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German Pages [352] Year 2013
Martin Klüners
Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0147-5 ISBN 978-3-8470-0147-8 (E-Book) Unter dem Titel »Freud als Geschichtsphilosoph« an der Ruhr-Universität Bochum im Jahre 2012 als Dissertation angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Martin Klüners; zu Erläuterungen zum Titelbild s. Abbildungsnachweis am Ende des Buches Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Freud als Geschichtsphilosoph? Verschüttete Dimensionen und verborgene Seiten einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Psychoanalyse – Geleitwort von Jürgen Straub . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B Hauptteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Philosophie der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Philosophie der Geschichte vor dem Beginn der Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Geschichte und Geschichtskultur . . . . . . . . 1.1.2 Plato . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Philosophie der Geschichte als Geschichtsphilosophie 1.2.1 Voltaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5 Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.6 Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . Krise der Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Burckhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
1.3.3 Droysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.5 Troeltsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Restitution der Geschichte: Universalhistorische Entwürfe . . . . 1.3.6 Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.7 Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.8 Toynbee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie des Zivilisationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.9 Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Posthistoire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.10 Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.11 Horkheimer und Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.12 Foucault, Lyotard und das scheinbare Ende der großen Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie der Geschichte seit dem linguistic turn und die Rehabilitierung der Geschichtserzählung . . . . . . . . . . . . . 1.3.13 Danto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.14 Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.15 White . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.16 Ein ›Antipode‹ der Geschichtsphilosophie: Die Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie und nach Freud: Zusammenfassende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Ambivalenzen und Entwicklungslinien . . . . . . . . . . 2.1.2 Traditionslinien des Unbewußten . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Jüdische Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Freud als Geschichtsphilosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . infantia, pueritia, adolescentia: vorpsychoanalytische Phase (bis 1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Frühzeitige Vertiefungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Ambivalenzen und Umwege: Vom Lust- zum Realitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Der Traum des Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . iuventus: Entstehungsphase der Psychoanalyse (1885 – 1900) . .
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Inhalt
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2.2.4 Die Wiederkehr des Verdrängten: Von der Naturwissenschaft zur naturwissenschaftlich inspirierten Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Freud als Schriftsteller : Von den Fallgeschichten zur Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Das Rätsel der Sphinx: Der Ödipuskomplex als Grundlage psychoanalytischer Anthropologie . . . . . . . gravitas: Mittlere Schaffensperiode (1900 – 1920) . . . . . . . . . 2.2.7 Totem und Tabu (1912/13) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.8 Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) . . . . . . . . . . senectus: Spätwerk (1920 – 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.9 Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) . . . . . . . . 2.2.10 Die Zukunft einer Illusion (1927) . . . . . . . . . . . . . . 2.2.11 Das Unbehagen in der Kultur (1929/30) . . . . . . . . . . 2.2.12 Zur Gewinnung des Feuers (1932) . . . . . . . . . . . . . 2.2.13 Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) 2.3 Freud als Geschichtsphilosoph: Zusammenfassende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . 3.1 infantia: Das Altpaläolithikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 pueritia: Das Jungpaläolithikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 adolescentia: Das Neolithikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 iuventus: Die Bronzezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 gravitas: Die Eisenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 senectus: Die germanische Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Freud als Geschichtsphilosoph? Verschüttete Dimensionen und verborgene Seiten einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Psychoanalyse – Geleitwort von Jürgen Straub
Natürlich kennt man die Psychoanalyse noch, wenigstens dem Namen nach. Sie ist in Gestalt populärer Begriffe und kurzer Redewendungen in vielen Gesellschaften längst in die Bildungs- und Alltagssprache eingesickert. In dieser Schwundform ist sie nach wie vor beinahe allgegenwärtig. Wirklich geläufig ist vieles von dem, was Freud gedacht hat und die weit verzweigte »postfreudianische Psychoanalyse« bis heute zur Sprache bringt, jedoch kaum mehr. Eingehende, differenzierte Beschäftigungen mit psychoanalytischem Gedankengut sind rar geworden. Das gilt für die öffentlichen Diskurse, die sich auf das immer lückenhaftere kommunikative Gedächtnis stützen und das überreiche kulturelle Gedächtnis lediglich sporadisch befragen. Es gilt fast ebenso für wissenschaftliche Debatten und Forschungsprogramme, in denen die Psychoanalyse allenfalls noch vereinzelt eine bemerkenswerte Rolle spielt. In der Regel finden sich bloß noch Restbestände und verwischte Spuren dieser einst so präsenten, viel diskutierten und heiß umkämpften »Psychologie des Unbewussten«. Als Karl Bühler in der 1927 erschienenen Schrift »Die Krise der Psychologie« seiner kritischen Würdigung der Psychoanalyse ein eigenes Kapitel widmete (und Sigmund Freud häufiger zitierte als alle anderen), drehten sich noch zahlreiche Debatten um diese schon seinerzeit überaus vielschichtige und vielgliedrige Strömung. Noch viele Jahrzehnte sollte diese Aufmerksamkeit anhalten – wie auch immer sich die Aspekte und Akzente der regen Diskussionen um die immer wieder skandalisierte Psychoanalyse verschoben. Das hat sich im Laufe der Zeit erheblich geändert: Die Psychoanalyse, so hat man mitunter den Eindruck, gehört im 21. Jahrhundert ins historische Kapitel Minima Marginalia. Vieles ist in Vergessenheit geraten, anderes noch nie hinreichend berücksichtigt und bedacht worden. Dabei kann man, wenn man nur etwas genauer hinsieht, durchaus die Auffassung vertreten, dass die Psychoanalyse nach wie vor eine nicht versiegte Quelle darstellt, sobald es darum geht, ›den‹ Menschen in seinen kreativen und destruktiven Dimensionen zu verstehen (wobei zweifellos
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Geleitwort von Jürgen Straub
auch Destruktives schöpferisch sein kann). Die Psychoanalyse gehört zwar keineswegs in allen, aber zweifellos in zahlreichen modernen Gesellschaften noch immer zu jenen intellektuellen Strömungen und wissenschaftlichen Denkformen, welche es gestatten, ›uns‹ und ›unseresgleichen‹ in origineller Weise zu verstehen. Die Psychoanalyse bildet seit mehr als 100 Jahren den Nährboden für mannigfache Formen des Selbstverstehens und der (nicht allein therapeutisch vermittelten) Selbstformung zahlloser Personen – auch dort, wo von Psychoanalyse gar nicht sonderlich viel die Rede ist. Sie hat zahlreiche psychologische und psychotherapeutische Schulen beeinflusst (nicht lediglich die »tiefenpsychologischen«). Das geschah und geschieht noch immer ganz offensichtlich oder eher unmerklich, ziemlich direkt oder bloß indirekt. Diese Strömung der modernen Psychologie gehört zum Fundament einer Kultur, von der Freud dereinst selbst sagte, sie bereite dem Menschen unweigerlich ein gewisses Unbehagen, weil sie ihm Verzicht abverlange, zumindest den zeitlichen Aufschub und die sublimierende Verwandlung der auf unmittelbare Befriedigung drängenden sinnlichen Wünsche und unendlichen Begehren. Dass Freuds Psychoanalyse auch eine Theorie der Kultur enthält, hört man in unseren Tagen selten genug, aber immerhin noch ab und zu. Dass sie auch eine Theorie der Geschichte anzubieten hat und speziell mit der Tradition des geschichtsphilosophischen Denkens eine untergründige und doch kaum zu übersehende Liaison unterhält, ist die weniger geläufige, interessante und sogar spektakuläre These des vorliegenden Buches von Martin Klüners. Der Autor unternimmt eine aufregende Entdeckungsreise in eine Gegend, die sich auf weiten Strecken als Neuland entpuppt. Freud als einen Geschichtsphilosophen vorzustellen, auf diese ein wenig verwegene Idee wären bislang doch eher wenige gekommen. Wie und warum man diesem originellen Einfall produktiv nachgehen und was dabei herauskommen kann, zeigt die interdisziplinäre Arbeit von Martin Klüners – auch wenn man den Analysen und Argumenten des Autors vielleicht nicht immer zustimmen mag – in eindrucksvoller Weise. Sie erscheint in einer Zeit, in der es um die Psychoanalyse ziemlich still geworden ist, wie eine späte Antwort auf die etwa von Russel Jacoby anfangs der 1980er Jahre so fulminant vorgetragene Diagnose. Jacoby kritisierte damals die (in den Vereinigten Staaten von Amerika maßgeblich bewerkstelligte, bald schon weltweit dominierende) »medikozentrische« Ausrichtung einer strikt als Individualpsychologie verstandenen Psychoanalyse. Klüners demonstriert auf eigene Weise, dass die Psychoanalyse immer schon mehr und anderes war als ein Instrument von ÄrztInnen, die sich um die Heilung des Selbst oder gar die Errettung der modernen Seele bemühen. Er setzt damit einen Kontrapunkt auch noch in unserer Gegenwart: Die Psychoanalyse als eine philosophisch reflektierte Sozial- und Kulturwissenschaft, die als therapeutische Institution nicht nur einzelnen Individuen etwas zu bieten hat, sondern sich mit ihrem aufklä-
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rerischen Anliegen ganz dezidiert an Gemeinschaften, Gesellschaften und Kulturen richtet, ist seit einiger Zeit fast ganz von der Bildfläche verschwunden. Sie ist zu einem Exotikum für ziemlich exzentrische Liebhaber geworden (etwa in der politischen Philosophie von Jacques Derrida, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe oder Slavoj Zˇizˇek, die sich alle auf den höchst einflussreichen Jacques Lacan stützen). So jedenfalls sahen und sehen es die kaum mehr interessierte Öffentlichkeit sowie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zumal in der akademischen Psychologie und verwandten Disziplinen. Das war bekanntlich einmal anders. Man denke nur an die Tradition des Frankfurter Instituts für Sozialforschung oder an das noch heute eindrucksvolle Werk Alexander Mitscherlichs, des ersten Direktors des ebenfalls in Frankfurt am Main angesiedelten Sigmund Freud Instituts: die »Unfähigkeit zu trauern«, die »vaterlose Gesellschaft« oder die »Unwirtlichkeit unserer Städte« sind lediglich Beispiele für eine – nicht zuletzt am kollektiven Geschichtsbewusstsein ›arbeitende‹ – psychoanalytische Sozialforschung und Kulturanalyse, deren zeitdiagnostische Kraft sogar die breite Öffentlichkeit anhaltend beschäftigte. Später reihte sich etwa Alfred Lorenzers »Tiefenhermeneutik« in diese Tradition ein. Weitere Beispiele gab es hierzulande und anderswo (auch außerhalb der Psychologie, wie etwa die Ethnopsychoanalyse bezeugt). All das war ganz im Sinne des revolutionären Begründers der Psychoanalyse. Martin Klüners erinnert auch daran. Sigmund Freud verstand seine neue Lehre als einen besonders wichtigen Teil der wissenschaftlichen Psychologie. Er sah in ihr sogar deren Fundament, eine Art auf das »Unbewusste« fokussierten »Unterbau« einer Psychologie, in der das Seelenleben des Menschen ohne große Scheu und falsche Scham seziert werden konnte. Dabei sprengte er von Anfang an – also keineswegs nur in seinem Spätwerk – den theoretischen und methodischen Rahmen der Individualpsychologie. So artikulierte er mit unverhohlenem Selbstbewusstsein Ansprüche und Aussichten, von denen heute meist nur noch wenig zu spüren ist. Freud resümierte in seiner 1926 publizierten Schrift »Die Frage der Laienanalyse«: »Der Gebrauch der Analyse für die Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist. Jedenfalls wäre es unbillig, der einen Anwendung alle anderen zu opfern, bloß weil dieses Anwendungsgebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt.« Martin Klüners’ Buch greift diese Ansicht und Ambition auf. Dabei ist der Autor heute zwar eine Ausnahme, aber dennoch nicht mehr ›ganz allein auf weiter Flur‹. Es gab gerade in den allerletzten Jahren ein paar bemerkenswerte Initiativen, die bereits dazu beigetragen haben, der Psychoanalyse (in vielen ihrer Spielarten) neue Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das geschah nicht allein (und durchaus unerwartet) in den Neurowissenschaften. Man denke etwa an die
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Geleitwort von Jürgen Straub
Gedächtnisforschung eines Eric Kandel, die mit einigen Bestätigungen psychoanalytischer Theoreme und Einsichten aufwartete (und sich jedenfalls mit der von vielen lange Zeit nur noch als überaltert und überholt angesehenen Psychoanalyse befasste und noch beschäftigt, so dass sich einschlägige Kooperationen zwischen den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse bereits fest etabliert haben). Darüber hinaus gibt es noch zarte, aber dennoch schon unübersehbare Anzeichen einer Rehabilitierung (und Erneuerung) der Psychoanalyse als Sozialund Kulturwissenschaft. So wurden in jüngerer Zeit von mehreren Institutionen und Personen interdisziplinäre Arbeitsgruppen eingerichtet, in der PsychoanalytikerInnen zusammen mit Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen die Grenzen der medikozentrischen Psychologie beherzt überschreiten und sich mit Musik und bildender Kunst, mit Literatur und Filmen (gerade auch mit ›populären‹ Erzeugnissen, so dass sich auch hier die Einflüsse des Cultural StudiesAnsatzes bemerkbar machen), mit profanen Alltagspraktiken und sakralen Orten und Dingen, Gebäuden und religiösen Ritualen beschäftigen – und mit vielem anderen mehr, mit Phänomenen, die in der Regel nichts mit ›psychischen Störungen‹ von Einzelnen und entsprechend therapiebedürftigen Individuen zu tun haben. Nicht zuletzt das Programm der unlängst gegründeten International Psychoanalytic University zu Berlin spricht diesbezüglich eine klare Sprache. Ohne den bleibenden Stellenwert der Individualpsychologie und speziell einer am Individuum orientierten Psychoanalyse, Klinischen Psychologie und Psychotherapie zu bestreiten, macht man sich in jüngster Zeit an mehreren Orten daran, die Grenzen des psychoanalytischen (und generell des psychologischen) Denkens wieder etwas auszuweiten. Man nähert diese Disziplin (und ihre Subdisziplinen) wieder stärker den anderen Sozial- und Kulturwissenschaften an. Man beratschlagt sich wieder öfter mit der Philosophie. Dieser Vorgang ist unabgeschlossen. Klüners’ Arbeit gehört mitten in dieses Feld und Geschehen. Der Autor präsentiert Sigmund Freud, durchaus überraschend, als einen Geschichtsphilosophen. Dabei bemüht er einen Begriff der »Geschichtsphilosophie«, der die (bereits im 19. Jahrhundert vollendete) Kritik am geschichtsphilosophischen Denken berücksichtigt und sich auch mit ihren »Schwundstufen« auseinandersetzt (im Anschluss an Odo Marquards bekannte Studien zur idealistischen Naturphilosophie, zum »fortschrittstheoretischen Positivismus«, etc.). Klüners rückt Freud meines Erachtens völlig zu Recht in die Nähe von Autoren, die das »Denken von Geschichte«, mithin das »Denken von Zeit«, ins Zentrum ihrer Bemühungen gestellt haben. Bei Freud führte das bekanntlich zu einer radikalen Temporalisierung einer dynamisierten Psyche, deren prinzipiell konflikthafte Struktur ohne Rekurs auf ihre lebensgeschichtliche Gewordenheit unverständlich bliebe. Freuds radikal ›verzeitlichte‹ Seele kennt eine unentwegt sich wandelnde Vergangenheit, die nicht vergehen will. Freud dachte
Freud als Geschichtsphilosoph?
