eine solche ›kunstlose‹, auf Natur zurückgeführte Kunst tritt der Grund zutage. Auf diese Weise kann es zum Wiedererkennnen von Göttern und Menschen kommen, »damit der Weltlauf keine Lüke hat und das Gedächtniß der Himmlischen nicht ausgehet, in der allvergessenden Form der Untreue sich mittheilt.« 56 Der Ausgangspunkt der tragischen Frage verweist auf das Verhältnis von Mensch und Natur, Physis und Kosmos, zurück. Die originäre Fügung des Rechtes (Themis) und das normative Sitten- und Rechtsgesetz hat Hölderlin zunächst in ihrem Widerstreit thematisiert. Damit nimmt er die klassische Frage auf, die auch Schiller beschäftigte: Wie lassen sich Natur und Freiheit aber miteinander verbinden? Bei Hölderlin mündet am Schnittpunkt dieser Frage der frühgriechische heraklitisch-platonische Anklang an das ›Hen diaphoron heauto‹ in die Bezeichnung der Schönheit ein. Das große Wort des Heraklit ist, so hat Hölderlin bemerkt, als das in sich selbst Unterschiedene, »das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden, gabs keine Philosophie. Nun konnte man beistimmen, das Ganze war da.« 57 Erst von diesem gegen sich selbst gewendeten Ganzen aus organisiert sich nicht nur die Philosophie, sondern auch die Kunst als Aufstieg und Anamnesis und als großer Bogen des Enthusiasmus. Denn Kunst kann die Differenz zwischen Endlichkeit und Transzendenz, dem platonischen »überhimmlischen Ort«, ›ent-fernen‹. Der Schmerz der Existenz verliert damit seine Behaftung mit Leiden. Noch in seiner jugendlichen Emphase hatte Hölderlin diesen Aufschwung so formuliert: »Vollendung, die wir über die Sterne hinauf entfernen, die wir hinausschieben bis ans Ende der Zeit, die hab ich gegenwärtig gefühlt. Es war da, das Höchste, in diesem Kreise der Menschennatur und der Dinge war es da. […] Sein Name ist Schönheit.« 58 Eine Erinnerung indessen, die nicht in die vorweltliche Anamnesis führt, sondern auch die Brüche des Gedächtnisses aufnimmt, Ibid., S. 101. Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe III, S. 81. 58 Hölderlin, Hyperion, zit. nach Frankfurter Ausgabe, hg. von D. E. Sattler u. a., Band 11. Frankfurt/Main 1982, S. 644. 56 57

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sah Hölderlin später nicht in der griechischen Antike, sondern in der Memoria-Lehre von Augustinus, dem Afrikaner. Damit kommt auch er auf die christliche Dementierung einer angemessenen Darstellung des Absoluten im Schönen zu sprechen, der Hegel seine Rede vom ›Tod der Kunst‹ abgelesen hatte. Solche Überlegungen führen Hölderlin in die Nähe eines trinitarisch-christlichen Geist-Begriffs: »Denn der Gott eines Apostels ist mittelbarer, ist höchster Verstand im höchsten Geiste.« 59 In der Hymne ›Der Einzige‹ hat er diese Konstellation auf Christus als den letzten »der Söhne Gottes« bezogen, das erfüllte Ende der Weltgeschichte. Damit aber deutet sich eine Lesart der exzentrischen Bahn an, die das tragische Grundverhältnis und seine Differenzen durchbricht und »itzt« den »Wettlauf der Taten der Erde zum Stillstand bringt.« 60

Novalis und der ›Ordo inversus‹ 1.) Auch Novalis hat in seinen Fichte-Studien, ähnlich wie Hölderlin, die Erwartung eines in sich konsistenten und identischen IchSubjektes destruiert. Wenn Hölderlin zeigte, wie das ›Ich bin‹ gerade nicht Grund alles Seienden sein kann, da es von der Einheit nur in der analytischen Form des Urteils spricht, so geht Novalis vom ›ordo inversus‹ aus, in dem Denken und Sein zueinander stehen. Nur in der jeweiligen Differenz zwischen ›Reflektion‹ einerseits und ›Gefühl‹ andererseits ist das Subjekt sich gegeben. Romantische Ästhetik und Literatur variieren diese Einsicht und spielen mit ihnen. 2.) Gehen wir zur Illustration dieser Konstellation zunächst nicht von den synästhetischen und hochgradig ironisierten Kunstexperimenten der frühen Romantik aus, sondern von einem spätromantischen Paradigma. Eine prototypische Manifestation des ›Gefühls‹ wird für die Romantiker die Liedform, die die elementare Schlichtheit des kindlichen Kirchenliedes auf den Indifferenzpunkt hinfühHölderlin, Anmerkungen zum Ödipus, Stuttgarter Ausgabe II, S. 373. Vgl. Hölderlin, Der Einzige, in: Sämtliche Werke und Briefe, Band I, a. a. O., S. 387–390.

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ret, an dem die göttliche Einheit und endliche Sterblichkeit und Endlichkeit einander unmittelbar berühren. Dies steht in Korrespondenz mit einer im Volkslied kondensierten Mystik, die sich von Jacob Böhmes innerem Gottesfunken zu Angelus Silesius ausspannt und in der schlesischen Dichterschule die Motive von Endlichkeit und Sterblichkeit in sich aufnimmt. Am eindrücklichsten hat sich Silesius’ ›Cherubinischer Wandersmann‹ diesen Motiven in Zweizeilern zugewandt, die die unendliche Nähe und die unendliche Entferntheit beider Dimensionen in einer unendlichen dialektischen Bewegung zusammenführen. Es kann die Ausspannung von einer Ewigkeit in die andere sein, die diesen Bogenschlag nahelegt: »Der Vater war zuvor, der Sohn ist noch zur Zeit, / Der heilge Geist wird sein im Tag der Herrlichkeit.« 61 Auch das Spiel zwischen Etwas und Nichts, einschließlich dem großen ›Nichts‹ wird in dieser Weise balanciert: »Freund, so du etwas bist, so bleib doch ja nicht stehn: / Man muß auß einem Licht fort in das andre gehen.« 62 In kosmischen Dimensionen eröffnet sich in der Sprache von Angelus Silesius aus dem ›stupf‹, dem bloßen Punkt, das ›Nichts‹, das freilich kosmisches Nichts ist und an dem sich, indem es in eine tiefe Leere verweist, zugleich die Dimensionen des Kosmos auftun. Vereinzelt gingen solche mystischen Dimensionen in die Tradition der evangelischen Gesangbücher ein. 63 Es ist eine Überlieferung, die die Mystik und ihre Fähigkeit, das schlechterdings Paradoxe christlichen Glaubens als Erfahrungszusammenhang zu durchmessen und zu durchleben, volkssprachlich fassbar macht und damit im besten Sinn trivialisiert. Kerngehalte christlicher Hymnen seit der alten Kirche verschmelzen dabei mit der mündlichen Volksdichtung, die erst in der Romantik aufgezeichnet wurden. Und hier werden noch einmal alle Sprachformen des Kanons einfacher Gottesrede seit den Psalmen entfaltet: vom Lobpreis über das Klage, bis zum Dankgebet. Neben der Lutherbibel hat nichts so wie das evangelische Gesangbuch die Volkssprache und ihren Geist bestimmt und

Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann. Sinnliche Beschreibung der vier letzten Dinge. Band 3. Hier Nachdruck der Ausgabe Köln 1952, Wiesbaden 2002, S. 102. 62 Ibid., S. 103. 63 Vgl. dazu die herausragende Edition A. Franz u. a. (Hg.), Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. München 2001. 61

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geprägt, namentlich dort, wo sie in die Auslotung der tiefsten Dimensionen zurückgeht. Man denke an das noch Hegels ›spekulativen Karfreitag‹ inspirierende Kreuzigungslied des Johann Rist: »O Traurigkeit, o Herzeleid«, mit der Strophe: »O große Not, Gott selbst ist tot.« Ähnlich exemplarisch ist ferner die die Menschwerdung Gottes einzigartig inszenierende Evokation in Luthers Weihnachtslied: »Den aller Welt Kreis nie beschloß, der liegt in Marien Schooß«. Die Romantik mit ihren großen Aufschwüngen und nicht minder dramatischen Abbrüchen und Abstürzen hatte eben hier eine bekannte Matrix, an die sie anschließen konnte, wenn es darum ging, die eigene Reflexion mit dem geteilten und gemeinsamen Heiligtum in Verbindung zu bringen. Novalis hat jene innige Jesusminne und -frömmigkeit in den Liedern Luthers und in der tiefen bewegenden Schlichtheit der Lieder Paul Gerhardts, die durch die Ornamentierungen des Pietismus und seiner ›Schönen Seelen‹ differenziert worden sind, in seinen ›Geistlichen Liedern‹ variiert und vertieft. Die Seele nimmt Zwiesprache mit ihrem inwendigen Lehrer, der zugleich ihr ›Herzenskündiger‹ ist und ihr Geliebter. »Wer einsam sitzt in seiner Kammer, / Und schwere, bittre Tränen weint, / Wem nur gefärbt von Not und Jammer / Die Nachbarschaft umher erscheint […] // Dich muß, wie mich, ein Wesen trösten, / Das innig liebte, litt und starb; / Das selbst für die, die ihm am wehsten / Getan, mit tausend Freuden starb.« 64 Darin ist die Summe des ›Geistlichen Wunderhorns‹, des evangelischen Kirchengesangbuchs, bewahrt und in einen ›Lichtbogen‹ des Trostes und der Festigung im Leiden durch die Imitatio Christi übersetzt. Novalis beschwört freilich auch das Ausbleiben des Trostes und der aufscheinenden Hoffnung. In einer ins Dissonante hineinzielenden Kontrafaktur wirft er die Frage auf: »Wo bleibst du Trost der ganzen Welt? / Herberg ist dir schon längst bestellt. / Verlangend sieht ein jedes dich, / Und öffnet deinem Segen sich.« 65 Die ›Hym-

Novalis, Werke. Herausgegeben und kommentiert von G. Schulz. München 21981, S. 59. Es kann hier nicht um eine differenzierte Interpretation des Einflussses des Kirchenliedes auf Novalis’ Dichtung gehen. Wohl aber um die Art eines Sprechens der Erstheit, das Religion und Kunst aufeinander transparent werden lässt. 65 Novalis, ibid., S. 68. 64

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nen an die Nacht‹ sprachen nur die Sehnsucht aus. Damit war ein ›ordo inversus‹ angezeigt, dessen Umkehrung viel dramatischer war, als es die Subjektivitätsmetaphysik nahelegt. Die Bewegung verweist in ein Dunkel, für das sinnbildlich auf die Nacht des Bergwerks angespielt wird. In der ungestillten Sehnsucht und Gottesnacht, nicht in Licht und Erfüllung erweist sich die Antizipation des Absoluten.

Schelling 1.) Das entscheidende, bewusst kunstimmanent gewählte, grundlegende Strukturmerkmal, auf dem Schellings ›Philosophie der Kunst‹ (1802) insistiert, ist das Verhältnis von Stoff und Form. Dabei stehen Stoff und Form für einen jeweiligen prozessualen Zusammenhang. Ersterer für den Vorgang, in dem die Einbildungskraft das Ideale dem Realen einbildet. Die zweite steht dagegen für das Diaphan- und Theophan-werden jenes Realen der Kunst. Schelling rückt die Analyse der Einbildungskraft in den Mittelpunkt. Er hält sein ästhetisches System schon durch diesen Schlüsselbegriff in größerer Nähe zur kantischen Verortung des Schönen im Vollzug der reflektierenden Urteilskraft, als es Hegel tut. Doch Einbildungskraft ist für Schelling zugleich ein produktives Vermögen. Die Kunst schöpft aus der Versinnlichung der Ideen in der Mythologie. Diese liefert einen Stoff, durch den die Darstellung des Indifferenzpunktes absoluter Identität überhaupt erst möglich wird. Dies impliziert, dass das Absolute in eine begrenzte Gestalt eingeht, die aber zugleich seine Tendenz bewahren muss, sich zu transzendieren. Wenngleich schon die Mythologie einen über-subjektiven Thesaurus von Figuren des Absoluten bereitstellt, so bedarf es doch ergänzend des Genies, der »Idee des Menschen in Gott«, das ihn weckt und aktualisiert. Dies ist der Kern der schellingschen Genieästhetik. Zur Mythologie hat der frühe Schelling bemerkt – ein Gedanke, der mit der Begrenztheit der antiken Gottheiten aufs engste zusammenhängt –, die Kunst schaue das Urschöne in besonderen Formen an, wohingegen die Philosophie zu einer Anschauung der Ideen, wie sie an und für sich sind, komme. Dabei hat Schelling in der Folge der ›Götterlehre‹ von Karl Philipp Moritz festgehalten, dass jene mythologische Einbildungskraft nur der Phantasie zugänglich ist, also der 271 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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schwebenden Mitte zwischen Verstand und Vernunft. »Der nervus probandi lieg in der Idee der Kunst als Darstellung des absolut, des an sich Schönen durch besondere schöne Dinge; also Darstellung des Absoluten in Begrenzung ohne Aufhebung des Absoluten.« 66 Im Einzelnen unterschied Schelling verschiedene Annäherungsformen der ästhetischen Einbildungskraft: die schematische, als Darstellung eines Allgemeinen in einzelner Gestalt; sodann die Allegorie, die Schelling ähnlich wie die frühromantischen Ästhetiker versteht. »Was nun die Allegorie betrifft, so ist sie das Umgekehrte des Schema, also wie dieses auch eine Indifferenz des Allgemeinen und Besonderen, aber so, dass Besonderes hier das Allgemeine bedeutet und als Allgemeines angeschaut wird.« 67 Als Synthesis zwischen beidem begreift Schelling das Symbol, in dem Allgemeines und Besonderes idealtypisch ineinandergebildet sind. Die Darstellung der Kunst zielt für ihn, gemäß der identitätsphilosophischen Prämissen, auf eine vollständige Indifferenz, in der »das Besondere zugleich das ganze Allgemeine ist und es nicht nur bedeutet.« Die griechische Götterwelt wird als stoffliche Ausgangskonstellation besonders hervorgehoben. Sie hat für Schelling exemplarischen Rang: »Die Götter sind an sich weder sittlich noch unsittlich, sondern losgesprochen von diesem Verhältnis, absolut selig.« 68 Letztlich geht es in dieser Betrachtung der Dinge, in der das homerische Epos als Urbild der Poesie und aller Kunst erscheint, um den Zusammenhang der Welt, den Schelling unendlich nennt. »Denn da in jeder Gestalt [sc. eines Gottes] das Absolute mit Begrenzung gesetzt ist, so setzt sie eben dadurch andere voraus, und mittelbar oder unmittelbar jede einzelne alle anderen und alle jede einzelne. Demnach bilden sie notwendig unter sich wieder eine Welt, worin alles durcheinander wechselseitig bestimmt ist.« 69 Der teleologische Allzusammenhang ist in der Mythologie eindrückliche präformiert. So zeigt sich in der realen Welt das formende (Vulcan) und formlose (Neptun) Prinzip als Extremum, mit einem Indifferenzpunkt: dem stygischen Jupiter oder Pluto. Die Mythologie, so kann Schelling

Schelling, Philosophie der Kunst. Einleitung und Allgemeiner Teil (1802), in: Schelling, Texte zur Philosophie der Kunst, a. a. O., S. 170 f., siehe auch S. 176 ff. 67 Ibid., S. 194. 68 Ibid., S. 180. 69 Ibid., S. 183 f. 66

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resümierend festhalten, »ist daher zugleich das Urbild und die ewige Erfinderin aller Kunst«. Sie ist »die notwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst.« 70 Im zweiten, ›besonderen Teil‹ der Philosophie der Kunst wird der bilderzeugenden Einbildungskraft eine Reflexion an die Seite gestellt, in der die Genese zum einzelnen Werk und seiner Hervorbringung zum Thema wird. Schelling versucht, Kategorien anzulegen, die das Werk in seiner Einzigkeit und Einzelheit profilierbar machen sollen. Dabei lädt er besonders den Geniebegriff in einer seit der ›alter Deus-Metaphorik‹ der Renaissance-Epoche unbekannten Weise auf. Die unmittelbare Ursache aller Kunst sei Gott. Denn er sei durch seine absolute Identität der Quell aller Konkreszenz des Realen und Idealen, worauf Kunst immer beruht. Wenn sich Ideen spezifizieren, so geschieht das im Menschen, der als Genie »in Gott« ist. Diese Spezifizierung, die der Artikulation des Schönen im Kunstwerk vorausgehhen muss, ist also, wie in einer spinozanischen Denkfigur, ein Akt in Gott, der zugleich als Inspirationsakt aufgefasst werden kann. Schelling spricht im Blick auf den Genie-Entwurf von der »ganze[n] absolute[n] Idee, angeschaut in der Erscheinung oder Beziehung auf Besonderes. Es ist ein und dasselbe Verhältniß, durch welches in dem ursprünglichen Erkenntnißakt die Welt an sich« produziert wird. Der Künstler ist damit Mak’anthropos: der exemplarische und große Mensch. Denn ohne das Vermögen göttlicher Inspiration sei ein Mensch, wie Schelling überspitzend und auf La Mettries Vision vom ›l’homme machine‹ bezogen anmerkt, »nur eine leidlich klug eingerichtete Maschine«. Im Grundriss hatte Schelling schon im ›System des transzendentalen Idealismus‹ angedeutet, wie sich dieses ›Ich selbst‹ als herausgehobene Form von Subjektivität darstellt: in einer absoluten Vereinigung von ›bewusster‹ und ›bewusstloser‹ Tätigkeit. Der Vorgang des Schaffens und nicht nur, wie bei Kant, die Form des Urteilens, ist daher in Subjektivitätskategorien zu beschreiben: Am Anfang steht ein Widerspruch, am Ende ein Ineinsbilden. Schelling denkt den Schmerz, in dem sich der unauflösliche Widerstreit äußert, in Analogie zu den Vollzugsformen romantischer Ironie. Diese Endlichkeitsreflexion löst die letzten Differenzen freilich nicht auf. »So scheint der Künstler, so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, 70

Ibid., S. 190.

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was das eigentlich Objektive in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn von allen andern Menschen absondert und ihn Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist.« 71 Individualität ist ästhetische Darstellung von Subjektivität. Das begrifflich nicht fassbare Individuum ist ›Produkt des Genies‹. Dabei unterscheidet Schelling zwischen Poesie, im Sinn einer Poiesis-Lehre, und Kunst, die die ideale Seite des Aktus ausmacht, die Erhebung des Endlichen ins Unendliche. Hier wird deutlich, dass auf unterschiedlichen Ebenen gleiche oder doch gleichartige Strukturen auftreten und sich wiederholen. Schon auf der Seite des Stoffes, der Mythologie, begegnet die Grundstruktur als Spannung zwischen der hinnehmenden und anschauenden Einbildungskraft und der Schemata bildenden Phantasie. Auf der Ebene der Poesie kehrt als Grundunterscheidung die schillersche Differenz zwischen »naiv« und »sentimentalisch« wieder. Besser als die Weimarer Klassik ist aber Schellings Denken in Mischungen zwischen den Extremen, das klar erkennbar in der Folge des platonischen ›Philebos‹ angesetzt ist, geeignet, die Verbindungen zwischen beiden Vermögen thematisch zu machen. »Der sentimentale Dichter strebt nach dem Unendlichen, das, weil es in dieser Richtung nicht zu erreichen ist, auch nie zur Anschauung kommt.« Der naive Dichter erscheint dagegen als ›bewusstlos‹. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass er es nicht in reiner Form ist. Er weiß zumindest um die Selbstverständlichkeit seiner Produktion in einem Reflexionsvorgang. Auch im erweiterten Rayon der Bestimmung der Kunst wird eine ähnliche Distinktion eingeführt: die Unterscheidung von ›Manier‹ und ›Stil‹. Manier rückt bei Schelling an die romantische Tendenz auf eine In-Differenz heran, die freilich nicht vollständig erreicht wird. Der Stil vermag hingegen Differenzen in eine endliche Gestalt zumindest temporär aufzunehmen. »Die Absolutheit in der Kunst besteht immer darin, dass das Allgemeine der Kunst und das Besondere, welches sie im Künstler als Individuum annimmt, absolut eines, dieses Besondere das ganze Allgemeine sey und umgekehrt.« 72 71 72

Schelling, SW Band III, S. 617. Schelling, SW Band V, S. 474.

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Schelling profilierte am Ende des allgemeinen Teils seiner Philosophie der Kunst die Umrisse einer philosophischen Kunstkritik: seinen noch ganz in der Folge der Aufklärung und von Kant entwickelten Begriff für eine philosophische ›Kunst-Theorie‹. Sie sei, so bemerkt er, gar nicht möglich ohne eine begründete, kultivierte Idee eines Ganzen von Welt. Wer zu einem solchen proleptischen Weltbegriff nicht hindurchdringt, sei »gänzlich unfähig, ein Werk zu beurtheilen.« Denn hier kommt zweierlei in den Blick: einerseits das Verhältnis des Bildes zu seinem Urbild, aus dem es allererst sein Wesen bezieht, und andererseits die immanente Realisierung und die Ontologie des Bildes. 73 2.) Im besonderen Teil seiner Kunstphilosophie hat Schelling diese Problemkonstellation exemplarisch realisiert. Sein Gliederungsschema besteht darin, eine reale und eine ideale Seite der Kunstwelt zu unterscheiden. Die Distinktion gewinnt aber auch hier erst in der Mischung ihren vollständigen Sinn: »Jede der beiden Urformen nimmt alle andern Formen oder Einheiten als Potenz auf und macht sie zu ihrem Symbol oder Besondern.« 74 Eine reine ›Urform‹ kann es also für sich genommen gar nicht geben. Sie ist nur im nachhinein aus Verbindungen mit anderen Formen zu extrahieren. Im vollkommenen Kunstwerk ist nach Schelling immer auf ein Absolutum, auf den Punkt der In-Differenz von Realem und Idealem gezielt. Wenig ergiebig, keineswegs auch auf der Höhe der Musik seiner Zeit, ist Schellings Zuweisung der Musik zur ›realen Reihe‹, neben Baukunst, Malerei, Architektur, Skulptur. Er will damit betonen, dass die Musik die Tendenz zu immer weitergehender Idealisierung des Materials habe, wohingegen Malerei und Skulptur an die Materie der Farben und des Steins bzw. Holzes gebunden seien. Wie dem auch sei, es fällt sofort auf, dass Schellings Ästhetik bemerkenswert zeitfrei konstruiert ist. Sie enthält, sehr im Unterschied zu Hegel, keine Geschichtsphilosophie in nuce. Auch bei ihm kommt freilich der klassischen griechischen Kunst noch einmal Maßstabscharakter zu. Lediglich auf der idealen Seite der poetischen Kunst werden auch modernere Hervorbringungen untersucht, und dies auch nur in der Epik und im Drama. Neben dem einen Homer 73 74

Dazu ibid., S. 274 f. Ibid., S. 279 f.

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firmieren Ariost, Cervantes und Goethe als exemplarische Epiker. Neben den exemparischen Griechen werden Shakespeare, Calderon und Goethe vor allem mit dem ›Faust‹ genannt. In der Lyrik findet sich eine solche Reihe nicht. Schelling geht davon aus, dass der christliche ›Mythenstoff‹ in der Neuzeit neben dem griechisch antiken besteht und dass sie sich komplementär ineinander lagern, wie er bezogen auf eine Dichtung, die ihm lebenslang besonders zentral war, hervorhob, auf Dantes ›Divina Commedia‹. Ein Ende der Kunst als Manifestation des Absoluten denkt Schelling nicht, zumindest zum Zeitpunkt seiner ›Philosophie der Kunst‹. Es folgt aber, wie man weiß, in seiner eigenen philosophischen Genese der Abschied vom Blick auf die Kunst als dem ›wahren Dokument und Organon der Philosophie‹. In seiner späten positiven Philosophie ist die Kunst nur eine vorübergehende Form, ähnlich wie das Praktisch-Werden des Theoretischen, an der der Durchbruch des realen »Dass« aufscheinen kann. Als Darstellung der Mythologie und als Entsprechungsverhältnis von Religion, bleibt die Kunst allerdings auch weiter unverzichtbar.

Schleiermacher 1.) Schleiermacher hat, obwohl er nicht nur die dritte kantische Kritik, sondern auch die ästhetischen Debatten im objektiven Idealismus sehr genau kennt, die Unfertigkeit neuzeitlicher Ästhetik reflektiert. Diesem Mangel will er Abhilfe schaffen. Seine Frage konzentriert sich darauf, ob den verschiedenen Formen der Kunst ein gemeinsamer Grund unterliegt. Nach Schleiermacher hat die Kunsttätigkeit zwei Gehalte: einerseits die Mitteilung des Gefühls, die gleichsam intentional durch ein Objekt vermittelt ist. Zum anderen rufe jede Vorstellung von Vollkommenheit den Kunsttrieb hervor, autonom Schönes zu bilden. »Das Wohlgefallen am Schönen in der Natur trägt nur den Reiz in sich zu künstlerischer Produktion des Schönen.« Schleiermachers Kunstbegriff ist dabei auffällig weit gefasst. Dies ist längst als Erbe der Aufklärungsästhetiken, etwa des Entwurfs von G. F. Meier erkannt. Kunst umfasst nicht nur Werke, sondern auch performative Akte, also Mimik, Musik, Malerei, Plastik, Poesie, auch Architektur und sogar Kanzelberedsamkeit. Zudem reflektiert er erstmals, wie in Präfiguration eines in der Moderne 276 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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immer wieder begegnenden Topos (man denke an Heidegger oder Bloch), die sich mit einstellende Schönheit an einem Gegenstand, der primär eine Gebrauchsfunktion hat. Der vollkommene Gebrauchsgegenstand zeigt an, wie ein Kunstwerk beschaffen sein könnte. Er ist Kunstwerk contre coeur. Kunst ruht in einem Lebenszusammenhang. Ohne einen natürlichen, lebensweltlichen Gefühlsausdruck ist auch die Hervorbringung des großen Werkes schal. »Das Kunstlose« 75 als die unmittelbare Identität der Erregung und der Äußerung ist für Schleiermacher die reinste und elementarste Ausbildung des Schönen. Schleiermacher orientiert die Kunstphilosophie nicht, wie Hegel oder Schelling, auf eine Lehre vom Absoluten. Er befreit sie also von der theologischen und ontologischen Begründungslast und verbindet sie vielmehr mit einer Kulturtheorie, einer Lehre der Kulturmanifestationen zwischen Organisation und Stilregeln und identischem bzw. individuellem Symbolisieren im freien Ausdruck. Individualität erweist sich im freien Ausdrucksspiel, in Kunstsinn und Kunsttrieb. Produktion und Rezeption seien Extreme, die sich wechselseitig bedingen und im Spiel des Schönen aufwiegen. Daher kann schon Schleiermacher den Satz formulieren, der später durch Joseph Beuys zu einer prägnanten Maxime werden sollte: Alle Menschen seien Künstler. Im Einzelnen ergibt sich ein sehr feines Netz von Unterscheidungen, das immer auch kunstkritische Zuspitzungen hat. Der lebendigen, ›begeisterten‹ Kunst wird von Schleiermacher die bleiche, kalte und matte Kunstfertigkeit gegenübergestellt. Zwischen beiden gebe es vielfache Valeurs, ebenso wie zwischen dem »Gelegenheitswerk« und dem »freien Werk«. Die Frage ist, inwieweit die symbolische und inwieweit die technische Seite überwiegt. Noch bedeutsamer ist es, dass Schleiermacher, ähnlich wie später Nietzsche, der diese Differenz sogar zu seiner wichtigsten Distinktion erklären sollte, 76 zwischen einer monologischen Kunst und einer Kunst vor Zu Schleiermachers ästhetischen Überlegungen vgl. Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart 1987. 76 Vgl. im Blick auf Schleiermacher, Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart 1987, insbes. S. 63 ff., S. 78 ff. Siehe im Blick auf Nietzsche zu dieser Frage M. Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung. Stuttgart 1998 und ders., Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne. Tübingen 2009. 75

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Zeugen unterscheidet. In seiner ›Theorie der Saturationspunkte‹ untersucht er die Frage, wie der Gegensatz subjektiven Bewusstseins und einer Verständlichkeit eine gemeinsame Mitte finden kann. Es ist wenig überraschend, dass Schleiermacher in tektonischer Hinsicht die verschiedenen Künste aufgrund ihrer Medien unterscheidet: Ton, Bewegung, Bild, Gedanke. Dahinter verbirgt sich ein vernunfttheoretisches Raster: Die Auffassung, dass die Kunsttätigkeit einerseits vom momentanen Gefühl, andererseits von objektivem Erkennen zu unterscheiden sei und sich stärker nach der einen oder der anderen Seite orientiere. »Jene suchen den unmittelbaren, diese den mittelbaren Ausdruck […] Die Kunstthätigkeit wird äußerlich theils in dem Mittel des gegenüber stehenden Momentanen, nämlich dem Ton und der Bewegung, theils in der objektiven Seite des Erkennens (Bildnerei und Dichtkunst).« 77 Ein anderes Unterscheidungsschema hat Schleiermacher mit hoher Subtilität unterlaufen: die Distinktion in »nur sukzessiv« Wahrnehmbares und »simultan« dargebotene Objekte. Es ist, wenn man sich an Lessings ›Laokoon‹-Schrift erinnert, eben die Unterscheidung zwischen der Nacheinanderordnung der Zustände in der Zeit (Dichtung, Musik) und ihrer Nebeneinanderordnung im Raum (Malerei, Plastik). 78 Schleiermachers Begründung für die Ignoranz dieses Rasters ist, dass die Perzeption soweit zu kultivieren ist, dass diese Grenze nicht mehr unbedingten Bestand hat. Gerade im Blick auf die Musik hat er gezeigt, wie der Musiker und der Wahrnehmende »sich wie ein schwingender Körper« verhalten können, »der jede Regung in die Luft ausströmt.« Kann man Kunst als individuelles Symbolisieren verstehen, befreit dies von einem allzu klassizistisch ausgelegten Kanon. Anders als Schelling und Hegel votiert auch der späte Schleiermacher noch für die Romantiker. Immer wieder kommt er auf die Malerei Caspar David Friedrichs zurück. Ihn wird nicht nur Rügen als Ort der Bildkunst Friedrichs fasziniert haben. Er nimmt die Querelle des anciens et des modernes auf, versteht sich selbst, sogar in einem sehr expliziten Sinne, als Moderner, sieht aber beide wiederum komplementär. F. Schleiermacher, Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. von Th. Lehnerer. Hamburg 1984, S. 46. 78 Vgl. die treffenden Interpretationen der ›Laokoon‹-Schrift bei M. Fick, LessingHandbuch, a. a. O., S. 216 ff. mit weiterführender Literatur. 77

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Sie bildeten ein doppeltes Kunst-Leben und seien keinesfalls als Gegensätze und auch nicht nach dem Schema von Aufstieg und Niedergang zu erfassen. 79 Schlechterdings maßgeblich für den Blick auf die Kunst und ihrer Genealogie wird aber eine kunsthistorische Betrachtungsweise, die der Geschichte ihr Recht gibt. Der einstige Polytheismus begünstigt die Tendenz antiker Kunst, »sich zu vereinigen«, wohingegen in der Moderne »ein größeres Bestreben« existiere, für sich allein zu sein. Als eine Ursache erkennt Schleiermacher auch den Monotheismus in der Theologie. Christlich-jüdischer Monotheismus führt aber nach Schleiermacher keineswegs zum Tod der Kunst. Er begünstigt die Freiheit der Verschmelzung des Individuellen und Allgemeinen und ist daher eine Voraussetzung für höchste Realisierungen der Kunst. 2.) Dass Schleiermacher Kunst und Religion durchaus in großer Nähe zueinander sieht, auch wenn er die Kunst keineswegs auf die Darstellung des Absoluten reduziert, zeigt sich schon in seinen ›Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern‹ (1799). Sind es doch ästhetische Kategorien, etwa Virtuosität, die zur Kennzeichnung des religiösen Bewusstseins herangezogen werden. Religion und Kunst gemeinsam ist die Geste des Hin- und Herschwebens eigen, ein nach innen auf das Ich und nach außen auf die Welt gerichteter Doppelsinn. Die Bewegung der Sinne findet in diesem Schwebezustand Ruhe und Festigkeit. Schleiermacher verdankt sich die für das 19. Jahrhundert immens einflussreiche Wortprägung ›Kunstreligion‹. Dagegen sollte Hegel polemisieren. Dennoch hat auch Schleiermacher nicht einer vollständigen Identität von Kunst und Religion das Wort reden wollen. Auch er betont ihre jeweilige Eigenständigkeit. Er meint aber, dass mit der Kunstrevolution der Goethezeit und der nachfolgenden Romantik auch ein neuer Aufstieg der Religion sich verbinde. Es gebe etwas wie ›schwesterliche Treue‹ beider. Diese Schwesterlichkeit ist aber keineswegs ein unproblematisches Verhältnis. Vgl. die Textauswahl: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. von Thomas Lehnerer. Hamburg 1984. Siehe auch: Schleiermacher, Ästhetik. Im Auftrage der Preuß. Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archivgesellschaft zu Berlin hg. von R. Odebrecht. Berlin, Leipzig 1931.

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So erwägt Schleiermacher, dass die Künstler vielleicht, zumindest fürs erste, um ihren Rayon ganz ausfüllen zu können, dazu verurteilt sein könnten, »irreligiös zu sein«. Zwischen Kunst und Religion könne sich von hier her später ein ganz neues Verhältnis einstellen, das jetzt noch verborgen bleibe. Jedenfalls ist Religion nach Schleiermacher, auch im Sinn der Christologie seiner ›Glaubenslehre‹, auf das »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« begründet, wohingegen die Kunst auf die Mitteilbarkeit eben dieses Gefühls konzentriert ist. 80 Es ließ sich also von einer inneren Seite der Religion sprechen, dem Gefühl, und der Kunst als ihrer äußeren Entsprechung. Unübersehbar ist jedoch, dass Schleiermacher auch die Kirche und ihren Kultus mit der Kunst verwoben sieht. Damit ist für eine Kirche plädiert, die durch Kunst sichtbar und hörbar werden muss.

Dazu treffend H. Maier, Die Kirchen und die Künste. Guardini-Lectures. Regensburg 2008. Siehe auch die eindrückliche phänomenologische Reflexion: G. van der Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst. Gütersloh 1957, sowie insbes. H. U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, hier insbes. III. 1. Im Raum der Metaphysik. Einsiedeln 1963.

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ZEHNTES KAPITEL:

Horizonte der Moderne

I.

In den Geheimkammern der Modernität: Geschichtsverläufe und -zeichen

1.) Der Modernebegriff hat unterschiedliche Besetzungen erfahren. Die etymologische Ableitung von »hodiernus« legt die Betonung auf dem Akut der Gegenwart nahe. Modern ist dann, was im Hier und Jetzt ist, was sich mithin dem Maßstab des Vergangenen und Klassischen ebenso widersetzt wie jenem des Künftigen. 1 Diese Gegenwartsfixierung dokumentierte sich am stärksten im Avantgardebewusstsein verschiedener Künste. In seiner Substanz hat der Modernebegriff hingegen eine genuine Tendenz in eine unbestimmte Zukunft, ja auf die Konglomeration der Zeit. Er hat geradezu eschatologischen Zuschnitt. Dies manifestiert sich im proleptischen Charakter der Avantgarde, die erstmals um 1800 die Gegenwart feiert, weil in ihr der Samen des Künftigen, diese »Frucht des Gewitters«, schon enthalten ist. Zugleich verbindet sich mit jener Zukunftslineatur die Erwartung, dass alte Versprechen in der Moderne wie vulkanisches Urgestein wieder zutage treten. Modernität hat neben dieser Figur der Rettung und Wiederbelebung des Gewesenen aber auch ein umgekehrtes Gesicht: Sie ist ›Fin de Siècle‹, Ausgang eines Zeitalters oder sogar Letztzeit. In ihr erweisen sich die großen Vergangenheiten als abgelebt. So erheben sich Grabmale der großen Toten. Insofern ist der diagnostische und geschichtsphilosophische Novitätscharakter der ›Postmoderne‹ keineswegs überzubewerten. Posthistoire hieß zunächst das ›Ende der Geschichte‹, vor der Erwartung, dass nichts Neues mehr auftreten würde. Ein solcher Zeitsinn indizierte damit eigentlich den Austritt aus der Geschichte. Es bleibe A. Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013.

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nur, dass man mit seinen Beständen rechne. 2 In Kombinatorik und Permutation kehrt das wieder, was schon gewesen ist. Die eigene Epoche der Postmoderne, die um 1980 sich programmatisch artikulierte (vgl. weiter unten), beruhte auf dem Widerstand gegen Verallgemeinerungen und ›große Erzählungen‹. Sie sollte eine Kultur der Differenz artikulieren. Insofern war die Formulierung einer Epochenidentität schon die Preisgabe des genuinen Anspruchs. Dass eklektizistisch mit den Beständen gespielt werden konnte, weil es nichts anderes mehr zu geben schien als vergangene Kristallisationen, dies eben war das Proprium. Nicht ganz ernst gemeint, konnten dann auch durch die Moderne entzauberte und geradezu destruierte Kunst- und Artikulationsformen wiederkehren: etwa die Frage nach dem guten Leben, der sinnstiftenden Kraft bedeutender Kunst. Die Unlösbarkeit der großen Fragen der Metaphysik durch das Moratorium eines Aufschubs, wie es Jacques Derrida formulierte, bedeutet aber keineswegs, dass diese Fragen vergessen werden sollten. Mit der realhistorischen Diagnose des Endes des Ost-West-Konfliktes als der, wie man meinte, letzten großen Episode der tradierten Weltgeschichte, definierte der japanisch-amerikanische Politologe Francis Fukuyama ganz postmodernetypisch das ›End of history‹. Man weiß von heute her, dass die große Formulierung schnell von neuen Wellen der Weltgeschichte und Weltunordnung weggespült wurde und ausschließlich Kapitalismus und liberale Demokratie das Antlitz der Welt bestimmen sollten. 2.) Am Beginn der ästhetischen Moderne und ihrer Ästhetiken des Schreckens und der Negativität ist ein markanter geschichtsphilosophischer Umbruch unübersehbar. Er betrifft auch die Selbstwahrnehmung der Zeit. Das bislang thematisierte Nachdenken über das Schöne von Platon bis Schleiermacher ist bei aller inneren Differenz unter die Vormoderne zu rubrizieren. Dies gilt auch für die deutsche Klassik und Romantik, die eine Überwindung der Sackgassen der Vormoderne im Sinn hat, aber nicht die Heraufführung eines Bruches der Zeiten. Dieser ist nicht zuletzt Ergebnis der ökonomischen

Vgl. dazu den grundlegenden Text A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation (1961), in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 133 ff.

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und sozialen Entwicklungen im 19. Jahrhundert, die allmählich reflexiv eingeholt werden. Nietzsche ist einer der markantesten Diagnostiker und Kritiker dieser Zäsur. Weitere Brüche wie der Erste Weltkrieg und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben das Bewusstsein eines unüberschreitbaren Hiatus gegenüber der Vormoderne noch verschärft. In der durch weltumspannende Technik radikal veränderten Situation verliert der Überlieferungszusammenhang seine Verbindlichkeit. Dies reicht bis tief in die Kategorien des Ästhetischen. Das Schöne rückt aus dem Zentrum der ästhetischen Debatte; jedenfalls insofern es Inbegriff der harmonischen Fügung, des wohlerwogenen Wechsels von Gleichklang und Variation ist. Welche radikalen Inversionen sich ergeben, wenn Schönheit vom Glanz einer metaphysischen Wahrheit und von der symbolischen Verweisung auf das Gute ganz entkoppelt wird, ist exemplarisch an Baudelaires Verknüpfung der ›Fleurs du mal‹ zu erkennen. Auch der Topos der Erhabenheit erfährt ähnliche Transformationen. Er wird zum Ruinenrelikt einer monströsen Größe, einer Überwältigung, auf die die Seele nicht mehr mit humanen Maximen antworten kann. Der Bogen eines Überlieferungsgeschicks bricht, anders als Gadamer es mit seiner einer klassischen Epoche verhafteten Hermeneutik meinte, schon im Umkreis der Jahrhundertkatastrophe des 20. Jahrhunderts unwiederbringlich entzwei. Unstrittig: Eine erste große Krise der europäischen ästhetischen Konfiguration stellte sich, wie wir sahen, im Trauerspiel der frühen Neuzeit, namentlich in der Jahrtausendgestalt Shakespeares dar. Die Hierarchien von Königtum und Papsttum waren äußerlich noch im Lot, innerlich hingegen erfuhren die Legitimationen tiefe Erosionen, und es schien denkbar, dass der erste Ort gänzlich unbesetzt blieb. Der Manierismus mit seiner vom Gleichmaß tradierter Schönheitsideale Abstand nehmenden überbordenden Formensprache und mit Allegorien, die nicht mehr zur verbindenden Einheit zurückfanden, hatte darauf zu antworten versucht. Die Complexio oppositorum zwischen der Pracht des äußeren Formen- und Farbenspiels und der Vergänglichkeit des ständig drohenden Todes bestimmte die Ästhetik des Barockzeitalters. Unübersehbar ist allerdings auch hier die Kontinuität zu Bild- und Figurenrepertoire der Griechen und Römer und zu christlicher Motivik. Die Suche nach der ›constantia‹, vermittels der Kunst, folgt einem stoischen Ideal, eben jenem der 283 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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Selbst-Abstandnahme gegenüber dem Unbill und den Abgründigkeiten der äußeren Welt. Dies aber zeigt, dass jene Krise gerade nicht vollständiger Abbruch ist und dass sie sich von den Berührungen der Außenwelt zu trennen vermag. Gewiss: Ansätze des modernen Umbruchs, der Teilung und Atomisierung von Perspektiven, der Desintegration, des Traumes und des Fragmentes waren bereits romantischer Ästhetik und Kunst abzulesen. Nicht wenige Romantiker verstanden sich, auch im dezidierten Begriffssinn, als ›moderni‹. Sie waren von einer Heutigkeit bestimmt und machten sich einerseits Verlusterfahrung und Melancholie des Niedergangs der alteuropäischen Kontinuität zu eigen. Andererseits erwarteten sie die »Frucht des Gewitters«, eine neue Inkubation des Geistes. Deshalb ist dies auch die Epoche der Geschichtsphilosophie in der Ästhetik, in der Zwiesprache des neuesten Neuen mit dem ältesten Alten, der ersten Aufgrabung des griechischen Grundes vor dem Hintergrund der Freiheits- und Schreckensmanifestation der Französischen Revolution. 3 Auch die Sammlung von Volkspoesien und die Beschwörung prämoderner Einheitszustände wie bei Novalis sind Versuche, das Band zur Überlieferung zu knüpfen. Äußerste Frivolität, Spiel mit allem Gegebenen und die Heimkehrsehnsucht nach dem goldenen alteuropäischen Anfang, den es in dieser Reinheit trivialerweise nie gegeben hat, bilden in den intellektuellen Physiognomien der Frühromantiker eine schwer zu durchdringende ›Complexio oppositorum‹. Der Taumel, der im Zeitalter der beginnenden Megalopoleis, der ungeheuren Beschleunigungen, der Höllenkreise der Großstadt, der Nachtasyle und der Morgue aufscheint, bis diese Schläge in der Jahrhundertkatastrophe von 1914 sich drastischer realisieren als man es erträumen konnte, zieht auch die Künste und die Reflexion in seinen Bann. Die bürgerliche Abständigkeit der Kunst von Leben, die Habitualisierung des ›interesselosen Wohlgefallens‹, verliert ihre Wirksamkeit. Das Primäre erwacht, auch in seiner Inkommensurabilität und Schrecklichkeit, in dem Herzen der Finsternis, das mitten in der europäischen Kulturwelt aufbricht. Man kann ahnen, und die Anfänge des Films zeigen es ebenso Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, a. a. O. Siehe ferner die Beiträge in: Kunstforum Band 221, Mai–Juni 2013.

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wie die grotesken Skizzen eines George Grosz, dass die moderne Maschinenwelt den europäischen Menschen als gezähmten Selbstdenker in Frage stellt. Es gibt eine Stufe des progredierenden Fortschritts, die sich jäh über die Aufklärungsgestalt des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit hinwegsetzt und das Humanum aufs Fleisch und den einzelnen Handgriff reduziert. In dieser entfesselten Moderne bricht erst eine Geschichtslogik auf, die sich zwischen den skizzierten äußersten Extremen der Endzeit wie in Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ und utopischem Neubeginn der Zeiten aufspannt. Dass die Oktoberrevolution und der Bolschewismus zu Signaturen werden, durch die die extreme Rechte sich mobilisieren lässt, konnte in einer vergleichenden Geschichtsschreibung gezeigt werden. Noch fundamentaler ist freilich die Wahlverwandtschaft der tödlich verfeindeten Geschwister, die tatsächlich die jeweils eigene Frage als Gestalt waren, so dass der hektische Showdown kaum verwunderlich ist. 4 Die Beruhigung in einer indifferenten Mitte bleibt aus. Das Zeitalter der Extreme bricht mit der Politik des Gleichgewichts. An deren Stelle tritt der Weltbürgerkrieg der linken und der rechten Ideologie. Sie stimmen auch darin überein, dass sie in ihrer radikalisierten Geschichtslogik den Niedergang der alten Ordnung und den Beginn der neuen zu vollstrecken beginnen. Zeitweise suchte sich eine radikalisierte ästhetische Avantgarde mit der sowjetischen Revolution zu verbinden. 5 Sie wurde in den Strudel des Stalinismus gezogen. Das Bewusstsein, von allem Vorhergehenden getrennt zu sein, macht erst verständlich, wie bedeutende Künstler und Dichter meinten, eine Allianz mit der politischen Gewalt der Bolschewiki eingehen zu müssen. Im Blick auf Faschismus und erst recht Nationalsozialismus war das Missverständnis seltener. Dennoch verstrickten sich auch hier Vertreter der Avantgarden. Sie sahen erst an der Art, wie mit ihnen umgegangen wurde, dass für eine eigenständige Kunst diesseits der megalomanen Selbstinszenierungen Hitlers kein Platz vorgesehen war. Sie wurden im besten Fall wie Gottfried Benn in »innere Emigrationen« gedrängt. Vgl. den Sammelband: B. Groys, M. Hagemeister (Hg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2005. 5 Vgl. dazu B. Groys, Die Erfindung Russlands. München 1995; sowie ders., Das kommunistische Postscriptum. Frankfurt/Main 2005. 4

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Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Erfahrung äußerster Enthumanisierung und des massenhaften Mordens wurde die Selbstinfragestellung der Kunst noch weitergetrieben. Fiktion schien verseucht, Worte vermint. Die skeptische Generation hatte keine Träume Durfte man sich noch Bilder machen? Begriffe wie ›Kahlschlag‹ oder ›armen Poesie‹ (›poesia povera‹) variierten die Sprachlosigkeit. Sie konnten nicht stilbildend werden, auch wenn dies, zumal in Deutschland, zeitweise der Weg der jüngeren Autoren war. Schon ein vordergründiger Blick auf die Geschichte der ›Gruppe 47‹ zeigt, dass sie daraus entweder in erneutes Engagement und Spiel mit den utopischen Optionen oder in die formalen Experimente eintauchten. Verspätet setzten diejenigen, die von der westlichen Ästhetik abgeschnitten gewesen waren, den Traum der Moderne fort. 6 Einen neuartigen Schleier des Nichtwissens breitet die Netzkultur über den Bruch. Sie macht alles verfügbar. Insofern ›tilgt‹ sie, ohne die vermittelnden Zwischenschritte durchmessen zu müssen, tatsächlich die Zeit. Sie löscht auch die Differenz zwischen Original und Kopie aus und macht damit den Begriff des Originals selbst obsolet. Sie ignoriert zugleich die Zäsuren, sie nivelliert die Grenzen, auch jene zwischen verschiedenen Rangebenen der Kunst und webt daher das Netz der linearisierten Moderne weiter. 3.) Zu fragen ist heute im Zusammenhang der Modernetheorie, ob es nicht Kennzeichen einer ›zweiten‹, ›anderen Moderne‹ sein könnte, 7 jene destruierende Sogkraft, jene umfassende Zersplitterung zu erkennen und aus dem Abstand wahrzunehmen, ohne sich in ihr zu verfangen. In den Kanon einer solchen ›anderen Moderne‹, die um die großen Traditionen weiß, gerade auch in ihrer Unwiederbringlichkeit, und die sich nicht selbst in die Destruktionslust verliert, gehörten Rilke und Hofmannsthal, ebenso wie Stefan George und in seinen Abgesängen Gottfried Benn, aber eben in keiner Weise ein Marinetti und bei allem Rang auch nicht Brecht. In Döblins jähem Wechsel zwischen der hypermodernen Selbstüberholung und

Vgl. dazu H. Böttiger, Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. München 2012. 7 Vgl. über den Zusammenhang von Moderne und Schönheit M. Riedel, Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne. Tübingen 2009. 6

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dem Rückgriff auf christliche Sinndimensionen zeigt sich die Bruchstelle zwischen beiden Modernen signifikant. Paul Celans hoher sigetischer Stil der Lieder, die auch jenseits der Menschen zu singen wären, Ingeborg Bachmanns Evokationen ›An die Sonne‹ oder ›Anrufung des großen Bären‹ verweisen nach 1945 in den Zusammenhang jener anderen Moderne. Zu ihr gehört aber auch die Ästhetik Anselm Kiefers, der den weiten Gedächtnisraum der Zeit wie ein Bergwerk als Maler auslotet. Und hier her gehörte die Kantabilität, die Hans Werner Henze bei allem Wissen um die Kakophonien der Moderne in seiner Tonkunst festhält. Hier manifestiert sich auch eine zukunftsgewisse Schönheit, die Eingedenken ist und als solches den Fortriss der Zeit transzendiert. Das Profil einer solchen ›anderen Moderne‹ hat selbstverständlich auch Folgen für den philosophischen, theoretischen Zugriff auf die Kunst. Er wird sich gleichsam kontrafaktisch als leitender Zeitund Entwicklungsstrahl artikulieren müssen: nicht gejagt und getrieben von den jeweiligen neuesten ästhetischen Moden, von Inventionen und Innovationen. Sie ist vielmehr auf die von Walter Benjamin benannte ›Dialektik im Stillstand‹ bezogen. Mit ihr kann sich daher eine Richtungsumkehr vollziehen, in der das Neue überhaupt erst den Blick öffnet, um alte, tradierte Formen in ihrer Mächtigkeit und als Erweiterungen des Wahrnehmungshorizontes erfassen zu können. Recht verstanden bedeutet dann das rimbaudsche Votum: »Il faut être absolument moderne«, das bislang vergrabene und verborgene Alte angemessen sehen zu können. Damit ist nicht nur eine theoretische Haltung erfordert, die über den szientistischen oder linear geschichtsphilosophischen Horizont hinaus- bzw. hinter ihn zurückblickt. Die ›andere Moderne‹ durchmisst gerade die Spannung zwischen den neuen Erfahrungsräumen nicht mehr klassischer Kunst und der Bewahrung und Tradierung des überformten Gewesenen. Dies erforderte einen von der Kunsterfahrung ausgehenden, philosophischen Kanon, der sich von jenem der Differenz-Fetischisten der Postmoderne ebenso unterscheidet wie von einem Konservatismus, der die Coupierungen durch Traditionsabbrüche, willentlich verursachte oder schleichend eingetretene, zu ignorieren versucht. Jener philosophische Kanon der ›anderen Moderne‹ hat es mit einer neuen ›Querelle des anciens et des modernes‹ zu tun mit dem Zweck der Bewahrung dessen, was ›Besitz für immer‹ (ktema eis aei) sein soll, im Fortriss der Zeit. Aus 287 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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dieser Spannung eröffnet sich dann auch ein reflektierterer Blick auf die Dimensionen des Neuen und der Avantgarde. Man wird allerdings konsequent darauf verzichten müssen, sie als Nullpunkt zu verstehen. Die Theo- und Diaphanien des Guten im Schönen, die Anzeige eines höheren schönen Lebens werden in einer Ästhetik dieser ›anderen Moderne‹ nicht missachtet. Doch ihre Rückblicke sind nicht frei von Trauer, jener Schwermuts-Ironie, die sich an einem Anders-sein-können entzündet, das eminenten Kunstwerken innewohnt. Kaum einer der philosophischen Autoren, auf die man Bezug nehmen mag, wird all diese Desiderate in sich vereinen. Hegel und Schelling wären in diesem Kanon ebenso unverzichtbar wie die janusköpfigen romantischen Fragmentisten, der neueste Neue und älteste Alte, hierher gehören Nietzsche oder Walter Benjamin und seine systematische Fortschreibung bei Theodor W. Adorno. Nicht jedoch hätten in ihm Evolutionisten irgendeinen Ort, die sich im Schlepptau der vermeintlich neuesten Kunstmoden und virtuellen Installationen ihre Theorien ›samplen‹.

II.

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1.) Eben im politischen Umbruchsjahr 1848, mit dem manchen Stimmen zufolge das durch vielfache Retardierungen noch aufgehaltene Ende Alteuropas eingeleitet wurde, prägt Charles Baudelaire als bewussten Neologismus, anschließend an Schriften Stendhals und in Auseinandersetzung mit der ›schwarzen Romantik‹, den Begriff der Moderne. ›La modernité‹ ist von hier her ein Grenztopos, der zwischen der vertrauten, abgeschiedenen Welt und der neuen veränderten Situation, in der keine Normativität mehr gilt, einen Schnitt legt. Jede Moderne enthält ihre eigene Überholbarkeit, ihr eigenes Vergilben und Absterben schon in sich. Baudelaire formuliert diese Epochensignatur in enger Verwandtschaft zur Mode: Hier wie dort zeigt sich das ›Ewige‹ im Vorübergehenden. 8 Das Alte wird zurückCh. Baudelaire, CB II, S. 694; vgl. dazu H. Neumeyer, Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg 1999.

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gelassen. Doch die Fragilität greift ihrerseits aufs Ewige aus. Sprichwörtlich geworden ist daher die Wendung von Baudelaire: »La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel.« 9 Bei einigen Gedichten, namentlich ›Le cygne‹ (›Der Schwan‹), in dessen Titel man den Anklang an ›le signe‹ : ›Das Zeichen‹ mithören kann, wird die gerade erst auf den Begriff gebrachte Modernität selbstreferentiell. Baudelaire war sich wohl bewusst, dass der Modernebegriff eine lange Herkunft und alte Würde hat. Die Konfrontierung von ›antiqui‹ und ›moderni‹ ist nicht nur belegt durch die Konfrontierung antiken und neuzeitlichen Bewusstseins. Sie durchzieht schon die innerchristlichen Diskurse des hohen Mittelalters. Die ›antiqui‹ und die ›veteres‹ kommen auf der einen Seite als die Kirchenväter, die ›moderni‹ auf der anderen Seite als Stimmen der Hochscholastik zu stehen. Schon der Modernebegriff hat also eine Tradition. Modernitätsbewusstsein kann daher keineswegs bedeuten, dass alle Nabelschnüre gekappt und dass Denken und Bewusstsein einem grundstürzenden Wandel unterworfen sind. Modernität ist Fortbildung und Umgestaltung im ›Heute‹, aber eben auf Traditionen bezogen, ohne die sie maßstabslos wäre. Im 12. Jahrhundert tritt die ›devotio moderna‹ zutage, eine neue Demut und Rückbesinnung auf urchristliche Züge. Der große Romanist Ernst Robert Curtius bemerkte dazu: »Veteres heißen die christlichen wie die heidnischen Autoren der Vorzeit. Den Gegensatz zwischen ›moderner‹ Gegenwart und heidnisch-christlichem Altertum hat kein Jahrhundert so stark empfunden wie das zwölfte.« 10 Die strukturelle Ambivalenz bleibt erhalten, auch wenn sich die inhaltliche Semantik des Modernebegriffs verschiebt: ›Modern‹ zu sein, bedeutet in der klassischen ›Querelle des anciens et des modernes‹ des 16. Jahrhunderts in Frankreich und ein Jahrhundert später auch in Deutschland, aus dem Bann der ›imitatio veterum‹ herausVgl. zur Beschreibung des Ambientes: K. Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München, Wien 1993; S. Vietta, D. Kemper (Hgg.), Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1997. Unverzichtbar nach wie vor: W. Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt/Main 1969. 10 E. R. Curtius, Europäische Literatur im lateinischen Mittelalter. Bern 1969, S. 260. 9

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zutreten in eine ›aemulatio‹, die das Erreichen, vielleicht aber auch das Übertreffen des Vorbildes vorsieht. Eine signifikante Station in dieser Begriffsgeschichte wird durch die zweite Auflage von Chateaubriands ›Essai historique, politique et moral sur les révolutions anciennes et modernes considérées dans leurs rapports avec la révolution française‹ (1826) markiert. Denn in diesem Buch wird die Vergleichbarkeit von Antike und Moderne und beider Orientierung nach einem beiden gemeinsamen Vergleichsmaßstab ad absurdum geführt. Jener radikale Schnitt verschiebt sich bei Baudelaire und anderen Theoretikern der radikalen ›Modernité‹ in die Tiefe der Zeiten. Begriffe wie ›das Ewige‹, aber auch das Ideal-Schöne werden in die Vergangenheit versetzt. 11 Der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkommende Topos von ›klassischer Moderne‹ ; signifikant realisiert im ›Museum moderner Poesie und Kunst‹ (H. M. Enzensberger), ist als Versuch konzipiert, die Radikalität der Moderne fortzusetzen und sie zugleich in eine Ahnenreihe einzufügen. 2.) Modernität bringt bestimmte artistische Züge zum Vorschein, die von Baudelaire oder Poe erstmals artikuliert werden, aber, alle ideellen und politischen Differenzen übergreifend, von so verschiedenen Autoren wie Brecht und Benn, Ernst Jünger und Döblin je spezifisch realisiert werden. Baudelaire hat bewusst und programmatisch an Edgar Allan Poes ›The Poetik Principle‹ angeschlossen, wobei Poe seine Theorie am Beispiel seines Gedichtes ›The raven‹ anwandte. Er zeigt, wie in kühler Kombinatorik und Kalkulierbarkeit Musikalität, tiefe Empfindung und der Schock erzeugt werden. Zum veränderten Gestus modernen Schreibens gehört die ›Neutralisierung‹ der persönlichen Empfindung, ein subtiles Formbewusstsein und eine fast mathematische Intelligenz im Formenkalkül. Der Gedichtzyklus, der wie kein anderer für jene Modernität steht, Baudelaires ›Fleurs du mal‹, bringt dies eindrucksvoll vor Augen. Eröffnet wird er durch die Einleitungssequenz: ›Spleen et Idéal‹. Vgl. die Bahn brechende Darstellung: H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1956 u. ö. Ebenso unerlässlich: Walter Höllerer (Hg.), Theorie der modernen Lyrik, neu herausgegeben von N. Miller und H. Hartung. München, Wien 2003; siehe ferner die erste Historisierung des Problemkomplexes: Museum der modernen Poesie, eingerichtet von H. M. Enzensberger. Nachdruck Frankfurt/Main 2002 (Erstausgabe 1960).

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Die fixe Idee und das Ideal positionieren zwischen Aufschwung und Sturz. Es folgen zwei versuchte Ausbrüche aus diesem Zwiespalt; der eine führt in die Passagen der ›Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts‹. 12 Der andere folgt der Spur des Titels des gesamten Zyklus in einer Binnenstruktur, die wie die ganze Komposition ›Fleurs du mal‹ überschrieben ist. Damit verbindet sich in starker Affinität zu Nietzsche die Geste der ›Révolte‹ gegen den für tot erkannten Gott und seine Schatten und schließlich eröffnet sich der Ausgriff in das schlechterdings Unbekannte, den Tod, in dem Ruhe sein könnte (»La mort«). Die Apotheose der Form verbindet sich mit einer Ästhetik des Hässlichen und Bösen. Auch das Böse kann, zumindest in seiner ästhetischen Verwandlung in funkelnden Brechungen erstrahlen. Baudelaire formulierte: »Es ist das wunderbare Vorrecht der Kunst, dass das Schreckliche, kunstvoll ausgedrückt, zur Schönheit wird, und dass der rhythmisierte, gegliederte Schmerz den Geist mit einer ruhigen Freude erfüllt.« 13 Das Widerwärtige wird durch Ton, Metrum in Form und Schönheit gebannt, wie übergossen mit galvanischem Erschauern (›frisson galvanique‹). »Aus dem Hässlichen weckt der Dichter einen neuen Zauber«; Reinheit und Bizarrerie weiß er zu verbinden. ›Erschreckendes und Narrenhaftes‹ gehen eine Amalgamierung ein. So sagt es Baudelaire im Blick auf sich selbst und auf den bewunderten E. A. Poe. In der Dichtung zieht sich diese Linie über Benn, T. S. Eliot (›The Waste Land‹) und Ezra Pound (›Cantos‹). Bemerkenswert ist indes, dass jener Modernitätsbegriff nicht mehr mit der Fanfare einer neuen Zeit anhebt wie in der frühen Romantik und wie es für kurze Zeit im Surrealismus und in den Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts geschehen sollte. Er ist vielmehr eschatologisch apokalyptisch getönt. Sein eigenes ›chef d’œuvre‹ charakterisiert Baudelaire daher als Vgl. wiederum Stierle, Paris, a. a. O., zu Benjamin: Das Passagenwerk. Gesammelte Schriften V. 2. Hg. von H. Schweppenhäuserr und R. Tiedemann. Frankfurt/Main 1991. 13 Ch. Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Französisch und deutsch, hg. von M. Starke. Leipzig 1990, vgl. auch das ausgezeichnete Nachwort: M. Starke, Lyrismus und Verfremdung in Baudelaires Dichtung, a. a. O., S. 515 ff., sowie die poetologischen Überlegungen von Baudelaire: ders., Schriften zur Literatur; hg. von M. Starke. Frankfurt/Main und Leipzig 1992. Siehe zu den Fragen der Faktur auch: K. H. Bohrer, Ästhetische Negativität. München, Wien 2002. 12

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»misstönendes Erzeugnis der Musen der Endzeit«. Damit verbindet sich der Eintritt in eine Welt der gesteigerten Künstlichkeit, der hoch kultivierten Sprachmagie. Rêve et l’imagination – Traum und freie, schwebende Einbildungskraft werden beschworen, Vergeistigung und Reflexivität, eine erzeugte Mythologie, die das reale chthonisch Alte noch einmal evoziert. Von hier her könnte sich die Faszination erklären, die Richard Wagner auf Baudelaire ausübte. Gegenüber einem Wirklichen, das mimetisch abzubilden sei, war Baudelaire dagegen abgeneigt. Kristallisierung in der Form hat zur Entsprechung, dass die natürliche Welt, das Organische in seiner übersprudelnden Chaotik, mit Abscheu betrachtet wird. Sie wird mit Ekel wahrgenommen, einem Ekel, der auch die menschliche Existenz mit umfasst. In seinem Roman ›la nausée‹ wird Sartre diese Figuration noch einmal als existentialistisches und politisches Thema aufnehmen. Dies ist jedoch ein anderes Programm. Von Anfang an zielt die ästhetische Moderne auf eine neue Präzision – mit gegenstandsentleerten Linien und freien Bewegungen als Formideal. Zu erinnern ist an die Vorliebe für die Arabeske, die geisthaltigste aller Zeichnungen. In einem Brief aus dem Jahr 1859 schrieb Baudelaire: »Die Phantasie zerlegt (décompose) die ganze Schöpfung; nach Gesetzen, die im tiefsten Seeleninnern entspringen, sammelt und gliedert sie die Teile und erzeugt daraus eine neue Welt.« 14 Und: »Der Dichter ist die höchste Intelligenz und die Phantasie ist die wissenschaftlichste aller Fähigkeiten.« 15 Die skizzierten Linien kulminieren in der Verwandlung der großen Stadt, der Megalopolis, in ein Kristallisationsgebäude des Anorganischen. Das Gedicht ›Rêve parisien‹ imaginiert nach der selbst klassisch gewordenen Beschreibung von Hugo Friedrich diese Stadt: »Kubische Gebilde, aus denen alles Pflanzenhafte verbannt ist; riesenhafte Arkaden […] diamantene Abgründe, Wölbungen aus Edelsteinen; keine Sonne, keine Sterne, ein aus sich selbst glänzendes Schwarz; das Ganze ohne Menschen, ortlos, zeitlos, tonlos.« 16

Hier zit. nach H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, a. a. O., S. 41. Ch. Baudelaire, Correspondance I, S. 368. 16 H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, a. a. O., S. 55. Siehe auch die grundsätzlichen Überlegungen: K. H. Bohrer, Ästhetische Negativität. München, Wien 2002. 14 15

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Walter Benjamin, der Philosoph der modernen Passagenwelt, hat zu Recht festgehalten, dass mit dem Modernitätsbewusstsein eine heroische, abgekühlte Seelenverfassung verbunden gewesen sei. Die ›Desinvolture‹, ein Nicht-Involviertsein ist gleichsam eine moderne Form des Stoizismus. Dandy und Flaneur sind nicht zufällig baudelairesche Gestalten, gleichsam an der Schwelle zu der großen Passage der Moderne. Benjamin hat darüber treffend geschrieben: »Es ist der Blick des Flaneurs, dessen Lebensform die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt. Der Flaneur steht noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklasse. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause. Er sucht sein Asyl in der Menge.« 17 Oscar Wilde war es vorbehalten, Dandy und Märtyrer zusammenzudenken und diese ungewohnte Verbindung auch selbst zu leben.

III. Warum das Leben kein Irrtum ist – Nietzsches Perspektiven 1.) Friedrich Nietzsches Philosophieren aus und mit der Kunst in diesem Zusammenhang zu erinnern, versteht sich nicht ganz von selbst. Denn zunächst gräbt Nietzsche in einer unerhörten Weise den vorklassischen Grund der Antike wieder auf. Er ist ein AntikModerner und hält sich zunächst bewusst im Wechsellicht beider Seiten. Im ›Versuch einer Selbstkritik‹ zur Erstlingsschrift ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹, sechzehn Jahre später verfasst, hält Nietzsche unzweideutig fest, worum es ihm damals 1871 gegangen war. »Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens.« 18 Dass die Tragödie aus dem Geist des Kultus, namentlich dem Kult des zerrisse-

Walter Benjamin, Passagenwerk, S. 54. Siehe auch: R. Schlesier, Der bannende Blick des Flaneurs im Garten der Mythen, in: dieselbe, Faszination des Mythos. Frankfurt/Main 1985, S. 35 ff. 18 F. Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, in: Kritische Studienausgabe Band 1. München 1980, S. 14. Im Folgenden werden die Nietzsche-Zitate mit dem Kürzel KSA und der nachfolgenden Seitenzahl summiert. 17

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nen und sich wiederfindenden Gottes Dionysos hervorgeht, ist für Nietzsche die Urszene der Kultur. Nietzsches zentrales Problem fokussiert sich auf die Frage, wie die Griechen das Leiden zur Darstellung bringen konnten, ohne an ihm zugrunde zu gehen. Bereits am Debüt des jungen klassischen Philologen wird deutlich, dass für Nietzsche damit der Schlüssel für die Begründung nicht nur der griechischen Kultur, sondern eines kultivierten Menschseins überhaupt gefunden ist. Es hat bis in seine Gegenwart kein besseres Gründungsdokument erhalten als die auf die gemeinsinnige Tragödie gestiftete attische Polis. Nietzsches zeitweilige Allianz mit Richard Wagner bestand darin, ein ›deutsches Delos‹ zu erhoffen, das den griechischen Gründungsakt hätte wiederholen können. 19 Der Begriff des Klassischen beginnt dann aber zu schillern. Da Nietzsche den Versuch unternimmt, neue, bislang unbetretene Pfade in die Antike zu bahnen und damit den Brückenschlag zu erneuern, ist auch er bei aller radikalen Moderne-Haltung wesentlich ein Klassizist contre cœur. Er ist es freilich in klarer Abgrenzung gegen die matt und schal gewordene Berufung des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die Antike, gegen das humanistische Gymnasium, den Mainstream der Philologen und eine Musealkultur, auf die sich archivalische Tätigkeit reduziert. Die Verbindung des ältesten Alten mit dem neuesten Neuen ist inspirierend an Nietzsches Akzentuierung der Moderne. Im ›Versuch einer Selbstkritik‹ artikuliert er selbst seine Distanz gegenüber dieser unreinen Mischung. Dazu trug gewiss die Enttäuschung gegenüber Wagner und dessen Entourage bei. Der frühe Gedanke ist damit aber nicht desavouiert. Dass der Schmerz in eine Gestalt gebracht werden kann, beruht, wie man weiß, dem frühen Nietzsche zufolge auf der Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen, den beiden Kunst-Naturgewalten. Sie sind irreduktibel wie Naturmächte und sie sind niemals aufeinander zurückzuführen. Dionysisch ist die »ewige und ursprüngliche Kunstgewalt […] Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese

Vgl. dazu M. Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung. Stuttgart 1998, siehe auch ders., Vorgestalten der ewigen Wiederkunft. Nietzsches Grundlehre. Aus dem Nachlass hg. von H. Seubert und F. Sprang. Wien u. a. 2012.

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Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eigenes Wesen decke.« 20 Nietzsche geht so weit zu bemerken, dass vom dionysischen Urgrund nur so viel überhaupt zur Anschauung gebracht werden kann, wie durch apollinische Formkraft zu bewältigen ist. Sonst würde sich die griechische Kultur am Abgrund selbst den Tod gegeben haben. Die ›Geburt der Tragödie‹ schließt mit der denkwürdigen Zwiesprache eines fingierten jungen Menschen, der aus Nietzsches Zeitgenossenschaft unter die ionischen Säulengänge verschlagen wurde, die die untrennbare Verbindung der Natur- und Kunstgewalten artikuliert: »›Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen!‹ Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylos, zu ihm aufblickend, entgegnen: ›Sage aber auch dies, du wunderlicher Fremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so schön werden zu können!‹ Jetzt aber folge mir zur Tragödie und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten!« 21 Wie sich die Figuration beider staunenswerter Natur-Kunstgewalten denken lässt, verdeutlicht Nietzsche keinesfalls nur an der griechischen Musik und Tragödie, sondern auch an bildender Kunst aus späterer Zeit: in einer der eindrücklichsten Beschreibungen widmet er sich deshalb der ›Transfiguration‹ Raffaels. »In der unteren Hälfte unter verzweifelten Trägern« zeigt sie einen besessenen Knaben, »Widerspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der ›Schein‹ ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge.« 22 Der Schmerz kann durch Kunst verklärt werden, ohne dass das Leiden geleugnet ist. Deshalb zeigt die Darstellung im apollinischen Schein, »wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde.« 23 Der zerreißende, zum Geschehen am Grund hinabführende Dionysos ist eine ›barbarische‹ Gottheit. 24 Doch Nietzsche zeigt, dass Nietzsche, KSA 1, S. 155. Ibid., S. 156. 22 Ibid., S. 39. 23 Ibid. 24 Grundlegend dafür: E. Rohde, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. 2 Bände. Leipzig 21898, Nachdruck Darmstadt 1990. 20 21

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die Eröffnung des Abgrundes unabdingbar ist, damit sich die apollinischen Kunstwerke gestalten können. Die Frage nach der Kunst ist damit aber eine Lebensfrage. Ohne die Verklärung wäre der Schmerz nicht erträglich. Oder, wie es Nietzsche formelhaft prägnant gesagt hat: ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. 2.) Die Prägungen durch Schopenhauer sind in Nietzsches Erstlingsbuch noch unverkennbar. Dazu kommt die enge Verbindung zu Wagner, die er später als eine »Beimischung« der neuesten Dinge zurückwies. 25 Dennoch trifft Manfred Riedels Befund zu, 26 dass schon der frühe Nietzsche nicht mit Schopenhauer den ›Quietiv‹ sucht, ein Sich-Lösen aus dem drängenden, schmerzenden Leben. Er verlangt sich vielmehr selbst ein Ja zu diesem Grund ab. Und damit trennt er sich unter Berufung auf das frühe Griechentum und dessen tragische Weisheit von Schopenhauer. Schopenhauers ästhetisch-metaphysische Grundlehre besagte bekanntlich, dass der nach dem principium individuationis von Raum und Zeit und kategorialer Erkenntnis erfassbaren Welt der ›Erscheinung‹ eine Welt des Ur-Einen zugrunde liegt, die nichts anderes sei als »bloßer Wille, blinder Drang« 27. Dies ist ein Ur- und Ungrund, wie Schopenhauer mit Schelling lehrt. Als Wille sind in diesem Sinn verschiedenste Naturkräfte aufzufassen: vom anorganischen, physikalischen Wirkungszusammenhang in Magnetismus, Elektrizität, über das organische Wachstum bis hin zur ›Oberstimme‹ menschlicher Willensartikulation. Wenn Nietzsche selbst in seiner ›Grundlehre‹ den Willen zur Macht als das letzte Faktum bestimmt, zu dem wir hinunterkommen, ist die Prägung durch Schopenhauer unverkennbar. Nietzsche stellt allerdings dem Willen zur Macht seine Lehre von der Zeit, der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹, entgegen. Sie ist nicht mehr Faktum, sondern mit Nietzche der ›abgründlichste Gedanke‹. Die Crux des schopenhauerschen Dazu mein Aufsatz: Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Das Ende des bürgerlichen Zeitalters zwischen Wagner und Nietzsche, in: E. Conze, U. Schlie, H. Seubert (Hg.), Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Festschrift für Michael Stürmer zum 65. Geburtstag. Baden-Baden 2003, S. 206 ff. 26 Vgl. M. Riedel, Ein Seitenstück zur ›Geburt der Tragödie‹. Nietzsches Abkehr von Schopenhauer und Wagner und seine Wende zur Philosophie, in: Nietzsche-Studien 24 (1995), S. 45 ff. 27 Schopenhauer, Werke Band II, S. 238. 25

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Grundrisses ist es, dass in demselben Maße, in dem die Erkenntnis der Vergänglichkeit des Seins wächst, auch der Grad der Schmerzerfahrung zunimmt. Die Qual erreiche »folglich ihren höchsten Grad im Menschen […]« und werde »dort wieder um so mehr, je deutlicher erkennend, je intelligenter der Mensch ist; der, in welchem der Genius lebt, leidet am meisten.« 28 Diese Daseinsqual wird von Schopenhauer in verschiedenen Wendungen umschrieben. »Der Wille zum Leben [zehrt] durchgängig an sich selbst und [ist] in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht, dasselbe Geschlecht jedoch auch in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart und homo homini lupus ist.« 29 Auf ein tektonisches Spezifikum ist hier noch zu achten, das Nietzsche sich nicht zu eigen gemacht hat; dass Schopenhauer mit dem Durchstoßen des Schleiers der Maya – also der unwirklichen Oberfläche von Raum und Zeit – meint, in die Dimension der Idee einzudringen. In mir selbst kann ich daher erleben, was die Welt in ihrem Wesen ist, außer jenem, dass sie ›Vorstellung‹ und ›Erscheinung‹ ist. »Erkenne die Wahrheit in dir, dort berührt der Himmel die Erde.« 30 In diesem Zusammenhang kommt der Kunst bei Schopenhauer die Bedeutung zu, »die eigentlich metaphysische Tätigkeit« zu sein. Sie, vor allem die unendliche Melodie der Musik, wirkt als Mittel der Beruhigung, eben als Quietiv. Sie führt, im Sinn der ›schrecklichen Lehre‹ des Dionysos-Begleiters, des Silen, in die Haltung des Zweitbesten nach dem Besten, nie geboren zu sein, ein; ein Leben, das die Vordergründigkeiten des Schmerzes und der Endlichkeit als Illusion durchschaut. Die Anschauung der Idee ist frei vom Willen. Diese kontemplativ resignative Haltung, gegen die Nietzsche später immer wieder polemisch angeht, bestimme ebenso den Betrachter wie den Künstler. Conditio sine qua non des Genies sei »ein abnormes Überwiegen der Sensibilität über die Irritabilität und Reproduktionskraft.« Bezogen auf den Betrachter hat Schopenhauer dekretiert: »Vor ein 28 29 30

Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstelluung, Band I, Werke Band II, S. 426. Ibid., S. 208. Schopenhauer, Handschriftlicher Nachlass, Band I, S. 17.