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als eine Art ›Historiker der Seele‹ – in phylogenetischer und ontogenetischer Perspektive. Die Psychoanalyse kann man mit Fug und Recht zu den historischen Wissenschaften zählen. Sie trug zu zahlreichen Neuerungen in der Theorie der Geschichte und Lebensgeschichte und in der methodischen Erforschung geschichtlicher Phänomene bei. Die Psychoanalyse dachte von Anfang an durch und durch geschichtlich. Klüners erläutert und begründet das eingehend. Nachdem er Freud (unter dem besagten Gesichtspunkt!) in die geistige Nähe von Droysen, Dilthey und Troeltsch gerückt hat, konstatiert er (ohne erhebliche Differenzen zwischen diesen und vielen weiteren, zutiefst historisch denkenden Köpfen zu verkennen) mit den Worten Ulrich Wehlers: »Die Psychoanalyse ist eine historische Wissenschaft, indem sie aus der Lebensgeschichte der Individuen die Grundlage ihrer Diagnose und Therapie gewinnt«. Auch andere Motive teilte der erste Psychoanalytiker bereits mit den Repräsentanten des Historismus (etwa das Motiv einer aufklärerischen »Entzauberung«). Klüners referiert sehr kenntnisreich, dass Freud (in anderen Disziplinen wie etwa der Ethnologie oder Soziologie) in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchaus als Erbe einer verwandelten Geschichtsphilosophie und sodann als neuartiger Vertreter einer aufklärerischen, dezidiert sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten »Hermeneutik des Verdachts« (wie Paul Ricœur auch die Psychoanalyse nannte) rezipiert wurde. Das blieb noch eine ganze Weile so, sodass die Psychoanalyse gerade auch in dieser Spielart bis in die 1970er Jahre hinein durchaus en vogue war (in verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß). Daran änderte die Tatsache, dass die Psychoanalyse gerade in der Geschichtswissenschaft nicht wirklich ankam, nichts. Das ist noch immer so, obwohl die Psychoanalyse, wie Klüners an zahllosen Beispielen darlegt, gerade mit dieser Disziplin eng verwandt ist. Sie ist wegen ihres notwendigen Bezugs auf die Begriffe der »Zeit« und »Geschichte« sowie, damit verwoben, auf das Konzept und die Praxis der »Erzählung« eine historisch-narrative Disziplin. Martin Klüners zeigt all das überzeugend – und liefert zahlreiche weitere Anregungen für eine gründliche Auseinandersetzung mit Freuds auf »Geschichte« bezogenem, eben sogar dezidiert geschichtsphilosophischem Denken. Der Autor vollbringt das in drei umfangreichen Kapiteln, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden muss. Wenn dieses kurze Geleitwort die Neugier auf die Lektüre dieser lehrreichen Lektionen steigern könnte, so wäre sein Zweck erfüllt. Wie gesagt: wohl kaum jemand wird allen Diagnosen und Analysen, sämtlichen Bekenntnissen und Behauptungen, die im vorliegenden Buch formuliert werden, zustimmen können und alle Bewegungen, die der Autor in seinem suchenden Denken vollzieht, nachvollziehen mögen. Eines jedoch scheint mir unstrittig: Klüners meldet sich mit seiner außergewöhnlichen Dissertationsschrift als origineller, individueller Autor zu Wort, der nicht mit dem Strom schwimmt und dennoch zu höchst
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Geleitwort von Jürgen Straub
aktuellen Fragen etwas Interessantes zu sagen hat. Er liefert zweifellos neue Impulse. Klüners gibt fast nirgends einfach bloß wieder, was andere vor ihm auch schon wussten und sagten – er tut dies zwar auch, gewiss, ergänzt und erweitert den Blick aber stets. Er nimmt in vielfach höchst anregender Weise jene geschichtliche, geschichtstheoretische und geschichtsphilosophische Dimension in den Blick, welche die Psychoanalyse als Subjekt-, Sozial- und Kulturwissenschaft auszeichnet. Martin Klüners verwickelt in seinem ›virtuellen Gespräch mit Freud‹ immer wieder Strömungen und Positionen, die bislang kaum voneinander Notiz genommen haben, in einen spannenden (und manchmal spannungsgeladenen, entsprechend schwierigen) Dialog. Schon allein das scheint mir ein wichtiges Verdienst, das es rechtfertigt, dem vorliegenden Buch eine breite Leserschaft zu wünschen. Wenn deren Anerkennung einer originellen wissenschaftlichen Leistung kritische Anfragen an den Autor einschließt, kann das eine geschichtstheoretisch versierte und sogar geschichtsphilosophisch ambitionierte, sozial- und kulturwissenschaftliche Psychoanalyse nur weiter voranbringen. Auch dieser Fortschritt käme in der gegenwärtigen Lage gewiss sehr gelegen.
Vorwort
Die vorliegende Studie ist aus einer Dissertation hervorgegangen, die ich im September 2011 unter dem Titel Freud als Geschichtsphilosoph an der RuhrUniversität Bochum eingereicht habe und die, ihrem interdisziplinären Charakter entsprechend, dort an zwei Fakultäten zugleich begutachtet wurde: der Fakultät für Sozialwissenschaft und der Fakultät für Geschichtswissenschaft. Insbesondere meinem Doktorvater Jürgen Straub danke ich für die Betreuung und für wertvolle Hinweise sowie außerdem für seine freundlich-ausführlichen Worte zum Geleit dieses Buches, ihm und der Zweitgutachterin Ilse Lenz darüber hinaus auch für ihr persönliches Engagement, mit dem sie mir als studiertem Historiker eine fachfremde Promotion an ihrer Fakultät ermöglicht haben. Lucian Hölscher hat dankenswerterweise das verlangte Drittgutachten aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive übernommen. Allen drei Genannten sowie den beiden weiteren Mitgliedern der Promotionskommission, Katja Sabisch und Pradeep Chakkarath, möchte ich überdies meinen Dank für die ebenso angenehme wie anregende Atmosphäre während meiner mündlichen Prüfung im Februar 2012 aussprechen. Ein zweijähriges Promotionsstipendium, das mir die Gerda Henkel-Stiftung im Zeitraum von Februar 2009 bis einschließlich Januar 2011 gewährte, erlaubte die Konzentration auf das Forschungsvorhaben in der genannten Zeit, ohne welche die Arbeit nicht in dieser Geschwindigkeit hätte vonstatten gehen können. Die Gerda Henkel-Stiftung beteiligte sich außerdem in großzügiger Weise an den Druckkosten des vorliegenden Buches. Der Verlag V& R unipress hat, nicht zuletzt durch ein vergleichsweise kostengünstiges Angebot, die Voraussetzung für eine zügige, unbürokratische Veröffentlichung meines Textes geschaffen, so daß dieser nun genau hundert Jahre nach der Publikation des letzten von Freuds vier Totem und Tabu-Aufsätzen erscheinen kann. Vor allem bei Anna Barkhoff möchte ich mich für die gute Zusammenarbeit bedanken. Meine Eltern Iris und Klaus-Dieter Klüners haben mir bei der Durchsicht des Manuskripts geholfen; ihnen sowie den vielen Freunden und Bekannten, die
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Vorwort
mich während meiner Promotion auf ganz unterschiedliche Weise – bei inhaltlichen Fragen, technischen Problemen oder schlicht bei meinem Bedürfnis nach Ablenkung von der nicht immer auf gleich hohem Niveau inspirierenden Schreibtischarbeit – unterstützt haben, sei hier noch einmal von ganzem Herzen gedankt. Köln, im April 2013
Martin Klüners
A Einleitung
»[P]sychoanalytische Begriffe gehören in die Philosophiegeschichte und haben philosophische – nämlich geschichtsphilosophische – Relevanz. Sie sind philosophische Begriffe mindestens deswegen, weil sie philosophische Begriffe waren, ehe sie zu psychoanalytischen Begriffen wurden, und weil erstaunlich an ihnen nicht dies ist, daß sie zu philosophischer Geltung drängen, sondern umgekehrt dies: daß sie aufhören konnten, philosophische Geltung zu haben. Die psychoanalytische Theorie darf daher nicht als Gegensatz, sie muß vielmehr als ein bestimmter Zustand der Geschichtsphilosophie begriffen werden…«1
Spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat die hohe Zeit der Geschichtsphilosophie ihr Ende gefunden. Die vor allem von den Denksystemen des deutschen Idealismus, in denen Geschichtsphilosophie ›klassisch‹ wurde2, präsentierte Vorstellung einer geschichtlichen Vernunft gilt nunmehr als reine Kopfgeburt, deren Bezüge zur Realität als immer fragwürdiger empfunden werden; denn Vernunft, das scheint nicht zuletzt die Geschichte selbst zu bestätigen, ist eigentlich schwach. An der Stelle der einst mächtigen Geschichtsphilosophie etablieren sich im Zuge eines allgemeinen Paradigmenwechsels jetzt Schwundstufen derselben, so in erster Linie die positivistische Fortschrittstheorie, die auf revolutionäre Zielsetzungen verzichtet und Fortschritt nur noch als solchen der Wissenschaften und Technologien gestattet. Aber schon die von bedeutenden Vertretern des deutschen Idealismus selbst – namentlich besonders von Schelling – entwickelte Naturphilosophie war, als sie geschichtsphilosophische Fragestellungen in naturphilosophische umformte, ihrerseits eine Schwundstufe der Geschichtsphilosophie3 ; denn die Schwäche, ja Ohnmacht der Vernunft konstituiert 1 Marquard, Odo, 1982: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 394). Frankfurt/M. Neuaufl., 24. 2 Angehrn, Emil, 1991: Geschichtsphilosophie. (Grundkurs Philosophie, 15). Stuttgart u. a., 76 – 104. 3 Marquard 1982, 24 f. Siehe auch: Ders., 1973: Die Geschichtsphilosophie und ihre Folgelasten. In: Koselleck, Reinhart/Stempel, Wolf-Dieter (Hgg.), 1973: Geschichte – Ereignis und Erzählung. (Poetik und Hermeneutik, 5). München, 463 – 469 (hier: 467 f.).
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Einleitung
»die Macht des zur Vernunft Anderen, die Macht der Natur«4. Mit Schelling stirbt 1854 der letzte große Philosoph des deutschen Idealismus; kaum zwei Jahre später wird Sigmund Freud geboren. Die Lehre, die er begründet, aber ist – so die von Odo Marquard formulierte und auch hier zugrundegelegte These – »die entzauberte Gestalt« der Naturphilosophie5 – die entzauberte Gestalt einer Schwundstufe der Geschichtsphilosophie also und damit letztlich selbst eine Schwundstufe der Geschichtsphilosophie. Eine Schwundstufe freilich, die von ihrem Schwundstufendasein und geschichtsphilosophischen Erbe zunächst nichts weiß: Freuds Idol heißt nicht Hegel, sondern Darwin. Das geschichtliche Entwicklungsmodell, das ihn beeinflußt, ist nicht das des Weltgeistes, sondern das des Evolutionismus. Und doch läßt sich in einem weiteren Sinne, aller vermeintlichen Philosophieferne der aus medizinischer Beobachtung hervorgegangenen Psychoanalyse zum Trotz, Freud als Geschichtsphilosoph begreifen: Wo Geschichtsphilosophie in ihrer klassischen Form nicht mehr möglich ist, übernehmen andere Theorien vordem geschichtsphilosophische Aufgaben, sei es in direkter Auseinandersetzung mit einem obsolet gewordenen Konzept, sei es – wie auch im Falle der Psychoanalyse – im Sinne einer gewissermaßen unbewußten Erinnerungsspur. Freud ist Zeitgenosse Droysens, Diltheys und Troeltschs; so sehr sich die Zielsetzungen des Arztes auf den ersten Blick von denjenigen der Theoretiker des Historismus unterscheiden mögen, so ähnlich ist umgekehrt der unabhängig voneinander entwickelte Verstehensbegriff. Die Psychoanalyse selbst ist »eine historische Wissenschaft«, indem »sie aus der Lebensgeschichte der Individuen die Grundlagen ihrer Diagnose und Therapie gewinnt«6. Gemein ist Psychoanalyse und Historismus ferner das Moment der Entzauberung: Ebenso wie die Naturwissenschaft, in welcher auch die Psychoanalyse wurzelt, eine Entzauberung der Naturphilosophie, so stellt die sich zeitgleich professionalisierende Geschichtswissenschaft eine Entzauberung der Geschichtsphilosophie dar. Was nun aber diese letztere Entzauberung der Geschichtsphilosophie durch die Geschichtswissenschaft angeht, so führt die Konzentration aufs Faktische bald zu einer Beschränkung aufs Partielle; die einst von der Geschichtsphilosophie betriebene Große Erzählung wird stillschweigend aus der Geschichtswissenschaft ausgegliedert und den Sozialwissenschaften überlassen7. Ernst Troeltsch beklagt die daraus resultierende 4 Marquard 1982, 91. Siehe auch ebd., 103. 5 Marquard 1982, 24. Vgl. außerdem das Kapitel Ambivalenzen und Entwicklungslinien im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit. 6 Wehler, Hans-Ulrich, 1971b: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse. In: Ders. (Hg.), 1971: Geschichte und Psychoanalyse. (Pocket, 25). Köln, 9 – 30 (hier: 19; meine Hervorhebung). Vgl. auch das Droysen-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 7 Osterhammel, Jürgen, 2009: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München. 4. Aufl., 14 sowie Middell, Matthias, 2008: Neue Trends der Weltgeschichtsschreibung. In: Eichhorn, Wolfgang/Küttler, Wolfgang (Hgg.), 2008: Was ist Geschichte? Aktuelle Entwicklungstendenzen von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft.
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Mißachtung größerer Entwicklungszusammenhänge und rehabilitiert im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wieder geschichtsphilosophische Spekulationen über Sinn und Ziel der Geschichte8. Er vertritt Ansätze zu einer historisch ausgerichteten Soziologie, zur Kultursoziologie9, und ist damit freilich näher an einem u. a. auch von Max Weber repräsentierten Forschungsmodell als an der kritisierten Seminarhistorie. Die Soziologie, die Ethnologie und die Kulturtheorie bieten sich, im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft, verstärkt als die eigentlichen Nachfolgekonzepte der Geschichtsphilosophie dar – und der späte Freud, der immer mehr von der Individual- zur Kulturanalyse übergeht, betätigt sich auf ebendiesen Gebieten. Soziologie und Ethnologie sind in diesem frühen Stadium ihrerseits noch eng mit Sozialphilosophie und -psychologie verknüpft10 ; diesen gemeinsamen Berührungspunkten verdankt sich, bei allen anfänglichen Vorbehalten – die zumindest für die Zeit vor 1933 die Rede von einer »mißglückte[n] Rezeption« gerechtfertigt erscheinen lassen11 – die im Vergleich zur Geschichtswissenschaft ungleich größere Rezeption der Psychoanalyse durch vorgenannte Disziplinen. So stößt Freuds erster größerer Versuch im Bereich der Kulturanthropologie, die 1912 erschienene Abhandlung Totem und Tabu12, in der Ethnologie auf große Resonanz, und »die Entwicklungen und Ergebnisse der ethnologischen Forschungen« zeitigen wiederum »einen unübersehbaren Einfluß auf die deutsche Soziologie«, weshalb letztere auch die diesbezüglichen Interpretationen »der Psychoanalyse zur Kenntnis nehmen und damit zu Freuds Thesen […] Stellung beziehen
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(Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, 19). Berlin, 181 – 202 (hier: 181). Middell konstatiert jedoch zugleich eine aktuelle Renaissance der Universalgeschichtsschreibung im Zuge der Globalisierung (ebd., 182 f.). Vgl. das Troeltsch gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit mit den dortigen Literaturhinweisen. Brauns, Hans-Dieter, 1981: Die Rezeption der Psychoanalyse in der Soziologie. In: Cremerius, Johannes (Hg.), 1981: Die Rezeption der Psychoanalyse in der Soziologie, Psychologie und Theologie im deutschsprachigen Raum bis 1940. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 296). Frankfurt/M., 31 – 133 (hier : 37). Der Rezeption durch die Philosophie im selben Zeitraum widmet sich eine eigene Monographie: Scheidt, Carl, 1986: Die Rezeption der Psychoanalyse in der deutschsprachigen Philosophie vor 1940. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 589). Frankfurt/M. Brauns 1981, 36 bzw. 40 sowie 42. So Cremerius, Johannes, 1981a: Einleitung des Herausgebers. In: Ders. (Hg.), 1981: Die Rezeption der Psychoanalyse in der Soziologie, Psychologie und Theologie im deutschsprachigen Raum bis 1940. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 296). Frankfurt/M., 7 – 29 (hier : 8). Die Gründe der Ablehnung besaßen nach Cremerius hauptsächlich affektiven Charakter (ebd., 12). Freud, Sigmund: Totem und Tabu. In: Ders., 1940 ff.: Gesammelte Werke IX. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland, herausgegeben von Anna Freud u. a. London. Im Folgenden werden Freuds Gesammelte Werke zitiert als GW, ergänzt durch Bandangabe in römischen und Seitenzahl in arabischen Ziffern.