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Bild hat jeder sich hinzustellen wie vor eine Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen.« Dies führt zu einer neuen, zumindest seit dem frühen Schelling nicht mehr gekannten Maßgeblichkeit der Kunst für die Philosophie. Philosophie sei »so lange vergeblich versucht, weil man sie auf dem Wege der Wissenschaft, statt auf dem der Kunst suchte.« 31 Einzig auf dem Weg der Kunst aber sei die Idee zu finden, wie Schopenhauer überaus eindrücklich in seinem Hauptwerk festhält: »Während die Wissenschaft dem rast- und bestandlosen Strom vierfach gestalteter Gründe und Folgen nachgehend, bei jedem erreichten Ziel immer wieder weiter gewiesen wird und nie ein letztes Ziel noch völlige Befriedigung finden kann, so wenig als man durch Laufen den Punkt erreicht, wo die Wolken den Horizont berühren; so ist dagegen die Kunst überall am Ziel. Denn sie reißt das Objekt ihrer Kontemplation aus dem Strome des Weltlaufs […] Die erstere [sc. also die wissenschaftliche Betrachtungsart nach dem ›Satz vom zureichenden Grunde‹] gleicht dem gewaltigen Sturm, der ohne Anfang und Ziel dahinfährt, alles beugt, bewegt, mit sich fortreißt; die zweite dem ruhigen Sonnenstrahl, der den Weg dieses Sturms durchschneidet, von ihm ganz unbewegt. Die erstere gleicht den unzähligen, gewaltsam bewegten Tropfen des Wasserfalls, die, stets wechselnd, keinen Augenblick rasten: die zweite dem auf diesem tobenden Gewühl still ruhenden Regenbogen.« 32 Zwar kann auch ethisches Verhalten und die aus ihm hervorgehende metaphysische Tätigkeit im schopenhauerschen Sinne in die ›Willenslosigkeit‹ führen. Der mitleidende Mensch kommt in einen Weltbezug, der frei ist von Selbsterhaltung und Selbstinteresse, gemäß der altindischen Sankskritformel »Tat-wam-asi!« – »Das alles bist du!« Doch ihre einzige angemessene Darstellungsweise findet diese Haltung nur in der Kunst. Als Objektivation des Willens, mithin als sinnliche Darstellung der Ideen, hat Schopenhauer noch einmal ein System der Künste gezeichnet. Der Architektur auf der elementarsten Stufe der Stofflichkeit, »dumpfes, erkenntnisloses, gesetzmäßiges Streben der Masse« setzt er die Dichtung, vor allem die Tragödie entgegen, in 31 32

Ibid., S. 154. Schopenhauer, Werke Band I, S. 240.

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der der Zwiespalt des Willens mit sich selbst »in furchtbarer Größe und Deutlichkeit« vor Augen trete. Dazwischen werden Malerei und skulpturale Formen situiert. Der Musik kommt eine davon abgetrennte Eigensphäre zu, und in dieser Emphase lag das Faszinosum für Wagner und für Nietzsche. Denn in der Musik kommt, so Schopenhauer, das Wesen der Dinge selbst zum Erklingen. Herz der Dinge sei sie, so Nietzsche, »von der erscheinenden Welt ganz unabhängig, [sie] ignoriert sie schlechthin, könnte gewissermaßen, auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehen.« Sie ist Zeichen des Unendlichen. Der kalkulatorisch mathematische Zug: dass sie dunkles Messen und Sichselbst-Zählen der Seele sei, wird deshalb von Schopenhauer scharf akzentuiert. Er hatte übrigens, worauf Nietzsche immer, wenn er sich – meist vergeblich – von Wagner zu lösen versuchte, zurückgriff, die ›Himmelsmusik‹ Rossinis und anderer italienischer Meister im Sinne, und er selbst spielte mit einiger Virtuosität jeweils eine Stunde vor Tisch die Querflöte. Doch man kann vielleicht behaupten, dass erst Wagner die von Schopenhauer intendierte absolute Kunst realisierte. Sie führt, auch dem Selbstverständnis nach, in ein ›anderes‹, ›besseres Bewusstsein‹, sie eröffnet Ekstasen, die freilich niemals dauerhaft, sondern nur transitorisch, vorübergehend möglich sind. 3.) Damit ist der Horizont, in den das Kunstdenken des jungen Nietzsche sich einzeichnet, markiert. Im Umkreis der ›Geburt der Tragödie‹ entstehen Vorstudien zu dem nie abgeschlossenen ›Philosophenbuch‹, das die Vorsokratiker als Denker der »tragischen Weisheit« zusammenhängend behandeln sollte. Nietzsche evoziert in seinen zu Recht gerühmten und immer wieder zitierten Vorstudien, namentlich in ›Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹, die Physiognomien der frühgriechischen Denker von Thales, Anaximander, Heraklit bis zu Anaxagoras und Empedokles als Zuschauer und Hörer der Tragödie. Sokrates habe sich aus diesem Zusammenhang gelöst. Er gleicht in Nietzsches Sicht daher einem Alexander dem Großen, der den gordischen Knoten durchschlagen hat; den Knoten der Verwicklung des Denkens in das tragische Geschehen am Grunde. Sokrates firmiert bei Nietzsche, in einer höchst fraglichen Deutung, als Logiker. Signifikante Bedeutung kommt dabei, auch in Nietzsches Nachlass299 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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notizen, der Legende zu, einmal habe zu Sokrates sein Daimonion nicht warnend, sondern gebietend gesprochen und ihm gesagt ›Treibe Musik!‹ Er habe auf der Flöte, dem Dionysos-Instrument gespielt und dieses eine Mal kleine apollinische Weisen hervorgebracht, dies berichtet schon die antike Sokrates-Legende. Philosoph und Künstler sind die beiden typischen Gestalten, die hinter die Haut des Bewusstseinszimmers zu blicken vermögen, dorthin, wo zu ahnen ist, wie der Mensch »auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen […] ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.« 33 Der Philosoph im Pathos der Wahrheit ruft: ›Weckt ihn auf‹, die Kunst hingegen ›Lasst ihn hängen!‹, denn die Kunst sei mächtiger als die Erkenntnis. Sie will das Leben. Und jene erreicht als letztes Ziel nur die Vernichtung. Damit ist die ganze Spannung benannt, die Nietzsche zwischen Philosophie und Kunst ertragen muss. 4.) Nietzsche wendet sich gegen ein Syndrom, das er gleichermaßen im ›l’art pour l’art‹ und in der kantischen Formel vom ›Wohlgefallen ohne alles Interesse‹ erkennt. Kunst ist niemals in ästhetischer Indifferenz angemessen zu verstehen. Sie sei orientiert auf die Wünschbarkeit von Leben und bestimmten Lebensformen. Mit Stendhal und gegen Nietzsches abgekürztes und daher letztlich verfehltes Zitat der kantischen Formel vom »Wohlgefallen ohne alles Interesse« hält Nietzsche fest, das Schöne sei immer ›une promesse de bonheur‹, ein Glücksversprechen. Dieses Glücksversprechen gilt dem gezeichneten, glücksbedürftigen Menschen. Rausch und Traum begreift Nietzsche als Epitheta der Naturund Kunst-Gewalten Dionysos und Apoll. Dionysos ist dem Rausch, der formhaft disziplinierte Apoll dem Traum zugeordnet. In seiner Spätzeit, als er den Dionysos als philosophierende Gottheit begriff, sollte Nietzsche den Rausch mit in den Traum einbeziehen und dem ›Dionysos philosophos‹ zugleich apollinische Züge geben. Rausch sei ›Sieg des Extremum‹, Erweckung des Gefühls der »Kraftsteigerung und Fülle.« Dies ist eng mit der künstlerischen Tätigkeit verbunden. Denn »ein ungeheures Heraustreiben der Hauptzüge ist vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber ver33

Nietzsche, KSA 1, S. 760.

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schwinden.« 34 In veränderter Nuancierung findet sich in der GötzenDämmerung die Aussage, ›das Verwandeln-müssen ins Vollkommene‹ sei Kunst: in ihr genieße sich »der Mensch als Vollkommenheit.« Der Mensch im Blickpunkt der Kunst (homo artista) eröffnet erst den Blick auf den Menschen in seiner, malgré tout, von der »Unschuld des Werdens« bestimmten Natur (homo natura). Kunst bedeutet damit eine atemberaubende Erweiterung der Gesichtspunkte gegenüber den Dogmata der Moral. Nietzsche zielt damit auf eine Ästhetik der Schaffenden, nicht der genießenden Zuschauer, die mit der Übung verbunden ist. Sie zielt auf das Umschaffen des eigenen Lebens. Dies ist gleichermaßen Selbstperformativität und Skulpturierung des eigenen Selbst. Für den späteren Nietzsche ist der nervus probandi dieser eigentlichen Lebenskunst die Annahme der ewigen Wiederkehr des Gleichen, so dass das Leben nicht mehr vom Geist der Rache vergiftet wird. Den »großen Schaffenden« hat er im ›Zarathustra‹ gegen Ende des vierten Teils ein besonderes Mitgefühl zuerkennen wollen, das nichts von der Verächtlichkeit erkennen lässt, mit der Nietzsche sonst das ›Mitleid‹ bedenkt: »Denn »wer gebären muss, der ist krank; wer aber geboren hat, ist unrein.« 35 Die Feier der schaffenden, schenkenden Tugend schlägt an dieser Stelle in subtiler Weise um: »Ja, viel bitteres Sterben muss in eurem Leben sein, ihr Schaffenden! Also seid ihr Fürsprecher und Rechtfertiger aller Vergänglichkeit.« Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin.« 36 Das spielende Kind, mit der Heraklit-Formel »pais paizon«, ist für Nietzsche der höchste Grad dieser erworbenen Lebenskunst. Der Gedanke, dass die Welt selbst nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt werden könne, verweist auf die kosmische Dimension des Gegenhaltes von Apollon und Dionysos: Nietzsche ist Ganz in diesem Sinn hat Nietzsche auch im Manuskript seiner ›Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹, KSA 1, S. 801 ff. vom ›Unwiderleglichen‹ in jeder Philosophie gesprochen. Es besteht in den Hauptzügen, die sich in wenigen Anekdoten kondensieren lassen sollten. Dies ist einerseits ein dezidiert künstlerischer Zugriff, er ist aber zugleich platonisch, weil auch der platonische Sokrates nach jenen stärksten Gedanken fragt, die vor allem zu prüfen seien. 35 KSA 4, S. 362. 36 KSA 4, S. 111. 34

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deshalb in seinem Nachlass wiederholt auf den Satz zurückgekommen, dass die Welt ein »sich selbst gebärendes Kunstwerk« sei. Die Unschuld des Werdens besteht gerade darin, dass erbaut – und eingerissen wird, in derselben außermoralischen Souveränität von Entstehen und Vergehen, ›Genesis‹ und ›Phthora‹. Wenn Nietzsche nicht zuerst auf die Ästhetik der Genießenden zielt, sondern auf eine Artistenmetaphysik, so bedeutet dies auch, dass er nicht beim Glanz des Schönen bleibt, sondern zeigt, wie es aus dem Schrecken hervorgeht. Nietzsches Blick gilt einer Schönheit, die mit dem Furchtbaren gepaart ist. Es ist deshalb ein artistisch ästhetischer Akt, ›über‹ den bisherigen Menschen hinauszugehen, ›über‹ die Dinge, in der Ausschöpfung des ›Mehr als‹, das im europäischen Menschsein angelegt ist. Nach Nietzsche ist es nur einmal bei den Griechen des tragischen Zeitalters exemplarisch realisiert worden, um durch die Flucht in die Hinterwelten des Christentums und des Platonismus verspielt zu werden. Die Ästhetik kann diese Auslotung der Abgründe nicht leisten. Sie ist selbst in der anthropomorphen Verengung befangen. Der Mensch hat, wie der Gott des Buches Genesis, die Welt für »sehr gut« befunden, indem er ihr sein Maß gab. Dass dies das letzte Wort sei, muss nach Nietzsche aber bezweifelt werden. Auf der naiven Aussage, dass nichts schön sei außer dem Menschen, beruhe aber alle tradierte Ästhetik. »Sie ist deren erste Wahrheit. Fügen wir sofort noch deren zweite hinzu: nichts ist hässlicher als der entartende Mensch – damit ist das Reich des ästhetischen Urteils umgrenzt.« 37 Die Welt könne – ausschließlich – als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt werden. Dies formuliert Nietzsche mit zunehmender Schärfe als Antidotum zur ›metaphysischen Wahrheit‹. Dahinter sieht er freilich die nackte Wahrheit des vergänglichen Lebens, wenn er im Nachlass formuliert: »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.« Die fixierende, feststellende ›Wahrheit‹ sei dagegen hässlich; denn sie petrifiziert den Fluss der Deutungshinsichten über die Welt, die ihr in immer neuen Annäherungen eingelegt und wieder entzogen werden. Jene unbedingte Bevorzugung der Kunst ist auch deshalb bemerkenswert, da sie in einer bewusst anti-platonischen Pointierung entworfen wird. Gegenüber einem Philosophen sei es »eine Nichtswürdigkeit zu sagen, 37

KSA 6, S. 123.

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›das Gute und das Schöne sind eins‹« – eine Nichtswürdigkeit immerhin, die genuin platonischer Herkunft ist. Doch man solle den Philosophen »prügeln«, wenn er gar noch hinzufüge, »auch das Wahre« gehe damit zusammen. Damit hat Nietzsche die spätmittelalterliche Transzendentalienlehre insgesamt verworfen – im Namen seiner ›Artistenmetaphysik‹. Die Unausschöpfbarkeit des Kunstwerks wird bei Nietzsche zum Modell der Unausschöpfbarkeit von Perspektiven und Hinsichten, eines Perspektivismus, in dem sich alle Fixierung auf ein Wesen der Dinge auflöst. Er spricht von ›unserem neuen Unendlichen‹, das aus Interpretationen und Gegeninterpretationen besteht und an dem sich zeigt, dass ›wir‹ die Wahrheit nicht haben, dass damit aber die Welt keinesfalls plan und linear geworden ist. »Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. Noch einmal fasst uns der große Schauder – aber wer hätte wohl Lust, dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen.« 38 5.) Nietzsche stellte in seinen Anfängen als junger Philologe differenzierte Studien zur griechischen Musik an, namentlich zum Korpus des Aristoteles-Schülers Aristoxenus. Dabei unterscheidet er das ›Ethos‹, das Maß des Tones, von der reinen Musikalität, dem Pathos des Klangs, als Charakteristikum dionysischer Kunst. Die Ethoslehre weist, wohl unterschwellig, gewisse Affinitäten zu Hölderlins Lehre vom ›Wechsel der Töne‹ auf. Wenn er über solche sublim komplexen Zusammenhänge nachdachte, ging es dem musikalischen Philologen darum, auch die kaum geformte Tonstruktur in die Ethos-Lehre einzufügen. Er unterscheidet in diesem Sinne das ›systaltische‹ (unruhig bewegte), das hesychastische (ruhig getragene) und schließlich das ganz in den Affekt sich verlierende, einer Gestaltung sich entziehende, diastaltische Ethos voneinander. Nicht minder wesentlich ist ihm die Distinktion zwischen enthusiastischer und hieratischer Kunstrichtung. 39 Erstere evoziert einen freieren Ausdruck, letztere erinnert an den kultischen KSA 3, S. 627. Dies hat M. Riedel sehr tiefgehend herausgearbietet. Vgl. vor allem: Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, a. a. O., S. 23 ff., S. 273 ff.

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Ursprung der Dichtung. »Der ›Dichter‹« war den Griechen zu Anfang die »uralte Verbildlichung eines Gottes […] Der Gott erscheint als der dichtende, sprechende Rhapsode: in der apollinischen Würde. Die unendlich gesteigerte Rhapsodie: das ist die alte Form des Musengottes.« 40 Nicht minder wesentlich für Nietzsches pointierende Begriffsbildung ist die Differenzierung zwischen klassischer und großer Kunst, vor allem Dichtung und Musik, die ein besonders sprechendes Beispiel seiner Erkenntnisgewinnung durch die »Leuchtkraft der starken Gegenbegriffe« ist. In seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung hatte er den Begriff einer monumentalischen Historie eingeführt (von lat. ›monere‹ : mahnen). Von ihr her müssen die Ansprüche der antiquarischen, sammelnden und ebenso der kritischen Art von Historie, die scharfe Schnitte durch die Tradition legt und das zu Bewahrende vom zu Vergessenden scheidet, verstanden und zugleich kanalisiert werden. Die monumentalische Historie setzt die beiden anderen Formen voraus. Als erinnernswert, eben im Wortsinne ›monumentalisch‹, bildet sich nach Nietzsche ein Gedächtnis heraus, in dem »die großen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei – das ist der Grundgedanke im Glauben der Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht.« 41 Das Monumentalische habe immer die Macht der Masse des Status quo gegen sich: »›Es soll nicht sein!‹ Alles andere ruft sein Nein!« Nietzsche sucht das Monumentalische nicht eo ipso im Klassischen. Hier klärt er seine antik-moderne Doppelsicht. Klassisch sind, gemäß dem klassizistischen französischen 17. Jahrhundert, Werke, die »in Hinsicht auf ihre Nachahmbarkeit und Vorbildlichkeit« ausgezeichnet sind. Und noch dringlicher: »Bei den klassischen Schriftstellern ist die Sprache und das Wort tot; das Tier in der Muschel lebt nicht mehr, und so reihen sie Muschel an Muschel. Aber bei Goethe lebt es noch.« 42 So wird KSA 7, S. 296. KSA 1, S. 259. 42 KSA 8, S. 321. In der Deutung dieser Fragmente folge ich Riedel, Freilichtgedanken, a. a. O., S. 30 ff. 40 41

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Goethe geradezu zum Paradigma des großen, nicht des klassischen Dichters: seine Sprache sei unnachahmlich, zugleich aber ist aus ihr immer wieder Sprachkraft zu schöpfen. Nietzsche wendet sich explizit gegen einen »leblosen Klassizismus«, ohne doch vom lebendig Klassischen zu lassen. Es gelte vielmehr, immer neu dessen Quelle freizulegen. Damit wird deutlich, dass wohl kein Philosoph in ähnlich eminenter Weise wie Nietzsche von der Kunst her auf die Welt zugriff. Kunst verweist aber in eine letzte Dimension des Welt-vergessens. Zuletzt, im Anhang zum Aphorismen-Buch ›Jenseits von Gut und Böse‹, evoziert Nietzsche die tiefste Differenz, die »man bei Kunstwerken zu unterscheiden habe.« Es ist der Unterschied, »ob er [sc. der Künstler] vom Auge des Zeugen aus zu seinem werdenden Kunstwerke hinblickt oder ob ›die Welt vergessen hat‹ : wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst ist, sie ruht auf dem Vergessen, sie ist die Musik des Vergessens.« 43 Damit ist auch gesagt, dass Musik im höchsten Grade Kunst des Welt-Vergessens ist und dass die lyrische Dichtung ihr darin am nächsten kommt. Man kann hier noch einmal eine Resonanz auf Schopenhauer heraushören. Denn Nietzsche betont, dass auch der erkennenwollende Trieb im Weltvergessen beruht. Es ist Versenkung und darin Lob. Darauf richtet sich der Gestus des Wartens in vielen Gedichten Nietzsches: »Hier saß ich – wartend, wartend doch auf nichts …«. Oder, wenn auch weniger bekannt, das Fragment: »Ich liege still, / ausgestreckt, / Halbtotem gleich, dem man die Füße wärmt / – die Käfer fürchten sich vor meinem Schweigen – ich warte.« Den höchsten Grad von Kunst-Meisterschaft erkannte Nietzsche in der poietischen Fähigkeit, ein Werk abzuschließen und die Fermate zu setzen. Nur dadurch werden die Korollarien, Verzierungen, Dekors als Teile eines Ganzen gerechtfertigt. Ein Werk, das sein Ende gefunden habe, werde gleichsam vergeistigt. Es findet damit seine Mitte; und, in Nietzsches bildhafter Wendung: es vermag in das Leben selbst einzuschneiden. Dass ein Werk »Versprechen von Glück« ist, ist selbst eine ästhetisch artistische Qualität. Nietzsche denkt in diesem Zusammenhang kontrastiv, wie es seine Art ist, über Werke nach, die nicht zu vollenden waren: wie der Petersdom. Der Unterschied der Werke erster zu Werken zweiter Stufe wird in der 43

KSA 3, S. 616.

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›Fröhlichen Wissenschaft‹ in der folgenden Weise charakterisiert; jene würden »immer gegen das Ende hin unruhig und fallen nicht in so stolzem, ruhigem Gleichmaße in’s Meer ab, wie zum Beispiel das Gebirge bei Porto fino [so hieß das Sils Maria-Gedicht zuerst! H. S.] – dort, wo die Bucht von Genua ihre Melodie zu Ende singt.« 44 Es waren wohl Gespräche mit dem großen Historiker Jacob Burckhardt in früheren Baseler Zeiten, auf die diese Unterscheidung zurückgeht. Manfred Riedel bemerkt zu der Kunst des Endens im Blick auf Nietzsches Kairos-Epigramm ›Sils Maria‹ : »Sie legt der Sprache ein Letztes an Musikalität ein und vereinigt es mit dem Letzten an Architektur, die das Gedicht selbst zum Stehen bringt. Seiner Vollendung beugt sich alle Auslegung, die immer nur vorläufig bleibt und sich zuletzt hinter die Lauterkeit des gedichteten Wortes zurücknimmt.« 45 Damit ist eine Frage berührt, die gerade bei Nietzsche nicht zu umgehen ist. Sie verweist auf die Grenze zwischen Philosophie und Kunst, Denken und Dichten. In diesem Zusammenhang wird immer wieder das gedichthafte Aperçu von Stefan George ins Feld geführt: »Und wenn die strenge und gequälte stimme / Dann wie ein loblied tönt in blaue nacht / Und helle flut – so klagt: sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele«. George ahnte wohl den neuralgischen Punkt, der für Nietzsche in der Zwischenstellung im Kraftfeld zwischen Denken und Dichten lag. Doch Nietzsche gab die jeweils andere Seite eben nicht preis. Er hielt vielmehr die Spannung aus. Der nur schönen Mitteilung, dem Dekorum, dem Licht und Farbenflirren der Metaphern hat Nietzsche selbst misstraut. Der schwerste Gedanke ewiger Wiederkehr ist einsam. Er entzieht sich der Darstellbarkeit, in ähnlicher Weise wie Hegels Konzeption des Absoluten. Zarathustra singt die Dionysos-Dithyramben am Ende nur sich selbst zu, »dass er seine letzte Einsamkeit ertrüge«. Die Beschwörungs-Formel: »Nur Narr! Nur Dichter!« ist aus dem Motiv der Einsamkeit geboren, das den gesamten Zarathustra-Komplex durchzieht. Man könnte vielfache Belege nicht nur für Nietzsches Misstrauen gegenüber eigener Wort-Virtuosität, sondern auch für seine 44 45

Ibid., S. 525. So M. Riedel, Freilichtgedanken, a. a. O., S. 334.

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Erneuerungen der platonischen gigantomacheia zwischen Dichtung und Philosophie finden, mit der Aussage im Zentrum, dass Dichter sich immer zu trösten wissen und deshalb lügen. 46 Dieser immer etwas lügenhafte Trost soll, so zumindest der eigene Anspruch, den Vorspielen einer Philosophie für übermorgen versagt sein. Nietzsche mag aber gemäß dem höchsten Anspruch der Kunst, zum Ende zu kommen, bemerkt haben, dass sie ihm in der virtuosen Komposition seiner Aphorismen-Bücher eher glückte, dass dort der Geist eher ins Leben schneiden konnte als in der Dichtung: in einer Kunst des Schreibens, die schwere und leichtere Gedanken unterscheidet, die Tempi ineinander legt und miteinander in Austausch und Konfrontation bringt, als in den eigenen künstlerischen Versuchen. Nur wenige von Nietzsches dichterischen Texten könnten vermutlich seinem Anspruch genügen. Aber gerade indem sich Nietzsche im Spannungsverhältnis von Erkenntnis und Kunst bewegt, hält sich sein, in das älteste Alte der Antike und in die Phänomenerfahrung des Lebens ausgreifendes Denken im kalten Horizont der Moderne. Im sprachlichen und musikalischen Ausdruck hätte er ihren Forminventionen nichts hinzuzufügen. Dies hat meisterlich der Literaturwissenschaftler Peter Pütz ausgesprochen: »Indem Nietzsche die Bewusstheit der Moderne nicht verleugnet, sondern aufnimmt in die widersprüchlichen Duplizitäten von Totalität und Perspektive, Dionysisch und Apollinisch, Gesundheit und Krankheit, Kunst und Erkenntnis, vermeidet er einerseits den Verrat an der Erkenntnis, vereitelt aber andererseits die heilbringende Wiederauferstehung des Mythos, und sei es auch nur im Bilde der Kunst. Indem er entgegen seiner Selbstkritik weiterhin ›redet‹ und nicht ›singt‹ oder wir könnten auch sagen: nicht tanzt, stellt er sich den unumgänglichen Anforderungen moderner Intellektualität, ohne die Sehnsucht nach mythischer Totalität aufzugeben. Es ist ihm nicht vergönnt, ins gelobte Land zu ziehen, nicht einmal – wie Moses – es von ferne zu schauen. Er darf nur von ihm träumen, und das noch in Begriffen, gemäß dem Worte des Anaxagoras: ›Im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung‹.« 47

Nietzsche, KSA 5, S. 52 f. Vgl. auch B. Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik. Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹ und die Würde der klassischen Musik. Würzburg 1987; ferner: E. Behler, Die Auffassung des Dionysischen durch die Brüder Schlegel und Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 335 ff. 47 KSA 1, S. 87. Dazu P. Pütz, Das Spannungsverhältnis von Natur und Erkenntnis 46

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10 · Horizonte der Moderne

Man stößt, wenn man die Linien von Nietzsche auf die nach ihm kommenden modernen Kunstperioden hin öffnet, auf die Grundspannung zwischen Kunst, ohne die Leben ein Irrtum wäre, auf die Grunderfahrung der Negation und des Kraftlos- und Müdewerdens. Nietzsches Diagnose des europäischen Nihilismus wurde vielfach variiert zu einer Signatur in der weiteren Genese der Ästhetik der Moderne. Negativität, Schmerz, sogar Schmutz gehen in die Werke ein. Indem sie das Negativum zeigt und aushält, kann Kunst zugleich zu seinem Gegenbild werden. Dies aber geschieht nur, wenn sie das Gegenbild aufscheinen lässt und die Erinnerung an das erscheinende Schöne als Urbild zur Darstellung bringt. Das bloße Vorzeigen des »Drecks« der Moderne wäre nur deren Duplizierung. Dass jener Nihilismus im Aufbäumen der großen Ideologien, in der Korrumpierung und Vernutzung der Bilder in einer ungeahnten Weise um sich griff, gab zugleich Nietzsches Kunst- und Artistenmetaphysik neue Aktualität und Inspirationskraft. Es ist, so sollte Gottfried Benn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs festhalten, einzig die Form, die das »Gegenglück des Geistes« bewahrt, nachdem sonst alles desillusioniert ist. Kälte, Skepsis, Verhaltenslehren zwischen den großen Schlachten: 48 Dies bleibt aus der Konkursmasse des 20. Jahrhunderts und es ist am überzeugendsten in der eminenten Kunst sedimentiert. Deshalb wurde möglich, was Hegel in nachchristlichen Zeiten für gänzlich obsolet erklärt hatte: dass Kunst gleichsam als einziges – und letztes – Residuum von Religion zurückblieb. Ernüchtert, abgekühlt auch sie, doch Aufenthalt des ›Unverlorenen‹. Es bedurfte der Formen- und Bildersprache der ästhetischen Moderne, um darauf zurückkommen zu können.

bei Nietzsche, in: H. Seubert (Hg.), Natur und Kunst in Nietzsches Denken. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 23 ff., vgl. auch die anderen Beiträge dieses Bandes. 48 Vgl. H. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/Main 1994; sprechend in dieser selben Linie ist auch der Titel der Autobiographie von Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Köln 1994.

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ELFTES KAPITEL:

Das gebrochene und das nicht zu brechende Glücksversprechen – Adorno und die ästhetische Negativität

1.) Theodor W. Adornos ›Ästhetische Theorie‹ ist ein Werk der Spätzeit in mehrfacher Hinsicht. Es setzt die ästhetische Erfahrung der klassischen Moderne voraus 1 und weiß zudem um die Brüche des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt ist es Adornos letztes großes Buch, mit dem er sich nach eigenem, mehrfach wiederholtem Urteil dem Zentrum dessen näherte, was er selbst in die Waagschale zu werfen hatte. Das im Grundzug abgeschlossene, aber nicht mehr überarbeitete chef d’œuvre atmet den Anachronismus des letzten Bürgers und die Selbstentfremdung der Kritischen Theorie gegenüber dem Praktisch-, ja Aggressivwerden, das ihr abgepresst werden sollte. Das – von Nietzsche – schon ausgemünzte Stendhal-Wort von der Kunst als ›une promesse de bonheur‹ wird von Adorno in eine nochmalige Brechung überführt. Kunst hat anamnetische Kraft, Mnemosyne ist ihre Muse. Damit erinnert er geschichtsphilosophisch an Hölderlin. Sie kann aber das Gedächtnis an das Verlorene nicht ungebrochen aufrechterhalten. Es ist ähnlich wie mit den Kindheitserinnerungen, die für Adorno Züge des Paradieses trugen. 2 Man denke an seinen H. von Hofmannsthal, Ein Brief (1902), in: ders., Gesammelte Werke. Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Frankfurt/Main 1979, S. 461 ff. Die musikästhetischen Implikationen dieses Kapitels konnte ich im einzelnen mit Franziska Thron durchsprechen. Ihre – zu Recht – kritische und sehr differenzierte Sicht auf Adornos musikphilosophische Implikationen hat mich, wie stets das Gespräch mit ihr, sehr bereichert. Für alle Verkürzungen trage selbstverständlich ich selbst die Verantwortung. 2 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie. Hg. von G. Adorno und R. Tiedemann. Frankfurt/Main 1973, S. 31 ff., siehe zur Ausprägung der Moderne bei Hofmannsthal: Chr. König, Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001. Ich habe mich mit diesen Fragen detailliert auseinandergesetzt in: H. Seubert, ›Hellenische Wunder‹ – Antike, Christliche Welt und Moderne bei Stefan George und in seinem Kreis, in: Dichtung-Ethos-Staat. Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland, hg. von B. Pieger und B. Schefold. Berlin 2010, S. 307 ff. 1

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11 · Das gebrochene und das nicht zu brechende Glücksversprechen

Traum- und Magieort Amorbach und an die Aussage, dass die Kindheit selbst schon das Glück sei, dessen Versprechen sie birgt. Das Gedächtnis eines vor-reflexiven Identischseins stellt sich nur in Brechungen und Nicht-Identitäten dar. Dadurch entzieht sich gerade die Kunst dem von Adorno gleichermaßen gesellschaftlich historisch und metaphysische aufgefassten identitären Zwang. In seiner ›Philosophie der neuen Musik‹ (Erstausgabe 1949), deren Manuskript Thomas Mann zur Vorbereitung auf seinen ›Doktor Faustus‹ studierte, expliziert Adorno als charakteristisches Signum der Musik der Moderne die Dissonanz. In diesem Sinn beriet er auch Thomas Mann als dessen ›Geheimer Rat‹ bei der Abfassung des Faustus-Romans. Musik »gewährt, auch in ihren optischen Äquivalenten, dem lockenden Sinnlichen Einlass, indem sie es in seine Antithese, den Schmerz transfiguriert.« 3 Mit dem Transfigurations-Gedanken ist unübersehbar auf Nietzsche und dessen Deutung des Raffael-Gemäldes ›Transfiguration‹ gezielt. »Die unabsehbare Tragweite alles Dissonanten für die neue Kunst seit Baudelaire und dem ›Tristan‹, wahrhaft eine Art Invariante der Moderne – rührt daher, dass darin das immanente Kräftespiel des Kunstwerks mit der parallel zu seiner Autonomie an Macht über das Subjekt ansteigenden auswendigen Realität konvergiert.« 4 Dies wird in der ›Ästhetischen Theorie‹ wiederkehren als »Methexis am Finsteren«, als Bann der großen Katastrophen der Weltgeschichte. Adorno betont freilich, dass gesellschaftlich historische Negativität in den eminenten Werken der Moderne in die formale Struktur (die Faktur) aufgenommen wird, in ihr zum Material werden kann (etwa in Formen wie Collage, Bricolage und Montage). Dies reicht bis in die Kühnheit von Thomas Manns Faustus-Entwurf, dass ein Komponist der Zwölfton-Schule in der Art Schönbergs mit der rebarbarisierenden Dissonanz der NS-Zeit zusammengesehen wird. Leverkühn und Deutschland werden beide buchstäblich ›vom Teufel geholt‹. 5 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 29. Ibid. 5 Thomas Mann hat allerdings in einer Selbstironisierung bemerkt, dass er vielleicht dem Sujet des vom Teufel geholten NS-Deutschland doch im ›Faustus‹ eine etwas zu große Höhe gegeben habe. Vgl. zur philosophischen Deutung dieser Konstellation: G. Rohrmoser, Dekadenz und Apokalypse. Thomas Mann als Diagnostiker der Moderne. Stuttgart 2005; zu einer sehr gründlichen philologischen Interpretation hingegen H. R. Vaget, Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt/Main 2006. 3 4

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Dabei ist es offensichtlich, dass Adornos ›Ästhetische Theorie‹ im Konnex einer marxistischen und zugleich messianischen Diskussion während der zwanziger Jahre ihre Konturen gewann. Seinerzeit argumentierten Walter Benjamin, aber auch Ernst Bloch maßgeblich gegen die Widerspiegelungstheorien des orthodoxen Marxismus, der von Georg Lukács positioniert wurde. Es ist daher keineswegs zufällig, dass sich Lukács der ästhetischen Moderne im letzten verweigerte und im bürgerlichen Realismus die letzte angemessene Kunstform des spätkapitalistischen Zeitalters sah. Adorno war, wie späte Zeugnisse belegen, von Blochs ›Geist der Utopie‹, den Beschwörungen der Musik als utopischer Spur, dem Vorschein der Kunst seit seiner Jugend fasziniert. Der gerade Siebzehnjährige erkannte intuitiv die Affinität blochscher Philosophie zur zeitgenössischen Kunst von Expressionismus und Surrealismus. 6 Die Art, in der im Kunstwerk aus der ›Methexis am Finsteren‹ ein ›richtiges Leben‹, das atmen lässt, Gestalt gewinnt, begegnet allerdings schon beim frühen Adorno in gebrochener Gestalt. Die Nähe zu Walter Benjamin ist deshalb größer und nachhaltiger als die zu Bloch. Dies gilt insbesondere für die latente Geschichtsphilosophie in Benjamins Trauerspiel-Buch. In ihrem Zentrum stehe, so Adorno, »nicht umsonst die Konstruktion der Trauer als der letzten umschlagenden Allegorie, der von Erlösung […].« Ihn fasziniert, wie Benjamin im Fokus auf die Kunst »den Untergang des Subjekts und die Rettung des Menschen« zusammendenkt. Und nicht weniger wird der von Benjamin entwickelte Mimesis-Begriff auch für Adorno zentral. Es ist noch einmal, aber nun unter negativen Vorzeichen, eine Mimesis am Absoluten in dem Sinne, in dem Kunst im Sinne Benjamins das Namenlose in die Namen übersetzt. Sie macht einen Urtext lesbar, der nie geschrieben wurde. Benjamins Erwägungen über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schreiben sich tief in Adornos ästhetische Theoriebildung ein, allerdings ohne jene politische Ambivalenz, die bei Benjamin dadurch entsteht, dass er Interesse an der Massenagitation hat und sich daher Gewinn und Verlust der neuen Kunstmedien gegenseitig aufwiegen. Man denke an die zeitweise Faszination Benjamins gegenüber der Agitation der sowjetischen Oktoberrevolution, die Nähe zu Asja Lacis und BenVgl. dazu E. Simons, Das expressive Denken Ernst Blochs. Kategorien und Logik künstlerischer Produktion und Imagination. Freiburg/Br. und München 1983.

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jamins radikalen Trotzkismus. Diese Extreme blieben Adorno fremd. Die Differenzen spiegeln sich in den inneren Verwerfungen und Marxismus-Debatten in der Frankfurter Schule bis in die Emigration hinein, wobei auf Horkheimer und Adorno keinesfalls nur ein günstiges Licht fällt. Adorno flirtet an keiner Stelle mit konkreten Utopien. Vielmehr hält er nachdrücklich fest, dass das Kunstwerk sich eben jener Vereinnahmung und Verdinglichung durch die Kulturindustrie versage. Gerade in seiner Negation der Konsumierbarkeit liegt sein Protest und sein metaphysisches Anders-sein. Die Kulturindustrie habe, so die Diagnose, ästhetische Momente von ihrer befreienden Kraft entfremdet und unter die Distributionsgesetze des Marktes summiert. Die Klarsichtigkeit der adornoschen Analysen, die zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert alt sind, ist ebenso erstaunlich wie, dass bei einem medialen und technischen Entwicklungstempo, das Adorno in keiner Weise voraussehen konnte, seine Diagnosen zu einem Gutteil noch auf die Kulturkonstellationen des 21. Jahrhunderts passen. »Wesentlich an der Kunst ist, was an ihr nicht der Fall ist, inkommensurabel dem empiristischen Maß aller Dinge. Jenes nicht der Fall Seiende an der Kunst zu denken, ist die Nötigung zur Ästhetik.« 7 Insofern versagen sich die, wie Adorno betont, ›zählenden Kunstwerke‹ jederzeit einer linearen Kommunizierbarkeit und Konsumierbarkeit. Sie haben ihre »Größe einzig daran, dass sie sprechen lassen, was die Ideologie verbirgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen sie es wollen oder nicht, übers falsche Bewusstsein hinaus.« 8 Dies ist eindeutig gegen Gebrauchswert-Erwartungen marxistischer Ästhetik formuliert, wie sie selbst ein Brecht in seinen Versen gegen Thomas Manns ›Zauberberg‹ ins Feld führt: »Der Dichter gibt uns seinen Zauberberg zu lesen. / Was er – für Geld – hier spricht, ist gut gesprochen. Was er – umsonst – verschweigt, die Wahrheit wär’s gewesen. Ich sage euch, der Mann ist blind und nicht bestochen.« Von orthodox marxistischer Überbau-Unterbau-Theorie trennt sich Adorno von Anfang an. Er beschreibt, erstmals im Jahr 1930, Kunstwerke als fensterlose Monaden, die in sich streng abgeschlossen sind, aber unterschwellig aufeinander transparent werden. Ein Hermetismus ist dem zählenden, großen Kunstwerk ei7 8

Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 499. Ibid., S. 77.

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gen, der es von aller unmittelbaren Erreichbarkeit durch äußere Realität abschneidet. Der Bezug zur Realität ist dialektisch nach wie vor gegeben. Dies hat Adorno in die Bemerkung verdichtet, dass »nichts in der Kunst, auch nicht in der sublimiertesten« sei, »was nicht aus der Welt stammte […]; nichts daraus [aber ist] unverwandelt. Alle ästhetischen Kategorien sind ebenso in ihrer Beziehung auf die Welt wie in der Lossage von ihr zu bestimmen.« 9 Damit aber verweist er auf jene beschwörende und benennende Macht der Kunst, die seit der vormodernen Diaphanie des Göttlichen in der Gestalt angelegt ist. Mit Vehemenz hat Adorno (in den sechziger Jahren unter anderem in Debatten mit Rolf Hochhuth, Sartre und dem empirischen Soziologen Alphons Silbermann) sich gegen eine kommunikationstheoretische Auffassung von Kunstwerken gewendet. 10 Damit ist bei ihm immer die scharf geschliffene Kritik an ›gesellschaftlicher Praxis‹ im Namen der Authentizität des Kunstwerks verbunden. »Praxis tendiert ihrer schieren Form nach zu dem hin, was abzuschaffen ihre Konsequenz wäre; Gewalt ist ihr immanent und erhält sich in ihren Sublimierungen, während Kunstwerke, noch die aggressivsten, für Gewaltlosigkeit stehen.« 11 Gerade in der Form, der eisigen Luft von Kalkulatorik, Faktur und Strukturen, ist neue Kunst ›gesellschaftliches‹ Antidotum zum Status quo. Jede der beiden Alternativen, eine ›engagierte Kunst‹ und ein ›l’art pour l’art‹, so hat Adorno bemerkt, negiere »mit der anderen auch sich selbst: engagierte Kunst, weil sie, als Kunst notwendig von der Realität abgesetzt, die Differenz von dieser durchstreicht; die des l’art pour l’art, weil sie durch ihre Verabsolutierung auch jene unauslöschliche Beziehung auf die Realität leugnet, die in der Verselbständigung von Kunst gegen das Reale als ihr polemisches Apriori enthalten ist. Zwischen den beiden Polen zergeht die Spannung, an der Kunst bis zum jüngsten Zeitalter ihr Leben hatte.« 12 Damit wird ein weiteres zentrales Problem berührt: der konstiIbid., S. 209. Vgl. dazu u. a.: Offener Brief an Rolf Hochhuth, in: Adorno, Aufsätze zur Literatur. Frankfurt/Main 1981, S. 591 ff. 11 Ibid., S. 358 f. 12 Th. W. Adorno, Engagement, in: ders., Noten zur Literatur Band III. Frankfurt/ Main 1969. S. 410. 9

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tutiv enigmatische Charakter jener eminenten Kunst. »Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von alters her die Theorie der Kunst irritiert. Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.« 13 Kunstwerke, die für die Betrachtung und den Gedanken ohne Rest aufgehen, seien keine, hat Adorno auch zuspitzend bemerkt. Man mag an die augustinische Formel im Spannungsfeld von ›fides‹ und ›ratio‹ denken: »Wenn du es erfassen kannst, so ist es nicht Gott.« Eine solche Rätselhaftigkeit (Enigmatik) führt bei Adorno nicht, wie beispielsweise bei Gadamer, auf den Gedanken einer unendlichen Realisierbarkeit der Partitur, auch nicht wie bei Nietzsche auf das Sinnbild des Verstehens nach der Art des Steins, der ins Wasser geworfen wird und dort immer weitere Kreise zieht. Adorno will das Wort vom Rätsel weder im Sinne einer Allerweltsphrase verstanden wissen noch will er es als hermeneutische Auslegungsregel entschärfen. Kunstwerke bergen in Adornos Verständnis Rätsel und Lösung gleichermaßen in sich, verborgen in der Komplexität der Form. Deshalb können Kunstwerke Illusionierungen inszenieren und zugleich mit der Desillusionierung spielen. Darin liegt ihr Vexierbildcharakter, den Adorno sehr deutlich betont. »Jedes Kunstwerk ist ein Vexierbild, nur derart, dass es beim Vexieren bleibt, bei der prästabilierten Niederlage ihres Betrachters.« 14 Und noch schärfer: Das Vexierbild wiederhole im Scherz, was Kunstwerke »im Ernst verüben«. Solcher Rätselcharakter, gleichsam der Bann über der entzogenen Ursprache zeigt, dass »noch das glücklich interpretierte Werk […] weiterhin verstanden werden« möchte, »als wartete es auf das lösende Wort, vor dem seine konstitutive Verdunkelung zerginge.« 15 Die Enigmatik kann gerade auch an der Oberfläche liegen, in der kristallklaren Durchsichtigkeit der Form. Der Musiker, der die Bewegungskurve der Partitur bis in die sublimsten, minimalsten Verzweigungen interpretiert, weiß in gewissem Sinne doch nicht, was er spielt. 16 Ibid., S. 182. Ibid., S. 184. 15 Ibid., S. 185. 16 Hier zeigt sich deutlich, dass manche der Bestimmungen Adornos auf eine negative Theologie zielen und daher in den Transzendenzraum der Metaphysik gehören. Vgl. dazu W. Beierwaltes, Adornos Nicht-Identisches, in: ders., Identität und Differenz. Frankfurt/Main 1980, S. 269 ff. 13 14

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Es ist der sublime Geistcharakter des Kunstwerks, der sich derart entzieht. Anders kann es die »unreduzierte Erfahrung« gar nicht geben, die für Adorno Ziel der Erkenntnis ist: weder epistemisch noch als dezidiert phänomenologische Programmatik. Von Heideggers Bestimmung, wonach das Kunstwerk das ›Ins Werk setzen‹ der Wahrheit sei, ist Adorno namentlich in einer weiteren zentralen Kategorie, die das Kunstwerk als ›apparition kat’exochen‹ begreift, nicht weit entfernt. Das Kunstwerk sei »empirisch Erscheinendes, befreit von der Last der Empirie als einer der Dauer, Himmelszeichen und hergestellt in eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen lässt. […] Nicht durch höhere Vollkommenheit scheiden sich die Kunstwerke vom fehlbaren Seienden, sondern gleich dem Feuerwerk dadurch, dass sie aufstrahlend zur ausdrückenden Erscheinung sich aktualisieren. Sie sind nicht allein das Andere der Empirie, alles in ihnen wird ein Anderes.« 17 Es ist unverkennbar, dass Adorno damit negativ- theologische Motive aufnimmt. Der verborgene Gott blitzt jeweils in der ›apparition‹ auf. Methexis an der Wahrheit und an Erlösung tritt im Sinn Adornos nirgends emphatischer zutage als am Kunstwerk. Insofern zieht seine Einsicht, dass in der Kunst der Moderne nichts mehr selbstverständlich sei, keineswegs eine Wiederholung des Hegelschen Topos vom Ende der Kunst nach sich. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil die Emphase des Begriffs im Zusammenhang negativer Dialektik zurückgenommen werden muss. Das von Hegel beanspruchte Ganze ist gerade nicht das Wahre. Wenn man nicht bis zu jenen theologischen Implikationen mitgehen möchte, so wird man doch Adornos Diktum Bedeutung beilegen müssen, dass ein Werk immer als »Komplexion von Wahrheit« 18 zu begreifen ist. Adorno hat dabei ein geschichtsphilosophisch methodisches Prinzip festgehalten. Es bestehe darin, »dass von den jüngsten Phänomenen her Licht fallen soll auf alle Kunst anstatt umgekehrt, nach dem Usus von Historismus und Philologie, die bürgerlichen Geistes zuinnerst nicht möchten, dass etwas sich ändere. Ist Valérys These wahr, das Beste im Neuen entspreche einem alten Bedürfnis, so sind die authentischen Werke Kritiken der vergangenen, Ästhetik wird 17 18

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 125 f. Ibid., S. 391.

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normativ, indem sie solche Kritik artikuliert. Das aber hat rückwirkende Kraft.« 19 Damit ist das Prinzip zur Zeit Baudelaires: ›Il faut être absolument moderne!‹ in eine universale Verstehensmaxime überführt, die gerade nicht Zeit tilgt, sondern die anti-chronologisch, aus der Nicht-Identität heraus, vergangene Kunst in den Blick nimmt, so als wäre sie ›heutig‹. 2.) Ähnlich wie bei Nietzsche stellt sich auch bei Adorno essentiell die Frage nach dem Zusammenhang von Philosophie und Kunst. Adorno denkt, im Zusammenhang der Explikationen Negativer Dialektik, dass die Reflexion in einer zweiten Reflexivität sich dem ihr gegenüber Anderen, ›unreduzierter Erfahrung‹, öffne. Damit erschließt sich ein Wirklichkeitsraum, der nicht epistemisch präpariert ist. Die Negative Dialektik gelangt mithin, in einem entfernten Anklang an mystisch spekulative Traditionen, zu einer gedoppelten Verneinung, einer ›negatio negationis‹, die aber eben nicht auf Affirmation, sondern auf die Zartheit der Phänomene führt. Darin öffnet sich die ›Negative Dialektik‹ auf einen phänomenologischen Grundimpuls, das Sehen- und Hören-lassen einer Unmittelbarkeit, deren Entzogensein Adorno gleichwohl festhält. Zentral ist hier die Formulierung der ›Negative[n] Dialektik‹ : »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.« 20 In der ›Negative[n] Dialektik‹ stellte Adorno weitere vorgreifende, grundsätzliche Bemerkungen zur Konstruktion einer Philosophie der Kunst und zu deren Tektonik an: »Nicht anders vermag der Begriff die Sache dessen zu vertreten, was er verdrängte, der Mimesis, als indem er in seine eigenen Verhaltensweisen etwas von dieser sich zueignet, ohne an sie sich zu verlieren. Insofern ist das ästhetische Moment, obgleich aus ganz anderem Grund als bei Schelling, der Philosophie nicht akzidentell. Nicht minder jedoch ist es an ihr, es aufzuheben in der Verbindlichkeit

Ästhetische Theorie, S. 533. Die Crux ist also, dass sich von der neuesten Kunst her die Kunstgeschichte neu aufschlüsselt: Im Zeichen des Surrealismus und mancher Züge des Expressionismus wurde ein Maler wie El Greco neu entdeckt – ja, er wurde in diesem Kontext überhaupt erst verständlich. Diesen Hinweis verdanke ich Bazon Brock. 20 Adorno, Negative Dialektik. Frankfurt/Main 1966, S. 19. 19

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ihrer Einsichten in Wirkliches.« 21 In Form und Verfahren jedenfalls haben Kunst und Philosophie Adorno zufolge nichts miteinander gemein. Das Tertium comparationis kann man allenfalls in der Frage der – versagten – Erlösung und damit in einem theomorphen Aspekt auffinden. Denn Gemeinsamkeit weisen sie gerade »in einer Verhaltensweise [auf], welche Pseudomorphose verbietet. Beide halten ihrem eigenen Gehalt die Treue durch ihren Gegensatz hindurch; Kunst, indem sie sich spröde macht gegen ihre Bedeutungen; Philosophie, indem sie an kein Ummittelbares sich klammert.« 22 Zwischen Begriff und Kunstwerk, seiner scheinbaren Unmittelbarkeit zum Phänomen, die aber in hohem Maße artifiziell ist, bleibt eine scharfe Trennungslinie. Der Begriff muss die ›unendliche Sehnsucht‹, die sich im Kunstwerk ausspricht, negieren. »Solche Negation kann Philosophie weder umgehen noch ihr sich beugen. An ihr ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.« 23 Kunst ist daher auch keineswegs einfach mit ›Ausdruck‹ gleichzusetzen. Was sich ausdrückt, kommt überhaupt erst in der ästhetischen Darstellung zur Erscheinung (apparition). Es muss in das Artefakt gefügt werden, in einer Weise der Vergegenständlichung, die ins Un- und Übergegenständliche zielt. Umgekehrt bedarf aber die Objektivation des Ausdrucks »des Subjekts, das sie herstellt und seine eigenen mimetischen Regungen, bürgerlich gesprochen, verwertet«. Dies bedeutet: aus Kunst spricht, durch Subjektivität vermittelt, ein verwandeltes, zu seiner Phänomenalität befreites Objektives, und damit ein intersubjektiv Verbindendes, All-menschliches in Trauer, Energie oder Sehnsucht, wobei sich Adorno gegenüber solchen existentiellen Umschreibungen reserviert zeigt. »Ausdruck ist das klagende Gesicht der Werke. Sie zeigen es dem, der ihren Blick erwidert.« ›Ausdruck‹ hat Adorno wenig später 24 als den Blick der Kunstwerke verstanden. Man wird hier an das zu Recht immer wieder beschworene Rilke-Gedicht ›Archaischer Torso Apolls‹ denken: »Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht / Du musst dein Leben ändern!« Der Blick des Kunstwerks halte dem Subjekt seine 21 22 23 24

Negative Dialektik, S. 24. Ibid., S. 26 f. IBid., S. 25. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 171.

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eigene Ursprünglichkeit und Urgenese vor Augen. Nicht das geklärte Selbstbewusstsein, sondern eine Urgeschichte der Subjektivität von Leben und Beseelung zeige sich da, die nicht unprekär von Adorno mit »den Augen von Tieren« verglichen wird, die darüber zu trauern scheinen, dass sie keine Menschen sind. Er dürfte hier vor allem an die Primaten gedacht haben, die er im Frankfurter Zoo immer wieder mit Hingabe beobachtet haben soll. Damit nähert sich Adorno von der Seite der Gebürtlichkeit der Subjektivität jener tiefen Melancholie über den Kunstwerken an, die seit Hegel und Schelling zu einem Topos geworden ist. Beide meinten darin die Vorahnung der Sterblichkeit jenes Vollkommenen zu erkennen. 3.) Die Sprachlichkeit von nicht-sprachlicher Kunst, vor allem Musik, hat Adorno seit frühesten Jahren als junger Komponist, Kompositionsschüler bei Alban Berg in Wien, als Ähnlichkeitsverhältnis expliziert. »Musik ist sprachähnlich. Ausdrücke wie musikalisches Idiom, musikalischer Tonfall, sind keine Metaphern. Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage. Wer Musik wörtlich als Sprache nimmt, den führt sie irre.« 25 In ihr vollzieht sich eine Emanation von Wahrheit, die nicht propositional bestimmbar ist. Musik hat daher einen negativ-theologischen Aspekt: »Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen.« 26 Solche negativ-theologische Deutung unter säkularen Vorzeichen, ein Messianismus unter dem Vorzeichen des Paradoxons, nicht an die Erlösung zu glauben, in ihr aber die einzige Rettung zu sehen, steht keineswegs damit in Widerspruch, dass Adorno Kunst als eine Form höherer Aufklärung und Luzidität begreift. Hier eröffnet sich vielmehr die einzige authentische Form von Aufklärung, die nicht in den Bann der ›Dialektik der Aufklärung‹ zurückfallen muss. Kunst

Adorno, Fragment über Musik und Sprache, in: ders., Gesammelte Schriften, I, S. 71 f. 26 Ibid., S. 73. 25

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kann vor dem Rückfall in Naturbann und vermittlungslose Archaik bewahren. Experimenten kommt in der Kunst der Avantgarde Bedeutung bei der Gewinnung der ›unreduzierten Erfahrung‹ zu. Dem bloßen Spiel mit Virtuosität in artistischer Selbstverständlichkeit hat Adorno deutlich widersprochen. Er akzentuiert das »Schmerzhafte[] am Experiment«, auf das Rancune antwortet, wie sie von programmatischen Kunstrichtungen vertreten werde. Adorno scheint, wie seine Vorträge bei den Kranichsteiner Tagen der Neuen Musik zeigen könnten, mit jener Rancune allenthalben zu rechnen. Wahr bleibt, dass für Adorno »die Male der Zerrüttung« »das Echtheitssigel der Moderne« sind, das, »wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert.« 27 Das Immergleiche ist die technische Simulation der ›ewigen Wiederkehr‹ in Zeiten technischer Reproduzierbarkeit. Die Explosion, den Zeitkontinuation durchbrechenden Augenblick in seiner Wirbelbewegung erkennt Adorno als Konstitutivum gelingender Modernität. Moderne Kunst ist zugleich Faktur, artistischer Akt und Deutung, Bezugnahme, Intertextualität. Sie darf sich nicht an den Forschrittszwang verlieren, der der wissenschaftlichen Evolution nachgebildet ist, und sie sollte sich nicht der Tendenz verschreiben, in itinerierenden Rhythmen Neues und Neuestes hervorzubringen, die durch das Diktum ›Alles schon dagewesen‹ zutiefst irritierbar ist. So reagiert der Markt, und so reagieren moderne Künstler, schon zu Adornos Zeit, die marktkonform zu sein wünschen. Adorno hält demgegenüber fest, dass nichts »der theoretischen Erkenntnis moderner Kunst so schädlich [sei] wie ihre Reduktion auf Ähnlichkeiten mit älterer.« 28 Dabei ist es offensichtlich, dass er, weniger verklausuliert als Heidegger und eher in der Sprache der neuzeitlichen Philosophie und in Kant-Rückgriffen das Naturschöne gegenüber seiner Desavouierung seit Hegel in Schutz nimmt. Die Metakritik an Hegels Kritik des Naturschönen wird bei Adorno zur Bloßlegung »der Fiber der Hegelschen Philosophie«. »Das Naturschöne kommt zu seinem Recht einzig im Bewußtsein seines Untergehens, also dadurch, dass sein Mangel als raison d’être des Kunstschönen sich installiert […] 27 28

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 41. Ibid., S. 36.

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Was jedoch Hegel dem Naturschönen als Mangel vorrechnet, das dem festen Begriff sich Entziehende, ist die Substanz des Schönen selbst.« 29 Auch wenn man das zugrundeliegende amorphe HegelVerständnis keinesfalls zu teilen vermag, weil es die Konkretisierungskraft Hegels verkennt, wird man sich der folgenden Detaileinsicht schwerlich entziehen können, dass nämlich bei Hegel »das Naturschöne [verlösche], ohne dass es im Kunstschönen wiedererkannt würde.« 30 Die Rettung des Naturschönen artikuliert damit auch einen Maßstab für das Kunstschöne. Kunst kann die hieroglyphisch verschlossene Naturschönheit zur Artikulation bringen. Das Verhältnis von Natur und Kunst hat Adorno mit dem Verhältnis von Philosophie und Kunst verwoben. »Wie in Musik blitzt, was schön ist, an der Natur auf, um sogleich zu verschwinden vor dem Versuch, es dingfest zu machen.« 31 Und weiter: »Ihr Gegenstand bestimmt sich als unbestimmbar, negativ. Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt. Die Paradoxien der Ästhetik [sc. darin übrigens ähnlich denjenigen der Moralphilosophie; H. S.] sind ihr vom Gegenstand diktiert«, worauf er ein Aperçu aus den ›Windstrichen‹ Paul Valérys zitiert: »Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist.« 32 Mit dem Naturschönen wendet Adorno sein Augenmerk auch der Kategorie des Erhabenen zu. »Nach dem Sturz formaler Schönheit« sei das Erhabene als einzige und letzte der »traditionellen ästhetischen Ideen« im Verlauf der Moderne übriggeblieben. 33 »Die Aszendenz des Erhabenen ist eins mit der Nötigung der Kunst, die tragenden Widersprüche nicht zu überspielen, sondern sie in sich auszukämpfen.« 34 Adorno übersetzt damit die Kategorie des Erhabenen von ihrer originären Verankerung in der Sphäre der Natur auf jene der Kunst. »Selbstbesinnung angesichts ihres [sc. der Natur] Erhabenen antizipiert etwas von der Versöhnung mit ihr [sc. der 29 30 31 32 33 34

Ibid., S. 118. Ibid., S. 119. Ibid., S. 113. P. Valéry, Windstriche. Frankfurt/Main 1959, S. 94. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 293 f. Ibid., S. 294.

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Natur]. Natur, nicht länger vom Geist unterdrückt, befreit sich von dem verruchten Zusammenhang von Naturwüchsigkeit und subjektiver Souveränität. Solche Emanzipation wäre die Rückkehr von Natur, und sie, Gegenbild bloßen Daseins, ist das Erhabene.« 35 Unverkennbar wird hier, in einer psychoanalytischen Lesart, mit dem Nebensinn des ›Erhabenen‹ als des ›Sublimen‹ gespielt. Die Kehrseite, man mag sagen: die Gefährdung, ist Adorno nicht entgangen. Wenn, wie er meint, »Erbe des Erhabenen […] die ungemilderte Negativität« ist, »nackt und scheinlos, wie einmal der Schein des Erhabenen es verhieß«, so hebelt dies doch nicht aus, dass das Erhabene ins Lächerliche und Komische umschlagen kann. Adorno zieht eine Konsequenz, die wohl auf Beckettsche ›Endspiele‹, oder – mit Ingeborg Bachmann – auf die »Komödien, die lachen machen, und die zum Weinen sind« verweist, wonach »Tragik und Komik […] in der neuen Kunst unter[gehen]« und sich »als untergehende in ihr« erhalten. 36 Ein Grundsatz von Adorno war es, dass das Kunstwerk auch den Horrorgedanken der eigenen Austauschbarkeit und der Serienfabrikation in sich absorbieren und in Form verwandeln kann. Es kann im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit gerade nicht in eine programmatische Authentizitätsgeste ausweichen. 4.) In solchen Erwägungen zeigt sich, dass Adornos Ästhetik nicht nur im negativ-dialektischen Entwurf, sondern gerade in der Rückbeziehung auf das mikrologische Verfahren bedeutend ist. Sie versetzt sich begrifflich und beschreibend ins Zentrum der Faktur der Kunstwerke und liest deren Enigmata. Adornos Augenmerk gilt der schon von Walter Benjamin beschworenen ideehaften Wahrheit des Einzelnen. Das mikrologische Detail wird wie in einem Rhizom auf verwandte Strukturmerkmale hin extrapoliert, so dass sich ganz im Sinn von Benjamins Ideen-Konstellationen 37 ein Verweisungsnetz ergibt, das aus den Einzelfulgurationen zusammenschießt. Ein anderes Problem bilden die zahlreiche Urteile und VorurteiIbid., S. 293. Ibid., S. 296. 37 Vgl. dazu v. a. W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. Erkenntniskritische Vorrede, in: Benjamin, Gesammelte Schriften I.1, S. 203 ff., wo diese nicht auf den Allgemeinbegriff, sondern die Ideenkonstellation als aufnehmendes Netz bezogen wird, in einem tiefdringenden, immanenten Platonismus. 35 36

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le Adornos – auch dies ein weites Feld. Er lehrte einen Kanon klassischer Moderne, in dem gleichermaßen Thomas Mann, Proust, Musil, die moderne Lyrik, namentlich der bewunderte Valéry, situiert sind. Im Blick auf die bildende Kunst, erst recht die Architektur, war Walter Benjamin der klarsichtigere Beobachter, und Adorno bleibt ihm tief verpflichtet. Seine Aperçus in den ›Minima Moralia‹ geben mehr phänomenologische Einsicht in die Zusammenhänge von Kunst und gelebtem Leben als die ›Ästhetische Theorie‹. Seine Exempla schöpft Adorno durchgehend aus einer mit Goethe und Hölderlin beginnenden Kunstepoche. Die Rückgriffe auf die Antike bleiben isoliert; das Mittelalter oder die Renaissance spielen keine Rolle. Adornos musikalische Kenntnis reichte im Spektrum seiner ästhetischen Sensibilität am tiefsten. Sie ist nicht wie bei Bloch einfach Metaphysik musikalischer Entgrenzung in den Spuren von Schopenhauer und Nietzsche. Die mikrologische Intensität der Versenkung in die Partitur entbindet das Spiel des Begriffs. Adorno ist als Komponist Philosoph und als Philosoph Komponist. Deshalb hat er nicht zufällig neben der ›Philosophie der neuen Musik‹ eine Reihe wichtiger musikalischer Abhandlungen, Analysen, Portraits geschrieben: insbesondere zum späten Beethoven, zu Wagner, seinem zeitweiligen Kompositionslehrer Alban Berg, dessen Lehrer Schönberg, der, weil er sich selbst in der Folge des Wohltönens der Romantiker sah, gegenüber Adornos Deutung sich eher unzugänglich verhielt. Adorno zeigt gerade im Feld der Musik am deutlichsten seine strikte Begrenzung auf einen Kanon. So schließt er aus dem Kanon mit Entschiedenheit den »deutschen ›guten‹ Musiker aus, der um nichts sich sorgt als um die gediegene Faktur seines Produkts.« 38 Dessen Prototyp sah er in Hindemith, der wie nie gewesen abgetan wird. Dies gilt erst recht für Komponisten, die aus Rhythmus und älterem Material eine der Zwölftonkunst und Atonalität widerstreitende Poietik entwickeln: Carl Orff, der aus der griechischen Tragödie und der lateinisch mittelalterlichen und bayrisch volkssprachlichen Überlieferung schafft, Werner Egk, Béla Bartók. Adornos ›Philosophie der neuen Musik‹ ist vordergründig gesehen, in der Entgegensetzung der Relation ›Schönberg und der Fortschritt‹ und Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik. Frankfurt/Main 1983 u. ö., S. 192 (Gesammelte Schriften Band 12).

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›Strawinsky und die Reaktion‹, angelegt. Die beabsichtigte Gegensätzlichkeit ist in der Sache nur bedingt tragfähig. Sie hat aber Schule gemacht. Strawinsky wird die Suche nach einer zu unvermittelten Authentizität, der Rückgriff in einen unbefragten Mythos unterstellt, der Regress in Archaik und zugleich ein Technizismus, der Subjektivität übergeht. Hinter der Polemik stehen unstrittig treffende Einzelbeobachtungen, bei denen Reiz und Gefährdung, ja Unbehagen oft nahe nebeneinander liegen. 39 Die Dikta ›ex cathedra‹ sind kaum je gerechtfertigt. Eine zweite Grenze wird dann bei hypermodernen, technisch virtuosen, aber ganz und gar nicht mehr die Signatur der Subjektivität erkennenlassenden Hervorbringungen, serieller Musik etwa, erreicht. Ihr gibt Adorno ebenso wenig Pardon wie dem als Teil der Kulturindustrie mit Acht und Bann belegten Jazz. Ähnliche Limitierungen lässt dann Adornos Verhältnis zur Literatur erkennen. Heimito von Doderer etwa wird verschwiegen, obwohl er für ihn offensichtlich eine wichtige Rolle spielte. Auch Gottfried Benn kommt nur marginal vor. Wo die hochkomplexe Vermittlung nicht gelingt, wo auch die Phraseologie des Partiturlesens in dichten Metaphern versagt, deutet sich ein unmotivierter Sprung in die andere Gattung, etwa ökonomische, politische oder moralische Urteile an. Solche Untiefen mögen sich ästhetisch spiegeln. Adorno thematisiert aber gerade dies nicht. Man hat vielmehr immer wieder den Eindruck, Kunst müsse sich den Dekreten des Professors Adorno fügen, wonach bestimmte Formen, ein zartes Sonett etwa, ein ungebrochenes Rühmen, hymnische Sprache, wie sie bei Rilke und George noch insinuiert werden, ›nicht mehr‹ statthaft seien. Die geschichtsphilosophische Zäsur beansprucht dann absolute Geltung. Adornos Adepten in den Feuilletons haben die Auffassung, alle zählende Kunst müsse möglichst negatorisch verfahren, verabsolutiert und damit selbst in eine schlechte Affirmation verwandelt. Doch nicht jeder Negiertheit ist dabei Gnade beschieden. Jürgen Habermas, der nicht im engeren Sinn Schüler war, konstatierte eine Statik seiner Vorlesungen, die ihn diese nach einiger Zeit habe meiden lassen. Dies ist die Kehrseite einer Versenkung in das mikroGerade hinsichtlich dieser kritischen Aspekte und Leerstellen der musikphilosophischen Arbeit Adornos verdanke ich wesentliche Hinweise dem Gespräch mit Franziska Thron.

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logische Detail, wie sie Adornos Ästhetik auf kongenialer Höhe der Moderne auf eine nie wieder erreichte Höhe gehoben hat. Von der Erfahrung her waren durchaus Revisionen des Vorurteils möglich. Das Diktum, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch, 40 hat Adorno etwa relativiert, als er sah, dass es solche Gedichte durchaus gab, bei Nelly Sachs und auf noch höherem Formniveau bei Paul Celan. Darin zeigt sich die Achtung angesichts der ›unreduzierten Erfahrung‹. Die entscheidende Grenze bleibt markiert. Denn er hält fest, ein jedes Weiterleben nach Auschwitz, als sei nichts gewesen, sei höchst problematisch.

Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Gesammelte Schriften 10.1. Frankfurt/Main 1977, S. 30.

40

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ZWÖLFTES KAPITEL:

Unvoreingenommene Noesen – Phänomenologen betrachten Kunstwerke

I.

Die Sache selbst und der Ursprung des Kunstwerkes: Von Husserl zu Heidegger

Theodor W. Adorno sprach mit einer gewissen Vehemenz von der »unreduzierten Erfahrung,« auf die begriffliche Konstellationen durchsichtig zu machen wären. 1 Diese phänomenologische Linie legt es nahe, an drei herausragende kunstphänomenologische Ansätze zu erinnern. Dabei ist festzuhalten, dass der Begründer und Ahnherr der Phänomenologie, Edmund Husserl, selbst zwar keine Phänomenologie des ästhetischen Gegenstandes, wohl aber Untersuchungen des Bildbewusstseins und passiver Synthesis vorgelegt hat, die für eine Kunst-Phänomenologie einflussreich sein sollten. 1.) Zum einen ist an den heute fast vergessenen Husserl- und Heideggerschüler Oskar Becker zu erinnern. Er wurde 1889 geboren – teilt also mit Heidegger und Wittgenstein den Jahrgang. Er habilitierte sich bei Husserl im Jahr 1922, wobei er den bis heute ungedruckten Habilitationsvortrag ›Die Stellung des Ästhetischen im Geistesleben‹ hielt, und wurde als Nachfolger Heideggers Assistent bei Husserl ab 1923. Seit 1931 war er Ordinarius zu Bonn. Becker hat in zwei Aufsätzen, darunter sein Beitrag für die Husserl-Festschrift, 1929 den phänomenologischen Zug der Fragilität als Kennzeichnung des Schönen eigenständig exponiert. Dem Schönen ist, so Becker, gerade nicht die substanzhafte Stabilität der Materie eigen. Es neigt vielmehr zu einer ungeschützten Zuspitzung, dem ›thrill‹, der zwischen Interesse und Interesselosigkeit eine innere Sogkraft in Gang setzt. »Das ›interessierende‹ Moment am ästhetiZentraler Text ist wiederum: Benjamin ›Erkenntniskritische Vorrede‹ zum Trauerspielbuch: W. Benjamin, Gesammelte Schriften I. 1., S. 207 ff.

1

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schen Phänomen erscheint wirklich als solches; die in ihm aufflackernde Erregung ist als solche fühlbar«. 2 Zugleich werde sie dadurch gebrochen, dass der Kunstcharakter bewusst gemacht, stilisiert und reflektiert wird. Phänomenologisch läuft die Fragilität des Ästhetischen nach Becker auf eine »äußerste Paradoxie« zu, wonach »alle Brutalität der Wirklichkeit des Lebens sich zur Ruhe klassischer Schönheit gestalten lässt« 3, das Gebilde, in dem dieses Wunder sich vollzieht, aber seinerseits bis ›zum Extremum‹ gespannt ist. Diese phänomenologische Voruntersuchung wird sodann ontologisch vertieft, wobei er auf Heideggers Fundamentalontologie des Daseins als In-der-Welt-sein zielt, die er wohl nicht in vollständiger Übereinstimmung mit Heidegger als ›idealistisch hermeneutisch‹ begreift. In Anknüpfung an Heidegger fragt er nach der Seinsweise des ästhetischen, gleichermaßen schaffenden und genießenden Daseins. Becker deutet sie als eine spezifische Verifikation und Ummünzung menschlicher Existenz in Kunst, wobei sich das Subjekt des Künstlers in jedem Augenblick dem ›Sein zum Tode‹ ausgesetzt sehe. Er benennt diesen Seinsmodus als »Abenteuerlichkeit«. Das Kennzeichen des großen Werkes sei darüber hinaus, so Beckers Formulierungen, »Getragenheit«, eine Zeitüberwindung durch die Kunst. Mit Schelling deutet er den artistischen Akt als Verklammerung von Bewusstheit und Bewusstlosigkeit. Der Künstler existiert »zwischen der letzten Unsicherheit des ›geworfenen Entwurfes‹ und der letzten Sicherheit der ›Getragenheit‹, zwischen der äußersten Fragwürdigkeit alles Historischen und der absoluten Fraglosigkeit alles naturhaften Seins.« 4 Die platonischen Topoi des Hingerissenseins und zugleich der äußersten, luzidesten Klarheit, zu der Kunst befähigt, kehren bei Becker pointiert und in Heidegger abgelauschten Wendungen wieder. Becker spitzt diese Überlegung weiter im Sinn einer Phänomenologie des künstlerischen Daseins zu, die stillschweigend ihr Paradigma vor allem aus der frühen Romantik entnimmt. Wenn es dem Künstler gelinge, sein Werk zur Vollkommenheit zu führen, so sei er darin

O. Becker, Von der Abenteuerlichkeit des Künstlers und der vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen. Berlin 1994, S. 14; auch enthalten in der Sammlung O. Becker, Dasein und Dawesen. Pfullingen 1963. Die Kursivierungen finden sich im Original. 3 Vgl. ibid., S. 9 f. Ein wichtiger Gesprächspartner und Bezugspunkt ist dabei Solger. 4 Ibid., S. 29. 2

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»augenblicklich (zukünftig gewesen) und ›ewig‹. Er sei dies beides zugleich und wisse um die Simultaneität des Unvereinbaren. Damit weiß er auch, dass er wesenlos ist: metaphysischer Abenteuerer und als solcher im Kunstwerk ›enthüllt‹. »Sein ›Sein‹ ist Schein und Wahrheit zugleich: es ist Ironie.« 5 Derart werde der Blick in Tiefen der Übereinstimmung von Bewusstsein und Bewusstlosigkeit, Physis und Techné und der Weisheit (Sophia) freigegeben, die sich nur fragil verbinden. Sie können aber nicht in die Selbstdeutung des Daseins übergehen und entziehen sich auch dem philosophischen Begriff. Dabei ist es entscheidend zu sehen, dass Becker nicht auf prinzipielle Identität zielt, sondern eine im Innersten widersprüchliche Verfasstheit der Grundprinzipien, Nacht und Tag, Liebe und Hass vor Augen hat. Er orientiert sich dabei implizit an Hesiod und Heraklit. Die große Kunst komme überhhaupt nicht zur Identität, sondern immer nur zu Brechungen zwischen jenen Daseinsmächten. Der Künstler kann sich nur im Medium seiner Kunst erfassen. Becker spricht sogar davon, dass der Künstler sich selbst als Mensch gegenüber Epigone bleibt. In einer thematisch an diesen Gedankengang anschließenden Abhandlung hat Becker die ›Abenteuerlichkeit des Künstlers‹ der ›vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen‹ entgegengesetzt. »So ist der Zugriff, der sich in der Metasprache des Philosophen vollzieht, den ›ersten und letzten Dingen‹ nicht mehr nahe: Das Beispiel gibt Melusine in der Darstellung Nervals: die Fee, die nicht sichtbar werden will vor indiskreten Blicken und sich deshalb in die Luft auflöst. Melusine entzieht sich jedem, der sie fassen möchte. Immerhin kann der Philosoph von seiner abenteuerlichen Fahrt über den Strom noch einmal zurückkehren, vorsichtig, wie er ist, bei aller Verwegenheit.« 6 Begrifflich bestimmend ist hier Beckers phänomenologische Unterscheidung zwischen dem ›Dasein‹, das Erfahrungen macht und an den Eigenleib gebunden ist, und ›Da-wesen‹, der Begegnung und Entgegnung mit dem abgründigen Sein selbst, außerhalb von Intentionalität und Bestimmung. »Das Da im ›Da-wesen‹ bedeutet

5 6

Ibid., S. 32. Ibid., S. 62.

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also vielleicht das Licht an sich, gleichgültig ob es erblickt wird oder nicht.« 7 2.) Roman Ingarden bleibt einer der bedeutendsten Phänomenologen, der seine Prägung in der frühen Göttinger Zeit Husserls erfahren hat, in der Phase vor der transzendentalen Epoché in der Phänomenologie. Ingarden hat in der Geschichte der Phänomenologie aufgrund seiner erkenntnistheoretischen und ontologisch-logischen Analysen der Objektivität des ästhetischen Gegenstandes seinen Ort. Diese objektive Weise, »zu den Sachen selbst« zu kommen, macht ihn bis heute zu einem bevorzugten Referenzautor für das Gespräch mit der analytischen Philosophie. 1918 bei Husserl über Bergson promoviert, wird er ihm zu einem wichtigen Gesprächspartner. Der Briefwechsel zeigt dieses – bei Husserl seltene – Verhältnis unter Gleichen eindrucksvoll, 1921 wird er Privatdozent in Freiburg. In Polen hat er während der NS-Okkupation Lehrverbot, 1945 wird er auf den Philosophie-Lehrstuhl an der Krakauer Jagellonen-Universität berufen. Ähnlich wie im Falle von Jan Patočka in Prag, kommt es wiederholt zu Schwierigkeiten mit den kommunistischen Bewachern. Ingarden wird seines Amtes enthoben, 1956 wird er wieder berufen, 1961 emeritiert. Er ist auch in den späteren Jahren überaus präsent im deutschen, angelsächsischen, auch im skandinavischen Kulturraum. Phänomenologie und Ontologie des Kunstwerks sind die beiden Ankerpunkte seiner Arbeit. Er hat 1931 sein Debut als ästhetischer Theoretiker mit einer Monographie über ›Das literarische Kunstwerk‹ gegeben. Im methodischen Anschluss an Husserls Maxime »Zu den Sachen selbst!« unternimmt er es, unter der Epoché der Realität, das Kunstwerk als geistigen Gehalt zu beschreiben. Der anti-psychologistische Zug, der den ›Logischen Untersuchungen‹ Husserls (1900) wesentlich ihre Durchschlagskraft sicherte, findet bei Roman Ingarden keine Entsprechung. Er ist hier von Max Scheler beeinflusst. Ingarden geht davon aus, dass das ›ästhetische Erlebnis‹ mit einer ›Ursprungsemotion‹ einsetzt, ein Gefangensein im ersten Erblicken, das seinerseits durch eine »ästhetisch aktive Qualität« des Werkes ausgelöst wird. Die Gegebenheit des Werkes ist nur in dieser Verbindung der objektiven und der subjektiven Seite zu erfassen. Zentral ist bei In7

Ibid., S. 60.

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garden der Begriff des ›ästhetischen Gegenstandes‹. Dessen Bedeutungsreichweite deckt sich nicht mit jener des ›Kunstwerks‹. »Der ästhetische Gegenstand ist das konkrete wertbehaftete Angesicht, unter dem das Kunstwerk zur Erscheinung gelangt und das zugleich die Vollendung einer Möglichkeit seiner Vollbestimmung bildet.« 8 Es geht also um die Erscheinung im ästhetischen Erlebnis. Eine davon abzulösende Realität kann gar nicht gewonnen werden. Daher wird das Kunstwerk nach Ingarden zum ›Organon‹, dem ›Werkzeug‹ der Erzeugung emotiver Verhältnisse und Wertbestimmungen. Er fragt in diesem Horizont, wie das rein ästhetische Moment zu isolieren ist; was zunächst bedeutet, jene Schichten und Dimensionen zu untersuchen, die Kunstwerke als Gegenstände wie andere auch ausweisen und keineswegs rein ästhetisch sind. Ähnliche Probleme stellen sich in der jüngeren analytischen Kunstphilosophie, unter anderem bei Arthur Danto, wieder ein. Auch sie fragen, in welchen Zügen und Charakteristika ein ästhetischer Gegenstand von anderen Gegenständen unterschieden werden kann. 9 Jenes Schichten- und Typisierungsverfahren verdankt sich bei Ingarden der Schule geisteswissenschaftlicher Psychologie, die auf Dilthey zurückgeht und an der er seine einzelnen subtilen Beobachtungen schulte. An dieser Stelle berührt sich Ingarden zudem mit strukturalistischen Verfahren des Prager ›Cercle linguistique‹ (Jan Mukařovsky u. a.). Das literarische Kunstwerk hat beispielsweise verschiedene Aspekte, von der elementaren Lautschicht über die semantische Lautung, aus der sich Bedeutungseinheiten aufbauen, bis hin zur Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten und Objekte. Diese hat Ingarden als Weltansichten begriffen, die von innen (in der Figurenperspektive) oder von außen, in der unmittelbaren Perzeption des Lesers (oder Betrachters) erscheinen. Dabei zeichnet er ›metaphysische Qualitäten‹ des Erhabenen, Tragischen, Furchtbaren oder Heiligen besonders aus, in denen die poetische Bedeutung und der gedankliche Gehalt repräsentiert sind. Ingarden kennzeichnet nun, in einer Art von Kriteriologie, das spezifische Wesen des ästhetischen/literarischen Gegenstandes so, dass dieser, anders als andere R. Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937–1967. Tübingen 1969, S. 21. 9 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Tübingen 41972. Siehe auch ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968. 8

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Gegenstände, ›Unbestimmtheitsstellen‹ aufweise, die je spezifisch durch den Lesenden, wie in einem performativen Akt realisiert werden. Es gebe Bestimmtheiten am Kunstwerk, aufgrund deren der Leser weitere konkrete Momente konstruieren oder auch erraten, seine Unbestimmtheitsstellen beseitigen und den ästhetischen Gegenstand näher bestimmen könne. Daraus resultiert, dass jedes Kunstwerk eine Partitur für verschiedene Realisierungen ist. Es wird von verschiedenen Betrachtern in unterschiedlicher Weise realisiert werden müssen. Die Phänomenalität, das sich Zeigen des Werks, wird von Ingarden ähnlich akzentuiert, wie Heidegger das ›InsWerk-setzen der Wahrheit‹ bestimmt. Doch vollzieht es sich in verschiedenen Anmutungen, Annäherungen von Betrachtern. »Den ästhetischen Gegenstand in echtem Sinne bildet das literarische Kunstwerk erst dann, wenn es in einer Konkretisation zur Ausprägung gelangt.« 10 Und ähnlich wie Becker notiert auch Ingarden das ›seinsheteronome Sein‹ des Kunstwerks, eine im letzten paradoxale Struktur. Es scheint »vollkommen passiv zu sein« und alle unsere Operationen an ihm wehrlos zu erdulden, »und doch ruft es durch seine Konkretisationen tiefe Verwandlungen in unserem Leben hervor, weitet dieses Leben und erhebt es über die Niederungen des täglichen Seins, gibt ihm einen göttlichen Glanz, – ein ›Nichts‹ und doch eine wunderbare Welt für sich, wenn es auch nur aus unseren Gnaden entsteht und ist.« 11 Der Gedanke der aristotelischen unbewegten Bewegung [es liegt Ingarden offensichtlich daran, personalisierende Züge zu vermeiden, so spricht er gerade nicht vom »unbewegten Beweger«] wird für ihn zum Analogon: Aristoteles spricht davon, dass das unbewegt Bewegte sich so bewege wie das Geliebte, eromenoun. Es zeigt eine in sich selbst ruhende Schönheit an, der man am Kunstwerk, aber auch bei einem schönen, attraktiven Menschen begegnen kann, der ohne dass er irgend etwas hinzutun müsste, die weiteste Ausstrahlung und Faszination ausübt. 3.) Ich wende mich nun, in einer Knappheit, die der Bedeutung dieses Entwurfs und seiner Verzweigungen nicht wirklich gerecht werIngarden, Das literarische Kunstwerk, a. a. O., S. 399. Ibid., S. 400. Vgl. auch ders., Untersuchungen zur Ontologie der Kunst: Musikwerk. Bild. Architektur. Film. Tübingen 1962.

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den kann, 12 Heideggers 1935 vorgelegter Abhandlung ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ zu. Die Frage nach dem Kunstwerk hatte bei Heidegger in der fundamentalontologischen Frage nach dem Sinn von Sein, die in ›Sein und Zeit‹ (1927) kulminiert, zunächst keine Rolle gespielt, auch wenn wichtige Ingredienzien, die die Kunstwerk-Abhandlung dann ins Zentrum rückt, darin schon enthalten waren. Dies gilt namentlich für die Bestimmung von ›Zeug‹ und ›Werk‹. Erst als Heidegger nach dem Sein fragt, rückt auch das Kunstwerk in den Horizont seiner Aufmerksamkeit. Die Frage nach dem Kunstwerk wird dann in den Auslegungen von Hölderlin, Rilke, Trakl, der diaphanen Deutung großer Bildkunst bei Cézanne und Klee, nur ganz sporadisch und unspezifisch an der Musik, bestimmend für das späte Denken, den Topos der Gelassenheit, aber auch den ›Weg zur Sprache‹. Gelassenheit und Sein-lassen, Hören auf die Dichtung versteht Heidegger in klarer Selbstabgrenzung gegenüber der ›Auseinandersetzung‹, die mit metaphysischen Entwürfen aus der Philosophie zu führen ist, als eigene Zugriffsweise zur Kunst. Die Abhandlung ›Der Ursprung des Kunstwerkes‹ verfolgt von vorneherein die Frage nach der Relation von Kunst zum Sein und zur Wahrheit. Von seinem Ursprung her gedacht, ist das Kunstwerk Zur-Erscheinung-Kommen der Wahrheit. Wenn man dies festhält, so zeigt sich, wie sehr Heidegger gleichsam von Grund auf tradierte Unterscheidungen der Ästhetik durchbricht, sei es die Unterscheidung von Stoff und Form, sei es die Symbol- oder Allegorie-Bestimmung des Werkes. Heidegger fragt zunächst nach dem Ding-Charakter am Werk. Das ›Dingsein des Dinges‹ entzieht sich, ebenso auch der ›Zeugcharakter‹ von Dingen, ihre unmittelbare Gebrauchsdimension, die in ›Dienlichkeit‹ und ›Verlässlichkeit‹ bestehe. Dieser Gedanke wird in der Folge der Umweltanalysen von ›Sein und Zeit‹ entwickelt. Einzig im Kunstwerk, so Heidegger, werden Zeug und Ding thematisch. Der Zeug-Charakter wird beispielhaft in seiner Darstellung in einem eminenten Kunstwerk aufgesucht, den »Bauernschuhen« van Goghs, die spätere Kunstkritik freilich als van Goghs Diese sehr knappe Darstellung des heideggerschen Aufrisses rechtfertigt sich aber dadurch, dass Heideggers Gedankenmotive weiter unten aufgenommen werden, v. a. im Zusammenhang des Topos von Kunst und Gebrauch.

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eigene Schuhe identifizierte. 13 Heidegger weist also das Zeugsein des Zeuges phänomenologisch am Kunstwerk auf. Es zeigt sich gerade nicht, wie bei Ingarden vorherrschend, durch die kriteriologische Abhebung von Zügen, die den auszeichnend kunsthaften Zug an einem Ding ausmachen. Auf diese Weise zeigt sich zugleich als Wesenszug von Kunstwerken, dass sie erscheinen lassen. Sie bringen in das Licht der Aletheia. Der Weg ins Offene der Seinserfahrung wäre im Sinne Heideggers charakteristisch für das Kunstwerk als solches. Man erinnere sich an Humboldts Grundsatz, dass Sprache nicht bloßes Ergon ist, sondern: Energeia, Im-Vollzug-sein. In diesem Sinn zeigt Heidegger, dass das Kunstwerk ein Wahrheitsgeschehen ist, eben: Ins-Werk-Setzen der A-Letheia, des Geschehens der Lichtung. Das Werk führt daher, ähnlich wie auch Oskar Becker sagt, über die Intentionalität hinaus. Der Weise dieses Vollzugs gilt der zweite Hauptabschnitt der Abhandlung ›Das Werk und die Wahrheit‹. Deutlich wird dabei zweierlei: Zum einen, in Exemplifizierungen des griechischen Tempels, in seinem Hineinstehen in die natürliche Landschaft und in den Lebensraum der Polis, die Entgegensetzung von anwesender Gottheit und Menschen. 14 Später wird Heidegger im Zusammenhang seiner Hölderlin-Interpretationen ausdrücklich vom ›Geviert‹ sprechen: der vierfachen Bezugnahme und Entgegnung von Sterblichen und Himmlischen, Menschen und Göttern. Zum anderen weist Heidegger in seiner eigenwilligen Sprache auf den konstitutiven Doppelcharakter des Werkes hin, das auf die sich verschließende Erde (das Herstellen) zurückgegründet ist und damit zugleich eine Welt aufgehen lässt. Im Gegenhalt von Welt und Erde bildet sich allererst das Werk. »Wohin das Werk sich zurückstellt und was es in diesem Sich-Zurückstellen hervorkommen lässt, nannten wir die Erde. Sie ist das Hervorkommend-Bergende. Die Erde ist das zu nichts geVgl. dazu im Blick auf eine den Schuhen gewidmete Ausstellung im Kölner Wallraff-Richartz Museum den Artikel: Wie sich Forscher über van Goghs Schuhe streiten, in: DIE WELT 24. 9. 2009. Siehe auch Jacob-Baart de la Faille, The Works of Vincent van Gogh. His paintings and drawings. Meulenhoff, Amsterdam, 1970. 14 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege. Frankfurt/Main 61980, S. 1 ff. Auch als Einzelausgabe: Stuttgart 1995, mit einem Nachwort von H.-G. Gadamer. Die Seitenzahlen unmittelbar im Text beziehen sich auf diese besonders leicht zugängliche Ausgabe. 13

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drängte Mühelose-Unermüdliche. Auf die Erde und in sie gründet der geschichtliche Mensch sein Wohnen in der Welt. Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. Das Herstellen ist hier im strengen Sinne des Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk lässt die Erde eine Erde sein.« 15 Damit bestimmt Heidegger das Kunstwerk zugleich als Ort der ontologischen Differenz, der Unterscheidung zwischen ›Sein‹ und ›Seiendem‹. Es reißt die offene Stelle im Seienden im Ganzen auf. Das Werk selbst ist aber ein ›Nichts von Sein‹ – innerhalb dessen die Seinsoffenbarung ›sich zeigt‹. Dass die Wahrheit als Kunst ›anwesend‹ ist, wird im letzten Abschnitt (›Die Wahrheit und die Kunst‹) entwickelt. Heideggers Leitmetapher ist dabei das ganz von der Faktur, der Poiesis her gedachte Wesensgefüge des ›Risses‹, wieder ein kunstphilosophischer Neologismus, der auf Dürers Schrift von der ›Reißkunst‹ zurückgeht. Der Streit von Welt und Erde wird im Riss dargestellt. Daraus ergibt sich eine Fügung des Gegensätzlichen: Die ›Erde‹, das ursprünglich chthonische Moment, öffnet sich; die Welt, die von sich her offen ist, wird in die Verborgenheit der Erde zurückgefügt. 16 Heidegger hat in diesem Zusammenhang, was zu wenig bemerkt wird, die aristotelische Grundunterscheidung von Praxis und Poiesis auf eine Phänomenologie des Kunstwerks hin fortgeschrieben. Dieses habe sein Hervorgebracht-sein als offene Stelle in sich eingebildet, anders als das Zeug, das abgeschlossen ist und nun seinen Gebrauchscharakter entwickeln soll. Ein Gebrauchsgegenstand ist umso besser, je weniger er Widerstand und Eigenmacht enthält. Die Spuren des Geschaffenseins, die in das Kunstwerk einkomponiert sind, benennt Heidegger als ›Stoß‹. Die Wahrheit als Unverborgenheit, A-letheia, hat dazu eine strukturelle Affinität. Diese Dimension der Undarstellbarkeit verweist, über den behandelten Kanon von der Dichtung Hölderlins über Trakl bis zum prekären Zwiegespräch mit Celan, auf eine große und untergründige Affinität zur Moderne. »Das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit stößt das Ungeheure auf und stößt zugleich das Geheure und das, was man dafür hält, um. Die im Werk sich eröffnende Wahrheit ist aus dem Bis15 16

Ibid., S. 43. Ibid., S. 67.

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herigen nie zu belegen und abzuleiten. Das Bisherige wird in seiner ausschließlichen Wirklichkeit durch das Werk widerlegt.« 17 Es ist offensichtlich, dass man einem ganz anderen Wahrheitsverständnis der Kunst folgt, wenn man es derart von einer Ontologie des Stoßes her, darin das Offene des Seins selbst zur Erscheinung kommt, deutet, als wenn man es mit Heideggers Schüler Gadamer als Spiel verstehen will, in dem die Betrachter Mitspieler sind, in ein Gespräch verstrickt. 18 Die Exposition von Riss und Stoß führt dazu, dass Heidegger das Kunstwerk als ›Stiftung‹ begreift. Dies wird in einem Blick auf die Geschichte expliziert, die heute ihre Unschuld verloren hat. »Geschichte ist die Entrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein Mitgegebenes.« 19 »Weil Kunst in ihrem Wesen ein Ursprung ist: eine ausgezeichnete Weise wie Wahrheit seiend, d. h. geschichtlich wird«, deshalb führe sie in eine Ursprungsdimension (man denkt an Hölderlins ›Reinentsprungenes‹), die ›bevor-stehend‹ ist. Sie führt also in ein Offenes, kontrapunktisch zu der Auseinandersetzung mit der metaphysischen Überlieferung, die in die Verschlossenheit des ›Willens zur Macht‹ mündet. 20 Heidegger schließt mit den Hölderlin-Zeilen »Schwer verlässt / Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.« 21 Es kommt allerdings eine weitere Bestimmung hinzu, die erst das große Gewicht tragen kann, das Heidegger von hier her der Dichtung und den Dichtern (›in dürftiger Zeit …‹) zuerkennt. Kunst ist als Ins-Werk-Setzen von Wahrheit für Heidegger eo ipso Dichtung. Bauwerke und bildende Kunst setzen die Offenheit voraus, die in der Dichtung erschlossen ist. Als Grundzug des ›Dichterischen‹ denkt Heidegger, auch hier wieder in einer metaphorisch metonymischen Neuschöpfung, dass es in einem ›Sprung‹ »alles Kommende« schon überspringt. »Der Anfang enthält schon verborgen das Ende«, ganz im Sinn des parmenideischen kyklischen WahrheitsIbid., S. 77. Vgl. u. a. Gadamer, Wahrheit und Methode, ders., Gesammelte Werke Band 1. Tübingen 1986, S. 107 ff. 19 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, a. a. O., S. 79. 20 Dazu grundsätzlich H. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens. Köln, Weimar, Wien 2000. 21 Heidegger, Hölderlin, Die Wanderung IV, Vers 167. 17 18

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und Seinsverständnisses: »Ein Gemeinsames ist es mir, von woher ich anfange, denn dahin werde ich zurückkommen.« 22 Sein ist, wie Heidegger mit dem frühgriechischen Denken sagt, Physis. Daher rettet auch Heidegger das Naturschöne, so dass Kunst gleichsam als die in einem Werk manifestierte Natur (Physis) aufgefasst wird. Es wird nicht nur an der Deutung Hölderlins als des am weitesten Vorausspringenden der Lanthanonten, jener verborgenen, noch aufbehaltenen Denker, offensichtlich, dass für Heidegger die Frage nach der Kunst in die Mitte der Seinsfrage gehört. In diesem Sinn findet sich in den nach ›Fugen‹ gegliederten ›Beiträge(n) zur Philosophie‹ noch einmal eine Meditation über den Ursprung des Kunstwerks, namentlich in der Fuge ›Das Seyn‹. Die ›Beiträge‹ denken an ihrem Endpunkt auf den Ursprung der Sprache und das Ereignis hin. Sie nehmen dabei den in der Kunstwerk-Abhandlung zentralen Topos des ›Risses‹ wieder auf und legen als Grund der dichterischen Sprache das Schweigen (sigein) frei. 23 Einer nicht gegenständlich abbildenden, sondern erscheinen lassenden Kunst hat sich Heidegger schon mit der Akzentuierung des ›Dichterischen‹ verschrieben. Dies zeigt sich in seinen späten Jahren erst recht in Konfrontierung mit dem Licht der südfranzösischen Landschaft um den Mont Ventoux. In Gesprächen in dieser Landschaft, etwa mit René Char, dem Dichter und Angehörigen der Résistance, hat er über das Licht Cézannes in einer Leichtigkeit und Transparenz nachgedacht, die sich auch von den seinsgeschichtlichen Neologismen löst. Darin geht es immer wieder um eine Anwesenheit. Zu Recht kann man Heidegger eine tiefgehende Kongenialität zu jener Kunst zusprechen: etwa zu Selbstaussagen von Braque, Matisse und anderen. 24 Wie hingetupft, in der Zwischenwelt des Nichtfassbaren, bewegt sich sein Denken in jener Zeit. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, a. a. O., S. 80. Solche Ursprungstopoi sind freilich auch problematisch gesehen worden. Adorno hat sie deshalb dezidiert abgewiesen. 23 Heidegger, Vom Ereignis. Beiträge zur Philosophie, GA 65, insbes. S. 263 ff. und S. 500 ff. 24 Vgl. dazu die schönen Beiträge des Sammelbandes: Chr. Jamme, K. Harries (Hgg.), Martin Heidegger. Kunst – Politik – Technik. München 1992 und: Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Band III. Im Spiegel der Welt: Sprache, Übersetzung, Auseinandersetzung. Frankfurt/Main 1992. 22

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Heidegger selbst hat in späten Äußerungen eher skeptisch die Möglichkeit der Kunst und der Kunstwerke beurteilt, sich aus dem geschlossenen Regelkreislauf des ›Gestells‹ neuzeitlicher Technik zu lösen. Auch hier ist seine Fragestellung derjenigen Adornos nahe. Ist die Kunst die Kraft, die gerade in ihrer Nicht-Konsumierbarkeit Atem holen lässt? In einer späten Fortschreibung des KunstwerkAufsatzes aber, dem Athener Vortrag: ›Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens‹ heißt es im Jahr 1967: »Muss das Werk nicht als Werk in das dem Menschen nicht Verfügbare, in das Sich-verbergende zeigen, damit das Werk nicht nur sagt, was man schon weiß, kennt und treibt? Muss das Werk der Kunst nicht das beschweigen, was sich verbirgt, was als das Sichverbergende die Scheu wachruft im Menschen vor dem, was sich weder planen noch steuern, weder berechnen noch machen lässt?« 25

II.

Bild und Verstehen: Hermeneutica

Hans-Georg Gadamer verfolgte mit Heidegger die Absicht, gegenüber dem bloß ästhetischen Bewusstsein die Ontologie des Kunstwerks und die eigene Kunst-Wahrheit in ihrer Evidenz ans Licht zu bringen. Phänomenologisch ist sein Ansatz, da er die Seinsweise des Kunstwerkes selbst freilegt und aus ihr geradezu das Paradigma für hermeneutische Verstehensvollzüge aller Art gewinnnt. Dafür hat Gadamer in seinem Hauptwerk zwei wirkmächtige Topoi untersucht: Zum einen das Spiel, zum anderen das Bild. Das Spiel, so die Pointierung Gadamers, ist nicht zu definieren aus den spielenden Subjekten. Es spielt sich ihnen im vorhinein zu. Es ›ist‹ wirksam, bevor Menschen mitspielen. Ontologisch hat das Spiel »ein eigenes Wesen, unabhängig von dem Bewusstsein derer, die spielen.« 26 Es stellt sich dabei selbst dar. Ihm ist die Kraft der ›Verwandlung‹ eigen. »Ein jeder fragt nur, was das sein soll, was da ›gemeint‹ ist. Die Spie-

M. Heidegger, Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens, in: ders., Denkerfahrungen 1910–1976. Frankfurt/Main 1983, S. 135 ff., insbes. S. 148. Dazu R. Marten, Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion. Freiburg, München 2005. 26 H.-G. Gadamer, Hermeneutik Band I. Wahrheit und Methode. Tübingen 1986, S. 108. 25

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Bild und Verstehen: Hermeneutica

ler [oder Dichter: eine bezeichnende Parenthese; H. S.] sind nicht mehr, sondern nur das von ihnen Gespielte.« 27 Das Spiel kann in ein Gebilde ›verwandelt‹ werden, es kann Werk werden. Gadamer spricht von »totaler Vermittlung«, gleichsam in einer nicht-dialektischen Version der adornoschen »unreduzierten Erfahrung«. Dieser Begriff der totalen Vermittlung bedeutet, »dass das Vermittelnde als Vermittelndes sich selbst aufhebt. Das will sagen, dass die Reproduktion […] als solche nicht thematisch wird, sondern dass sich durch sie hindurch und in ihr das Werk zur Darstellung bringt.« 28 Im Werk ist aufgrund dieses Spielcharakters eine spezifische Temporalität inszeniert. Heidegger hatte in seiner Kunstwerk-Abhandlung darauf verwiesen, dass Werke ihren Lebenszusammenhang verlieren, wenn sie dem Musealisierungsprozess unterzogen werden. Gadamer nuanciert diese Überlegung und verweist darauf, dass auch »das Kunstwerk, das im Nebeneinander der Galerie seinen Platz angewiesen bekommt«, noch immer eigener Ursprung sei. 29 Mit versammelt sind im Kunstwerk seine unterschiedlichen Realisationen und Realisierbarkeiten durch Rezeptionsmuster, die Gadamer wie in einer indirekten Bezugnahme auf das platonische ›Pros allelas‹ als Differenzintervalle begreift, innerhalb deren sich überhaupt Erkenntnis und Phänomenperzeption einstellen kann. In all diesen Hinsichten seines Aktual-werdens und Sich-Zuspielens erst ist das Kunstwerk ganz präsent. Seine textliche oder bildliche Materialisierung ist nur Leerstelle, Partitur, die infinite Realisierungen finden kann. »Sie alle sind ihm gleichzeitig.« 30 Die Weise, wie das Kunstwerk spielt, wird von Gadamer in engen Zusammenhang mit der Weise, in der ein Fest Spiel ist und auf einen Kultus oder Ritus zurückbezogen bleibt. Eben darin werde stets der Bereich bloß subjektiven Verhaltens – dies ist die beständige Gegenfolie der »ästhetischen Erfahrung« bei Gadamer – überschritten, und ebenso der Bereich der Neugierde (›curiositas‹). Gadamer rekurriert dabei auf den Begriff der Anschauung (im ursprünglichen Wortsinn der ›theoria‹) als der Betrachtung des Kul27 28 29 30

Ibid., S. 117. Ibid., S. 125. Ibid., S. 126. Ibid.

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tes oder der griechischen Tragödie. Der Theoria-Blick, von dem der Begriff für die höchste philosophische Tätigkeit abgeleitet werden sollte, sei »nicht primär als ein Verhalten der Subjektivität zu denken«, sondern »von dem her, was [er] anschaut. Theoria ist wirkliche Teilnahme, kein Tun, sondern ein Erleiden (pathos), nämlich das hingerissene Eingenommensein vom Anblick.« 31 In der Folge Hölderlins, Hegels, Schellings wendet sich Gadamers Topologie des Spiels einer Erörterung des Propriums des antiken tragischen Kunstwerks zu. Das Tragische spielt sich nach Gadamer in einer großen Integration ab. Der Zuschauer kann nie unbeteiligt daran sein. Das ›Lernen aus Leiden‹ beruht vielmehr darauf, dass er sich als, der Möglichkeit nach, Mitbetroffener begreift und den Schmerz bejahen kann. »Das ›So ist es‹ ist eine Art Selbsterkenntnis des Zuschauers, der von den Verblendungen, in denen er wie ein jeder lebt, einsichtig zurückkommt. Die tragische Affirmation ist Einsicht kraft der Sinnkontinuität, in die sich der Zuschauer selbst zurückstellt.« 32 Alle diese Überlegungen lassen sich letztlich in zweifachem Horizont lesen: einerseits als Beschreibung von Phänomenen und Vollzugsweisen der Kunst, zum anderen aber als Hervorhebung des spezifischen Verstehensvollzuges, der für das Kunstwerk charakteristisch ist. Verstehen von eminenten Kunstwerken ist neben dem platonischen Dialog für Gadamer der Archetyp von Verstehen überhaupt. Von besonderer Bedeutung scheint in diesem Zusammenhang das Paradigma des Bildes. Ein Bild ist, so zeigt er, niemals Mittel zu einem Zweck. Denn anders als das Zeichen verweist es nicht von sich weg. Das Bild ist vielmehr selbst gemeint, es lenkt auf sich hin, ist dabei aber durchlässig auf das, was sich in ihm darstellt. 33 Im Abbild ist somit das Urbild präsent. Gadamer fügt aber hinzu, dass das Gefälle, in dem die Urbild-Abbild-Relation gemeinhin gedacht wird, unzureichend ist, um das Phänomen zu erfasssen. Er wählt deshalb zur Kennzeichnung des Darstellungs-Problems in der Verbildlichung den Begriff der Repräsentation. Darstellung sei

Ibid., S. 118. Ibid., S. 137. 33 Vgl. dazu wiederum Bredekamp, Theorie des Bildakts, a. a. O., insbes. S. 231 ff. Ferner die verschieden perspektivierten, anregenden Studien des Bandes: G. Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? München 1994. 31 32

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Bild und Verstehen: Hermeneutica

»mehr als ein Abbild. Dass die Darstellung ein Bild und nicht das Urbild selbst ist, bedeutet nichts Negatives, keine bloße Minderung an Sein, sondern vielmehr eine autonome Wirklichkeit.« 34 Es gehe nämlich nicht um eine einseitige Beziehung. Das Urbild wird vielmehr, sofern es in eine Abbildung gebracht wird, selbst erst zum Urbild und zur Norm. Dies ist aus dem Zusammenhang der Repräsentationsfiguren höfischer Kultur gedacht. Ein Mensch, der mit den Insignien kaiserlicher oder päpstlicher Macht dargestellt ist, gleicht dem Urbild von ›Regnum‹ und ›Sacerdotium‹.

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Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 145.

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DREIZEHNTES KAPITEL:

Welterzeugung und Wiederverzauberung – aus den Skizzenbüchern neuerer analytischer Kunstphilosophie

1.) Semantisch-analytische Philosophie hat sich vor allem an bildender Kunst und in Klärungen ihrer Symbolisierungen ein eigenes Themenfeld erschlossen und zur Kunsttheorie wesentliches beigetragen. Sie hat allerdings keine verschiedene Kunstarten umfassende Ästhetik hervorgebracht. Dies ist ein bemerkenswerter Befund. Die ›Ästhetische Theorie‹ von Adorno ist insgesamt die bislang letzte Ästhetik gewesen, die die wichtigsten Kunstarten zu erfassen suchte: zumindest Musik, Dichtung, im Ansatz auch den Tanz. Besonders zeigt sich die Kompetenz analytischer Philosophen im Feld der bildenden Kunst und dabei wiederum insbesondere der Malerei. In diesen Bereichen sind Nelson Goodman und Arthur C. Danto besonders hervorgetreten. Goodman versteht die Theorie des ästhetischen Gegenstands als Sonderfall der Epistemologie. 1 Dabei bestimmt er Kunst als ›Engagement‹ im Sinne von Schöpfung und der Neukreierung von Weltsichten. Die Erfindungs- und Erkenntniskraft der Kunst rückt er ins Zentrum. Kunst ist eine von anderen Formen zu unterscheidende »Weise der Welterzeugung«. Dies bedingt einerseits, dass gegenüber der kantischen Lehre vom Geschmacksurteil und der auch von Goodman besonders betonten Bestimmung des ›Wohlgefallen[s] ohne alles Interesse‹ eine Reserve geltend gemacht wird. Andererseits bemüht sich Goodman darum, durchaus in der Folge Kants, das spezfische Vergnügen am ästhetischen Gegenstand von jenem zu unterscheiden, das sich am Angenehmen einstellt. Doch Emotionen, Erregungen sind nur sehr bedingt geeignet, um die ästhetische Erfahrung zu charakterisieren. Goodman führt intelligente, einer bestimmten pragmatischen Goodman, Weisen der Welterzeugung. Frankfurt/Main 1984, siehe auch ders. zusammen mit C. Z. Elgin, Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften. Frankfurt/Main 1989.

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13 · Welterzeugung und Wiederverzauberung

Kunstperzeption durchaus angemessene Unterscheidungen ein, wenn er die Emphase kunstphilosophischer Katharsis-Lehren aus der Tradition in Frage stellt. Eine wirkliche Schlacht oder elementar empfundene Trauer um persönlichen Verlust seien, so betont er, nicht mit den Empfindungen vergleichbar, die Kunstwerke auslösen. Die Empfindungen, die sich an Kunstwerken entzünden, seien nämlich »im allgemeinen nicht ausgeprägter als die Erregung, Verzweiflung oder Freude, die das wissenschaftliche Forschen und Entdecken begleitet.« 2 Wissenschaft und Kunst sind also schon aufgrund der bei ihnen vorauszusetzenden Distanz in einer engen Verwandtschaft zu sehen. Dieser Eindruck verstärkt sich, da nach Goodman auch Kunst durch ihre kognitive Komponente mitbestimmt ist. Er erblickt sie in der Symbolisierung. Der Symbolbegriff Goodmans, der auch ein renommierter Kunstammler war, berührt sich hier mit der Symboltheorie Cassirers als Grundlegung der Kulturphilsophie aufgrund der Bindung eines intelligiblen Gehaltes an ein sinnliches Zeichen. 3 Die Symbolisation der Kunst hat zugleich eine spezifische Semantik. Kunstwerke haben eine eigene Bedeutung. Sie sind eine Sondergruppe von Sprache. Durch jenes Symbolisieren werden dann Sichtweisen (visions) auf die Welt freigesetzt, die es im alltäglichen, aber auch im wissenschaftlichen Weltzugang nicht gibt. Offensichtlich ist es von einem solchen Ansatz her recht einfach möglich, Kriteriologien für den ästhetischen Rang eines Werkes anzugeben. Dieser bemisst sich nach seiner Symbolisierungsdichte und -nuanciertheit. »Die Symbolisierung muss grundsätzlich danach beurteilt werden, wie gut sie der kognitiven Absicht dient: nach der Feinheit ihrer Unterscheidungen und der Angemessenheit ihrer Anspielungen, nach ihrer Arbeitsweise im Erfassen, Erkunden und Durchdringen der Welt; danach, wie sie analysiert, sortiert, ordnet und organsiert; danach, wie sie an der Schaffung, der Handhabung, der Erinnerung und der Transformation des Wissens beteiligt ist. Erwägungen der Einfachheit und Subtilität, der Kraft und der Präzision, des Geltungsbereichs und der Selektivität, der Vertrautheit und Vgl. Goodman, Weisen der Welterzeugung, a. a. O., S. 11 f. Dazu E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte Band 7. Mythos, Sprache und Kunst. Hamburg 2007. Siehe auch B. Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin 2004

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Neuigkeit sind alle relevant und liegen miteinander im Wettstreit.« 4 Damit wiederholt Goodman eine Formulierung, die ebenso auf wissenschaftliche Hypothesen oder Theorien zutrifft. Allerdings sieht er ästhetische Symbole ausgezeichnet durch ihre Fülle (repleteness). Sie sind gegenüber der eindeutigen oder doch eindeutigeren, überwiegend denotativen Bedeutung wissenschaftlicher Hypothesenbildung ungleich komplexer und sie verweisen in stärkerem Maß auf Kontexte. Damit skizziert Goodman bereits die Problematik der ›Verklärung des Gewöhnlichen‹ durch Kunst, den Übergang zwischen Kunstwerken und Alltagsgegenständen, der in der moderneren Kunst zunehmend fließend ist. Bei der Kurve auf dem Elektrodiagramm spielen Ort, Raum, Lage keine Rolle, sehr wohl hingegen dann, wenn diese Linie als Teil eines Kunstwerks zu verstehen ist. An dieser Stelle kommt ins Spiel, dass Goodman im Anschluss an das Bühlersche Sprachmodell zwei ›basic modes of reference‹ unterscheidet: nämlich die denotative, rein bezeichende und die ›expressive‹ exemplifizierende Referenz, in der die Symbolisierung auf sich selbst zurückverweist. Letztere kann mit ihren verschiedenen Elementen und ihrem Medium spielen, sie affirmieren oder in Frage stellen. Goodman verweigert sich jeglicher Frage nach dem Wesen der Kunst. Er hält diese Frage sogar für illegitim. Vielmehr fragt er graduell, wann auf einer grenzwertigen Skala zwischen Wissenschaft und Kunst von Kunst überhaupt gesprochen werden kann. Dazu müssen – und können einzelne kriteriologische ›properties‹ namhaft gemacht werden: syntaktische Dichte (syntactic desnity), semantische Kompaktheit, exemplifikatorische Beziehung, also ein möglichst weitreichendes Relationengeflecht. Für die ästhetische Arbeitsweise Goodmans ist die Vorgeschichte seines Entwurfs nicht ganz unwesentlich. Sie ist deshalb zumindest skizzenhaft zu erinnern. Neben der pragmatistischen Linie wird man auf der Suche nach Spuren und Prägungen im Ansatz von Goodman berücksichtigen müssen, dass er in der Folge des Wiener Kreises (Neurath, Schlick) und in enger Zusammenarbeit mit Willard Van Orman Quine in einem heute berühmten Aufsatz: ›Steps

N. Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt/Main 1998, S. 237.

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toward a Constructive Nominalism‹ 5 explizierte, es gebe in der Welt nur Individuals, also Einzeldinge, andere Entitäten seien bloße Abstraktionen. Diese Ästhetik fasst also einzelne Kunstwerke als »Individua« auf und versucht es zu bestimmen. 2.) Dabei ist Goodman vor allem John Deweys pragmatistischer Kunstphilosophie verpflichtet. Deweys ›Art as experience‹, 1934 erschienen, ist der seltene Fall eines (ästhetischen) Alterswerkes, dem es gegeben war, eine junge Generation von Künstlern zu beeinflussen und die nachfolgende ästhetische Debatte zu bestimmen. 6 Dewey sucht die große Kluft zwischen hoher Kunst und Alltagsleben zu verringern. Kunst hat ihren Ausgangspunkt in einer Erfahrung, die allen Menschen zugänglich ist. Zum Beleg dieser These geht Dewey von Erfahrungen und Szenen aus, die Auge und Ohr des Zeitgenossen in Beschlag nehmen. Dies ist das demokratische, auf Allgemeinzugänglichkeit bezogene Moment dieser Kunstphilosophie. »Die vorüberrasende Feuerwehr, Maschinen, die riesige Löcher ins Erdreich graben«, wären Beispiele dafür. Artistische Leistungen liegen letztlich auf einer Ebene mit solchen Auffälligkeiten. Das moderate Abstandnehmen vom Alltag, in der Art, in der die Hausfrau von ihren Blumen beglückt ist, macht im Verständnis von Dewey den Grundzug ästhetischer Erfahrung aus. Sie wird damit zu einer Lebensselbstverständlichkeit und ist keinesfalls einer Elite vorbehalten. Man hat insofern zu Recht bemerkt, dass auch für Dewey, in Nietzsches Sinne, Kunst eine Art von »Stimulans« des Lebens ist. Allerdings ist sie dies als common sense-Empfindung: Ganz im Sinn des umfassenden Anspruchs von »democratization.« 7 Aufschlussreich sind dabei die Beispiele, die Dewey wählt. Sie stammen aus dem Spektrum amerikanischer Lebenswelt in seiner Zeit: einerseits aus der Idylle des mittleren Westens, andererseits den großen Städten mit den faszinierenden Erscheinungen, die sich dort zeigen. Dabei ist nicht zu übersehen – ein Zug, der bei Goodman oder Danto Erstveröffentlichung in: Journal of Symbolic Logic 1947. J. Dewey, Kunst als Erfahrung. Frankfurt/Main 1995. 7 Vgl. ibid., S. 330 ff. passim. Siehe dazu auch den grundsätzlichen Ansatz des amerikanischen Pragmatismus und seines Wahrheitsbegriffs: Dazu H. Pape, Der dramatische Reichtum der konkreten Welt. Der Ursprung des Pragmatismus im Denken von Charles S. Peirce und William James. Weilerswist 2002. 5 6

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nicht mehr derart ungebrochen aufscheinen wird, dass die Ästhetik nach wie vor von dem Grundsatz bestimmt ist: »Mind is what body does.« Auch die Kunst hat also eine gleichsam therapeutische Funktion am Leib des Einzelnen, aber auch an der Gesellschaft. Sie verhilft zu Homöostase, Ausgleich, Stabilität. Harmonie wird in der Moderne, soweit sie Dewey vor Augen steht, noch einmal zur Figur der Kunst, wobei sich Dewey auf Matisse und seine Beschreibung des Malprozesses als Ausbalancieren von Farben und Farbwerten beruft. Der Unterschied zwischen Werk und Lebens- bzw. Empfindungsraum ist allerdings bei Dewey kaum hinreichend reflektiert. Kunst ist funktional integrierter Zug des Kultur- und Lebensprozesses. Sie wird aufgefasst als »das Wirken jener Kräfte, die die Erfahrung eines Ereignisses, eines Objekts, einer Szene oder Situation zu ihrer eigenen integralen Erfüllung bringen«. 8 Letztlich distanziert sich dieser pragmatische Erfahrungsbegriff von einer am Werk orientierten Kunstphilosophie. Daher ist zu Recht festgehalten worden, dass der Übergang von einer biologischen in eine artistische, metabiologische Sphäre bruchlos sei. 9 Bei Goodman findet dies seine Widerspiegelung im begrifflichen Übergang von »Art« zu »Fluxus«. Während »Art« noch am Werkbegriff orientiert ist, löst »Fluxus« diese Fixierung auf. Durchgängig findet man bei Dewey einen amerikanischen Optimismus, eine Neigung zum ›American way of life‹ als Manifestation jenes potentiell allen Menschen offenstehenden Harmonieprinzips. Dies schließt nicht aus, dass auch die neue ›arte povera‹ der Beat-Generation, die im Zusammenhang mit der Hippiebewegung in den sechziger Jahren die Wahrnehmung für Widerständiges oder Unscheinbares zu schärfen angetreten war (Richard Serra, Bukowski), von Dewey beeinflusst wurde. 3.) Bis zu seinem Tod spielte Arthur C. Danto als Ästhetiker und Kunstkritiker eine maßgebliche Rolle in Amerika, längst aber auch auf dem europäischen Kontinent. Danto prägte schon 1964 den Begriff, der für sein weiteres ästhetisches Denken maßgeblich werden sollte: Artworld – Kunstwelt. Dies ist, wie sollte es anders sein, selbst ein Kunstwort. Dantos Reflexionen über die »Artworld« drehen sich 8 9

J. Dewey, Kunst als Erfahrung. Frankfurt/Main 1985, S. 159. Ibid., S. 140 ff.

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um einen, von Wittgenstein in anderer, nämlich handlungstheoretischer Perspektive entfalteten ›puzzling case‹. Die verschiedenartige Bedeutung des – äußerlich gesehen – nahezu Ununterscheidbaren, z. B. des Hebens meines Arms als einer Handlung im Gegensatz zu einem mechanischen Vorgang, in dem der Arm vielleicht in einer pathologischen Situation nach oben gehievt wird, wird Paradigma jener feinen Differenz. Mit der Unterscheidung des fast nicht Unterscheidbaren ist die Strukturformel für Kunst-Welten formuliert, die Alltagsgegenstände verklärt, umgekehrt aber das derart herausgehobene Kunstwerk wieder in eine Serienproduktion durch Entauratisierung und Entzauberung zurückstellen. Die Beispiele, die Danto anführt, beziehen sich, was wenig verwundern wird, vor allem auf Installationskunst. Man denke an Duchamps ›Urinoir‹, zu dem Danto bemerkt: »Diese wenig erbaulichen Objekte« seien in eine ästhetische Distanz gerückt und dadurch zu glaubwürdigen Kandidaten für den ästhetischen Genuss gemacht. 10 Mit großer selbst an Konzeptkunst erinnernder Phantasie hat Danto die Unterscheidung des Ununterscheidbaren immer wieder eingekreist. Er fingiert Ekphraseis, Bildbeschreibungen ein und desselben Sujets, etwa eines Stilllebens aus roten Quadraten, unter der Überschrift: »Kunstwerke sind keine realen Dinge«, das von Barnett Newman stammen könnte. Zum einen fingiert er, wie Kierkegaard dieses Bild beschrieben haben könnte. Der religiöse Schriftsteller sähe darin wohl die Darstellung der Israeliten auf dem Weg durch das Rote Meer, wie sie sich im Nachhinein darstellt: »Die Israeliten waren schon vorbeigezogen und die Ägypter waren ertrunken.« Es bleibt das trockene Quaderrot. Ein anderer Betrachter könnte dasselbe Bild ›red square‹ (›Roter Platz‹) nennen, ein dritter zur indischen Erlösungsreligion tendierender ›Nirwana‹ und ein letzter könnte auch nur eine grundierte Leinwand des Meisters Giorgione darin sehen, der während der Arbeit vor grundierter Leinwand gestorben ist. Diese Vieldeutigkeit, bzw Deutungsoffenheit der Ekphrasis zeigt, dass Kunstwerke keine realen Dinge sind. Ähnlich zeigte der Strukturalist Jan Mukařovsky, dass die ästhetische Funktion ihre Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt/Main 1984, S. 17 ff., S. 252 ff. Vgl. zu den Bestimmungen: K. Lüdeking, Analytische Philosophie der Kunst. Eine Einführung. München 1998.

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›isolierende‹, auszeichnende Kraft gerade an Gegenständen und Komplexen erweist, die nicht primär ästhetisch sind. Die »Aboutness« macht ein Kunstwerk erst zu jenem Kunstwerk. ›Kommentarbedürftigkeit‹ und semantische Deutung werden damit zur Grundkonstituente von Kunst. Es ist eine ganze Atmosphäre von Kunsttheorie und Kunstgeschichte, die sich um das einzelne Werk legt. Erst in diesem Verweisungsnetz werden die Werke verständlich. Dieser Transfigurationsvorgang erschöpft sich dabei nicht in sozialen Deklarationsakten durch die Kunst- und Kulturszene. Er ist darauf nicht einmal abzustützen. Noch ein weiteres mögliches Missverständnis weist Danto zurück. Selbstverständlich sind auch Kunstwerke aus älteren, vergangenen Epochen kommentarbedürftig. ihre geschichtlichen Sinnlinien muss derjenige kennen, der sie deuten will. Dennoch bleibt ein gravierender Unterschied. Es ist geradezu Programm und Kompositionsgestus der neuen Kunst, die Nähe zu nicht vertexteten, nicht kunsthaften Phänomenen oder Entitäten zu inszenieren. Danto hat sich im Unterschied zu Goodman nicht am Kunstwerk als Einzelding, als ein »Individual« unter anderen, orientiert, Als ein solches, mit bestimmten Kriteriologien, ist das Kunstwerk gerade nicht hinreichend aufzufassen. Und anders als Goodman, hat er sich gerade um eine Ontologie, eine Erfassung des spezifischen Wesens des Kunstwerkes bemüht. Die Stärke liegt aber viel eher in Explikationen, die sich an einzelnen Werken entzünden. 11

Vgl. auch die späteren Arbeiten von Danto zur Ästhetik, insbes. Kunst nach dem Ende der Kunst. München 1996, und: Das Fortleben der Kunst. München 2000. Eine deutliche Kritik an philosophischen Versuchen, die Kunst auf den Begriff zu bringen, findet man bei Danto, Die philosophische Entmündigung der Kunst. München 1994.

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VIERZEHNTES KAPITEL:

Zwischen Kristallisationen – die Postmodernedebatte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts

1.) Die Auseinandersetzung um Fragen der Kunst in den achtziger Jahren war stark durch eine Situation charakterisiert, die man als ›Posthistoire‹ oder ›Postmoderne‹ zu bezeichnen sich angewöhnt hat. Als Stilbegriff hat ›Postmoderne‹ einen vergleichsweise präzisen Sinn nur innerhalb der Architektur, von der die Ausweitungen des Begriffs ihren Anfang nahmen. Gleichzeitigkeit verschiedenster Stile und Verfahrensweisen sollte die neue Stilrichtung kennzeichnen, sei es im skeptischen oder karnevalesk fröhlichen Bewusstsein, dass alle Möglichkeiten schon einmal vorgekommen seien und es nur noch Wiederholungen, Kristallisierungen geben könne. In diesem Zusammenhang sind auch Zweifel an einer fortwährenden Sukzession der Avantgarden artikuliert worden. Im Zusammenhang der Krisen, oder besser: der Selbsterschöpfung einer linearen Modernität ist die Rede von einer Wiedergewinnung der ›Bedeutung‹, einer Wiedergeburt der Archetypen. Gewiss, der Terminus, den Charles Jencks, ein bedeutender Architekturtheoretiker, verwandte, als er von der ›Postmoderne‹ sprach, hat eine ältere Genealogie. Er verdankt sich sogar originär der Literaturwissenschaft und er bezeichnet eine Konsumkultur, die die klassische Moderne in einer überall gleichartigen Weltkultur ersetzte. 1 ›Postmoderne‹ bringt dabei Revisionen und Korrekturen gegenüber einem linearen Funktionalismus an. Wie der Kunsthistoriker Heinrich Klotz pointiert bemerkte, geht es zugleich darum, dass neben und auch gegen den Internationalismus der Moderne regionale Prägungen und Kulturen wieder ihre Bedeutung gewinnen, dass geoDazu sehr prägnant J. Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Rede zum Empfang des Adorno-Preises 1980, in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 177 ff. Die dort dokumentierte Debatte ist mittlerweile historisch geworden.

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metrische Abstraktionen durch den gelebten, gerundeten, geformten, nuancierten Raum korrigiert werden, dass das Bauwerk als Kunstwerk nicht lediglich funktional aufgefasst wird. Dies bedeutet auch, dass nicht die technische Utopie, sondern eine Poetik der Unbestimmtheiten im Kunstwerk sichtbar ist; sodann dass an die Stelle apparathafter Perfektion und Sterilität Improvisation tritt, der geschichtslosen Moderne die Geschichtlichkeit der Erinnerung entgegengesetzt wird. Die vermeintliche Autonomie der Form soll auf Orte, Landschaften und Kulturräume in Sensibilität und Integrationskraft reagieren. Einige Zeit zuvor, bereits zu Anfang der sechziger Jahre hatte Arnold Gehlen von ›Postmoderne‹ und ›Posthistoire‹ in anderem Sinn gesprochen. Gehlen verwies darauf, dass die Geschichte der Moderne an ihrem Ende angelangt sei. Keine große Ressource, die nicht schon da gewesen wäre. Es kann daher nur noch ›Kristallisationen‹ geben. Wirksam ist gerade die desillusionierende Maxime, es sei nur noch mit den eigenen Beständen zu rechnen. Die letzten großen Ereignisse seien, zumal in der Kunst, um das Jahr 1910 geschehen. »Ich exponiere mich also mit der Voraussage, dass die Ideengeschichte abgeschlossen ist und dass wir im Posthistoire angekommen sind, so dass der Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich: ›Rechne mit deinen Beständen!‹ nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist.« Es sei, so Gehlen weiter, außerordentlich unwahrscheinlich, dass noch weitere Grundlagenveränderungen im System sowohl der Ideen und Ideologien als auch der künstlerischen Formensprache auf den Plan treten würden. Der kalte Begriff der ›Kristallisation‹, der selbst im Arsenal der Moderne einen festen Ort hatte, ist eine recht genaue Metapher für diese Auffassung. »Die Buntheit, die Fülle und Wandelbarkeit der umspielenden Erscheinungen« verhülle die Starrheit der Grundentscheidungen. Beide Seiten seien aber zusammenzusehen. 2 Die verschiedenen Postmoderne-Konzeptionen bleiben zu unterscheiden. Der Teminus ›Postmoderne‹ blieb selbst nicht ohne Widerspruch. Jürgen Habermas wandte sich mit der Autorität der Aufklärung explizit gegen die Postmoderne. Dies geschah besonders prominent in der Dankrede zur Verleihung des Adorno-Preises 1980. Damit verwahrte er sich auch dagegen, Adorno als Theoretiker der 2

Vgl. A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation, in: Ibid., S. 133 ff.

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Postmoderne avant la lettre zu vereinnahmen. Habermas sprach dem neuen Epochenprofil geradezu die Berechtigung ab und deklassierte es zu einer Folie von Neokonservatismus und Reaktion. 3 Dem ist wiederum mit gutem Recht widersprochen worden. Denn die vermeintliche Ausgewogenheit von Funktionalismus und Formalismus in der Moderne ist fragwürdig. Auch in Kreisen der Architekten und Städtebauer erwies es sich als Problem, ob man einem Dogmatismus der ›guten‹, letztlich: einzig möglichen Form folgen könne. Der Terminus der Postmoderne ruft indessen, wo er über die Grenzen der Architektur hinausgehend gebraucht wird, noch weitergehende kunstphilosophische Probleme des gegenwärtigen Zeitalters auf den Plan. Zunächst: Kunsthistorisch oder in der Weise, wie ihn Toynbee am Ende seiner ›Study of History‹ zur Kennzeichnung des gegenwärtigen Zeitalters verwendet, ist er Aushilfe in der Schwierigkeit einer Orientierung und Bestimmung der eigenen Gegenwart, die in chaotischem Fluss und in permanenter Unübersichtlichkeit, Selbstüberholungsversuchen und rasendem Stillstand befangen ist. In der literaturhistorischen Debatte der späten fünfziger Jahre, in der er prominent wiederkehrt, ist mit der Rede von der ›Postmoderne‹ ein Werturteil verbunden. Man artikuliert auf diese Weise, dass nach dem großen avantgardistischen Aufbruch in der ersten Jahrhunderthälfte ein Abflachen, Abbrechen, Ermüden erkennbar sei. Damit verknüpft sich jedoch eine weitere folgenreiche Überlegung: Sollte die eklektizistische, fast alles ermöglichende und verbindende Postmoderne die Kraft haben, die Differenzen zwischen Eliten- und Massenkunst hinter sich zu lassen? Dann hätte sie tatsächlich epochalen Zuschnitt und Format, und sie bezeichnete nicht nur eine gehetzte Aufeinanderfolge ohne Trennschärfe, der gemäß in den Trendmagazinen bald von einer ›Post-post-Moderne‹ und Ähnlichem die Rede war. Postmodern indizierte im Sinn von Umberto Eco – und wohl auch von Charles Jencks – eine Mehrdimensionalität, die sich auf verschiedenen Ebenen goutieren und wahrnehmen ließen. Ein ›postmoderner‹ Roman ist vordergründig Unterhaltungsroman, der Spannung erzeugt. Er enthält aber auch

Habermas ibid. Die starke ›Musealisierung der Gegenwart‹ (H. Lübbe) und die Frage nach Sinnstiftungen, die seinerzeit aufbrach, verwies für Habermas offensichtlich auf ein und denselben Problemzusammenhang.

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Codierungen, Allusionen und ästhetische Valeurs, die sich erst nach und nach erschließen. Hier fällt das für die Postmoderne zwingende Stichwort der ›Pluralität‹, der Differenzen, Handlungen, Lebensweisen, Orientierungen, die nicht aufeinander reduziert werden können. Es ist klar, dass das Pluralitäts-Epitheton in der Kunst Faszinationskraft hat. Chronologien, Epochenschemata, Bindungen, Überwindung, Fortschritt, Wiederholung: all diese Kategorien und Gliederungsversuche haben keine lineare Bindekraft mehr, so wie dies in einer am Aufklärungsbegriff orientierten Moderne der Fall war. Daher kann postmoderne Kunst auch in besonderer Weise repetitiv sein. Dies muss noch nicht zwingend unter das Veto einer »technischen Reproduzierbarkeit« fallen. Was vergessen schien, was verdrängt wurde, es kehrt wieder und es muss sich nicht vor einem Gerichtshof der ›klassischen Moderne‹ und ihrer Nüchternheitsexerzitien rechtfertigen: etwa der Mythos, etwa der hohe emphatische Ton, wie ihn Mitte der achtziger Jahre Botho Strauß (›Der junge Mann‹) oder Christoph Ransmayr anschlugen. Oder man denke an Peter Handkes Romane, die in eine am Raum orientierte Beschreibungskraft die Evokation der Epiphanie einfügten. 2.) Die unauflösbare Differenz der ineinander nicht übersetzbaren Sprachen der Postmoderne zeigt auch die Grenzen des Aufklärungsprojektes im ethischen und politischen Raum. Lyotards Beispiel des Holocaust-Leugners einerseits und des Opfers jener Verbrechen andererseits, zwischen denen es eine verbindende Sprache nicht geben kann, hat dies verdeutlicht. 4 Verstehen ist zwischen voneinander getrennten Archipelen nur sehr bedingt möglich. Wenn man das zu Weltruhm gelangte französische Denken der achtziger Jahre in diesem Sinn zur Postmoderne zählt, so kommt ihm die Bedeutung zu, die Nicht-Identität und damit die Grenzen der Verständigung markiert zu haben. Die Anzeige der Grenzen der diskursiven Vernunft ist alles andere als Flucht in die Irrationalität. Mit der Postmoderne verband sich seinerzeit die Proklamierung des ›Endes der Meta-Erzählungen‹, der großen Orientierungen und J.-F. Lyotard, Der Widerstreit. München 1989; siehe hierzu die Rekonstruktion bei W. Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt/Main 1995, insbes. S. 303 ff.

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Lebens- bzw. Wissensgestalten. Postmoderne versagte sich der Grundaussage, die eine Epoche bündeln kann, so wie es das Paradigma der Emanzipation in der Aufklärung und die finanziellen Optimierungserwartungen im Kapitalismus taten. In der PostmoderneDebatte wird zu Recht festgehalten, dass die Kehrseite dieser linearen großen Erzählungen ein Zwangs- und Unterdrückungsinstrumentarium sei. Dies trifft nicht nur auf totalitäre Ideologien zu. Wolfgang Welsch führt Robert Musil ins Feld und seinen Kommentar zu der vollständigen zivilisatorischen universale Menschheitsordnung: »das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie.« 5 Ich versage es mir, die Debatte, die weit verzweigt, wenn auch philosophisch nicht immer sehr bedeutend verlaufen ist, in weitere Filiationen hinein zu verfolgen. Hinzuweisen ist aber darauf, dass manche Züge, die geradezu als Charakteristikum proprium der Postmoderne gelten, im Haushalt der Moderne bereits präfiguriert sind. Man denke an Max Webers Hinweis auf die Polyphonie, die »Mehrheit von Wertreihen«, die den »modernen Alltag« prägen. Es ist deshalb konsequent, wenn Albrecht Wellmer darauf hinweist, dass die in sich vieldeutigen, ja widersprüchlichen Symptome, die unter dem Signum der ›Postmoderne‹ erörtert werden, in Wahrheit Potentiale enthalten, deren auch eine ästhetische Moderne bedarf, um nicht zu versteinern und zu erlahmen. 6 Die Medien verändern sich schon in moderner Kunst ständig. Deshalb kommt einer neuen Aisthesis-Philosophie, die sich insbesondere auf die Medialität der Simulacra, die Auflösung des Werkbegriffs, aber auch (in der Folge der Kunst im Zeitalter technischer Reproduzierbarkei) die Auflösung der Trennung zwischen Kunst und Lebenswelt bezieht, große Bedeutung zu. Welt wird zum »techno-luminös-kinetischen Raum«. Darauf wird Kunst reagieren – sei es modern, postmodern oder in einer künftigen Hypermoderne. Die postmodernen Diagnosen stehen in engem Verhältnis zum heideggerschen ›Gestell‹ oder zu Benjamins ›Reproduzierbarkeit des Kunstwerks‹. Sie wenden diese aber ins Positive. Jean Baudrillard, W. Welsch, Einleitung, ibid., S. 1 ff. Das Musil-Zitat ist entnommen aus: Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1952, S. 464. 6 A. Wellmer, Kunst und industrielle Revolution. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, in: ibid., S. 247 ff. 5

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der nach Diagnosen Marshall McLuhans schon während der fünfziger und sechziger Jahre die Medialisierung der digitalen Revolution, des ungeheuren Kunstraumes der Cyber-Realität, wort- und begriffsmächtig beschrieben hatte, bemerkte unter anderem: »Es gibt kein Kunstwerk mehr, nur noch ein planetarisches Simulakrum (Abbild, Gebilde, Gestell), durch das eine ganze Welt über sich selbst (in Wirklichkeit über ihren eigenen Tod) Zeugnis ablegt.« 7 Er fügt an anderer Stelle hinzu: »Die Kunst und die Industrie können also ihre Zeichen austauschen: Die Kunst kann zur Reproduktionsmaschine werden (Andy Warhol) und dabei doch Kunst bleiben, weil die Maschine nur Zeichen ist. Und die Produktion kann jede gesellschaftliche Zweckmäßigkeit verlieren, um sich schließlich in fabelhaften, hyperbolischen und ästhetischen Zeichen zu bestätigen und zu glorifizieren: in den großen Industrieanlagen, in den Türmen von 400 m Höhe oder in den chiffrierten Mysterien des Bruttosozialprodukts.« 8 Dies hieße aber auch, dass Kunst nicht mehr der Fluchtraum eines Anders-sein-könnens ist, als den sie Adorno noch bestimmt hatte, geradezu ein Asyl des Heiligen, Rettenden, weil man dieses ganz Andere im Zeichen universaler technischer Vernetzung weder zu denken noch zu imaginieren hat. Allerdings hat Baudrillard auch deutlich die Tendenz der schönen neuen Welt umschrieben, am Ende in einem unterschieds- und bedeutungslosen Rauschen zu versinken. Dies ist seither ein klassischer Topos der Medienkritik geworden. McLuhans Studien werfen die Frage auf, ob der Verzicht auf eine nicht medial vermittelte Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung überhaupt noch Bedeutung und Transzendenz zu erzeugen vermag. Baudrillard spricht eben im Blick auf diesen Punkt vom Tod der Kunst und nimmt damit den alten hegelschen Topos auf. Er gebraucht ihn aber, »nicht nur weil ihre kritische Transzendenz tot ist, sondern weil die Realität selbst – vollständig von einer Ästhetik geprägt, die von ihrer eigenen Strukturalität abhängt – mit ihrem eigenen Bild verschmolzen ist.« 9 Die Crux ist also, dass sich nicht J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982, S. 118; Neuauflage Berlin 2010. 8 Vgl. den Sammelband W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, a. a. O., S. 160 f. Vgl. auch die Monographie W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 21988. 9 Wege aus der Moderne, a. a. O., S. 162. 7

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mehr sagen lässt, wo die Realität dessen ist, was simuliert wird. Vielleicht nämlich sei die postmodern installatorisch rauschende Medienwelt selbst ein riesiger unaufhebbarer Wahn, der an keinem ihm äußerlichen Kriterium mehr gemessen werden könne. Mediennetze, dahinter keine Welt mehr! Das coole Universum der Digitalität absorbiert das der Metapher und der Metonymie. Das Simulationsprinzip überwindet das Realitätsprinzip und das Lustprinzip. Dieses postmoderne Echo auf Hegels These vom ›Tod der Kunst‹ besagt bekanntlich nicht – auch nicht bei Hegel selbst –, dass nicht immer noch große Kunstwerke entstehen und dass Kunst als Institution an ihr Ende komme. Postmoderne neigen eher dazu, den Tod der Kunst als einen partiellen Erschöpfungszustand zu verstehen. Dazu kann man sich aber, wie Gianni Vattimos ›schwaches Denken‹, inkonsequenter und zugleich sehr viel hoffnungsvoller verhalten und die Postmoderne als Weckung eines ›schwachen‹, neuen Anfangs aus der Tradition gewordenen Moderne verstehen. Postmodernes Denken ist nach Vattimo ›schwach‹ und zugleich ›leicht‹, weil es verschiedene Geistformen und -gestalten der Vergangenheit frei gebrauchen kann, ›redigierend‹ und in neue Anfänge einwebend. Ein solches Denken ist immer ›hermeneutisch‹, unrein, es hat wesentlich ästhetische Impulse und es verhält sich ironisch distanziert gegenüber den Prinzipien und den Herrschaftsautoritäten der überlieferten europäischen Welt. 10 Baudrillard und Lyotard nehmen die Diagnose ungleich ernster. Sie würden bezweifeln, dass ein solcher Anfang überhaupt möglich ist. Peter Sloterdijk hat in seinen Anfängen eher die leichte Konzeption vertreten. Nur durch das ironische Spiel kann der Anspruch der Moderne auf prinzipielle Selbstüberholung gebrochen werden. Das Posthistoire ist gleichsam eine Heilung aus jener Selbstüberbietung. Die Moderne, so Sloterdijk, sei die erste Epoche gewesen, die nicht ein Ende und Eschaton der Geschichte jenseits von sich und sich gegenüber evozierte. Insofern sie in ihrer Selbstwahrnehmung durchaus zutreffend per se als posthistorisch zu verstehen. 11 ObjekIm Blick auf Vattimos verschiedene Arbeiten ist darauf hinzuweisen, dass die Kunst eher auf ein negatorisches, an den Grenzen sich bewegendes Denken als auf ein ›schwaches Denken‹ deutet. Vgl. hier pars pro toto: G. Vattimo, Das Ende der Moderne. Stuttgart 1990. 11 P. Sloterdijk, Nach der Geschichte, in: Welsch, Wege aus der Moderne, a. a. O., S. 262 ff. 10

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tiv erweist sich aber auch die Attitüde des ›Postmodernen‹ als durchaus überholbare und sogar faktisch überholte Geschichts- und Kunstepoche. So aufschlussreich, zwischen »wishful thinking« und Nötigung zu einer Beschreibung der Lage, die Postmoderne-Debatte verlaufen ist: Sie legt dem Künstler und ästhetisch urteilenden Menschen nahe, sich zu fragen, ob eine Negation der Kulturindustrie und der Kommunikation, wie sie Adorno in der Kunst suchte, noch möglich ist. Und sie neigt zu der Diagnose, dass es keine Fluchtpunkte mehr gebe. Gleichwohl wird Adornos Evokation eines Rückbezugs vom neuesten Neuen auf Anderes, Ältestes, Altes, das sich im Licht des Neuen verändert lesen lässt, durch Zeitdiagnosen nicht grundsätzlich ausgehebelt werden können. Solange aber bleibt eine Mächtigkeit der Kunst, die sich ihrer periodisierenden Verbuchung entzieht. 2.) Wichtiger vielleicht als die Moderne-Postmoderne-Debatte, die im Nachhinein deutlich Kind des ausgehenden Kalten Krieges und einer Mode ist, ist die semiotisch semiologische, auf das Lesen von Zeichen zielende Hermeneutik der Dekonstruktion, die sie mit sich brachte. Roland Barthes hat die Semiotik gleichsam in ihrer Nacktheit erscheinen lassen. Barthes hat die Verbindung von Zeichen und Mentalität am Mythos verdeutlicht. Seiner bedient sich, wie Barthes mit großer Sensibilität zeigt, allerdings gerade auch die moderne Alltagswelt bis hinein in die Werbung. Alles könne Mythos werden. Nicht nur die Kunst, sondern auch die Massenkommunikation, die immer weniger rationalen Mustern folgt, übt mythenschaffende Kraft aus: »Jeder Gegenstand der Welt kann von einer geschlossenen, stummen Existenz zu einem besprochenen, für die Aneignung durch die Gesellschaft offenen Zustand übergehen, denn kein natürliches oder nichtnatürliches Gesetz verbietet, von den Dingen zu sprechen.« 12 Das Zeichen (le signe) liegt jedem Mythos zugrunde, denn Zeichen sind, dies die Pointe bei Barthes, gerade nicht isoliert zu deuten. In ihnen verbindet sich bezeichnende Objektsprache mit einer Metasprache, in der von der ersten gesprochen und das Bedeutete auf diese Weise selbst präsent wird. Barthes exemplifizierte dies am Rosenstrauß als Zeichen für einen Altagsmythos. »Ich lasse ihn meine Leidenschaft bedeuten. Gibt es hier nicht doch nur ein Bedeu12

R. Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt/Main 1964, S. 85.

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tendes und ein Bedeutetes, die Rosen und meine Leidenschaft? Nicht einmal das, in Wahrheit gibt es hier nur die ›verleidenschaftlichten‹ Rosen. Aber im Bereich der Analyse gibt es sehr wohl drei Begriffe, denn diese mit Leidenschaft besetzten Rosen lassen sich durchaus und zu Recht in Rosen und Leidenschaft zerlegen. Die einen ebenso wie die andere existierten, bevor sie sich verbanden und dieses dritte Objekt, das Zeichen, bildeten.« 13 Die Wirkung solcher Mythen ist gleichsam ›exzentrisch‹. Sie verwandelt, so sagte Barthes einmal prägnant, Geschichte zurück in Natur. Deshalb können Mythen gleichermaßen befreiend und manipulatorisch sein. Damit unternimmt auch die Semiologie einen Rückbezug auf das Residuum der Natur, ähnlich wie es Adorno tat. Und das ›wilde Denken‹ (›Pensée sauvage‹) im Strukturalismus von Lévi-Strauss ist in seinen Intentionen nicht allzu weit davon entfernt. Die strukturelle Entschlüsselung des Mythos soll ermöglichen, unartikuliertes Außerbewusstes fassbar zu machen, etwa Verwandtschaftsbeziehungen. Barthes spricht sogar vom Aufspüren der Humanität, in den Alogismen, Verwicklungen, Widersprüchen, die den – einmal fixierten – Mythos weiter ausfigurieren und seinen Streuungen folgen. Barthes' Semiologie rekurriert ausdrücklich auf den linguistischen Strukturalismus Ferdinand de Saussures mit seiner grundlegenden Unterscheidung zwischen dem sprachlichen Zeichensystem ›langue‹ und der ›parole‹, der konkreten, aktualisierten Rede. 14 Analog dazu unterscheidet Barthes zwischen dem ›Paradigma‹, einem jeweiligen Zeichenreservoir, und dem ›Syntagma‹, der semiotisch ästhetischen Realisierung. Snytagmatisch werden Elemente aus verschiedenen Paradigmata verbunden und kombiniert. Andere Elemente bleiben unrealisiert, Terme ›in absentia‹, doch können sie gleichsam assoziativ mit in Betracht gezogen werden, als textimmanente Kontexte (›Kotexte‹) und textexterne Kontexte, als ›Hintergrund‹, wenn man es in der Sprache der Phänomenologie fassen will. Indes hat Barthes sehr früh, kaum war sie etabliert, sich von der schulhaft dogmatisch fixierten Semiologie abgewandt, die sich in solchen Terminologien ausbildet. Er sucht nach den ›exzentrischen Kräften der Moderne‹, und zwar auf zwei diametral entgegengesetzIbid., S. 90; siehe auch als besonders interessante Fortsetzung der semiotischen Philosophie: ders., Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt/Main 2008. 14 F. de Saussure, Grundkurs der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967. 13

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ten, jeweils für die Genese des Ästhetischen höchst aufschlussreichen Wegen. Zum einen im Blick auf das Grenzphänomen des nichts bedeutenden Zeichens. Hier waren eine Japanreise Ende der sechziger Jahre und das Studium der japanischen Zeichen von initiierender Bedeutung. Er dokumentierte die Einsichten in der Monographie ›L’empire des signes‹ (›Das Reich der Zeichen‹). Barthes konstatiert, dass der Zustand, der im Zen-Buddhismus ›Sartori‹ genannt wird, also in etwa das Wortfeld von ›Erleuchtung, Offenbarung, Schau‹ aufspannt, in eine Schwebelage führt, in einen gleichsam »panischen« Zwischenzustand der Sprache. Hier ergebe sich »die Leerstelle, die in uns die Herrschaft des Codes auslöscht, der Bruch in unserem inneren Monolog, der für unsere Person (doch) konstitutiv ist.« 15 Der Sinn wird in jener erfüllten Leere gerade daran gehindert, sich ungemindert zu zeigen. Auf seine Wurzel wird so eingewirkt, dass Verborgenheit bleibt: Ganz ähnlich wie in der heideggerschen Umhüllung der Wahrheit Aletheia durch eine bleibende, dauernde Lethe. Umgekehrt hingegen suchte Barthes in seiner letzten eigenständigen Publikation: ›La chambre claire‹ (›Die helle Kammer‹, 1980), nach dem Punkt, an dem das ›réferent‹ ohne Codes dargeboten werden kann. Und er findet dies, ähnlich wie Walter Benjamin, in der Fotografie, nämlich dort, wo diese nicht inszeniert ist. Das Amateurfoto ohne Arrangement ist hier das sprechende Paradigma. Was auf einem solchen Foto gezeigt wird, muss ›da‹ gewesen sein. Es stellt sich jedoch zugleich das Mitwissen ein, dass die Präsenz ausgelöscht ist, vergangen im Flug der Zeit. Die Suche nach der reinen Referenz wird immer weiter getrieben. »Man denke sich einen Menschen, der alle Klassenbarrieren, alle Ausschließlichkeiten bei sich niederreißt, der alle Sprachen miteinander vermengt, mögen sie auch als unvereinbar gelten, der stumm erträgt, dass man ihn des Alogismus zeiht, der sich nicht beirren lässt vom Gesetzesterror. Ein solcher Mensch wäre der Abschaum unserer Gesellschaft: Gericht, Schule, Irrenhaus und Konversation würden ihn zum Außenseiter machen. Dieser Antiheld (aber) existiert: es ist der Leser eines Textes in dem Moment, wo er zweckfreie ästhetische Lust empfindet. Der alte biblische Mythos kehrt sich um, die Verwirrung der Sprache ist keine Strafe mehr, das Subjekt gelangt zur Wollust durch 15

Barthes, Das Reich der Zeichen. Frankfurt/Main 1981.