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[muß]«13. Bedeutender noch als seine Überlegungen aus Totem und Tabu wird für die Auseinandersetzung der Soziologie mit der Psychoanalyse allerdings Freuds einzige im engeren Sinne soziologische Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse14, die, 1921 veröffentlicht, einen Beitrag leistet zur in der Soziologie nach den revolutionären Erfahrungen in Rußland und Westeuropa äußerst populären Theorie der Massen15. Erst die marxistische Gesellschaftstheorie jedoch – in Gestalt des seit 1929 von Max Horkheimer geleiteten Frankfurter Instituts für Sozialforschung – bemüht sich um eine tatsächliche Integration, ja Appropriation der großes ideologiekritisches Potential bergenden Psychoanalyse: Dieses Ziel intensiver seit der Exilierung ihrer Mitarbeiter in die USA – ein Land, in dem die Psychoanalyse sich schon vor deren Ankunft in Form einer eigenen psychoanalytischen Gesellschaft und sogar an Universitäten etabliert, ein vergleichsweise früher Dialog von Soziologie und Psychoanalyse stattgefunden hat – , vorantreibend, bleibt die Frankfurter Schule darüber hinaus auch nach der Rückkehr ihrer Mitglieder »[b]is in die 60er Jahre hinein […] die einzige Gruppe von westdeutschen Soziologen, die explizit eine Integration der Psychoanalyse« beabsichtigen16. Den Wirkungen der Studentenbewegung am Ende besagten Jahrzehnts wird es zugeschrieben, daß die Psychoanalyse sich seitdem als Therapie wie als Theorie in Deutschland behauptet und »erheblichen Einfluß auf die Sozialwissenschaften, speziell auch die Soziologie«, gewonnen habe; parallel hierzu sei auch die Psychoanalyse selbst »offener« geworden »für soziale und soziologische Fragestellungen«17. Zugleich streben psychoanalytische Begriffe, die, wie im einleitenden Zitat von Marquard bereits dargelegt, einst philosophische Begriffe waren, erneut nach philosophischer Gültigkeit18. 13 Brauns 1981, 43. Zu den Pionieren der Rezeption der Psychoanalyse durch die Ethnologie zählen u. a. Bronislaw Malinowski und Margaret Mead. 14 GW XIII, 71 – 161. 15 Brauns 1981, 44. 16 Brauns 1981, 54 f. Hierzu auch Ipperciel, Donald, 1996: Freud als Aufklärer. Zur Rezeption der Freudschen Psychoanalyse in der Frankfurter Schule. (Europäische Hochschulschriften, Reihe 20, 509). Frankfurt/M. u. a. Unabhängig von der Frankfurter Schule, aber dennoch schon zeitgleich mit deren frühesten Arbeiten auf genanntem Gebiet entstehen die freilich erst relativ spät rezipierten Verknüpfungen soziologischer und psychoanalytischer Theorien durch den seit 1933 im Exil lebenden Norbert Elias (Elias, Norbert, 1969: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Bern/ München. 2. Aufl.). 17 Brauns 1981, 32. Auf eine Periode des »Freud-Bashing[s]« in den 1980er und 1990er Jahren folgt aktuell wieder eine vermehrte Anerkennung von Freuds Verdiensten (Ermann, Michael, 2010: Psychoanalyse heute. Entwicklungen seit 1975 und aktuelle Bilanz. (Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik). Stuttgart, 14 f.). 18 In seiner erst 1987 veröffentlichten, aber bereits 1960 – 62 verfaßten Habilitation beschreibt Marquard den damaligen ›Psychologismus‹ und benennt dessen Gründe wie folgt: »[…] der ›zweite Psychologismus‹, also die heutige allgemeine Wirksamkeit der Psychoanalyse, ist die entzauberte Wiederkehr der naturphilosophischen Wendung des deutschen Idealismus und
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Sehr viel schwerer hingegen tut sich bekanntlich die deutsche Geschichtswissenschaft mit der Rezeption psychoanalytischer Theorie: Erst die Öffnung für Probleme der Sozialwissenschaften sowie das Beispiel der amerikanischen und der französischen Geschichtswissenschaft, in der schon seit den 1950er Jahren über die Bedeutung der Lehre Freuds und seiner Nachfolger für die eigene Forschung diskutiert wird19, führen zu einer diesbezüglichen Auseinandersetzung unter der Federführung und Herausgeberschaft Hans-Ulrich Wehlers. Doch ist dieser Vorstoß im Ergebnis keine echte Annäherung, sondern vielmehr »ein Akt der Distanzierung«20 : Die »überwiegend individualpsychischen Kategorien« besäßen, so Wehler, Relevanz allenfalls für die zumindest innerhalb der Geschichtswissenschaft ohnehin an den Rand gedrängte Biographieforschung21, kaum aber für die postulierte historische Sozialpsychologie; »vor einer Überschätzung der Psychoanalyse durch die historische Sozialwissenschaft« müsse daher »gewarnt werden«22. Ein Vierteljahrhundert später wird Wehlers Kom-
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so eine Form des auf skeptische Weise praktisch gemachten deutschen Idealismus.« (Marquard, Odo, 1987: Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. (Schriftenreihe zur philosophischen Praxis, 3). Köln, Vorwort, XI) Wehler, Hans-Ulrich, 1971a: Vorwort. In: Ders. (Hg.), 1971: Geschichte und Psychoanalyse. (Pocket, 25). Köln, 7 f. (hier: 7). Straub, Jürgen, 1998: Psychoanalyse, Geschichte und Geschichtswissenschaft. Eine Einführung in systematischer Absicht. In: Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen (Hgg.), 1998: Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1403). Frankfurt/M., 12 – 32 (hier : 13; Hervorhebung im Original). Wehler 1971a, 7. Daß sich die Biographieforschung jenseits der Geschichtswissenschaft hingegen als wichtiger Forschungsbereich etablieren konnte, beschreibt Straub in der Einleitung zu seiner Dissertation (Straub, Jürgen, 1989: Historisch-psychologische Biographieforschung. Theoretische, methodologische und methodische Argumentationen in systematischer Absicht. Mit einem Vorwort von Heiner Legewie. Heidelberg, 4 f.). Selbst innerhalb der Geschichtswissenschaft behauptete die Biographieforschung, beispielsweise in Gestalt des Oral History-Ansatzes, nur wenige Jahre nach Wehlers diesbezüglichen Ausführungen schon wieder eine gewisse Geltung (ebd., Anm. 1). Unter den psychoanalytisch ausgerichteten Biographien erlangte vor allem die 1958 erschienene Abhandlung Young Man Luther des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Erikson disziplinübergreifende Anerkennung (dt. Ausgabe: Erikson, Erik H., 1958: Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie. Übersetzt von Johanna Schiche. München). Auch deutsche Historiker integrieren übrigens gerade in jüngerer Zeit wieder psychoanalytische Erkenntnisse in ihre biographischen Studien (so z. B. Kunisch, Johannes, 2004: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München sowie Radkau, Joachim, 2005: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München/Wien). Wehler 1971a, 7. An dieser Stelle sei angemerkt, daß die Debatte nach Wehlers verhaltenem Vorstoß natürlich nicht verstummt ist. Bereits 1973 »vermißt« Dirk Blasius bei Wehler »das Aufzeigen einer weiterzuentwickelnden Perspektive« und fordert seinerseits eine »Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse«, von welcher »eine kritische Gesellschaftsgeschichte insofern profitieren [kann], als sie auf den historischen Wandel von seelischen Krankheiten und deren Erfassung verwiesen wird« (Blasius, Dirk, 1973: Psychoanalyse – eine »historische« Wissenschaft? In: Neue politische Literatur. Berichte über das internationale Schrifttum 18 (4), 453 – 468 (hier: 460 bzw. 464)). Ebenfalls in den 1970er Jahren stellt Lloyd
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mentar indes als »überholt« beurteilt; »eine Neubestimmung« sei angesichts aktueller »Entwicklungen und Tendenzen in der psychoanalytischen Forschung« sowie »der allgemeinen Diskussion theoretischer und methodologischer Probleme in den Geschichts- sowie anderen Sozial- und Kulturwissenschaften« geboten. »Die Potentiale der Psychoanalyse« würden »allenfalls ansatzweise genutzt«23, es bestehe aber grundsätzlich »ein großes Forschungs- und Wissensdefizit hinsichtlich der nicht-intentionalen, nicht willentlich gesteuerten mentalen Prozeduren des Geschichtsbewußtseins, des Unbewußten«24. Aller Skepsis und allen Vorbehalten zum Trotz sei eine psychoanalytisch ausgerichtete Untersuchung geschichtlicher Wirklichkeiten, »eine historische Psychoanalyse«, ein bislang noch nicht eingelöstes Desideratum25. Die Erforschung des Holocaust und durch DeMause in den USA die in der Folge auch international beachteten Ergebnisse seiner noch jungen ›psychohistorischen‹ Forschung vor (dt. Ausgaben: DeMause, Lloyd, 1977 (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Übersetzt von Ute Auhagen u. a. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 339). Frankfurt/M.; Ders., 1979: Über die Geschichte der Kindheit. Übersetzt von Renate und Rolf Wiggershaus. (Bibliothek Suhrkamp, 633). Frankfurt/M.; Ders., 1989: Grundlagen der Psychohistorie. Psychohistorische Schriften. Herausgegeben und übersetzt von Aurel Ende. (Edition Suhrkamp, 1175). Frankfurt/M.) Kritisch zur Psychohistorie äußert sich wiederum Wehler (Wehler, HansUlrich, 1980a: Geschichte und Psychohistorie. In: Ders. (Hg.), 1980: Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft. Göttingen, 95 – 105). Weder der einen noch der anderen Fraktion so recht zuordnen läßt sich Peter Gay mit seinem 1985 erschienenen Freud for Historians (dt. Übersetzung: Gay, Peter, 1994: Freud für Historiker. Übersetzt von Monika Noll. (Forum Psychohistorie, 2). Tübingen). 23 Straub 1998, 24. 24 Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen, 1998a: Vorwort. In: Dies. (Hgg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1403). Frankfurt/M., 9 – 11 (hier : 10). 25 Straub 1998, 12. Straub bescheibt ausführlich und anschaulich die Probleme und Widrigkeiten und die Vorbehalte vor allem der Geschichtswissenschaft gegenüber der Psychoanalyse und nennt allein zehn allgemein und nicht nur in der Geschichtswissenschaft gängige Einwände gegen sie (Straub 1998, 17 – 22). Dazu zählt auch der einer fehlenden »Historisierung der theoretischen Begrifflichkeit« (ebd., 20, Hervorhebung im Original; dieser Einwand auch bei Cremerius 1981, 9 f.). Reinhart Koselleck übernimmt einen der zentralen Kritikpunkte Wehlers und bezeichnet es als »unmöglich, das psychoanalytische Instrumentarium aus der individuellen Therapie in die gesellschaftliche Diagnose oder gar in die historische Analyse zu übernehmen, da das zu therapierende Subjekt nicht als Individualität definierbar ist«, hält aber den »metaphorische[n] Gebrauch« für zulässig (Koselleck, Reinhart, 1995: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 757). Frankfurt/M. 3. Aufl., 297). Auch Moshe Zuckermann wiederholt noch im Jahre 2004 das vermeintliche Problem, Kategorien wie Verdrängung, Rationalisierung etc. »in der überindividuellen Theoriebildung« anzuwenden – lobt aber zugleich den von ihm als gelungen bewerteten Versuch der Frankfurter Schule, »Kategorien makrosoziologischer Gesellschaftsanalyse und strukturalisierender Geschichtsschreibung mit zentralen Kategorien der Psychoanalyse zu verknüpfen« (Zuckermann, Moshe, 2004a: Editorial. In: Ders. (Hg.), 2004: Geschichte und Psychoanalyse. (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 32). Göttingen, 9 – 11 (hier: 9). Dieser sich hartnäckig haltende Vor-
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selbigen hervorgerufener transgenerationaler Traumatisierungen bereite mannigfaltige Schwierigkeiten psychologischer Natur, die praktisch nur mit Hilfe der Psychoanalyse gelöst werden könnten26. Jan Assmann bringt die seit den 1980er Jahren »[n]ach jahrzehntelanger Latenzphase« wiederkehrende Erinnerung an den Holocaust in Zusammenhang mit der ebenfalls nach jahrzehntelanger Latenzphase einsetzenden Renaissance von Freuds letztem kulturtheoretischen Essay Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in welchem Freud die »auf der Ebene der Individualpsychologie entwickelte Neurosentheorie auf die Massenpsychologie« überträgt27. Das Comeback dieses fast vergessenen – oder auch verdrängten – Textes markiert außerdem eine Wende in der Rezeptionsgeschichte der Freud’schen Kulturtheorie, welcher lange Zeit selbst innerhalb der Disziplin der Psychoanalyse größere Aufmerksamkeit und damit auch entsprechende Würdigung versagt blieb28, wenngleich durch die verstärkte Aufnahme des Œuvres von Jacques Lacan, ebenfalls seit den 1980er Jahren, eine gewissermaßen ›indirekte‹ Wiederentdeckung auch der psychoanalytischen Kulturtheorie eingetreten ist29. Vor allem die Gedächtnisgeschichte interessiert sich dabei für schon
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wurf einer unzulässigen Übertragung angeblich rein individualpsychischer Kategorien auf die Sozialpsychologie müßte sich dagegen schon bei der Lektüre der Einleitung zu Freuds bereits erwähnter Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse relativieren – ausdrücklich geht Freud dort auf die genannte Problematik ein und erläutert ausführlich, weshalb Individualpsychologie immer schon Sozialpsychologie ist (GW XIII, 73 – 75). Überdies ist es das besondere Verdienst von Norbert Elias, den Scheingegensatz von Individuum und Gesellschaft dahingehend aufgelöst zu haben, als er beide »als integrale Momente interdependenter Entwicklungsprozesse« begreift (Lilienthal, Markus, 2001c: Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation (1937 – 39). In: Gamm, Gerhard/Hetzel, Andreas/Lilienthal, Markus, 2001: Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie. (Reclams Universal-Bibliothek, 18114). Stuttgart, 134 – 147 (hier: 136); vgl. das Elias-Kapitel der vorliegenden Arbeit). Zu ergänzen wäre sicher noch die Tatsache, daß auch Individuen keine monolithischen Blöcke sind; die für die Gesellschaft typischen Ambivalenzen finden sich schon im Individuum. Ausgerechnet Koselleck liefert im übrigen mit »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« (Koselleck 1995, 349 – 375) zwei Begriffe, die den Ausgangspunkt für die PsychoAnalyse gesellschaftlicher Kollektive bilden könnten (Straub 1998, 16 f.): Ihnen entspricht auf psychologischer Ebene die Beziehung von psychosozialer Prägung und daraus resultierenden Wünschen, die zu bestimmten Zeiten einer Vielzahl von Menschen gemeinsam sind. Straub 1998, 22. Assmann, Jan, 2004: Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis. In: Psyche 58, 1 – 25 (hier : 2). Freuds Essay findet sich in GW XVI, 101 – 246. Hierzu u. a. Gutjahr, Ortrud (Hg.), 2005: Kulturtheorie. (Freiburger literaturpsychologische Gespräche, 24). Würzburg, Vorwort der Herausgeberin: »Denn während Freuds Individualpsychologie seit ihrem Entstehen durch die therapeutische Praxis und theoretische Ansätze fortlaufend weiterentwickelt wurde, war seiner Kulturtheorie diese produktive Rezeption nicht beschieden.« Pfaller, Robert, 2003: Einleitung. In: Ruhs, August, 2003: Der Vorhang des Parrhasios. Schriften zur Kulturtheorie der Psychoanalyse. Herausgegeben und eingeleitet von Robert Pfaller. Wien, 9 – 15 (hier: 9) sowie Zuckermann 2004a, 10. Eine vergleichende Untersuchung der Zivilisationstheorien Nietzsches, Freuds, Webers und Adornos unternimmt Karsten
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von Freud erörterte Probleme im Zusammenhang mit kultureller Tradierung. Daneben erfreut sich ebenso die – bereits durch den Historismus des 19. und das Posthistoire des 20. Jahrhunderts – in Mißkredit geratene und »an den Rand des philosophischen Kanons« gedrängte Geschichtsphilosophie gerade in den letzten Jahren wieder wachsenden Interesses30, nicht zuletzt wohl unter dem Eindruck der Wiederbelebung der Frage nach den Möglichkeiten historischer Erkenntnis und die diesbezügliche Bedeutung der Formen der Geschichtsschreibung im Zuge des linguistic turn31. Die Kritiken, die Postmoderne und Posthistoire an der Geschichtsphilosophie übten, haben mittlerweile, so konstatiert zumindest Johannes Rohbeck in einer 2010 erschienenen Monographie, deutlich an Plausibilität verloren32. Diesen gegenwärtigen Renaissancen versucht auch die vorliegende Arbeit gerecht zu werden. Ihr Ziel ist es, neben dem Trennenden vor allem das Verbindende von Geschichtsphilosophie, nicht-psychoanalytischen Schwundstufen der Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse – oder vielmehr das Geschichtsphilosophische am Geschichtsphilosophen Freud zu benennen. Sie will dieses Ansinnen anhand eines dreigliedrigen Dialogs verwirklichen: zum ersten eines Dialogs Freuds mit den Geschichtsphilosophen und ihren Nachfolgern in den jeweiligen Schwundstufen; zum zweiten eines Dialogs der zeitgenössischen Wissenschaft mit Freuds Geschichtsphilosophie im Sinne der Kritik; und zum dritten eines Dialogs der zeitgenössischen Wissenschaft mit Freuds Geschichtsphilosophie im Sinne
Fischer, der bei genannten Autoren eine »Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik« ausmacht (Fischer, Karsten, 1999: »Verwilderte Selbsterhaltung«. Zivilisationskritische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno. (Politische Ideen, 10). Berlin, 18, Hervorhebung im Original). Das Freud-Jahr 2006 hat allgemein eine Fülle von Neuerscheinungen zur Psychoanalyse hervorgebracht, von denen sich einige auch mehr oder weniger explizit mit der psychoanalytischen Kulturtheorie befassen (so u. a.: Köhler, Thomas, 2006: Freuds Schriften zu Kultur, Religion und Gesellschaft. Eine Darstellung und inhaltskritische Bewertung. Gießen, Brumlik, Micha, 2006: Sigmund Freud: Der Denker des 20. Jahrhunderts. Weinheim/Basel). Die Vorträge eines anläßlich von Freuds 150. Geburtstag am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe abgehaltenen Symposiums zu Freuds Essay Das Unbehagen in der Kultur wurden 2009 durch Franz Kaltenbeck und Peter Weibel herausgegeben (Kaltenbeck, Franz/Weibel, Peter (Hgg.), 2009: Sigmund Freud: Immer noch Unbehagen in der Kultur? Zürich/Berlin). 30 Rohbeck, Johannes, 2004: Geschichtsphilosophie zur Einführung. (Zur Einführung, 302). Hamburg, 18. 31 Siehe hierzu Danto, Arthur C., 1974: Analytische Philosophie der Geschichte. Übersetzt von Jürgen Behrens. Frankfurt/M., Ricœur, Paul, 1988 ff.: Zeit und Erzählung. 3 Bde. Übersetzt von Rainer Rochlitz und Andreas Knop. München, White, Hayden, 1990: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Übersetzt von Margit Smuda. (Fischer-Taschenbuch, 7417). Frankfurt/M. sowie die genannten Autoren gewidmeten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 32 Rohbeck, Johannes, 2010: Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin, 11 f.