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die Kohabitation der Sprachen.« 16 Der Turmbau zu Babel firmiert hier also als Verweis auf den verborgenen Grund des semiotischen Aktes: das in Rede und Diskurs und erst recht in der Kunst niemals in die volle Präsenz zu bringende Entzogensein des ›réferent‹ gegenüber dem jeweils in concreto Bezeichneten, dem ›signifié‹. Man könnte meinen, in authentischer Liebe diese Deckungsgleichheit zu erreichen, in einem Zusammenspiel des Einen und Anderen. Ein solcher Eindruck täuscht indes, wie Barthes zeigt. Seine »Fragments d’un discours amoureux«, deutsch wenig glücklich übersetzt als ›Fragmente einer Sprache der Liebe‹, haben diese Linie weiterverfolgt. Die Aufsuchung eines anarchischen, also frei sich aussagenden Zustandes der Liebe bleibt vergeblich. Selbst unsere Assoziationen sind »niemals anarchisch«. Man mag auch meinen, man sei durch große Kunst in einen absoluten Imaginationszustand versetzt. Doch auch dies sei eine Täuschung. Denn auch »die subjektivste Lektüre ist immer nur ein Spiel nach bestimmten Regeln«. Barthes hat die Zeichenschrift in ihrer Zartheit und Andeutung so zu lesen versucht, dass sie – in ihren Abdrücken aufgesucht und im Moment ihres Verschwindens festgehalten – selbst zu einer Signatur der Sprache der Kunst wird. Beide Momente, die Faszination durch das japanische ›Satori‹, den Erleuchtungszustand, und die Suche nach dem außerkonventionellen Referenten sind zwei Seiten einer Medaille. 17 Die Semiosen Barthes’ geben damit ein Grundmotiv zu verstehen, das angesichts des offenen Kunstwerks zwischen Moderne und Postmoderne immer neu zu reflektieren bleibt: dass nämlich Präsenz sich nicht erzeugen und festhalten lässt. Adornos zentrale Einsicht, dass das eminente Kunstwerk Kommunikation und Konsumtion entzogen ist, hat diese Einsicht schon präfiguriert. 3.) Als Filiationen des semiotisch semiologischen Kontexts, seien die Schriften Umberto Ecos, ›Das offene Kunstwerk‹ (1973), das auf James Joyce fokussiert war, und ›Die Grenzen der Interpretation‹ (1992) ins Spiel gebracht. Moderne Kunst bewegt sich nach Eco in einer Spannung, die in der ›Postmoderne‹ weiter reflektiert wird: Der Schaffende »so kann man sagen, bietet dem Interpretierenden 16 17

R. Barthes, Die Lust am Text. Frankfurt/Main 1980, S. 8. Dazu Barthes, Das Rauschen der Sprache. Frankfurt/Main 2006.

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ein zu vollendendes Werk: er weiß nicht genau, auf welche Weise das Werk zu Ende geführt werden kann, aber er weiß, dass das zu Ende geführte Werk immer noch sein Werk, nicht ein anderes sein wird.« 18 Es ließe sich auch von einem ›Kunstwerk in Bewegung‹ sprechen, mit der Möglichkeit einer ›Vielzahl persönlicher Eingriffe‹, die aber nicht rein willkürlich ist, sondern spielende Einfügung in eine Welt der Kunst. In diesem Zusammenhang spielt, bei Eco rezipiert aber nicht ausgeschöpft, die Semiologie von Charles Sanders Peirce eine entscheidende Rolle. Sie legt nicht nahe, den Werk- und auch den Objektbegriff aufzugeben. Der ›Text‹ erscheint aber, was von Peirce kunstartenübergreifend gemeint ist, als ›dynamisches Objekt‹, dem ein ›unmittelbares Objekt‹, der ›réferent‹ im Sinn von Barthes unterliege. Peirce sprach bereits von der ›Abdrift‹ dieses Objektes. Es ist nicht ›hier‹. Es bleibt in der Absenz mit im Spiel, ist es doch ›irgendwo‹ gewesen. Damit ist auch das Grundproblem des frühen Derrida benannt. Die systematisch weitreichendste Implikation solchen semiosehaften Deutens und Lesens ist in Derridas Begriff der ›Différance‹ philosophisch exponiert worden. ›Différance‹ ist die Möglichkeit von metaphysischer Begrifflichkeit überhaupt, aber selbst nicht begrifflich bestimmt. Durch jeweilige Verweisungszusammenhänge, eine ganze Flucht von Differenzen, wird Präsenz und damit auch die Lösung der tradierten metaphysischen Fragen aufgeschoben. In jedem Deutungsakt entsteht ein Text aus Schriften, die sich wechselweise durchdringen, umschreiben, überschreiten. Der Text, man könnte auch sagen: das Werk »ist kein Zentrum. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung«. Die Dekonstruktion ist und kann nach Derrida gerade nicht Destruktion sein, also ein Abbau, von dem aus man, wie es Heidegger in ›Sein und Zeit‹ nahelegte, auf die originär gegebene Sache selbst hindurchdringt. Sie deckt Dispositive auf und Medialitäten der überlieferten philosophischen Diskurse. Deshalb ist, zumal im ästhetischen Zusammenhang, auch die Theorie der Dialogizität und Intertextualität, ausgehend von den Schriften Michail Bachtins, die unter den Literaturhistorikern um Julia Kristeva und den Kreis ›Tel Quel‹ kursierten, von Bedeutung. 18

U. Eco, Die Grenzen der Interpretation. München 1992, S. 55.

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Bachtin begreift lange vor Roland Barthes’ Rede von den ›Termen in absentia‹ das Gesagte und die gesetzten Worte als Auseinandersetzungen mit und Verweise auf Nicht-Gesagtes, Angedeutetes. Zu Kunst verhält sich diese Denkweise, anders als zum philosophischen Denken, das auf Allgemeinbegriffe nicht verzichten kann. Sie hält deren eigene Aufschubbewegung offen, die Verzögerung des Spurenlesens, die den Ursprung in seiner Entzogenheit fassen lässt. Eine solche Philosophie ist selbst genuin ästhetisch, auch wenn sie keineswegs nur nach der Ästhetik fragt, sondern die Philosophie selbst transformiert.

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DRITTER TEIL:

Lebensästhetiken des Gebrauchs und der Performanz

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FÜNFZEHNTES KAPITEL:

Lebenskünste oder: Die andere Ästhetik – über die Schönheit des Dienlichen

I.

›Verweisen‹ und ›Bedeuten‹ – Grundzüge einer Philosophie des Designs

Das Verhältnis von ›Verweisen‹ und ›Bedeuten‹ führt in eine Herzund Schatzkammer der Philosophie. Es ist im griechischen Mythos zunächst der Herr von Delphi, Apoll, der ›verweist‹ und ›deutet‹ – und damit etwas zu verstehen gibt. Dies bedeutet auch: Er spricht nach der hymnischen, vorklassischen Überlieferung nicht aus, noch verschweigt er. In seinem Orakel deutet er vielmehr an. Apoll wurde nicht ohne Grund zum Gott der Künstler und gleichermaßen der Philosophen. Schon die Etymologie belegt die Verwandtschaft: A-pollon bedeutet der ›Nicht-Viele‹. Damit wurde er auch zur Gottheit der Philosophen, denn sie sollten sich gerade nicht an die Vielheit der Erscheinungswelt halten, sondern an das Nicht-Viele oder Eine der Idee. Apollon ist deshalb, man weiß es, auch der Gott der Schönheit. Und eben in diesem Doppelcharakter liegt ein Problem: denn zwischen Denken und Sinnlichkeit begründete die griechische Weltweisheit eine Kluft, und der Begriff eines ›Sinnenbewusstseins‹ versteht sich, zumindest für den vom okzidentalen Rationalismus geprägten Philosophen, keineswegs von selbst. Was kommt zu Bewusstsein, wenn die Sinnlichkeit spricht? Man sieht sich diesem weiten Horizont ausgesetzt, wenn man fragt, worauf und wie denn ein Entwurf verweist und worin der Gradmesser seiner Schönheit liegt. Eine Antwort wäre: »auf sich selbst.« Zugleich verweist er damit auf das jeweilige individuelle Leben, auch wenn dies nicht immer so emphatisch geschehen muss wie in Rilkes ›Archaischem Torso Apolls‹ : »Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. / Du mußt dein Leben ändern.« Arthur C. Danto hat von der »Entmündigung der Kunst durch die Philosophie«

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gesprochen. 1 Diese erscheint ihm, aus eingehenden Studien zur Geschichte der Ästhetik und der Kunst, gleichsam als ein Minotaurus, der die Konkretionen der Kunst im Maul hält und sie zu verschlingen droht. Danto meint, dass dieser subtile Wahnsinn Methode hat: die Fixierung der Kunst auf Schönheit und Erhabenheit, ihre Versetzung an den Ideenhimmel sei auch ein Mittel, damit die Philosophen nicht genau hinsehen und hinhören müssen. Ihrer Aufmerksamkeit entgeht, wie Kunst in das konkrete Leben einbezogen ist. Die Kunstphilosophie würde diesen Mangel gewiss kompensieren können, wenn sie sich dem Lebenszusammenhang und den Gebrauchsdingen zuwenden würde. In der Sphäre von Design und Gestaltung kann sich der Blick einer nicht entmündigenden Kunstphilosophie am ehesten an alltäglichen Sujets bewähren. Wenn man auf Entwurf und Design achtet, bewegt man sich jedenfalls am Rand der klassischen Themen der Ästhetik, da man es nur am Rand mit dem ästhetischen Urteil zu tun hat. Vielmehr soll das Verhältnis von Werk und seiner Wahrnehmung, auch der lebenspraktischen, selbst in Rede stehen. ›Verweisen‹ und ›Bedeuten‹ sind beide in einem doppeldeutigen Sinn sowohl auf die Ethik wie auf die Ästhetik gerichtet. Auch dies hat Anhaltspunkte bereits in der griechischen Begriffssphäre, die ›kalon‹ und ›agathon‹ nahezu synonym fasst. Eine späte Entsprechung findet sich in dem (eingeklammerten) Satz in Wittgensteins legendärem »Tractatus logico-philosophicus«, Nr. 6.421: »Ethik und Ästhetik sind Eins.« Das gute Leben ist also zugleich ein schönes und ein gelingendes Leben, in dessen Zusammenhang auch die sittliche Handlung gehört. Dazu bedarf es einer schönen Lebenswelt und der Behausungen und Gegenstände, die ein solches Leben fördern. Der griechische Begriff der Tugend (›areté‹) ist nicht von Anfang an moralisch qualifiziert. Man spricht von der ›areté‹ eines Pferdes oder eines Tisches; und man meint damit, das jeweilige Seiende sei tauglich für seinen Zweck (sein ›idion ergon‹). Im Zusammenhang einer Philosophie des Entwerfens ist deshalb an vier Denkformen zu erinnern, mit denen sich jeweils ein bestimmter sachlicher Ansatz verbindet.

Arthur C. Danto, Die philosophische Entmündigung der Kunst. Aus dem Englischen von Karen Lauer. München 1993, S. 23 ff.

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›Verweisen‹ und ›Bedeuten‹

1.) Als Nietzsche seine ›Artistenmetaphysik‹ in den frühen siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Rückgriff auf das tragische Zeitalter der Griechen formulierte, verfolgte er eine doppelte Zielrichtung: Er wandte sich einerseits gegen den epigonalen Klassizismus seiner Zeit und die Schulmeinung, die griechische Kultur sei eine Kultur von Kindern gewesen und ihre schönen ebenmäßigen Formen taugten der Bürgerwelt zu verbrämendem Dekor und Sinnstiftung. 2 Zugleich richtet sich Nietzsches philosophischer Ansatz gegen eine Wissenschaftskultur, die immer mehr weiß, einen ungeheuren Schatz der Erinnerung angehäuft hat, aber ihr Wissen nicht mehr produktiv werden lassen kann. Nietzsches Frage ist daher, wie die alteuropäische Kultur in kritischer Wiederaneignung all des Vergangenen eine eigene plastische Kraft gewinnen kann. Deshalb stößt er auf zwei Entdeckungen, die ihn künftig in Atem halten sollten. Er erkennt, dass die schöne Form, die in der griechischen Plastik hervortritt, aus dunklen Anfängen hervorgeht. Diese gilt es, wie in der Archäologie, aufzugraben, und damit gilt es, über den Horizont des Klassischen und der Polis hinauszusehen auf den sich selbst zerreissenden und vernichtenden Gott Dionysos und auf seine Gegenkraft Apoll. 3 Kultur bedeutet, den dunklen Daseinsmächten Leben abzuringen. Für Nietzsche ist es geradezu eine Maxime, so zu existieren, dass man ihnen standhält. Gottfried Benn hat dieselbe Richtung in einer Gedichtzeile exemplarisch beschworen: »Der dunkle Grund, auf den du angewiesen« (›Forsythien‹). Der zweite Ansatz führte Nietzsche zu einem spezifischen Verständnis der Sprache, das die Keimzelle seiner Explikation der Wahrheit und seiner Philosophie der Kunst ist. Die Sprache erschließt sich nicht vom Begriff, sondern von Metapher und Metonymie her. Die Ränder des sinnvoll Auszusprechenden sind die Wurzeln der Sprache. Aus dem Chaos ist durch Festlegung begriffliche Ordnung und Form zu gewinnen. Doch bei aller Fixierung und Behexung durch Sprache, die Nietzsche immer wieder beklagt: Er weiß, dass die Welt ein Rätsel bleibt, ein X, das beschreibbarer und damit bewohnbarer zu machen, nicht aber zu erkennen ist. Nietzsches Schriften werden im Folgenden nach der Historisch-Kritischen Studienausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari zitiert. München 21988. Das Kürzel lautet KSA, mit anschließender Band- und Seitenzahl. 3 Vgl. Georg Picht, Kunst und Mythos. Stuttgart 21987, S. 543 ff. 2

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Deshalb kann Nietzsche sagen, Wahrheit sei eine Illusion, ohne die eine bestimmte Spezies natürlicher Wesen, als die er mit kaltem Blick die Menschen versteht, nicht leben könnte: die klugen Tiere im Kosmos, die einmal das Erkennen erfanden. In der außermoralischen Perspektive, die Nietzsche einzunehmen sucht und die nicht mit der a-moralischen Perspektive zu verwechseln ist, ist zu erkennen, dass die Wahrheit aus der Lüge geboren ist. Die Menschen sind tief verstrickt in die Bindungen der Täuschung. Selbstverständlich und damit unbewusst sei sie ihnen geworden. Eine gelassene, sein-lassende Stiftung des Friedens zwischen Mensch und der Erde sei möglich »nur durch das Vergessen jener primitiven Metaphernwelt, nur durch das Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz.« 4 Hier wird ein erstes Problem sichtbar: Kunst ist für Nietzsche Deutung, Teil des Verweisungsgefüges, in einem schier unendlichen Verständigungsprozess. Deshalb ist Nietzsche zufolge alle Kunst letztlich auf Lebenskunst bezogen. Sie wird zur fragenden Suche nach einer Wahrheit, die nicht einfach das Vorgegebene hinnimmt, auch nicht die vermeintliche Gegebenheit des eigenen Bewusstseins. Nietzsche fragt tiefer nach dem »geheimnisvollen Wie der begegnenden Dinge«, wie man an den folgenden, epitaphhaften Sätzen, dem letzten Abschnitt der Vorrede zu einem nicht geschriebenen Buch »Über das Pathos der Wahrheit« erkennen kann: »O der verhängnißvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. ›Laßt ihn hängen‹, ruft die Kunst. ›Weckt ihn auf‹, ruft der Philosoph, im Pathos der Wahrheit.« 5 4 5

Nietzsche, KSA 1, S. 883. Hervorhebungen im Original. Ibid. S. 760.

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›Verweisen‹ und ›Bedeuten‹

Die Kunst ist stärker, so schließt Nietzsche, denn der Philosoph versinkt im Ideenschlummer, während er doch an die Wahrheit zu rühren meint. »Die Kunst aber will das Leben, und die Philosophie erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung.« 6 Von dieser Einsicht her geht Nietzsche, der Wahrheitssucher und Gewissheitszerstörer, auf die Suche nach der Form als der Verbindung von Einheit und Vielheit. Und er geht auf die Suche danach, wie diese Form zugleich zu einem Ethos des Lebens des Einzelnen und zum befriedeten Leben in der Sozialität führen könnte. Eine Randbemerkung ist gerade im Blick auf die Probleme des Entwerfens und der Lebensgestaltung von markantem Interesse. Wenn man mit Nietzsche nach der ›guten Form‹ sucht, so wird man erkennen, dass er mit guten Gründen diese Form nicht als wissenschaftlich oder moralisch deduzierbar ansah und mithin auch nicht als eine ein für alle Mal feststehende ›wahre Form‹. Bedeutet dies dann umgekehrt, dass die Kategorie einer ›wahren‹ oder der ›guten‹ Form, von der auch Otl Aicher, der Philosoph unter den Gestalten und Gestalt unter den Philosophen, sprach, überhaupt hinfällig würde? Dies muss nicht zwingend der Fall sein. Nietzsche schlug selbst eine andere Richtung ein. Er orientierte sich an der Sphäre des Gebrauchs. Damit berührt sich Nietzsche, der zeitlebens nach außen hin als Antiplatoniker auftrat, mit einem genuin platonischen Gedanken. Denn die platonische Dichter- und Nachahmungs- (Mimesis-)Kritik im zehnten Buch der ›Politeia‹ wird von der Auffassung bestimmt, dass das Urbild (paradeigma) die Idee des jeweiligen Seienden sei, das Abbild hingegen das hergestellte, seiende Ding. Die nachahmenden Künste können daher nur ein Abbild des Abbildes geben. Nur im Gebrauch und für den Gebrauchenden zeigt sich, ob eine Form gut bzw. wahr ist oder nicht. Daher ist jeder Entwurf am Gebrauch revisionsbedürftig. Der gute Gebrauch wird damit zum Kriterium von Bewahrheitung oder Falsifizierung. Deshalb wiegt der platonische Vorwurf für Nietzsche schwer, 7 dass die Nachahmer über den Gebrauch nicht Rechenschaft zu geben wüssten und dass es – etwa – keine homerische Lebenskunst gebe. Die Idee (eidos) der Form ist hier freilich nicht aus einer KSA 1, S. 760. Dazu Manfred Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung. Stuttgart 1998.

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Epistemologie, sondern aus einem Alltagswissen gewonnen. Dieses stellt sich nicht mit einem Male ein. Es erfordert einen Weg. 2.) Heideggers Nachdenken über die Kunst, das sich nicht auf eine spezifische Epoche, schon gar nicht auf die europäische Moderne bezieht, sondern in seiner Holzschnittartigkeit, Grundsätzlichkeit und Einfachheit wie aus der Werkstatt eines Handwerkers kommt, kreist insistierend um die Frage, was denn der Charakter des Entwurfs sei. Heidegger selbst sprach etwas kryptisch von der Kunst als »InsWerk-Setzen der Wahrheit«, aber er konturiert diese Redeweise von seiner Explikation des ›Entwerfens‹ her. Dies wird, wie wir weiter oben im Umriss sahen, langsam vorbereitet, indem Heidegger das Kunstwerk vom Ding aus versteht: Kunst von der Natur, die Skulptur vom Granitblock, die Form vom Stoff her. Heidegger geht gerade nicht, wie die klassische philosophische Ästhetik, 8 von autonomen, rein um ihrer selbst willen seienden Kunstwerken aus. Er hat vielmehr solche Werke im Blick, die wie der griechische Tempel einer Landschaft abgerungen sind und in einen menschlichen Lebenszusammenhang verweisen. Van Goghs Bauernschuhe, die sprachliche Nachbildung des Wassers in Conrad Ferdinand Meyers Gedicht ›Ein römischer Brunnen‹ geben seinen Erwägungen ihren Leib und ihre Konkretheit. Heideggers Wahl des Beispiels folgt einer guten philosophischen Sitte: ›katakathizestai‹, es in kleinerer Münze zu geben. Dies war auch schon das Provozierende am Vorgehen des Sokrates. Heidegger erinnert daran, dass Kunst vom griechischen Wort ›techné‹ kommt. Dies bedeutet zunächst ›Fertigkeit‹ und ›List‹. Der Technit ist der Handwerker, so unterstreicht Heidegger immer wieder im Konnex seiner Kunstphilosophie. Wiederum mag ein griechischer Rückgriff erschließend sein: Sokrates versuchte zu zeigen, dass die Techné eine Art von Wissen ist, freilich ein Wissen, das sich im praktischen Handeln vollendet, nicht in der Theorie. Sie geht aber auch nicht im dumpfen Machen auf. Techné ist vielmehr ein Wissen um das Her-vor-bringen. Über das Verhältnis zwischen Nietzsche und Platon vgl. im näheren meine Bücher: Erster und anderer Anfang. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens. Weimar u. a. 1999 und: Wege zur Einsicht. Eine Einführung in Nietzsches Philosophie (im Erscheinen für 2016).

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›Verweisen‹ und ›Bedeuten‹

Der Entwurf ist – mit Dürer – Riss. In Heideggers Sprache »Der Streit [zwischen Welt und Erde; H. S.] ist kein Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit des sich Zugehörens der Streitenden. Dieser Riß reißt die Gegenwendigen in die Herkunft ihrer Einheit aus dem einigen Grunde zusammen. Er ist Grundriß.« 9 Der Riss ist nach Heidegger Entwurf, insofern er ein »dass es sei« ermöglicht und aus dem Stoff heraustreten lässt. Diese eröffnete Möglichkeit bestimmt Heidegger als Welt. Bemerkenswert an diesen Bestimmungen ist, dass sie nicht in der akademischen Sprache der Ästhetik formuliert sind. Heidegger gebraucht eine Bildsprache. Wenn von ›Welt‹ und ›Erde‹ die Rede ist, so tut sich ein Erfahrungsraum auf. Die Position des ›interesselosen Wohlgefallens‹ wird allein durch diese Verkettung der Bilder unmöglich. Dabei ist entscheidend: Der Entwurf ist nicht mit Nachahmung (mimesis) zu verwechseln. Deshalb befinden sich diejenigen, die als passive Betrachter ein Kunstwerk wahrnehmen, im Sinn Heideggers in einer anderen Stellung zu ihm, als sie der bürgerlichen Ästhetik eigen ist. Sie finden sich nicht als Rezipienten, nicht als ästhetisch Urteilende, auch nicht als tendenziell Nachschaffende vor. Sie halten sich vielmehr in der Nähe des Werkes auf und gehen mit ihm um. »Für die Bewahrung erst gibt sich das Werk in seinem Geschaffensein als das wirkliche, d. h. jetzt: werkhaft anwesende.« 10 Man könnte an dieser Stelle von einer impliziten Auslegung durch den Umgang sprechen, und es legt sich vielleicht der Eindruck nahe, dass Heidegger um dieser erschließenden, sprachhaften Dimension willen das Problem der Sprache an das Ende seiner Abhandlung stellt und gleichsam alle Kunst auf die Sprache zurückführt. In der Sprache erfährt die Bewegung des Entwerfens ihre unmittelbare Fortsetzung: »Solches Sagen ist ein Entwerfen des Lichten, darin angesagt wird, als was das Seiende ins Offene kommt.« 11 Heidegger trifft erst an dieser Stelle seine markante Unterscheidung zwischen den Gebrauchsdingen, die er ›Zeug‹ nennt, und dem Kunstwerk. In jenen ist das ›Neue‹, der Augenaufschlag des ›Dass!‹ kaum artikuliert verborgen. Er wird erst im lebensweltlichen

Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, a. a. O., S. 65 f. Ibid., S. 67. 11 Ibid., S. 75. 9

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Gebrauch sichtbar. Im Kunstwerk tritt dieser Zug dagegen gleichsam ek-statisch hervor: als Anstoß, Widerstand, auch als Skandalon. An dieser Stelle kann man den Ort des Risses in der poietischen Handlung des Entwerfens und Gestaltens erkennen. Er ist zwischen Gebrauch und Funktion situiert. Daher vollzieht sich die Faktur des Risses auch im Zusammenhang jener technischen Welt, die Heidegger wortmächtig als ›Gestell‹ bestimmt und gezeigt hat, dass sie ein authentisches Welt- und Selbstverhältnis gefährdet. Man kann sich von Heidegger her fragen, was Otl Aicher mit der Formulierung Machen als Tun umschrieben hat. Aicher hätte, wenn ich ihn richtig verstehe, niemals mit Heidegger in einen Zusammenhang gebracht werden mögen. Schon aus politischen Gründen nicht. Aber in der Sache beschreibt die Handwerksmaxime ›Machen als Tun‹ sehr genau Heideggers Position. Denn in dem als wird deutlich, dass das Machen selbst eine Tätigkeit ist, die auf diese Weise noch keineswegs mit ›Handeln‹ gleichgesetzt werden darf, aber doch auf das Handeln transparent wird und der Manifestation in Lebensformen bedarf. Kunst selbst gehört beiden Sphären an: der ›Poiesis‹ und der ›Praxis‹. Insofern sie ›Denken‹ zur Darstellung bringt, verweist sie überdies auch in die Sphäre der ›Theoria‹. Welt und Erde sind Symbole, die den Zusammenhang und zugleich den Gegenhalt von Stoff und Form, Natur und Kunst artikulieren. In seiner Kunstwerkabhandlung ebenso wie in den späteren Vorträgen über das Wesen der Technik hat sich Heidegger gegen die Reduzierung auf den Stoff-Form-Dualismus und die aristotelische Grundidee einer Entwicklung des Stoffes zur Form gewandt. Es ist die Widerständigkeit des Materials, das selbst als Ordnungsund Schönheitsmoment zu begreifen ist. Keineswegs ist der Stoff nur eine Kontingenz, die es durch einen intelligiblen Entwurf zu überformen gilt. Otl Aicher hat, sicher zu Recht, mehrfach auf der Fremdheit zwischen Architektur und Philosophie bestanden. Denn die Architektur kann nicht im traditionellen Stoff-Form-Verhältnis beschrieben werden. Aicher griff meist auf Wittgenstein zurück, um diese Differenz aufzubrechen. In der Sache könnte er zumindest ebenso gut auch mit Heidegger in Zwiesprache treten. Denn, obwohl wir Heidegger nicht die Erfindung eines Türgriffs verdanken, scheint es doch kein Zufall zu sein, dass sich seine Philosophie des Entwurfs in einer Philosophie des Bauens und Wohnens vollendet. 370 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

›Verweisen‹ und ›Bedeuten‹

Das Phänomen des Wohnens versteht Heidegger etymologisch von ›fride‹ her (im alten Wort ›Burgfried‹ begegnet noch dieselbe Wurzel) – und er kommt so zu dem Leitsatz: »Der Grundzug des Wohnens ist das Schonen.« 12 Der Hauptakzent des Gedankens verläuft deshalb so, dass Heidegger Ort und Raum von dem schonenden Wohnen her versteht. Als Beispiel dient ihm die Heidelberger Neckarbrücke. Er denkt sie nur scheinbar paradox als einen Ort, der einen ›Raum‹ eröffnet, indem sich Lebenspraxis konkret einleben kann, in einem, so Heideggers Worte, freien ›sich Formen‹. »Ein Raum ist etwas Eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze.« 13 Heidegger spricht, um diesen Zusammenhang zu unterstreichen, immer wieder auch vom Zeit-Raum. An der Grenze, die durch den Ort gezeichnet wird, endet jedoch nicht die Reichweite des menschlichen Da-seins. Dort beginnt es vielmehr erst. Es ist in die Grenze eingelassen. »Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zur Räumen beruht im Wohnen […] Wenn wir auf die versuchte Weise der Beziehung zwischen Ort und Raum, aber auch dem Verhältnis von Mensch und Raum nachdenken, fällt Licht auf das Wesen der Dinge, die Orte sind und die wir Bauten nennen.« 14 Die Implikation ist offensichtlich. Wenn das Bauen als Markierung des Ortes und als seine Umgrenzung verstanden wird, so ist es als eine ausgezeichnete Form des Wohnens aufgefasst. Dies bedeutet freilich gerade, dass man wohnen können muss, um bauen zu können. Heidegger hat deshalb den Begriff des ›Ortes‹ eng mit dem Begriff des ›Dings‹ verbunden. Wie sich aus seiner philosophischen Rettung der Stofflichkeit und Materialität ergab, ist für ihn das Ding nicht wie in der Transzendentalphilosophie ›Gegenstand überhaupt‹. Es ist immer konkretes Einzelding. Was das heißt, wird daraus deutlich, dass der späte Heidegger gerade aus der Betrachtung eines Kruges seinen Weltbegriff gewonnen hat. So notiert er: »Erst die MenÄsthetik verstehen wir hier als die Lehre vom Urteil über das Schöne und Erhabene, so wie sie in der rationalistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts bis zu Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ gängig war. Bereits der deutsche Idealismus setzt sich über diese Grundform vehement hinweg, wie etwa Hegels »Vorlesungen über Ästhetik« zeigen. M. Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, in: ders., Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 61990, S. 143. 13 Ibid., S. 149. 14 Ibid., S. 152. 12

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schen als die Sterblichen erlangen wohnend die Welt als Welt. Nur was aus Welt gering, wird einmal Ding.« 15 In diesem alten Gebrauchsding zeigt sich etwas von der Geschichte derer, die aus ihm getrunken haben, von der Landschaft, aus der es stammt. Heidegger ist mit dieser Verweisungstopologie keineswegs allein. Auch in Ernst Blochs ›Geist der Utopie‹ (1918) hat »ein alter Krug« initiierende Bedeutung. 16 Und schließlich war Walter Benjamin, dem Bastler und Sammler, jene Bedeutung des Einzeldings sehr nahe. Das Einzelding, der Krug, ist Versprechen, Vorschein, gegen eine verfeinerte Kultur der Bürgerlichkeit. In ihm klingt Vielfaches zusammen. Adorno erkennt bei Bloch – und damit wohl auch implizit bei Heidegger – ein Staunen, das auf die einzelnen Dinge gerichtet sei. Er bannt die Faszinationsgeschichte in den Satz: »Wüßte man nur recht, was der Krug, in seiner Dingsprache, sagt und wiederum verbirgt, so wüßte man, was zu wissen wäre und was die Disziplin zivilisatorischen Denkens, mit dem Gipfel von Kants Autorität, dem Bewußtsein zu fragen verboten hat.« 17 Das gelungene Ding eröffnet eine veränderte Lebenspraxis und es enthält das Versprechen, wie Welt und Mensch nicht nur im Subjekt-Objekt-Verhältnis aufeinander bezogen sein können. In diesem Sinn hat Bloch seine Phänomenologie des alten Kruges gezeichnet: »Auch hier fühlt man sich, in einen langen sonnenbeschienenen Gang mit einer Tür am Ende hineinzusehen, wie bei einem Kunstwerk. Das ist keines, der alte Krug hat nichts Künstlerisches an sich, aber mindestens so müßte ein Kunstwerk aussehen, um eines zu sein, und das wäre allerdings schon viel.« 18

3.) Im Entwurfszusammenhang muss die Frage nach dem Subjekt des Schaffens besonders interessieren. Die Nüchternheit der Ulmer Hochschule für Gestaltung nach 1945, jene sachliche WerkhüttenM. Heidegger, Das Ding, in: ders., Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 61990, S. 175. Dies insbesondere in Heideggers nachgelassenen Fragmenten aus den dreißiger Jahren, die 1989 postum unter der Überschrift »Vom Ereignis. Beiträge zur Philosophie« GA 65 erschienen sind. 17 Ernst Bloch, Gesamtausgabe Band 16. Geist der Utopie. Erste Fassung, Frankfurt/ Main 1976, S. 7 ff. 18 Vgl. Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur. Frankfurt/Main 1981, S. 565 f. Es handelt sich um Adornos Aufsatz: »Henkel, Krug und frühe Erfahrung«. 15 16

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Tradition, eine Objektivation, die angesichts des Erschreckens über die falschen Geniekulte berechtigt war, sah vom Einzelnen eher ab und setzte auf kritische Teamarbeit. Die Arbeitsabläufe heutiger Projektplanung, die ›corporate identity‹ einer Entwerfergruppe, stehen dieser Enthaltsamkeit gewiss näher als einer überkommenen Künstlermetaphysik. Dennoch kann man vom ›Subjekt‹ des Entwurfs nicht absehen, gerade wenn man von einem ›Sinnenbewusstsein‹ her denken möchte. Folie jeder künstlerischen Subjektivitätsauffassung ist, auch noch in der Abgrenzung, der Begriff des ›Genies‹. Schleiermacher hat einmal formuliert, dass das Genie Regel und Regellosigkeit in sich vereine. Extrem der Regularität ist das Klassische, Extrem der Hervorbringungen des Genies ist die Originalität. 19 Dies liegt in der Linie der kantischen Genie-Bestimmung. Der Satz, dass das Genie sich selbst seine Regeln gibt, bedeutet nach Kant zugleich, dass das Genie der Kunst die Regel vorgibt und nicht an eine kanonische Poietik gebunden ist. 20 Das Genie spielt mit solchen Regeln. Schiller hat dies anthropologisch in dem Wort vom Menschen, der erst ganz Mensch ist, wenn er spielt, erweitert. Es ist die Freiheit des Spiels, eine Freiheit des Scheins, in der nach Schiller die Verwandlung der ersten in eine zweite Natur, in die Sphäre der Kultur, erst gelingen kann. Ein ethischer Akzent ist dabei nicht zu übersehen. Das freie Spiel hat gemeinsinnige, ja demokratisch republikanische Aspekte: »Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, so weit der Geschmack regiert, und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet.« Schiller umreißt gar eine Utopie des politischen Kunstwerks. Neben dem dynamischen Staat, der Rechtssicherheit schafft und die menschliche Selbstbeschränkung und die Möglichkeit einer schrittweisen Verwirklichung des Reiches der Freiheit befördern soll, neben dem ethischen Staat, der in seiner Verfassung die Grundrechte garantiert, soll es einen ästhetischen Staat geben: eben als »Objekt des freien Spiels«. 21 Eine Konstitution kann sich der äs-

Ernst Bloch, Geist der Utopie, a. a. O., S. 11. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, §§ 44 ff. 21 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. und eingel. von Manfred Frank. Frankfurt/ Main 1977, S. 82 f. 19 20

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thetische Staat nicht geben. Die Freiheit manifestiert sich in der selbstgegebenen oder zumindest selbstgefundenen Regel. Man bewegt sich durch das Gelände solcher Annäherungen auf die Frage nach dem entwerfenden Denken zu; dies ist in sich ein bemerkenswertes Spannungsfeld. Dass dieses Denken die Freiheit von Spiel und eines freien Gebrauches mit einschließt, führt von der Eindeutigkeit, dem begründeten Entschluss, zu der Polyvalenz, die den Gebrauchenden im Sinn hat, ihn aber nicht antizipiert, ihm und seiner nutzenden Freiheit vielmehr verpflichtet ist. Wenn sich die Frage nach der Subjektivität des Entwerfenden vom Genie auf das entwerfende Denken hin konkretisiert, muss man gegenüber dem neuzeitlichen Methodenideal, der cartesischen geometrischen Ableitung der absoluten Form, ein Gegenbild in den Blick nehmen. Diese andere idealtypische Methode von Formung und Gestaltung droht notorisch vergessen zu werden. Vertreten wurde sie in der italienischen Renaissancephilosophie, die eng mit den Entwürfen und Erfindungen derselben Epoche korreliert ist. Die Differenz zwischen Renaissance und Cartesianismus, dem doppelten Anfang der neuzeitlichen Philosophie, kulminiert geradezu im Entwurfsproblem. Für Descartes ist entwerfendes Denken in transzendentalen Axiomen grundgelegt. Der Entwurf ist als Applikation der mathematischen, ein für alle Mal fixierten Form zu verstehen. Die Renaissance (ich denke vor allem an Giordano Bruno in seinen ›Frankfurter Schriften‹) 22 hat einen diametral entgegengesetzten Begriff der Methode entwickelt. Es bedarf zuallererst der erprobenden, versuchenden Darstellung, um überhaupt zu einem beweiskräftigen Axiom zu gelangen. Der Entwurf ist damit kein bloß applikatives Unterfangen. Er ist grundlegend für die Erkenntnis, die Findung von Prinzipien und damit für die Erste Philosophie. An erster Stelle stehen mithin nicht selbstevidente axiomatische Kategorien, gewonnen aus Formalstrukturen der Art, wie sie in einer Urteilstafel begegnen, sondern es wird selbst gefragt, wie in Raum und Zeit Axiomata gewonnen werden können. Wenn man Otl Aichers Satz: »Wahrnehmung ist Erkenntnis« überdenkt, kann man sich dieser vergessenen Epistemologie des ›Insegno‹ erinnern. Die Renaissancephilosophen wollten erkenntnistheoretisch zeigen, wie entwerfende Erkenntnis zuVgl. Klaus Heipcke u. a. (Hgg.), Die Frankfurter Schriften Giordano Brunos und ihre Voraussetzungen. Weinheim 1991.

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stande kommt. Eine Frage, die als philosophische Frage, wie Otl Aicher richtig feststellte, kaum je gestellt wird. Nicht die analytische Geometrie, sondern die darstellende Geometrie war in der Renaissancephilosophie Methoden-Paradigma, nicht die Identität war der Leitbegriff, sondern die Ähnlichkeit bei offenen Abbild-Urbild-Verhältnissen. Das Urbild kann auch der anvisierte Gebrauch sein, der den Entwurf erst in der Zukunft realisiert. Damit ist nicht einfach die Erinnerung an ein induktives gegenüber einem deduktiven Entwurfsverhältnis gemeint. Die Gewinnung von Grundgestalten ist vielmehr selbst ein intellektualer, durch Theorie begleiteter Vorgang: eine ›figuratio‹. Stephan Otto formulierte in diesem Sinn: »So verfugt Bruno die sinnliche ›figuratio‹ mit der verstandesmäßigen ›mensuratio‹ wie zwei Modi ein- und desselben Erkenntnisvollzuges.« 23 Diese Grundstruktur bedarf eines Subjektes, das nicht – wie im emphatischen Verständnis hoher Kunst – den Lebensgang des Genies gleichsam in Bild und Text abbildet. Es geht vielmehr um das Vermögen, sich selbst und der Kunst in aller Nüchternheit Regeln zu geben. Dies versuchen auf ihre Weise auch wieder die Entwerfer der Moderne. Wenn der soziologische Befund es erlaubt, 24 von einem eigenen Paternalismus der vielen postmodernen Welten zu sprechen, dann darf man sich fragen, was der ›selbstreflexive‹ Charakter moderner Gesellschaften denn sein soll und wie er zur Darstellung zu bringen ist. Die Selbstreflexion der Moderne sollte entwerfende Subjektivität und deren Vernunft mit einbeziehen. 4.) Bekanntlich konstatierte Hegel den »Tod der Kunst«. Er meinte damit sehr präzise dies, dass die Kunst nicht mehr adäquate Darstellung metaphysischer Wahrheit sein kann. Sie kann unter diesen Voraussetzungen nicht mehr, wie Hegel prägnant formulierte, »Geist für den Geist« sein. 25 Mit jenem resignativen Gestus verwies Hegel zurück auf seine und Hölderlins und Schellings Anfänge: auf den Traum einer ›Mythologie der Vernunft‹ im ›Ältesten Systemprogramm‹, ein ›gemeinsinniges Kunstwerk‹, an dem alle teilhaben sollS. Otto, in: ebd., S. 37–51. S. Neckel, Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft. Frankfurt/ Main 2008. 25 Hegel, Berliner Enzyklopädie, § 563. 23 24

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ten, nicht nur die Gebildeten. Realisiert wurde dieses Kunstwerk niemals. Wie die Träume grau wurden, zeigen die folgenden Worte Schellings sehr deutlich: Das Schöne soll »jene Heiligkeit und Reinheit« bewahren, »welche so weit geht, daß es nicht etwa nur die Verwandtschaft mit allem, was bloß Sinnenvergnügen ist, welches von der Kunst zu verlangen der eigentliche Charakter der Barbarei ist, oder mit dem Nützlichen, welches von der Kunst zu fordern nur einem Zeitalter möglich ist, das die höchsten Efforts des menschlichen Geistes in ökonomische Erfindungen setzt, sondern selbst die Verwandtschaft mit allem, was zur Moralität gehört, ausschlägt, ja selbst die Wissenschaft, welche in Ansehung ihrer Uneigennützigkeit am nächsten an die Kunst grenzt, bloß darum, weil sie immer auf einen Zweck außer sich geht, und zuletzt nur als Mittel für das Höchste (die Kunst) dienen muß, weit unter sich zurückläßt.« 26 Vor diesem Hintergrund kann man einen Ansatz aus der analytischen Philosophie der Kunst aufnehmen und ihn weiterführen; die Frage nach der Verklärung des Gewöhnlichhen, so wie sie von Arthur C. Danto exponiert wurde. Den Arbeiten von Danto ging, so war an früherer Stelle in diesem Buch zu zeigen, Nelson Goodmans Kunstphilosophie (›Weisen der Welterzeugung‹) voraus. 27 Beide verbindet das Interesse an Zwischenphänomenen zwischen Kunst und Alltagswelt und an den feinen Übergängen zwischen ihnen. Sie bedienen sich dabei zur Verdeutlichung des Symbolbegriffs. Goodman hielt fest: »ebenso wie ein Objekt zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen ein Symbol sein kann, so kann es sein, daß ein Objekt zu gewissen Zeiten ein Kunstwerk ist und zu anderen nicht. Tatsächlich wird ein Objekt gerade kraft dessen, daß es in gewisser Weise als Symbol fungiert, und solange es so fungiert, zum Kunstwerk.« 28 Danto präzisiert dies, indem er in Rückerinnerung an die Subjektivitätsproblematik die Innenseite des Symbolisierens für den Künstler – ›pour soi‹ – von einer Außenseite ›pour autrui‹ – unterscheidet. »Das Äußere ist einfach die Weise, in der das Innere für ein späteres oder für Schelling, System des transzendentalen Idealismus, hg. v. Horst D. Brandt und Peter Müller, Hamburg 2000, S. 293 f. 27 Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt/Main 1984, S. 91. 28 Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt/Main 1984, S. 249. 26

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ein anderes Bewußtsein zum Objekt wird. Zwar sehen wir die Welt so, wie wir sie sehen, aber wir sehen sie nicht als eine Weise die Welt zu sehen: wir sehen einfach die Welt. Unser Bewußtsein der Welt ist nicht Teil von dem, dessen wir uns bewußt sind.« 29 So scharf diese Unterscheidung zunächst erscheint, sie ist immer auf die wirkliche, existierende Welt zurückbezogen, genauer noch: auf eine Vielheit wirklicher Welten. Wie im Rückgriff auf den alten Topos von der Welt als »omnitudo realitatis«, als Inbegriff dessen, was der Fall ist, weist Danto konsequent die Orientierung an nur virtuellen Welten zurück. Es sind für ihn Erzeugungen eines künstlichen Disney-Landes. Das Gebrauchsding oder das Bauwerk können in diesem respektablen Ansatz nicht ohne weiteres zum Thema gemacht werden. Denn nicht verschiedene Sichten von Welt, sondern vielmehr ein mögliches gebrauchendes Vollenden durch den Benutzer ist für den Entwerfer entscheidend. Man erkennt dies allenthalben. Etwa im pikanten Beispiel der bürgerlichen Fürsten am Vorabend der Französischen Revolution, die – wovon schon die Rede war – in der Gartenlandschaft von Dessau-Wörlitz die Welt um Tischbein, Campe und Goethe prägten. Sie wurden aber in der folgenden Generation durch ein Bürgertum abgelöst, das fürstliche Möbel kaufte, um fürstlich zu scheinen: die City Gentlemen. 30 Wenn ich in Ergänzung des blinden Flecks der analytischen Kunstphilosophie im Licht solcher historischer Phänomene einer Lebenspraktik des Verklärten das Wort rede, so setzt dies nicht einfach beim Gebrauchsding an, das etwas bedeuten kann, sondern beim gestalteten Gegenstand, der human und dienlich ist. Dies scheint deshalb ein gangbarer Weg zu sein, weil Ethik und Ästhetik in Europa Tun und Erleiden (im weiten, unsentimentalen Begriffssinn von ›Hinnehmen‹), Tätigkeit und An-sich-halten implizieren. In diesem Sinne geht Machen in Handeln über. Der vorgeschlagene Begriff der »Verklärung« ist in dieser weiter gefassten Perspektive durchaus pragmatisch zu verstanden. Der

Danto, ibid. Im Blick auf dieses Paradigma greife ich zurück auf Michael Stürmer, Bürgerliche Fürsten, in: Wolfgang Hardtwig, Harm-Hinrich Brandt (Hgg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert. München 1993, S. 215 ff.

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Verklärungsprozess beginnt damit, dass ein Bild des guten bzw. besseren Lebens durch einzelne Gebrauchsgegenstände angezeigt wird. Wenn man es nicht mit einem eminenten Kunstwerk, sondern mit einem Gebrauchsding wie dem vielbenannten alten Krug zu tun hat, so wird nicht eine Idee, gar die des Absoluten dargestellt. Es wird vorgegriffen auf den künftigen Gebrauch in einer Lebensform, die besser und damit humaner sein könnte. Kultur, als zweite Natur, oder »cultura animi« (Kultur der Seele), hat immer schon eben dies bedeutet. Man wird für eine solche Ästhetik des Entwerfens freilich, ohne gleich einem postmodernen Eklektizismus zu folgen, das Zusammenfließen verschiedener Quellen zulassen müssen. Über die Engführungen auf die Nullpunktperspektive der jeweiligen ModerneModen wird insofern hinauszugehen sein. Das von dem französischen Historiker Marc Bloch beschworene ›Gespräch der Lebenden mit den Toten‹ ist auch im Entwurf unverzichtbar. Dies bedeutet auch, dass mancher Purismus einer linearisierten Moderne zu überdenken ist. Gerade für den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik ist dies von Bedeutung; kommt Ethik doch vom griechischen ›ethos‹ und das bedeutet Gewohnheit und ist unlösbar von dem Ort, von dem einer herkommt. Essentiell ist dabei die Einsicht, dass sich ein Ethos nicht von heute auf morgen einstellt oder verändert. Aus der Verwurzelung sollen und können dann polyglotte und gleichsam ubiquitäre Lebensformen hervorgehen. Eine Hilfestellung von weither kann Aristoteles' ›Nikomachische Ethik‹ (VI. Buch) in ihrem Verweis auf die Formen unseres Wissens bieten. Nach Aristoteles ist Erkenntnis als Tugend zu verstehen und Handeln ist auf Erkennen zurückbezogen. Jenes Erkennen erfordert eine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Entscheidend ist dabei die Suche nach der Mitte, nicht nur als Kompromiss, sondern als für sich Gutes. 31 Wenn Aristoteles zudem auf die Bedeutung der Erfahrungsklugheit verweist, so ist damit ein mittlerer Begriff zwischen reiner Erkenntnis und poietischem Machen gewonnen. Er kann zu einer ›Philosophie des Machens‹ führen, wie sie Otl Aicher vorgeschwebt ist. Von hier her sollte noch einmal auf Benjamins Begriff des Vgl. dazu die Biographie E. Moser, Otl Aicher: Gestalter. Eine Biografie. Ostfildern 2011.

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»Auratischen« zurückgekommen werden. Wenn Benjamin in seiner berühmten Reproduktions-Abhandlung von 1936 davon ausgeht, dass aufgrund der Beschleunigungen und der Reproduzierbarkeiten die Aura sich zu verlieren droht, so scheint mir das eigentlich Interessante nicht die zeitdiagnostische Dimension dieser Erwägung zu sein: also nicht Benjamins – sicher bewegender – Hinblick auf das Verhältnis von Ästhetik und Politik und nicht sein Befund, dass der Kommunismus eine Politisierung der Ästhetik, der aufkommende Faschismus eine Ästhetisierung der Politik mit sich bringe. So hellsichtig diese Erwägungen für ihre Zeit gewesen sein mögen, erstaunlich ist, dass sich Benjamin ein Heilmittel gerade von dort erwartet, wo ihm die Gefahr der Vermassung und Entindividualisierung am stärksten zu sein scheint, von der Architektur. Denn sie ist, zugleich optisch und taktil, untrennbar von Lebensformen. Benjamin scheint eine neue Möglichkeit der Anteilnahme am Kunstwerk gerade von der Architektur zu erwarten. Muss doch diese Kunstform in die Welt der Massenkonsumenten eingehen und umgekehrt. Dieser Befund wäre, mit offenen Konturen, weiterzudenken. Ein Er-denken, das kein »Überdenken«, im Sinn des Darüber-hinwegdenkens ist, bleibt im Blick auf Entwerfen und Gestalten ein dringendes Desiderat. Ein Denken nach deduktiblen Gesetzen wird hier nicht weiterführen. Es mag eher ein Denken der Urteilskraft im Sinn der schleiermacherschen ›Dialektik‹ sein, das nicht in sich allein kreist, sondern auf eine Sache bezogen ist und diese Sache doch außerhalb seiner selbst weiß, das also Distanz nehmen kann. 32 Dieses Denken gibt nach Schleiermacher: »eine Anleitung von jedem Punkt aus, auf welchem wir uns im reinen Denken finden, den Streit aufzulösen, mithin das Wissenwollen (das zetematisch, befragend, problematisierend ist; H. S.) seinem Ziel zuzuführen, (und es) kann nur mit dem Versuch beginnen, wie aus dem Gehalt jeder reinen Denktätigkeit ein außer dem Streit liegendes Denken entwickelt und gesondert werden kann«. 33 Ähnlich wäre nach Kant der Zustand des ewigen Friedens verfasst, in dem der eigentliche fördernde Streit neu beginnen kann. Oder noch einmal mit Schleiermachers Bestimmung von Kunst, die ohne problematische Ästhetisierung das Ent32 33

Schleiermacher, Hermeneutik und Dialektik, a. a. O., S. 430. Ibid., S. 438.

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werfen mit einschließt: »Zum eigentlichen Kunstgebiet können nur die Gattungen von Gegenständen gerechnet werden, die allein aus dem vom Menschen willentlich vollzogenen Kunsthandeln stammen.« 34

II.

Über Gebrauch und Funktion

1.) In einem eindrucksvollen Denkbild in seiner ›Kritik der Urteilskraft‹ fingiert Kant einen Betrachter, der aus dem Bildersaal heraustritt und die Kunst in der Natur wahrnimmt, das Spiel der Farben und Blüten um ihn herum. Er dürfte einen Variationsreichtum der Natur erkennen, der nicht unter die Statik von Naturgesetzen zu bringen ist. 35 Kant bemerkt, im Anschluss an den klassischen Topos vom Weltmann, der in Kunst und Leben erfahren ist, dass man einen solchen Menschen bewundere, da er aus seinem Weltumgang heraus weiß, dass sich das Feld des Schönen nicht auf gefertigte Werke und deren Kanonisierung begrenzt. Das Schöne ist ein Weltverhältnis. Es verweist in einen Bereich, für den nicht ohne weiteres gilt, was Kant als Bestimmung des Schönheitsurteils begriff. ›Schön‹ ist demnach nur das, was ›ohne alles Interesse‹ gefällt. In dieser Definition ästhetischen Urteils ist vom Gebrauch selbstverständlich nicht die Rede. Nietzsche hörte deshalb einen Grundton saturierter Bürgerlichkeit heraus und setzte dieser These das schöne Wort Stendhals, eines ›wirklichen Zuschauers und Artisten‹, entgegen, wonach das Schöne »une promesse de bonheur« ist. 36 Hier spricht eine Aufmerksamkeit, die Malebranche in einem von Walter Benjamin, Kafka und Paul Celan gleichermaßen zitierten Wort, das »natürliche Gebet des Herzens« genannt hat. 37 Nach Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart 1987, S. 111. 35 Vgl. dazu Manfred Riedel, Rehabilitierung des Naturschönen, in: F. Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankurt/Main 1991, S. 455 ff., insbes. S. 458 f. 36 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 3. Abhandlung, Nr. 6, Nietzsche, Werke, Kritische Studienausgabe (KSA) Band 5, S. 347. 37 Zit. nach Paul Celan, Gesammelte Werke, Dritter Band, hg. von B. Allemann und S. Reichert. Frankfurt/Main 1986, S. 198 (Text ›Der Meridian‹, Celans BüchnerpreisRede vom 22. Oktober 1960). 34

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Über Gebrauch und Funktion

Die Rücksicht auf den Gebrauch ist allerdings im Zusammenhang der philosophischen Bestimmung der Kunstfertigkeit (griech. ›techné‹) sehr alt und weist zumindest auf den Denkkampf zwischen Platon (bzw. Sokrates) und griechischer Sophistik und Rhetorik zurück. Das Taugende und damit Gute (›agathon‹) von Schein und Willkür zu reinigen und damit das in Wahrheit Taugliche abzugrenzen, bedeutet für Platon, nach einer Instanz zu suchen, die über den wahren Nutzen von Kunst zu befinden weiß. Dies ist der Gebrauchende, also etwa der Kämpfer, der über die Beschaffenheit eines Schwertes besser Bescheid weiß als der Schmied. Daraus wird im Kontext der ›Politeia‹ und der ›Nomoi‹ gefolgert, dem Urbild des Werkes stehe der Gebrauchende näher als der Schaffende, denn dieser schafft immer nur ein Abbild. 38 Ein guter Gebrauch dagegen erfordert den Hinblick auf ein Urbild des Abbildes. 39 Von dieser Erwäguung her wird die zweifache Mimesis, also die Abzeichnung eines Gebrauchsdings, geringer geachtet als dessen reale Herstellung. Denn das Bild des Bildes lässt sich, so wie auch die Dichtung, nicht von einem Gebrauchenden beurteilen. Es ist spiegelfechterisch: Schein erzeugt weiteren Schein. Man fragt vergebens, so Platon, welche Lebensform ein Dichter wie Homer gelehrt und wen er besser gemacht hätte. Einem derartigen ›Platonismus‹ weniger der Form als der Funktion war Otl Aicher bei aller Platon-Kritik nicht abgeneigt: einer Sichtweise, »mit der wir vom eindruck zum wissen fortschreiten, vom anblick zum ausblick«. 40 Die hier berührte Frage ist ebenso einfach wie grundsätzlich. Sie zielt auf einen Begriff des Gebrauchs als Gegengewicht zu Verbrauch und ›Using‹ und damit auch zur ›Vernutzung‹ ; 41 und sie zeigt, dass Gebrauch keinesfalls mit Zweckrationalität identisch sein muss, sondern ein freies Spiel der Kräfte einschließen kann. Dies mag den Gebrauch vor der Verfestigung und Erstarrung im bloß Vgl. vor allem die Kritik an der lügnerischen Dichtung in Platon, Politeia X. Vgl. Politeia X, 602 c ff. Siehe auch H.-J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Heidelberg 1959. 40 otl aicher, neue perspektiven. zum erscheinungsbild des deutschen airbus, 1990, hier nach: Otl Aicher zum 75. Geburtstag. Ulm 1998, S. 60. Die Kleinschreibung findet sich so im Original. 41 Wie sich von Ezra Pounds großem Gedichtzyklus ›Usura‹ her sehen ließe, wird Vernutzung etymologisch mit Wucher, mit einer Mißachtung der Gleichgewichte des Nötigen, zusammengefügt. 38 39

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›Gebräuchlichen‹ bewahren. Wesentlicher noch scheint es, dass für den Gebrauch Gutes nicht ein für alle Mal und mit einem nicht-dialektischen Universalitätsanspruch definiert werden kann. Ihm ist eine geschichtliche und sensuelle Semantik eingeprägt, so dass Wiederkehrendes und Neues sich mischen. Im Nachdenken über den Gebrauch liegt eine Wendung gegen Ästhetisierungen und Musealisierungen. Dennoch muss der Gebrauchsbegriff keinesfalls zwingend den Begriff der Kunst tilgen. Wenn Otl Aicher – aus einem bewusst obsoleten Anlass, nämlich im Blick auf den Kübelwagen des Zweiten Weltkriegs, von der ›Genugtuung‹ spricht, »einmal eine ästhetik zu erleben, die keine ästhetik sein wollte und weder nach dekor und stil fragte« 42, so ist dies noch immer eine Herausforderung. Wer nach Gebrauch fragt, fragt nicht nach einer Ästhetik, doch er fragt weiterhin nach Kunst. Allerdings erfahren dadurch maßgebliche Kategorien der Ästhetik eine Erdung: Ein vom Gebrauch her gewonnener Begriff der Kunst wird diese nicht einfach mit dem Schönen gleichsetzen und das Verhältnis zum Werk wird nicht nur Spiel sein können. Georg Lukács hat in einer sicheren Intuition in seinen Heidelberger Anfängen das Gebrauchsmoment getroffen: Kunst zeige immer das, was im Ethos von Menschen, ihrem Weltaufenthalt, ihnen mit- und zugleich aufgegeben ist: die Erfahrung der Freundschaft und ihre Brüchigkeit, Geschlechterbande, zuletzt die Todeserfahrung. 43 Wenn man auf den Gebrauch hin entwirft, so zeigt man zugleich die ›Mängel‹ der Conditio humana. Der Mensch bedarf der prothetischen Aushilfe. Jenen ›Mangel‹ hat Otl Aicher – im Zusammenhang der Piktogramme – selbst fruchtbar zu machen versucht, und dies bezeichnenderweise keineswegs nur mit funktionalen Argumenten: indem durch Geometrisierungen das Sehfeld vergrößert und verschärft werde, macht der Mangel rege. 44 Die Grenze zu einem Funktionalismus kann man mit einem Wort von Gottfried Benn bezeichnen, wonach Aufgabe des Autors otl aicher, innenseiten des kriegs. Frankfurt/Main 1985, S. 104. Kleinschreibung im Original. 43 Vgl. Georg Lukács, Heidelberger Philosophie der Kunst (1912–1914). Aus dem Nachlaß. Darmstadt und Neuwied 1974, S. 7 ff., siehe auch: ders., Heidelberger Ästhetik (1916–1918). Darmstadt und Neuwied 1974, S. 9 ff. 44 So die Formulierung von Andreas Schwarz, zit. nach Otl Aicher zum 75. Geburtstag, a. a. O., S. 48. 42

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oder jedes Werkschöpfers »nicht die absolute, sondern die optimale Genauigkeit« sei. Benn weiter: »Das ist im Wesensunterschied begründet, der zwischen Logik und Sprache liegt. Daher gehört es zu den Voraussetzungen des guten Stiles, daß der Autor sich mit dem optimalen Ausdruck zufrieden gibt. Die Sucht nach dem Absoluten führt über seine Aufgabe hinaus.« Die Folgen einer Theorie des Gebrauchs sind nicht von Platon selbst, sondern in der späteren Antike und der Renaissance durchleuchtet worden. Plotin hat in seiner Schrift ›Peri tou kalou‹ (›Über das Schöne‹) das Schönheitsphänomen so gedeutet: »Es gibt nämlich etwas Schönes, das schon beim ersten Hinblicken wahrgenommen wird; dessen wird die Seele gewissermaßen inne und paßt sich ihm sozusagen an; wenn ihr Blick dagegen auf das Häßliche trifft, so zieht sie sich zurück, weigert sich ihm und lehnt es ab, denn es stimmt nicht zu ihr und ist ihr fremd. [Deshalb] ist [sofern die Seele selbst taugt], es das Verwandte, oder auch nur die Spur eines Verwandten, dessen Anblick sie erfreut und erschüttert; sie bezieht das auf sich selbst und erinnert sich ihres eigenen Wesens, dessen was sie in sich trägt.« 45 Diese Erwägungen führen natürlich weit über einen nüchternen Begriff von Gebrauch hinaus, sie bedienen sich zudem des Ähnlichkeitssinnbildes zwischen begegnendem Phänomen und betrachtender Seele und sie verwenden die erotischen Sinnbilder aus dem platonischen ›Symposion‹. Entscheidend ist aber, dass sie Schönheit nicht als Formverhältnis, sondern als Begegnungs-Relation verstehen. Dem Spezifikum des Gebrauchs näherzukommen, verlangt vermutlich mit August Graf von Platens schöner Formulierung ›in das geheimnisvolle Wie der Dinge‹ einzudringen. 2.) Erinnern wir uns noch einmal an Heideggers Unterscheidung zwischen dem Vorhandenen und dem Zuhandenen. 46 Die raumzeitliche Außenwelt begegnet scheinbar primär in der Weise der Vorhandenheit, als Objektwelt. Die cartesische Unterscheidung zwischen ›res extensa‹ und dem Subjekt als ›res cogitans‹ liegt, Heidegger zufolge, eben dieser Differenz zugrunde. Doch mit diesem Ausgangspunkt verbindet sich eine ungeheuere Abstraktion, 45 46

Plotin, Enneade I, 6. M. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., §§ 22 ff., S. 120 ff.

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die aus der aktenkundig gewordenen Entzauberung der modernen Welt (Max Weber) die Folgerung einer (beispielsweise) ästhetischen Wiederverzauberung zieht. In Heideggers Zeit wurde deshalb vom ›Wert‹ der Dinge gesprochen; ein Romantizismus Entfremdeter, für den der ›Mesmersohn‹ aus Messkirch nur Spott übrig hatte. Elementar ist nach Heidegger die Bewandtnis, die den Dingen im Blick auf ihren Gebrauch zukommt. Nicht als vorhanden, im Sinn der raumzeitlichen Realität, begegnen Dinge zuerst, sondern als ›zuhanden‹. Dabei ist der konkrete Verweis auf die begreifende Hand noch explizit mitzuhören. Heidegger hält fest: »denn in diese Seinsart des besorgenden Umgangs brauchen wir uns nicht erst zu versetzen. Das alltägliche Dasein ist schon immer in dieser Weise, z. B.: die Tür öffnend, mache ich Gebrauch von der Klinke.« 47 Heidegger nennt Seiendes, das als zuhandenes begegnet, ›Zeug‹, worin eine spezifische Struktur gedacht werden soll, die im griechischen ›Pragmata‹ (von ›Praxis‹) auch ausgesprochen wird. ›Chremata‹ sind die Dinge, die im alltäglichen, das Leben auf all seinen Stufen vom Notwendigen zum Nützlichen begleitenden Umgang begegnen. Auf antike Kategorien abgebildet, gehört das heideggersche ›Zeug‹ daher eher zur Sphäre der ›poiesis‹. In einem Vorbegriff spricht Heidegger davon, dass jedes Zeug die strukturelle Verfassung des ›um zu …‹ hat. Sein ›Etwas-sein‹ erschließt sich nicht isoliert, sondern erst aus dieser Intentionalität und Zweckhaftigkeit heraus. Heidegger verdeutlicht dies durch eine Reflexion auf die Konstitution des Raumes. Dieser formt sich uns nicht im Sinn einer ›Summierung‹ von Wirklichem, das ein Zimmer füllt. Zuerst – und gleichsam wie mit einem Mal – begegnet der Raum von seinem Gebrauch, seinem Bewohntsein, her. Heidegger spricht von ›Wohnzeug‹ als dem Lebenszusammenhang (einer Zeugganzheit). Erst wird ein Vorgriff auf dieses Ganze gewonnen. Dann gewinnt auch das einzelne Ding seine Bedeutung. Der Raum gliedert sich durch dieses zu gebrauchende Zeug dann allererst in verschiedene Topoi. In ›Sein und Zeit‹ spricht Heidegger noch von ›Plätzen‹, später wird er von ›Orten‹ reden. Denn der Ort bestimmt sich aus der Deiktik des Gebrauches; oder wie Heidegger sagt, durch eine je verschiedene Nähe zur Hand, 48 »die nicht durch Ausmessung von Abständen festgelegt ist.« 47 48

Ibid., S. 67. Ibid., S. 102.

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Im Anschluss an Kants Schrift ›Was heisst sich im Denken orientieren?‹ 49 bemerkt er, dass wir uns in einem Raum, in dem alles, was vordem links stand, nun rechts steht, nicht orientieren durch das »bloße Gefühl des Unterschieds« der beiden Seiten, sondern indem ein spezifischer Gegenstand loziiert und erinnernd auf seinen einstigen Ort bezogen wird. Heidegger fügt hinzu: »Was aber bedeutet das anderes als: ich orientiere mich notwendig in und aus einem je schon sein bei einer ›bekannten‹ Welt.« 50 Dies schließt zwei Abgrenzungen ein: Zum einen ist diese Explikation des Raumes nicht identisch mit den geometrischen Raumkoordinaten. Sie ist nicht zuerst an Proportion und Linienführung orientiert, sondern an einer Findungskunst im Raum. Dies bedeutet weiterhin, dass menschlichem Dasein die raumzeitliche Figurierung nicht eine lästige Körperverhaftung ist, ohne die das ›denkende Ding‹ auch sein könnte. Descartes hatte jene Auffassung begründet. Der maschinenartige Körper ist ebenso wegzudenken wie meine Ausgedehntheit und doch bleibe ich mir in Identität mit mir gegeben, so dass das Ich gleichsam wie ein Gespenst im mechanischen Körper wohnt. Die spezifisch menschliche Weise am Leben zu sein, von Heidegger als Da-sein expliziert, 51 hat vielmehr in sich selbst eine raumzeitliche Verfassung, die aufs engste mit dem ›Gebrauch‹ zusammenhängt. Anders lässt sich Selbst-sein gar nicht denken. Im Dasein selbst liegt »eine wesenhafte Tendenz auf Nähe«. ›Tendenz‹ und ›Nähe‹ sind dabei aber gleichermaßen akzentuiert. Dies bedeutet, dass das Dasein sich im Gebrauch Gegenden findet und Orte erschließt, die auf es bezogen sind und die es durch seine alltäglichen Verrichtungen in die ›Sorge‹ (epimeleia) nimmt. Andererseits erfährt sich das gebrauchende Dasein immer in seiner Entfernung zu dem Zeug, dessen es sich bedient. Beide berühren sich nicht wirklich. Der Gebrauch macht die Gegenstandswelt nicht anthropomorph, so wie es romantische Verklärung erwartet. Im Gebrauch geschieht deshalb nicht nur ›Entdeckung‹, sondern zugleich eine Ausrichtung des Daseins auf das Seiende, die die-

Kant, Was heißt sich im Denken orientieren? AA VIII, S. 131–148. Ibid., S. 109. 51 Dies notiert Benn am 28. November 1944, zit. nach Max Bense, Ptolemäer und Mauretanier oder Die theologische Emigration der deutschen Literatur. Zürich 1984, S. 30. 49 50

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ses ihm abfordert. »Es [sc. das Dasein] hält die umsichtig gebrauchten Gegenden ausdrücklich offen, das jeweilige Wohin des Hingehörens, Hingehens, Hinbringens, Herholens.« 52 Entscheidend dabei ist, dass das Zeug, das einen Weltbezug herstellt, indiffernt zum Leib ist. Es ist ›zuhanden‹, aber nicht ›handlich‹. Es ist eben nicht leibförmig. So vollzieht es nicht die Bewegungen der Hand mit und ist an ihre Richtungssinne (rechts-links) nicht gebunden. Dass die Hand besonders betont wird, ist nicht zufällig. Aristoteles nannte sie einmal das »Werkzeug aller Werkzeuge.« Die Hand ist geistiges Organ, in ihr konvergieren freier Entwurf und sinnlicher Umgang mit Vorgeformtem: im Blick auf die Hand (ihr Be-greifen) sprach deshalb Heideggers Schüler Hans-Georg Gadamer von einer ›sinnlichen Bildung‹. 53 Sinnfällig wird dies etwa an Goethes fünfter Römischer Elegie. Von der erotischen Greifbarkeit der Erinnerung kommt Goethe unmittelbar auf das Tun des Künstlers. Heidegger dürfte in der Zuspitzung des Gebrauchsphänomens auf die Hand auch mitgehört haben, dass die Hand nicht nur greift, also herstellt und handhabt, sondern zeigt. Sie verweist auf einzelne Gegenstände, deutet aber darüber hinaus in die Offenheit von Welt. An ihr bekundet sich mithin die über einzelne Gegenstände hinauszielende, intentionale Gerichtetheit als Kürzel der menschlichen Weltnatur. Der Zusammenhang von Hand und Sprache verdichtet sich deshalb bis zur metaphorischen Verklammerung in der Formulierung ›Sprache der Hände‹. »Beides, Hand und die sprechende Stimme, stellen die größte Vollendung der menschlichen Unspezialisiertheit dar.« Es ist von Bedeutung, dass der Zeugzusammenhang für Heidegger vom Werkzeuggebrauch über das Werk bis in die Praxis gelebten Lebens reicht. Auch deshalb wendet er sich gegen die Erklärung des Entstehens werkhafter Gebilde aus der Stoff-Form-Differenz des Aristoteles. Es ist die ›um … zu‹-Struktur, die das Werkphänomen charakterisiert. In jeder Werkgenesis wird etwas für etwas verwendet, das Werk ist also das »Wozu« des Herstellens. Doch es ist es selbst »nur auf dem Grunde seines Gebrauchs und des in diesem entdeckten Ver-

Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 108. Im Folgenden beziehe ich mich bei der Freilegung des Gebrauchsproblems auf Heidegger, Sein und Zeit (1927). Tübingen 151984.

52 53

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weisungszusammenhangs von Seiendem.« 54 Es soll mithin nicht auf das Ergebnis eines poietischen Aktes reduziert werden. Es wird vielmehr als Ermöglichung für weitere Pragmata expliziert. Dabei sieht Heidegger zunächst nicht nur von dem ›reinen Kunstwerk‹ der Autonomie-Ästhetik ab, sondern auch vom Kunstwerk überhaupt. Dies ist nicht unproblematisch: In dem übergreifenden Pragmatie-Begriff drohen deshalb die Konturen zwischen einer vorgefertigten DesignÄsthetik einerseits und dem Aufscheinen des Schönen zu verschwimmen. Umgekehrt kann aber auf diese Weise von den ›Pragmata‹ her gezeigt werden, was ein Kunstwerk sein könnte und sollte, wenn es Gebrauchsding wäre. Heidegger hält fest, dass im gebrauchten Zeug durch den Gebrauch die ›Natur‹ mitentdeckt werde. 55 Nicht als Außenwelt, nicht als magisierte ›Naturmacht‹, auch nicht als die ›Landschaft‹, durch die der Bürger mit der Eisenbahn reist, wird Natur aufgeschlossen, sondern im Licht des im Gebrauch sich erschließenden Verweisungszusammenhangs. 56 So wird Natur in einem Ursinn der Kulturation entdeckt und erschlossen, bei dem Benutzung nicht wie in einer hoch spezifizierten Zivilisation immer schon als Vernutzung und Usurpation gedeutet werden muss. 57 »Der Wald ist Forst, der Berg Steinbruch, der Fluß Wasserkraft, der Wind ist Wind in den ›Segeln‹.« 58 Das Werk verweist dabei implizit auf den, der es gebraucht, und auf den, der es geschaffen hat. Es ergibt sich, jenseits aller gewollten Artistenverewigungen, ein Mitdasein beider. Die Initialen des Werkschöpfers mögen unlesbar geworden sein, dem nachgeborenen Betrachter mag wesentlich nur sein, ›dass dieses Werk ist‹, nicht von wem es gemacht wurde – »N. N. fecit.« Heidegger schließt sogar die bemerkenswerte Beobachtung an, dass selbst in der maschinellen Massenproduktion dieser konstitutive Verweisungszusammenhang bestehen bleibe, aber ›unbestimmt‹ auf Beliebige, den Durchschnitt ziele. 59 Der Gebrauchende kommt im Werk, insofern sein spezifisches Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 70. Ibid. 56 Vgl. Gadamer, Der Mensch und seine Hand im heutigen Zivilisationsprozeß, in: ders., Lob der Theorie. Frankfurt/Main 1985, S. 139 ff. 57 Ibid., S. 142. 58 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 70. 59 Ibid. 54 55

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Gebrauchen Berücksichtigung findet, als Einzelner vor. Zugleich aber bestimmen Wiederholungen das zum Gebrauch taugliche Zeug. An ihm lässt sich eine Zivilisierungs- und Kulturierungsgeschichte von langer Dauer ablesen, in der »die Umweltnatur entdeckt und jedem zugänglich« wird. »In den Wegen, Straßen, Brücken, Gebäuden ist durch das Besorgen die Natur in bestimmter Richtung« erschlossen. 60 Gebrauch bedeutet zugleich, dass die Werke öffentlich sichtbar sind. Im öffentlichen Raum wird das Werk kenntlich. An dieser Stelle fügt Heidegger einen pointierenden Satz hinzu: »Zeichen selbst sind Zeugen«. Das Zeug als Zeuge: dieser etymologisierende Hinweis deutet in eine Richtung, die gerade kontrafaktisch zu einer virtuellen Semiotik steht. Wenn Heidegger betont, dass in der Struktur des ›um zu‹ immer eine ›Verweisung von etwas auf etwas‹ liegt, so ist damit auch nicht auf den linearen Symbolzusammenhang von Zeichen (›signum‹) und Sache (›res‹) verwiesen und schon gar nicht auf den reinen, nur sich meinenden Zeichencharakter eines autonomen Kunstwerks. Nach Paul Valérys Wort bedeuten die modernen Kunstwerke nur sich selbst. Heidegger bemerkt demgegenüber: »Eigentlich ›erfaßt‹ werde das Zeichen gerade nicht, wenn wir es anstarren und als vorkommendes Zeigding feststellen.« 61 Der Zeichencharakter entdeckt immer schon Seiendes (Vorkommendes) in seiner Zuhandenheit, also als Zeug. Und dabei wird explizit erst erschlossen, was zuvor verdeckt geblieben war. Deshalb vermerkt Heidegger, dass im Zeichen erst eine Zeugganzheit als ›Umwelt‹ für die ›Umsicht‹ (die Sorge) eines Menschen zugänglich werde. Mit dem Zeichencharakter von Dingen ist deren genuin ursprünglicher Grundzug explizit freigelegt, der sich aus einem Gebrauchen heraus einstellt. Werke beziehen sich mithin auf eine Wie-Frage. »Wie begegnet ein Phänomen?« Am Beispiel des auf Regen verweisenden Südwinds macht Heidegger diese Richtung deutlich. Dies ist mehr als die Geltung eines Zeichens durch Konvention. Das Wie-Sein des Südwinds ist nicht getroffen, wenn wie per Übereinkunft festgeschrieben wird, er sei ›Zeichen‹ für den Regen. »Als dieses nur noch Vorkommende, als welches er meteorologisch zugänglich sein mag, ist der Südwind 60 61

Ibid., S. 71. Ibid., S. 79.

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nie zunächst vorhanden, um dann gelegentlich die Funktion eines Vorzeichens zu übernehmen. Vielmehr entdeckt die Umsicht der Landbestellung in der Weise des Rechnungtragens gerade erst den Südwind in seinem Sein.« 62 Die Summe aus diesen Erwägungen über den Zeichencharakter zieht Heidegger in einer doppelten Perspektive: die Verweisung des Zeugs spielt sich in einem ganzen Bewandtniszusammenhang ab. Dieser erschließt sich freilich erst im Gebrauch. »Zum Beispiel mit diesem Zuhandenen, das wir deshalb Hammer nennen, hat es die Bewandtnis beim Hämmern, mit diesem hat es seine Bewandtnis bei Befestigung, mit dieser bei Schutz gegen Unwetter.« 63 Die Bewandtnis weist zeichenhaft auf ein durch Gebrauch konstituiertes Ganzes hin, aus dem sich, wie Heidegger sagt, ein primäres ›Wozu‹ und das primäre ›Worumwillen‹ einzelner zweckhafter Verrichtungen erst formieren. In Parenthese sollte man hinzufügen: Der Ausgang vom Gebrauchszusammenhang modifiziert im Einzelnen, aber korrigiert nicht im Ganzen Otl Aichers Revision des Begriffs der Form, des geschlossenen Körpers, im Sinn des Transparent-werdens von Strukturen: »interessant ist nicht mehr die form, sondern die struktur. die hülle fällt. information, ablesbarkeit ist der gewinn eines strukturellen bauens. die konstruktion wird sichtbar […]. zusammenhänge werden ablesbar, funktionen sind überschaubar.« 64 Auch in Heideggers Begriff des Gebrauchs werden Zusammenhänge sichtbar. Doch es bleibt nicht dabei, dass einzelne Strukturmomente aufscheinen. Der Gebrauch zeigt sich vielmehr selbst als der Zusammenhang, vor dessen Hintergrund die Strukturen überhaupt erst aufscheinen und lesbar werden. Die Bewandtnis, die sich im Zeichen erschließt, hat es mit ›Bewenden-lassen‹ zu tun. Die in einer Bewandtnisganzheit vorkommenden Dinge sind mithin nicht immer wieder neu zu erfinden. »Ein Zuhandenes so und so sein lassen, wie es nunmehr ist und damit es so ist.« 65 Man beachte die in diese Konzeption eingeschrieIbid., S. 81. Ibid., S. 84. 64 Grundlegend für die Aufhellung dieses Naturbegriffs ist der Aufsatz ›Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft‹ von Joachim Ritter, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt/Main 1974, S. 141 ff. 65 Ibid. 62 63

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benen Relationen: Es geht um das Wie-Sein für einen Gebrauch. Dieser erschließt sich offensichtlich der definitorischen Hinsicht auf ein Was-sein oder »Wesen« nicht. Es bleibt vielmehr bei dem in August von Platens Gedicht angedeuteten ›geheimnisvollen Wie der Dinge‹, und dieses führt auf ein ›damit‹, einen spezifischen Zusammenhang von Zweckhaftigkeit ohne Zweck. Daran, dass in freiem Spiel Teile und Ganzes in ihrer Wechselbeziehung ineinandergreifen, wird diese innere Teleologie erkennbar. Der Gebrauch des Zeugs wurzelt eben in den unverfügbaren Grundgegebenheiten des Seins. Das Subjekt des Gebrauchs kommt im Sinne des platenschen ›Wie der Dinge‹ so ins Spiel, dass es sich an diesen Verweisungskonnex bindet. Wäre es anders, so bestünde die Gefahr, daß die Verbindung des Gebrauchs mit dessen Grund verloren geht, wie es in extremer Weise in der gestreuten Vielheit der modernen Warenwelt der Fall ist. Aufschlussreich ist es, dass Heidegger von hier her den weiteren Schritt zur Ontologie des Da-seins, also der spezifisch menschlichen Existenzweise, tut. Sich zu einem schon seienden Bewandtnisganzen zu verhalten, dieses ›apriorische Perfekt‹, ist geradezu entscheidend für ein Dasein und Selbstsein, wenn denn menschliches Dasein, so wie Heidegger meint, dadurch ausgezeichnet ist, ›Verstehen‹ zu sein. Sein Verstehen gründet in einem Worin, und es hat seinen Ort in einem spezifischen Weltzusammenhang. In ihn ist es geworfen. 66 Von diesem Ankerpunkt aus artikuliert es sich aber als freier Entwurf, als ein Seinkönnen dessen, das es noch nicht ist. 67 Heidegger kann diese Seinsweise des »geworfenen Entwurfs« deshalb mit Nietzsches existentiellem Imperativ gegenüber Lou Andreas-Salomé umschreiben: »Werde, was du bist«, oder bei Nietzsche besonders emphatisch: »Werde, die du bist!« Diese Struktur des apriorischen Perfekt legt jedenfalls nahe, dass sich der ›Gebrauch‹ nicht in einer voraussetzungslosen Konstruktion erfinden lässt, ebenso wenig wie das ethische Maß der Politik. Er hat seinen Ort immer schon in einem Überlieferungs- und Deutungszusammenhang. Zum angedeuteten semiotischen Zusammenhang des ZeugDies ist besonders auffällig bei K. Meyer-Abich, Praktische Naturphilosophie. München 1996, wo selbst ein Steinbruch als allererst zu legitimierender Eingriff in das Eigenrecht der Natur erklärt wird. 67 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 145. 66

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seins gehört das Phänomen des Un-zuhandenen, Störenden wesentlich mit hinzu. Es macht die Verweisung auf einen Gebrauch erst ausdrücklich, ja, wie Heidegger sagt, aufdringlich. Und dies geschieht durch Redundanz (ein Zuviel, das gerade nicht dienlich ist) oder durch Mangel, der in der Lebenswelt eine Leerstelle lässt. Dies ist ein (freilich nicht das einzige) Moment, an dem die Gebrauchsdimension in die Eminenz des Kunstwerks übergeht. Denn das Kunstwerk kann die Störung des Gebrauchs implizit oder explizit thematisch werden lassen. Es kann zeigen, wie der Gebrauch durch ein Zuviel oder Zuwenig, durch Einschaltung des störenden Widerstandes seiner Selbstverständlichkeit entrissen wird. Hier könnte auch ein ästhetisches Design seinen Ort finden, vor dem Horizont der Verborgenheit und Selbstverständlichkeit des Gebrauchs, die es dann und wann hervorzuheben gilt, wenn der Gebrauch nicht zum ›Brauch‹ verhärtet werden soll, zu dessen Erhellung es keine andere Antwort geben würde als: ›so machen wir es eben‹. Diese Erwägungen sind bei Heidegger nicht primär ästhetisch oder kunstphilosophisch kontuiert. Sie stehen im Zusammenhang von Heideggers Frage nach einem ›natürlichen Weltbegriff‹. Ihn sieht er durch die mit der Urstiftung neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaft bei Descartes (und Bacon oder Galilei) aufkommende Differenz zwischen sich entwerfendem Ego als ›intelligiblem Ding‹ (Subjekt) und der Außenwelt als Objekt (res extensa) unterhöhlt. Menschliches Da-sein, dieser ausgezeichnete Seinssinn, ist aber nicht in diese Dualität zu überführen. 68 Dazu kommt, dass es als Ding, auch als denkendes Ding, in keiner Weise angemessen beschrieben ist. Es ist vielmehr ›In-der-Welt-sein‹ und weist dabei den Grundzug eines Umgangsverhältnisses, eines um sich Bekümmertseins auf. Deshalb spricht Heidegger auch davon, dass Dasein das Sein sei, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst gehe. 69 Der natürliche Weltbegriff hängt selbstverständlich nicht vom Sein und Entdeckt-sein von Zeug ab. Man hat sich das Grundverhältnis eher so zu denken, dass im Gebrauch ausdrücklich wird, was im natürlichen Weltverhältnis jeweils ›da‹ ist, ohne doch expliziert otl aicher, analyse ’80. untersuchung zur frage der aktualisierung des erscheinungsbildes der lufthansa. März 1980, in: Otl Aicher zum 75. Geburtstag, a. a. O., S. 60. 69 Heidegger, Sein und Zeit, S. 7 f. 68

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zu werden. Welt leuchtet auf als ›Da‹ vor aller Feststellung und Betrachtung. Heidegger hat dies in der folgenden Weise expliziert, Welt sei etwas, »worin das Dasein als Seiendes je schon war, worauf es in jedem irgendwie ausdrücklichen Hinkommen immer nur zurückkommen kann.« 70 Nur in wenigen Strichen sollte noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Heidegger, so klar sein Werkbegriff zunächst gegen eine Ästhetisierung zu sprechen schien, den Brückenschlag zum Kunstwerk tut. Heidegger setzt auch in seiner Kunstwerk-Abhandlung (1935) beim ›Zeug‹ an. Denn die Phänomenalität des Zeugs exponiert er von einem Kunstwerk her, van Goghs ›Bauernschuhen‹, auf dem der Grundzug des Mitdaseins, die Verlässlichkeit, zur Darstellung kommt. »Was geschieht hier? Was ist im Werk am Werk? Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Bauernschuhe, in Wahrheit ist. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit seines Seins heraus.« 71 Die Ausdeutung, durch die Züge, die sonst verborgen inhärent bleiben, hervorgetrieben werden, ist nach Heidegger also die signifikante Funktion des Kunstwerks. Damit ändert sich auch die Bewegungsrichtung der Explikation. Denn nicht der Zeugcharakter zeigt, was ein Werk ist. Es ist genau umgekehrt: dass derartiges wie Zeug ist und wie es ist, dessen wird sich der Betrachter dauerhaft erst am Werk inne. Denn »das einzelne Zeug wird abgenutzt und verbraucht; (und) zugleich gerät damit auch das Gebrauchen selbst in die Vernutzung, schleift sich ab und wird gewöhnlich. So kommt das Zeugsein in die Verödung.« 72 Am Werk wird damit offensichtlich, was das Zeug als Typos, immer wiederkehrend, ist. Vor diesem Horizont aber erschließt sich auch das Einzelding. Aus dieser Phänomenevidenz heraus ist Heidegger an die Beschreibung eines alten Kruges herangetreten. 73 Ibid., S. 76. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, a. a. O., S. 30. Vgl. zur Geworfenheit: Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 235 ff. aus dem Licht des ›Ganz-sein-könnens‹ des Daseins und des ›Seins zum Tode‹. 72 Ibid., S. 28. 73 Die Antinomik zeigt sich übrigens im Grundtext der neuzeitlichen Philosophie, Descartes’ ›Meditationes‹ : Die strikte Parallelisierung und damit Distinktion zwischen ›res cogitans‹ und ›res extensa‹, die in den ersten beiden Meditationen grundgelegt ist, kann in der sechsten Meditation nicht aufrechterhalten werden, wenn Des70 71

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Das zweite große Beispiel in Heideggers Abhandlung ist der griechische Tempel. Auch seine Bedeutung erschließt sich erst von dem Bewandtniszusammenhang her, in dem er steht. Und dabei ist entscheidend, dass das Werk diese Bezüge erst eröffnet, wenn es aus der Mitte seines Gebrauchs, in diesem Fall dem Kultus, bedacht wird. Der Gebrauchsbegriff verschiebt und erweitert sich dabei noch einmal gegenüber den Alltagsdingen wie dem Schuhzeug bei van Gogh. »Die ›Ägineten‹ in der Münchener Sammlung, die ›Antigone‹ des Sophokles in der besten kritischen Ausgabe, sind als die Werke, die sie sind, aus ihrem eigenen Wesensraum herausgerissen […] Weltentzug und Weltzerfall sind nie mehr rückgängig zu machen. Die Werke sind nicht mehr die, die sie waren.« 74 Anstelle von Gebrauch spricht Heidegger auch von Bewahren. Dieser Grundzug zeigt ein gleichsam sublimiertes Gebrauchen als unhintergehbaren Grundzug des Werkseins an. »So wenig ein Werk sein kann, ohne geschaffen zu sein, so wesentlich es die Schaffenden braucht, so wenig kann das Geschaffene selbst ohne die Bewahrenden seiend werden.« 75 Der Wahrheit, die im Werk geschehe, entspreche in jedem Fall das Verwiesen-sein auf einen Bewahrenden. Heidegger hat, wie man weiß, Wahrheit als A-letheia begriffen, als Heraustreten aus dem Verborgenen, Vergessenen. Dieses Offene gilt es seinerseits in die Sorge zu nehmen. Deshalb muss das Bewahren, wenn es nicht in der Musealität erstarren soll, aufs Neue die Wahrheit entspringen lassen. Sie entbirgt sich gleichsam im Aufbewahrten. All das bedeutet, dass Kunstwerke im Zusammenhang einer Lebensform und deren -praktik ihren Ort haben und ihre Rolle spielen. In einer ähnlichen Weise hat einer der innovativsten analytischen Kunstphilosophen der neueren Zeit, Richard Wollheim, davon gesprochen, dass die Frage nach dem Wesen der Kunst am sinnfälligsten zu beantworten sei, wenn man nach der Kunst als Lebensform frage. Wollheim hat dies freilich an die ›ästhetische Einstellung‹ gebunden und ist damit erneut einer Trennung von Kunst und Gebrauch verfallen. Allerdings hat Wollheim in den Zusammenhang seiner Erwägungen über Kunst als Lebensform eine trefcartes nämlich meint, die mens sei mit dem Leib verflochten und ihm nicht äußerlich, wie der Steuermann seinem Schiff. 74 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 36. 75 Ibid., S. 68.

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fende ethische Bemerkung eingeschaltet, die Kunst im Zeichen des Gebrauchs als einen Verzicht des produzierenden Künstlers auffasst. Er gibt notwendigerweise in der Konfrontation mit seinem Medium die Reinheit seiner Idee zu einem Teil preis und dies geschieht erst recht, wenn sein Werk öffentlich wird. Es ist gerade diese verzichtende Zurücknahme (um des Materials und der Publizität willen), die im Zusammenhang des Gestaltens eine besonders zentrale Bedeutung hat. Wenn der Designer nicht auf eine Ästhetisierung von Alltagswelten zielt, eine Art Optimum und Maximum, leistet auch er diesen Verzicht. 76 Heidegger hat bekanntlich als Grundzug jedes Kunstwerks die Doppelung von Welt und Erde, der Verschlossenheit und des Aufgangs ins Offene aufgewiesen. Das Kunstwerk setzt beide zueinander in ein Verhältnis, das näher als Streit zu bestimmen bleibt. Geformte Gestalten werden also in dieser Denkform nicht mit Objekten gleichgesetzt. 77 Der Riss ist für Heidegger gleichsam der metaphysische Ort, an dem Her-vor-bringen, Zur-Erscheinungkommen, geschieht. Diese Struktur weist über den schöpferischen Individualvorgang hinaus. Sie ist entzweiend und selbst strittig. Ähnliches ist in Walter Benjamins Besetzung des Begriffs der ›bricolage‹, einer Rettung des Gemachten, Gebastelten, des Werkes mitzuhören. Das Gemachte eines Werks wird deshalb als in besonderem Maß auratisch begriffen, weil die Rauheit und Urstruktur von Formen unwiederholbar ist. Die Gebrauchs- und Umgangsdimension ist offensichtlich die Leerstelle in Benjamins Theorie. Wenn er festhält, dass im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit das auratische Moment verschwinde, so bedeutet das auch, dass das Gebrauchen verlernt worden ist. Mit anderen Worten ließe sich auch sagen, dass als Riss (und Streit) zwischen Welt und Erde die Doppel-Natur des schöpferischen Aktes selbst umschrieben wird. Insofern würde Heidegger einem Wort von Marcel Duchamp zugestimmt haben, wonach »alles in allem […] der kreative Akt nicht vom Künstler allein vollzogen« wird. 78

Im Folgenden grundlegend ibid. Heidegger, Das Ding (1950), in: ders., Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 71990, S. 157 ff. 78 Richard Wollheim, Objekte der Kunst. Frankfurt/Main 1982, insbesondere S. 89 ff., S. 102 f. 76 77

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Aus der Gebrauchsdimension heraus lassen sich die Hauptsätze von Heideggers später Lehre vom Ding und vom Bauen, Wohnen und Denken transparent machen. Dass am Einzelding, einem alten Krug, je eine Welt aufgehe, war die in gewisser Hinsicht in den Expressionismus zurückweisende Ausgangsthese seiner Ding-Abhandlung. 79 Das Antizipatorische ist eben der Zusammenhang von Form und Gebrauch. Allerdings bindet der Bezug von ›Zeug‹ und In-derWelt-Sein eines Da-seins für Heidegger diese Fäden erst zusammen. 2.) Auf alle bisher angestellten Erwägungen ist mit einem Einwand Hans Blumenbergs, des großen Durchforschers der Welt der Vorund Nicht-Begrifflichkeit, Bezug zu nehmen. Wie Blumenberg im Anschluss an Husserl und Alfred Schütz nahelegt, sind sie nämlich aus der Lebenswelt heraus gewonnen. 80 Diese ist durch Alltäglichkeit und damit Selbstverständlichkeit ausgezeichnet. Sie ist nicht durch Theorie präformiert und prädisponiert. Sie ist gleichsam die Insel, auf die sich der Mensch vor planetarischer Technik und globaler Ökonomie zurückziehen möge. Blumenberg führt seine Deskriptionen dann zu der These weiter, dass die Lebenswelt immer schon als sinnhaft gedacht werde. Sinn erscheint als die unauffällige Konstante in jeder ihrer Beschreibungen. Doch solchen Sinn kann es recht verstanden nur in der »Unmerklichkeit des sich von selbst Verstehenden« geben. 81 Von Durchkreuzungen der Selbstverständlichkeit abzusehen, und damit seit alters auch von den Versuchungen reiner Theorie, ist konstituierend dafür, dass die Kategorie der Lebenswelt überhaupt fortdauert. In Heideggers Akzentuierung des Wie-seins indirekt nachgebildeten Bestimmungen dekretiert Blumenberg: »Es ist also fast gleichgültig, welche Dinge in einer Lebenswelt vorkommen, da es vielmehr allein darauf ankommt, in welcher Modalität sie es tun.« 82 In der Lebenswelt ist also, mit

Auch diese Interpretation bleibt bei Wollheim bestimmend. Zit. nach Hubert Sowa, Agonale Kunst, in: M. Riedel (Hg.), ›Jedes Wort ist ein Vorurteil‹. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 215 ff., zit. S. 215. 81 Vgl. Bloch, Geist der Utopie. Erste Fassung. Faksimilieausgabe. Frankfurt/Main 1971, S. 13 ff. 82 Vgl. Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 22 ff. 79 80

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Nietzsches ›Zarathustra‹, die Welt gleichsam zum Garten geworden. Der Grenzziehung nach außen entspricht als notwendiges konstituierendes Moment die zweckhafte Wohlgeordnetheit nach innen. Solche Umhegungen sind für die Urstiftung von Zivilisation und Bürgerlichkeit geradezu konstitutiv. Es ist daher ein Irrtum, wenn Peter Sloterdijk die Stadt als Regressionsort wahrnimmt. Der abgegrenzte Topos kann seine Weltlosigkeit nicht festhalten. 83 Er ist zudem nie ganz Garten, sondern Kollisions- und Spiegelungs-Fläche, so dass die ›Lebenswelt‹ auf die komplexen Weltmechanismen trifft. Allerdings bleibt die Neigung, sich die Polis als Lebenswelt zuzueignen, ungestillt. Dies hat immer auch damit zu tun, dass der Vernunft ein eigenes Feld bereitet werden soll, im Wissen, dass sie auf Erden doch nicht umfassend heimisch werden wird. Hierin beruht wohl die politische Gebrauchsdimension, nicht des einzelnen Zeuges, auch nicht des einzelnen Bauwerks, sondern der Stadt. Dass dies eine Einhegung und zugleich Zähmung der Menschennatur bedeutet, hat die politische Philosophie von Anfang an gesehen, und es ist wohl nicht das geringste Wagnis des ›global village‹, dass Zivilität in kosmische Dimensionen ausgedehnt werden soll. Ob der Gebrauch solchen Erweiterungen zugänglich ist, wäre ein eigenes Problem. Die mit Blumenberg aufgeworfene Frage, ob der Gebrauchsbegriff in einem nur lebensweltlichen Reservat angesiedelt sein kann, ist von umso größerer Bedeutung, als fraglich ist, wie lange solche Rückzugsräume in einer globalen, alles umfassenden Zivilisation bestehen bleiben. Es schiene mir in die Irre zu gehen, daraus eine weit greifende kulturkritische Diagnose abzuleiten, auch wenn Heidegger von solchen Tendenzen in späteren Zeiten nicht frei war. Dass er die ›planetarische Technik‹ in ein ›Ge-stell‹ übergehen sah, in dem keine Richtung mehr zu finden sei, so dass die Erde zu einem Irrstern werde, dies ist nicht insofern von bleibender Bedeutung, als Heidegger die Philosophie in ein Andenken und Er-innern, eine stille Verwindung, überführen wollte. Heideggers Rede von Armut und Gelassenheit hat alte Wurzeln in der Mystik, vor allem bei Meister Eckhart, und sie kann doch die Abstinenz, ja den Mangel an praktischer Urteils-

Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt/Main 1986, S. 86, vgl. auch die Deskriptionen, ibid., S. 60 ff.

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kraft nicht bemänteln, dem dieser Denker erlag, als er 1933 sein Syrakus suchte. 84 Die Gelassenheits-Implikation ist auch in die Labyrinthe der Moderne verstrickt. Es war wesentlich die Dimension des politischen Gebrauchs, die Richard Sennett auf ganz anderen Wegen dazu brachte, in seinem grandiosen Buch ›Fleisch und Stein‹ den Körper und die Stadt aufeinander zu beziehen; und die Logik aber auch die Politie von Städtebildern von der Agora des antiken Athen bis zu den Megalopoleis des 21. Jahrhunderts, in der Korrespondenz mit den sie bewohnenden Körpern aufzuweisen. Bei Sennett findet man jene soziale Dimension des Gebrauchs, der der frühe Heidegger einmal nahe war, als er vom Öffentlich-werden des Zeug- und Lebenszusammenhangs sprach, und den der verborgene Zauber von Messkirch wieder verschloss, ins Urbane erweitert. Diese Dimension des Gebrauchs, die sich gleich bleibt und die die Stadt formiert, umschreibt Sennett am Ende seiner Studie: »Die Sympathie für die anderen kann nur entstehen, so glaube ich, wenn wir begreifen, warum der körperliche Schmerz einen Ort braucht, an dem er anerkannt wird […] Solcher Schmerz hat eine bestimmte Bahn in der menschlichen Erfahrung. Er desorientiert und macht das Ich unvollständig […] Der den Schmerz anerkennende Körper ist bereit, ein gesellschaftlicher Körper zu werden, empfindlich für den Schmerz einer anderen Person, für Schmerzen, die auf der Straße präsent sind.« 85 3.) Fordert der Gebrauch eine spezifische Ästhetik, also im Wortsinn eine eigene Wahrnehmungslehre? Sie schließt den Charakter des Kunstwerks ein, nicht zuletzt, um auf diese Weise einer Verfestigung des Gebrauchs zum Selbstverständlichen, zu Fixierungen von Brauch und Folklore, ein Antidotum entgegenzusetzen. Dass die Orientierung am Gebrauch auch auf Zweckhaftigkeit abzielt, versteht sich. Zweckhaftigkeit ist aber, wenn man von der natürlichen Weltstruktur, die Heidegger vor Augen stellt, her denkt, nicht als Zweck-Mittel-Zusammenhang misszuverstehen. Eher ist es das Spiel der Einbildungskraft, von dem die kantische Urteilskraft Ibid., S. 65. Dies wird in dem Aufsatz Peter Trawny: Die Armut der Geschichte. Zur Frage nach der Vollendung und Verwandlung der Philosophie bei Heidegger, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 53 (1999), S. 407 ff. m. E. viel zu gering veranschlagt.

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spricht. Der Zweckbegriff wird also im Sinn einer Zweckrationalität nicht ausgeschöpft sein. Im Kontext des Gebrauchs ist die ZweckMittel-Relation in eine Wechselseitigkeit zu transponieren. Sie biegt sich mithin gleichsam kreisförmig auf sich selbst zurück. Es ist vielleicht das bedeutendste Erbe von Kants Ästhetik des interesselosen Wohlgefallens, einen Zweckbegriff exponiert zu haben, der sich in Zweckrationalität keineswegs erschöpft. Die ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ führt vielmehr in das unendliche Gespräch der Gemütskräfte gegenüber dem schönen Gegenstand. Sie wird zum handhabbaren Folgebegriff des Ideals der Vollkommenheit (›perfectio‹). Diese Vollkommenheit wird der Natur abgelesen, nicht als ob wir ein Wissen von deren Wesen oder Allheit hätten, eine teleologische Gesamtperspektive, in deren Licht die Natur als letztlich geordnet erscheinen würde. Wohl aber in dem Sinn, dass aus der Erfahrung mit sinnhaften Naturzusammenhängen ein Analogieschluss auf Zweckhaftigkeit als Vollkommenheit zulässig ist. Kant formuliert es so: »In einem solchen [nämlich zweckhaften; H. S.] Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur durch alle übrige[n] da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug [Organ] gedacht.« 86 Genauer bedeutet dies aber, dass im Sinn der Teleologie der Natur jedes Seiende als ein die anderen Teile erst »hervorbringendes Organ gedacht wird, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der Natur sein kann: also als organisiertes und sich selbst organisiertes Wesen« verständlich. 87 Die Simulation von Natur könne die Kunst gar nicht leisten, denn im Zusammenhang der Kunst müsse immer eine Intelligenz ausserhalb der Wechselwirkung angenommen werden: nämlich der Künstler. Es ist fraglich, ob diese Orientierung derart zwingend ist, wie Kant meint, und ob das Regeln gebende, schaffende Subjekt einfach außerhalb des Gebrauchszusammenhangs verortet werden soll. Wesentlich ist aber Kants Definition der Zweckhaftigkeit, exemplifiziert übrigens am Verhältnis von Knospe, Blatt und Baum, 88 als dem maßgeblichen Teil-Ganzes-Verhältnis: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden 86 87 88

Kant, Kritik der Urteilskraft B 291, A 287. Ibid. Ibid., B 288, A 284.

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Naturmechanism zuzuschreiben.« 89 Es geht hier um die Wahrnehmung eines Augenaufschlags der Natur, die im Kunstgebilde an ihr Ziel geführt werden kann. Jene Zweckhaftigkeit lässt Bewunderung und Verwunderung zu. Sie folgt gerade nicht der strikt geometrischen Form. Sie spielt stattdessen und bringt eine Überfülle an Gestalten hervor, die sich im freien Spiel unserer Erkenntnisvermögen, also gleichsam in einer Intelligibilität der Sinne, erschließt. Der Begriff des Gebrauchs muss gegenüber dieser Schönheit offen sein, die nicht zu demonstrieren, sondern dem anderen nur anzusinnen ist. Man kann noch in dieser Linie Nietzsches spätere Warnung verstehen, dass es sich verbiete, den Gebrauch, so wie der Funktionalist dies tun würde, teleologisch auf einen bestimmten Zweck hin zu definieren (der Art: ›die Hände sind zum Greifen da‹). Der Gebrauch wird vielmehr einen Reichtum von Facetten entfalten, eine Semiotik der Lebenswelten, die auf verschiedenen Ebenen von Intelligibilität und Sensibilität allererst fassbar ist. Eine Wahrnehmungslehre, die aus der Gebrauchsdimension schöpft, ist nicht ohne Raum und Zeit zu denken. Dies führt zu Georg Pichts treffsicherer Bemerkung, dass in jedem Phänomen seine Welthaftigkeit und Zeitlichkeit mit wahrgenommen wird und dass der Wahrnehmungsakt selber sich erst konstituiert, indem die Wahrnehmung der Zeit sich in ihrer Einheit erfahren lässt; näher als ein Einswerden zwischen der Zeit des Werks und der Zeit dessen, der mit ihm Umgang hat. 90 Diese Zeitlichkeit führt, wie Picht in einleuchtenden Analysen dargelegt hat, über die Trennung zwischen Subjekt und Objekt hinaus. Denn Zeit ist zugleich die äußerlich vergehende und die innerlich wahrgenommene Zeit. So zeigt sich die Fläche zwischen dynamischer und statischer Zeit. Einheit der Zeit ist in der Differenz angesiedelt, die im Umgang mit dem Kunstwerk zur Manifestation kommt, zwischen dem Gegenwärtigen und dem Nicht-Gegenwärtigen, dem Erwarteten oder schon Gewesenen. Zeitlichkeit entfaltet ihren Sinn darin, dass das Sichtbare und das Nicht-Sichtbare, das Hörbare und das Nicht-Hörbare ineinandergreifen. Eine vereinzelte Ibid., B 296, A 292. Vgl. dazu Georg Picht, Kunst und Mythos. Stuttgart 21987, S. 267 ff., zum Verhältnis von Darstellungsraum und Zeit.

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Farbe ist, wie der ehemalige Bauhauslehrer Joseph Albers in seiner fundamentalen Studie ›Interaction of Color‹ gezeigt hat, noch überhaupt keine Farbe. 91 Die Temperierung der Farben zeigt sich ebenso wie der Ton allererst im Verhältnis zu verwandten oder komplementären Phänomenen, also indem sich die Wahrnehmung dem nicht unmittelbar Wahrnehmbaren aussetzt. Dabei kommt, wie gerade die Moderne lehrt, der Wahrnehmung des Zwischen, der Pausen und Zwischentöne, der Leerstellen und Schatten in der Farbgebung, die entscheidende Rolle zu. Albers schrieb: »Solange wir in einem Musikwerk nur einzelne Töne hören, hören wir noch nicht Musik. Das Hören von Musik hängt von der Wahrnehmung des ›Intermediums zwischen den Tönen‹ ab, von deren vertikaler und horizontaler Distanz.« 92 Zu dem Nicht-Sichtbaren gehört in der Neuzeit die Erfahrung der Perspektivik. Phänomene sind demnach in einem Schein der Dreidimensionalität fixiert, so dass die Annahme entsteht, sie seien so. Die Fixierung kann sie aber nur so zeigen, wie sie nicht sind. Es ist eine sublime Form des Gebrauchs, des Umgangs im wörtlichen Sinn, die diesen Schein auf ein Interpretations-Unendliches hin aufbricht, in dem sich das Ganze nur in Ausschnitten als ›ganz‹ zu erkennen gibt. Der Zusammenhang von Gebrauchsding und Kunstwerk nötigt dazu, Otl Aichers Tabusatz zurückzunehmen, dass »wer es mit kommunikation zu tun hat, […] auf kunst verzichten« müsse. 93 Denn wenn man mit Aicher davon spricht, dass »jede Zeit ihre Zeichen [hat], einmal sind es Kathedralen, dann Schlösser, dann Autos, dann Flugzeuge« 94, so ist daran zu erinnern, dass Zeichen – wie schon der Gott von Delphi, Apoll, zu verstehen gab – nicht aussprechen und nicht verschweigen, sondern lediglich bezeichnen, eine Andeutung geben (semainein). Diese Erfahrung ist einer im Umgang sich artiIbid., S. 303 ff. Siehe jetzt auch Picht, Von der Zeit. Stuttgart 1999, S. 605 ff. (Die Erscheinung der Einheit der Zeit). 92 Joseph Albers, Interaction of Color. Yale, New Haven, London 1963, deutsch: Köln 1970. Mit diesem Werk hat sich auch Georg Picht mehrfach gründlich auseinandergesetzt. Die Kleinschreibung findet sich im Original. Hier zit. Nach Picht, Kunst und Mythos, a. a. O., S. 337. 93 Otl Aicher, Ockham. Ein Bilderbogen, in: ders., Gabriele Greindl und Wilhelm Vossenkuhl, Wilhelm von Ockham. Das Risiko modern zu denken. München 1986, S. 15. 94 Otl Aicher, Grünende Ruinen. undatiertes Typoskript, Otl Aicher Archiv Ulm, hier nach Otl Aicher zum 75. Geburtstag, a. a. O., S. 60. 91

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kulierenden Wahrnehmung eigen. Geht es in ihr doch mit Goethes Satz aus der ›Pandora‹ um die Einsicht, dass wir Erleuchtetes sehen, nicht das Licht. Ein Zeichen ist also weder ein-deutig noch deutungslos, sondern auf Deutung verwiesen. Gewiss lügt der Schein. Die Ausweitung des Gebrauchsbegriffs auf die Sphäre von Kunstwerken schließt ein, dass diese nicht länger in ein imaginäres Museum verbannt werden können. Der eminente Charakter von Kunstwerken bemaß sich einmal und bemisst sich auch in der ästhetischen Moderne immer wieder an den Tiefenschichten, die Widerfahrnis (griech. pathema) werden. Der Zusammenhang von Kultus, Mythos und Kunst ist deshalb von Anfang an im Schein und Anschein des Schönen mit evident: das Undarstellbare, das im Werk, der Tragödie oder der Plastik, zur Erscheinung kam, war die erscheinende Präsenz des Gottes (griech. theos), wobei der Gott selbst unsichtbar und tabuiert ist. Ein Funktionalismus, aus welchen Theorieansätzen er sich immer speise, 95 wird dem nicht ohne weiteres zustimmen. Otl Aicher etwa formulierte schon im Jahr 1951 in dem Typoskript ›Ruinen‹ : »Mit der Technik läßt sich nicht Schund treiben wie mit der Kunst und den Ideen. Entweder es hält oder es zerreißt. Die Technik fordert Echheit, Entsprechung und Sparsamkeit. Sie läßt sich nicht belügen.« 96 Einer ›Ästhetik der Technik‹ – und auch ihrer Ethik – konnte er so das Wort reden. Über deren Dienlichkeit und Verlässlichkeit, kurz: darüber, wie man sie selbst gebrauchen kann, ist aber noch keine Aussage getroffen. Dies erfordert, über die technisch konditionierte Funktion auf die Einsichten und Facetten des Gebrauches zurückzugehen. Man kann hier daran denken, dass Sehen und Wahrnehmung selbst einen Gebrauchsaspekt haben. Sehen ist immer ein ›Sehen als‹, in Alltagswirklichkeiten nicht anders als in ästhetischen Zusammenhängen. Richard Wollheim hat diese lebensHier wäre der Ort, näher auf den philosophischen Funktionalismus eines Hilary Putnam einzugehen, der sich selbst einer weitgehenden Revision unterzog. Doch auch der mit ästhetischer und avantgardistischer Freiheit sich amalgamierende Funktionalitätsbegriff von Max Bense wäre der Untersuchung wert. Vgl. Bense, Artistik und Engagement. Präsentation ästhetischer Objekte. Köln, Berlin 1970 und ders., Aesthetische Information. aesthetica II. Krefeld, Baden-Baden 1956. 96 Otl Aicher, Ruinen, hier nach Otl Aicher zum 75. Geburtstag, S. 60. Vgl. auch das Sonderheft von Arch 98, Otl Aicher. Entwurf der Moderne. 95

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formbegründete Relation erweitert durch die Kategorie eines ›Sehens in‹. Während das ›Sehen als‹ auf Einzeldinge verweist, eröffnet sich im ›Sehen in‹ ein ganzer Bewandtniszusammenhang. »Ein Beispiel: wenn ich X anschaue und X ein Einzelding ist, kann ich eine Frau in X sehen und ich kann in X auch sehen, dass eine Frau einen Liebesbrief liest.« 97 Jede Lokalisierung lässt das ›Sehen in‹ hinter sich. Sie ermöglicht es auch, Simultaneitäten wahrzunehmen. Die Illusionen der Darstellung werden ebenso wahrnehmbar wie Fragen der Beschaffenheit des Materials oder der Faktur. Man kann zum Schluss dieser Erwägungen über den Gebrauch einen Gedanken nochmals vergegenwärtigen, den Nietzsche gegen Ende der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ ausgesprochen hat: »Die letzten Schönheiten eines Werkes zu sehen – dazu reicht alles Wissen und aller guter Wille nicht aus; es bedarf der seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonnne auf ihnen glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der rechten Stelle stehen, dies zu sehen: es muß gerade unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen haben […] Dies Alles kommt so selten gleichzeitig zusammen, daß ich glauben möchte, die höchsten Höhen alles Guten, sei es Werk, That, Mensch, Natur, seien bisher für die Meisten und selbst für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes gewesen –: was sich aber uns enthüllt, das enthüllt sich uns einmal!« 98

Und mit einem Male, Exaiphnès, so nannten die Griechen den Funken der augenblickshaften Einsicht, der nicht aus Lehre, sondern aus Erfahrung kommt, und wenn er aufgegangen ist, sich von selbst ernährt.

III. Stoff und Form: Eine kleine Philosophie des Holzes 1.) Dort, wo ich ich eigentlich herkomme, in meiner bayrischen Kindheitslandschaft und -sprache heißt Holz noch zweierlei: Holz und Wald. Gehen wir von der altbayrischen, auch alemannischen Sprachebene umstandslos in eine, die ihr sehr nahe liegt, ins Griechische: ›Physis‹ bedeutet im alten Griechischen ›Natur‹. In der doppeldeutigen Rede von Holz (auch das englische ›wood‹ enthält sie!) 97 98

R. Wollheim, Objekte der Kunst. Frankfurt/Main 1982, S. 196. Nietzsche KSA 5, S. 568 f.

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wird die Erinnerung an den Wald ablesbar, dessen Lebenszusammenhang noch einmal aufgerufen wird, wenn man ›Holz‹ sagt. Die griechische Sprache bewahrt in ihrem Gedächtnis, dass alle Kunst und Technik auf ›Physis‹ zurückgeht. Techné heißt zunächst nichts anderes, als sich auf die Natur der Sache verstehen. Man kann zwischen Baum und dem altgermanischen ›bouwen‹ einen Zusammenhang herstellen oder nicht. Die Lebensherkunft des Naturstoffes Holz gibt zu denken; und die Dichtung hat sie vielfach variiert. Ich erinnere nur an Brechts Gespräch über Bäume, das »fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt«. Bäume sind für Brecht, wenn man andere Gedichte mit heranzieht, ein Synonym für Freundlichkeit, vergleichbar dem Rauch, der freundliche Bewohnbarkeit der Welt anzeigt. Er hatte dabei weniger dichte Wälder als vereinzelte bedrohte Bäume in den Städten vor Augen. Über sie zu sprechen, ist also Zeichen glückenden Lebens, bewahrter Humanität. Den »Baum Grien« vor seinem Fenster, einen Städtebewohner wie er selbst, hat Brecht höflich mit ›Sie‹ angeredet, die Pappeln am Sund im Svendborger Exil hatte er täglich vor Augen. In seine luziden Svendborger Gedichte bringen sie einen dunkleren, feenartigen und geheimnisvollen Ton. »Schlag’ noch einmal den Bogen / um mich, du grünes Zelt«, heißt es bei Eichendorff in dem Gedicht ›Abschied vom Wald‹, das keiner vergisst, der es einmal in der Vertonung Zelters gehört hat. »Im Walde steht geschrieben manches dunkle Wort.« Design bedeutet im Wortsinn nur ›Bezeichnung‹, ›Hervorhebung‹. Hieße Design auf Holzwegen nur dies, einen bestimmten Naturzusammenhang, eben die Bäume, hervorzuheben und zu akzentuieren? Offensichtlich sind es nicht nur die Kindersorgen, die der Erfahrung und dem Chanson gemäß, mit Bäumen geteilt werden können, sondern überhaupt die Selbstverständigung unseres Daseins. Rilke spricht deshalb am Beginn der vierten Duineser Elegie wie selbstverständlich von ›Bäumen des Lebens‹. Man hat es bei diesem sehr besonderen Stoff nicht mit bloßem Material für eine spätere Formgebung zu tun. Holz ist vielmehr selbst schon geformt, durch Maserung und Jahresringe. Die Kunst oder ›Technik‹ der Natur wird in der entwerfenden Formgebung nicht oder nur unter der Strafe des Misslingens diese Matrix übergehen können. Dabei bildet sich die Physis des Baumes im Wechsel der Jahreszeiten, aus den unfesten Gestalten durch Verholzung. In ihr manifestieren sich 403 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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Zeitschichten, und es hat einigen Reiz, eigene und fremde Lebensgeschichte in den Spuren der Jahresringe abgebildet zu finden. Daran erschließt sich das Grundphänomen von Werden und Vergehen, das seit alters zu denken gab. Die Spannung zwischen Natur und Kultur oder Zivilisation wird bei Hervorbringungen aus Holz besonders sichtbar: Die Holz-Natur hat auch noch plastische Kraft, wenn sie in Gebilde von Kunst und Natur überführt worden ist. An ihrer Prägung zeigt sich, welche Formungen ›möglich‹ sind, welche ›unmöglich‹ bleiben müssen. Merkwürdig genug changiert in der alteuropäischen Dichtung und Mythologie menschliches Leben immer wieder in das Leben der Bäume. Man denke an die Verwandlungsszenen in den ›Metamorphosen‹ Ovids oder an einige der vielen altgermanischen, skandinavischen Zeugnisse, die die Brüder Grimm in ihrer Mythologie gesammelt haben. Der Holunder wird für heilig gehalten. Man schlägt ihn nicht ab. Wenn er beschnitten wird, wird deshalb mit gebeugten Knien der Vers gesprochen: »frau Ellhorn (das Wort für Holunder) gib mir was von deinem holz, dann will ich dir von meinem auch was geben, wann es wächst im walde.« Dies ist eine Besonderheit, die Holz von anderen gewachsenen festen Stoffen, Erz, Stein, unterscheidet und die man sich vielleicht daraus erklären kann, dass das Wachstum des Baumes kaum nach menschlichen Zeitmaßen beobachtbar ist; aber zu ahnen ist, dass ein Lebenszusammenhang, der uns überdauert, doch in seiner Genesis von uns mitverfolgt werden kann und uns wiederum zu einer Zeichenschrift des Lebens wird. Dementsprechend begleiten Gegenstände aus Holz menschliches Leben von der Wiege bis zur Bahre. Bäume sind im antiken Griechenland heilig, das heißt nüchtern beseelt verstanden worden. Die Rinde wird als Haut gedeutet, die bluten kann. Bäume sind nicht nur Versammlungsorte, in ihnen wird eine bestimmte Aura greifbar. Der Begriff des Schönen wurde, wie der amerikanische Philosoph Arthur Danto zu Recht kritisch anmerkte, allzu lange auf die schönen Künste eingegrenzt. Schönheit liegt aber in den Dingen und damit auch in der Natur. Sie kann wie ein Leuchten an einem Gebrauchsgegenstand hervorbrechen; und es scheint mir nicht ganz abwegig, dass es gerade das Naturmoment ist, das die Aura erzeugt. Walter Benjamin hat dies bekanntlich anders verstehen wollen. Auratisch war für ihn die Schöpferkraft, die einmalige Signatur eines Werkes, und er sah in der Moderne als dem Zeitalter technischer 404 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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Reproduzierbarkeit der Kunst diese Einzigartigkeit schwinden. Mir scheint, dass Holz sich der Reproduktion zum Massenstück schlechterdings entgegensetzt, es ist reale Gegenwart. Jener weitere Begriff der Schönheit, jene Verklärung des Gewöhnlichen, sollte nicht auf die Intention des Entwurfs begrenzt werden. Schelling hat dazu einmal angemerkt: »Wer sein Aug’ einigermaßen für die freie Betrachtung der (Gebrauchs-) Dinge geübt hat, weiß, dass sie nicht durch dasjenige allein schon vollendet erscheinen, was zu ihrem Dasaein schlechthin notwendig gehört. Es ist noch ein Anderes um sie oder in ihnen, das ihnen erst den vollen Glanze und Schein des Lebens erteilt. Ein Überflüssiges spielt gleichsam um sie und umströmt sie als ein zwar unfassliches, doch nicht unbemerkliches Wesen.« 99

In ähnlicher Weise hat Mörike in seinem Gedicht ›Auf eine Lampe‹ die später viel berufene Ambivalenz des »Seelig scheint’s in ihm selbst« evoziert. Ulrich Hommes hat einmal die Überlegung angestellt, ob es nicht mit zunehmender Perfektionierung der Funktionsfähigkeit geradezu zwingend seltener werde, dass die Dinge leuchten. Vielleicht auch weil sich dieses Leuchten in der fabrizierte Reproduktion nicht mehr sehen lässt. Die Wahrnehmung des Naturcharisma führt aber eine Kultur der Aufklärung, Skepsis, Selbstbefragung, als die die abendländische Welt sich verstand, an ihre Grenzen: Paul Valéry ließ in einem fingierten Dialog Sokrates am Meer entlanggehen und ein tangüberspültes, von Muscheln umgebenes Stück Holz wahrnehmen. Sokrates wollte daran seine übliche, auf Definitionen zielende Frage ›ti estin‹ richten; doch vor der Naturform versagte die Untersuchung, vielleicht sogar der ›untragische‹, vom Naturgrund sich abwendende, innerstädtische Begriff des Philosophen (Nietzsche), der mit Sokrates beginnt. 100 Und derselbe Paul Valéry sprach in anderem Zusammenhang von der sich im Sehen unmittelbar erschließenden Form, die nach Sinn verlange. An dieser Stelle liegt es nahe, etwas in die Labyrinthe der Moderne hineinzuleuchten, die keineswegs so städtisch naturfern sind, wie es mitunter den Anschein hat: Für Thomas Bernhard war der Wald Atem- und Lebensraum, eine Kultur, die nicht ersticken lässt, 99 100

Hier zit. nach U. Hommes, a. a. O., S. 80. Platon, Phaidros 230 c–d.

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wie jene, die sich die verschmockte Kulturschickeria zugelegt hat. Der Wald war diesem monströs unglücklichen Musiker süddeutschösterreichischer Sprachmelodien aber keineswegs Idylle. Dies war er übrigens für keinen, der ihn kannte, auch nicht für Adalbert Stifter, der in den verschiedenen Waldformationen das Holz wachsen hörte und dem die Jahresringe der Bäume Geschichtszeichen wurden. Der Ort, da sich atmen lässt, ist zugleich ein Gerichtsort, an dem die Unterscheidung zwischen Gut und Böse getroffen wird. Das macht die Freiheit des Waldes aus: »Durch die ganze Philosophie kann man ja hindurchgehen wie durch diesen entsetzlichsten Wald der ungeheuerlichsten Verletzungsmöglichkeiten […] Wir glauben ja, dass alle Türen zu öffnen sind, bis wir sehen, dass das nicht der Fall ist«, schreibt er in einem Text, in dem der Grundtenor unverkennbar ist: Holz zwingt zur Erkenntnis. Daneben war für den Alteuropäer Thomas Bernhard Holz der Stoff der Gediegenheit. Mit josephinischem Meublement, in dem die Klassizität hoher Kultur und großer Stil verbunden sind, umgab er sich auf seinem abgelegenen Vierkanthof in Ohlsdorf. 2.) Gehen wir einigen wenigen Markierungspunkten nach, die zeigen, wie Holz gedacht wurde. Schon Kant war es, der auf die innere Verbindung von Natur und Kunst hingewiesen hat, die dann durch den Topos, dass nur das aus dem Geist Geformte auch im vollen Sinne schön sein könne, überdeckt wurde. Er hat in seinem Spätwerk, der ›Kritik der Urteilskraft‹, das ›Geschmacksurteil‹ in eine unerhörte Bedeutung gehoben. Denn es sollte exemplarisch für die Urteilskraft selbst stehen, die Klugheit, die uns allgemein für wahr erkannte Gesetze auch richtig anwenden lässt. Aufgabe der Urteilskraft ist es, zu einem gegebenen Einzelnen das Allgemeine zu finden. Das ist die umgekehrte Schrittfolge als in der Logik. Analogie, Symbol, Einbildungskraft sind daher die Kategorien der Urteilskraft. Schön ist, was ohne Begriff, ohne alles Interesse, allgemein und notwendig gefällt, so hat Kant den ersten großen Pfeiler der Urteilskraft, die Beurteilung des Schönen, umschrieben. Und dafür gibt er ein einziges Kriterium an: dass das Schöne das ›freie Spiel‹ unserer Erkenntniskräfte, Einbildungskraft und Verstand, in Gang setze. Man kann sich fragen, welche Art von Formenspiel diese Forderung erfüllt. Bei Kant sind es jedenfalls nicht die Regelmäßigkeiten der geometrischen Gestalten. So hält er fest: »Alles Steif-Regelmäßige 406 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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(was der mathematischen Regelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackswidrige an sich: dass es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung desselben gewährt, sondern, sofern es nicht ausdrücklich die Erkenntnis oder einen bestimmten praktischen Zweck zur Absicht hat, Langeweile macht. Dagegen ist das, womit Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu, und man wird seines Anblicks nicht überdrüssig.« 101 Der bedeutende Kupferstecher Hogarth meinte seinerzeit, die Grundform in einer Wellenlinie, einem umgelegten ›S‹ gefunden zu haben. Es bleibt dann allerdings die Frage, wie sich solche sehr elementaren Linien in eine größere ornamentale Gestalt fügen lassen; ohne dass der Zusammenhang von Einheit und Abwandlung in eine mechanische Repetition übergeht. An diesem Punkt kommt Holz, der Natur- und Weltstoff, wieder in den Blick. Kant spricht, vielleicht auch auf das Holz bezogen, von der paradigmatische Bedeutung der ›freien Bildungen der Natur‹. Solche freien Bildungen, die aber nicht in mathematischer Regelmäßigkeit verlaufen, lassen den Gedanken einer Zweckhaftigkeit der Natur zu, die nicht mit mechanischen Zwecken zu verwechseln ist. Was er meint, hat Kant im Einzelnen an Versalzungen oder Kristallisierungen und, ganz elementar, am gefrierenden Wasser verdeutlicht, »in welchem sich zuerst gerade Eisstrählchen erzeugen, die in Winkeln von 60 Grad sich zusammenfügen […], so dass während dieser Zeit das Wasser zwischen den Eisstrählchen nicht allmählich zäher wird, sondern so vollkommen flüssig ist, als es bei weit größerer Wärme sein würde, und doch die völlige Eiseskälte hat.« 102 In anderen Zusammenhängen spricht Kant auch von der inneren Zweckmäßigkeit, die an organischen Gebilden erfahrbar wird. Kriterium dafür ist, dass in einem Produkt der Natur, das man wohl eher als Energeia, also als ›im Vollzug‹ seiend begreifen kann, »ein jeder Teil so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht wird.« 103 Dies gibt der Urteilskraft, die ein einzelnes Naturobjekt untersucht, genug Gründe an die Hand, die Welt als Ganze als einen Zweckzusammenhang zu begreifen. Ein Naturpro101 102 103

Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V, S. 131. Ibid., S. 301. Ibid., S. 339.

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dukt ist, so Kant, »ein die andern Teile (folglich jeder den anderen) wechselseitig hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen […] liefernden Natur sein kann […].« 104 Kant hat diese Auffassung nirgends so klar exemplifiziert wie an der gewachsenen Struktur des Holzes, dem Naturzweck von Bäumen. Am Baum sieht Kant die scheinbar paradoxale Formulierung, ein Ding existiere als Naturzweck, »wenn es von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung ist«, sogar in dreifacher Betrachtung sich verifizieren. Zum Ersten: Ein Baum erzeugt einen anderen Baum nach dem Naturgesetz. Man erinnert sich an Aristoteles’ klassische Formulierung: »Ein Mensch zeugt einen Menschen.« 105 Dies ist ein Vorgang, in dem der Baum »einerseits als Wirkung, andererseits als Ursache von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht, sich als Gattung beständig erhält.« Die Gattungszugehörigkeit führt aber nie zur Erkenntnis des Wesens. Das Wesen liegt im Einzelding, im Individuum. Deshalb merkt Kant zum anderen an, dass sich der Baum auch selbst »als Indivduum« zeuge. 106 Denn Wachstum ist durch mechanische Gesetze jedenfalls nicht zu erfassen. Die ›Materie‹, »die es zu sich hinzusetzt, verarbeitet dieses Gewächs« zu einem Stoff von so spezifscher Qualität, dass er »sein eigenes Produkt« ist. 107 Es kommt auf den Stoff an. Man könnte die Zusammensetzung des Holzes zwar durchaus in einer chemischen Analyse zergliedern. Auch in Kants Zeit war dies möglich. Es wäre dann aber ein ›Edukt‹, in dem Bekanntes eine bestimmte Formgebung erfahren hat. Aber »in der Scheidung und neuen Zusammensetzung dieses rohen Stoffs [ist] eine solche Originalität des Scheidungs- und Bildungsvermögens« anzutreffen, dass man das Ganze zwar nach Analogie der Kunst denken kann. Man wird aber keine spezifische Kunst finden, die ihm

Ibid., S. 339 f. Vgl. dazu W. Wieland, Pro Potentialitätsargument: Moralfähigkeit als Grundlage von Würde und Lebensschutz, in: G. Damschen und D. Schönecker (Hgg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument. Berlin, New York 2003, S. 149 ff., siehe auch R. Enskat, Pro Identitätsargument: Auch menschliche Embryonen sind jederzeit Menschen, a. a. O., S. 101 ff. 106 Kant, KU, AA V, S. 335. 107 Ibid. 104 105

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gleich kommt. Holz wird erst mit dem progressiven Absterben des Baumes sichtbar, das zu seinem Wachstum gehört. Zum Zweiten ist auch das Teil-Ganzes-Verhältnis als Erzeugung zu verstehen. Kant hat die Baumpflege durch Pfropfen im Sinn, und er gewinnt ihr eine weitergehende Phänomenbeschreibung ab, die Goethes Begriff der ›Metamorphose‹, der GestaltungUmgestaltung, variiert. Blätter sind Produkte des Baumes, doch sie enthalten ihn auch ihrerseits in sich. 4.) Thematisierte Kant am Holz den Grundzug der teleologischen Weltbeurteilung und die Grundform des Schönen, so bot die Arbeit am Holzmaterial einem der größten Denker am Übergang von Mittelalter und Neuzeit, Nicolaus Cusanus, Anhaltspunkte für die Aufklärung menschlichen Geistes (›mens‹) über sich selbst und seine autonome Wirkungsweise. Die Überlegungen über das Löffelschnitzen stehen bei Cusanus in einem ganz bestimmten Zusammenhang: dem der Laienphilosophie. Wie eingehend gezeigt worden ist, 108 hat der Begriff des Laien am Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit nichts mit einer Unterscheidung von Graden der Bildung zu tun. Der Laie ist nicht Geistlicher, er ist vielleicht noch nicht einmal in den scholastischen Disziplinen bewandert. Cusanus fordert also mit seiner Laienphilosophie primär ein, dass nicht nur Bücherkundige sich über die letzten Dinge zu Wort melden sollen. Hier spricht die ungelehrte, aber in hohem Maß klare Vernunft des denkenden Menschen, die nicht in das Korsett scholastischer Begriffsübung eingeschnürt ist. Die Philosophie des Laien gibt zu erkennen, dass die Wahrheit auf den Gassen schreit, im klaren Licht des Vormittags. Sie ist jederzeit und jedermann prinzipiell zugänglich. Cusanus, der Kardinal aus Kues, war selbst ebenso sehr Weltmann, auf der Suche nach einem Religionsfrieden in der damaligen Welt, als theologischer Denker. Er hat also manche Züge des Laien in seiner eigenen Biographie gelebt. Maßstab für die Genese der Vernunft war ihm dabei die Unterscheidung zwischen dem scholastischen Bücherwissen, das Kommentare auf Kommentare gehäuft hat und dem Einsicht selbst nur ein Zitat ist, und der Evidenz, die sich aus dem Buch der Natur erschließt. Diese selbstverständliche ›claritas‹ prädestiniert gerade da108

K. Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Hamburg 1999.

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zu, in ihr Höhe und Tiefe, Geheimnis und Evidenz zu erfassen. In ihr kann sich die mythische Einheit mit Gott eher erschließen als in allem Bücherwissen. Man kann zeigen, dass Cusanus’ Denken gerade dort, wo es in höchstem Grade Zugänglichkeit beansprucht, an die Mystik rührt. Der ›Gipfel der Betrachtung‹ führt jedenfalls ins Konkrete. Er geht Cusanus am Einzelding auf, an der Versenkung in dessen vorgegebene Materialstruktur. Ausschlaggebend ist für Cusanus ein ganz bestimmter Problemzusammenhang. Der Löffelschnitzer gibt, orientiert an den Vorstrukturierungen des Holzes, jedem Löffel eine spezifische Form, die niemals die ›Idee‹ eines Löffels vollendet darstellt. Zwischen dem Namen des Holzstücks und der immerhin denkbaren Idee des Löffels entsteht aber nun eine Beziehung. Sie scheint gleichsam in ihrer konkreten sinnlichen Gestalt auf. Und hier kommt die Aktivität des Geistes zum Zug, die sich als infinite Annäherung an die Idee zeigt. 109 Wenn der Laie den Kleriker auf den Gassen über die Wahrheit belehrt, dann zeigt er ihm, dass Geist immer Betätigung ist, nie nur bloßes Vermögen. Auch dies kann noch an Aristoteles anschließen. Er hat in ›De anima‹ III, 5 vom Geist (nous) gesagt, dieser sei seinem Wesen (ousia) nach: ›Tätigkeit‹, ›Energeia‹. Die Handlung des Löffelschnitzers am Holz führt daher am individuellen Einzelfall zu einer Selbsterkundung des Geistes. Dies hat weitreichende Folgen bis in die Höhen der Trinitätsphilosphie. Cusanus bestimmt sie ausgehend von der Kunstfertigkeit des Laien, über die kein Kleriker verfügt: Die Dinge sind zunächst – im Sinn der ersten göttlichen Person – ›posse fieri‹, absolutes Sein-Können als innere Möglichkeit. Dann kommt es aber darauf an, dass sie wirklich gemacht werden können: ›posse facere‹. Das Machenkönnen muss zum Werdenkönnen hinzutreten. Und die Einheit von beidem ist die Welt, der Nexus im faktischen Verwirklichtsein. Schon die Szene ist von einer bestechenden Dramaturgie: Durch Vermittlung eines Lehrers der Beredsamkeit kommt der Philosoph zum Löffelschnitzer. Sie suchen nach einer alten Handschrift und indirekt nach dem Weg zur Weisheit. Sie finden sie, wo sie es nie erwartet hatten, eben im Kellergewölbe des Handwerkers. Die Szene ist antithetisch zum Liniengleichnis Platons als Abstieg angelegt. 109

Vgl. K. Flasch, Nicolaus Cusanus. Frankfurt/Main 1998, S. 310.

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Der Handwerker, der nach der Topik als ›Banause‹ gelten müsste, haust nämlich in einem Keller; der Philosoph muss hinuntersteigen. Das Problem zeigt sich im folgenden Satz des Löffelschnitzers: »In meiner Kunst suche ich das, was ich will, im Bild (symbolice) auf und lasse den Geist weiden« (cap I). Wonach sich die Kunst des Löffelschnitzers misst, das ist ein Urbild (›exemplar‹), das aber nicht in der Allgemeinform der Idee erkannt und begrifflich gefasst werden kann. Es gibt keinen unmittelbaren Zugang zur Idee. Man kann nur vergleichend die Urform in den verschiedensten Ausprägungen, die wir mit dem Namen eines Löffels bezeichnen, erkennen. In Abstraktion herauszusehen ist ein ›Urlöffel‹ nicht, weil es keine Vorbildung des Löffels in der Natur gibt und man sich den Löffel auch nicht als Gedanken des göttlichen Geistes denken kann, denn der bräuchte keinen Löffel. Auf der Suche nach dieser Idee gibt der Löffelschnitzer bemerkenswerte Aufschlüsse über sein Denken bei der Verfertigung der Arbeit am Holz. Der Geist weide, sagt er. Er ist also der sachgemäßen Ausübung des Handwerks zugewandt, aber er schweift ab, blickt ins Freie und wohnt gleichsam dem Handwerk nur bei. Es geht um die Erzeugung von etwas nicht Vorhandenem. Die Kunstfertigkeit (ars) des Löffelschnitzers ahmt stets von neuem sich selbst nach, sie folgt den bewährten Schritten und setzt sie immer neuen Anforderungen und auch Hindernissen am gewachsenen Material aus. Einer explizierten Idee bedarf sie nicht. Deshalb wird Löffelschnitzen Bild für die nur in Annäherung (assimilatio) mögliche Wahrheitsfindung. Symbolice, d. h. nicht eigentlich als Gerät genommen, sondern wie ein Bild betrachtet, lässt der Löffel etwas von Gott selber, nämlich das verborgene Wesen seiner Wahrheit sehen. Die scheinbar bescheidene und anspruchslose Kunst, mit der man doch kein ganzes menschliches Leben verbringen kann, wie der Philosoph meint, charakterisiert der Löffelschnitzer an einem Punkt seiner Argumentation als ›ars infinita‹ : »Denn, wenn auch der Bildhauer oder Maler die Vorbilder (exemplaria) von den Dingen, die er darzustellen bemüht ist, hernimmt, so ich doch nicht, der ich aus Holz Löffel und Schalen und Töpfe aus Lehm erzeuge (educo); denn darin ahme ich keine Gestalt irgendeines natürlichen Dinges nach; Formen von solcher Art nämlich wie die der Löffel, Schalen und Töpfe werden allein durch die menschliche Kunst vollbracht (perficiuntur). Daher ist meine Kunst 411 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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weitaus vollkommener als die der Nachahmung von geschaffenen Gestalten (figuratum creatarum) und darin der unendlichen Kunst ähnlicher.« 110 Dies deutet nicht auf eine Creatio ex nihilo. Sondern auf das ›educere‹ ; das Herausführen der Form aus dem Stoff. Demnach muss die Form schon im Stoff angelegt sein, ähnlich wie dies Albrecht Dürer in seinem Traktat über die Reißkunst sagt. Der Stoff ist die eigentliche Vordeutung des Bildes. Dass das Exemplar »als Verborgenes in seiner Verborgenheit sichtbar werden kann«, ist überhaupt nur zu erwarten, wenn man den Stoff als das Feld der Möglichkeiten begreift, in dem der Geist weiden kann. Intuitiv, und vermutlich ohne Cusanus’ Schrift zu kennen, nahm Paul Cézanne den damit gelegten Faden wieder auf, als er 1901 dem jungen Maler Charles Camoin ins Stammbuch schrieb: »Tout est, en art surtout, théorie développée et appliquée au contact de la nature.« Für Cézanne folgt daraus eine Bildästhetik, die sich behutsam von der Zentralperspektive entfernt, die übrigens auch in der Renaissance mit einiger Zurückhaltung aufgenommen wurde. Cézanne begreift als Aufgabe seiner Malerei die ›réalisation‹ ; und er verbindet damit den Anspruch, dass er nicht mimetisch male, sondern sehe, um das Sehen in ein Verhältnis zum Entzogensein der Natur zu bringen. Gerade an der Farbe zeigt sich dies. Sie führt in ihren unreinen Mischungsverhältnissen buchstäblich ›per aspera ad astra‹. Damit wird am Stoff erkennbar, was der Cusaner in seiner Schrift ›Über den Beryll‹ festhält, dass das Auge dann erst sehen lerne, wenn es »das früher Unsichtbare« zu berühren beginne. Es empfiehlt sich noch einmal in der Zeit zurückzugehen: zu Meister Eckhart, dem großen Neuplatoniker nördlich der Alpen und Mystiker des 13. Jahrhunderts, einem der Gewährsleute des Cusaners. Bei ihm wird Holz zu einer umfassenden Metapher. Er spricht in seiner achten Predigt rätselhaft genug davon »Holz sei besser als Gold.« Und er bemerkt dazu nur, es habe ein spezifisches Sein: seine Gediegenheit. Gleichnisfähig ist in erster Hinsicht das verbrennende, vom Feuer verzehrte Holz. Darin verbildlicht Eckhart nämlich die mystische Verschmelzung der Seele mit Gott. »Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe hingegen gehe ich in Gott ein«, und dies ist keine Frage eines Willens-

110

Nicolaus Cusanus, Liber de mente, cap. II.

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aktes. 111 »Das Feuer verwandelt in sich, was ihm zugeführt wird, und dies wird zu seiner Natur. Nicht das Holz verwandelt das Feuer in sich, vielmehr verwandelt das Feuer das Holz in sich. So auch werden wir in Gott verwandelt, so dass wir ihn erkennen werden, wie er ist.« Dieser Vorgang aber braucht selbst Zeit, wie Eckhart in seiner achten Predigt verdeutlicht. »Zuerst macht es das Holz warm und heiß, und dann raucht es und kracht, weil das Holz dem Feuer ungleich ist; und je heißer das Holz dann wird, umso stiller und ruhiger wird es, bis es ganz und gar Feuer wird. Soll das Feuer das Holz in sich aufnehmen, so muss alle Ungleichheit ausgetrieben sein.« 112 In seinem ›Buch von den göttlichen Tröstungen‹ hat der Meister Eckhart den Zusammenhang noch einmal aufgehellt; nämlich am Funken, der selbst eine große metaphorische Bedeutung hat: als Funke des Geistes in der Seele, der darauf verweist, dass der Tiefenblick in das Wesen nicht nach und nach gelernt, sondern exaiphnès, mit einem Mal, begriffen wird. »do daz lipliche vuir entbrennet daz holz, ein vunke emphängt des feuers« und wird dem reinen Feuer gleich. Dass nicht beliebiges Konkretes für beliebiges Abstrakte zu Symbol und Gleichnis werden kann, das lehrt schon der vordergründige Blick: Symbolisierung. Das »Symbolon« war im antiken Griechenland die Hälfte eines teuren Gegenstandes, ein Unterpfand, an dem sich die Gastfreunde wiedererkennen. »Sym-ballein« meinte das Zusammenfallen von Unterschiedenem, etwa einem Abstraktum und einem Konkretum, die dann füreinander einstehen können. Diese symbolische Kraft, ja Mächtigkeit des Holzes hat Meister Eckhart scharf gesehen. Denn an einer prominenten Stelle, in der Weihnachtspredigt, bemerkt er in einer großangelegten Ekphrasis der Epiphanie, dass der, der im epiphanischen Licht ein Stück Holz anblicke, es zu einem Engel werden sähe, zu einer Erscheinung der »[…] reine(n) Vernunft in der ersten Lauterkeit.« 113 Und an einer anderen Stelle merkt Eckhart an, dass Gottes Wesen und Leben im Stein oder Holz sei. Es ergibt sich jene Grundstruktur eines Zusammenfalls von Endlichem und Unendlichem, die in der Predigt 22 anvisiert ist. Dieser Gedanke war keinesfalls ungefährlich. Er konnte 111 112 113

Meister Eckhart, Werke Band I. Predigten. Frankfurt/Main 1993, Predigt 6, S. 80. Ibid., Predigt 8: In occisione gladii mortui sunt, S. 97 ff. Ibid., Predigt 22: Ave gratia plena, S. 255 ff.

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als pantheistisch missverstanden werden: »Hier sind alle Grasblättlein und Holz und Stein und alle Dinge Eines. Dies ist das Allerbeste und ich habe mich darein vernarrt«. 114 Eckart fährt fort, alles, was die Natur hervorbringe, das ›stürze‹ in die Vaterschaft und sei ›Eines‹, da es ein Gleichnis des Einen sei. Eckhart hat jenen Gedanken auch auf seinen spekulativen Grund zurückgeführt. Er bemerkt einmal, dass in der ›unio mystica‹ nicht nur Gott als Mensch geboren wird, sondern der Mensch selbst Gott gebären kann. Es ist für Eckhart der Grundzug des Einbildens einer Gestalt in die Gestalt des Holzes, ein Sein im Holz und ein Heraussein aus ihm gleichermaßen, das diese Gleichnisfähigkeit bedingt. Die Kulturgestalt aus der Naturgestalt herauszusehen, erweist sich als eine Art sinnlicher Umgangs mit dem absoluten Grund. Es ist vielleicht sogar die einzig mögliche Weise. Dies ist für Eckhart auch die Weise, wie Gott selbst schafft: Er bildet nach seinem Urbild und aus seinem Urbild heraus die Figurationen des wirklichen, endlichen Seienden aus. Ihren Höhepunkt erreichen die gestreuten Denksplitter über das Holz beim Meister Eckhart in Predigt 48. Hier macht er im Gleichnis »ganz verständlich«, was seine Predigt vor anderen Weisen der Theologie auszeichnen soll: »Das Gleichnis aber hatte es mit meinem Auge und mit dem Holze zu tun: wird mein Auge aufgeschlagen, so ist es ein Auge; ist es zu, so ist es dasselbe Auge. Durch das Sehen hinwiederum geht auch dem Holze weder etwas zu noch ab. Nun versteht mich recht genau! Geschieht es aber nun, dass mein Auge eins und einfältig in sich selbst ist und im Anschauen gerade auf das Holz gerichtet wird, so bleibt ein jedes, was es ist, und doch werden beide im Vollzug des Anschauens eins: »[…] das Holz ist mein Auge.« 115

Einige Zeilen später bemerkt Eckhart, dass das Auge sich aus dem Vollzug des Sehens bestimme. 5.) Wenn man in Heideggers späten Werk-Titel ›Holzwege‹ hineinhört, dann ist Vorsicht geboten. Heidegger selbst notiert in einem kleinen Vorspruch: »Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. 114 115

Ibid., Predigt 51. Ibid., Predigt 48, S. 507.

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Sie heißen Holzwege. Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.« 116 Heidegger hat im Zusammenhang der Analysen, die er dem Gebrauchen gewidmet hat, einen Begriff von Natur exponiert, der auf die spezifische Philosophie des Holzes hinführt: Natur als Teil der Welt des Menschen ist, wie Heidegger bemerkt, nicht das nur Vorhandene noch Naturmacht. Es ist weder, wie er sagt, die Pflanze des Botanikers noch die Blumen am Feldrain, sondern entdeckte Natur. Die Welt erschließt sich nach Heidegger ursprünglich als Herstellen von etwas für etwas – in einem spezifischen Umgang. Und die strikte Unterscheidung der ausgedehnten Welt der Objekte und der intelligiblen Welt des Ego cogito, die für die neuzeitliche Ontologie seit Descartes maßgeblich war, ist aus diesem origniären In-derWelt-sein abgeleitet. Welt ist damit von Grund auf Welt für jemanden in einem Verweisungszusammenhang. Der Baum ist nicht tot, wenn Holz in die Form eines Werkes gebracht wird. Heidegger denkt nicht von Arrangements aus Einzeldingen her, sondern von dem aus, was er, übrigens im Anschluss an den griechischen Begriff der ›Pragmata‹, Zeug nennt. »Ein Zeug ›ist‹ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ›etwas, um zu‹.« 117 Der Mensch orientiert sich also nicht zuerst theoretisch, sondern im ›Besorgen‹ (handelnd). In ›Sein und Zeit‹ hat Heidegger pointiert bemerkt: »Das Dasein entdeckt vorgängig die Gegenden, bei denen es je ein entscheidendes Bewenden hat. Kirchen und Gräber z. B. sind nach Aufgang und Niedergang der Sonne angelegt, die Gegenden von Leben und Tod, aus denen her das Dasein hinsichtlich seiner eigensten Seinsmöglichkeiten in der Welt bestimmt ist.« 118 Und im Blick auf die Bauform des Schwarzwaldhauses, die er nicht als nostalgische Rückbeziehung auf eine bestimmte Weise zu bauen verstanden sehen wollte, sondern als eine geschichtlich unüberholte Grundform eines Bauens, das aus dem Wohnen erwächst, hat Heidegger notiert: »Ein Handwerk, das selber dem Wohnen entsprungen (ist), seine 116 117 118

Heidegger, Holzwege, a. a. O., Frontispiz ohne Seitenzählung. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 68. Ibid., S. 70.

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Geräte und Gerüste noch als Dinge braucht, hat den Hof gebaut.« 119 Wohnen aber versteht Heidegger als »den Grundzug des Seins, demgemäß die Sterblichen sind.« 120 Noch einige wenige weitere Umschreibungen Heideggers können diesen Grundgedanken verdeutlichen: »Es [nämlich das Vermögen zu wohnen] hat den Herrgottswinkel hinter dem gemeinsamen Tisch nicht vergessen, es hat die geheiligten Plätze für Kindbett und Totenbaum, so heißt dort der Sarg, in die Stuben eingeräumt und so den verschiedenen Lebensaltern unter einem Dach das Gepräge ihres Ganges durch die Zeit vorgezeichnet.« 121 Und das eben meint die Akzentuierung des Zeugzusammenhangs: dass der Stoff, aus dem das Haus gefertigt ist, gleichermaßen in die Landschaft, in der es errichtet wird, wie in den Lebenszusammenhang, dem es dient, verweist. Eben dieses sich wandelnde Ethos ist Antidotum gegen ein »Design«, das Teil des kapitalistischen Marktzusammenhangs wird. Bauen beruht, wie Heidegger leicht verschlüsselt, aber im Kern doch verständlich sagt, auf dem Wohnen, und Wohnen bezeichnet wiederum den Grundzug des Seins, da sich in ihm ein Ganzes konstituiert, von dem her die einzelnen Elemente erst zur Struktur verdichtet werden. Dies wird exemplarisch mit Blick auf die alte Holzbrücke bei Heidelberg aufgewiesen. Sie mache, hält Heidegger fest, den Strom erst zur Landschaft. Auch Agrikultur oder Gartenkunst gliedern und formen erst Landschaft. Dabei lässt sich kaum eine größere Differenz denken als jene zwischen einer solchen Landschaftstopologie durch den Holzbau und dem Kraftwerk, das den Fluss in sich verbaue und materialisiere. Es ist eine der elementaren phänomenologischen Einsichten Heideggers, dass sich die Raumwahrnehmung nicht schrittweise konstituiert, sondern gleichsam jählings (›exaiphnès‹), wie mit einem Mal. Raum und Zeit formieren sich als Ganzes, weil sie sich erst in einem Umgang erschließen. Das ›Oben‹ ist das an der Decke, das ›Unten‹ das ›am Boden‹, das ›Hinten‹ das ›bei der Tür‹. 6.) Der gefügte Raum spielt dann in Heideggers später Philosophie eine Rolle. Er überschreibt die Aufzeichnungen, die zwischen 1933 119 120 121

Heidegger, Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 155. Ibid. Ibid.

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und 1938 entstehen und aus denen er seine gesamte Spätphilosophie schöpft, als ›Fugen‹. 122 Darin schwingt eine mehrfache Semantik nach. Heidegger denkt Fuge in Anspielung an ›fuga‹ als Flucht, Fluchtlinie und, entfernter, an die musikalische Kunstform der Fuge. Damit wird einer Denkform das Wort geredet, die durch Repetierungen und strenge Form, aber aus mehrfachen durchzufigurierenden Anfängen gespeist ist. Vor allem ist es aber die Verfugung der Materialität des Holzes zu einem Ganzen, die im Hintergrund mitgedacht wird. Heideggers Rede von Wald und Holz soll zugleich auf einen Grundzug seiner Philosophie führen. Ein Holzweg ist nicht mehr begehbar, obwohl gerade unter dem Bewuchs verborgen ist, was er anzeigt. Man denke an Heideggers Grundwort für Wahrheit: Aletheia. Es signalisiert in seiner griechischen Wurzel die Verborgenheit (oder Vergessenheit). Dies verweist auf den Namen des Flusses Lethe aus dem Schlussmythos der ›Politeia‹. Am Ende der ›Politeia‹, im Mythos des Pamphyliers Er, ist ausdrücklich davon die Rede, dass man aus dem Lethestrom getrunken haben müsse, um wieder ins Leben zurückzukehren. Dieses ›a‹ soll nach Heidegger als »alphaprivativum« gelesen werden. Es sollte artikulieren, dass das Vergessen, Verbergen weggenommen, wie ein Schleier gelüftet wird. So nur kommt Phänomenalität, ein Sich-Zeigen ans Licht. So wird der Lethe-Schleier gelüftet. Holzwege führen das Gekannte, Entdeckte wieder in die Verborgenheit zurück. Aus der Sachkenntnis des Waldgängers kann man lediglich wissen, auf einem Holzweg zu sein. Gangbar ist er darum noch lange nicht. Holzwege sind also Wege in die Weglosigkeit, dorthin, wo die Natur die Kultur wieder aufsaugt. Indes sind es spezifisch philosophisch bestimmte Wege, wenn man an die Bedeutung der Aporetik für die philosophische Forschung seit Sokrates denkt. Es liegt nahe, noch einmal weit in der Geschichte zurückzugehen; zu Aristoteles, auf den sich die Moderne, nicht zuletzt Heidegger, immer wieder bezog. Seine ›Metaphysik‹ geht von dem Grundsatz aus, dass alle Menschen »von Natur aus« nach Wissen strebten. Gemeint ist nicht die naturwüchsige Natur, sondern die

122 Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis. GA C5. Frankf./Main 1989, S. 20.