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der Gemeinsamkeiten33. Solche Art der Gesprächsführung birgt durchaus Probleme; die Tatsache, daß die meisten der Gesprächspartner zumal des ersten Dialogs genau wie Freud selbst tot sind, ist dabei noch eines der geringeren, ebenso der Umstand, daß Freud mit den meisten Geschichtsphilosophen auch zu Lebzeiten schon nicht gesprochen hat. Das zentrale Problem ist vielmehr die Frage nach der Identität der Geschichtsphilosophie und ihrer Repräsentanten, vor allem nachdem sie nur noch in Schwundstufen existiert: Wen rechnet man dazu, wen läßt man mit Freud sprechen? Was ist Geschichtsphilosophie, was ist sie insbesondere nach dem Ende der Geschichtsphilosophie? Einen ›Kanon‹ der Geschichtsphilosophie gibt es nicht. Am weitesten läßt sich der Begriff Geschichtsphilosophie fassen, wenn man alle Philosophie grundlegend in Wesens- und eben Geschichtsphilosophie teilt34 ; das würde freilich den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Etwas enger, aber für die vorliegende Untersuchung immer noch zu weit, ist diejenige Definition, die zur Geschichtsphilosophie alles rechnet, was sich jemals mit Überlegungen über Sinn und Zweck einer wie auch immer verstandenen Geschichte auseinandergesetzt hat: Mythen, religiöse Erzählungen, Geschichtstheologie, und, sozusagen in einer Nebenrolle, auch die philosophischen Bemühungen auf diesem Gebiet35. Die klassische Identifizierung endlich aber nennt ›Geschichtsphilosophie‹ diejenige »Formation«, »die die eine Weltgeschichte proklamiert mit dem einen Ziel und Ende«, »die aufruft zum Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit«36 und die datierbar ist etwa in die Zeit zwischen Voltaire und Marx, d. h. in die gerade hundert Jahre 33 Dem dialektischen Prinzip folgt die vorliegende Arbeit dabei auch in ihrem formalen Aufbau. 34 So Marquard (1987, 24): »Die Philosophie, die auf – unbeschränkter oder beschränkter – Abhängigkeit der Wahrheit philosophischer (und anderer) Aussagen von ihrer Genese besteht, kann ›Geschichtsphilosophie‹ genannt werden.« Die Definition der Wesensphilosophie formuliert Marquard entsprechend (ebd., 23): »Die Philosophie, die auf – unbeschränkter oder beschränkter – Unabhängigkeit der Wahrheit philosophischer (und anderer) Aussagen von ihrer Genese besteht, kann ›Wesensphilosophie‹ genannt werden.« (Hervorhebungen jeweils im Original) 35 Im Sinne dieser weiter gefaßten Definition von Geschichtsphilosophie lassen sich als ihre wichtigsten Theorien benennen: die »theol[ogische] G[eschichtsphilosophie]«, die »den Ratschluß Gottes«, die »metaphysische G[eschichtsphilosophie]«, die »die transzendente Gesetzlichkeit«, die »idealistische G[eschichtsphilosophie]«, die »die Ideen«, die »geisteswiss[enschaftliche]« Geschichtsphilosophie, die »das geistig-seelische Leben des Menschen«, die »naturalistische« Geschichtsphilosophie, die »die Triebnatur des Menschen« sowie die »materialistisch-ökonomische« Geschichtsphilosophie, die »wirtschaftl[iche] Verhältnisse« thematisiert (Schmidt, Heinrich/Schischkoff, Georgi, 1982: Philosophisches Wörterbuch. (Kröners Taschenausgabe, 13). Stuttgart. 21. Aufl., Artikel »Geschichtsphilosophie«, 226 – 228). 36 Marquard 1982, 14 f. Zu den heute noch »[v]erbliebene[n] Funktionen« der Geschichtsphilosophie ferner Lübbe, Hermann, 1993: Geschichtsphilosophie. Verbliebene Funktionen. (Jenaer philosophische Vorträge und Studien, 2). Erlangen/Jena, 3.
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zwischen der Mitte des 18. und der des 19. Jahrhunderts. Sie besitzt Vorläufer in Antike und vor allem Mittelalter und Nachfolger in sehr unterschiedlichen Disziplinen der Gegenwart, deren wichtigste oben bereits erwähnt wurden37. Dieses Verständnis von Geschichtsphilosophie soll auch hier als Basis dienen – womit freilich die Frage nach der Auswahl der Gesprächspartner immer noch nicht zur Gänze beantwortet ist. Diesem Problem schafft allerdings die bisher veröffentlichte Fachliteratur Abhilfe – besonders die chronologisch nach Autoren geordneten Überblicksdarstellungen zum Thema Geschichtsphilosophie bieten hier die gesuchte Orientierung: Nach der nunmehr schon weit über ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Entdeckung der theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie durch Karl Löwith38, der sich in umgekehrter Chronologie von Burckhardt bis Augustin und Orosius vorarbeitete, ist es vor allem die 1991 erschienene Monographie Emil Angehrns, die die Entstehung der Geschichtsphilosophie schon bei den alten Griechen verortet39 und Krise und Rekonstruktionen derselben seit dem Ende der klassischen Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert bei Universalhistorikern ebenso ausmacht wie bei Sozialwissenschaftlern und Philosophen. Damit trägt Angehrn letztlich auch der oben thematisierten Rede von Schwundstufen der Geschichtsphilosophie Rechnung. Johannes Rohbecks aus Vorlesungen hervorgegangene und 2004 veröffentlichte Einführung stellt Geschichtsphilosophie ebenfalls anhand ihres Personals vor, wenngleich die zum Ordnungsprinzip erhobene Gegenüberstellung von Geschichtsphilosophie, Historismus und Posthistoire die Chronologie teilweise durchbricht40. Rohbeck behandelt im Gegensatz zu Löwith und Angehrn auch nicht die Vorläufer der Geschichtsphilosophie vor der Aufklärung. Ergänzt werden diese hauptsächlich nach Autoren vorgehenden Darstellungen durch die eher thematisch-systematischen, sich an zentralen geschichtsphilosophischen Fragestellungen ausrichtenden von Richard Schaeffler41, Hans-Dieter Klein42 und Thomas Zwenger43 sowie ausge37 Marquard sieht auch in der Existenzphilosophie eine Schwundstufe der Geschichtsphilosophie (Marquard 1982, 25). Die Deutung des Daseins in ihrem Sinne aber kam, so Kittsteiner, »fast ganz ohne Historie« aus. Heidegger verfügte demzufolge über ein bemerkenswert geringes historisches Wissen (Kittsteiner, Heinz D., 2006: Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne. Hamburg, 55). Heidegger und seine Schrift Sein und Zeit sind vor allem aus diesen Gründen nicht Bestandteil der vorliegenden Untersuchung. 38 Löwith, Karl, 1953: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. (Urban-Bücher, 2). Stuttgart. 39 Hierin folgt er freilich dem Beispiel Schaefflers: Schaeffler, Richard, 1980: Einführung in die Geschichtsphilosophie. Darmstadt. 2., erw. Aufl., 91 – 95 sowie 102 – 104. 40 So wird beispielsweise Vico, der noch vor dem Beginn der eigentlichen Periode der Geschichtsphilosophie publizierte, zum ›Historismus‹ gerechnet, genauso wie Burckhardt und Nietzsche zum ›Posthistoire‹ gezählt werden. 41 Schaeffler 1980. Siehe oben. 42 Klein, Hans-Dieter, 1984: Geschichtsphilosophie. Eine Einführung. Wien. 43 Zwenger, Thomas, 2008: Geschichtsphilosophie. Eine kritische Grundlegung. Darmstadt.
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wählte Aufsatzsammlungen wie beispielsweise die von Herta Nagl-Docekal 1996, Volker Depkat 2004 und die von Wolfgang Eichhorn und Wolfgang Küttler 2008 herausgegebenen; die beiden letztgenannten thematisieren speziell das schwierige Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft44. Der erste Teil des Dialogs – identisch mit dem ersten Teil dieser Arbeit – wählt seine geschichtsphilosophischen Teilnehmer also nicht ganz willkürlich: Nach einer Referierung der Wurzeln der Philosophie der Geschichte, die man mit der erstmaligen Entstehung eines vermehrt linearen Geschichtsverständnisses seit dem späteren Neolithikum gleichsetzen kann, sollen sukzessive die Autoren einer Philosophie der Geschichte vor dem Beginn der Geschichtsphilosophie, als Geschichtsphilosophie und nach dem Ende der Geschichtsphilosophie zu Wort kommen45 ; jeweils im Anschluß wird ergänzt, was Freud ihnen zu sagen hat oder zu sagen gehabt hätte. Freud also ist nicht nur Diskussionspartner, sondern auch Leitfaden, und es ist nicht allein der kulturtheoretisierende Freud, der im ersten und zugleich umfangreichsten Teil der Arbeit seine Meinung äußern soll. Bei konkreten Fragen, auf die weder Freud noch sein jeweiliger Konterpart eine heute noch überzeugende Antwort geben können – so etwa im Falle des Naturzustands – wird das Urteil der empirischen Wissenschaft konsultiert. Im zweiten Teil der Arbeit und des Dialogs freilich rückt Freud als Sozialanthropologe, Kulturtheoretiker, kurz als Geschichtsphilosoph in den Vordergrund: Wie gelangte, so die zunächst leitende Problemstellung, der junge Freud, der eigenen Bekundungen zufolge schon als Kind einen Hang zu philosophischer Spekulation besaß und dessen lebenslange Leidenschaft für kulturelle Themen, insbesondere für die Archäologie, in Erlebnissen seiner frühesten Kindheit wurzelt46, der also für eine Karriere als Kulturwissenschaftler prädestiniert schien, zur Medizin – und vor allem wie von dort wieder zurück zu Problemen des Geistes, der Gesellschaft und Angekündigt für 2012 ist eine Einführung in die Geschichtsphilosophie von Matthias Schloßberger. 44 Nagl-Docekal, Herta (Hg.), 1996: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. (Fischer-Taschenbücher, 12776). Frankfurt/M., Depkat, Volker/Müller, Matthias/ Sommer, Urs (Hgg.), 2004: Wozu Geschichte(n)? Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie im Widerstreit. Stuttgart sowie Eichhorn/Küttler 2008 (siehe oben). Allgemein läßt sich jedoch festhalten, daß die Literatur zum Thema Geschichtsphilosophie kaum mehr überschaubar ist. 45 Diese Formulierungen orientieren sich an dem Titel eines Aufsatzes von Hans Michael Baumgartner (Baumgartner, Hans M., 1996: Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie. Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand des geschichtsphilosophischen Denkens. In: Nagl-Docekal, Herta (Hg.), 1996: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. (Fischer-Taschenbücher, 12776). Frankfurt/M., 151 – 172). 46 Siehe hierzu Cassirer Bernfeld, Suzanne, 1951: Freud and Archaeology. In: The American Imago, Bd. 8, 107 – 128. Dt. Übersetzung in: Dies./Bernfeld, Siegfried, 1981: Bausteine der Freud-Biographik. Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt/M., 237 – 259 sowie das entsprechende Kapitel im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit.
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der Kultur? Nach diesem Beitrag zur Freud’schen Wissenschaftsbiographie gilt das Augenmerk seinen kulturtheoretischen Texten – sie sollen in Dialog treten mit der aktuellen Forschung: Wieviel Plausibilität besitzen Freuds Theorien im Sinne der empirisch arbeitenden geschichtsphilosophischen Schwundstufen der Jetztzeit, wie können sie für den gegenwärtigen – oder, eine geschichtsphilosophisch immer interessante Frage – den zukünftigen geschichtsphilosophischen Diskurs fruchtbar gemacht werden47 ? Schließlich soll auf die im zweiten Teil vorgenommene inhaltskritische Analyse von Freuds kulturtheoretischen Texten – mit anderen Worten: den Dialog vornehmlich im Sinne der Kritik – im dritten Teil der Dialog vornehmlich im Sinne der Gemeinsamkeiten folgen; die Chronologie ist dabei nicht mehr, wie noch im zweiten Teil, diejenige der Freud’schen Produktion und Lebenszeit, sondern die der von Freud behandelten menschheitsgeschichtlichen Ereignisse.
47 Geschichtsphilosophie der Gegenwart definiert sich grundsätzlich als »interdisziplinäres Projekt« – »im Kontext der praktischen Philosophie« stehend, ist »[i]hr Thema […] die Geschichte als sich in der Zeit verändernder Handlungszusammenhang von Individuen unter politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen« (Rohbeck 2004, 19, Hervorhebung im Original); Ereignis-, Sozial- und Kulturgeschichte also sind in ihren vielfältigen wissenschaftlichen Fachrichtungen idealerweise gleichermaßen an diesem Projekt beteiligt. Für eine geschichtsphilosophisch »angeleitete« Kulturgeschichte plädierte jüngst u. a. Kittsteiner (2006, 30 sowie 54 – 57). Josef Rattner und Gerhard Danzer postulieren in ihrer 2010 erschienenen Schrift über Geschichte und Psychoanalyse eine »psychoanalytisch inspirierte[…] Historiographie und Geschichtsphilosophie«: An zentraler Stelle sei »ein Gesundheitsbegriff zum Verstehen und Bewerten des Geschichtsverlaufs notwendig« (Rattner, Josef/Danzer, Gerhard, 2010: Geschichte und Psychoanalyse. (Enzyklopädie der Psychoanalyse, 7). Würzburg, 123 f.), ferner sei es ein aussichtsreiches Unterfangen, eine »Geschichte der Sexualität«, »der Aggression«, der »Lebensangst«, der »Abwehrmechanismen« usf. aus psychoanalytisch orientierter Warte zu schreiben (ebd., 126 f.). Hier sei darauf hingewiesen, daß bereits Hans Kilian »um einen transdisziplinären Austausch vor allem zwischen der Psychoanalyse, der Anthropologie, der Soziologie und der Geschichte (insbesondere der Kulturgeschichte und Psychohistorie)« bemüht war (Köhler, Lotte, 2011: Biografische Stationen Hans Kilians. In: Dies./Reulecke, Jürgen/Straub, Jürgen (Hgg.), 2011: Kulturelle Evolution und Bewusstseinswandel. Hans Kilians historische Psychologie und integrative Anthropologie. Gießen, 13 – 25 (hier : 24)) und »den ›vierdimensionalen Menschen‹ konsequent als ein geschichtliches, also historischem, kulturellem und sozialem Wandel unterworfenes (und diesen Wandel selbst hervorbringendes) Wesen« untersuchen wollte (Reulecke, Jürgen, 2011: Hans Kilians Beitrag zur Historischen Anthropologie und Psychohistorie. Sechs exemplarische Schriften. In: Köhler, Lotte/Reulecke, Jürgen/Straub, Jürgen (Hgg.), 2011: Kulturelle Evolution und Bewusstseinswandel. Hans Kilians historische Psychologie und integrative Anthropologie. Gießen, 101 – 115 (hier : 102)).
B Hauptteil
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Der erste Teil der Arbeit widmet sich in weitgehend chronologischer Reihenfolge den Autoren der Philosophie der Geschichte und den möglichen Übereinstimmungen ihres jeweiligen Ansatzes mit Freud; die Unterteilung in solche einer »Philosophie der Geschichte vor dem Beginn der Geschichtsphilosophie«, »als Geschichtsphilosophie« und »nach dem Ende der Geschichtsphilosophie« folgt der oben genannten Definition der Geschichtsphilosophie: Sie bezeichnet die vergleichsweise kurze Periode von Voltaire bis Marx. In jedem Kapitel werden nach einer knappen Zusammenfassung des geschichtsphilosophischen Konzepts etwaige Parallelen (und Widersprüche) zur Psychoanalyse erörtert. Die verhältnismäßige Kürze der einzelnen Kapitel gebietet dabei Beschränkung auf Wesentliches. Ergänzt werden diese Einzeluntersuchungen durch ein Kapitel über die Anthropologie als Gegenentwurf zur Geschichtsphilosophie.