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›Natur der Sache‹. Eine der wesentlichen Einsichten von Aristoteles’ ›Metaphysik‹ ist die Unterscheidung von Stoff und Form. Dabei geht es nicht nur um die Differenzierung. Der Stagirit trifft auch Bestimmungen darüber, wie sie orientiert ist. Das Eidos, die Idee, ist nicht der letzte Begriff, in dem das einzelne Ding aufgeht. Sie ist nur ein Teil des ›to de ti‹. Nichts kann in erster Bedeutung Wesen (ousia) sein außer einem Einzelding. Für Aristoteles hat das aber Folgen für das Verhältnis von Materie (Stoff) und Form zueinander. Man sollte nicht mehr davon ausgehen, dass die Materie im Wortsinn Mater, also Mutter ist, um die Form aufzunehmen. So dachte sich Platon im ›Timaios‹ bekanntlich die Entstehung der Welt durch die Einwirkung eines göttlichen Weltbaumeisters, des Demiurgen. Im Sinn der aristotelischen Metaphysik gibt die Materie eine Form frei. Zwar ist die Form Zweck der Materie, doch dieses Verhältnis kann sich fortsetzen. Was geformt war, kann Materie für anderes werden. Indem Aristoteles in einem genialen Gedankenzug den Stoff der Möglichkeit, die Form aber der Wirklichkeit zuordnet, gibt er auch zu verstehen, dass nicht alles Mögliche jeweils in einer Form realisiert wird. Wirklichwerden ist vielmehr immer eine Einschränkung des breiten Spielraums dessen, was sein könnte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu vernachlässigen, dass der aristotelische Begriff für den Weltstoff (hylé) etymologisch mit ›Holz‹ zusammenhängt, wie überhaupt in der Urstiftung der griechischen Philosophiesprache die Grundworte aus Konkreta gewonnen sind. ›Ousia‹, der spätere Begriffstitel für ›Substanz‹ meint ursprünglich ein freistehendes Gut, einen Bauernhof, ›Problematon‹ ein Vorgebirge und die Sprachweisheit von ›Aporie‹ (aporos: weglos) und Symbol (symballein: zusammenwerfen) motiviert und instrumentiert den Begriffsgebrauch. Man kann den aristotelischen Erwägungen noch etwas weitergehend folgen: Wegen des Grundsatzes, dass nur Mögliches wirklich werden kann, bleibt jede Formgebung auf den Stoff zurückbezogen. Aristoteles sagt dies sehr eindrücklich. »Zum Beispiel würde man […] ein Haus definieren als Ziegelsteine und Holz in einer bestimmten Lage (bei manchem kommt auch wohl noch der Zweck hinzu). Ebenso Eis als Wasser in dieser bestimmten Weise konsolidiert […] Hieraus ist denn offenbar, dass bei verschiedenem Stoff auch die Wirklichkeit und der Begriff (alles hyles kai ho lógos) verschieden sind; bei einigem nämlich besteht die Wirklichkeit in der Zusam418 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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mensetzung, bei anderem in der Mischung, bei anderem in etwas anderem.« 123 7.) Holz in der abendländische Philosophiegeschichte war Sinnbild der Zweckhaftigkeit der Natur und des Schönen (Kant), Maß für das Verständnis menschlicher Mens im Weltganzen (Cusanus, Eckhart), des Lebenszusammenhang der Umwelt (Heidegger), der Vernunft des Stofflichen. Für Hegel ist es wie in einer Kondensierung all dieser Traditionslinien der genuin humane Stoff. Es nimmt in seiner ›Ästhetik‹ eine unscheinbare, gleichwohl aber wichtige Rolle ein: gegenüber dem Klassizismus eines Winckelmann weist er darauf hin, dass die griechischen Götterbilder zu einem Gutteil aus Holz gemacht gewesen seien. So fügt er hinzu, dass Holz seiner Natur nach wohl »gegen das Großartige« sei. Dies ist indes im Zusammenhang seiner eigenen kunsttheoretischen Erwägungen alles andere als ein Tadel oder ein Verdikt. War Hegel doch der Auffassung, dass die Kunst ihre Zeit als »Mimesis des Absoluten« hinter sich habe, weil das Absolute selbst durch den Fortgang des Geistes nicht mehr die Möglichkeit habe, in einem vollkommenen Artefakt zur Darstellung zu kommen. Im Sinn seines emphatischen Begriffs der Geschichte des Geistes spricht er vom Ende oder dem Tod der Kunst. Dies befreit sie zur Orientierung auf die begrenzte, menschliche Form. Holz ist ein Material, das in sich selbst widerständig ist. Deshalb und wegen der damit nahegelegten Stoffbindung immunisiert es tatsächlich gegen das Überschwengliche. Nicht die gegen den Himmel geworfenen Götter, sondern der menschliche Humanus ist das Material, das dem Holz genuin entspricht. In diesem Zusammenhang führt Hegel ein Beispiel an: Es gab in Ägina, dort, wo die Göttin Hekate am meisten verehrt wird, eine Holzabbildung dieser Gottheit, die der Sage nach von dem Sänger Orpheus gestiftet worden ist. Bemerkenswert scheint Hegel daran, dass diese Hekate menschengestaltig gezeigt wurde; mit nur einem Kopf. Selbst im hieratischen Bezirk ihres eigenen Tempels meinte man nicht, ihre Unterweltlichkeit besonders unterstreichen zu müssen. Hatte hier das Holz seine Entmythologisierungsleistung erbracht? Hegels Erwägungen sind nicht aus der Luft gegriffen. Als das »disegnio«, der formgebende Entwurf, in der Philosophie als Kate123

Aristoteles, Met. 1043a.

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gorie heimisch wurde, in der Renaissance bei Leon Battista Alberti, war das spezifisch Menschliche wesentlich mit im Blick. Es wird eine menschliche Möbelkunst sein, die auch im bürgerlichen Zeitalter die Sache der Universalität bewahrt und kultiviert. Zu erinnern ist an die Epoche am Vorabend der Französischen Revolution, in der diese Züge in der Möbelkunst sinnfällig werden. Jene Möbel können als Inbegriff von Lebenskunst und des Glanzes der schönen Dinge im Gebrauch gelten. Hier ruhte Europa einmal zwischen den Religionskriegen und den Bürgerkriegen der Ideologien in sich. Die Höfe entdeckten seinerzeit im späten Ancien régime, kurz vor ihrer tektonischen Erschütterung, die »edle Simplicität« der Möbelkunst. Dafür stehen die Namen von Roentgen und Molitor. Ein Mensch in seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit ist der jüngere Roentgen, David, geblieben; während sein Vater kaum Kontur gewinnt. Michael Stürmer hat den Mann, der sich spät der Herrnhuter Brüdergemeine zugehörig fühlte, so charakterisiert: »handlungskräftig und melancholisch, pietistischer Frömmigkeit hingegeben und zugleich kaufmännischer Diplomat an den Höfen Europas, durchsetzungsfähiger Unternehmer und zugleich ein Getriebener, der keine Ruhe findet; ein Mann von Welt«, dessen Werkstatt, so füge ich hinzu, in Neuwied stand und der in der Londoner City als Handelsmann ein- und ausging; am Pariser Hof verkehrte und sich in Berlin zu etablieren wusste, »dem doch Gewinn und irdischer Erfolg am Ende nichts waren als ein Versprechen des Seelenheils und der Versöhnung.« 124 Die Natur sollte in die Kultur hineinkomponiert werden. Erst nachdem jene »edle Simplizität« von den Höfen ausgehend im Bürgertum nachgebildet wurde, konnte die Epoche ›Biedermeier‹ genannt werden. Ursprünglich ging es um mehr: eine zivile Architektur und das ernste Spiel des ›vivre bourgeoisement‹. Prototypon kann dabei das schillersche ›Spiel‹ als eigentliches ›Humanum‹ sein. Dass das alte Handwerk mit der höfischen Kultur zusammengeführt werden konnte, verdichtet sich paradigmatisch in der Möbelkunst. Dabei ist es nicht ganz zufällig, dass im ›Herbst des Alten Handwerks‹ im Holz gearbeitet und gedacht wurde. Die Elfenbeinintarsie verlor auch für höfische Möbel an Verbreitung. Sie kam nurmehr als 124 M. Stürmer, Luxus, Leistung und die Liebe zu Gott. David Roentgen 1743–1807. Königlicher Kabinettmacher. München 1993, S. 7. Siehe auch ders., Handwerk und höfische Kultur. Europäische Möbelkunst im 18. Jahrhundert. München 1981.

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Stoff und Form: Eine kleine Philosophie des Holzes

vereinzelte Akzentuierung vor. Es überwogen die ›trompe d’oeil-Effekte‹ ; der Gebrauch verschiedenfarbiger Hölzer zu Abstufung und Nuancierung. Maßgeblich wurde die ›Peinture en bois‹, die Paul von Stetten 1779 in seiner »Kunst-, Gewerb- und Handwerksgeschichte« in der folgenden Weise charakterisiert: »Vornehmlich war die sogenannte eingelegte Arbeit von vielfarbigem Holz sehr gesucht, und diese wusste man an wenigen Orten Deutschlands, so wie hier, zu verfertigen. Die Künstler ahmten dadurch die Malerey nach und Maler gaben ihnen dazu die Anleitung«. Ergänzung fand das Verfahren der ›peinture en bois‹ durch den Einsatz von Einlegetechniken und die Marketerie, die geometrische Anordnung der edlen Hölzer. Diese Epoche war vor dem großen Umbruch in Europa nicht nur eine Hoch-Zeit der Möbelkunst, sondern auch ein vielschichtiger Abschied von Alteuropa, der als solcher freilich erst im Nachhinein erkennbar wurde, als die bürgerliche Kultur sich im 19. Jahrhundert zunehmend in der sich kumulierenden Warenwelt veräußerlichte, so dass die Unwiederbringlichkeit des klassischen Kunstethos sichtbar wurde. Jene Möbelkunst blühte vor allem, als das bürgerliche Leben zuerst von den Höfen adaptiert wurde. Es wanderte dann in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in das Bürgertum hinüber. 125 Die Rückbesinnung auf den gediegenen Stoff hat mit einer Einsicht zur Spätzeit des Alten Handwerks zu tun, die J. H. G. von Justi 1761/62 so charakterisiert hat: »Man findet öfters, dass Waaren sehr gesucht werden, die von innerer Güte sehr schlecht sind, die aber durch ihr äusserliches Ansehen das Auge vergnügen. Diese äusserliche Schönheit kommt gemeiniglich auf die Beschaffenheit der Farben, auf den Glanz und auf die Desseins an […].« Übrigens ist jener organische, an der Morphologie gewachsene Blick kurz darauf in der Epochenzäsur der Französischen Revolution ein für alle Mal untergegangen. Seinerzeit beginnt die Vorstellung Raum zu gewinnen, die Welt politischer und naturhafter Ordnung sei gleichermaßen an einer symmetrisch rechtwinkligen Ordnung auszurichten. Dagegen steht die konkrete Kunst des Entwurfs. Diese Entwürfe unterliegen, wie noch ein für Generationen von Kunsttischlern klassisch gewordenes Werk wie Christoph Schröders ›Schule des Tischlers‹ zeigt (das eine genaue Explikation des Unterschieds von Baumarten entfaltet), »nicht 125 Vgl. dazu M. Stürmer, Herbst des alten Handwerks. Dieser Darstellung bin ich hier sehr verpflichtet.

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starren Formen […], sondern [… sie müssen] sich den jeweiligen Zwecken, denen sie dienen, unterordnen und danach moderieren.« 126 Hier liegt es nahe, noch einmal die Überlegungen zu der Kategorie des »Gebrauchs« zu resümieren: Sie zielt ja auf Artefakte, die mit dem Begriff des »Kunsthandwerks« meist von der Kunst kategorial getrennt werden. Dennoch ist ihnen Schönheit häufig nicht abzusprechen. Wichtig ist dabei die Verortung dieser »BegegnungsRelation« in der Lebenswelt: In ihr brauchen wir das Schöne, nehmen es also in Gebrauch. Dadurch wird uns offensichtlich, wie nötig wir es haben, und ein schönes Leben entsteht erst, wenn das Schöne bestimmend wird für Stil und Form unserer Lebenswelten, die wir bewohnen. Hier entfaltet sich das Spiel der Freiheit. Denn wie wir wohnen, d. h. wie unsere Dingwelt aussieht, so wollen wir leben als Versprechen künstlerischen Gebrauchs. 127 Die Zwiesprache mit Bäumen und das Gespräch über sie ist vor diesen Natur-Kunst-Horizonten, Brecht entgegengesetzt, keineswegs ›fast ein Verbrechen‹, sondern eher eine Geste der Schonung, die Verbrechen zuvorkommen mag. Auch wenn der Stoff, der aus den Bäumen kommt, das Überschwengliche ablehnt, können Bäume selbst zum Sujet hymnischen Sprechens werden. Paul Valérys großes Gedicht »Au Platane« mag dies exemplifizieren: »Dich hab ich auserwählt, Gestalt in einem Park, / trunken von deinem Wogen, weil dich der Himmel biegt, bis eine Sprache stark aus dir entspringt […] / Nein, sagt der Baum, sagt nein im Glanz des Blätterschwalls, sein hohes Haupt bewegend / mit dem der Sturm im All nicht anders umgeht als / mit jedem Gras« (»Non dit l’arbre. Il dit: Non! Par l’étincellement / De sa tête superbe, / Que la tempête traite universellement / Comme elle fait une herbe«).

IV. Trend und Tendenz – »Geschrumpfte Gegenwart« und »musealisierte Geschichte« Wenn man sich mit einer Kunst befasst, die in Gebrauch genommen wird, dann kann sie nicht gleichsam rein und zeitfrei betrachtet werSchröder, Die Schule des Tischlers, Band I, S. 217. Vgl. M. Stahl, Botschaften des Schönen, a. a. O., vor allem S. 209–239 zum ›römischen Haus‹. 126 127

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Trend und Tendenz

den. Vielmehr kommt es auch auf ihre Kontextuierung an und auf Zusammenhänge mit wechselnden Trends und Tendenzen. Dem muss im Folgenden nachgegangen werden. 1.) Das Verhältnis der Philosophie zu »Trend« und »Tendenz« scheint schwierig und insofern keineswegs selbstverständlich zu sein. Klassisch platonisch also (und nach Whiteheads bekanntem Diktum besteht Philosophie in einer ›Reihe von Fußnoten zu Platon‹) blickt der Philosoph auf die ewigen Dinge, die Ideen. Er kümmert sich nicht oder kaum um das, was wird und vergeht, was also veränderlich ist und den zentrifugalen Kräften der Zeit unterliegt. Schon in vorplatonischer Zeit wurde diese Lebensform des Philosophen, der wie ein Gott leben soll und damit in einer nun einmal von Endlichkeit und Zeit geprägten Welt leicht eine lächerliche Figur abgibt, exemplarisch in die Anekdote von Thales gekleidet, der zum Himmel blickt und in einen Brunnen stürzt. Doch diese Bildlegende ist nicht so eindeutig, wie es den Anschein hat. Denn was Thales am Himmel betrachten will, ist eben nicht die Idee selbst, sondern es sind die wechselnden Ordnungen der Gestirne, das Ineinandergreifen des Bleibenden und der Veränderung. Wie geht Werden in Sein und in Vergehen über, was ist das Sein des Vergänglichen? 128 Ebenso wird sich der späte Platon in den Dialogen ›Timaios‹ und ›Philebos‹ fragen und untersuchen, wie die ewigen, unwandelbaren Ideen der endlichen, durchaus wandelbaren physischen Welt aufgeprägt werden können. Es kann also schon für den Urtypus des Philosophen nicht bei der philosophischen Enthaltsamkeit gegenüber Zeit, Werden, Vergehen, Veränderungen bleiben. Denn schon Platons Sokrates fragt sich, nachdem der Umriss der idealen Stadt gezeichnet ist, ob sie auch in der Bewegung, im Fluss der Zeit überdauern kann. 129 Die Zuspitzung dieser Frage ist politischer Natur: Wenn die Atopie des schlechthin Besten einmal wirklich geworden ist, wenn die Herrschaft der Idee und der Selbsterkenntnis, deren Sachwalter die Philosophen sein sollen, manifest ist, kann all dies nicht doch wieder vergessen werden, und zwar so ganz und total, dass nichts bleibt, die Dekadenz nicht auf-

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Dazu H. Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Frankfurt/Main 1987. Vgl. dazu Platon, Politeia, insbesondere achtes und neuntes Buch.

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zuhalten ist und im freien Fall zu despotisch gelenkter Massenherrschaft und Tyrannis führt? Es hat daher seine guten Gründe in der Ur- und Anfangsgeschichte der Philosophie selbst, wenn Hegel gegen das gängige Vorurteil vom zeit- und gegenwartsvergessenen Philosophen festhält, Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken erfasst, und wenn er es als ihre herausragende Aufgabe beschreibt, sie habe das zu sagen, was ist. 130 Philosophie ist also Diagnose der jeweiligen Gegenwart, von Trends in mittel- und langfristiger Perspektive. Sie hat zu fragen, was bleibt und was sich verändert. Denn nur in diesem Kontrast kann man klarer sehen. Hier ist die Kehrseite zu bedenken, die sich zugleich als eine ›black box‹ darstellt: Auch die Philosophen haben unbestritten ihre Trends und Tendenzen, die oftmals wie blinde Flecke erscheinen, also selbst kaum gesehen, geschweige denn eingesehen werden. Man denke nur an das letzte halbe Jahrhundert. In den fünfziger Jahren bildete Heidegger das geheime Zentrum philosophischen Denkens, dann folgte ein großer Boom der Kritischen Theorie, der Frankfurter Schule, Ideologiekritik, Neo-Marxismus und schließlich eine immer weiter gehende, bis zur Ausschließlichkeit führende Orientierung an der logisch semantischen, analytischen Philosophie, aus der sich erst allmählich neuere Tendenzen ausgliedern und Gestalt gewinnen. Andere philosophische Tendenzen lagern sich wie Inseln in dieses Geflecht ein: Die französische Gegenwartsphilosophie der Dekonstruktion, dann ein ›linguistic turn‹ und schließlich ein ›iconic turn‹. Insofern stehen Philosophie und Trenderkenntnis aus allen diesen Gründen einander gegen den Anschein keineswegs fremd gegenüber. Nicht zuletzt sind große geschichtsphilosophische Konzeptionen auch Beobachtungen von Trends und Megatendenzen, sei es die Wanderung des Geistes von Ost nach West, wie sie Hegel konstatierte, oder sei es das Ende der Geschichte. Dagegen steht das ›ex oriente lux‹ des neuen Anfangs, woher auch immer er komme. Die Erforschung von Trends und Tendenzen ist zur Erkenntnis dessen, was faktisch auf der Oberfläche und in der Tiefenstruktur einer Zeitepoche der Fall ist, von zentraler und erschließender Be130 Dazu Hegel, Vorrede zu: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hegel, TheorieWerkausgabe Band 7. Frankfurt/Main 1970, S. 11 ff.

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Trend und Tendenz

deutung, zumal sich die Veränderungen zumeist nicht als (politische) Revolutionen vollziehen, sondern als Transformationen der Kultur. Dies lehrt als einer der ersten der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci. Daher wird es zunehmend wichtig, die seismischen Beben oder auch die kleineren Ausschläge erkennen zu können. Dies kann im Sinne einer philosophischen Diagnostik geschehen, mit Skepsis gegenüber Prognosen und Projektionen auf die Zukunft. Dafür gilt das triviale Bonmot, Prognosen seien besonders gefährlich, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Karl Popper formulierte zu Recht die große, unaufhebbare Unschärfe, dass die voraussagbare Zukunft doch nur verlängerte Gegenwart sei, weil wir nicht wissen, was wir in der Zukunft wissen werden. 131 Nicht zuletzt entspricht es einer großen und alten abendländischen Tradition, auf Veränderungen sensibel zu reagieren. Die griechische Kultur hat Wendepunkte festgestellt und konnte an diesen ›Epochen‹ den Wechsel im Lauf der Dinge sichtbar machen. Platon war der Auffassung, dass sie in Zyklen wiederkehren. Phasen glückseligen Lebens verführen zur Hybris. Dann kommt es zum Umschlag. Auf die fetten folgen die mageren Jahre. Dabei gibt es zwei Arten von Bewegungen. Die eine vollzieht sich nach griechischer Vulgo-Auffassung weitgehend kreisförmig. Sie steht in Harmonie und in der Nähe zum Göttlichen. Die andere ist fernab von den elysischen Gefilden. Sie folgt dem Taktmaß der Andersheit, Druck und Stoß. 132 Der Neid der Götter räche sich, so die Auffassung der Griechen, an den Menschen, die ihr endliches Maß aus den Augen verlieren, eine große Katastrophe verursachen und eine weitgehende Destruktion ihrer Lebenswelt. 133 Der Choc des Untergangs bleibt für einige Generationen wach, dann wiederholt sich wieder das Vergessen und mit ihm das Desaster. 134 Die Dauer des Gedächtnisses sei kurz. Sie währe nur für einen Zyklus. Diese Blindheit für die »lange Dauer« ist also das eigentliche Unglück. Deshalb folgen AufK. R. Popper, Das Elend des Historizismus. Tübingen 61987, S. 30 ff. Vgl. dazu den Mythos im platonischen ›Politikos‹-Dialog und ebenso im Protagoras. Dazu: K. Reinhardt, Platons Mythen, in: ders., Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung. Göttingen 1960, S. 219 ff. 133 Dies hat kongenial gesehen: U. von Wilamowitz-Moellendorff, Weltperioden, in: ders., Reden und Vorträge. Band II. Zürich 31967, S. 1 ff. 134 Ibid. Dazu auch R. Hochhuth, Wilamowitz und sein Erbe Spengler, in: ders., Täter und Denker. Profile und Probleme von Cäsar bis Jünger. Stuttgart 1987, S. 74 ff. 131 132

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stieg, Blüte und Fall einer Kultur einander in Wellenbewegungen, die ihrerseits in einer Kette aneinander gefügt sind. Diese Wellenbewegungen sind keineswegs, wie manchmal angenommen wird, einer naturwüchsigen Geschichtsauffassung, der Beobachtung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen an Jahreszeiten und Gestirnen, entsprungen, sie sind ganz und gar katastrophisch. Was untergegangen ist, sich erschöpft hat, das ist und das bleibt tot: Die Schakale heulen im Tempel von Ephesos. 135 Ein weiterer grundsätzlicher Moment: Im Blick auf Epochenstrukturen und damit auf die Längs- und Querschnitte von Trends sollte man bedenken, dass der Begriff der »Epoche« noch in der Goethezeit nicht den Zeitraum, sondern den Zeitpunkt meinte, an dem ein Moment in das andere kippt. 136 Epochen sind nicht Zeiträume, sondern Punkte eines Atemanhaltens, eine Sekunde oder ein Sekundenbruchteil des Stillstandes, nach dem alles anders ist. Goethe gebraucht das Wort ›Epoche‹ noch in diesem Sinn, wenn er davon spricht, etwas habe in seinem Leben »Epoche gemacht«. Dann verschiebt sich der Begriff zur Angabe einer weiteren Zeiterstreckung, immer noch auf der Suche nach der großen Zäsur, die eine neue Ära anbrechen lässt. Oftmals, bei historischen, literarisch kunsthistorischen Epochentopoi, sind Epochenbegriffe bekanntlich Zuschreibungen post festum, denen nichts oder kaum etwas in der Selbstwahrnehmung der im jeweiligen Hier und Jetzt Handelnden entspricht. Oder aber ein Zeitgenosse ruft die Epoché, den Umschlag geradezu aus, was nicht selten aus Ratlosigkeit geschehen mag, um dem ganz und gar Kontingenten doch einen Sinn zu geben. So mag es auch mit Goethes Exklamation nach der Kanonade von Valmy, einem eigentlich unspektakulären Ereignis, sich verhalten haben. Goethe bemerkt, von hier und heute gehe eine neue Epoche der Weltgeschichte aus »[…] und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen!« Indes, Misstrauen empfiehlt sich. Was sich auf den ersten Blick als Revolution ausgibt, zeigt sich bei näherer Betrachtung oftmals als schleichender Übergang. 137 135 Dies wird hervorragend herausgearbeitet von H. Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle, in: ders., Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt/ Main 1988, S. 531 ff. mit einschlägigen Belegen. 136 Ibid., v. a. S. 540 ff. 137 Das lässt sich exemplarisch an der Philosophiegeschichte zeigen: Descartes wird als ›Vater der Neuzeit‹ gehandelt. Bei näherer Erforschung im frühen 20. Jahrhundert

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Trend und Tendenz

2.) In ihrer Tiefenschicht lassen sich Trends und vor allem Trendwechsel den Veränderungen des Verhältnisses zur Zeit und der Zeiterfahrung und -wahrnehmung ablesen. Gerade Moderne und Avantgarden haben an der Schwelle zum 20. Jahrhundert eine ungeheure Beschleunigung mit sich gebracht. Dies bedeutete die Proklamation von Enthistorisierung, ja der Tilgung der Geschichte. Der bald entthronte Gott der Futuristen, Marinetti, schrieb am ungeschütztesten: »Ein Rennwagen ist schöner als die Nike von Samothrake.« 138 Dies bedeutet zugleich: die Ästhetik wird umgepolt auf eine metallisch gehärtete Schönheit, deren Maß einzig in der Geschwindigkeit liegt, im Bedürfnis nach Bewegung und deren Akzeleration. Damit verbindet sich aber ganz offensichtlich, was Hermann Lübbe sehr zu Recht das »Moderne-Paradox« genannt hat: Die neuesten Tendenzen veralten derart schnell, dass sie nur musealisiert bewahrt und nur so für eine nächste Generation kenntlich bleiben können. 139 Der Aufenthalt in der Gegenwart verkürzt sich drastisch. Damit aber kommt eine gegenläufige Grundtendenz auf. Hermann Lübbe charakterisiert sie treffend so: »Je moderner die Zeiten sind und je mehr wir in modernen Zeiten das Moderne schätzen, um so mehr gewinnt zugleich an Geltung, was wir nicht seiner aktuellen Modernität wegen, vielmehr dauerhaft zu schätzen vermögen.« 140 Unschwer kann man dafür Indizien in der Geschichte der Moderne finden, zunächst im Blick auf Literatur: Hans Magnus Enzensberger und Walter Höllerer edierten schon in den sechziger Jahren Anthologien mit Titeln wie ›Museum der modernen Poesie‹. 141 Es bildet sich der Terminus der ›klassischen Moderne‹ heraus, die wie natürlich ein eigenes Museum beansprucht. Das bedeutet aber, dass in den schneller aufeinanderfolgenden Modernen Selektionen unumgänglich werden. Was ihnen zum Opfer fällt, wird (Gilson u. a.) zeigte sich aber, wie tief er noch in der mittelalterlichen Scholastik wurzelt. Umgekehrt bereiten sich spezifisch neuzeitliche, ja moderne Einsichten im sogen. späten Mittelalter vor. 138 Abgedruckt nach W. Hess (Hg.), Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 71 f. 139 Dazu im einzelnen: H. Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. Berlin, Heidelberg, New York 1992, S. 90 ff. 140 Vgl. ibid. Siehe auch ibid., S. 212 ff. Dazu auch bereits: H. Tietze, Lebendige Kunstwissenschaft. Zur Krise der Kunst und der Kunstgeschichte. Wien 1925. 141 H. M. Enzensberger (Hg.), Museum der modernen Poesie. Frankfurt/Main 1960.

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schnell vergessen und steht zumindest nicht im musealen Speicher der Revitalisierung oder dem Recycling zur Verfügung. Solche Zuschreibungen unterliegen ihrerseits der Revision von immer kürzer werdenden Generationensequenzen. Die feuilletonistischen Zuschreibungen der ›Generation Golf‹ oder ›Generation Praktikum‹ sprechen eine deutliche Sprache. Das Problem nistet und wurzelt noch einige Schichten tiefer. Denn die Trends, die Marinetti und die Futuristen setzen konnten, haben sich nur mit vergleichsweise dünner Schrift in das Gedächtnis eingeritzt. Große »Moderneperioden« dagegen hatten immer schon in sich selbst die Tendenz zu einer Rückkehr, einer Wiederaufdeckung von Älterem, mitunter vom »ältestem Alten«. So trat die ›Devotio moderna‹, die neue christliche Demut und Glaubensschlichtheit, im 13. Jahrhundert gegen die scholastischen Systeme und die Hierarchien des Klerus auf. Moderne bedeutet dann, auf das hinzuweisen, was in einer Verengung der vorausgehenden Epoche verschwiegen und verdeckt worden ist. Man denke an die Korrektur der reinen abstrakten Vernunftgeschichte durch Denker wie Schelling, Kierkegaard, Heidegger, an die Freilegung der Abgründe des Ich in der Psychoanalyse. Moderne Literatur und Kunst traten auch an, um das Vergessene, Nicht-Bewusste, Verdrängte zu entziffern und es gerade an ältestes Altes zu halten, das sich von daher neu, ja gleichzeitig ausnimmt. Woher käme sonst die Faszination durch den Mythos bei den bedeutendsten Künstlern der Moderne Joyce, Musil, Broch, Malern wie Beckmann? Dies sind Phänomene eines, bei allen formalen und ästhetischen Inventionen und Aufkündigungen von Traditionskontinua, doch ungebrochenen Rezeptionsstromes, der durch die Jahrtausende europäischer Geschichte auf den selben mythischen Thesaurus zurückgreift. Diese Rezeptionsweise kann auch zu Wiederentdeckungen führen, dazu, dass eine kontinuierliche Traditionsbildung dem Vergessen entzogen wird. Erst in der Epoche des Expressionismus war man, vor der neuesten Kunsterfahrung, in der Lage, den Manierismus des 16. Jahrhunderts zu würdigen! Kommentarbedürftigkeit neuer und neuester Kunst hat es, in mitunter schwer zu entwirrenden Verflechtungen, mit der Aufgrabung ältester Schichten zu tun. Traditionsbildung ist jedoch noch nicht zwingend zugleich »Musealisierung«. Zur Musealisierung kommt es erst, wie Lübbe treffend gesagt hat, kompensatorisch zu den raschen Veränderungen der Moderne. 428 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Trend und Tendenz

Was seine Musealisierung erfuhr, steht in einem immensen, immer überdimensionierter werdenden Speicher zur Verfügung. Je mehr man solchen Speichern anvertrauen kann, umso größer wird umgekehrt die Lizenz zum Vergessen. 142 Dieses wird total, wenn sich Wissen in Information auflöst. Die Mitte zwischen dem potentiell unendlichen Gedächtnisspeicher und dem Vergessen zu finden, riet einst Platon als eigentliches Gesetz der Klugheit. Am Ende der ›Politeia‹ wird der Fluss Ameles (›Sorglos‹) überquert. Aus seinem Lethe-Wasser, den Wassern des Vergessens, soll man trinken, aber nach dem rechten Maß. 143 Nicht alles soll man vergessen, manches muss man behalten. Doch das Übermaß der Memoria lähmt. 144 Das Maß zu finden, ist aber übermenschlich schwer. Auch das kann man im Schlussmythos der ›Politeia‹ erkennen. Es verlangt eine Urteilskraft, an der es den meisten fehlt, weshalb schon im platonischen Mythos die meisten daran scheitern. Darum ginge es auch heute im Idealfall: Tendenzen der Gegenwart und Antizipationen der Zukunft können aus dem Schatzhaus der Erinnerung freigelegt werden, wenn man archäologische Anamnesis betreibt. Zu erinnern ist an das unvergleichliche Museum Insel Hombroich nahe Düsseldorf, wo die klug ausgewählten Originale nicht etikettiert und klassifiziert gehängt werden. Sondern so, dass sie für sich selbst wirken können – ohne ein Wort der Erläuterung und wie zum ersten Mal gesehen. Ältestes, Etrurisches, Keltisches kommt neben Installationen von Beuys und seinen Schülern zu hängen, neben exemplarischen Stücken aus der klassischen Moderne, etwa von Max Ernst. Die Art, wie dieses Museum angelegt ist und wie Architektur und Natur miteinander in einen Dialog kommen, greift voraus auf den ›Dialog‹ mit dem Betrachter. Doch nicht geschichtliche Distanz und Belehrung stehen am Anfang, sondern Gegenwärtigkeit, Gleichzeitigkeit. Wie dieses Sich-verständigen dann im Einzelnen stattfindet, im Staunen, Erschrecken, auch gewecktem Ressentiment, dies wagt ein solches Museum offenzulassen; gerade deshalb vermag es, Erinnern und Vergessen virtuos aufeinander zu beziehen. 142 Dazu die grundsätzlichen Überlegungen von P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München 2004, S. 633 ff. 143 Platon, Politeia, Zehntes Buch, insbesondere 620 d7 ff. 144 Der klassische Text Nietzsches dazu ist: II. Unzeitgemäße Betrachtung: ›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹, in: Kritische Studienausgabe (hg. G. Colli und M. Montinari) Band 1. München 1988, S. 245 ff.

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3.) Die Frage nach dem Trend, die in längere Dauer hineinfragt, gibt allerdings das besorgniserregende Problem auf, ob und inwieweit eine Zeit die andere überhaupt verstehen kann. Inquisitorische Befragung der Eltern und Fortschritt, wie wir es so herrlich weit gebracht, geben darauf keine angemessenen Antworten. Es ist ein unbestreitbares Phänomen der Moderne, dass sich die eigene erfahrene, gelebte Zeit von der objektiven, sozialdisziplinierenden ökonomischen Zeit immer weiter entfernt: Das Kürzel dafür ist die Differenz zwischen Lebenszeit und Weltzeit geworden. 145 Der Weltmarkt in der Globalität und das weltumspannende Netz sind wie säkularisierte Formen der Augen Gottes. Die omnipräsente Außenwelt schläft und schlummert nicht. Es gibt keine Unterscheidung von Tag und Nacht. 146 Auch der flexibelste Mensch kann sich dem offensichtlich nicht angleichen. Umbrüche epochalen Ausmaßes gehen, bedingt durch Invention und Inventionen, seit je mit einer Veränderung des Zeitsinnes und kulturellen Zeitumgangs einher. Mit der Sozialdisziplinierung der frühen Neuzeit ist es verbunden, dass Pünktlichkeit zur neuen Tugend wird. Dass dem so war, hatte, folgt man den Zeugnissen jener Vergangenheit, 147 nicht nur mit kapitalistischen Zwängen zu tun, sondern mit Höflichkeit jenen anderen gegenüber, mit denen man in immer feiner gewobene Interaktionen tritt. Höflichkeit ist dabei auch eine neue Form von Humanitätsbezeigung, wie etwa der alte Kant in Königsberg demonstrierte, wenn er, kaum mehr dazu in der Lage sich zu erheben, doch seinen Besuchern entgegenging: »Der Sinn für Humanität hat mich noch nicht verlassen!« Man kennt die Kernthese des von Max Weber diagnostizierten Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und puritanischer Askese: einer Welt ohne Verschwendung, mit peinlichster Zeitnutzung. 148 145 Scharfsichtig herausgearbeitet bei H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt/Main 1986. 146 Dazu die Analyse von P. Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt/Main 2005. 147 Vgl. dazu u. a. Lübbe, Im Zug der Zeit, a. a. O., S. 329 ff., N. Elias, Über die Zeit. Frankfurt/Main 1984 und E. Benz, Akzeleration der Zeit als geschichtliches und heilsgeschichtliches Problem. Mainz 1977 (Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1977, Nr. 2). 148 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Band I. Tübingen 1920, 91988, S. 17–206. Dazu auch mein Buch: Max Weber – interkulturell gelesen. Nordhausen 2006.

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Trend und Tendenz

Symbol dieses puritanischen Erwerbssinns werden der Kalender und die mechanische Uhr, die aber doppeldeutig sind: Signalisieren sie doch zugleich noch im alteuropäischen Sinne die Vergänglichkeit, den Vorlauf zur Ewigkeit. Mit der Eichung der Zeit durch die Uhr verbindet sich eine Konkurrenz um Zeitvorsprung, die fast alle Lebensbereiche durchdringt. Die Freizeit davon frei zu halten, ist keineswegs einfach. Es ist klar, dass die Vielheit der Möglichkeiten von Partizipationen, Kooperationen, Kommunikationen im weltweiten Netzzeitalter die Zeitressourcen hoffnungslos übersteigen. Und es ist dann kaum verwunderlich, dass daraus ein Trend zur Lebenszeitverlängerung entspringt, wobei die Mittel, ihn medizinisch zu befriedigen, noch immer bescheiden sind. Schlafverkürzung oder Selektion des Vordringlichen vom weniger Vordringlichen bleiben daher die einzigen gangbaren Wege einer verordneten Lebenskunst, weshalb »to simplify one’s life« einen permanenten Grundton heutiger Lebensratgeber ausmacht. Auch die Interaktionsverhältnisse werden komplexer, umso mehr ist eigene Zeit von der anderer abhängig. Kontingenz entsteht, die ihrerseits wieder bewältigt werden muss, so die in der Anfangszeit peinlich genau beobachteten Fahrpläne der Eisenbahnlinien. In diesen Beschleunigungen und Komplexitätssteigerungen zeigen sich eng miteinander zusammenhängende, aber dabei gegenläufig verlaufende Tendenzen. Man kann mit Herbert Spencer in der Tat an modernen Gesellschaften zunehmend eine »Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit« konstatieren. 149 Dabei ist ein Trend grundsätzlich prägend, den Georg Simmel in seiner ›Philosophie des Geldes‹ vor über einhundert Jahren formuliert hatte: »Die Ströme der modernen Kultur ergießen sich in zwei scheinbar entgegengesetzte Richtungen: einerseits nach der Nivellierung, der Ausgleichung, der Herstellung immer umfassenderer sozialer Kreise durch die Verbindung des Entlegensten unter gleichen Bedingungen, und andererseits auf die Herausarbeitung des Individuellsten hin.« 150 Weil dem so ist, sind bestimmte kulturkritische Verfallsprognosen und -apo-

149 H. Spencer, Die Principien der Sociologie. Autorisierte deutsche Ausgabe, nach der zweiten englischen Ausgabe übersetzt von Dr. B. Vetter. III. Band. Stuttgart 1889, S. 722. 150 G. Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (1896), in: ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Frankfurt/Main 1983, S. 78 ff., hier S. 83.

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kalypsen erstaunlicherweise nicht eingetreten, wie jene Adornos, dass die Hausmusik verschwinden werde. Vielmehr blüht sie weiter, auch im Zeitalter der mp3-Player; und die Kumulation von freier Zeit wird auch in diesem Sinn verwendet. Indes: auch darin treten Dialektiken auf: »Je zeitfreier man objektiv existiert, um so schwieriger ist es, sich subjektiv wirklich als zeitsouverän zu erweisen«, 151 so hat Hermann Lübbe zutreffend konstatiert. Die buchstäblich »lange Weile«, auch Zeit einer großen Desillusionierung, bis ein großer Roman oder ein Buch entstanden ist, macht einsam. Man hört im brandenden Meer der täglichen Hypes wenig von denen, die zumindest temporär die Mönchsexistenz wählen. Daher muss es nicht verwundern, dass der Trend in Politik oder Wissenschaft zu Kurzatmigkeit und großer Mobilität neigt und zu dauendem Rauschen einer scheinbaren Kommunikation, in der man sich aber am Ende nichts mitzuteilen hat. Man hält sich partout im Gespräch, manchmal auch nur im Twittern, und bringt dabei nur selten Dauerhaftes hervor, was einen bestimmten Menschentypus begünstigt, der regelmäßig versichert, dass er nun eigentlich am Schreibtisch oder im Atelier zu sein hätte, diesem aber umso konsequenter ausweicht. Und nicht selten ist es auch ein Problem der Selbstverständigung: »Herr seiner Zeit [sein] bedeutet, dass sich über die Tage wie über die Jahre hin die Zeiträume dehnen, in denen nichts geschähe, wenn es nicht selbstbestimmt geschähe.« 152 Temporale Selbstbestimmung ist eine Lust, doch dass sie gelingt, dass daraus erfüllte Zeit hervorgehe, liegt ganz und gar an einem selbst, und so wird es zu einer Existenzlast, der man zu entfliehen sucht. Dahinter steht ein zweites, temporales Trendparadoxon, dass nämlich »tätig kommunikativ erfüllte Zeit« in der jeweiligen Gegenwart als Zeit der kurzen Weile erfahren wird, im Rückblick aber langweilig ist. Eine Zeit gegenwärtiger Ereignislosigkeit, zum Beispiel des Reifens einer großen politischen Konzeption oder eines epischen Werkes, kann im Rückblick zu einer »Fülle der Zeit«, einem ›Pleroma‹, werden.

Lübbe, Im Zug der Zeit, a. a. O., S. 351 f. Ibid. Vgl. auch die scharfsinnigen Überlegungen und Beobachtungen im Umkreis dieser zuspitzenden Bemerkungen. 151 152

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Trend und Tendenz

4.) Doch was ist in Wahrheit an einem vermeintlich neuen Trend neu? Vor allem und zuerst: Wie tief schneiden mediale Veränderungen tatsächlich in die Lebens- und Bildungswelten ein? Man hört nicht selten die Phrase, die digitale Revolution oder sie begleitende mediale Revolutionen hätten alles geändert. Noch im Gedächtnis ist Marshall McLuhans große These aus den sechziger Jahren: »the medium is the message.« Wenn sich aber alles ändert, bleibt für die Perzeption am Ende alles gleich. Denn es fehlt das Instrument, um Veränderung denken und dingfest machen zu können. Es fehlt auch der kontrastierende Parameter. Nüchterner betrachtet, zeigt sich, dass es auch im Zeichen von Internet und Hypertext um Texturen, um die Lesbarkeit, Hörbarkeit und Denkbarkeit der Welt geht, wenn auch in sich rasch verändernden Modi: in Netzen der Simultaneität, nicht mehr des statischen Nacheinander. Das neue Zeitalter ist keineswegs eines der reinen Pikturalität. Wer nicht zu lesen versteht, wird die in höherem Grade auf Komplexität und Verweisung geöffneten Systeme überhaupt nicht oder unzureichend bewältigen. Deshalb ist das mitunter begegnende Votum ›Stop making sense!‹ hoffnungslos naiv. Von eher zunehmender Bedeutung erweist sich zudem, obwohl Theoretiker von Schule und Bildung dies viel zu wenig beachten, die Notwendigkeit, zwischen Wissen und Information zu unterscheiden. Ohne einen festen Thesaurus des Wissens, wozu ebenso sehr Methoden des Wissenserwerbs und der Wissensprüfung gehören wie ein bestimmter Stoffkanon, wird sich vielleicht immer mehr Information ansammeln. Die Information kumuliert sich, bis sie nicht mehr zu bewältigen ist. Man hat viele Einzelheiten, es fehlt aber die Fähigkeit, sie zusammenzufügen. Fast exakt in diesen Worten formulierten amerikanische Dienste, weshalb sie nicht in der Lage waren, den traumatischen 11. September 2001 – »Nine Eleven« – zu antizipieren. Denn darauf kommt es gerade an: Wo einerseits die Relikte und Sedimentierungen immer weiter anwachsen, andererseits die Speicher effektiv werden sollen, dort muss entmischt und das heißt unterschieden werden. Relativ primitiv zu unterscheiden sind aktuelle und veraltete Informationen, wobei auch Potenziale offengehalten werden müssen, die wieder eine Rolle spielen werden. Alles das setzt Urteilskraft voraus. Diese bedarf aber zu ihrer Schulung und zum Gebrauch wiederum des sedimentierten Wissens. Es geht keines433 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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wegs aus der Informationsflut selbstverständlich hervor; und zu seiner Destruktion trägt ein Bildungssystem einiges bei, das immer kurzfristiger orientiert wird. Immer öfter hört man, es müsse sich alles ändern. Dazu hat Hermann Lübbe klug bemerkt: »In der Praxis ist gerade derjenige, der theoretisch alles in Frage stellt, darauf angewiesen, daß alles beim alten bleibt. Der theoretische Radikalismus hat sein praktisches Gegenteil zur Bedingung.« 153 Diese Randbedingung der Stabilität ist heute in keiner Weise erfüllt. Deshalb geht es darum, eine tiefe Wissensmatrix aus unverlierbarem Kernbestand auszuprägen, vor deren Hintergrund Innovationen lesbar werden. Unabwendbar nämlich wird sonst Hilflosigkeit angesichts von Informationsexplosionen und -kumulationen, aber auch von Informationsimplosionen. Dies geschieht, wenn nur noch Ergebnisse mitgeteilt werden, wobei die Wege, Umstände und Umständlichkeiten der Wissensgewinnung unkenntlich gemacht sind. Nicht alles also, was neu scheint, ist es. Jürgen Habermas sprach schon Mitte der achtziger Jahre von der »neuen Unübersichtlichkeit; Signum der Postmoderne.« Dies sollte anzeigen, dass Grundbegriffe, mit denen man Ordnung in die Geschichte brachte, ihre Orientierungsfähigkeit verloren haben. Diffus und ortlos werden Epitheta, die einmal eine Leitunterscheidung bezeichnen sollten, wie ›progressiv‹ oder ›konservativ‹. Das ästhetische Votum: »Il faut être absolument moderne«, das gerade zur Wiedererinnerung an »ältestes Altes« führt, hat eine geschichtsphilosophische Entsprechung. Die Beschleunigung der Welt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele großangelegte Vorgänge von langer Dauer gar nicht zu begreifen sind, wenn man sie nicht geschichtlich versteht. Im 20. Jahrhundert und seinen Ideologien, zuletzt noch im bipolaren, durch Massenvernichtungswaffen umstellten Kalten Krieg war auch diese Geschichte gleichsam stillgestellt. Die heutige Welt ist demgegenüber radikal anders. Eine Welt, die eine eindeutige Ordnung bis auf weiteres nicht zu finden hoffen kann, nicht sicherheitspolitisch, schon gar nicht ideologisch, eine Welt mit einer Vielzahl alter und ältester Verwerfungen und Potenzen, die weltbürgerliches Verstehen keineswegs zur Selbstverständlichkeit machen. Europa ist, wie man mittlerweile wieder klarer sieht, nicht einfach aufzugeben, auch wenn die ungeheure Expansion 153

Zit. nach Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O., S. 318, Fn. 67.

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des pazifischen Raumes und Ostasiens, die Vitalität Lateinamerikas und Staaten wie China und Indien neue Fokuspunkte gesetzt haben. Das europäische Proprium wird gerade darin bestehen, Altes und Neues zu verbinden: geschichtliche Erinnerung und Zukunft, Wissen, Selbstbesinnung und Information. 154 Dem dürfte es entsprechen, dass sich heute gespaltene, eklektische politische und kulturelle Identitäten zeigen. In dieses Feld gehört auch das ›Zeit-Cocooning‹ : 155 eine scheinbar bewahrte Vergangenheit, woran eine in Clans, Stämme, Zeitzonen zerfallende Gesellschaft und Wirtschaft erkennbar ist. Habermas, der an einem ›Projekt Aufklärung‹ festhält, hat ein wesentliches Moment, die Kehrseite dieses Projektes, konsequent übersehen, nämlich dass sich im Dschungel neuer Unübersichtlichkeit bevorzugt Wilde zurechtfinden. Der Barbar wird, nach einem kritisch gemeinten Wort von Bazon Brock, zum Helden der Kultur. 156 Ein Marktforschungsunternehmen formulierte dazu: »Es ist der hochmobilisierte Wilde, der diese zerbrochene Welt beherrscht.« Dies kann nicht nur Freude bereiten. An Trends und Tendenzen öffnen sich tiefere lebensweltliche Dimensionen. »Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?« hat Niklas Luhmann gelegentlich gefragt. 157 ›Beobachtung‹ und Voyeurismus sind in medialen vernetzten Zeiten in einem nicht zu verleugnenden Übergewicht gegenüber den Authentizitäten gelebten Lebens. Es dominiert das Leben aus zweiter, nicht mehr aus erster Hand. Dies verweist auf die epochale These von Arnold Gehlen von der kulturellen Kristallisation. 158 In der industriellen technischen Welt sind alle Lebensbereiche, so Gehlen, in Abhängigkeit zum administrativen und technologischen Apparat getreten, vermittels dessen wir überhaupt nur noch die Welt wahrnehmen. Grundsätzliche Vgl. dazu Stürmer, Welt ohne Weltordnung, a. a. O. Horx, a. a. O., S. 189. 156 Dazu die bedenkenswerten Studien von B. Brock, Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991–2002. Köln 2002. 157 Diese Unterscheidung verdankt sich Niklas Luhmanns Bielefelder Abschiedsvorlesung: ›Was ist der Fall?‹ und ›Was steckt dahinter?‹. Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie. Bielefeld 1993. Sonderdruck. 158 A. Gehlen, Über kulturelle Kristallisation (1961), in: ders., Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften. Gesamtausgabe Band 6. Frankfurt/Main 2004, S. 298 ff. 154 155

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Innovationen und geschichtliche Neuheiten seien nicht mehr möglich, vor allem, weil sich im gegenwärtigen Weltalter der Wissenschaften ein zusammenhängendes Weltbild nicht mehr gewinnen lasse. In diesem Sinn sei die Geschichte der Ideen und großen Umbrüche in der Menschheit an ihr Ende gekommen. Es gibt nurmehr Kristallisationen und Permutationen dessen, was schon existiert hat. Kristalle können bekanntlich in schönen Farben schimmern, sie bleiben aber hartkantig und leblos. Im besten Fall können schöne ZeitBild-Kristalle hervorgetrieben werden. 159 Die Diagnose der »kulturellen Kristallisation« erfasste eine Nachgeschichte, das »Posthistoire.« Die große Geschichte ist zu Ende. Daher werden Versatzstücke aus unterschiedlichsten Bereichen in einem und demselben Zusammenhang von Kultur und Kunst zitierbar. Nicht mehr das Erinnerungsschatzhaus mit seinen verschiedenen Zimmern und Räumen (man denke an die memoria-Konzeption von Aurelius Augustinus), sondern ein fließendes- Strukturnetz, das Rauschen der Kommunikation, in der, mitunter überraschend, das ein oder andere Motiv sich in den Vordergrund drängt. In dieser Beschreibung sind einige Signaturen der modernen Welt treffend erkannt. Damit verbindet sich auch das Problem der Relativität aller darin reklamierten Tendenzen. Die Frage ist dann freilich, wie resignativ oder eben doch gestaltend, formend Kunst und Lebenskunst mit dieser Diagnose umzugehen vermögen. Die Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts ist aber mit jener Gehlens nicht ohne weiteres gleichzusetzen. Gehlens Einsichten haben einen festen Chronotopos im eisernen Band des übersichtlichen Ost-West-Konflikts. Er spricht von den zwei Hemisphären des Westens und Ostens als dem dominierenden Schema der Weltordnung. Zudem bewahrt er ein erstaunlich großes Zutrauen in eine quasitechnologische Sozialsteuerung. Er meint, innerhalb der Kristallisationen ließen sich die großen Menschheitsnöte, Bildungsmangel und Hunger, lösen und darin könnte Fortschritt bestehen. 160 Francis Fukuyama sprach, als die Mauern des Ost-West-Konfliktes gefallen waren, vom Ende der Geschichte. Es gebe nur noch eine, die liberal westliche Welt. Diese letzte Globalerzählung erwies sich rasch als 159 So in Anspielung auf Gehlens ästhetische Schriften: A. Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt/Main 31986. 160 Gehlen, Über kulturelle Kristallisation, a. a. O., S. 312 ff.

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naiv. Alte, teils älteste Prägungen brachen wieder auf. 161 Geschichte geht weiter und verlangt Gestaltung, ideell, beschreibend, künstlerisch. Aufmerksamkeit verdient die aus derselben Epoche stammende These des Münsteraner Philosophen Joachim Ritter, dass die Moderne anzuerkennen ist, auch in ihren Selbsterosionen, Überholungen und Überschallgeschwindigkeiten. 162 Dies versteht sich keineswegs von selbst. Maßgebende Philosophien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts – als ihr die Welt zerfiel, sie der Zentralperspektive nicht mehr habhaft werden konnten – fassten Geschichte entweder apokalyptisch oder im Sinn von Verfallstheorien. Lange verweht ist Hegels Gegenwart akzeptierendes »Hic Rhodus, hic salta!« Ritter hat mit seinem »Modernitätstraditionalismus« ein Drittes in den Blick genommen und festgehalten, dass die Moderne durch Entzweiung gekennzeichnet ist. Sie ist nicht in der Lage, selbst jene Sinnpotentiale zu schaffen, aus denen sie dauerhaft leben kann. Entzweit haben sich die Welt des freien authentischen Subjektes und die Sachwelt, die Objektivität mit ihren Zwängen. Daher bedürfe es der Kunst, der Religion und der geistigen Überlieferung, um diesen Hiatus irrationalis zu versöhnen. Ihnen kommt es zu, die Ressourcen bereitzustellen, deren die Moderne bedarf, deren sie aber selbst nicht mächtig ist. Es bedarf selbstverständlich auch der Gedächtnis- und Erinnerungskultur, mit Nietzsche: der monumentalischen Geschichte als eines Gesprächs der Lebenden und der Toten. Ritter spricht an dieser Stelle von Kompensation. 163 Man sollte das Fehlurteil abwehren, dass damit diese »kompensatorische« zweite Welt auf Ornat und Dekor begrenzt würde. Ritters Theoreme sind keineswegs auf blinde Affirmation fixiert. Auch wenn dies bei Ritter nicht im Zentrum steht, lässt sein Gedankengang zu, dass die kompensierende Welt verstören kann und soll. Eine gewisse Grenze von Ritters Aktualisierung liegt allerdings darin, dass er die Arbeits- und Industriegesellschaft des 19. und mittleren 20. Jahrhunderts vor Augen hat, nicht aber das mediale Netz, in dem die Entzweiung eigent-

Dazu wieder Stürmer, Welt ohne Weltordnung, a. a. O., vor allem S. 69 ff. Vgl. J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt/Main 2003 (Neuausgabe). 163 J. Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft (1963), in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt/Main 1974, S. 105 ff. 161 162

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lich zum Verschwinden gekommen ist. Zu verschwinden droht damit auch das authentische Subjekt. Max Weber beschwor einst die Wiederkehr der Fellachen. Sie waren keine Bürger, sondern apolitische, nur um ihr kleines Lebensglück besorgte Kleinbauern in den Großreichen des mittleren Ostens. In der Moderne vegetieren ihre Nachfahren unter den eisernen Banden der entzauberten Welt. An diesem Phänotyp tritt die Entzweiung in ihrer drastischsten Gestalt auf. Design, auch Architektur haben nun gerade auf dem schmalen Grat zwischen den beiden Seiten der Entzweiung ihren Ort. Sie müssen einerseits funktional ihre Rolle in der technischen Moderne einnehmen, zugleich können sie aber Abweichungen, Inklinationen zu bleibenden, bewährten Formen vollziehen. Das Gleichgewichtsverhältnis zu finden, erfordert jeweils komplexe Vermittlungen. Dennoch kann Design und Schönheit eine prekäre Zwischenrolle, aber auch eine Brückenfunktion zukommen. Bei aller zeitspezifischen Begrenzung seines Denkens scheint der skizzierte Ansatz Joachim Ritters nach wie vor geeignet zur Bestimmung von Gegenwart und Zukunft. Je kürzer der Aufenthalt in der Gegenwart wird, desto mehr sucht man nach Erinnerungs- und Gedächtnisspuren. Die Unterscheidungslosigkeit der einen Welt des Netzes und des globalen Dorfes befördert den gegenläufigen Trend zu Differenzierung und Unterscheidung. Im unterscheidungslosen Großraum werden Ort und Haus aufs Neue interessant. Dies muss nicht nur nostalgisch gemeint sein. Die Architektur der Gegenwart zeigt die Tendenz: Sie orientiert sich in ihren im besten Sinn avantgardistischen Vertretern nicht nach einem unterscheidungslosen weltweiten Modus, auch nicht nach der guten Form, vielmehr prägen sich Architekturräume heraus, in enger Kooperation mit der Handwerkskultur und alten regionalen Prägungen: in Portugal, Süditalien oder im Bregenzer Wald. 164 Anzudeuten sind hier nur zwei faszinierende Konstellationen, die eigener umfänglicher Erkundung bedürften: Die Einbeziehung und Eindeutung von Natur ins Material und den Entwurf, in der Achtung seiner Widerständigkeit, auch in der musealen Praxis. 164 Vgl. dazu die Übersich bei F. Aicher, R. Breuß, eigen+sinnig. Der Werkraum Bregenzerwald als Modell für ein neues Handwerk. München 2005.

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Exemplarisch sei noch einmal auf die Museumsinsel Hombroich hingewiesen, dieses faszinierende Ineinanderspiel von Teich, Wald, Ebene, Acker und Baustilen, Kunstwerken. In der Analogie von Kunst und Natur, die dort versucht wird, können auch Elemente, können Sonne und Wind, neu entdeckt werden. Und von hier aus wird das Design einer neuen Stadt entwerfend erprobt. Ihr Umriss zeigt sich bei unterschiedlichen namhaften Architekten wie Daniel Libeskind, Per Kirkeby oder Erwin Heerich, die an der Museumsinsel gebaut haben. Die Natur (physis) »ist über den Göttern und den Menschen«. Und Schelling: »Wir haben eine ältere Offenbarung als jede geschriebene, die Natur«. Kunst und Design, die in der Analogie mit der Natur spielen, das Dach und die Fenster öffnen, fangen seismographisch Zeichen der Gegenwart auf, sie graben aber auch Spuren, die ihrerseits zu Trendzeichen werden können, jene Tendenz zum Primären aufnehmend. 165 5.) Mehrfach- und nicht ohne Grund – wurde in diesem Kapitel auf die Unterscheidung von »Information« und »Wissen« hingewiesen. Sie zeigt, dass man in vernetzten Welten mit unzähligen Knoten und Verschaltungen umzugehen hat, die Zentralperspektive aber einbüßen kann. Wenn die Netzwelt keineswegs notwendigerweise die Genese von Wissen begünstigt, so kann das Wechselspiel von Altem und Neuem – nicht in der Form des Zitates, sondern in einem veritablen Dialog – diese gediegene Aneignung wieder befördern. Auch vermeintlich partiale Künste oder Handwerke können dabei eine geradezu universale Bedeutung gewinnen. Dieser humanen Kultur der Differenz kommt in der Globalität große Bedeutung zu. Trendforschung der großen Linien gibt in der Regel eine Alternative an, in deren widersprüchliche Richtungen sich die Welt-Zivilisation entwickeln könnte. Ihre beiden Scherenarme wären gleichermaßen erschreckend. Entweder bewegt sich alles auf einen unkonditionierten und unkonditionierbaren Weltbürgerkrieg mit zerfließenden Fronten, aber äußerster Entfesselung oder auf eine differenzlose globale Weltzivilisation zu; beide Extreme 165 George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990. Vgl. im Blick auf diese Wiederkehr des Primären auch den ausgezeichneten Essay von U. Schacht, Die Wiederentdeckung der Geschichte der Sonne. Versuch über die Poesie der Natur und ihr Erscheinen in der Natur-Poesie, in: ders., Weißer Juli. Sechsunddreißig Gedichte und ein Essay. Hauzenberg 2006.

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könnten sich berühren. Garanten für Frieden sind beide offensichtlich nicht. Die unaufhaltsame Globalisierung bringt gerade nicht ohne weiteres Weltbürger hervor. Die Polis kann, so wusste der alte Aristoteles genau, nur zwischen Verschiedenen bestehen. Man findet heute, nicht ganz freiwillig, auf unterschiedlichen Ebenen zu alten Wahrheiten zurück. Dazu gehört, dass mit Hölderlin »nur Unterschiedenes gut« ist oder dass nur aus verschiedenartigen Menschen Bürger werden können, die im gemeinsamen Leben in ihrer Polis zugleich zu sich selbst kommen. 166 Die unsichtbaren Grenzlinien und die tiefen Gräben, die das Antlitz des globalen Dorfes durchziehen, machen die Besinnung auf jene Differenzen nicht zur akademischen Frage, sondern zu einem Gebot elementarer Klugheit. Darüber hinaus eignet alten Lebensformen ein hoher Charme. Sie können »trendy« werden, in den Vordergrund treten, vor allem aber sind sie ein dauerhafter Habitus. Ob europäische Identitäten in der globalen Welt noch einen Ort haben oder nicht mehr, daran entscheidet sich auch, ob Europa Formkraft behält. Denn seine Ordnung kann nicht in Uniformität liegen, sondern sich nur als ›Eines in und von sich selbst Unterschiedenes‹ zeigen. Dennoch ist es nicht ohne weiteres möglich, eine eindeutige Richtung in den Tiefentendenzen und Trendstrukturen der unmittelbaren oder der ferneren Zukunft zu erkennen. Der Befund ›neuer Unübersichtlichkeit‹ bleibt im Recht. Und damit bleibt das große Problem. Es bedarf hoch entwickelter Unterscheidungskunst, um ein kurzfristiges Aufflackern nicht für eine Zäsur in der Longue durée zu halten; um Lang- und Kurzatmigkeit von Trends zu unterscheiden. Sind Tendenzen in den Wind geschrieben oder werden sie bleibende Spuren hinterlassen? Den geschichtsphilosophischen Schlüssel für die belastbare Antwort wird man vergebens suchen. Bei aller Bedeutsamkeit, mit der die Thematik von Trend und Tendenz beschwert ist, steht sie doch in einer Nähe zur Mode und ihrer Unverbindlichkeit. Sie hat ein Moment »ungeheurer Leichtigkeit des Seins« an sich. Gerade die Mode indessen ist ein genuines Moment Europas und seiner von permanenten Existenzfragen ent166 Vgl. dazu mein kleines Buch: Interkulturelle Phänomenologie bei Heinrich Rombach. Nordhausen 2005.

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lasteten Kultiviertheit. Tragisch wäre es, wenn diese Spielräume in einer uniformen Weltzivilisation eingeebnet würden oder zum Verschwinden kämen. Damit soll auch auf den Charme von Mode hingewiesen werden. Georg Simmel schrieb dazu vor über hundert Jahren: »Es liegt aber, um das Ganze zusammenzufassen, der eigentümlich pikante, anregende Reiz der Mode in dem Kontraste zwischen ihrer ausgedehnten, alles ergreifenden Verbreitung und ihrer schnellen und gründlichen Vergänglichkeit, dem Rechte auf Treulosigkeit ihr gegenüber. Er liegt nicht weniger in der Enge, mit der sie einen bestimmten Kreis schließt und dessen Zusammengehörigkeit ebenso als ihre Ursache wie als ihre Wirkung zeigt – wie in der Entschiedenheit, mit der sie ihn gegen andre Kreise abschließt. Er liegt schließlich ebenso in dem Getragensein durch einen sozialen Kreis, der seinen Mitgliedern gegenseitige Nachahmung auferlegt und damit den einzelnen von aller Verantwortlichkeit – der ethischen wie der ästhetischen – entlastet, wie in der Möglichkeit, nun doch innerhalb dieser Schranken originelle Nuancierung zu produzieren.« 167

Mode zeigt auch, dass zuletzt der Wechsel von Trends ein nicht unwesentliches Moment ist auf der Suche nach dem Glück, dem Selbstsein der Menschen. Auf den Pursuit of happiness, aber eben nicht auf das Wissen dessen, was Glück ist, sind die neuzeitlichen europäischen Zivilisationen nicht ohne Grund orientiert gewesen. Ob man wünschen sollte, dass diese Suche an ein Ziel gelange, daran bestehen zu Recht Zweifel. Der verborgene Philosoph der Moderne, Hans Blumenberg, sagte dazu: »Es ist unser Glück, dass wir nicht wissen, was Glück ist. […] So bleiben alle glücklich mit Maßen, weil sie nicht wissen, was das Glück ist. 168 Und der portugiesische Dichter Fernando Pessoa fasst dieses Grundphänomen – und damit das lange Interim, das sich in immer veränderter Weise um Trends und Tendenzen gruppiert, in ein Gedicht: »Du Hirte des Berges, so fern von mir mit deinen Schafen – Was ist das für ein Glück, das du zu genießen scheinst – ist es dein oder mein? Der Friede, den ich spüre bei deinem Anblick, gehört er mir oder dir? Nein, Hirte, weder dir noch mir. Er gehört nur dem Glück und dem Frieden. 167 G. Simmel, Gesamtausgabe Band 10. Philosophie der Mode. Frankfurt/Main 1995, S. 37. Der Text der ›Philosophie der Mode‹ selbst datiert in das Jahr 1905. 168 H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt/Main 1987, S. 215 f.

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Du hast ihn nicht, denn du weißt nicht, daß du ihn hast. Ich habe ihn auch nicht, denn ich weiß, daß ich ihn nicht habe. Er ist nur er und fällt auf uns wie die Sonne.« 169

V. Der Zeit-Raum – Philosophische Randgänge zu Fragen der Architektur »Wenn das Haus durchsichtig wird, gehören die Sterne mit zum Fest.« Hugo von Hofmannsthal

Aristoteles hält im vierten Buch seiner ›Physik‹ fest: »Es scheint aber etwas Großmächtiges zu sein und schwer zu fassen, der Topos – das heißt: der Ort-Raum.« 170 Immer wieder wurde auf die Abstraktion verwiesen, die sich in der überlieferten Metaphysik in der Verräumlichung der Zeit manifestiert. Ein zentraler Einwand von Bergson gegen die philosophische Überlieferung setzt hier an. Architektur hat es primär mit dem Raum zu tun. Doch sie transzendiert ihn auf Zeit hin. Darin kann, jenseits dieser gängigen Defizitanzeige, die Zusammengehörigkeit beider verdeutlicht werden, um die es im Folgenden gehen soll. 1.) Greifen wir zunächst auf Kants frühe Schrift ›Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume‹ zurück. In einer kritischen Wendung gegen Leibniz vermerkt Kant dort, dass die ›Lagen der Theile des Raums in Beziehung aufeinander‹ die Gegend voraussetzen. Die Gegend sei nicht aus der »Beziehung eines Dinges im Raume auf das andere« zu bestimmen, 171 vielmehr sei die Lage »auf den allgemeinen Raum« [von Kant auch: ›Weltraum‹ genannt] orientiert, »wovon jede Ausdehnung wie ein Theil angesehen wer169 F. Pessoa, Dichtungen. Aus dem Portugiesischen übersetzt von G. R. Lind. Zürich 1986, S. 95. Vgl. zu den beiden letzten Zitaten auch meinen Aufsatz: Die Suche nach dem wahren Glück, in: Heidelberger Club für Wirtschaft und Kultur e. V. (Hg.), Im Rausch der Geschwindigkeit. Heidelberg 1999, S. 177 ff. 170 Aristoteles, Physik IV, 4, 212 a. 171 I. Kant, Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1770), in: Akademie Ausgabe Band II. Berlin 1905 (hier N.D. 1980), S. 375–384, Zitat S. 377. Vgl. im Hintergrund auch ders., De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, in: ibid., S. 385–420 (im Folgenden als AA II).

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den muss«. Diesen ›unbedingten‹ Raum versteht Kant in einer Weise, die an den griechischen Begriff der ›Chora‹ anschließen kann, so wie er erstmals von Platon in seinem Spätdialog ›Timaios‹ expliziert wurde, »dass der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe.« 172 Platon hatte im ›Timaios‹, in seinem ›eikos mythos‹ (eikos lógos), also der nur wahrscheinlichen, nicht definitiv wahrheitsfähigen Theorie von der Entstehung der Welt, zwei Weisen der Kosmogonie unterschieden: eine der Vernunft folgende und eine zweite, die sich nach dem Maß der Notwendigkeit richtet. In ihr spielt die Chora eine entscheidende Rolle. Die Kosmogonie aber hatte Platon zugleich auf die Begründung der Polis bezogen. Was in der ›Politeia‹ über die gerechte Stadt entwickelt worden war, soll seinerseits in einem wohl gefügten, in sich bewegten Begriff des Kosmos gelten. Jedenfalls insofern das Modell der Ideal-Stadt nicht nur statisch, sondern in Bewegung gezeigt wird. Damit ist auf den Raum verwiesen. Er ist in der bildlichen Rede des späteren Platon eine dritte Gattung zwischen jener des immer Seienden der Idee und der Gattung des Werdenden. Der Raum, also die Chora, verweist auf eine Dimension, die der logoshaften Bestimmung der Welt vorausliegt. In der Chora gehen nach Platon die Zustände des Flüssigen, Trockenen und Festen ineinander über. Die vier Elemente sind noch nicht unterschieden. Zudem sind keine einzelnen Entitäten zu differenzieren. Daher geht der Raum sogar der Materie voraus. Er ist selbst gestaltlos, kann aber alle möglichen Gestalten annehmen. Ihm eignet mithin ein proteushafter Zug. Einschlägige Epitheta beschreiben ihn als ›Mutter‹ und ›Amme des Werdens‹, als eine Art von Matrix, in die, weil sie selbst amorph ist, alle nur möglichen Formen eintreten können. In dieser Fluchtlinie hat der späte Heidegger den Raum (mit Goethe) als eines der ›Urphänomene‹ begriffen, »bei deren Gewahrwerden den Menschen eine Art von Scheu bis zur Angst überkommt […] Denn hinter dem Raum, so will es scheinen, gibt es nichts mehr, worauf er zurückgeführt werden könnte. Vor ihm gibt es kein Ausweichen zu anderem.« 173 Kant scheint seine Überlegungen in der systematischen Folge 172 173

Ibid., S. 378. M. Heidegger, Die Kunst und der Raum. St. Gallen 1969.

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eines platonischen Raumbegriffes zu halten, auch wenn ihm dieser allenfalls in Umrissen bekannt war. Er geht davon aus, dass der Raum a priori zugänglich ist; nämlich in der Beziehung auf den eigenen Leib. »Da wir alles, was außer uns ist, durch die Sinnen nur in so fern kennen, als es in Beziehung auf uns selbst steht, so ist kein Wunder, daß wir von dem Verhältniß dieser Durchschnittsflächen zu unserem Körper den ersten Grund hernehmen, den ersten Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen.« 174 Der vollständige Bestimmungsgrund einer körperlichen Gestalt kann, so führt Kant aus, nicht lediglich auf dem Verhältnis und der Lage seiner Teile zueinander beruhen, sondern muss relational auf den allgemeinen, absoluten Raum orientiert sein. Dieser ist also nicht nur ›Gedankending‹, sondern Realität, die sich aber dem inneren Sinn erschließt. Wenn man es – anachronistisch – mit Nietzsche sagen möchte: der Leibvernunft. In ihr manifestiert sich die Vernunftidee der Weltbezogenheit des Menschen. Wiederholt hat Kant unterstrichen, »daß der vollständige Bestimmungsgrund einer körperlichen Gestalt nicht lediglich auf dem Verhältnis und Lage seiner Theile gegeneinander beruhe, sondern noch überdem auf einer Beziehung gegen den allgemeinen, absoluten Raum.« 175 Dieser ist uns aber, so die zentrale kantische These, durch den eigenen Körper gegeben. Er gibt – in dem für ihn konstitutiven Verhältnis von rechter und linker Seite – das Urbild einander völlig gleicher, daher vollkommen ähnlicher, aber inkongruenter Körper, die sich so zueinander verhalten, dass die Grenzen des einen niemals zugleich die Grenzen des anderen sein können. Dies impliziert notwendigerweise, dass sie nicht auf einer Ebene liegen. Kant hat von hier her den Anlass genommen, die herrschende Raumphilosophie, für die Leibniz steht, von Grund auf in Frage zu stellen: Der Raum besteht gerade nicht »nur in dem äußeren Verhältnisse der neben einander befindlichen Theile der Materie.« Denn wenn es so wäre, »so würde aller wirkliche Raum in dem angeführten Falle nur derjenige sein, den diese Hand einnimmt. Weil aber gar kein Unterschied in dem Verhältnisse der Theile derselben unter sich statt findet, sie mag die Rechte oder Linke sein, so würde diese Hand in Ansehung einer solchen Eigenschaft gänzlich unbestimmt sein, 174 175

Kant, AA II, S. 378 f. Ibid., S. 381.

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d. i. sie würde auf jede Seite des menschlichen Körpers passen, welches unmöglich ist.« 176 Der Eigenleib erschließt unmittelbar die Unterschiede, die sich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen, woraus Kant eine zweifache Folgerung von beträchtlicher Reichweite zieht: zum einen, dass nicht die Bestimmungen des Raumes aus der Lage der Teile der Materie gegeneinander zu folgern sind, sondern es sich vielmehr umgekehrt verhält. Zum anderen, dass der Raum nicht Gegenstand äußerer Empfindung, sondern der Grund ist, der solche äußeren Empfindungen erst ermöglicht. Er hat, kantisch gesprochen: apriorischen Charakter. Er leitet also die Erfahrung erst an, ist selbst aber nicht von ihr abhängig. 2.) Diese Überlegungen können nun mit der Grundkonstellation in der aristotelischen ›Physik‹ kontrastiert werden. Aristoteles hat sehr im Unterschied zu Kant seine Überlegung nicht beim Raum, sondern beim Ort (tópos) angesetzt. Prägnant bleibt seine Definition: »Die erste unbewegte Grenze dessen, was ihn umfasst, das ist der Ort eines Körpers.« 177 Wenn man den Ort fixieren will, ist es kein taugliches Mittel, auf die Begrenzung des einzelnen Gegenstandes zurückzugehen, seine Umrandung. Es muss vielmehr auf die erste unbewegte Grenze der Körperumgebung zugegriffen werden. Damit tritt von vornherein Zeit in die Bestimmung des Ortes ein. Nach Aristoteles hat ein bewegter Körper solange keinen definitiven Ort, wie er sich in Bewegung befindet. Der Grundsatz, dass ›Bewegung die volle Wirklichkeit des überhaupt nur möglichen Seienden sei‹, führt dazu, dass sich der Gedanke einer kontinuierlichen Raumausdehnung (megethos) abzeichnet. Jeder aktuell eingenommene Ort verweist auf einen potentiellen Ort in einem größeren Körper. Daraus ergibt sich ein Raumkontinuum, das gleichwohl nicht den Aufbau eines potentiell unendlichen Raumes zulässt. Denn die Existenz von Körpern muss vorausgesetzt werden, damit sich aus Örtern ein Raum aufspannt. Nichts oder Leere können nicht ihrerseits begrenzt werden. Deshalb muss auch die Annahme eines leeren Raumes ausgeschlossen werden. Bedeutsam ist, dass der aristotelische Begriff des Raumes stets auf Bewegung bezogen und insofern dadurch ausgezeichnet ist, dass er Schnitte in die Zeit legt. Zeit fasst Aristoteles 176 177

Ibid., S. 383. Aristoteles, Physik IV 4, 212a 20 f.