1.1
Philosophie der Geschichte vor dem Beginn der Geschichtsphilosophie
Eine Philosophie der Geschichte setzt zwingend einen bestimmten Begriff von ›Geschichte‹ voraus – und dieser Begriff unterliegt seinerseits geschichtlichem Wandel. Bevor also die Philosophie der Geschichte in ihren ersten Vertretern hier zum Thema wird, erscheint es geraten, den Begriff der Geschichte in seinem geschichtlichen Wandel, das Verhältnis der Völker zur Geschichte in Geschichte und Vorgeschichte zu diskutieren: Die folgende Einführung versucht dies auf kursorische Weise zu realisieren, von der Entstehung eines linearen Geschichtsbewußtseins im Neolithikum bis zur Herausbildung des Kollektivsingulars Geschichte im 18. Jahrhundert. Die Entstehung der Philosophie der Geschichte indes wird im Anschluß aufgezeigt an einigen exemplarisch ausgewählten Autoren: Plato für die Antike, Augustinus für die das ganze Mittelalter
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Hauptteil
beherrschende christliche Geschichtstheologie, Hobbes für die Neuzeit und Rousseau als ›Gegen-Hobbes‹ in schon geschichtsphilosophischer Zeit, aber ohne den spezifisch geschichtsphilosophischen Fortschrittsoptimismus. 1.1.1 Geschichte und Geschichtskultur »Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl als subjektive Seite und bedeutet ebensogut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst; sie ist das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung.«48
Das Bewußtsein, die Kultur und die Philosophie von Geschichte sind, so ein allgemeiner anthropologischer Konsens, spezifisch menschliche Eigenschaften, die in der gewissermaßen ›natürlichen‹ Voraussetzung gründen, daß der Mensch sich wie kein Tier außer ihm in der Zeit zurechtzufinden vermag; sein Gedächtnis ist das Werkzeug hierzu, es befähigt den Menschen, sich zu erinnern – aber auch, und das erscheint im Prinzip nicht minder wichtig, Bestimmtes zu vergessen49. Das Bewußtsein des Menschen von sich selbst ist geschichtlich, es speist sich aus Erinnerung – und konstituiert sich zugleich aus dem Vergessenen. Um über die eigene Geschichte zu reflektieren, benötigt der Mensch jedoch außer dem Gedächtnis noch eine weitere charakteristische Eigenschaft, die ihn im übrigen genau wie sein Gedächtnis von anderen Tieren qualitativ unterscheidet und ihn zu jenem zoon logon echon macht, als das Aristoteles ihn interpretiert50 : die Möglichkeit, über seine Erinnerungen vermittelst Sprache zu kommunizieren51. Erst so wird eine (Selbst)Verständigung durchführbar ; Ge48 Hegel, Georg W. F., 1986: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 612). Frankfurt/M., 83 (Hervorhebungen im Original). 49 Assmann, Jan, 2005a: Einführung: Zeit und Geschichte. In: Assmann, Jan/Müller, Klaus E. (Hgg.), 2005: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland. Stuttgart, 7 – 16 (hier : 7). Den selektiven Charakter des Gedächtnisses bzw. des historischen Bewußtseins betont auch Rohbeck 2004, 13: »Ein solches Gedächtnis darf man sich nicht als neutralen Speicher vorstellen, weil die Erinnerung immer auch von Interessen, Emotionen und Wertvorstellungen geprägt wird. Das historische Bewusstsein wählt daher bestimmte Ereignisse aus, es deutet und wertet sie.« Dieser Befund steht im Einklang mit der psychoanalytischen Theorie eines selektiven Gedächtnisses, das beispielsweise bestimmte Vorstellungen der Verdrängung anheimfallen läßt. Über das Verhältnis von »Geschichte und Vergessen« vgl. auch den gleichnamigen Aufsatz von Lucian Hölscher (Hölscher, Lucian, 1989: Geschichte und Vergessen. Eine Funktionsanalyse im Anschluss an den »Historikerstreit« um die Einmaligkeit der nationalsozialistischen Verbrechen. In: Ders., 2009: Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft. Göttingen, 100 – 114). 50 Zwenger 2008, 116. 51 Diese schon antike Deutung des Menschen als zoon logon echon, wodurch er sich von anderen Lebewesen unterscheide, erfährt in neuerer Zeit übrigens eine Bestätigung durch
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schichte ist von Beginn an sprachlich konstruiert52. Das Dasein der Geschichte als etwas Sprachliches bedingt nicht zuletzt jenen Doppelcharakter des Wortes, den Hegel so treffend beschreibt: »Geschichte« meint sowohl das Geschehene als auch die Erzählung des Geschehenen. Es besteht somit in unserem Denken von Geschichte ein grundlegender Dualismus von geschehener Wirklichkeit und vor allem sprachlich gegebener oder zumindest kommunizierter Erinnerung, der sich mit der Frage verbindet: Ist Geschichte etwas wirklich »Seiendes (bzw. Gewesenes)« oder »Geistiges« (Gedachtes)53 ? Geschichte ist für die moderne Betrachtung, nicht zuletzt angesichts des Wissens um die Selektivität menschlicher Erinnerung, schließlich »nicht identisch mit dem, was sich in Raum und Zeit ereignet. Geschichte und Geschehen sind nicht dasselbe, Geschichte erfordert vielmehr ein Deutungsmuster, das es erlaubt, ein in Raum und Zeit vorkommendes Ereignis als ein historisches Ereignis auszuzeichnen«, Geschichte ist daher das Ergebnis einer – wertenden – »Abstraktionsleistung« und ergo »keine Gegebenheit, sondern ein Konstrukt.«54 Eine solche Deutung relativiert schließlich auch den Wahrheitsanspruch einer jeglichen Erzählung von Geschichte, gleich ob mythologischer, philosophischer oder wissenschaftlicher Natur. Die wissenschaftliche Geschichtserzählung freilich nimmt immerhin die Überprüfbarkeit des Faktischen für sich in Anspruch. Wer allerdings den genannten Wahrheitsanspruch einer Geschichtserzählung auf das reine Tatsachenwissen gründen, das Bewußtsein von Geschichte auf faktisch Geschehenes, letztlich also auf die überprüfbare Überlieferung historischer Entwicklungen beschränken möchte, muß als Ergebnis dieser Prämisse konstatieren, daß ein solches Geschichtsbewußtsein wohl erst dort möglich ist, wo es Schrift gibt; denn erst mit Beginn der Schriftkultur und der schriftlichen Überlieferung gibt es eine anhand schriftlicher Quellen einigermaßen gesicherte Faktenlage. Auch das Geschichtsbewußtsein bestimmter historischer Epochen läßt sich aus heutiger Sicht erst mit Beginn der Schriftkultur eindeutig interpretieren. Jedoch wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert, ob vorschriftliche Kulturen ein ›Geschichtsbewußtsein‹ im oben genannten Sinne besessen haben könnten; der Ethnologe Klaus E. Müller verneint dies aus den erwähnten Gründen. Er stellt vielmehr dem Geschichtsbewußtsein als »Überlieferung historischer Entwicklungen« das archaischere zyklische Geschichtsverständnis gegenüber, wählt also das traditionelle Schema von ›linearem‹ und ›zyklischem‹ Geschichtsverständnis zum Ausgangspunkt die Evolutionsbiologie: Henke, Winfried/Rothe, Hartmut, 1999: Stammesgeschichte des Menschen. Eine Einführung. Berlin u. a., 75 und 80. 52 Siehe auch Angehrn 1991, 21: »Indem Historie das Faktische in die Dimension der menschlichen Rede erhebt, verwandelt sie das Gewesene in Geschichte und trägt zu jener Selbstvergegenwärtigung bei, ohne die kein gesellschaftliches Leben möglich ist.« 53 Zwenger 2008, 39. 54 Baumgartner 1996, 159.
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seiner vergleichenden ethnologischen Betrachtung55. In frühen Pflanzergesellschaften, die in der Regel nicht mehr als 80 bis 150 Personen umfaßten, sei die Gestaltung des Zusammenlebens vom Prinzip der Reversibilität geprägt gewesen. Das gegenseitige Aufeinander-angewiesen-sein hatte demnach zur Folge, daß jede Leistung mit einer Gegenleistung erwidert werden mußte; denn Einbußen und Ausfälle jeglicher Art galt es zügig auszugleichen. Unerwünschtes konnte, ja mußte »rückgängig gemacht werden«. Das Prinzip der Reversibilität spiegelte sich auch in der kosmischen Ordnung, »[a]lles Geschehen bewegte 55 So zumindest in der Lesart Holtorfs (Holtorf, Cornelius, 2005: Geschichtskultur in ur- und frühgeschichtlichen Kulturen Europas. In: Assmann, Jan/Müller, Klaus E. (Hgg.), 2005: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland. Stuttgart, 87 – 111 (hier : 88)). Dabei setzt Müller sich durchaus kritisch mit der vor allem von Historikern seit dem 19. Jahrhundert vertretenen Auffassung auseinander, Geschichte beginne erst dort, wo es Schriftquellen gebe: Müller, Klaus E., 2005: Der Ursprung der Geschichte. In: Assmann, Jan/Müller, Klaus E. (Hgg.), 2005: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland. Stuttgart, 17 – 86 (hier: 23 – 27). (Die zugehörige Kapitelüberschrift Völker ohne Geschichte dürfte daher von Müller ebenso sehr mit ironischer Distanz gewählt worden sein wie seinerzeit der Titel von Eric R. Wolfs berühmtem Werk: Wolf, Eric R., 1986: Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400. Übersetzt von Niels Kadritzke. Frankfurt/M./New York.) Jan Assmann macht darauf aufmerksam, daß die kulturanthropologische Unterscheidung von »kalten« und »heißen« Gesellschaften möglicherweise »in der Tradition der theologischen Unterscheidung zwischen Heiden (die kalten Kulturen) und Christen bzw. Juden (als heißen Kulturen)« steht; nach L¦vi-Strauss unterscheiden sich »kalte« Gesellschaften von »heißen« auch in ihrem Geschichtsverständnis, das bei ersteren ein zyklisches, bei letzteren ein lineares ist (Assmann 2005a, 10 f.). Diese Polarität ist allerdings eine idealtypische, da keine Gesellschaft ausschließlich in der linearen oder der zyklischen Zeit lebt. Assmann schlägt folglich einen neuen begrifflichen Dualismus vor: Die »zyklische« (»reversible«) Zeit ist demzufolge »Erneuerungszeit«, die »lineare« (irreversible) »Rechenschaftszeit«, prinzipiell in allen Kulturen vorhandene, »transkulturelle Phänomene«. Archaische schriftlose Kulturen freilich aber sind durch eine größere Dominanz der Erneuerungszeit geprägt (Assmann 2005a, 13). (Daß auch für ein lineares Zeitverständnis natürliche Gegebenheiten das erste Muster liefern können, wird deutlich an der Tatsache, daß die gesamte menschliche Lebenserfahrung sowohl durch zyklische als auch durch lineare Faktoren geprägt ist: durch die Zyklen von Werden und Vergehen einerseits, die Unumkehrbarkeit und damit Linearität von Lebenszeit und Alterungsprozeß jedoch andererseits. Mario Erdheim bringt die »Entstehung eines linearen Geschichtsbewußtseins« in Zusammenhang mit der Rückbildung initiatorischer Riten und der daraus folgenden »Subjektivierung und Verlängerung« der Adoleszenz beim Übergang von kalten zu heißen Gesellschaften: Erdheim, Mario, 1998: Zur psychoanalytischen Konstruktion des historischen Bewußtseins. In: Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen (Hgg.), 1998: Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1403). Frankfurt/M., 174 – 193 (hier : 179)). Die Schriftkulturen der Ägypter und Babylonier besaßen ein noch auf die Vergangenheit gerichtetes Geschichtsverständnis (Assmann, Jan, 2005b: Zeitkonstruktion, Vergangenheitsbezug und Geschichtsbewußtsein im alten Ägypten. In: Assmann, Jan/ Müller, Klaus E. (Hgg.), 2005: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland. Stuttgart, 112 – 214 (hier : 122)), der Zukunftsbezug hingegen kam erstmals in der jüdischen Religion zu größerer Geltung.
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sich, gleich den Arbeitsverläufen, dem Keimen, Reifen, Ernten und Wiederausbringen der Feldfrüchte, dem Auf- und Untergang der Gestirne und dem Wechsel der Jahreszeiten, wie auf zyklischen Bahnen.«56 »Bewegung kam in die altverankerten Konventionen« erst durch »Übervölkerung oder Unstimmigkeiten« innerhalb der Gemeinschaft, was nicht selten zur Emigration einzelner Gruppen aus dem Urdorf und zur Neugründung von Tochterdörfern führte. Diesen Filiationen stellte sich die Aufgabe, eine Eigenidentität auszubilden, die nicht im Gegensatz zur gesamtethnischen stand57. Genealogien als strukturell lineares Geschichtsmodell erhielten aus legitimatorischen Gründen stärkeres Gewicht. Ansätze zu einem wirklich linearen Geschichtsbewußtsein jedoch entstanden Müller zufolge erst mit den frühen Hochkulturen am Ende des fünften vorchristlichen Jahrtausends; der »Raubbau an den Ressourcen infolge der wachsenden Bevölkerungszahl« bedingte Expansion und »Imperialismus« sowie ethnische Verschiebungen »bisher unbekannten Ausmaßes«58. Durch die Auseinandersetzung mit anderen, unterworfenen ethnischen Gruppen verstärkte sich der genealogische Legitimationsdruck der Eliten. »In Überlagerungsgesellschaften wuchs daher, oft nahezu sprunghaft, das Interesse an der Geschichte an.«59 Die traditionelle Einteilung des Weltgeschehens in mythische Urzeit von Chaos und Schöpfung, Vergangenheit als Ahnenzeit, wenige Generationen »zwischen Urzeit und Gegenwart« umfassend, und Gegenwart änderte sich in das Schema Urzeit, Vorzeit, Wendezeit und Gegenwart60. Mithilfe der nunmehr erfundenen Schrift konnte das neue Bild der Geschichte fixiert und tradiert werden. Die neu eingeführten Kategorien Vor- und Wendezeit sind im übrigen für das Geschichtsverständnis aller folgenden Epochen, letztlich vor allem auch für die Geschichtsphilosophie im weiteren und engeren Sinne von eminenter Bedeutung, denn der Bruch mit der alten Ordnung, die bewußt festgestellte historische Veränderung bedingt die Möglichkeit, diese Veränderung entweder positiv oder negativ zu beurteilen; die Vorzeit als Epoche der »alte[n] Väterordnung« erscheint so entweder, aus Sicht der Unterlegenen, als goldenes Zeitalter oder, aus »Sicht der Sieger«, als »Notzeit«. Folgerichtig ist die Wendezeit, die »Sieg und Machtübernahme« der neuen Herren beinhaltet61, je nach Standpunkt entweder eine Verschlechterung oder eine Verbesserung geMüller 2005, 28 f. (Hervorhebungen im Original) Müller 2005, 41. Müller 2005, 72 f. Müller 2005, 74 f. Müller 2005, 39 f. bzw. 85. Zu den Erzählungen über Chaos, Schöpfung und Heroenzeit gehören auch die Mythen »von der Erschaffung der Welt« und »Gesta der Götter« sowie die Sagen und Legenden von »nachurzeitlichen«, aber »weit zurückliegenden« Heldentaten etc. (Müller 2005, 52 f.). In einem gewissen Sinne sind Mythen eine Form von Philosophie der Geschichte in vorphilosophischer Zeit. 61 Müller 2005, 85. 56 57 58 59 60
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genüber dem ursprünglichen Zustand. Erstmalig wird die Frage nach einem ›Ziel‹ der Geschichte zumindest theoretisch greifbar. Auch wenn sich die Bewertung geschichtlicher Epochen und vor allem Ursprünge später von diesem Hintergrund löste, so verdankt sich die Möglichkeit einer wertenden Sicht historisch betrachtet den geschilderten politischen und den diesen nachgeordneten soziokulturellen Veränderungen. Alle Reflexionen über die Anfänge menschlicher Geschichte bzw. Periodisierungen der nachfolgenden Geschichtsschreibung sind abhängig von der jeweiligen Interpretation eines ursprünglichen, eines Urzustandes, und die Annahme eines guten oder schlechten Urzustandes ist gewissermaßen der archimedische Punkt einer wertenden Deutung von Geschichte und ein Leitmotiv der religiösen und philosophischen Geschichtserzählungen. Der Urzustand erscheint entweder als Paradies oder als Epoche des Naturrechts, als goldenes Zeitalter des Friedens oder als Krieg eines jeden gegen jeden. Die Polarisierung von »alt« und »neu« verschärfte sich noch im Zuge des Erstarkens des Monotheismus und der »Mosaischen Unterscheidung«, die ihre erinnernde Darstellung fand in der Form der »Großen Erzählung«62. Der »Untergang der bronzezeitlichen Welt« verursachte freilich in allen Mittelmeerkulturen »eine intensive Erinnerungsdynamik«63, so daß nicht nur in den monotheistisch geprägten Regionen, sondern u. a. auch in Griechenland große Erzählungen entstanden. Hesiods berühmte Vorstellung eines goldenen Zeitalters wurde vor allem literarisch bedeutsam. Freud interpretiert den »Mythus vom goldenen Zeitalter« allerdings als »in die Vergangenheit projiziert[e]« Wunschphantasie64. Die »Anziehung«, die »[l]ängstvergangene« Epochen vor allem auf den mit seiner »Gegenwart unzufrieden[en]« Menschen üben und den damit zusammenhängenden »Traum von einem goldenen Zeitalter« bringt er in Verbindung mit dem »Zauber« der Kindheit, die »von einer nicht unparteiischen Erinnerung als eine Zeit von ungestörter Seligkeit gespiegelt« werde65. Schon in seiner Schrift Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci äußert Freud die Vermutung, daß dies eine nachträgliche Verzerrung sei und daß »die Kinder selbst, wenn sie früher Auskunft geben könnten, […] wahrscheinlich anderes berichten« würden; die Kindheit sei »nicht jenes selige Idyll«, zu dem es später verfälscht werde66. In der Logik dieser – freilich individualpsychologischen – 62 Assmann, Jan, 1998: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München/ Wien, 20 bzw. 24 f. 63 Assmann, Jan, 2000: Monotheismus und Ikonoklasmus als politische Theologie. In: Otto, Eckart (Hg.), 2000: Mose. Ägypten und das Alte Testament. (Stuttgarter Bibelstudien, 189). Stuttgart, 121 – 139 (hier: 122). 64 GW IX, 141. Die Erwartung eines goldenen Zeitalters für die Zukunft, nach dem Erscheinen des Messias, ist für Freud im mindesten eine Illusion, schlimmstenfalls aber eine »Wahnidee« (Die Zukunft einer Illusion, GW XIV, 353). 65 GW XVI, 175 f. (Der Mann Moses und die monotheistische Religion) 66 GW VIII, 198.
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Interpretation wären also Vorstellungen eines paradiesischen Urzustandes bloße Illusionen, die konträren Naturrechtstheorien aber möglicherweise Erinnerungen an die in der Kindheit ausgetragenen Konflikte. Angesichts solcher Auseinandersetzungen und Spannungen, die die infantile Entwicklung vor allem in der phallischen Phase begleiten und prägen, mutet umgekehrt aber die erste, noch weitgehend auf das Verhältnis des Säuglings zur Mutter reduzierte und als »orale« bezeichnete Phase wie ein quasi-paradiesischer Zustand an. Das im biblischen Bericht geschilderte Eingebettetsein der ersten Menschen in die natürliche Umgebung des Gartens Eden wäre theoretisch auch deutbar als Spiegel der oralen Phase, der darauffolgende Sündenfall hingegen als Versinnbildlichung der Lösung von der Mutter und des Individuationsprozesses. Allerdings beziehen sich all diese Interpretationen auf das erinnernde Erleben des Individuums; über das über-individuelle, kulturelle Erinnern wissen sie nichts zu sagen. Wie auch immer die Genese der unterschiedlichen Vorstellungen vom Urzustand zu deuten ist, das Motiv eines entweder als Paradies oder als Konfliktzeit gedachten ursprünglichen Seins des Menschen zieht sich seit der Antike durch die namhaften Geschichtserzählungen. Bei Plato und auch bei Epikur67 beispielsweise steht am Beginn der Geschichte im Gegensatz zu Hesiod nicht das goldene Zeitalter, sondern das Naturrecht. Augustinus übernimmt die biblische Darstellung eines zeitlich vor dem Sündenfall gelegenen paradiesischen Zustands im Garten Eden, die Phase nach dem Sündenfall aber ist auch für ihn eine des Naturrechts, eine Zeit ante legem, die erst durch den Bund Jahwes mit Mose beendet wird. In diesem Bund zwischen Gott und dem Religionsstifter kann man folglich eine frühe Form des ›Gesellschaftsvertrags‹ erblicken. Die alte Kontroverse um die Beschaffenheit des Urzustandes findet in der Neuzeit ihre exemplarische Ausprägung in dem Gegensatz der diesbezüglichen Annahmen von Hobbes und Rousseau68. Die große Wirkmacht des biblischen Paradies-Mythos hingegen wird daran deutlich, daß noch Kant ihn als Vorlage für seine Reflexionen über den Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte nutzt69. Hesiods Einteilung der Geschichte in nach Metallen benannte Zeitalter zeitigte ihrerseits bedeutenden Einfluß auf die antike griechische und römische Literatur, so u. a. auf Ovids Metamorphosen und Vergils Vom Landbau70. Wichtiger als diese 67 Münkler, Herfried, 1993: Thomas Hobbes. (Reihe Campus, 1068). Frankfurt/M./New York, 174 f. Anm. 112. Platos diesbezügliche Äußerungen freilich widersprechen sich zum Teil selbst, wenn er andererseits von einer mittlerweile untergegangenen Idealgesellschaft der Atlanter ausgeht. An Epikur orientiert sich auch Lukrez, der ebenfalls einen zivilisatorischen Aufstieg postuliert (so zumindest Müller-Beck, Hansjürgen, 2008: Die Steinzeit. Der Weg der Menschen in die Geschichte. (Beck’sche Reihe, 2091). München. 4., akt. Aufl., 25). 68 Vgl. die entsprechenden Kapitel der vorliegenden Arbeit über Augustinus, Hobbes und Rousseau. 69 Vgl. das Kant-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 70 Zu Hesiod und Vergil siehe Erler, Michael, 1990: Einführung. In: Hesiodus, 1990: Werke und
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Einteilung Hesiods allerdings war für die Antike – und mit ihr, nach einer Verschmelzung antiker und jüdisch-christlicher Vorstellungen, auch für das gesamte abendländische Mittelalter – »das Schema der vier aufeinander folgenden Weltreiche«, das von dem gallo-römischen Geschichtsschreiber Pompeius Trogus zur Zeit des Augustus in die römische Historiographie eingeführt wurde71. Diese Vorstellung hat allem Anschein nach persische Ursprünge und verdankt ihre Entstehung »dem Widerstand gegen die Griechenherrschaft im Orient«72, was ein weiteres Beispiel für die Genese wertender Periodisierung in Überlagerungsgesellschaften darstellt. Ein sich an der Überlieferung historischer Entwicklungen orientierendes Geschichtsbewußtsein als »Wandlungsbewußtsein«73 entfaltete sich nach Müller also zeitgleich mit der Entstehung von Schrift und Hochkultur. Es bliebe die Frage, wie das Verhältnis schriftloser Tage. Übersetzt von Walter Marg. (Bibliothek der Antike: Epos der Antike). München, 7 – 25 (hier : 25; zu Hesiod, Ovid und dem »goldenen Zeitalter« vgl. ferner auch das Kapitel infantia im dritten Teil der vorliegenden Arbeit). »Hesiod teilt den Verlauf der Welt in fünf sich verschlechternde Zeitalter ein, die er nach Metallen benennt. Nach dem fünften glaubt er an die Wiederkehr des ersten«, des ›Goldenen Zeitalters‹ (Brincken, Anna-Dorothee von den, 1957: Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising. Düsseldorf, 43). Daß Hesiod von einer Verschlechterung der Zeitalter in bezug auf das jeweils vorausgehende ausgeht, macht allerdings deutlich, daß auch den Griechen ein Entwicklungsgedanke durchaus nicht fremd war (Haeusler, Martin, 1980: Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 13). Köln/ Wien, 14). »Die Zeit verläuft« im »mythischen Weltbild« Hesiods eigentlich »nicht kreisläufig«, sondern linear (Flaig, Egon, 2005: Der mythogene Vergangenheitsbezug bei den Griechen. In: Assmann, Jan/Müller, Klaus E. (Hgg.), 2005: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland. Stuttgart, 215 – 248 (hier : 216). Flaig spricht sogar davon, daß »[k]aum eine Behauptung […] falscher sein« könne als die Löwith’sche, das Geschichtsverständnis der Griechen sei ein zyklisches gewesen, Flaig 2005, 330, Anm. 4). 71 Hübinger, Paul Egon, 1959: Spätantike und frühes Mittelalter. Ein Problem historischer Periodenbildung. (Libelli, 40). Darmstadt, 6. 72 von den Brincken 1957, 47 f. Auch der Verfasser des Danielbuches stand unter dem Einfluß dieser Vorstellung (ebd.), womit antik-heidnische und christliche Weltreichlehre eine gemeinsame Wurzel hätten. Von Anfang an war dabei das römische »Vier-Reiche-Schema mit dem Glauben an die ewige Dauer des Imperium Romanum verbunden« (Hübinger 1959, 7). Viele christliche Schriftsteller bezogen sich im übrigen nicht auf das Buch Daniel, sondern fanden das Weltreichschema bei heidnischen Historikern wie dem genannten Pompeius Trogus (von den Brincken 1957, 48). Hieronymus erst verknüpfte um 400 n. Chr. das aus der römischen Überlieferung stammende Weltreichmodell »mit den Visionen des Buches Daniel« (Hübinger 1959, 7). Dadurch wurde dem vorher mit der Interpretation des römischen Reiches als Idealstaat positiv konnotierten Schema der Weltreiche (ebd.) der Dekadenzgedanke eingepflanzt (von den Brincken 1957, 48), der nicht mehr von der ewigen Dauer, sondern vom baldigen Untergang des römischen als des letzten der irdischen Reiche ausging. Dieses »Schema der Vier Weltreiche hat das christliche Geschichtsbild mehr als ein Jahrtausend maßgebend beeinflußt«, auch noch lange nach der Absetzung des Romulus Augustulus; denn mithilfe des immanenten Translationsgedankens konnte das »nachantike Geschehen« diesem System eingegliedert werden (Hübinger 1959, 7). 73 Assmann 2005b, 214.
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Kulturen zur Geschichte sich gestaltete, ob in diesem Zusammenhang tatsächlich von »Völker[n] ohne Geschichte«74 gesprochen werden kann. Der Prähistoriker Cornelius Holtorf widerspricht dieser Annahme mit dem Verweis auf die von Erich Rothacker unternommene begriffliche Unterscheidung von »historischem Bewußtsein und geschichtlichem Sinn« – ersteres gebe es demnach ohnehin erst seit dem 18. Jahrhundert, während geschichtlicher Sinn bereits »in schriftlosen Kulturen weit verbreitet sei«75. Auch mündliche Überlieferung könne vergangene Ereignisse über »lange Zeiträume« hinweg tradieren; die »Bedeutung der Schrift« dürfe hierfür »nicht überbewertet werden«. »Traditionsbildung und kulturelle Kontinuität«, die es schon lange vor Erfindung der Schrift gegeben habe, seien beredte »Beispiele für geschichtlichen Sinn in vorgeschichtlicher Zeit«76. Holtorf weitet das Konzept des geschichtlichen Sinns unter Bezugnahme auf den von Jörn Rüsen geprägten Begriff der »Geschichtskultur« aus; Geschichtskultur umfaßt demnach mehr als nur die schriftliche Überlieferung von Geschehenem, Geschichtskultur besitzt nach Rüsen im wesentlichen vielmehr drei Dimensionen, nämlich eine ästhetische, eine politische und eine kognitive77. Die ästhetische Dimension bildet dabei die »formale und sinnliche Ebene der Geschichtskultur«, wie sie sich in heutiger Zeit beispielsweise in Romanen oder Filmen manifestiert; in vorgeschichtlicher Zeit mögen Hinterlassenschaften einer Vorbevölkerung eine vergleichbare sinnliche Rolle für die Erinnerung gespielt haben78. Die politische Dimension schließlich sucht »kollektive Identitäten und politische Machtstrukturen« zu legitimieren; Abstammungsmythen und Genealogien schon der schriftlosen Kulturen sind Teil 74 Müller 2005, 17. Zu den mutmaßlichen Motiven für die Wahl dieser Kapitelüberschrift siehe oben. 75 Holtorf 2005, 92. 76 Holtorf 2005, 90 – 93. Holtorf bezieht sich hier seinerseits auf einen Aufsatz des Prähistorikers Horst Kirchner (Kirchner, Horst, 1954: Über das Verhältnis des schriftlosen frühgeschichtlichen Menschen zu seiner Geschichte. In: Sociologus N.F. 4, 9 – 22): Kulturelle Kontinuität lasse sich schon »anhand der Typologie paläolithischer Steingeräte« feststellen; überdies seien Menschen schon immer mit den Relikten einer Vorbevölkerung konfrontiert gewesen; ein geschichtlicher Sinn könne sich demnach bereits sehr früh entwickelt haben. »Mit dem Beginn der Landwirtschaft« seien die Kategorien »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« freilich noch einmal »sehr viel wichtiger geworden als zuvor« (Holtorf 2005, 93). 77 Holtorf 2005, 96 f. sowie Rüsen, Jörn, 1994: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich T./Rüsen, Jörn (Hgg.), 1994: Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln u. a., 3 – 26. 78 Holtorf 2005, 97. Holtorf widmet den letzten Abschnitt seines Aufsatzes der exemplarischen Untersuchung von jungsteinzeitlichen Megalithgräbern in Mecklenburg-Vorpommern, die noch Jahrtausende nach ihrer ursprünglichen Errichtung neu genutzt wurden und für eine prähistorische »Geschichtskultur« offenbar von besonderer Bedeutung waren. Freilich sind dies die Hinterlassenschaften einer zwar schriftlosen, jedoch materiell vergleichsweise hochstehenden und gewissermaßen – gemessen an der langen Dauer paläolithischer Schriftlosigkeit – späten Kultur.
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dieser Dimension. Die im Prinzip jüngste Dimension bildet die kognitive, die »verläßliches und kohärentes« Wissen über das Vergangene anstrebt und sich vor allem in den »historischen Wissenschaften realisiert«. Geschichtskultur geht folglich weit »über das tatsächlich Geschehene« als auch über die wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte hinaus. Indem dieses Konzept »alle historischen Erinnerungsleistungen in der menschlichen Lebenspraxis miteinbezieht«79, eignet es sich für ein umfassenderes Verständnis historischer Erinnerung, das sich nicht allein auf Schriftkulturen beschränkt. So sind letztlich auch Geschichte und Geschichtsphilosophie abendländischer Prägung nur ein Ausschnitt einer komplexeren Geschichtskultur. Die drei Dimensionen der Geschichtskultur freilich sind keine monolithisch und unabhängig voneinander bestehenden Blöcke, sondern Merkmale, die grundsätzlich auch gemeinsam einund derselben Erinnerungsleistung eignen können. So besitzen beispielsweise die erwähnten Mythen Hesiods und ebenso diejenigen Homers sowohl eine politische wie auch eine ästhetische Dimension; die Weltalterlehre hat zunächst vor allem eine politische, in der literarischen Ausgestaltung der Vision Daniels von einem Standbild mit tönernen Füßen aber eine ebenfalls ästhetische Dimension. Die Herausbildung der kognitiven Dimension schließlich stellt eine Besonderheit abendländischer Geschichtskultur dar80 : »Im Gegensatz« zu Ilias und Theogonie, in denen die »mythische oder archaische Vorgeschichte« von Göttern, Halbgöttern und Heroen thematisiert wird, behandeln Herodot und Thukydides in ihren Kriegsschilderungen erstmals die profane, zeitgenössische Menschengeschichte. Diese »Aufwertung der profanen Welt« beinhaltet zugleich eine »Säkularisierung«, wie sie sich im 5. vorchristlichen Jahrhundert auf vielen Gebieten des Denkens vollzieht und letztlich »im weitesten Sinn« eine »Abkehr vom Mythos« bedeutet, sowie eine »Historisierung«, indem die »temporale und ontologische Entrückung« der mythischen Welt aufgehoben wird81. Auch wenn die Tradition die griechische Philosophie als »wesentlich geschichtsfremdes Denken« charakterisiert, so hat es dennoch schon bei den Griechen – und zwar eben bei den Historiographen – trotz Fehlen von Konzepten »systematischsinnhafte[r] Deutung der Menschheitsgeschichte« ein Nachdenken über »das Geschichtliche« gegeben; »Geschichte entsteht, indem man sich für sie interessiert«82. Und in den teilweise bereits demokratischen griechischen Poleis des 5. Jahrhunderts v. Chr. erwacht ein vollkommen »neuartiges Interesse an Ereig79 Holtorf 2005, 97 (Hervorhebung im Original). 80 Sicher hat es auch andernorts – so vor allem im alten China – vergleichbare Entwicklungen innerhalb der jeweiligen Geschichtskultur gegeben, so daß auch dort eine auf Faktisches sich stützende Geschichtsschreibung entstehen konnte. Die hieran anknüpfende Geschichtsphilosophie aber gilt nach wie vor als europäisches Spezifikum. 81 Angehrn 1991, 18 f. 82 Angehrn 1991, 14 f.