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als »Worin der Bewegung«, den Ort als »Worin der Körper«. Eine einzige Grenze hat diese Analogie. Denn die Kontinuität der Zeit ist, anders als jene der Örter, unmittelbar. Hinter sie lässt sich nicht zurückgehen. Kontinuum heißt griechisch: ›syneches‹, wörtlich: ›das Zusammenhaltende‹, was Aristoteles so definiert: »Syneches (aneinanderhängend) heißt, was in einer Reihenfolge sich berührt; das Kontinuierliche aber ist das, was zwar etwas Aneinanderhängendes ist, aber ich nenne es dann kontinuierlich, wenn die Grenze jedes der beiden Teile, durch die sie sich berühren, ein und dieselbe ist, und es so, wie auch der Name sagt, ›zusammenhält‹.« 178 Zeitpunkte (›nyn‹Punkte) sind daher Abstraktionen, die diskrete Einheiten herstellen sollen. Sie sind beliebig weiter teilbar. Die Zeit ist mithin aufs Engste an Bewegung geknüpft und kann nur ›gemessen‹, das heißt: überhaupt ermittelt werden durch die zählende Instanz menschlicher Seele, die das ›Früher‹ oder ›Später‹ erkennt. Heidegger hat die kantische Überlegung zur Unbedingtheit des Raumes in einem ständigen Blick auf Aristoteles auf die pragmatische, d. h. handelnde und leidende Weise menschlichen In-der-WeltSeins bezogen. »In der Gegend von«, so hat er bemerkt, meine niemals nur »in der Richtung nach«, sondern es eröffne zugleich den Blick auf den Umkreis von dem Seienden, das in der Richtung liegt. 179 Von Plätzen und Örtern zu sprechen, ist nur sinnvoll aufgrund der Orientierung in einer Gegend, die »zuvor entdeckt« sein muss. Heidegger erläutert dieses Grundverhältnis im Hinblick auf die Dinge, die zuerst als ›Zeug‹, griech. ›Pragmata‹, in einem Umgang begegnen. »Alles räumliche ›Wo‹ ist durch die Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt und umsichtig ausgelegt, nicht in betrachtender Raumausmessung festgestellt und verzeichnet.« 180 Derart werde von Aufgang und Niedergang der Sonne gesprochen, an einem Haus werde die Wetter- von der Sonnenseite unterschieden. Räumlichkeit werde aus dem Bezug zu einem jeweiligen Welt-Verhältnis justiert. Das Schlüsselwort, das Heidegger hier dem Raum-Begriff einschreibt, ist ›Entfernung‹. Es steht in einem engen Korrelationsverhältnis zu Heideggers Begriff der Wahrheit, 178 179 180

Aristoteles V 3, 227a 6–12. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 103. Ibid.

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der sich am Leitfaden der griechischen Etymologie von Aletheia bewegt. Als wahr zeigt sich, was dem Vergessen, der Verborgenheit entrissen wird. 181 Grund des Wahren bleibt aber die Verborgenheit. Im Entfernen wird der Raum jeweils durchmessen und damit konturiert. Dennoch bleibt ›Ferne‹, bleiben unterschiedliche Distanzen der Maßstab. Ent-fernen ist immer in actu als ein Vollzug zu verstehen, wodurch die Deiktika von ›Hier‹ und ›Dort‹ ihre bloße Punktualität verlieren und in den Lebenszusammenhang des Daseins einrücken. Vor diesem Hintergrund hat Heidegger Kants Auffassung vom Unterschied der Gegenden im Raum nicht revidiert, er hat sie aber ergänzt. Das Subjekt müsse, so modifiziert Heidegger die kantische Überlegung, »je schon in einer Welt« sein, »um sich orientieren zu können.« 182 Daher »ist der Raum weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum.« 183 Das Dasein selbst ist nach Heidegger raumhaft. Heidegger spricht im Verbalsinn vom »Räumen«. Darin würden die Orte freigegeben. 184 Orte bestimmen sich aus dem Einräumen und so eröffnen sich Gegenden. Wohnen, auf das sich der späte Heidegger mit großer Intensität bezogen hat und aus dem er das Bauen verstanden wissen wollte, wird nicht generiert, wenn Dinge ›an Orten‹ fixiert werden, sondern nur, wenn die Dinge selbst als Orte aufgefasst werden: deutlicher Nachhall des aristotelischen Entelecheia-Gedankens, der Auffassung des Ortes als des Zweckes (Telos) eines Dings. Ein Zweifaches zeichnet sich hier ab: zum einen die Geschichtlichkeit des Raumes, die nicht unmittelbar präsent sein muss. Ein säkular genutzter Raum kann etwa seine hieratische Vergangenheit freigeben. Auch hier schwingt eine Umgangsdimension mit. Zum anderen geht die skizzierte Verfassung des Raumes am sinnfälligsten

181 Darauf hat Heidegger wiederholt verwiesen, besonders prägnant in: Platons Lehre von der Wahrheit (1931/32, 1940), in: Heidegger, Wegmarken (GA Band 9), S. 203– 239, dennoch begegnet diese Überlegung schon sehr früh bei Heidegger, in seinen nachgelassenen Vorlesungen um 1920. In ›Sein und Zeit‹ hat er Wahrheit als ›Entdeckung‹ aufgefasst, worin der Grundsinn der Aletheia aber stets mitschwingt, ohne selbst zum Thema gemacht zu werden. 182 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 109. 183 Ibid., S. 111. 184 Heidegger, Die Kunst und der Raum, a. a. O., S. 9.

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am leeren Raum auf. Der leere Raum bildet die Matrix des belebten Raumes, weil an ihm Orte suchend entworfen werden können. Heidegger hat aber nicht hinreichend gewichtet, was Kant scharf sieht: dass der gesuchte originäre Zugang auf den Raum durch die Differenz konstituiert ist, die zwischen dem eigenen Leib und in geometrischem Koordinatensystem situierbaren Körpern verläuft. Die heideggersche Raumanalyse hat insofern den fundamentalen Mangel, dass sie nicht vom Leib her denkt. Von Kant her lässt sich aber erfassen: Gegenüber der lagegeometrischen Bestimmung sind das ›Hier‹ gleichermaßen wie das ›Dort‹ nicht lokalisierbar. Beide haben sie einen unbedingten Heterogenitätsstatus. ›Hier‹ und ›Dort‹ sind nur aus der Verankerung in einem Leib zu fassen. 3.) Diese Leibphänomenalität hat Edmund Husserl deutlich erkannt. Der Leib ist Hylé (Stoff). In Analogie zur platonischen ›Chora‹ im ›Timaios‹ ist er es, der Materialtiät, Dingrealität erst wahrzunehmen erlaubt. Er ist Ankerpunkt der »passiven Synthesen«, von Wahrnehmung und Empfindung, aufgrund deren aktive Synthesisleistungen erst möglich sind. Der späte Husserl hat diese Einsicht deutlich artikuliert: »Unter den eigenheitlich gefaßten Körpern dieser Natur finde ich dann in einziger Auszeichnung meinen Leib, nämlich als den einzigen, der nicht bloßer Körper ist, sondern eben Leib, das einzige Objekt innerhalb meiner abstraktiven Weltgeschichte, dem ich erfahrungsgemäß Empfindungsfelder zurechne, […] in verschiedenen Zugehörigkeitsweisen (Tastempfindungsfeld, Wärme-Kältefeld usw.), das einzige, in dem ich unmittelbar schalte und walte und in Sonderheit walte in jedem seiner Organe.« 185

Der Leib ist daher Organ der Raumempfindung; und er ist der Pol, auf den sich alle Körper beziehen, die zu der menschlichen Eigennatur gehören. Andere Menschen begegnen uns nicht nur als Körper, sondern als Leiber, deren genuine Eigenheitssphäre verschlossen ist, die aber als unseresgleichen in unser leibliches Gesichtsfeld eintreten. Einen originären Zugang auf den Anderen gewinne ich nach Husserl nur, wenn ich die Reduktion auf seinen Eigenleib vollziehe. Die Einsicht über den Eigenleib kulminiert darin, dass der Leib selbst 185 E. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 44. Vgl. dazu auch die subtilen Überlegungen von P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer. München 1996, S. 359 ff.

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nicht zum System seiner Objekte gehört, dieses System aber aufbaut. Er ist nicht im Sinn einer idem-Identität als stabil seiendes Etwas fokussiert, sondern in der räumlichen ipse-Identiät, als lebendes, sich verständiges Selbst. 4.) Eine über die bisherigen Konzeptionen hinausweisende Überkreuzung des Raumes mit der Zeit, der sich nachzugehen lohnt, finden wir bei Hegel in seinen frühen Jenaer Systementwürfen. Dort zieht Hegel aus Kants Überlegungen die Konsequenz: Dadurch sei überhaupt erst Anschauung möglich. Raum ist unmittelbare Quantität; seine verschiedenen Dimensionen sind lediglich Richtungen, deren jede für die andere genommen werden könne. Zeit dagegen hat unumkehrbar den Unterschied ihrer Extensionen in sich. Hegel weiß mit Augustinus, dass Gegenwart: ›itzt‹, wie er sagt, die Raumdimension der Zeit wäre, wenn sie sich festhalten ließe. Das ›Jetzt‹ wäre die Zeiteinheit, die aus dem Kontinuum herausführte und nur in Diskretionen begegnen kann. Es entzieht sich in die Zukunft, sofern es gefasst werden soll. In die Vergangenheit aber, als ihre Totalität, geht die Zeit selbst unter. Deshalb findet sie im Rückgang in das Vergangene erst zu ihrer Substanz. Eben dies nennt Hegel die ›Dauer‹, in der Realität des Raumes und der Zeit übereinkommen. 186 Eine zweite Überlegung kommt hinzu: »Die Dauer ist Bewegung.« 187 Bewegung aber wird auf ihre Form hin befragt. Sie kann sich in einer eindimensionalen Linie halten und sie kann sich in sich selbst zurückbiegen. Nur die zweite Möglichkeit kann nach Hegel die Vernunftform veranschaulichen, die dem Denken abzuverlangen ist: Es darf nicht progredierend ›fortschreiten‹, sondern muss, sich vertiefend, in sich zurückgehen. Die Linie, deren Ende mit ihrem Anfang zusammenstößt, entwickelt Widerständigkeit. Damit aber ist, wie Hegel weiter sagen wird, die Dauer neu gewonnen, nämlich als Widerstand am vorfindlichen Material, dem elementaren Naturstoff ebenso wie den Sedimentierungen vergangener Kultur. Auch Heidegger hat in den philosophischen Notizen, die er in den dreißiger Jahren unter dem Titel ›Beiträge zur Philosophie: Vom 186 G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe Band III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, neu hg. von Rolf-Peter Horstmann. Hamburg 1987. 187 Ibid., S. 17.

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Ereignis‹ (1936/38) niedergelegt hat, stärker als zuvor über den originären Zusammenhang von Zeit und Raum nachgedacht. Die insgesamt dunklen Bemerkungen kann man auf den folgenden zentralen Topos konzentriert sehen: 188 Gemeinsam ist Zeit und Raum, dass sie die Verborgenheit (Lethe) ins Offene rücken. Sie folgen dabei aber einem diametral entgegengesetzten Richtungssinn. Zeit ›entrückt‹, aber in ein Gesammelt-sein (man denkt an die Bestimmung von Zeitlichkeit in ›Sein und Zeit‹ : als dem Sinn der Sorge, die das Dasein ›ganz‹ werden lässt); der Raum ›berückt‹ : aber in einen zerstreuenden Umhalt. Beide gehören einander mithin notwendig zu. 189 In seinem späten Vortrag ›Bauen, Wohnen, Denken‹ hat Heidegger eine Reihe elementarer Folgerungen aus dieser Explikation des Zusammenhanges von Raum und Zeit gezogen. Das Bauen wird dort aus dem Wohnen expliziert, ein Ursinn, auf den die Sprache hinweist, wenn der indogermanische Stamm ›bauen, bhan, bhu, beo‹ mit jenem von ›bin‹ (ich bin, du bist) konvergiert. 190 Dass Bauen eigentlich Wohnen sei, ist Teil der Einsicht, dass »das Wohnen […] die Weise (ist), wie die Sterblichen auf der Erde sind.« 191 Dieses Wohnen wird auf einen weiteren Grundzug hin transparent gemacht, der eng damit zusammenhängt, wie Heidegger das In-der-Welt-Sein menschlichen Daseins verstanden hat. Wohnen ist eine Weise des Schonens und Pflegens und damit der Sorge (epimeleia). Bauen ist damit ein ›Schonen‹ und eine ›Befriedung‹ des sterblichen menschlichen Daseins selbst. Heidegger bringt seine innere Bewegung in das Denkbild des ›Gevierts‹ : der Entgegnung von sich auftuendem Himmel, den er mit der aufgehenden Welt, der ›Physis‹, dem von sich her sich Zeigenden, gleichsetzte, der sich dagegen verschließenden Erde (chthon) und der darin sich abspielenden Begegnungen von Sterblichen (untereinander) und Göttern. Leben ist gar nicht anders denkbar, denn als Wohnen oder als seine Verfehlung, seine Degeneration und Korruption. Heidegger mag dieser eminente Zug des Schonens und Woh188 Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, hg. von F.-W. von Herrmann. GA Band 65. Frankfurt/Main 1989, S. 385. 189 Vgl. zum Folgenden: Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, in: ders., Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954, S. 139–157. 190 Ibid., S. 141. 191 Ibid., S. 142.

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nens unter anderem am Zeit-Raum des Benediktinerklosters Beuron aufgegangen sein, in dem er mit Elisabeth Blochmann 1929 einige Zeit verbracht hatte. Über ein Wohnen, das den Übergang zur Nacht vollzieht, schrieb er seinerzeit: »Daß der Mensch täglich in die Nacht hineinschreitet, ist dem Heutigen eine Banalität, wenn es hoch kommt. Denn gemeinhin macht er diese zum Tag, so wie er den Tag versteht, als Fortsetzung eines Betriebes und eines Taumels. In der Complet ist noch da die mythische und metaphysische Urgewalt der Nacht, die wir ständig durchbrechen müssen, um wahrhaft zu existieren. Denn das Gute ist nur das Gute des Bösen. Die Heutigen sind übergeschickt in der Organisation von allem u. jedem, aber nicht mehr gewachsen der Sammlung für die Nacht.« 192

5.) Die skizzierten Überlegungen zu Raum, Zeit und Ort werden schließlich aber schärfer konturiert, indem nun nach der spezifischen Seinsweise ›gebauter Dinge‹ gefragt wird. Es ist bekanntlich vor allem eine Brücke, über den Neckar nahe Heidelberg, die Heidegger in ›Bauen, Wohnen, Denken‹ befragt. Dabei begegnet ein Gedanke, der bislang ausgespart blieb: Durch dieses Bauwerk ist der Raum ausgespannt und geöffnet, indem er in eine Grenze eingelassen ist (griech. peras/horismós). Damit unterscheidet er sich vom unstrukturierten Land. Das Bauwerk ist daher in seinem Wesen Ort und damit Gliederung des Raumes. Es gibt dem Aufriss der Landschaft eine veränderte Prägung. In Heideggers treffender Phänomenbeschreibung des Beispiels von der Brücke, das wie ein Passepartout auf vielfache andere Figurationen zu übertragen wäre: »Im Übergang der Brücke treten die Ufer erst als Ufer hervor. Die Brücke läßt sie eigens gegeneinander über liegen. Die andere Seite ist durch die Brücke gegen die eine abgesetzt. Die Ufer ziehen auch nicht als gleichgültige Grenzstreifen des festen Landes den Strom entlang. Die Brücke bringt mit den Ufern jeweils die eine und die andere Weite der rückwärtigen Uferlandschaft an den Strom. Sie bringt Strom und Ufer und Land in die wechselseitige Nachbarschaft. Die Brücke versammelt die Erde als Landschaft um den Strom. So geleitet sie ihn durch die Auen.« 193

192 Martin Heidegger – Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918–1969. Marbach 1989, S. 32. 193 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 148.

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Und sie hält Himmel und Erde aufeinander zu und gegeneinander offen. ›Spatium‹ : der Raum zielt auf die Fläche des Zwischenraumes ab und damit auf die Dreidimensionalität. Extensio ist eine abstraktive Beschreibung der Lineatur des Raumes. Die Weisen, wie er durchmessen werden kann, folgen der Extension. Keinesfalls jedoch beschreiben Abstand oder Zwischenraum die originären Bedingungen, wie Räumliches gegeben ist. Dazu bedarf es vielmehr der strukturierten Ganzheit des Wohnens: »Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen.« 194 »So prägen denn die echten Bauten das Wohnen in sein Wesen und behausen dieses Wesen.« 195 Die griechische Rede von techné wird von Heidegger in eminenter Weise in der Architektur aufgewiesen. »Die so zu denkende techné verbirgt sich von altersher im Tektonischen der Architektur«. Denn »das Wesen des Bauens ist das Wohnenlassen. Der Wesensvollzug des Bauens ist das Errichten von Orten durch das Fügen ihrer Räume.« 196 Der Charakter des Ent-fernens wird von hier her konkreter auf die leibliche Verfasstheit bezogen, die Heidegger zunächst ausgeklammert hatte. Dabei bemessen sich Nähe und Ferne niemals primär nach einer metrisch fassbaren Entfernung. sie folgen der Intentionalität der Leiberfahrung, die den Vorzeichnungen des späten Husserl folgend, skizziert werden. »Vielmehr gehen wir stets so durch Räume, daß wir sie dabei schon ausstehen, indem wir uns ständig bei nahen und fernen Orten und Dingen aufhalten. Wenn ich zum Ausgang des Saales gehe, bin ich schon dort und könnte gar nicht hingehen, wenn ich nicht so wäre, daß ich dort bin. Ich bin niemals nur hier als dieser abgekapselte Leib, sondern ich bin dort, d. h. den Raum schon durchstehend, und nur so kann ich ihn durchgehen.« 197

6.) Die Überlegungen können sich an diesem Punkt dem Grundverhältnis von Philosophie und Architektur annähern, das in Distanz und Annäherung beschrieben worden ist. Das »architektonische Ver194 195 196 197

Ibid., S. 152. Ibid., S. 153. Ibid., S. 154. Ibid., S. 152.

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mögen« ist für Platon und Aristoteles eng verwandt mit jenem der Staatskunst, es ist eine Form von Kybernetik, der Kunst des Steuermanns, und damit ist es auch der genuin philosophischen Kunst eng benachbart. Staatsmann und Philosoph sind für Platon analoge Figuren. Diese Ähnlichkeitsverhältnisse hat Aristoteles im Wesentlichen beibehalten. 198 Im deutschen Idealismus wird seit Kant das eigene Verfahren als ›Tektonik der Vernunft‹ begriffen; als Aufriss ihres komplexen Bauzusammenhangs, mit Streben, dünneren Ligaturen, Öffnungen nach oben; Bruch- und Abbruchstellen; dickeren und dünneren Wandungen und damit als Erschließung eines Denkraumes. Architektonische Metaphorik ist auch zur Kennzeichnung gedanklicher Strukturen selbst immer wieder eingesetzt worden. Man denke nur an Heideggers eigene Verschränkung von ›Geworfenheit‹ und ›Entwurf‹ in der elementaren Bestimmung des Daseins. 199 Die großen Systeme verorteten die Architektur auf ihre Weise: So hat sie Hegel in seinem System der Künste an erste, was heißen soll: archaische Stelle gesetzt. Sie ist die genuine symbolische Kunstform, die allerdings mit der von Hegel diagnostizierten, altägyptischen, symbolischen Kunstepoche weder ihren Höhepunkt noch ihr Ziel und Ende erreicht. Hegel meinte gewiss, die symbolische Kunstform finde in der klassischen ihren Zielpunkt, bei den griechischen Skulpturen und Götterbildern. Dennoch bleibt die Bewegung der Architektur Hegel zufolge für alle weitere Kunst elementar: »Ihr Beruf liegt darin, dem Menschen die äußere Natur als eine aus dem Geiste selbst durch die Kunst zur Schönheit gestaltete Umschließung heraufzubilden.« 200 Und: »Ihre Aufgabe besteht darin, die äußere unorganische Natur so zurechtzuarbeiten, dass dieselbe als kunstgemäße Außenwelt dem Geist verwandt wird.« 201 Sie bleibt letztlich uneingeholt – in der Auslotung des Zwischenraumes von Natur und menschlicher Weltgestaltung. Die Plastik hat nur innerhalb gegliederter Bauten ihren Ort. In jenen hegelschen Bestimmungen kommt unmittelbar in den Blick, dass der Natur und damit dem Material ein Überschuss zu198 Hierbei beziehe ich mich insbesondere auf den platonischen ›Politikos‹ und das erste Buch von Aristoteles’ ›Politik‹. 199 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, a. a. O. 200 Hegel, Theorie-Werkausgabe Band 14, S. 270. 201 Ibid., S. 116.

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kommt, der durch den eidetischen Entwurf nicht eingeholt werden kann. Die Individualität und Singularität des Künstlers verschwindet im Material. Hegel nennt die symbolische Kunst an einer Stelle daher die suchende Kunstform, 202 was für ihn darin begründet ist, dass »die Seele der Bedeutung mit ihrer leiblichen Gestalt immer nur unvollendet zu vereinigen« ist. 203 Eben darin erschließt sich die Komplexität des Gebildes, das niemals zu einer funktionalen Eindeutigkeit gelangt. »Naturdinge und menschliche Personifikationen« 204 bewegen sich aufeinander zu, ohne sich vollständig zu verschränken. Für Hegels Bestimmung der Architektur ist indessen nicht nur das einzelne Bauwerk maßgeblich. Er denkt es aus dem Zusammenhang der Stadt und in der Folge antiker Zeugnisse des Tempelbezirks. Bauten haben ihr Ziel darin, Vereinigung und Austausch verschiedener Völker zu ermöglichen. Ein Beispiel dafür gibt der Turmbau von Babel, mit gegenläufigen Wirkungen, wie man weiß, oder der Turm des Belus, von dem Herodot Zeugnis gibt. In ihm ließ sich nach der Legende nachts ein Gott nieder. Daher bedurfte es keines Götterstandbilds. Tagsüber dient er menschlicher Verehrung des Numinosen. Bauwerk und Skulptur, in der die klassische Kunstform kulminieren wird, verweisen aufeinander. Von höchster Wichtigkeit, bislang viel zu wenig geübt ist es, nach Bauwerken sich umzusehen, »die gleichsam wie Skulpturwerke für sich selbständig dastehen und ihre Bedeutung nicht in einem anderen Zweck und Bedürfnisse, sondern in sich selber tragen.« 205 Die Korrelation zwischen Architektur und Plastik bleibt Hegel zufolge auch in späteren Epochen bestimmend. Er vergegenwärtigt dies im Blick auf die klassische Baukunst und die Rolle der Skulptur in ihr. In seiner Darstellung ergibt sich ein Wechselverhältnis: »Wie bei der klassischen Architektur das Haus gleichsam das vorgefundene anatomische Knochengerüst ist, das die Kunst näher zu gestalten hat, so findet die Skulptur ihrerseits die menschliche Gestalt als den Grundtypus für ihre Gebilde vor.« 206 Ibid., Band 15, S. 375. Ibid., Band 13, S. 546. 204 Ibid., Band 14, S. 237. 205 Ibid., S. 269. 206 Ibid., S. 366. Vgl. dazu die aus der bildenden Kunst getroffene schöne Aneignung der hegelschen Ästhetik bei Beat Wyss, Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln 31997. 202 203

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Eine ganz andere Perspektivierung brachte Schellings Verortung der Architektur. Er rückt sie in große Nähe zur Musik. Sie ist »Musik im Raume«, nach arithmetisch-geometrischen Verhältnissen geordnet. 207 Hegel spannte seinen Blick auf die Architektur von der ägyptischen Pyramide her auf, wobei er in ihrem Umfeld, im Blick auf Phallussäule und Obelisk, schon den schwebenden Übergang zur Plastik thematisiert. Den Fortgang zur Baukunst klassischer Zeit, den er zugleich als Weg von der morgenländischen zur abendländischen Architektur begreift, deutet er als Übergang vom selbständigen, an ihm selbst enigmatischen Gebilde zum ›dienenden Gehäuse‹. Seine Beschreibung der gotischen Kathedrale legt nahe, dass die Form- und Konstruktionsprinzipien in eine naturhafte Selbstverständlichkeit zurückgeführt und »wie verhüllt« sind. Die Symbolisationskraft der Kathedrale verbindet den eigenständigen Symbolcharakter der Form, der aus der ägyptischen Baukunst bekannt ist, mit der Reduktion griechischer Architektur auf die tragende Hülle. Die Kathedrale ist beides zugleich. Ihre anagogische, erhebende Kraft verdankt sie dem ihr eigenen Charakterzug, ›analogon naturae‹ zu sein: »Betritt man das Innere eines mittelalterlichen Domes, so wird man weniger an die Festigkeit und mechanische Zweckmäßigkeit tragender Pfeiler und eines darauf ruhenden Gewölbes als an die Wölbung eines Waldes erinnert, dessen Baumreihen ihre Zweige zueinander neigen und zusammenschließen.« 208

Hegel akzentuiert dabei besonders die Einheit des Bogenschwunges und die Vielheit der Ornamentik, der vielen Glieder, aus denen sich der eine geistige Leib der Christenheit formen soll. 207 Schelling, Philosophie der Kunst (1802/03), in: Ausgewählte Schriften Band 2, hg. von Manfred Frank. Frankfurt/Main 1985, S. 396 ff., hier insbesondere S. 400. Dass ich weiteren Motiven in Schellings sehr differenzierten Bestimmungsversuchen nicht folge, hat damit zu tun, dass sie deduktiv in der Spannung zwischen Organischem und unbelebt Mechanischem (mit Hölderlin ›Aorgischem‹) bleiben, während sich Hegel, ähnlich wie auch in der Malerei, viel weitergehend dem Feld der Erfahrung und Faktizität der Werke aussetzt. Dies verhält sich in anderen Hinsichten, etwa im Blick auf Mythos und Offenbarung genau umgekehrt. Schelling hat die zentrale Bedeutung der Kunst nur in seinen frühen Jahren angenommen und sich später von ihr abgewandt. Einzelne ingeniöse Einfälle schließt dies natürlich nicht aus. 208 Hegel, Theorie-Werkausgabe Band 14, S. 335 f.

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»In solchem Dom nun ist Raum für ein ganzes Volk. Denn hier soll sich die Gemeinde einer Stadt und Umgebung nicht um das Gebäude her, sondern im Innern desselben versammeln. Und so haben auch alle mannigfaltigen Interessen des Lebens, die nur irgend an das Religiöse anstreifen, hier nebeneinander Platz. Keine festen Abteilungen von reihenweisen Bänken zerteilen und verengen den weiten Raum, sondern ungestört kommt und geht jeder, mietet sich, ergreift für den augenblicklichen Gebrauch einen Stuhl, kniet nieder, verrichtet sein Gebet und entfernt sich wieder. Ist nicht die Stunde der großen Messe, so geschieht das Verschiedenste zur gleichen Zeit. Hier wird gepredigt, dort ein Kranker gebracht; dazwischen hindurch zieht eine Prozession langsam weiter; hier wird getauft, dort ein Toter durch die Kirche getragen […] All dies Vielfache schließt ein und dasselbe Gebäude ein. Aber diese Mannigfaltigkeit und Vereinzelung verschwindet in ihrem steten Wechsel ebenso sehr gegen die Weite und Größe des Gebäudes; nichts füllt das Ganze aus, alles eilt vorüber, die Individuen mit ihrem Treiben verlieren sich und zerstäuben wie Punkte in diesem Grandiosen, das Momentane wird nur in seinem Vorüberfließen sichtbar, und darüber erheben sich die ungeheuren, unendlichen Räume in ihrer festen, immer gleichen Form und Funktion.« 209

Als Urheber des Gesetzes begreift Platon einen Gott – darin in vollständiger Übereinstimmung mit der griechischen Geschichtsschreibung. Dahinter verbirgt sich die Einsicht, dass die geordnete Polis, ein zivilisierendes Zusammenleben Verschiedener in der Stadt, menschliches Vermögen übersteigt. Menschliches Unbehagen ›in‹ der Kultur (S. Freud) löst diese Ligatur immer wieder auf. Diesen Einsichten wird zu allererst die Stadtarchitektur Rechnung tragen. »Die Heiligtümer zunächst muss man rings um den ganzen Markt und muss die ganze Stadt kreisförmig auf erhöhten Punkten anlegen […], damit dergestalt hier an den heiligsten Orten der Stadt Recht erteilt und empfangen werde […].« 210 Nicht minder hat es Sinn für die Rechtsgebung, dass die einzelnen Häuser an ihren Außenmauern sich zur Polis-Mauer zusammenfügen; der Bezirk des Eigenen und die Stadt sind damit in bestmöglicher Weise ineinander verschränkt. Der Gemeinsinn bildet sich gleichsam architektonisch ab. In einer solchen Bauvorschrift tritt auch zutage, dass es eine bürgerliche Einmütigkeit in der Stadt geben soll. Dies bedeutet nicht, dass Platon nicht auch um die bestehende Vielheit wüsste. Sie ist Ibid., S. 340 f. Platon, Nomoi 778 c–d. Dazu im Einzelnen mein Buch, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Berlin 2005, S. 500 ff. 209 210

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aber in eine Hülle zusammenzufügen. Aristoteles hat diesem Gedanken freilich schärfere Konturen gegeben: »Ähnliche Menschen bringen keine Stadt zuwege.« 211 Die Stadt ist Nachbild des Kosmos, dessen geschlossene Selbstbewegung sie nicht erreicht. Dennoch ist die Idee der »Kosmopolis« ein Zielgedanke. 212 Richard Sennett hat den belebten Raum als ein spannungsreiches Ensemble aus ›Fleisch und Stein‹ begriffen, indem er herausragende Weltstädte in Kulminationsmomenten der Geschichte untersuchte. So betrachtet er Athen vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges. 213 Die Manifestation von Logosphilosophie und Sophistik sieht er in der Tragödie und im Kultus als Körpermanifestation auf der Agora. Er fragt nach dem Köperideal der ›Anthropomorphé‹ der Götter, dem nackten vollkommenen Leib. Dann reist er ins kaiserliche Rom und erörtert die fokussierende Macht der Bilder. Kontrapunktisch dazu zeichnet er die Umrisse christlicher Leiberfahrung, im Sinn des paulinischen »Besitzen als besäße man nicht« nach, wie es sich in den Überresten frühchristlicher Häuser dokumentiert. Vorblenden gehen in das mittelalterliche Paris. Sennett zeigt, dass »das körperliche Leiden Christi am Kreuz »[…] den Parisern des Mittelalters – zur Zeit des Erscheinens der großen Bibel Ludwigs des Heiligen 1250 – eine Möglichkeit [bot], über Räume der Wohltätigkeit und Zuflucht in der Stadt nachzudenken.« Solche Zufluchtsorte, an denen die Almosenpflege und christliche Asketik der Orden gediehen, seien wie Löcher zwischen dem Markt der Cité, dem Lebensraum des Homo oeconomicus. Die städtische Zeitreise von Sennett führt ins Paris der großen Passagen, in die ›Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‹, wie Walter Benjamin sagte, deren Maße den Flaneur, den frei sich bewegenden Individualisten anzogen, und die die unmittelbare Erfahrung des anderen menschlichen Körpers in Distance rücken; und sie endet im Paradigma des multikulturellen New York der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts; im Melting Pot kann diese Distanz wieder aufgehoben werden.

Aristoteles, Politik. Vgl. S. Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgabe der Moderne. Frankfurt/ Main 1991. 213 Grundlegend R. Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Frankfurt/Main 1994. 211 212

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7.) Dass philosophische Tektonik und Architektur unmittelbar einander korreliert sind, ist selten, und noch seltener ist das Gelingen solcher Konstellationen. Zusammen mit Paul Engelmann, dem Schüler von Adolf Loos, entwarf Ludwig Wittgenstein in den Jahren 1925 bis 1926 das Haus seiner Schwester Gretl, der Miss Stonborough. Der Philosoph war für eine Ornamentik des Praktischen, Fenster, Türen, Fenstergriffe und Heizkörper zuständig. Wittgenstein trug als Architekt wohl mit aller Konsequenz einer Maxime aus seinen ›Vermischten Bemerkungen‹ Rechnung: »Bring den Menschen in die unrichtige Atmosphäre und nichts wird funktionieren, wie es soll […] Bring ihn wieder in das richtige Element und alles wird sich entfalten und gesund erscheinen.« 214 Wiederholt ist jenes Palais Stonborough mit Wittgensteins ›Tractatus logico philosophicus‹ verglichen worden. Wittgensteins Architektur sei eine Übersetzung seiner Philosophie in die Gattung der Bauwerke: Reiner Geist und Stein, nicht unbedingt Fleisch. Kann man ein derart rationales und kristallines Gebilde aber überhaupt bewohnen? Wittgenstein selbst hat im Jahr 1940 im Rückblick auf den Bau festgehalten: »Mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur etc.) aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich austoben möchte – fehlt. Man könnte also auch sagen, es fehlt ihm die Gesundheit (Kierkegaard) (Treibhauspflanze).« 215 Die Schwester, für die das Bauwerk entworfen war, kommentierte: »Wenn ich nämlich das Haus auch noch so sehr bewunderte, so wusste ich doch immer, dass ich selbst es weder bewohnen wollte noch könnte. Es schien mir ja viel eher eine Wohnung für Götter zu sein, als für eine sehr kleine Sterbliche, wie ich es bin, und ich hatte sogar zuerst einen leisen inneren Widerstand gegen diese ›hausgewordene Logik‹, wie ich es nannte, Vollkommenheit und Größe zu überwinden.« Das ›gute Maß‹, die ›gute Form‹ scheint hier bis zur Überdehnung der Grenzen des im Material Möglichen realisiert zu sein und daher die Erfordernisse menschlichen Zeit-Raums zu missachten.

214 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, hgg. von G. H. von Wright. Frankfurt/ Main 1984, S. 85. 215 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. O., S. 502 f.

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Das Gebäude ist in mehrfacher Hinsicht der Ausnahmefall. Wittgenstein beließ es bei dem einen Bau. Nietzsche fügt sich passgenau antithetisch zur wittgensteinschen Konstellation. Nietzsche favorisierte die Musik gegenüber der Architektur. Sie war ihm das Remedium, ohne das das Leben ein Irrtum wäre. Im Blick auf Ton- und Sprachkunst trifft Wittgenstein eine Unterscheidung, die sich vor der Architektur ad absurdum führen muss. Sie verläuft zwischen der »monologischen Kunst« und einer »Kunst vor Zeugen«. Das höchste Sigel auf Kunstwerke zeigt sich darin, dass sie ihren Endpunkt finden. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens greift er wiederholt auf Beispiele aus der Architektur zurück. Die Vollendung von Entwürfen wird sich darin beweisen, dass er sich in ein Ensemble einfügt und in der Begrenzung seine Form findet. Raffaels und Michelangelos Beiträgen zum Bau des Petersdoms konzedierte Nietzsche daher die größte Meisterschaft. Sie bestehe darin, dass sie »im Großen wie im Kleinen auf eine vollkommene Weise das Ende zu finden wissen.« 216 Eine Landschaft ist dabei das Paradigma. Kunst und Natur lagern sich also ineinander: Die schwächeren Begabungen würden »immer gegen das Ende hin unruhig und fallen nicht in so stolzem, ruhigem Gleichmaße in’s Meer ab, wie zum Beispiel das Gebirge bei Porto fino – dort, wo die Bucht von Genua ihre Melodie zu Ende singt.« 217 Die Kunst des Endens hat eine Kehrseite, die an Piranesis ›Carceri‹ und seinen ›Vedute di Roma‹ erkennbar wird: die Evokation der zerstörenden Macht der Zeit. Vor einem ungleich monströseren Hintergrund hat Albert Speer vom »Ruinenwert der Kunst« im Stadium der Planung des Nürnberger Aufmarschgeländes gesprochen. Piranesi indes bringt das Roma aeterna an dessen Ruinen zur Darstellung, überwuchert von Pflanzenwuchs. Die Artefakte verwandeln sich zurück in ein Naturszenario. Über all dem liegt ein Grundton der Trauer, der dadurch manifest wird, dass sich auf den Stufen der faszinierenden Architektur, unverhältnismäßig klein, ›letzte‹ Menschen aufhalten. Sie wissen sich in der Größe des Über216 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Aoh. 281, KSA 3, S. 525. Dazu auch M. Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, a. a. O., S. 330 ff. 217 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 4. Buch Aphorismus 281, KSA 3, S. 525.

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15 · Lebenskünste oder: Die andere Ästhetik

lieferten nicht zu orientieren, blinzelnd, so wie Nietzsche sie später beschrieben hat. Und die Überreste der römischen ›magnificenza‹ ragen als »rätselhafte Denkmäler unbekannter Größe oder Schuld« in eine fremde Gegenwart. 218 Das doppelte Ende verweist die Architektur auf die vielfachen Dimensionen des Gebrauchs. 8.) Aristoteles kannte, wie an früherer Stelle in diesem Buch gesagt wurde, noch eine Dreiheit der philosophischen Orientierungen: die Theoria als reine Erkenntnis, die Praxis und eben die Poiesis, die philosophische Lehre vom Machen und Herstellen. Die Konturen der letzteren bleiben schon bei Aristoteles Fragment. Nur eine ›Poetik‹, eine Lehre von der Dichtkunst, hat er ausgeführt. 219 Die Ästhetik ist dagegen, wir sahen es, eine genuin neuzeitliche, im späten 17. Jahrhundert ausgebildete Disziplin. Die klassischen Ästhetiker der deutschen Tradition wenden sich der ›cognitio sensitiva‹ (sinnlichen Erkenntnis) zu, die sie als ›cognitio confusa‹ (undeutliche, verwirrte Erkenntnis) begreifen, die aber umgekehrt – dies die Position so unterschiedlicher Geister wie Gracian, Rousseau, der britischen Empiristen – Urteilskraft und ›sensus communis‹ (Gemeinsinn) verlangt. Die logische Demonstrabilität ist in dieser Sphäre versagt. Wohl aber ist eine Form des Taktes zu entwickeln, deren Kultivierung als Desiderat der Humanität erscheint. Allerdings bleiben in der Tradition seit Aristoteles Poietik und Kulturphilosophie eher am Rand der philosophischen Überlegungen. Doch solche Ränder fordern die Philosophie zugleich heraus. Jacques Derrida, hat mit seinen ›Randgängen‹ (marges) dieses Verhältnis treffsicher bezeichnet: »Hieran war der Philosophie immer gelegen: ihr Anderes zu denken. Ihr Anderes: das, was sie begrenzt, von dem sie in ihrer Essenz, ihrer Definition, ihrer Produktion abhängt. Ihr Anderes denken: bedeutet dies letzten Endes nur, dass sie aufhebt, worin sie ihre Grenze überschreitet? Oder hält die Grenze, indirekt und überraschend, immer einen neuen Seitenhieb auf das philosophische Wissen bereit? Grenze/Übergang.« 220

N. Miller, Archäologie des Traums. Versuch über G. B. Piranesi. Wien 1981, S. 42. Vgl. dazu W. Wieland, Aristoteles und die Idee der poietischen Wissenschaft. Eine vergessene philosophische Disziplin?, in: Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie. Festschrift für Manfred Riedel. Würzburg 1996, S. 479 ff. 220 Derrida, Randgänge der Philosophie, hg. von P. Engelmann. Wien 1988, S. 13. 218 219

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Der Zeit-Raum

»Wenn die Philosophie immer mit Nicht-Philosophischen, ja auch mit dem Anti-Philosophischen in Beziehung bleiben wollte, mit den Praktiken und Kenntnissen – seien sie empirisch oder nicht – die ihr Anderes konstituieren, wenn sie sich diesem durchdachten Einvernehmen mit ihrem Äußeren gemäß konstituierte, wenn sie es immer verstand, in ein und derselben Sprache über sich selbst und anderes zu sprechen, kann man dann mit all der gebotenen Präzision, einen nicht-philosophischen Ort ausmachen, einen Ort der Äußerlichkeit […]?« 221

Gerade im Blick auf die Architektur kann sich dies verifizieren. ZeitRaum, der Übergang von Stoff und Form, das Ensemble der Städte zeigen, dass die Philosophie auf ihre eigenen Archai stößt, wenn sie dem Zusammenhang von Bauen und Wohnen nachdenkt. Dies mögen einige Sätze eines Architekten gleichsam signieren, zumal sie vor dem skizzierten Hintergrund, der immer auch der Lebenshintergrund eines auf Räume hin und in Räumen sich artikulierenden Denkens ist, Maximencharakter haben. »Zuerst das Dienende, dann die Stimmung und zuletzt der Effekt […] Ich versuche durch den Entwurf, Konflikte des Ortes zu tilgen, zumindest zu besänftigen, ich sage es deutlich: zu harmonisieren. Nicht der Angriff auf das Alte, Schnitt, Entgegengesetzen – die Methode Carlo Scarpa […] das heißt auch: ich bewerte die Geschichte, ich distanziere mich nicht […]. Bauen Sie so, dass Sie zu 99 % verschwinden. Sie müssen sich nicht zeigen als einer, der 1953 geboren ist, mit besonderer Auffassung, Exponent einer ganz besonderen Zeit. Sondern: Die Dinge stehen da, meines fügt sich ein, setzt das Muster fort. An Orten mit vielen Schichten muss ich einen Mix machen, nicht einen Stil, sondern eine Zwischenform, ein Amalgam […]. Störrisch, respektvoll, ein wenig stur, nicht vor dem Alten in die Knie gehen, aber mit Respekt, ein Pendeln, wozu man Gespür braucht […] Architektur soll ein Milieu schaffen, zeigen, wozu Dinge dienen.« 222

Ibid., S. 14 f. Miroslav Sik, Altneu. Gedanken vom Bau, in: F. Aicher, D. Rinker (Hg.), Gebrauch und Gebräuchlichkeiten. Vom Umgang mit den Dingen und ihrer Gestalt. Ein Symposion in Rotis. München 2000, S. 57 ff. 221 222

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SECHZEHNTES KAPITEL:

Verwandelnde Wiederkehr des Kultus – Ästhetik der Performanz

1.) In der Riehener Fondation Beyeler, einem der markantesten und schönsten Orte der mitteleuropäischen Ausstellungslandschaft, war Ende 2012 das Spätwerk von Degas in einer Variationsbreite und einem Reichtum an Spielarten zu sehen, wie es kaum vorher an einem Ort gezeigt worden sein dürfte. Die Tänzerinnen, Degas’ Leitthema, in ihrer ungeheuren lichthaften Leichtigkeit, erscheinen in fast unendlichen Variationen. Je einsamer Degas wurde, je lastender Alter und Isolation auf ihm lagen, umso mehr wandte er sich dieser schwebenden Schönheit zu. Er komponierte sie gleichsam als eine Levitation aus Farben. Es entsteht ein volltönender und zugleich zarter Hymnus, in vielfachen Tönen und Brechungen auf die Schönheit der Frau und auf die verklärende Bewegung des Tanzes. Doch nicht nur die reife Actio der Anmut, auch die tastenden Vorbereitungen oder die abgeschminkte Müdigkeit werden Degas zum Sujet. Diese Motive sind bekannt, auch wenn sie in ihrer Tiefe überraschen. Weniger bekannt ist die Melancholie, die Degas in das Absinken der Spannung legen kann, wenn er seine Ballerinas entspannt in der mittäglichen Panstunde zeigt. Den Kopf leicht nach vorne gebeugt, der Nacken frei sichtbar, ein mildes Licht umfließt die Gestalten. 1 Immer wieder, teils eher in Gelb, teils eher in Blautöne getaucht, variiert Degas die Szene, die er »Vorbereitung auf das Bad« genannt hat. Die Anmut verliert ihre Attitude. Sie wird, wie man mit Rilke sagen könnte, reines Sein und bloßer Vollzug. Paul Valéry hat der performativen Kunst par excellence, dem Tanz, einen sokratischen Dialog gewidmet, der das Wesen des Tanzes Dazu die Katalog-Publikation: Edgar Degas, Das Spätwerk. Katalog der Ausstellung Fondation Beyeler. Riehen, Basel 2012. Wichtig ist dabei auch, dass sich die dort gezeigten Werke teilweise dramatisch von dem gefälligen und allgemein bekannten impressionistischen Œuvre unterscheiden.

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als eine Lebensmacht begreift und mit Flamme und Verwandlung in enge Beziehung setzt. 2 Der Dialog zeigt meisterlich, wie der Tanz die naive Künstlerin verändert und verklärt. Am Ende kehrt sie wie aus der Trance zurück, in einer Stimmung bejahter Endlichkeit: »Aber da wir nicht ins Grenzenlose können – weder im Traum noch im Wachen, – so muss auch es [sc. das tanzende Leben; H. S.] immer wieder es selbst werden; muss aufhören, Flocke zu sein, Vogel, Idee.« 3 Erst nachdem sie wie aus einem Traum erwacht ist, wird sie sich selbst zurückgegeben. Valérys Sokrates begreift die vollendete Tänzerin Athikte, die prima facie töricht wirkt, als »Flamme selbst und Augenblick«. Umfasst und umschließt sie doch in einem rauschhaften Zustand die Dinge selbst in ihrer Tiefendimension. Ihr Tanz nähert sich den Urbildern, freilich in der leiblichen Manifestation und in jener göttlichen Mania, die im platonischen Frühdialog ›Ion‹ dem dichterischen Enthusiasmus und seiner Ekstase zugewiesen worden war. Die perfekte Tänzerin wird dabei mit einem der Insekten verglichen, die inmitten der Flamme leben. Goethe hat dieses Phänomen bekanntlich als ›Selige Schönheit‹ aufgefasst, die sich in der Flamme verzehrt. Dieses Bild fasst die Amphibolie des Tanzes auf. Er gibt auch der Zerstörung Ausdruck und Form. 4 Ungeachtet ihrer kosmischen Reichweite ist die Tanzkunst Augenblickskunst: »Der Augenblick gebiert die Form, und die Form macht sichtbar den Augenblick.« 5 Doch der erfüllte Augenblick täuscht und überwindet die Zeit, wenn die Tanzende ihrer eigenen Natur Bewegungen abgewinnt, die die Schwerkraft sprengen. Selbstvervollkommnung und Fragmenthaftigkeit sind aufs Engste miteinander verwoben. »Dieses Eine versucht das Spiel, Alles zu sein. Er will es spielend der allumfassenden Seele gleich-tun.« 6 Der tanzende Leib nimmt sich vollständig in seinen Besitz. Er tendiert »auf einen Grad von Ruhm, der über das P. Valéry, Die Seele und der Tanz, in: ders., Werke. Frankfurter Ausgabe Band 2. Dialoge und Theater. Frankfurt/Main 1990, S. 86 ff. Es ließe sich im Einzelnen zeigen, dass Valérys Dialoge wirklich bis in alle Einzelheiten der Struktur platonischer Dialoge folgen und diese geradezu kongenial nachbilden. Siehe auch W. Kluback, Paul Valéry. Philosophical Reflections. Frankfurt/Main, New York 1987. 3 Ibid., S. 89. 4 Ibid., S. 111. 5 Ibid., S. 113. 6 Ibid., S. 112. 2

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Natürliche hinausgeht.« 7 So weit reicht die Transzendenzmacht einer Kunst, die nicht die Spur eines Mediums braucht, nicht eine äußerliche Manifestation in Schrift, Bild oder Ton, deren Evokation vielmehr idealerweise im Augenblick liegt, dem sie damit Festigkeit und Bestand verleiht. Für Valérys Athikte gilt also in noch höherem Maß, was Platon auch dem rhapsodischen Dichter zugesprochen hatte, dass sie nicht wisse, was sie tue. Sie ist wie eine Seele, »für die Weisheit und die Tiefe, die man von ihr verlangt, nichts als Augenblicke sind und sein können, Blitze, Bruchstücke einer fremden Zeit, verzweifelte Sprünge aus den Grenzen ihrer Gestalt.« 8 Sie dringt vor in eine andere, alles Seiende in eine Wirbelbewegung auflösende Welt. Als Athitke am Ende des Dialoges aus ihrem tranceartigen Zustand erwacht, wird der Eindruck ihrer Zurechnungsunfähigkeit bestätigt. Sie weiß nur zu sagen, dass sie nichts fühlt und weder lebendig noch tot ist. Zugleich benennt sie ihren Zustand recht genau: »Zuflucht, Zuflucht, o meine Zuflucht, o Wirbel! – Ich war in dir, o Bewegung, draußen, außerhalb aller Dinge!« 9 Gewiss ist diese Evokation des Tanzes nahe an jener ›reinen Dichtung‹, jener ›poésie pure‹, wie Valéry sie selbst als Ziel künstlerischer Vollkommenheit programmatisch umschrieben hat: »Wenn der Dichter imstande wäre, Werke zu konstruieren, wo nichts mehr von allem, was Prosa ist, in Erscheinung träte, Gedichte, in denen die musikalische Kontinuität niemals unterbrochen wäre, in denen sogar die Verhältnisse der Bedeutungen fortwährend harmonischen Verhältnissen gleich wären, Gedichte, in denen die Umwandlung eines Gedankens in einen anderen wichtiger erschiene als jeder einzelne Gedanke, Gedichte, in denen das Spiel der Bilder die Wirklichkeit des Themas enthielte –, dann könnte man von reiner Poesie spreche, wie von etwas, das es gibt.« 10 Bezeichnenderweise bleibt es bei einem Konjunktiv potentialis, der weitere Fragen aufwirbelt: Kann denn Dichtung sich von ihrer letzten Bindung an die Ontologie der Welt, die in der Grammatik sediIbid., S. 113. Ibid. 9 Ibid., S. 117. 10 Vgl. Valéry, Theorie der Dichtkunst. Aufsätze und Vorträge. Frankfurt/Main 1962, S. 88 f. Vgl. jetzt auch die größere Dokumentation einschlägiger poetologisch- philosophischer Schriften: Valéry, Werke. Frankfurter Ausgabe Band 5. Frankfurt/Main 1991. 7 8

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mentiert ist, ablösen? Dies vermag die reine Performativität des Tanzes besser. Der Preis ist ein Zustand, der selbst nicht rechenschaftsfähig ist. Vielleicht eben deshalb hat der Tanz die Literatur der Moderne nachhaltig als Emblem geprägt. Hugo von Hofmannsthal konzedierte gar im Fazit seiner Begegnung mit der Tänzerin Grete Wiesenthal: »Die Tänzerin hat gegen den Dichter gesiegt.« 11 Gabriele Brandstetter hat sehr zutreffend diese Modifizierung eingekreist und vom Tanz als »Medium der Metamorphose« gesprochen; der Dichter, auf der Suche nach der ›reinen Poesie‹ ist dann gleichsam Zuschauer der Tänzerin als der vollkommenen Muse. In ihr manifestiert sich das absolute Prinzip, das erst in den anderen Zustand führt. Die Flamme als Sinnbild jener Augenblicksverklärung kehrt in der Tanzkunst der Moderne in der Figuration des Phönix, der aus der Asche steigt, leitmotivisch wieder. 2.) Die Ästhetik des Performativen ist vom anderen Extrem einer Skala her die eigentliche Entsprechung zur Kunst des Gebrauchs. Wenn diese den nicht technomorphen, lebensweltlichen Umkreis des Lebens umfasst, so dringt jene in die Leibstrukturen ein. Tänzerische Verkörperung öffnet sich, wie Erika Fischer-Lichte gezeigt hat, der Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, einem Lebens-Vollzug in Berührung, Austausch, Eins-werden, der die mentale und reflexive – mit Schiller: sentimentalische – Ästhetizität hinter sich lässt und in den tangiblen Raum gestischen Symbolisierens zurückgreift. 12 Dies mag in einem ›Als Ob‹ geschehen. Doch die Grenze zwischen Realität und Fiktionalität wird selbst durchlässig, sie verschiebt sich in eine veränderte Wirklichkeit. Raum und Zeitperzeptionen werden performativ allererst hervorgebracht. Dies zeigt sich im Blick auf leibhaftige Verkörperung von Präsenz, auf die Verwandlung des Raumes durch Performation und näher durch Stimme

Zitiert nach A. Mascha, FlowDance. Zur Poetologie des hypermodernen Freien Ausdruckstanzes. Manuskript 2006, S. 8. Andreas Mascha verdanken diese Überlegungen sehr viel. Siehe auch seinen Aufsatz: Flux-Tanz – Zur integralen Kunst und Ästhetik des hypermodernen Ausdruckstanzes. München 2001; sowie die magistrale Monographie G. Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt/Main 1995. 12 E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main 2004, S. 22 ff., S. 150 ff. 11

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und Bewegung, ebenso wie in der Durchbrechung linearer Zeit durch Rhythmisierung und ›Time brackets‹ im Sinn von Cages ›Untitled Event‹ (1952). 13 Schließlich werde so in der Performativität Bedeutung erzeugt, die untrüglich evident ist, sich aber kaum im Nachhinein verstehend rekonstruieren lässt, jedenfalls nicht ohne Unschärfen und Verfälschung. Die Bedeutung ist mithin im Ereignis präsent. In der spät gewordenen Moderne artikuliert sich damit auch erneut der verlorengegangene Zusammenhang von Kunst und Leben: Nietzsches großes Sujet. 14 Dies muss keineswegs zwingend Remythisierung bedeuten. Die Gefahr ästhetisch nicht valider Emphase und der Scharlatanerie oder immer gleichbleibender esoterischer Muster ist nicht von der Hand zu weisen, und sie hat sich in der Kunstgeschichte moderner Performationen immer wieder eingestellt. Doch die Eigenmacht des Performativen ist groß. Im Performanzereignis scheint das Unsichtbare epiphanisch auf, das »Arrheton«, das sich zwar der Mittel der Virtualität bedienen kann, aber zugleich Wesen und Schein ist. Eben weil es ist. Wenn Partituren, Texte, choreographische Skizzen vorliegen, ist diese Wirkung abgemildert. Ein besonders faszinierendes Moment stellt die antike Tragödie dar. Sie war zwar verschriftlicht, doch die Aufführung war zunächst eine singuläre Angelegenheit, jedenfalls bis zu dem Augenblick, zu dem das ›palaion drama‹ zur Wiederaufführung gebracht werden sollte. Als Kunstwerk im Vorbeigang, ein Paradoxon in sich, entfaltete sie deshalb ihre Wirkungen. Der Film evoziert eine ähnliche intermediäre Zwischenstellung. Mit großer Treffsicherheit hat sie Gilles Deleuze herausgearbeitet: Dinge und Ereignisse werden im Film nicht aus dem Entwurfscharakter des menschlichen Geistes erzeugt, sondern mittels einer technischen Apparatur, die aber in nichts anderem besteht, als darin, Bewegung, genauer: gewesene Bewegung, als gegenwärtig wiederzugeben. 15 Damit aber habe sich das fundamentale philosophische Problem von Bewegung selbst entscheidend verändert. Der Film lässt keine Trennung von Raum und Zeit zu. Visuelle Dichte führt Ibid., S. 230 ff., und J. Cage, Silence. Vorträge. Frankfurt/Main 62007. So die berühmte Formulierung von Nietzsche, Vorrede nach sechzehn Jahren zur ›Geburt der Tragödie‹ – ›Versuch einer Selbstkritik‹, KSA 1, S. 17. 15 G. Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino II. Frankfurt/Main 1990, S. 120 ff. 13 14

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vielmehr zu deren unmittelbarer Verbindung und Verknotung. Doch zwei Bildebenen treten damit auseinander, das Filmbild einerseits und das Tonbild andererseits. Sie können sich verstärken. Sie können aber auch verschiedene Narrationen bzw. dramatische Handlungen aus- und gegeneinander entwickeln. 16 3.) Wenn man Valérys Tanz-Dialog vor diesem Hintergrund wieder liest, wird man ihn als eine erstaunlich genaue und kongeniale platonische Konstellation erfassen, deren Witz darin besteht, eine ideehafte Präsentation des Fragilsten und Flüchtigsten, eben der Tanzbewegung, vorzustellen. Die Suche nach dem reinen, absoluten Denken, die die radikale Skepsis des ›Monsieur Teste‹ begleitet, kulminiert nicht im Cartesianismus, sondern in der denkenden Rede und Gegenrede mit mehreren Stimmen. Neben Sokrates treten in diesem Dialog Eryximachos auf, der umsichtige auf die Physis und ihre Wechselwirkung zur Seele bedachte Arzt, und Phaidros, im platonischen Dialogwerk der Liebhaber des Schönen und der Schrift, dem gegenüber Sokrates die Hinfälligkeit einer die Ideenerkenntnis voraussetzenden, wahren Redekunst exponierte. Es geht mithin nicht einfach darum, den Tanz zu feiern. Es geht um die Erkenntnis seines höchst ambivalenten Wesens, zweischneidig und damit im platonischen Sinn dämonisch, so wie das Wesen des Eros als dämonisch begriffen worden ist. In ähnlicher Besetzung lässt Valéry in seinem Dialog ›Eupalinos‹ über das Wesen der Baukunst nachsinnen. Sie scheint unter allen Künsten dem Tanz am weitesten entgegengesetzt zu sein. Der Dialog lässt aber gerade die enge Verwandtschaft zwischen dem Entgegengesetzten, der Architektur und der Musik, zutage treten: »Es gibt also zwei Künste, die den Menschen in den Menschen einschließen, oder vielmehr die das Wesen einschließen in sein Werk und die Seele einschließen in seine Handlungen und in die Ergebnisse seiner Handlungen […]. Durch zwei Künste umgibt er sich also auf verschiedene Arten mit Gesetzen und inneren Willensakten, die sich in dem einen oder anderen Stoff darstellen, im Stein oder in der Luft.« 17 Diese Affinität hatte auch Schelling in seiner Systematik

G. Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino I. Frankfurt/Main 1989; Kino II. Ebd. 1990. Die Originalausgaben erschienen Pairs 1983 bzw. 1985. 17 Valéry, Eupalinos oder der Architekt, in: ders, Werke Band 3, a. a. O., S. 35. 16

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der Künste bereits bemerkt. 18 Allerdings hatte er nicht auf die spezifische Affinität zum Eigenleib abgehoben. Der Leib ist, wie der ›Eupalinos‹ zeigt, ein unmittelbarer oder ein mittelbarer Zugang zur Materialität der Welt. Unmittelbar als Tanz, vermittelt in der Architektur. Die umbauten Räume bringen die Natur in den Blick und öffnen die Architektur wieder auf die materialen Elemente, aus denen ihre Bauten geformt sind: Steine, Holz, Metalle. Der Architekt verwandelt sie gemäß dem Plan seines Ingeniums. In ihrer Materialität flankieren und begrenzen sie menschliches Handeln. 19 Im performativen Geschehen des Tanzes und im Bau können Grenzen überschritten und Membranen so geöffnet werden, dass die Trennung zwischen dem Inneren und dem Äußeren hinfällig wird. Performative Kunst hat ihre Faszinationskraft darin, dass sie sich letztlich nicht einem Stoff, sondern dem Sein selbst einschreibt, dass Darstellung und Dargestelltes in einem Koinzidenzpunkt verschmelzen. Deshalb spricht vieles dafür, dass gerade sie einlösen könnte, was verschiedene Kunstphilosophien als Darstellung des Nicht-Darstellbaren oder als »Mimesis des Absoluten« umschrieben haben. Die transzendierenden Fäden der Formgebung verwandeln den Leib selbst: Stoff und Geist erreichen einen Punkt der Koinzidenz. In diesem Sinn sprach Jean Gebser von einer ›Integralen Kunst‹, die nicht nur alle Kunstarten, sondern auch die dokumentierten Zustände in sich versammeln und übersteigern könnte, in einer wirklichen Koinzidenz. Eine solche Kunst sei gekennzeichnet durch ›Diaphanie‹, sie sei mithin ganz und gar auto-telisch, ihr gehe es also um sich selbst, weil sie selbst Welt im Kleinen ist. Darin löst sich jede Divergenz zwischen l’art pour l’art und der Kunst im lebensweltlichen Gebrauch auf. 20 So werde sich Integrale Kunst in dreifacher Weise zugleich als Dienst (therapeia) am Einzelnen, als Transformation in der Gesellschaft und als evolutionäre Erhöhung der Menschengattung verstehen lassen. Man hat, auch im Blick auf die ostwestliche Verflechtung der performativen Kunst, von trans-mentalen Zuständen gesprochen, in die die Performanz führe. Dies bedeu-

Vgl. mit Einzelnachweisen vorliegendes Buch weiter oben Zweiter Teil, Neuntes Kapitel. 19 So Valérys Eupalinos, ibid., S. 55 ff., woraus aufschlussreiche Folgerungen für das Verhältnis von Bauen, Wohnen und Denken zu ziehen wären. 20 Vgl. insbes. J. Gebser, Ursprung und Gegenwart, Band 2, München 1988, S. 602 ff. 18

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tet aber keinesfalls, dass die mentale Artikuliertheit außer Kraft gesetzt würde. Sie erreicht einen Höhepunkt des Bewusstseins, der damit zugleich ins Außer- und Vorbewusste übergeht. So lässt sich der angezielte ideale und fließende Tanz auch auf der mentalen Ebene beschreiben: einerseits ist er darin inspirierte Kunst und andererseits subtile Selbstreflexion. Letztlich führt er über diese Bifurkation deutlich hinaus an einen Punkt, an dem der Geist sich selbst als vergeistigte Materie erscheint. Es ist unverkennbar, dass jene Debatten, die heute im Umkreis des ›Flux-Tanzes‹ geführt werden, auf den natürlichen Ausdruckstanz von Isadora Duncan oder Rudolf von Laban zurückzukommen versuchen; im Sinn von Duncans Evokationen der »Verbindung von Mensch und Natur, von Schönheit und Bewegung«, ja des Tanzes als einer »Bewegung des Weltalls« – und im Rückverweis auf den höchsten Augenblick, den Valérys Dialog erreicht: »Warum etwas vorspielen, meine Freunde, wenn man über die Bewegung verfügt und ihr Maß, die das Wirkliche im Wirklichen sind? Es möchte also sein, dass der Tanz durch die Feinheit seiner Züge, durch das Göttliche seines Schwunges und die glückliche Verteilung seiner Aufenthalte dieses universale Wesen hervorbringt«, weshalb niemand so wie die Tänzer imstande sei, »es durch schöne Handlungen sichtbar zu machen.« 21 Die Differenz zwischen Innerem und Äußerem, die der Ansatz des Ausdrucktanzes noch festhält, lässt die Stufe der Performanz hinter sich, die Athikte erreicht zu haben scheint. Es sei offengelassen, ob die Erwartungen des Selbstverleiblichung, der Welt-Inkarnation und zugleich -Übersteigerung, der Mimesis eines Absoluten real je in irgendeinem performativen Akt befriedigend erreicht werden können. Ebenso ist der in diesem Feld zur Anwendung gebrachte Begriff der ›Hypermoderne‹ oder ›Transmoderne‹ nicht unproblematisch, der die ungeahnten Richtungen performativer Kunst anzeigen soll. Er verweist freilich auf die Tendenz, den mit der Diffusität des Modernephänomens sich selbst verlierenden Epochenstilen eine Absage zu erteilen und sie damit nicht länger in wechselseitige Selbstüberbietungen zu treiben, die eine sterilisierende und ermattende Wirkung zeitigen. Die Hypermoderne zielt von hier her auf eine Selbsttransformation in performative Kunst im Sinn eines ›ewigen Heute‹, das sich gewinnt, 21

P. Valéry, Eupalinos, a. a. O., S. 24.

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indem es sich dem fragilsten und sterblichsten Medium anvertraut. Dass es mittlerweile Möglichkeiten technischer Simulation und Unterstützung des singulär Ephemeren gibt, die den Augenblick nicht nur festhalten, sondern ihn weltweit und kulturübergreifend sichtbar machen können, erweitert die Möglichkeiten vielfach. Kunst übersteigt sich auf Daseins-, Bewusstseins- und Lebensplastik hin. Die Leibplastik ist der eminenteste Ort dieser Annäherungen. Und damit wäre der Anfangspunkt wieder erreicht, die Genese der Künste aus dem Kultus. Isidora Duncan hat sich keineswegs zufällig in die Tiefendimensionen der antiken Mythen zurückverwandeln wollen. Der Nachvollzug des Kosmos selbst, die Aufnahme der tanzenden Gottheit, lässt idealtypisch aus der kultischen Choreographie einzelne Künste artikuliert hervortreten. In fast allen Religionen und Mythen wurden Götter als Tänzer vorgestellt. Shiva etwa, die Gottheit der Veränderung und des Wandels, wird im Welt-Tanz Nataraja gezeigt. Tanzende Verehrung des Göttlichen bleibt deshalb diesem nicht extern. Sie vollzieht die Verschmelzung. Tanz ist Epiklese, Beschwörung und Evokation der Nähe des Göttlichen. Auch in den entbildlichenden Monotheismus ging dies ein. So begegnet auch David, nackt vor der Bundeslade tanzend, und ebenso kennt die christliche Ikonographie auf Bildwerken von Marco Pina und noch prominenter im Isenheimer Altar von Matthias Grünewald die Figur des auferstandenen Christus, wie in einer alle Erdenschwere hinter sich lassenden sprungartigen Aufwärtsbewegung nach dem Licht, umgeben von einem Engelskonzert, das die Gravitation und mit ihr die Todesschwere überwindet. 22 Leibhaftige Auferstehung und zugleich Verklärung des Leibes sind in dieser Szene verbunden. Solche Beobachtungen haben Gerardus van de Leeuw in seiner Frage nach dem Heiligen in der Kunst dazu geführt, vom Tanz als der »Bewegung Gottes« zu sprechen. Die Indizien, zumal in der patristischen und altchristlichen Exegese und Theologie sind überwältigend dicht. Hugo Rahner hat dies noch vertieft auf die Bestimmung des Tanzes als ›Reines Spiel‹, das gleichsam einen uranfänglichen und einen eschatologisch endzeitlichen Aspekt habe. 23 »Was der Mensch am UrHier beziehe ich mich stark auf: A. Mascha, Zur christlichen Theologie des Tanzes. München 2011; und auf H. Rahner, Der spielende Mensch. Freiburg/Br. 2008. 23 So Rahner, ibid. 22

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beginn verloren hat, soll er wiedergewinnen, die begnadete Harmonie von Seele und Leib. Und mit keinem anderen Bild kann er darum am schönsten sprechen von dem Glück dieses endlosen Lebens als mit dem Bild vom himmlischen Tanzspiel.« 24 Solche TranszendenzBewegung wird zugleich zur Einfleischung, wenn der Vollzug der Performanz ganz gelingt. Dies könnte, was Adorno nur ex negativo dachte, die Welt »vom Standpunkt der Erlösung« her erscheinen lassen. Vielleicht in vollkommenster und verdichtetster Weise und so, dass kein Verdacht eines Verschwebens oder Vernebelns ins Esoterische aufkommen kann, hat dies ein weiterer großer Tanz-Dichter der Moderne, nämlich T. S. Eliot benannt: »Am ruhenden Punkt / der kreisenden Welt / ist der Tanz, / wäre der Punkt nicht, / der ruhende, / so wäre der Tanz nicht – / und es gibt nichts als den Tanz«. 25 Hier scheint die Verschmelzung des ausdehnungslosen Minimums mit dem Nunc stans des Absoluten, wie sie in der Mystik von Meister Eckhart und in Angelus Silesius’ Evokation des ›Stupf‹, des Augenblickspunktes, manifest ist, aufs Prägnanteste zusammengeführt. Im Tanz kann auf einer Linie von Nietzsche bis Beuys Kunst als verflüssigendes Ereignis und die Verflüssigung wiederum als bleibendes, ja ewiges Bild aufgefasst werden, das sowohl das nur momenthaften Ereignis als auch den Werkbegriff überwindet. Dabei ist zuzugestehen, dass die Dualismen europäischer Zivilisation, der Subjekt-Objekt-Dualismus vor allem anderen, eine ontologische Distanzierung nahelegen, die das Gelingen des Ereignisses begrenzen mag. Sie ist aber keineswegs unhintergehbar, wie ein Blick in jüdische, christliche oder islamische Mystik zeigt. Yogische Lebensform weiß um die fließenden, als solche aber in verfeinerter Perzeption sichtbar zu machenden Stufungen zwischen Materie und Geist. Sie weiß auch, dass die Einfleischung und Durchheiterung bzw. Durchlichtung des Leibes unmittelbar auf den Betrachtenden hin wirksam sein kann. Die Zuschauer bleiben, auch wenn sie nicht in die Tanzbewegung eintreten, dem Geschehen keineswegs extern. Der Flow Dance erreicht auch darin wieder die Macht des Kultus, Ibid., S. 60. Vgl. auch die Bemerkungen von G. van der Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst. Gütersloh 1957, S. 70 ff. Der Tanz ist in diesem Sinn auch verkörpertes, leibhaftig gewordenes Gebet. 25 Hierzu sehr konzise die genannten Aufsätze von A. Mascha, wobei die Verbindung von Tanz und Integralem Yoga in der Folge Sri Aurobindos besonders zur Signatur des Ansatzes beiträgt. 24

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dass er die Grenzen zwischen Aktion und Betrachtendem selbst verflüssigt. Dies reflektiert der indische Kunstbegriff des ›natya-sastra‹, der auf die Selbstentfaltung der ›Rasa‹ verweist, eines SanskritGrundwortes mit vielfacher Bedeutung: von ›Saft‹ bis zur Steigerung auf den höchsten Intensitätsgrad des ›raso vai sah‹ : des ›absoluten Brahman‹. Der ›rasa‹ des Ursprungs, unter anderem auch des Künstlers, kann idealiter als ›rasavadana‹, als Genuss des rasa im Wahrnehmenden wachgerufen werden. Dieser gerät dann in den Sog einer Teilhabe, die vielleicht nur mit einer realen Kommunion verglichen werden kann. Das Leibereignis des Tanzes wird unmittelbar erlebbar. Es kann gefühlt und geschmeckt werden. Dies ist eine virtuelle Kraftübertragung, in der sich auch manifestiert, dass der eigene Leib das schönste und glaubhafteste Zeichen (yantra) ist. Dabei ist angesichts der Negativitäten der ästhetischen Moderne die Erwartung eines solchen Sprunges in ein offenes Nichts faszinierend, wenn sie nicht mit falschen Suggestionen operiert. Sie wird, um gelingen zu können, westliche und östliche Perspektiven verbinden müssen. Zugleich aber setzt sie sich mit kühner Volte über den Vorbehalt hinweg, mit dem Adorno den Blick vom Standpunkt der Erlösung nur als eine verhaltene, negatorische Erwartung, nicht als Evidenz thematisiert sehen wollte. 26 In dieser erneuten Unmittelbarkeit ist es wie in der Umdeutung des Wunsches bei Gilles Deleuze und Félix Guattari: Sollen doch in ihrem Sinn Begierde und Wunsch nicht länger vom Mangel und Widerspruch bestimmt sein, so wie dies in der Folge von Hegel und Marx und der Psychoanalyse Lacans der Fall war. Vielmehr sei der Wunsch eine alles durchdringende Neigung, eine Grenzmarkierungen überwindende Macht, die die Grenzen des Realen übergreift und in der sich das Subjekt vervielfachen kann. 27 Deleuzes »Wunschmaschinen« richteten vor diesem Hintergrund ein Erlösungs- und Verschwendungstheater ein, das sich der Reduktion des ›Realen‹ und seinen Pressionen entzieht. 4.) Die emphatischen Evokationen sind indes insofern zu dämpfen, als die performative Kunst selbst nur ein Ausschnitt des KunstkosTheodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main 1970, S. 10 ff., S. 450 f. Dazu: Deleuze und F. Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie Band I. Frankfurt/Main 1974 (Original 1972).

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mos sein kann. Ob die späte Moderne in eine Hypermoderne transzendiert, ist also keineswegs mit Gewissheit zu sagen. Jean Gebser sprach vom »eteologemischen Anspruch« integraler Kunst. Eteologeme sind, was Schelling wohl eine ›Tautegorie‹ genannt hätte, »Aussagen, durch die das Wahre ›gewahrt‹ wird«. Sie verleiblichen unmittelbar transzendente Zustände, ohne den Abstand zwischen dem Entzogenen und seiner Präsenz in Intervallen vermessen zu müssen. Jene Formen des Performativen, die hier besonders in Rede stehen, sind gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie aus dem Augenblick hervorgehen, dass nicht – oder allenfalls in der Intuition – intertextuelle Bezüge für sie bestimmend sind. Vielmehr geht es um den unmittelbaren Ausgriff der tanzenden Kontemplation auf AllEinheit. Damit gewinnt eine Form von Kontemplation Gestalt, die nicht wie jene des Mystikers oder des Philosophen in völliger Stille und Bewegungslosigkeit, sondern im Eintreten in den Fluxus des Werdens, im Ausfließen in das Licht der Gottheit, in der unbewegten Bewegung des »Holomovement« (David Bohm) ihren Gipfelpunkt erreicht. Noch einmal kann Valérys ›Athikte‹ zeigen, was hier geschieht. Valéry hat nicht ohne Grund den Zauber, der von der vollkommenen Tänzerin ausgeht, dem wie erstarrten in seine Denkwelten versunkenen Philosophen Sokrates entgegengesetzt. Tot nimmt sich der Philosoph ihr gegenüber aus, erstarrt und zurückgesunken in eine lastende Leiblichkeit. Sie, die Unbewusste, ist Figuration einer unendlichen Lebendigkeit. Doch er kann ihre weltüberwindende Schönheit in sich aufnehmen. So kommt es zu einer tiefen ästhetischen Korrespondenz: »Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.« Die Brüche und Synthesisversuche der Wortkunst, die Ewigkeitssignaturen des Bildes, nicht zuletzt die verzaubernde Macht der Tonalität lassen sich nicht einfach ignorieren. Sie können sich mit der neuen Einfachheit und Elementarität der Hyperkunst verbinden – freilich, wie mir scheint, fruchtbar nicht in einer Differenzaufhebung, sondern indem die Differenz zum »jederzeit möglichen« Einheitsparadigma der Hypermoderne in Gestalt und Reflexion eintritt. Man muss sich dabei inne sein, dass der Tanz in seiner reinen Performativität wie ein Ablegen verschiedener Habitus anderer Künste zu denken ist; ein Weg in die Wüste und ein Leer-werden. Der Glutkern jener Künste, der Dichtung, der Musik, der darstellenden Kunst soll freilich im inkarnierenden Selbstvollzug der Bewe473 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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gung bewahrt bleiben. Die Wüste enthält das reichhaltige Lebensspiel in nuce in sich. Doch, wie es in der Sprache der Mystik heißen würde, nicht in ›explicatio‹, sondern in ›implicatio‹. Verbildlichung wird in die reine Zeichenhaftigkeit des Leibes verdichtet. Damit wird freilich zugleich das Gefälle zwischen Urbild und Abbild hinfällig. Worte folgen nicht sequential aufeinander. Auch sie werden in die Semiotik des Leibes zurückgeführt, und in einer äußersten Konzentration und Reinheit bedarf der Tanz auch nicht mehr begleitender Musik. Er kann sie in sich zurückverlegen und verdichtet aus sich hervortreiben. Damit kondensiert der Tanz zu einer Art verstummter Musik. Die Kenose auf die Eigenleiblichkeit, die sich zudem welthaft öffnet, bedeutet das Risiko des ›reinen Bezugs‹, einen Ausgang in größtmögliche Schutzlosigkeit. Dort, wo Kunst unmittelbar Leben und zugleich unmittelbare Transzendenzbewegung sein kann, könnte ein eminenter Ort der Heilung von Schmerz und Entzweiung liegen. Die geschichtsphilosophische Möglichkeit, dass dies eintrete und das Humanum auf eine neue Stufe führe, ist nicht von der Hand zu weisen; auch wenn sie nach so vielen ideologisch ins Totalitäre und in bösen Kitsch abgeglittenen Fehlversuchen einer Hermeneutik des Verdachts zumindest ebenso bedarf wie einer Hermeneutik des Vertrauens. Die Crux performativer »Eteologeme« ist, dass sie einzig in ihrem Vollzug bewahrheitet sind. Und die Macht jenes Performativen, das der Tanz darstellt, liegt darin, dass er sich aller Künste, aller Mimesis transmental, in einem zugleich verwindenden Gedächtnis inne sein und über sie hinaus gelangen kann. Performative Kunst ist insofern auch ein Instrument des Anfangs-Gedächtnisses, der Kult-Vergegenwärtigung in der Kunst, die aus dem Gewesenen zugleich die Eröffnung des Novum gewinnen lassen kann. Dies macht ihre Faszination und zugleich ihre Zeitpräsenz im ästhetischen Problemraum der Moderne aus.