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nisgeschichte«, das soziologisch auf die verstärkte Beteiligung breiterer bürgerlicher Kreise an politischer Verantwortung zurückzuführen ist. Politik erscheint zunehmend als etwas menschlich Mach- und Gestaltbares, im eigentlichen Sinne als eine ›Kunst des Möglichen‹, folglich wachsen einerseits »Sachverstand und Kritik«, andererseits das »Bedürfnis nach Orientierung«, wie sie historische Werke zu geben imstande sind. Politik ist nicht mehr ein von metaphysischen Schicksalsmächten gelenkter Sinnzusammenhang oder eine bloße Serie heroischer Taten83. Das Hier und Jetzt erhält konsequenterweise stärkeres Gewicht auch in der Darstellung. Während Hesiods Werke und Tage Geschichte als »Verfallsprozeß«84 schildern, werten die Historiographen die Gegenwart auf. Dieser Vorgang kann zusammenfassend als Teil einer verstärkten Weltzuwendung in der griechischen Klassik gelesen werden; Herodots Historien bilden nicht ganz zufällig auch »das erste große Prosawerk der griechischen Literatur«85. Seine Form der Darstellung wird stilbildend für die gesamte Antike, so daß Cicero Herodot mit einigem Recht als pater historiae bezeichnet86. Diese historia meint vor allem die Geschichtserzählung, also primär die äußere Form und erst sekundär den Inhalt, allerdings war das eine »ohne das andere kaum denkbar, die Geschichte war in der Historie enthalten, deren Funktion Cicero besonders klar formulierte als testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis.«87 Diese Bedeutung erhält sich in ihrem Kern bis ins Mittelalter, wenngleich Geschichtsschreibung an sich im Mittelalter vor allem Exegese und damit Bestandteil der Theologie ist; der Begriff der historia bezeichnet jedoch ähnlich wie in der Antike weniger »die abstrakte ›Geschichte‹ im modernen Sinn als Geschehenszusammenhang« als vielmehr die »am Zeitablauf (ordo temporis) orientierte Erzählung als formuliertes Ergebnis wissenschaftlicher Betätigung«88. Die geschilderten res gestae gelten als gesta Dei, historia ist somit eine »wissenschaftliche Methode« zum Verständnis der göttlichen Offenbarung. Sie gilt nicht als eine der sieben freien Künste, noch als »Teilbereich einzelner artes, sondern [ist] diesen übergeordnet«89. Die Ge83 Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hgg.), 1975: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2: E-G. Stuttgart, Artikel »Geschichte«, 602. 84 Angehrn 1991, 19. 85 Angehrn 1991, 19. 86 Cicero: Leg. 1,5. 87 Brunner/Conze/Koselleck 1975, Art. »Geschichte«, 600 (für das Cicero-Zitat: Cicero: De orat. 2,36). 88 Goetz, Hans-Werner, 1993: Die »Geschichte« im Wissenschaftssystem des Mittelalters. In: Schmale, Franz-Josef, 1993: Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung mit einem Beitrag von Hans-Werner Goetz. Darmstadt. 2. Aufl., 165 – 213 (hier : 208). 89 Goetz 1993, 209 f.
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schichtstheologie schließlich, in gewissem Sinne die vormoderne Variante der späteren Philosophie der Geschichte, ist »nichts anderes als die allegorische, tropologische und anagogische Auslegung des Geschichtsberichts, der historia«90. Ebenfalls im Mittelalter beginnt sich ein Geschichtsbegriff auch in der Volkssprache auszubilden: Das althochdeutsche ›gisciht‹ bedeutet »Ereignis, Zufall, Hergang«, im Frühneuhochdeutschen erhält es, dem Begriff der historia entsprechend, die zusätzliche Bedeutung der »Erzählung von Geschehenem«. ›Die Geschichte‹ schließlich wird bis ins 18. Jahrhundert hinein als Pluralform gebraucht91; erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in »den Jahrzehnten der Vereinfachungen und der Singularisierungen«92, wird aus der Pluralform ein Kollektivsingular – »eine Reihe von Begebenheiten« wird nun »in ein zusammenhängendes Ganzes« gebündelt, ›die Geschichte‹ wird, in Grimm’scher Diktion, zum »›Inbegriff alles in der Welt Geschehenen‹«. Damit verbindet sich auch ein höheres Niveau der Abstraktion, ›Geschichte‹ wird zum »Metabegriff« ohne bestimmtes Subjekt, vielmehr ist Geschichte sich nun selbst Subjekt und »rückt auf zu einer letzten Instanz«, wird »Agens menschlichen Schicksals oder gesellschaftlichen Fortschritts«. Was in der Heilsgeschichte Gottes Vorsehung war, wird nun eine Art von Vorsehung, die »nicht mehr auf Gott zurückverweisen« muß93. Indem Geschichte zum Kollektivsingular wird und folglich nicht mehr Geschichte ›von‹ etwas ist, sondern das Ganze der Geschichte umfaßt, wird auch die Philosophie der Geschichte zur Geschichtsphilosophie. Wo ›Geschichte‹ zuvor noch das Besondere, Bedeutende, eben nicht Allgemeine bezeichnete, sucht die Philosophie der Geschichte nun das Allgemeine und Gesetzmäßige ›der‹ Geschichte.
1.1.2 Plato »Was aber die ›Ausdehnung‹ des Begriffes der Sexualität betrifft […], so mögen alle, die von ihrem höheren Standpunkt verächtlich auf die Psychoanalyse herabschauen, sich erinnern lassen, wie nahe die erweiterte Sexualität der Psychoanalyse mit dem Eros des göttlichen Plato zusammentrifft.«94
Gilt die griechische Philosophie im allgemeinen als eine der geschichtlichen Betrachtungsweise ferne, so hat doch namentlich Plato sowohl in seiner Staatsphilosophie als auch in seinen Reflexionen über das Wesen der Zeit wichtige geschichtsphilosophische Impulse geliefert. Sein Augenmerk gilt in 90 91 92 93 94
Goetz 1993, 211. Brunner/Conze/Koselleck 1975, Art. »Geschichte«, 647. Brunner/Conze/Koselleck 1975, Art. »Geschichte«, 653. Brunner/Conze/Koselleck 1975, Art. »Geschichte«, 648 – 651. GW V, 32 (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie).
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seinen staatsphilosophischen Schriften wie der Politeia oder dem Spätdialog Nomoi dem Werden und Vergehen des Staates; er betreibt hier eine »Zivilisationsgeschichte«, die sich im Gegensatz zur Historiographie nicht am KonkretFaktischen, sondern am Allgemein-Gesetzmäßigen orientiert. Leitbild dieser Erörterungen ist der gerechte Staat95, dessen Voraussetzungen und Ursachen in weitestem Sinne ›historisch‹ analysiert werden. Letztere sind gewissermaßen naturgegeben; der einzelne ist nicht selbstgenug in Anbetracht der Anforderungen des Lebens, daher müssen mehrere sich zu einer arbeitsteiligen Gemeinschaft zusammenschließen. Die menschliche Vergesellschaftung folgt also einem »Antrieb und Gesetz der Natur«, ja Plato wird damit zum »Vater allen Naturrechtes bis herauf zu Hugo Grotius«96. Im Timaios und Politikos schließlich stellt Plato Überlegungen an über Sein und Werden und den Charakter der Zeit. Im Weltschöpfungsmythos des Timaios nimmt er eine strenge Scheidung von Sein und Werden vor; die Geschichte ist demnach bloßer »Abfall des Zeitlichen vom Ewigen« und von der »zyklischen Prozessualität des Naturalen«. Ähnlich – nämlich auch im Sinne der Dichotomie von zyklischer und linearer Zeit – argumentiert er im Politikos, wo er das »Zeitalter der göttlichen Herrschaft [als] das der Selbstgleichheit, der Wiederkehr des Gleichen« definiert, während »das Zeitalter der Menschengeschichte« für ihn »das des linearen Fortschreitens«, »des gleichzeitigen Anwachsens und Verfalls« bedeutet; diese menschliche Geschichte ist »Gottesferne«. Platos hier entworfener »Dualismus von gottgelenktem Zeitlauf und menschengelenktem Zeitlauf« ist von enormer geistesgeschichtlicher Wirkmacht, und zwar Wirkmacht gerade in bezug auf die Entstehung einer abendländischen Geschichtsphilosophie, denn dieser platonische Dualismus stellt eine Art »Präfiguration des dualistischen augustinischen Geschichtsbilds« dar97. Ein anderer Plato’scher Begriff ist von großer Bedeutung für den Dualismus der Freud’schen Metapsychologie: Wiederholt geht Freud an unterschiedlichen Stellen seines Werkes auf die Parallelen zwischen dem im Symposion entwickelten Eros-Begriff Platos und seinem eigenen Libido-Begriff ein; ja der Eros Platos zeige »in seiner Herkunft, Leistung und Beziehung zur Geschlechtsliebe 95 Angehrn 1991, 35 f. »Gewissermaßen im Gegenzug« zu Platos hochtheoretischen Überlegungen behandelt Aristoteles in seiner »Theorie der Geschichtsschreibung« (Kapitel 9 und 23 der Poetik) das Geschichtliche als das Besondere und zugleich Kontingente; die Geschichte ist der Bereich des Nicht-Beabsichtigten (Angehrn 1991, 42). Die »Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen« (Aristoteles, 1974: Poetik. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Olof Gigon. (Reclams Universal-Bibliothek, 2337). Stuttgart, 36 (siehe ferner auch ebd., 36 – 38 bzw. 59 f.)). Aristoteles ist hier sehr viel näher an Herodot und Thukydides als an seinem Lehrer. 96 Hirschberger, Johannes, 1981a: Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Altertum und Mittelalter. Basel u. a. 11. Aufl., 130 (meine Hervorhebung). 97 Angehrn 1991, 40 f.
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eine vollkommene Deckung mit der Liebeskraft, der Libido der Psychoanalyse«98. Besonderes Interesse widmet Freud dabei den im Symposion dem Aristophanes in den Mund gelegten Ansichten99. Gleichwohl gesteht Freud später, wie Ernest Jones berichtet, sein Wissen über die Philosophie Platos sei »sehr fragmentarisch«. Jones äußert die Vermutung, Freud könne dieses Wissen aus der Übersetzung eines Aufsatzes von John Stuart Mill gewonnen haben100, welchen Hemecker mit einer umfangreichen Rezension von George Grotes Hauptwerk über den griechischen Philosophen identifiziert101. Wie wichtig Freud aber die Parallelen zwischen seinen eigenen Entdeckungen und der ErosLehre Platos sind und welche Wertschätzung er dem griechischen Philosophen entgegenbringt, macht die Häufigkeit deutlich, mit der er immer wieder darauf eingeht102. Freuds These von der »äußere[n] reale[n] Not« als »Hauptmotor der Kulturentwicklung« und als Antrieb zum Zusammenschluß mit anderen103 schließlich ähnelt Platos Theorie von den Motiven für die Entstehung des Staates, die er wie Freud ebenfalls auf die menschliche Konstitution zurückführt, daß »keiner von uns auf sich allein gestellt sein kann, sondern vieler anderer bedarf«104. Im Phaidros erscheint darüber hinaus erstmals ein Bild, auf das auch Freud zur Veranschaulichung des Verhältnisses der psychischen Instanzen zurückgreifen wird: das des wilden Seelenrosses, welches durch den Reiter gebändigt werden muß. Sind es bei Plato noch zwei Pferde, ein gehorsames und ein störrisches, deren Kräfte der Lenker verbinden muß105, so setzt Freud die Mächte des Es dem ungestümen Roß gleich, das »allzu häufig« den Reiter nötige, es 98 GW XIII, 99 (ähnlich auch in GW V, 32). 99 Jenseits des Lustprinzips, GW XIII, 62 f. sowie Santas, Gerasimos, 1988: Plato and Freud. Two Theories of Love. Oxford u. a., 155. 100 Jones, Ernest, 1960: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. 1: Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die großen Entdeckungen 1856 – 1900. Übersetzt von Katherine Jones. Bern/Stuttgart, 79. 101 Hemecker, Wilhelm W., 1991: Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Psychoanalyse. München u. a., 40. 102 Außer den bereits genannten Stellen noch an drei weiteren: so in Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, GW VII, 456 Anm. 1; Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, GW XIV, 105; Warum Krieg? GW XVI, 20. 103 Kurzer Abriß der Psychoanalyse, GW XIII, 424. 104 Zit. nach Waibl, Elmar, 1980: Gesellschaft und Kultur bei Hobbes und Freud. Das gemeinsame Paradigma der Sozialität. (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, 3). Wien, 105. Zur möglichen Beeinflussung Freuds durch Plato schreibt Waibl (ebd., 62 f.): »Wohl unwissentlich folgt er [Freud] darin einem Gedankenmotiv Platos, der in der mangelnden Autarkie der Einzelmenschen den Entstehungsgrund des Staates sah.« 105 Kittsteiner, Heinz D., 2004: Wir werden gelebt – Über Analogien zwischen dem Unbewußten in der Geschichte und im »Ich«. In: Zuckermann, Moshe (Hg.), 2004: Geschichte und Psychoanalyse. (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 32). Göttingen, 56 – 84 (hier : 60).
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dorthin zu führen, »wohin es selbst gehen« wolle106. Lucian Hölscher weist darauf hin, daß Freuds Vergessensbegriff »in der Tradition des platonischen Begriffs der ›Amnesis‹ und ihres Gegenstücks, der ›Anamnesis‹, der Wiedererinnerung«, stehe107. Und selbst Freuds Text über Mose und den Fortschritt in der Geistigkeit ist in den Worten Jan Assmanns »platonischen Mustern verpflichtet«108. Diese mannigfaltigen, sowohl bewußten als auch unbewußten Anknüpfungen Freuds an die platonische Philosophie mögen einerseits in dem Bestreben begründet sein, eigene Spekulationen durch den Verweis auf die innere Verwandtschaft mit der Lehre einer anerkannten und allseits geachteten Autorität leichter annehmbar zu machen109 ; andererseits wirkt hier, davon abgesehen, sicher nicht nur ein nicht näher reflektiertes Paradigma abendländischen Denkens weiter, sondern ist Plato, dessen Schriften Freud immerhin schon auf dem Gymnasium erstmals begegneten110, für ihn auch ganz persönlich eine anerkannte Autorität und ein bedeutender Repräsentant jener antiken Kulturwelt, die ihm früh eine Art von Sehnsuchtsort werden sollte111.
1.1.3 Augustinus »Wird nämlich die Seele erlöst, um nie mehr zum Elend zurückzukehren, in einer Weise, wie sie vordem nie erlöst worden ist, so tritt in ihr etwas ein, was nie vorher eingetreten ist, und zwar etwas gewaltig Großes, nämlich ewiges Glück, das nie mehr aufhören soll. Wenn sich nun aber an der unsterblichen Natur so etwas völlig Neues ereignet, das keine Wiederholung im Kreislauf ist noch eine solche haben wird, warum soll dann das nicht auch an den sterblichen Dingen sich ereignen können?«112
Die platonische Unterscheidung von gottgelenkter zyklischer und menschengelenkter linearer Zeit erfährt 800 Jahre später durch den Kirchenvater Augustinus eine entscheidende Neuinterpretation: Die historische Singularität der Heilstat Christi läßt die These von der ewigen Wiederkehr obsolet erscheinen; in einer Welt ewiger Wiederkehr sind Augustinus zufolge Liebe und Hoffnung gelähmt. Eine als Heilsgeschehen begriffene Geschichte kann keine planlose, 106 Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. XXXI. Vorlesung: Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, GW XV, 83. 107 Hölscher 1989, 103. 108 Assmann, Jan, 2003: Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus. München/Wien, 137. »Das abendländische Denken« sei überdies generell »zutiefst geprägt von der platonischen Geistphilosophie«. 109 Hemecker 1991, 44. 110 Nämlich die Apologie des Sokrates und Kriton. Vgl. das Kapitel Ambivalenzen und Umwege: Vom Lust- zum Realitätsprinzip im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit sowie Hemecker 1991, 40. 111 Vgl. das Kapitel Frühzeitige Vertiefungen im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit. 112 Zit. nach Löwith 1953, 151 f.