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Das Resümee muss fragmentarisch bleiben. Drei Aspekte aber sollen darin zur Sprache kommen: das Verhältnis von Kunst und Religion (I); die interkulturelle Dimension der Ästhetik (II) und schließlich die Frage nach der Phänomenalität der Kunst (III).

I.

Kunst und Religion

Es ist ein instruktiver religionswissenschaftlicher Schlüssel, Religionen und Konfessionen nicht nur an den Lehrgehalten, sondern zumindest ebenso an der konkreten Gestalt-Gebung namhaft zu machen und zu bezeichnen. Eine Kunstform, die aufs Engste der Religion zugeordnet war, der Tanz, zeigte zuletzt den engen Zusammenhang des Menschen mit dem Kosmos an. »Wer nicht tanzt, weiß nicht, was geschehen wird«, so der antike Dichter Lukian. 1 Weltliche Minne und transzendente Gottesliebe vereinigt der vor der Bundeslade nackt tanzende König David. Die Skala der kosmisch theologischen Tanzkunst verläuft bis zu den Totentänzen des Mittelalters. Tanz ist darin Entfesselung der Seele als Urkunst, deren Medium der eigene Leib ist. Gerade die performative Tanzkunst grenzt direkt an den Kultus, indem der Gott sich in Bewegung setzt, setzt er auch uns in Bewegung. 2 Dante evozierte dies so: »Die Liebe, die kreisen macht die Sonne wie die Sterne.« Auch dramatische Kunst ist letztlich kultischen Ursprungs. Sie Dabei kommt der performativen Dimension eine besondere Bedeutung zu. Vgl. dazu die schöne Monographie von E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main 2004, siehe auch: A. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache. München 2009. 2 Dabei geht es immer auch um den Zusammenhang von Mythos und Kunst. Vgl. G. Picht, Kunst und Mythos. Stuttgart 1986. 1

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geht aus »Heiligen Spielen« und Gottesspielen hervor. In diesem Sinn formulierte Romano Guardini, bezogen auf die Transformation des Dramas in Liturgie: »Vor Gott ein Spiel treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie.« In der Spur des Mythos bewegt sich insbesondere die Liturgie, weshalb Schleiermacher mit tiefem Recht sagen konnte, sie könnte keinen größeren Fehler begehen, als unbedingt modern sein zu wollen. 3 Dieser Impetus führt auf eine Theo-Anthropodramatik zurück, die, wie uns neuere Religionswissenschaft belehrt, am Anfang von Religion und Kultus gewesen ist. »Der Sinn der Liturgie ist der, dass die Seele vor Gott sei, sich vor ihm ausströme, dass sie in seinem Leben, in der heiligen Welt göttlicher Wirklichkeiten lebe.« Mimen in der Antike bringen Götter auf die Bühne. Darin zeigt sich ein Konflikt zum Christentum, der in bestimmten Denominationen, namentlich bei Pietisten oder Puritanern, zu einer gänzlichen Verdammung des Theaters und des Tanzes führte. Kultische Kunst ist Lebenserweitung und zugleich Vertiefung. Und, wie wir es heute im Zeichen der Psychoanalyse deuten, eine Offenlegung des Inneren der Seele, eine Wiederholung des Urtexts des Mysteriums als Übung und Katharsis. Man sollte nicht vergessen, dass es nur wenige wirklich mythische Stoffe gibt. Sie aber sind immer wieder neu kombinierbar und konstellieren sich zu Bewegung und Gegenbewegung. Diastole und Systole – Öffnung, Weitung einerseits, Verdichtung, Verengung andererseits – beschreiben nach Goethes real angeschauter Idee ein Grundgesetz der Welt. Dichtung hat daher insgesamt einen kultischen Grundzug, insofern sie aus dem als heilig begriffenen Wort hervorgeht, das nicht nur ›etwas‹ bezeichnet, sondern realiter darstellt. In ihren Evokationen zeichnen sich, auch als die westliche Säkularisierung schon voll im Gange ist, Spuren dieser Herkunft ab: die Beschwörung der göttlichen Übermacht und die Selbstartikulation vor einem letzten Horizont, aber auch die Aussage der eigenen

Wichtige Anregungen für diese Überlegungen zur Liturgie als Kunstform verdanke ich Hans Maier, Die Kirchen und die Künste. Guardini-Lectures. Regensburg 2008; vgl. im Hintergrund auch G. Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München, Wien 1990; siehe auch G. van de Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst. Gütersloh 1957.

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Kunst und Religion

Abgründe. Dies hat eine gleichsam »psychodelische« Bedeutung, in dem Sinn, dass das Innerste der Seele aufgedeckt wird. Goethe: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.« Kunst-Religion bindet, wie es die hymnische Dichtung von Stefan George noch einmal zeigt, Sein an die Nennkraft: »So lernt ich schweigend den verzicht / kein ding sei, wo das wort gebricht.« Die Konstellation von Dichter und Prophet und der Anspruch der Inspiration durchziehen auch die Moderne. Die Nennkraft des Wortes erinnert an die Vis creativa des Schöpferwortes selbst. Dies heißt zugleich, dass der Dichter die ›Grammatik der Schöpfung‹ (George Steiner) in Erwartung, Antizipation und Hoffnung evozieren kann. Dennoch bleibt zwischen bildender Kunst und Religion gerade in den monotheistischen Religionen, in Judentum und Christentum, eine unaufhebbare Differenz: Man sehnt sich nach dem Urbild, der »vera eicona« Gottes, und zugleich muss man sich eingestehen, dass der Mensch gewordene Gott sich der Verbildlichung entzieht. Dies wird gerade dort manifest, wo es um das Bild Gottes geht. Dennoch ist die Kernfrage christlicher Kunst die Frage nach der Legitimität der Bilder. Bildende Kunst kreist im christlichen Glauben beständig um das Geheimnis der Ikone. Die Ausdruckssubjektivität des Künstlers wird im hingebenden »Schreiben« gleichsam ausgelöscht. Es geht darum, das Urbild zu suchen, was zugleich bedeutet, dass die Ikonentheologie keineswegs einem Doketismus, dem nur scheinbaren Menschwerden Gottes, folgt und ebenso wenig einen paganen Gott-Menschen bezeichnet, der vollständig in endlichen Konturen abzubilden wäre. Der Mensch gewordene Gott bezeichnet gegenüber dem Gottmenschen-Typus ein gänzliches Novum. 4 Deshalb wirft er erst die Frage nach Darstellung und Darstellbarkeit in der Intensität auf, in der sie sich stellt: »Die göttliche Natur sei nicht darstellbar, die menschliche nicht darstellungswürdig« – so verläuft die Para-

Diese Revolution ist selbst von christlichen Denkern nur selten wahrgenommen worden. Dabei ist sie von großer Bedeutung für die Struktur christlichen Glaubens und seiner kultischen Form. Vgl. dazu J. Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das apostolische Glaubensbekenntnis. München 1968. Siehe im Blick auf die Leiturgia auch: P. Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, in: Leiturgia. Handbuch der evangelischen Gottesdienste. Kassel 1954, S. 83–365.

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doxie. 5 Und immer wieder werden im Christentum Künste, gerade die der Verbildlichung, als Moment der Vielgötterei abqualifiziert. Eine Klärung und Schlichtung des Streites wird dadurch möglich, dass in der Ikonenkunst die Ehrenbezeigung (timetike proskynesis) von wahrer Anbetung (alethine latreia) unterschieden wird. Sie gebührt nur Gott, nicht dem Bild. Dieses aber ist als nächstes Abbild des Urbildes verehrungswürdig. Die ›Libri Carolini‹ schnitten der Westkirche den Weg zur Ikone ab. Sie setzten allein auf das Wort. Aber bietet nicht gerade die Menschwerdung Gottes, die Fleischwerdung des Logos eine Selbstunterscheidung von paganer Bildkunst? Dies war immer das Grundargument der Ikonodoulen. So legt Johannes Damascenus 730 in einer Schrift nahe: »Wer kann sich von dem unsichtbaren, unkörperlichen, nicht umschreibbaren und gestaltlosen Gott ein Abbild machen? […] Daher war im Alten Testament der Gebrauch der Bilder unüblich. Es ist aber Gott unseres Heiles wegen wahrhaftig Mensch geworden und hat auf Erden gelebt. So erinnern wir uns beim Anblick des Bildes der Kreuzigung, des heilbringenden Leidens und fallen nieder und beten an, aber nicht die Materie des Bildes, sondern den Dargestellten.« 6 Nervus probandi ist, auch wenn dies zugleich an die Grenze von Bildlichkeit führt, das Bild des Gekreuzigten, der ohne alles Ansehen und alle Gestalt ist. Ein altes Gebet sagt: »Wenn ich Christum höre, so entwirft sich in meinem Herzen eines Mannes Bild, das am Kreuz hängt […] Wenn es nun nicht Sünde, sondern gut ist, dass ich Christi Bild im Herzen trage, warum sollte es Sünde sein, wenn ich es in den Augen habe.« Diese Darstellung letztlicher Undarstellbarkeit geht auch in das Bild des Auferstandenen ein. Trägt er doch die Wundmale als Kennzeichen seiner Identität, der Verleiblichung und des Geschichtlich-Werdens des Mensch gewordenen Gottes, und soll er sie doch in einen Zustand der Herrlichkeit und Unschuld transformieren. Der fast ein Jahrtausend währende byzantinische Streit zwischen Ikonoklasten und Ikonodoulen weist auf diese ungeschlichtete

Dazu wieder sehr prägnant Maier, a. a. O. Dass die kenotische Religion gerade keine Kunst-Religion sein kann, ist deutlich. Das Symbol weist von der Verbildlichung weg – in die Leerstelle des Nicht-Darstellbaren. 6 Vgl. dazu wiederum H. Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München 2005. 5

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Kunst und Religion

Differenz hin. In ihr manifestiert sich auch, dass das Christentum einerseits in großer Nähe zum Bilderverbot von Islam und Judentum steht, andererseits im Widerstreit mit der noch lebendigen polytheistischen und bilderreichen heidnischen Umwelt befangen bleibt. Das Christentum muss daher die Spannung zwischen Verbildlichung und Bildlosigkeit aushalten und austragen, die in anderen monotheistischen Weltreligionen eindeutig zugunsten der Bildlosigkeit entschieden ist. Daher manifestiert sich in der östlichen Kirche ein Schwanken zwischen den Extremen, dem Entweder-Oder, während in den westlichen Kirchen Bilder aufgrund ihrer Zeigefunktion eine seit Karl dem Großen definierte, begrenzte, aber unleugbare Rolle spielen. Die Armenbibeln eröffnen das Evangelium auch für die Illiteraten. Doch eine Surrealität, ja Ästhetik des Grauens, wie bei Matthias Grünewald und Hieronymus Bosch als Widerlager der Renaissance-Malerei im Süden, zeigt die Inkommensurabilität des christlichen Gottes mit der menschlichen Form. Hier hat Hegel unstrittig etwas sehr Richtiges gesehen. Diese Zurückhaltung wird nicht ohne weiteres in den Bereich der Musik übertragen. Mit Hans Maier kann man von einem »Quantensprung« in der Musikentwicklung des Christentums zur Mehrstimmigkeit und zum instrumentalen Musizieren sprechen, die relativ früh einsetzt: mit den Erweiterungen des römischen Chorals, der Quart- und Quintenparallele. Differenzierungen, die um das Jahr 1100 begannen und sich in der rhythmischen Verselbständigung der Stimmführungen fortsetzen. Psalter und Harfen kehren durch die Pfeifenorgel in das Christentum zurück. Damit konnte man an alttestamentarisch dokumentierte Kunstformen wieder anknüpfen. Doch erst im 15. und 16. Jahrhundert in Burgund, Frankreich und Flandern zeigt sich eine Autonomisierung, die sich von der Liturgie ablöst. Dies bleibt ein Grundzug der Musikentwicklung Europas. Große Werke wie Bachs H-Moll Messe oder Mozarts Requiem sind zuerst liturgisch eingebettet. Doch sie sprengen früh den Rahmen. Bis in die musikalische Moderne hinein zeigt sich, dass diese Kunstform ohne kultisch-sakramentalen Horizont unverständlich bleiben müsste. Die Frage, was aus der Musik wird, wenn sie ihre kultische Grundierung ganz und gar verliert, hat Thomas Mann in seinem ›Doktor Faustus‹ aufgeworfen und einen Umschlag ins Diabolische inszeniert. Hans Urs von Balthasar hat in seinem späten Opus magnum 479 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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›Herrlichkeit‹ eine ›ästhetische Theologie‹ entworfen: zentriert auf jenen Inbegriff von Schönheit und Erhabenheit zumal, dem Zur-Gestalt-Kommen des alle Gestalten überbietenden Gottes, das sich im griechischen Begriff der ›doxa‹ und dem hebräischen Äquivalent ›kabod‹ spiegelt und das immer auf das Erscheinen Gottes in der Welt konzentriert ist. Von hier her betrachtet Balthasar keineswegs nur Kunstwerke, sondern auch Lebensstile als Erscheinungen des gottgemäßen Lebens in der kosmischen Dimension Gottes. Lebensformen, seien sie klerikal, monastisch oder laikal, gehören selbst in die theologische Ästhetik zur höheren Ehre Gottes. »Vidimus gloriam eius«. Bedenkenswert bleibt die Aussage des großen Historikers Jacob Burckhardt: »Ja die Kunst ist eine wundersam zudringliche Verbündete der Religion und lässt sich unter den befremdlichsten Umständen nicht aus dem Tempel weisen […] Aber die Religionen irren sich sehr, wenn sie glauben, dass die Kunst bei ihnen einfach nach dem Brot gehe.« 7 Hier stellt sich die Frage eines Ursprungs, der im Sinne der Autonomie-Erklärung der Künste in der Neuzeit zwar verlassen werden musste, der aber zu den Ermöglichungsbedingungen von Kunst gehört. Die Frage nach dem Verhältnis des Schönen zur Religion reicht freilich ungleich weiter. Man könnte sogar sagen, dass das Problem der Darstellbarkeit Gottes eine monotheistische Verengung ist. Im Schönen selbst begegnet vielmehr – und dies nicht in einer Abschattung oder Verzerrung, sondern als Abdruck des Urbilds im Abbild – in irdischer Manifestierung und in fixierbarer Topik (Verortung) die Präsenz des Göttlichen, sei sie nun personal oder über-personal verstanden. So haben es Herder und der frühe Schelling gesehen; wobei sie die Theophanie der Griechen als Idealbild vor Augen hatten. Kunst wäre so besehen von ihrem Grund her immer Kunstreligion. Die Faszinations- und Attraktionskraft, die ihr bis zu Benjamin oder bis in Adornos ›Ästhetische Theorie‹ zukommt, rührt von dieser aufklingenden oder erdichteten Erlösung her, deren Überzeugungskraft weiter reicht als Religion und Confessio selbst. Die MatthäusPassion erschließt sich auch einem Bewusstsein, das an die Erlösung nicht mehr glauben mag. Dichterische Evokation bewahrt, wie George Steiner oder Charles Taylor gezeigt haben, den Blick auf die 7

Zit. nach H. Maier, a. a. O., S. 9.

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Interkulturelle Dimensionen

Welt aus Gottes Ursprung. Die Säkularisierung wird in der beschwörenden Naturdichtung der metaphysischen Poeten Englands oder in Klopstocks Hymnen konterkariert. Dem eminenten Kunstwerk kann eine Signatur des nicht sterbenden, nicht verwelkenden Vollkommenen anhaften. Darin kann, wie George Steiner zu Recht namhaft machte, die »Grammatik der Schöpfung« aufschimmern. Dies ist die Schöpfungsdimension. Die Konsonanz des göttlichen Schönen kann zugleich in ihrer überweltlichen Kraft Anschauung von einem Erlösungszustand geben, den realiter noch niemand erreicht hat. Damit weist die Kunst in eine eschatologische Dimension voraus. Man wird den Begriff der Kunstreligion also nicht ohne weiteres im Sinn Hegels mit dem Datum der christlichen Offenbarung von der Menschwerdung Gottes überholt sehen. Er bleibt gleichsam als ›problematischer‹ Begriff fruchtbar, auch wenn sich seine assertorischen Dimensionen verlieren mögen. Denn er zeigt, dass bei aller Virtuosität und Eigengesetzlichkeit der Gestaltung Kunst an einen diaphanen und theophanen Ausgangspunkt rührt.

II.

Interkulturelle Dimensionen

Interkulturalität der Philosophie 8 ist unabdingbarer Teil einer philosophischen Welterfahrung und Weltbeschreibung, die angesichts der Tatsache, dass diese Welt global geworden ist, in zunehmendem Maß einleuchtet. In der Differenz zwischen Einzelwelten, die sich, je tiefer man in sie eindringt, umso mehr auch aufeinander hin öffnen, wird mit der eigenen Kultur auch das Tiefenverständnis anderer Kulturen transparent. Insofern lässt sich eine ›hermeneutische‹, auf Wiedererkennen und Überlappungen bezogene Dimension der Kulturerfahrung ebenso erkennen wie eine andere, bei der sich erst hermetisch die Verbindungen eröffnen. Zu den ästhetischen Wechselverhältnissen und Tiefendimensionen können hier nur einige wenige Linien skizziert werden. Bereits die Sprache ist dabei aufschlussreich. Im ChinesiSie hat durch das Buch von Georg Stenger, Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie. Freiburg/Br., München 2006 ein neues Fundament gewonnen.

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schen ist das Grundwort für das Feld des Ästhetischen nicht »Schönheit«, sondern »Harmonie«; »he«. Im Japanischen überwiegt die Betonung des Natürlich-Spontanen, das den Begriff »ziran« bestimmt, der dem Deutschen »schön« entspricht. Zugleich liegt im japanischen Sprachgebrauch der Akzent gerade auf dem Transitorischen der Kunst. Ordnung in der Welt wird in solcher Augenblicksschönheit evident. Musik ist deshalb in beiden östlichen Kulturen grundlegend für die Kunst. In ihr stellt sich Harmonie ein. Deshalb wird hervorgehoben, dass sie mit der Regierungskunst eng verwandt sei. Dies ist im Blick auf die Palintropos harmonia bei Heraklit und den Zusammenhang von Tragödie und Polis bei den frühen Griechen einem europäischen Verständnis keineswegs fremd. Kalligraphie und Malerei geben die Umrisse des Schönen an. Sie deuten an. In der Leere, die Epiphanie erscheinen lässt, liegt die eigentliche Faszination. Auch der Rezipient ist dabei im Blick. »Santra-rasa« beschreibt eine vollkommene Ruhe des Geistes, die sich angesichts von Schönheit einstellen soll. Sie kann inmitten der Unbeständigkeit der Weltverläufe sich einstellen. Dann ergeben sich Resonanzen, das Hinund Herschwingen im Hier und Jetzt. Das Schöne gibt im alten japanischen Verständnis nicht nur dem Wandel der Welt Ausdruck. Es verweist auf den unsichtbaren Anfang. Es ist nur »wen«, Spur und Markierung der Urgestalt. Wenn man dieses Muster erkennt, so variiert alle Kunst das Ziel, die Zeichen des Kosmos lesen zu können: ein Gedanke, der in der Mimesis-Auffassung seit dem Neuplatonismus vielfache Resonanzen finden kann. Doch auch hier bleiben die japanischen Denker bei der Andeutung. Es kann nur eine Richtung auf den Anfang skizziert werden. Resonanz ist deshalb in dieser Ästhetik der Harmonie so wichtig, weil Wirklichkeit immer als Konstellierung von Relationen und Paaren verstanden wird. Die paarweise Dualität eröffnet einen Möglichkeitsraum, der seinerseits wieder alle Möglichkeiten in sich trägt. Auch das Tao meint eine paarweise Gefügtheit von Welt. Ungeachtet dieses weisheitlichen und religiösen Zusammenhangs lässt sich in den fernöstlichen Kulturen sehr früh die Ablösung der Kunst von Ritus und Religion konstatieren. 9 Vgl. dazu mein Buch Interkulturelle Phänomenologie bei Heinrich Rombach. Nordhausen 2006.

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Unbeantwortete Fragen: Kunst als Erscheinung

Heinrich Rombach sprach, all diese Erfahrungen zusammennehmend, mit guten Gründen, auch im Blick auf die japanische Kunst, von der Nichts-Erfahrung des östlichen Weges. Darin bekundet sich auch, dass Seiendes nur scheinbar es selbst ist und deshalb auf das Nichts, die Un-Unendlichkeit – in einer zweifachen Negation – verweist. Un-Unendlichkeit ist aber, anders als der europäische Begriff der »negatio negationis« nahelegen könnte, nicht schon Affirmation. Und die unendliche Dimensionierung wird keineswegs als ein »schlechtes Unendliches« denunziert. Gezeigt wird die Spur dessen, das weder endlich noch nicht-endlich ist. Rombach geht in seiner Tiefenphilosophie so weit, zu sagen, Substanz sei der europäische Weg, Struktur der östlich-japanische. 10

III. Unbeantwortete Fragen: Kunst als Erscheinung 1.) Zum Abschluss dieser Überlegungen soll noch einmal das metaphysische Urphänomen des Schönen als Grunddimension der Ästhetik in den Blick gebracht werden. Diese metaphysische Dimension zeigt sich darin, dass das Kunstwerk in seiner sinnlichen Präsenz zugleich auf die nicht-sinnliche Sphäre diaphan wird. Akzentuiert wird dabei sowohl eine Richtung auf Transzendenz, die über die Naturverfasstheit hinausführt, wie die physische Materialisierung. Schönheit, das ›ekphanestaton‹, in dem im Sinn der Platoniker die Logoshaftigkeit des Seienden zur Sichtbarkeit kommt, verdeutlicht die Steigerung der Formen und Gegensätze. Das Erscheinen »phainesthai« steht dabei immer auch im Schatten des Schrecklichen. »Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang«, hat Rilke gedichtet. Nietzsche verdeutlicht umgekehrt, dass das Schöne der Erfahrung des Schrecklichen bedarf, um entstehen zu können. Der Stachel des Schmerzes ist der Schönheit immanent. Erhabenheit ist daher als Unterseite der Schönheit ihr Gegenphänomen. Das Erhabene verweist als Übergangs- und DifferenzRombach, Drachenkämpfe. Freiburg/Br. 1996. Rombach führt die hier nur anzuzeigenden Linien dort weiter aus. Allerdings bedürfte es wohl auch vertiefter und kritischer Auseinandersetzung mit den Grenzen der Übersetzbarkeit. Auch im Feld der Ästhetik ist eine weitere Vertiefung und methodische Differenzierung interkultureller Philosophie zu erwarten. Deren Zugang dürfte zu einem Schlüssel der Philosophie werden.

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kategorie auf die Grenze zur Gestaltlosigkeit. Sie transzendiert die schöne, klassische Form. Mithin lässt sich in der Grundkategorie des Erhabenen der der Darstellung sich entziehende Grund oder Abgrund des Schönen erkennen. Totalität – Notwendigkeit – Perfectio: Solche Kategorien, die in der vormodernen Geschichte der Ästhetik allenthalben begegnen, sind in der Moderne gebrochen, aber keineswegs außer Kraft gesetzt. Nietzsche verwies mit seiner Kunst des Endens darauf, dass es die gute und vollkommene Gestalt gibt, die sich dann zeigt, wenn die Fermata gerade zur richtigen Zeit gesetzt ist. Andere haben die Vollkommenheit als die nicht endende Neuheit und Unvernutzbarkeit von Kunst, ihre rein geistige Kreativitätskraft in allem Missbrauch, aller »Usura« (Ezra Pound) begriffen. Kunst ist deshalb unabgegolten. Sie ist im Letzten unübersetzbar in kommunikative Sprache. Sie gründet in ihrem Material, und sie verwandelt dabei dieses Material durch und durch. Diese Beobachtung ist gewiss trivial und damit ist sie grundlegend. Man könnte den Versuch durchexerzieren, auf dem Weg von der Symphonie zum physikalischen Diagramm der Tonschwingungen diese Verwandlungen zu beschreiben. Oder man spürt der Unübersetzbarkeit von Gedichten nach, wie z. B. Mörikes ›Septembermorgen‹ : »Im Nebel ruhet noch die Welt, / noch träumen Wald und Wiesen: / Bald siehst Du, wenn der Schleier fällt, / den blauen Himmel unverstellt, / herbstkräftig die gedämpfte Welt / in warmem Golde fließen.« Nichts, aber auch nichts von diesem Gedicht ist bewahrt, wenn es in die Form eines Wetterberichts gebracht wird: »Zunächst noch verbreiteter Morgennebel, besonders in den flachen Niederungen. Später aufklarend und sonnig, Fernsicht, warme Herbsttemperaturen.« Strukturell entscheidend ist es, dass Kunstwerke Balanceakte zwischen Einheit und Vielheit, Harmonie und Disharmonie sind. Sie bewegen sich gleichsam auf dem schmalen Grat des ›Hen diaphoron heauto‹. Ein Werk bedarf der Integrationskraft, zugleich des Wechsels der Töne. Hier ist es von Bedeutung, zu erkennen, dass in der Moderne Schönheit zunehmend als vorübergehend, transitorisch, sich in jähen Evidenzen einstellend gefasst wird, wohingegen sie traditionell eher auf ein stabiles und ausgewogenes Perfectio-Ideal zielt. Schönheit transzendiert auch darin die Welt, dass sich ihre 484 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Unbeantwortete Fragen: Kunst als Erscheinung

Vollkommenheit in Aspekten und Momenten zeigt. Der Schein des Schönen wird dabei mit thematisch. Die Suche nach dem Über-Subjektiven, dem Grund der Subjektivität, zeigt sich in unterschiedlichen Variierungen der Stimmung von der strahlenden Souveränität bis in die tiefe Verzweiflung. Die Subjektivität ist aber kein unüberbietbarer Gesichtspunkt »Es sind noch Lieder zu singen, jenseits der Menschen«, heißt es in einem Gedicht von Paul Celan. Doch schon im 19. Jahrhundert geht es darum, auf die Dinge zu achten, die nicht wie in der Romantik – in Subjektstimmungen zu verwandeln sind. Vielmehr deutet sich ein Schweigen des Subjektes in der Wahrnehmung des ›sanften Gesetzes‹ (Stifter) an. So kann es auf dem Höhenweg der Moderne zu der, mit Francois Ponge zu reden, »douce illusion« einer Welt der Dinge – der Steine, Pflanzen und Artefakte – kommen, deren vollkommene Schönheit sich gerade darin zeigt, dass sie eine Welt ohne den Menschen ist. 11 Das Gegenbild des Schreckens einer menschenleeren Welt muss man dabei mithören. Obgleich ästhetische Reflexion sich an Kunstwerken erproben muss, die Kant gar nicht vor Augen haben konnte, bleibt die Grundform des kantischen reflektierenden Urteils als hermeneutisches Verhalten gegenüber dem Kunstwerk von bleibendem Rang. Kant hat einen elementaren Grundzug freigelegt, der später wegweisend bleiben sollte. Es geht im Schönen nicht darum, das Einzelne als Exemplar eines Falles zu summieren, sondern darum, es in seiner Einzelheit, die »unendlich viel zu denken« gibt, zu erwägen oder fortzubilden, ohne dass dies zu Denkende irgend in einem Begriff stillzustellen wäre. Dies eben ist die Rationalität oder Logik des Ästhetischen, von der Karlheinz Stierle sagt, sie sei fundamental und durch keine ästhetische Reflexion noch ästhetischen Voluntarismus außer Kraft setzbar; es sei denn um den Preis des Ästhetischen selbst. 12 Der Begriff des Werkes ist dabei wohl unersetzbar, auch wenn man es mit dem transitorischen, vorübergehenden Werk zu tun hat oder wenn die Performanz überwiegt, die doch ein »Werk im Vorbeigang« erzeugt. Der Höhenweg der Kunst der Moderne, von BauVgl. zu diesen Fragen K. Stierle, Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff. München 1996. 12 Ibid., S. 502 ff. 11

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delaire bis Proust, von Giacometti bis Picasso und wohl auch darüber hinaus, ist ohne die Kategorie des Werkes nicht denkbar. Ereignis, Event, Fluxus mögen alltägliches Leben verdichten, sie sammeln sich aber nicht zu jenem großen Innehalten der Geschichtlichkeit, wie es das Werk in sich schließt. Insofern würde die Rede vom ›Ende der Kunst‹ in der Tat dann drastisch, wenn die Möglichkeit zum Werk an ihr Ende käme. Von besonderer Bedeutung ist, ähnlich wie in der Religion, auch in der Kunst das Verhältnis zur Zeit: Kunstwerke können die Erfahrung linear progredierender Zeit und ihres Vergehens modifizieren: einmal im Blick auf die Suche nach dem Verlorenen und die sich wiederbringende Zeit (wie in Marcel Prousts, À la recherche du temps perdu), dann aber auf die Ekstasis einer jählings sich einstellenden Epiphanie der Ewigkeit im Augenblick. In alledem ist aber die Imagination eines linearen Zeitfortschreitens angehalten (K. H. Bohrer). Befristete, schwindende Zeit wird als Ewigkeitssignatur aussagbar. 2.) Franz Koppe unterschied die künstlerische ›Rede‹ als ende-etische Rede von der propositionalen Argumentation. Der Begriff stammt von griech. ἐνδεής: Bedürfnis. Endeetische Pluralitäten müssen nicht in Widerspruch führen, anders als apophantische. Äußerste Widersprüche können integriert werden. Darin zeigt sich der Rang des Kunstwerks. Koppes Definition lautet: »Ästhetische Rede ist überbietende, endeetische Rede, überbietend, gegenüber lebenspraktischer Rede: auf insbesondere konnotativem Wege, unter Aufhebung ihrer phänomenalen Kontingenz, in kontrafaktischer Entsprechung des Bedürfnisses nach kontingenzaufhebendem Lebenssinn.« 13 Das Moment des Überbietens bedeutet zugleich, dass die ›Rede‹ der Kunst ›sammelt‹. Albert Camus bemerkt einmal: »Si le monde etait claire, l’art ne serais pas.« »Wäre die Welt (in sich) klar, so würde es keine Kunst geben.« 14 Oder wiederum mit Gottfried Benns ›Nur zwei Dinge‹ (1953): »Dir wurde erst spät bewusst es gibt nur eines: ertrage / – F. Koppe, Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. Frankfurt/ Main 1987, S. 136. Vgl. dazu auch in der jüngeren Debatte: M. Seel, Ästhetik des Erscheinens. München 2000. 14 A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Reinbek 1999, S. 129. 13

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ob Sinn, ob Sucht, ob Sage – / dein fernbestimmtes: Du musst. // Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, / was alles erblühte, verblich. / Es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich.« Keineswegs erfährt im Kunstwerk aber das Selbst nur sich selbst. Es öffnet sich vielmehr auf die Dimension des ›einen Seins‹ in seiner Unverletzlichkeit, von dem Hölderlin spricht und das in einer primären Ungeschiedenheit von Natur und Geist der Grund im Bewusstsein ist. Der vorausgehende Grund kann erst die Geteiltheiten und Trennungen wieder zusammenführen. Deshalb verweisen Kunstwerke auf den Rückschein des verlorenen Paradieses. Das ›Älteste Systemprogramm‹ hat vor diesem Hintergrund konstatiert, dass die alle anderen Ideen vereinigende Idee die ästhetische Idee ist. Sie liegt dem Urteil voraus und führt das reflexiv nur in unabschließbaren Annäherungsbewegungen thematisierbare Absolute in eine Darstellung, kraft deren es im Kunstwerk und -ereignis Präsenz erlangt. Derart die Verständigung zu öffnen, bedeutet, dass mit Nietzsche Kunst als Bewahrung und zugleich Verklärung, niemals aber Verdrängung des Leidens und Todes zu begreifen ist: »Auch das Schöne muss sterben, das Menschen und Götter bezwinget«, wie es in Schillers ›Nänie‹ heißt. Oft ist das Versprechen, das alle Kunstschönheit auszeichnet, schon die Erfüllung, die man allenfalls zu finden hoffen kann; ein nur in der Kunst sich erweisendes Glück, das damit zugleich Vorschein von Erlösung wird. Doch auch sterbende Schönheit bleibt in der Form bewahrt, ihr Glanz ist ›aufgehoben‹. 15 Und Kunst ist, in ungleich tieferer Weise als jedes historische Gedächtnis etwa, das manipuliert und ausgelöscht werden kann, Erinnerung, Mnemosyne: Zusammenklang der Einzelnen und des Menschseins selbst. Es ist die ›koinonia‹ oder ›asynchia‹, wie sie schon die Spätantike nannte, als sie vom Erhabenen sprach. Die darwinistische Metaphorik, die auch in die Ästhetik Eingang gefunden hat, 16 verkennt, so scheint mir, das Herausgehobenund Separiertsein der Kunst. Von der ästhetischen Differenz wird abgesehen, wenn Celans ›Todesfuge‹, die ›Symphonie Pathétique‹, Vgl. hierzu den tief lotenden Grundriss einer theologisch fundierten Ästhetik bei T. Haecker, Schönheit. Ein Versuch. München 1953; sowie den Sammelband C. Mayer, Chr. Müller, G. Förster (Hgg.), Das Schöne in Theologie, Philosophie und Musik. Würzburg 2013. 16 Vgl. dazu die bemerkenswerten Arbeiten von W. Menninghaus, v. a. ders., Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt/Main 2003. 15

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Hieronymus Boschs ›Garten der Lüste‹, Picassos ›Guernica‹, die großen Dome der Gotik zusammen genannt werden und als Gemeinsames dies fixiert wird, überall dort kämen ›erfüllte‹ oder nichterfüllte Bedürfnisse zum Ausdruck. Jener biologisch darwinistischen Orientierung des Homo sapiens hat Franz Koppe eine phänomenologisch plausible Kategorie an die Seite gestellt, die ungleich weiter führt: Kunst als Ort der Betroffenheit, weshalb sie auch zum Ort der Wahrheit werden könne. Man denkt wiederum an Rilkes ›Archaischen Torso Apolls‹ : »Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.« Dieter Henrich hat vor einiger Zeit, im Wissen, dass es einen Unterschied macht, solche letzten Gedanken im Spannungsfeld von Kunst und Leben aus der besonderen Lebensanlage der Art des Homo sapiens zu fixieren oder sie zu denken, 17 die exzentrischen Wegbahnen der Kunst und den Gang der Subjektivität wechselseitig auseinander zu entwickeln versucht. Er tut es in Wissen um die philosophischen Konstellationen um 1800, im Anschluss an die dritte kantische Kritik, aber auch an Adornos Auffassung der Brüchigkeiten von Kunst als letztem Residuum der Subjektivität. »Das Einheitsziel des Lebens ist nicht das des strahlenden Aufgangs einer Ganzheit, in der alle herkuleischen Lasten von ihm abgefallen sind. Findet der Mensch zu einer Lebenssumme, so ist sie nicht dazu angetan, das Dunkel der Welt, in die er eintritt, und die Entzogenheit des Grundes seines Subjektseins vergessen zu machen. Auch sind die Konflikte im Lebensgang in ihr nicht verschwunden, sondern die Weise, in der eine Lebenssumme gezogen werden kann, ist von ihnen und dem Grund ihres Aufkommens geprägt. Wird eine solche Summe gezogen, so nicht in der Gegenwart einer höchsten Evidenz [sc. obgleich gerade diese sich in der Kunst immer wieder einstellen mag! H. S.], sondern als letzter Gedanke, der auch im Verfall des natürlichen Daseins nicht mehr unterminiert und verloren gehen wird.« 18 Der vorausgehende Grund kann erst die Geteiltheiten und Zertrenntheiten wieder zusammenführen. Deshalb ist ein essentielles Moment gesehen, wenn die alle anderen vereinigende Idee im ›Ältesten Systemprogramm‹ als die ästhetische Idee bestimmt wird. D. Henrich, Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst. München 2001. 18 Henrich, Versuch über Kunst und Leben, a. a. O., S. 341. 17

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Bei diesem Blick in den Grund sind wir zugleich in einem Gespräch mit dem platonisch-neuplatonischen Topos von der Kunst als Mimesis der Ideen, mit der in reflektierender teleologischer Urteilskraft in Kants dritter Kritik als möglich erscheinenden Aussicht auf den ›intellectus archetypus‹. Der subjektivitäts-theoretische Horizont und jene ihm unterliegende Durchlässigkeit auf Seinserfahrung verankern Kunst noch immer in Abschlussgedanken, was Hegel andeutete, wenn er von der Mimesis des Absoluten sprach und wenn er sie, nicht anders als Schelling, Hölderlin und Novalis in der Sphäre des absoluten Geistes verankerte. 3.) Die kategoriale Explikationskraft nachkantischer Ästhetik, namentlich bei Hegel, scheint mir uneingeholt. Sie ist in mikrologischen Formexplikationen bei Adorno und in Phänomenevidenzen gewiss überboten worden, und, was die bildenden Künste betrifft, haben die neueren analytischen Ästhetiken einen differenzierteren Blick angelegt. In ihrer gedanklichen Durchdringung des ästhetisch Wirklichen wurde die hegelsche Konzeption indessen kaum je wieder erreicht. Dies scheint mir kein zwingender Preis der Moderne, mit dem man sich abfinden muss. Für die begrifflich systematische Durchdringung der Kunstarten hat Hegel eine recht voraussetzungsarme und darin geradezu geniale Prägung gefunden: das wechselweise Umschlagen von Inhalt und Form, Geist und Stoff ineinander. Die Seite der Form kann im Anschluss an Roman Ingardens phänomenologischer Bestimmung des ›ästhetischen Gegenstandes‹, vor allem aber an Georg Pichts nachgelassenen Vorlesungen ›Kunst und Mythos‹ näher bestimmt werden. Kunst ist demnach in eminenter Weise Darstellung. »Dargestellt wird in der Kunst nicht das Erscheinungsbild, also gleichsam die Außenfläche der Phänomene, sondern die Weise ihres Erscheinens, dessen elementare Möglichkeiten und Strukturen, also die Phänomenalität der Phänomene.« 19 Dann aber eröffnet solche Darstellung erst die Möglichkeit für andere Darstellungshandlungen, wie das Denken. Ästhetik als Lehre von der Kunst und Ästhetik als elementare Wahrnehmungslehre rücken dann eng zusammen, was für die Kant-Deutung von Belang ist. Es wäre dann keine ausschlie19

G. Picht, Kunst und Mythos, a. a. O., S. 428.

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ßende Alternative mehr, die Kritik reflektierender Urteilskraft als allem Urteil zugrundeliegenden Urteilsvollzug 20 zu verstehen. Darin liegt der genuin ästhetische Sinn der dritten kantischen Kritik. Picht hat dies zumindest geahnt und daraus die Folgerung gezogen: »Wenn auch und gerade die künstlerische Auffassung von Phänomenen Wahrnehmung ist, muss alles, was das neuzeitliche Denken in die Innerlichkeit der Subjektivität transponiert hat, als Wahrgenommenes interpretiert werden. Auch die Gehalte des vermeintlichen Innenlebens sind dann Gehalte der Welt.« 21 Zu der formal entscheidenden Frage wird, wie im Werk Welt zur Erscheinung kommt und wie sich von hier her die Erscheinungsweisen der Malerei von jenen der Plastik und der Musik unterscheiden. Zu fragen wäre hier nach der Fläche als Spannungsfeld, sodann nach der Aktualisierung des Spannungspotentials, wenn jede Linie die graphische Darstellung eines Bewegungsablaufs ist; weiterhin geht es um den Darstellungsraum der Plastik, der »nicht wie man meint, die Dreidimensionalität des Raumes ist, sondern die Kraft«, weshalb plastische Kunstwerke nicht als ›res extensa‹ im cartesischen Sinn zu beschreiben sind, sondern als Gestalt. Und schließlich um Musik als Klangraum der Zeit, aufgespannt um Statik und Dynamik, Präsenz, Erwartung, Wieder-Erinnerung. Man sieht: Auch bei den visuell perzepierten Erscheinungsweisen von Kunst zeichnet sich eine Phänomenalität von Bewegung ab, eben der Linienzug; und bei der rein in der Negativität der Zeit konstituierten Musik bauen sich Räume auf. Kunst ist in der StoffForm-Differenz mithin auch als zur Erscheinung Kommen des Zeit-Raumes zu verstehen. Wie aber verhält sich der geistige Gehalt zu solchen Variierungen in der Form? Hier reicht Marshall McLuhans ›the medium is the message‹ offensichtlich nicht aus. Es bleibt aber zu zeigen, wie aus dem Medium eine ›primäre Bedeutung‹ hervorgeht. Die auf die Stoff-Form-Differenz bezogene Kunstformenlehre führt, dass uns die Werke als ›transzendentale Phänomene‹ begegnen, haarscharf auf der Grenze zwischen Wahrheit und transzendentalem Schein. Die Medialität zeigt immer eine ›Möglichkeit‹ an: »Unter anderen Bedingungen, in einem anderen Horizont, zeigen sich die Phänome20 21

W. Wieland, Urteil und Gefühl, a. a. O., S. 120 ff. u. ö. Picht, a. a. O., S. 429.

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ne anders. Aber wir können auch diese Differenz erkennen. Wir sind in den Käfig der bloßen Anschauung nicht eingesperrt, sondern bewegen uns immer in einem Spielraum zwischen verschiedenen möglichen Horizonten. Und eben diesem Spielraum verdanken wir die Möglichkeit, uns nicht nur die bloßen Phänomene, sondern, in der Kunst, auch die Bedingungen der Möglichkeit dieser Phänomene, ihren Horizont und ihre Phänomenalität zur Darstellung zu bringen.« Gerade Hegel hat aber gezeigt, dass die Geschichtlichkeit der Kunst niemals linear ist; und zugleich ist die Alterität eine Erfahrung, die zeigt, dass Schönheit selbst eine Geschichte hat, weshalb es ihr nicht möglich ist, die Zeit dauerhaft zu tilgen oder gar abzuschaffen. Das Hässliche, die Kuriosa der Natur finden seit der Antike verklärende Darstellung, die Welt der Maschinen, der Reproduktionen werden als schön aufgeladen. Hegel gibt uns zu bedenken, ob die Formlogik und die Geschichtslogik in der Kunst ein und demselben Grundraster unterliegen. Dies bleibt ein Problematon. In jedem Fall wird es in der Kunstformenlehre nicht anders als in der Frage nach der Historizität der Kunst darum gehen, kategoriale Begrifflichkeit soweit zu schärfen, dass sie auf unreduzierte Erfahrungen verweist, wie sie der Kunst allein gemäß ist. 4.) Kunst verweist nicht nur in die Ursprungsdimensionen des Geistes. Das Profil des Schönen einer Epoche formt sich auch und gerade auch in der »pulchritudo adhaerensis«: in Gestaltung und Formung des Lebens durch Baukunst, Repräsentation, Möbel, die Gartenkunst. Evidenzen des Gewesenen, die das Leben formen, lassen sich recht unmittelbar von dort her gewinnen. Der Habitus einer sozialen Welt wird von einem Bauen, das, wie Heidegger wusste, aus dem Wohnen kommt und einer Kunstfertigkeit, die aus dem Leben-können resultiert, bestimmt. Deshalb galt auch der sedimentierten Lebenskunst, dem Design und der ›Gestaltung‹ an der Bruchstelle zwischen pragma, gutem Leben und Kunst besondere Aufmerksamkeit. Zwischen Verklärung und Gewöhnlichkeit liegt diese Sphäre, die seltener wird. Das Schöne in Natur und Kunst bleibt indes über den glückenden Gebrauch hinausgehend ein Versprechen, von dem man nicht 491 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

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weiß, ob es jenseits der Kunst überhaupt einlösbar ist: dies deutet zurück auf die Tautegorie von Kunst: die nicht von sich wegzeigt, wenn sie ›bedeutet‹, sondern auf sich hin. Die Kraft des Versprechens mag zu Daseinsintensivierungen und Lebensevidenzen führen, wie sie Hölderlin in dem folgenden Abschnitt aus dem vierten Buch des Hyperion ausgesprochen hat: »Was ist Verlust, wenn so der Mensch in seiner eigenen Welt sich findet? In uns ist alles. Was kümmert’s dann den Menschen, wenn ein Haar von seinem Haupte fällt? Was ringt er so nach Knechtschaft, da er ein Gott sein könnte!« In einem schon zitierten Aphorismus fügt er hinzu: »Deswegen sollte alles Erkennen vom Studium des Schönen anfangen, denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern.« 22 Sie mag sich auch in einer der großen Integrationsbewegungen des Widerstrebenden und Widerstreitenden zeigen, wie in Rilkes ›Sonetten an Orpheus‹ : »Sei allem Abschied voran.« Wo wäre das Endliche menschlicher Existenz gegeben, wenn nicht an der Erfahrung des Schönen? Sie ist insofern, anders als T. S. Eliot meinte, gerade auch ›the real thing‹.

22

F. Hölderlin, Theoretische Schriften, hg. Von J. Kreuzer. Hamburg 1998, S. 19.

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Coda ins Offene

Erst recht für die Kunstphilosophie gilt, dass sie erst erkennen kann, wenn eine Zeit schon ihr Grau in Grau gemalt hat. Man sollte offen lassen, ob dies aus Gründen des Ungenügens so ist oder aus struktureller Evidenz. Am besten wäre es daher, wenn das Grau gerade auf die Leinwand aufgetragen und noch nicht eingetrocknet ist. Aristoteles musste das ›Palaion Drama‹ voraussetzen, als er seine Poetik entwickelte, und auch Platon setzte es voraus, als er in die Gigantomacheia des Philosophen mit den Tragödiendichtern eintrat und die Dichter aus der Stadt vertreiben wollte. Die Zukunft der Kunstphilosophie wird deshalb auch davon abhängen, welche Werke sie vor Augen hat. Es sind bekanntlich die Werke der eigenen Zeit, die den Blick auf die Werke der Vergangenheit prägen und bestimmen. Dass die Originalität des Werkes zunehmend in einer Allverfügbarkeit auf- und untergeht, dass Werke durch neue Technologien in einer Weise verfügbar werden, die sich Walter Benjamin noch nicht im Entferntesten vorgestellt hätte, hat die Suche nach dem Original eher noch gesteigert. Der überwältigende Eindruck, den große Ausstellungen, wie jene zum ›Jungen Dürer‹ im Frühjahr und Sommer 2012 ausüben, spricht für sich. Dieses Buch klingt in einem Dreiklang aus, der, nach meiner Überzeugung, in allen Veränderungen Bestand haben wird: Einerseits blickten wir auf die ästhetischen Reflexionen der unerwarteten Monolithen der Moderne, die sich der Kommunikation und öffentlichen Kompatibilität verschließen und damit an der Grenze zum Verstummen einen Hallraum des Asylon, der Nicht-Tangibilität eröffnen; andererseits galt der Blick der Humanisierung und Lebensgestaltungskraft der Kunst und des Handwerks. Deshalb und weil sich diese Tendenz immer stärker der Verhässlichung und Schließung von Lücken entgegensetzt, ist sie von Belang. Sie bildet ein

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Antidotum zu medialem Rauschen, das nicht angreifbar ist, aber nichtig wird. Schließlich ist es die Dimension der Erstheit, der realen Gegenwart, die das Proprium von Kunstwerken ausmacht. Bei aller Zitation, aller Faktur, der Nüchternheit der Werkstätten und der satirischen, ja zynischen Tendenz, die aus der Kennerschaft rührt, ist es diese Berührung durch ein intangibles Geheimnis, die unmittelbare Selbstevidenz des Schönen, die – nicht nur – die Philosophie seit je angezogen hat. Diese Zwiesprache wird weitergehen.

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Literatur

Ich führe hier jene Titel an, die für meinen Gedankengang von besonderer Bedeutung waren. Auf den Anspruch der Vollständigkeit muss von vorneherein verzichtet werden. Das Literaturverzeichnis sollte aber eine eigenständige weitere Beschäftigung mit den Fragen der Ästhetik und Kunstphilosophie ermöglichen. Kriterium dieser strengen und engen Auswahl war dabei nicht so sehr die Letztgültigkeit der jeweiligen Editionen, sondern vielmehr die Zugänglichkeit der Titel und Konzepte. Deshalb wird auch zwischen Primär- und Forschungsliteratur nicht unterschieden. Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie. Herausgegeben von G. Adorno und R. Tiedemann. Frankfurt/Main 1970. AISTHESIS. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1991. Apel, Friedmar (Hg.), Romantische Kunstlehre. Poesie und Poetik des Blicks in der deutschen Romantik. Bibliothek der Kunstliteratur. Bd. 4. Frankfurt/Main 1982. Becker, Oskar, Von der Abenteuerlichkeit des Künstlers und der vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen. Neudruck Berlin 1994. Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften. Hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1991. Böhm, Gottfried, Was ist ein Bild? München 1994. Bohrer, Karl Heinz, Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin. Frankfurt/Main 1996. Ders., Ästhetische Negativität. München 2002. Brandt, Paul, Sehen und Erkennen. Eine Anleitung zu vergleichender Kunstbetrachtung. Leipzig 1923. Bredekamp, Horst, Thomas Hobbes, Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651–2001. Berlin 2006. Ders., Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Berlin 2010. Danto, Arthur C., Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt/Main 1991.

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Personenverzeichnis 1

Adorno, Theodor W. 19, 27, 30, 36, 42, 288, 309–325, 336 f., 340, 348 ff., 352, 354 ff., 359, 372, 432, 471 f., 480, 488 f. Aicher, Otl 21, 367, 370, 374 f., 378 ff., 381 f., 389, 400 ff. Albers, Joseph 400 Alberti, Leon Battista 185, 420 Albertus Magnus 184 Alkibiades 69 Anaxagoras 76, 78, 299, 307 Anaximander 299 Angelus Silesius (Johannes Scheffler) 269, 471 Apollon 36, 68, 301, 363 Ariost 243, 246, 276 Aristoteles 95, 97, 103 ff., 140, 153 f., 303, 330, 378, 386, 398 f., 408, 410, 417 f., 437, 442, 445, 453, 460 Aristoxenus 303 Augustinus, Aurelius 110 ff., 113, 128, 249, 268, 436, 449 Bach, Johann Sebastian 479 Bachmann, Ingeborg 321 Bachtin, Michail 359 Balthasar, Hans Urs von 479 f. Barthes, Roland 354 ff. Bartók, Béla 322 Basedow, Johann Bernhard 191 Baselitz, Georg 42 Baudelaire, Charles 28, 288 ff., 310 Baudrillard, Jean 351–353

Baumgarten, Alexander Gottlieb 30, 148–151 Becker, Oskar 325–327, 330, 332 Beckett, Samuel 19, 321 Beckmann, Max 428 Beierwaltes, Werner 13, 115 Benjamin, Walter 20, 31, 138 f., 287 f., 293 f., 311 f., 321, 322, 351, 356, 372, 378 ff., 394, 404, 457, 480, 493 Benn, Gottfried 28, 285 ff., 290 f., 308, 323, 348, 365, 382 ff., 486 Berg, Alban 318, 322 Bernhard, Thomas 52 f., 405 f. Bernhard von Clairvaux 120 f. Beuys, Josef 31, 40, 277, 429, 471 Biemel, Walter 13 Bloch, Ernst 21, 29, 36, 277, 311, 322, 372, 378 Bloom, Allan 43 Blumenberg, Hans 395 f., 441 Böhlendorff, Casimir von 253, 263 Bonaparte, Napoléon 250 Bonaventura 121 Botticelli, Sandro 130 Bovillus, Carolus 131 Bracelli, Giovanni Battista 135 Brandstetter, Gabriele 465 Brecht, Bertolt 39, 286, 290, 312, 403, 412, 422 Broch, Hermann 18 Brock, Bazon 435 Bruno, Giordano 374 f.

Personen, die nur in den Fußnoten genannt sind, werden im Register in der Regel nicht berücksichtigt.

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501 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Personenverzeichnis Burckhardt, Jacob 306, 480 Burke, Edmund 149 Caesar, Julius Gaius 140 f. Cage, John 466 Camoin, Charles 412 Cassirer, Ernst 341 Celan, Paul 287, 324, 333, 380, 485– 487 Cézanne, Paul 331, 335, 412 Chateaubriand, François-René de 290 Chambers, William 187 Char, René 335 Cicero, Marcus Tullius 99 Clerici, Fabrizio 135 Colonna, Francesco 185 Correggio, Antonio da 243 Crusius, Christian August 158 Curtius, Ernst Robert 289 Cusanus, Nicolaus (Nikolaus von Kues) 122 ff., 409 Dalí, Salvador 134 Damascenus, Johannes 478 Dante Alighieri 203, 243, 246, 475 Danto, Arthur C. 40 f., 329, 340, 343 ff., 363 ff., 376, 404 f. Degas, Edgar 462 ff. Deleuze, Gilles 466, 472 Derrida, Jacques 282, 358, 460 f. Descartes, René 162, 188 ff., 374 f., 385, 391, 415 Dewey, John 343 f. Dézallier d’Argenville, AntoineJoseph 186 f. Dilthey, Wilhelm 48, 329 Dionysios Areopagites 112 ff. Dirlmeier, Franz 106 Doderer, Heimito von 323 Döblin, Alfred 290 Duchamp, Marcel 40, 394 ff. Duncan, Isidora 469 f. Dürer, Albrecht 29, 47, 123, 369, 412, 493 Duse, Eleonora 40

Eco, Umberto 105, 349, 357 Eckhart (Meister) 396, 412 ff., 471 Egk, Werner 322 El Greco 133 Eliot, Thomas S. 23, 152, 291, 471, 492 Empedokles 252 f., 266, 299 Enzensberger, Hans Magnus 290, 427 Epikur 37, 190 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm von 191 Eriugena, Johannes Scotus 112–124 Ernst, Max 429 Eysoldt, Gertrud 40 Fichte, Johann Gottlieb 218, 226, 230, 232, 249, 264, 268 Ficino, Marsilius 128 ff. Flasch, Kurt 409 ff. Frank, Manfred 230, 232 Friedrich, Caspar David 278 Friedrich, Hugo 292 Fuchs, Ernst 134 Gadamer, Hans-Georg 17, 49, 169, 177, 227, 283, 314, 334–338 Garve, Christian 161 Gehlen, Arnold 348 ff., 435 George, Stefan 20, 41, 286, 306, 323, 477 Gerhardt, Paul 270 Giacometti, Alberto 486 Gilpins, William 187 Goethe, J. W. von 25, 29, 41, 95, 192, 207, 208 ff., 212, 216 f., 219–226, 229, 240, 255, 260, 276, 279, 304 f., 322, 377, 386, 401, 409, 426, 443, 463, 476 f. Gogh, Vincent van 331, 368, 392 f. Goodman, Nelson 340 ff., 368, 376 f., 393 Gramsci, Antonio 425 Grimm, Jacob 404 Grimm, Wilhelm 404 Grimmelshausen, H. J. Christoffel 19 Grosz, George 285

502 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Personenverzeichnis Groys, Boris 18 Grünewald, Matthias 470, 479 Gryphius, Andreas 135 Guardini, Romano 476 Guattari, Félix 472

Humboldt, Wilhelm von 204 f., 221, 332 Hume, David 162 f., 145 Husserl, Edmund 325, 328, 395, 448 f., 452

Habermas, Jürgen 323, 347 ff., 434 f. Hamann, Johann Georg 202 f. Handke, Peter 44, 350 Harris, James 204 Hauser, Arnold 48 Heerich, Erwin 439 Hegel, Marie (geb. Tucher) 246 Hegel, G. W. F. 17, 20, 23, 25, 27, 30, 45 ff., 51, 115, 130, 141, 203, 206, 215, 218 f., 231, 236–238, 239 ff., 245–249, 252, 255–263, 266, 268, 270 f., 275, 277–279, 288, 306, 308, 315, 318–320, 338, 352 f., 375 ff., 419, 424 ff., 437, 449, 453 ff., 472, 479, 481, 489, 491 f. Heidegger, Martin 27, 29 f., 50, 204, 227, 251, 254, 263, 277, 315, 319, 325 ff., 330–337, 351, 356, 358, 368 f., 383 ff., 414 ff., 428, 443 ff., 446–453 Henrich, Dieter 227, 264, 488 Heraklit 36, 76 f., 86, 93, 104, 242, 248, 267, 299, 301, 327, 482 Herder, Johann Gottfried 198 ff., 277, 480 Hibberd, Shirley 188 Hochhuth, Rolf 313 Hocke, Gustav René 133 ff. Hölderlin, Friedrich 50, 67, 81, 227 f., 236 f., 240, 246, 249–255, 263–268, 303, 309, 322, 331, 332–335, 338, 375, 440, 487, 489, 492 Höllerer, Walter 427 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 231 Home, Henry 149 Homer 58 f., 64, 67, 152, 203, 205, 219, 236, 240, 246, 256, 270, 275, 367, 381 Hommes, Ulrich 405 Horkheimer, Max 312

Ingarden, Roman 328–330, 332, 489 f. Jacobi, Friedrich Heinrich 233, 249 Jencks, Charles 347, 349 Jesaja 28 Jesus Christus 28, 111 f., 114, 123, 141, 237, 245, 252 f., 268, 270, 470 Jobs, Steve 20 Johanna von Orléans (Jeanne d’Arc) 51 Joyce, James 44, 142, 357 ff., 428 Jünger, Ernst 20, 41, 290 Kafka, Franz 380 Kandinsky, Wassily 31, 39 Kant, Immanuel 25 f., 31, 35 f., 100, 145 ff., 157–184, 194 ff., 198, 200, 202, 207, 212 ff., 219, 222, 226 f., 236, 249, 264, 271, 275 f., 300, 319, 340, 372 f., 379 f., 385, 397 f., 406– 409, 419, 430, 442–449, 453, 485, 488–490 Kepler, Johannes 136 Kidson, Peter 116 f. Kiefer, Anselm 31, 287 Kirkeby, Per 439 Kleist, Heinrich von 50 Klopstock, Friedrich Gottlieb 41, 153, 481 Klotz, Heinrich 347 Körner, Gottfried 214 Kommerell, Max 106 Koppe, Franz 486 ff. Kreuzer, Johann 253 Kristeva, Julia 358 Laban, Rudolf von 469 Lacan, Jacques 472 Lacis, Asja 311 Leeuw, Gerardus van de 470

503 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Personenverzeichnis Leibniz, Gottfried Wilhelm 87, 146 ff., 154, 163, 181, 201, 234 f., 442, 444 Lessing, Gotthold Ephraim 106, 139, 153 ff., 200, 209, 278 La Mettrie, Julien Offray de 273 Libeskind, Daniel 439 Llull, Ramon 137 (Pseudo-)Longin 47, 101 f. Loudon, John 188 Lübbe, Hermann 20, 427 ff., 432, 434 Ludwig der Heilige 457 Luhmann, Niklas 435 Lukács, Georg 19, 41, 48, 311, 382 Lukian 475 Luther, Martin 269 ff. Lyotard, Jean-François 27, 159, 350, 353 Maier, Hans 280 Mann, Thomas 37, 232, 310, 322 Marinetti, Filippo T. 286, 427 f. Markschies, Christoph 116 Marquard, Odo 235 Marx, Karl 472 McLuhan, Marshall 18 f., 352, 433, 490 Meier, Georg Friedrich 147 f., 151 f., 154, 199, 276 Mendelssohn, Moses 147 f., 151 f., 153 ff., 182 f. Meyer, Conrad Ferdinand 368 Michelangelo Buonarroti 47, 210 f. , 459 f. Milton, John 153 Mörike, Eduard 405, 484 Moritz, Karl Philipp 271 Mose 307 Mukařovsky, Jan 329, 345 Musil, Robert 322, 351, 428 Nadler, Josef 48 Neuer, Werner 13 Neurath, Otto 342 Nicolai, Friedrich 153 ff. Nieremberg, Eusebius von 137 Nietzsche, Friedrich 26 f., 36, 60, 65,

277, 283, 288, 291, 293–310, 314, 316, 322, 343, 365 ff., 380, 396, 399, 402, 404, 437, 444, 459 f., 466, 471, 487, 489 f. Novalis (Friedrich von Hardenberg) 153, 228, 230 f., 268–271, 284, 489 Orff, Carl 322 Orpheus 100, 419, 492 Ossian 203 Otto, Stephan 13, 375 Palladio, Andrea 191 Panofsky, Erwin 116 f., 130 Parmenides 76, 85, 87, 93, 112 Patočka, Jan 328 Paul, Jean 30, 232 ff., 259 Peirce, Charles S. 358 f. Pessoa, Fernando 441 Phidias 38 Philostratos 100 Picasso, Pablo 486, 488 Picht, Georg 399, 489 f. Pina, Marco 470 Pindar 65, 105, 255 Pippin, Robert B. 262 f. Platen, August Graf von 120, 383 ff., 390 Platon 25, 39, 53, 57–96, 101 f., 105, 108, 111 f., 115 ff., 120 f., 125, 127– 130, 134 f., 138, 149, 159, 194 f., 208, 236, 240 ff., 249, 267, 274, 282, 302 f., 307, 326, 337 f., 367, 381, 383, 411, 418, 423, 425, 429, 443 f., 448, 453, 456, 463 ff., 493 Plinius, der Jüngere 194 Plotin 102 f., 114, 241 f., 383 Poe, Edgar Allan 290 f. Pound, Ezra 291, 484 Polykleitos 107 Proklos Diadochos 112, 114, 208, 252 Protagoras 125, 127 Proust, Marcel 322, 486 Queneau, Raymond 20 Quine, Willard Van Orman 342 Quintilian 97

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Personenverzeichnis Raffael 209, 240, 243, 256, 295, 310, 459 f. Ransmayr, Christoph 350 Recki, Birgit 177 Reinhold, Carl Leonhard 161 Repton, Humphry 188 Richter, Gerhard 42 Riedel, Manfred 13, 162 f., 207 ff., 296, 306 Riefenstahl, Leni 18 Rilke, Rainer Maria 27, 36, 286, 317, 323, 331, 363, 403, 462, 483, 488, 492 Rist, Johannes 270 Ritter, Joachim 31, 44, 437 f. Roentgen, David 192, 420 ff. Rombach, Heinrich 483 Rousseau, Jean-Jacques 162, 191, 460 Rudolf II. 136 Runge, Philipp Otto 244 Sachs, Nelly 324 Saracenus, Johannes 118 Sartre, Jean-Paul 19, 46, 292, 313 Sauerländer, Willibald 117 Saxl, Fritz 117 Scheler, Max 328 Schelling, F. W. J. 14, 27, 29, 47, 67, 103, 130, 227 f., 236–248, 258, 263, 271–276, 277 f., 288, 296, 298, 316 f., 326, 338, 375, 405, 428, 439, 455, 467, 473, 480, 489 Schiller, Friedrich 23, 207, 209, 211, 212–225, 226, 246, 267, 274, 373, 420, 465, 473, 487 Schlegel, August Wilhelm 27, 242, 244 Schlegel, Caroline 244 Schlegel, Friedrich 27, 117 f., 226 ff. Schleiermacher, Friedrich Daniel 27, 31, 148, 276–282, 373, 379, 476 Schlick, Moritz 342 Schmid, Holger 203 ff. Schönberg, Arnold 310, 322 Scholl, Hans 51 Scholl, Sophie 51

Schopenhauer, Arthur 296 ff., 305, 322 Schütz, Alfred 395 Schwegler, Vroni 12 Sedlmayr, Hans 40 f. Shakespeare, William 137 ff., 203, 222 f., 243, 246, 256, 259, 276, 283 Seneca 98 Sennett, Richard 21, 397, 457 Seubert, Chris 14 Shiva 470 Sik, Miroslav 461 Silbermann, Alphons 313 Simmel, Georg 431, 441 Simson, Otto von 116 f. Sloterdijk, Peter 39, 353, 396 Sokrates 59 f., 64, 66–68, 71 f., 74, 81, 89, 94, 208, 299 f., 368, 381, 405, 417, 423, 463 ff. Sophokles 78, 254, 256, 393 Speer, Albert 19, 459 Speer, Andreas 116 Spencer, Herbert 431 Stahl, Michael 13, 19 f. Staiger, Emil 41, 244 Steiner, George 23, 45, 477, 480 f. Stendhal (Marie-Henri Beyle) 36, 288, 300, 309, 380 Stetten, Paul von 420 f. Strauss, Leo 43 Strauß, Botho 350 Stolzenberg, Jürgen 171 Stürmer, Michael 191 ff., 420 ff. Suger von Chartres 111 ff., 116, 118 Switzer, Stephen 187 Taylor, Charles 480 Thales 299, 423 Thamer, Hans-Ulrich 18 Thomas von Aquin 120 f. Thukydides 45 Tizian 130, 244 Toynbee, Arnold 349 Trakl, Georg 28, 331, 333 Valéry, Paul 315, 320, 322, 388, 405, 422, 462 ff., 467 ff., 473

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Personenverzeichnis Vattimo, Gianni 353 Vitruv 100 Voltaire 157, 163 Vossenkuhl, Wilhelm 172 f. Walpole, Horace 187 Warhol, Andy 352 Weber, Max 351, 384, 430 Wellmer, Albrecht 351 ff. Welsch, Wolfgang 351 ff. Whatley, Thomas 187 Wieland, Wolfgang 106, 145, 160 f., 182 f.

Wiesenthal, Grete 465 Wilde, Oscar 293 Winckelmann, Johann, Joachim 198 f., 207 ff., 222, 257, 419 Winkler, Josef 28 Wittgenstein, Ludwig 77, 325, 345, 364, 370, 458 f. Wolf, Friedrich August 205 Wolff, Christian 145, 158, 181 Wollheim, R. 393, 401 Zuccari, Frederico 134

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Sachverzeichnis 1

Absolutes (Mimesis des Absoluten) 239 ff., 272 ff., 475 ff. ›Ältestes Systemprogramm des Deutschen Idealismus‹ 236 f., 239 ff. Ästhetik 30 ff., 198 ff., 200 ff. Ästhetische Evolution 44 ff. Ästhetische Theorie 309 ff. Aisthesis 26 ff. Allegorie 229 ff. Analogon rationis 147 ff. Anhypotheton (Aufhebung der Hypothesenreihen) 78, 89 f. Andersheit 93 f. Anmut 215 ff. Anthropologie 205 ff. Apollinisches 294 ff. Arche Noah 135 Architektur 100 f., 118 ff., 347 ff., 370 ff., 442 ff. Arkadien 221 f. Artistenmetaphysik 295 ff. Ausdruckstanz 469 ff. Bedeuten 363 ff. Bild (Urbild, Abbild) 60 ff., 69 f., 91 ff., 96 f., 122 ff., 229 ff., 334 ff., 477 ff. Bilderverbot 29 Blick (Visio absoluta) 122 ff. Böses 288 ff.

Chora (Materie) 85 ff. Code (Codierung) 51 f. Commercium mentis et corporis 233 ff. Deduktion (der Geschmacksurteile) 170 ff., 195 ff. Demiurg (Schöpfungsakt) 85 ff. Design 363 ff., 402 f. Deus in terris 134 Dialektik 315 ff. Dichtungs- und Fiktionskritik (u. a. Platon) 65 ff. Diegesis 57 ff. Differenz (différance) 358 f. Ding (Dingcharakter) 330 f. Dionysisches 294 ff., 365 ff. Dissonanz 294 ff. Doppelgängermotiv 234 f. Drama 138 ff. Eleos (Schrecken als Elementaraffekt: Aristotelische Tragödientheorie) 106 f., 154 ff. Elysium 221 f. Empfindsamkeit 152 f. Energeia 38, 204 ff., 407 ff. Enthusiasmus 220 ff., 264 ff. Entwurf 53, 370 ff. Erde 330 ff., 370 ff., 394 ff. Ergon 38 Erhabenheit 40 ff., 159 ff., 216 f.

Auch im Sachregister wird keine Vollständigkeit angestrebt. Es soll aber das Netz der Begriffe und ihrer Verbindungen sichtbar werden. Daher werden auch Begriffe genannt, die nur im Denken einzelner Autoren eine herausragende Rolle spielen.

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507 https://doi.org/10.5771/9783495807965 .

Sachverzeichnis Erhabenes 27 ff. Erlernbarkeit (in den Künsten) 100 ff. Exzentrische Bahn 228, 250, 263 f., 266 Faktur 309 ff. Form 47, 402 ff. Fotografie 355 ff. Fragment (romantische Kunst) 225 ff. Funktion (Funktionalismus) 380 ff., 401 f. Garten 184 ff. Gebrauch (Gebrauchsdimension in der Kunst, ›Chresis‹) 59 ff., 361 ff. Gefühl 168 ff., 230 ff. Gegenstand, Gegenständlichkeit (des Kunstwerks) 325 ff. Geist, Geistmetaphysik 131 ff., 240 ff. Generatio aequivoca 127 ff. Genie (Kunst des Genies) 145 ff., 241 f. Geschichtsphilosophie 211 ff., 236 ff. Geschmack 145 ff., 157 ff. Geschmackskritik 145 ff. Geschmacksurteil 157 ff. Gestaltung 53 Gott (Göttliches) 83 ff., 220 ff., 272 ff. Gutes (Idee des Guten) 57 ff. Handwerk 21 ff., 37, 100 ff., 125 ff. Harmonie 114 ff., 119 ff., 146 f., 154 f., 167 Hellas – Hesperien 252 ff., 262 ff. Hermeneutik 49 ff., 336 ff. Holz 402 ff. Hombroich (Museumsinsel) 429 ff. Humor 235 f. Ich (transzendentale Subjektivität) 230 ff. Idee 69 ff., 102 ff., 166 f. Ideologie 312 ff. Imitatio Christi 258 ff. Information 439 ff. Interkulturalität 481 ff. Isenheimer Altar 28 f., 480

Katharsis 106 f. 153 ff. Kathedrale (Gotische K.) 110 ff., 455 Kenose 28 Klassik – Klassizität 46 Komödie 81 ff. Kompensationstheorie 437 f. Kosmogonie – Kosmologie 88 ff. Kosmos 82 f., 88 ff. Kristallisationen (kulturelle K.) 282 ff. Kunstreligion 245 ff., 257 ff. Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit 19 ff., 319 ff. Kunstwissenschaft 48 f. Landschaftsarchitektur 184 ff. Labyrinth 136 Laienphilosophie 125 ff., 409 Leiblichkeit (in der ästhetischen Erfassung der Wirklichkeit) 208 ff., 232 ff. Literaturwissenschaft 48 ff. Löffelschnitzer 409 ff. Logos 70 ff. Lyriktheorie (Antike, insbes. Aristoteles) 105 f. Macht, Machtverlust 142 f. Manierismus 133 ff. Markt (Kunstmarkt) 43 ff. Mechanismus (Mechané) 98 ff. Mensch (als ›anderer Gott‹) 131 f., 134 ff. Metapher 47 Metonymie 47 Metaerzählung (Grand récits) 350 ff. Metaphysik 35 f. Mimesis 58 ff., 73 ff., 105 ff., 133 f. Mitte (›metaxy‹) 66 ff. Moderne 19 f., 41 ff. , 281 ff., 420 ff. Modernetheorien 286 f., 350 ff., 422 ff. Modernitätstraditionalismus 437 ff. Möbelkunst 190 ff., 418 ff. Monumentalität 18 ff. Moralität 174 ff.

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Sachverzeichnis Moralmetaphysik 174 ff. Musealisierung (insbes. Museum der Moderne) 427 ff. Musik (Musiktheorie) 303 ff. Mythologie 76 ff., 243 ff., 271 ff. Mythos 82 f. Naiv 219 ff. Natur (in ihrem Verhältnis zur Kunst) 39 f., 51 ff. , 180 ff., 184 ff., 221 ff., 240 ff., 400 ff. Naturschönes (als Kategorie) 181 ff. Negative Theologie 112 ff. Negativität 309 ff. Neuplatonismus 97 ff., 110 ff. Neorealismus 42 f. Notwendigkeit (Ananke) 90 f. Ordnung 115 ff. ›Ordo inversus‹ 230 ff., 268 ff. Organismus (Organisches) 51 f. Ort (›Örter‹) 445 ff. Performanz 39, 462 ff. Performative Ästhetik 463 ff. Phänomen (-Phänomenologie) 325 ff., 483 ff. Phobos (Furcht) 106 f. Phronesis (praktische Klugheit) 95 f., 107 ff. Plastik 453 ff. Poetik (– Poietik) 105 ff. Poiesis 38, 97 ff., 103 ff. Politische Funktion des Schönen 63 ff. Postmoderne (Posthistoire) 282 ff., 347 ff. Pragmata 386 ff., 415 f. Pragmatismus 342 f. Praxis 38 Proportion (Goldener Schnitt) 35 ff. Pulchritudo (Schönheitskonzeptionen im Mittelalter) 110 ff. Raum 442 ff. Redekunst (Rhetorik) 78 f., 151 ff. Reflexion (– Reflexionsbetrachtung) 196 ff.

Renaissance 131 ff. Religion 23 ff., 245 ff., 271 ff., 475 ff. Repräsentation 31, 230, 236 ff., 248, 338 f. Reproduktion 31 ff. Rhapsode 224 f. Rhetorik 101 ff. Sakralität 57 f. Schöpfung (creatio) 113 ff. Schönheit (Idee der S.) 25 ff., 110 ff. Schönes 18 ff., 35 ff., 128 ff., 158 ff. Schulphilosophie (der Aufklärung) 198 ff. Sehen (›Theorie des Sehens‹) 124 ff. Sein – Nicht sein 92 f., 126 ff., 332 ff. Seinsfrage 334 ff. Sensus communis (›Gemeinsinn‹) 162 f., 164 ff., 170 ff., 202 ff. Sentimentalisch (sentimentalische Kunst) 219 ff. Sittlichkeit 153 ff. Skulptur 200 ff. Spatium 452 Sprache 70 ff., 94 ff., 113 ff., 204 ff., 365 ff. Sprachlichkeit (der Künste) 204 ff., 365 ff. Stillleben 344 f. Stoa 97 ff. Stoff 47, 223 f., 402 ff. Symbol, Symboltheorie 153 ff. Symbolon 413 f. Symbolisieren 276 ff. System 255 ff. Systemtheorie 433 ff. Tanz 462 ff. Tautegorie 229 ff. Techné 38, 98 Theorie 72 f. Tod der Kunst 259 ff., 352 ff., 375 f. Tragiker 224 f. Tragödie 81 f., 94 f., 138 ff. Tendenz 422 ff. Trend 422 ff.

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Sachverzeichnis Urteil (– Urteilsvollzug) 161 f. Urteilskraft (– reflektierende U.) 158 ff., 182 f. Venus 130 f. Verklärung 377 ff. Verweisen 363 ff. Vorhanden – Zuhanden 383 ff. Wahrheit 92 f., 102 f., 166 f., 300 ff., 366 f. Wasserspiel 189 f.

Welt 330 ff., 340 ff., 386 ff., 394 f. Welterzeugung 340 ff. Werk (Werkcharakter der Kunst) 40 ff. Wissen 439 ff. Wörlitz (Gartenreich) 190 ff. Würde 215 ff. Zahlenmagie 136 f. Zeug 330 f. Zeit, Zeitlichkeit 398 ff., 442 ff. Zeit-Raum 458 ff.

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