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zyklische Bewegung sein, sie muß vielmehr ein Ziel und damit auch einen allerersten Anfang besitzen113. Die Welt ist geschaffen und ihre Dauer daher eine endliche, die Geschichte spielt sich ab als Heilsgeschichte, als ›Pilgerschaft‹ nach einem Ziel, das jenseits dieser Welt liegt114. Daher versucht Augustinus die zyklische Zeitauffassung »praktisch moral-theologisch«115 zu widerlegen und als »Irrwahn«116 zu entlarven. Diese augustinische Polarisierung gilt allgemein als der »Angelpunkt [der] Umorientierung« bezüglich des abendländischen Geschichtsverständnisses; die menschliche Geschichte erhält – vorbereitet durch die jüdische Tradition, die bereits vor der Entstehung des Christentums Geschichte als Heilsgeschichte begriff – eine enorme Aufwertung, sie wird zu einer Art religiösem und ethischem Wegweiser117. Diese zielgerichtete menschliche Geschichte charakterisiert Augustinus als Kampf zweier Prinzipien, oder, wie er es nennt, zweier civitates, nämlich der weltlichen in der Nachfolge Kains und der civitas Dei in der Nachfolge Abels. Die darin zum Ausdruck kommende »Zwiespältigkeit des Geschichtlichen«, seine Ambivalenz, ist eine typische geschichtsphilosophische Gedankenfigur ; die Vermengung der »Anhäufung von Elend und Bosheit mit dem Fortschritt zum Guten« erweist die Historie sowohl als »Erinnerung des Leidens« wie als »Medium des Trosts«118. Ein solches Geschichtsbild ist nicht nur maßgeblich für die klassische geschichtsphilosophische Literatur, es findet sich nicht zuletzt auch in Freuds Reflexionen über Ursprung und Sinn menschlicher Kultur und das implizite Unbehagen in ihr. Die Deutung der Geschichte als Zielgerichtetheit ermöglicht ferner auch eine neue Periodisierung derselben: Der äußere Anlaß für die Entstehung von De civitate Dei contra paganos, die Einnahme und Plünderung Roms durch Alarich im Jahre 410, läßt in Augustins Augen die Vorstellung von der ewigen Dauer Roms im Sinne der Weltalterlehre hinfällig werden, weshalb er im Anschluß an Eusebius von Cäsarea eine Dreiteilung der Geschichte in die Zeit vor dem (mosaischen) Gesetz, unter dem Gesetz und unter der Gnade – d.i. seit dem
Löwith 1953, 148 – 151 sowie Angehrn 1991, 46 f. Löwith 1953, 149 bzw. 156. Löwith 1953, 148. Zit. nach Angehrn 1991, 47. Angehrn 1991, 14 (speziell zur jüdischen Zukunftshoffnung: Löwith 1953, 14 f.). Die profane Ereignisgeschichte besitzt für Augustinus freilich keinen Eigenwert (sein Schüler Orosius hingegen bezieht das konkrete historische Material in seiner als Kommentar zum Werk seines Lehrers konzipierten Historia adversum paganos in das augustinische Geschichtsdenken ein, von den Brincken 1957, 81). Gegenüber der griechischen Welt wird allerdings durch die Zuwendung zur Zeit auch in bisher ungekannter Radikalität eine »Abwendung vom Kosmos« vollzogen. »Der Gott Israels ist zwar Schöpfer des Alls, doch nicht in erster Linie Gott der Naturgewalten, sondern Führer seines Volks« (Angehrn 1991, 52 f.). 118 Angehrn 1991, 53 (Hervorhebung im Original).
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Erscheinen Christi – vornimmt119. Von wesentlich größerer Bedeutung für die sich im wesentlichen auf Augustinus berufende mittelalterliche Historiographie aber ist seine Einteilung der Geschichte in sechs aetates, die er der jüdischen Auffassung vom Sechstagewerk der Schöpfung als »Präfiguration der gesamten Geschichte«120 entlehnt und in Analogie zu den Altersstufen des Menschen (infantia, pueritia, adolescentia, iuventus, gravitas, senectus)121 deutet. Diese Periodisierung wird – genau wie das augustinische Werk generell – kanonisch für das gesamte Mittelalter122 ; alle mittelalterlichen Geschichtsexegeten berufen sich auf Augustinus. Er ist der Vater der christlichen Geschichtstheologie und gilt damit in einem weiteren Sinne auch als Begründer der Geschichtsphilosophie überhaupt123. Geschichtsphilosophie im eigentlichen Sinne freilich wird erst in der Neuzeit – genauer gesagt: in der Aufklärung – möglich, nämlich nach der »Suspendierung theologischer Prämissen« sowie durch die »Übernahme historischer Eigenverantwortung« und einen damit in Beziehung stehenden »Fortschrittsoptimismus«. Gegenüber der griechischen Philosophie bedeutet die moderne Geschichtsphilosophie also einen »doppelten Perspektivenwechsel«: Die »christliche Aufwertung der Geschichte«, wie sie bei Augustinus vorgenommen wird, sowie die »moderne Aufwertung des Subjekts« sind die bestimmenden Faktoren für die Entstehung der abendländischen Geschichtsphilosophie124.
119 Hübinger 1959, 8. Laut Hübinger geht dieses Schema auf den Apostel Paulus zurück, laut Funkenstein jedoch auf Eusebius (Funkenstein, Amos, 1965: Heilsplan und natürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des hohen Mittelalters. (Sammlung Dialog, 5). München, 32). 120 von den Brincken 1957, 48. 121 Hübinger 1959, 8 f. sowie Angehrn 1991, 54. Der »biomorphe« Modelltyp, der sich entweder (wie bei Augustinus) an Lebensaltern oder (wie etwa in Spenglers »Kulturmorphologie«) an einer »Pflanzen- und Wachstumssymbolik« orientieren kann, ist nach Baumgartner (1996, 159 f.) einer der beiden grundlegenden Modelltypen der Geschichtsphilosophie. Der andere grundlegende Modelltyp ist der »ratiomorphe«, beispielsweise der »klassische« Typ Schellings, Fichtes und Hegels, bei dem die »eigentümliche Struktur« der Vernunft als Modell fungiert (»Geschichte als Geschichte des Geistes«). Auch im 20. Jahrhundert ist der ratiomorphe Typ noch aktuell: Seit den 1970er Jahren wird durch Piaget, Kohlberg und Habermas ein ratiomorphes Modell des »Lernprozesses der Menschengattung« vertreten (Baumgartner 1996, 160: »Namentlich Habermas hat die ontogenetische Entwicklungslogik des moralischen Bewußtseins auf die phylogenetische Ebene transponiert, so daß in der moralischen Freiheit die letzte Stufe der gesamten soziokulturellen Entwicklung gesehen wird«). Bei all diesen Typen sind letztlich »Projektionen, Übertragungen, im Spiel« (ebd., 161). 122 Auch der zweite und der dritte Teil der vorliegenden Arbeit verwenden, freilich in eher spielerischer Form und nicht ganz ohne Ironie, dieses augustinische Periodisierungsschema für die Kapiteleinteilung. 123 Angehrn 1991, 45. 124 Angehrn 1991, 14.
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1.1.4 Hobbes »Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?«125
Für das ganze Mittelalter bleibt die augustinische (und mit ihr die platonische) Geschichtsdeutung paradigmatisch; erst in der Neuzeit vollzieht sich ein erkenntnistheoretischer Neubeginn, der u. a. die oben erwähnte Suspendierung theologischer Prämissen mit sich bringt. Der Empirismus des 17. Jahrhunderts bedeutet vor allem den radikalen Bruch mit »der platonisch-aristotelischen Metaphysik«, mit der »Transzendenz« und mit »ewigen Wahrheiten«126. Die Sinneserfahrung und die mit ihrer Hilfe erkannte Bewegung der Materie gelten nun als Fundament der Wirklichkeit – die Natur ist der Ort sicherer Erkenntnis, und so baut auch Thomas Hobbes seine Anthropologie und seine daran anschließende politische Theorie auf ›naturwissenschaftlicher‹ Grundlage auf127. Die Vernünftigkeit der menschlich-geschichtlichen Welt soll begreifbar werden durch die Vernünftigkeit der Natur128. Für das Verständnis der Rationalität der 125 Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, 471 (Hervorhebung im Original). 126 Hirschberger, Johannes, 1981b: Geschichte der Philosophie. Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart. Basel u. a. 11. Aufl., 188. 127 Angehrn 1991, 60. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird Giambattista Vico (1668 – 1744) dieses Modell der Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die politische Theorie für seine neuartige Grundlegung der Geschichtsbetrachtung nutzen; da Geschichte und Kultur von Menschen gemacht seien, könne der Mensch auch den »Bauplan« der geschichtlichen Welt erkennen. Vicos Absicht ist es, die seiner Meinung nach von der zeitgenössischen englischen und französischen Aufklärung vernachlässigte »Geschichte der Kulturen aufzuwerten und methodisch zu erschließen«, womit er als einer der frühen Pioniere auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften zu interpretieren ist (Rohbeck 2004, 80 – 83). Zu Vicos methodischen Prinzipien gehört – genau wie bei späteren Kulturtheoretikern – die vergleichende Untersuchung von in allen Gesellschaften in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen zu findenden sozialen Praktiken, die sich u. a. in »Religionsbräuche[n], Eheschließungen und Bestattungen« (Vico, Giovanni Battista, 1990a: Prinzipen einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Bd. 1. (Philosophische Bibliothek, 418a). Hamburg, 143) manifestieren, was Vico zum Anlaß nimmt, die drei genannten Kategorien zu den »drei ersten Prinzipien« seiner Wissenschaft zu erheben. Auch Freuds Kulturtheorie fußt im wesentlichen auf der Analyse der Religion und anderer Institutionen, die aus sozialem Handeln entsprungen sind; genau wie Vico wird er sich daneben Mythen, Sprache, Symbolen und Poesie widmen und den technischen Fortschritt hingegen als etwas eher Randständiges behandeln (bezüglich Vico: Rohbeck 2004, 85). Die Gemachtheit der Geschichte beinhaltet dabei bei Freud ebenso wie bei Vico freilich nicht deren Planbarkeit: »Die Menschen machen ihre Geschichte, doch nicht mit Bewußtsein und Vernunft« (Angehrn 1991, 65). Geschichte ist für Vico »Selbstgestaltung des menschlichen Geistes«, »Introspektion« daher ein gleichberechtigtes Mittel zu seiner Selbsterkenntnis (ebd.). 128 Daß aber ein von Hobbes nicht überwundener Widerspruch besteht zwischen einem auf Vernunft gründenden »Naturgesetz« und den »natürlichen Trieben«, denen diese Naturgesetze insgesamt entgegenstehen, deutet Lepenies an (Lepenies, Wolf, 1971: Anthropologie und Gesellschaftskritik. Zur Kontroverse Gehlen – Habermas. In: Ders./Nolte, Helmut,
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politischen Welt entwirft Hobbes das Tableau eines dieser politischen Welt vorausgehenden Naturzustands, den er, inspiriert von den antiken Kulturentwicklungstheorien der Epikureer und Stoiker, als Kriegszustand, als bellum omnium in omnes begreift – zunächst noch, in den Elements, als historisch verstandene Entwicklungsstufe, hinterher jedoch, in De cive und im berühmten Leviathan, enthistorisiert er seine Theorie und kontrastiert beide Prinzipien ohne »Übergangs- und Entwicklungsphasen« als gewissermaßen »idealtypische Konstrukte«129. Der Staat ist nach dieser Theorie ein nicht von Gott, sondern von den »Menschen geschaffenes künstliches Gebilde«, dessen Grundlage der Vertrag bildet, durch den der Naturzustand aufgehoben werden soll. Äußere Not, bedingt durch die Ohnmacht gegenüber Naturgewalten, vor allem aber durch eine als grausam begriffene Menschennatur, erzeugt also den status civilis130. Hobbes’ mechanistischer Materialismus131, seine pessimistische Beurteilung der Menschennatur und die Tatsache, daß er für seine Theoriebildung vom Individuum ausgeht, ein »analytische[r] Denker« also in dem Sinne ist, daß er »die soziale Seinsweise durch Zurückführung auf allgemeine Züge der menschlichen Natur zu erklären« sucht, bilden auffällige Parallelen zu Freud132. In den Augen von Hobbes übertrifft der Mensch in »Raublust und Grausamkeit« selbst Raubtiere, für Freud überbietet die menschliche Aggressionsneigung aufgrund einer nicht vorhandenen Tötungshemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Art – einer Manifestation der Instinktarmut – ebenfalls das Niveau tierischer Brutalität133. Die menschliche Freiheit ist nach dem Verständnis Hobbes’ lediglich Handlungsfreiheit, eine Wahl »zwischen Handlungsalternativen«, aber keine echte Willensfreiheit – der Mensch kann demzufolge »tun, was er will, aber nicht wollen, was er will«; auch für Freud steht der Mensch weitgehend unter »dem Diktat seiner Triebbedürfnisse«, kann also wählen zwischen
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1971, 77 – 102 (hier : 78, Hervorhebungen im Original)). Der Gegensatz zwischen Vernunft und Trieben wird später u. a. zu einem der zentralen Themen der Psychoanalyse avancieren. Münkler 1993, 109 f. John Locke wird bei seiner Konzeption des Naturzustands (Two Treatises of Government, 1690. Deutsche Ausgabe: Ders., 1977: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Euchner. Übersetzt von Hans Jörn Hoffmann. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 213). Frankfurt/M.) die »historische Komponente« wieder stärker betonen, indem er selbigen »in zwei große zivilisatorische Abschnitte unterteilt« (Angehrn 1991, 61). Lockes Gedanken üben später außerdem großen Einfluß auf die Autoren der französischen Aufklärung, namentlich vor allem auf Voltaire und Montesquieu, aus. Angehrn 1991, 60. »Hobbes ist materialistischer Monist, da er alle Wirklichkeit, den Menschen nicht ausgenommen, als Materie in Bewegung (matter in motion) wertet. […] Nach dem Vorbild der Iatromechaniker […] deutet Hobbes die körperlichen Funktionen als quantitative, mechanische Bewegungsabläufe.« (Waibl 1980, 36 f.) Waibl 1980, 35, 39 und 63. Waibl 1980, 39 f., GW XIV, 470 f. sowie Zeitgemäßes über Krieg und Tod, GW X, 345.
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Handlungsalternativen, nicht aber über seine Bedürfnisse bestimmen134. Eine dieser Handlungsalternativen ist die Lossagung vom ungezügelten Ausleben der Triebe, die zugleich Grundlage der Vergesellschaftung ist. Das Individuum hat von dieser Beschränkung langfristig Vorteile; der gesellschaftliche Zusammenschluß vieler bedeutet sowohl nach Hobbes wie nach Freud das Außerkraftsetzen des »Rechts des Stärkeren«. Das individuelle Interesse und die »Nutzenskalkulation« begreifen also sowohl Hobbes als auch Freud als Basis der Vergesellschaftung; der Begriff der Gesellschaft bei Hobbes (status civilis) ist dabei weitgehend deckungsgleich mit Freuds Kultur-Begriff. Bei beiden erscheint überdies die Strafandrohung als gesellschaftlicher Garant für ein regelkonformes Verhalten der Individuen, wenngleich der Souverän selbst freilich noch im Naturzustand lebt135. Die Strafandrohung allerdings beschränkt sich bei Hobbes auf die Androhung von Strafe in Form von äußerer Gewalt; Freud hingegen erweitert Hobbes gewissermaßen um eine ›innere‹ Komponente des Gewissenszwanges des Kultur-Über-Ichs, die im übrigen stabiler erscheint als der bloße »Utilitarismus« der Handlungskonsequenzen136. Hierin – in der Ergänzung eines innerpsychischen Aspekts – besteht denn auch der wesentliche Unterschied zwischen Hobbes’ staatspolitischer, rechtlich-institutioneller und Freuds triebtheoretischer Betrachtung137, die aber im allgemeinen frappierende Ähnlichkeiten aufweisen, so daß man geneigt sein könnte, von einer direkten Beeinflussung Freuds durch Hobbes auszugehen, was auch das Zitat der berühmten Hobbes’schen Wendung, wonach der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, in Das Unbehagen in der Kultur nahelegen würde. Allerdings zitiert Freud Hobbes in seinen Gesammelten Werken nur ein einziges weiteres Mal, und dies auch nur im Zusammenhang mit Hobbes’ Definition des Traums, die Freud zudem aus der Sekundärliteratur schöpft138. Die Beeinflussung kann daher höchstens mittelbar, im Sinne eines durch Hobbes mitgeprägten Paradigmas neuzeitlichen Denkens, stattgefunden haben139. Möglicherweise war es auch eine innere Wesensverwandtschaft oder die Ähnlichkeit äußerer Bedingungen – zu Hobbes’ Lebzeiten tobte der englische Bürgerkrieg, zu Freuds der Erste Weltkrieg –, die beide Denker auf unterschiedlichen Wegen zu gleichen Schlüssen kommen ließ140. Der Hobbes und Freud eignende anthropologische Pessimis134 135 136 137 138
Waibl 1980, 42 (Hervorhebungen im Original). Waibl 1980, 59 – 62. Waibl 1980, 77 f. Waibl 1980, 82. Die Traumdeutung, GW II/III, 547 Anm. 1. Nach der Auskunft Anna Freuds befand sich in der Bibliothek ihres Vaters kein einziges Buch von Hobbes, und es kam ihr »›unwahrscheinlich‹« vor, »›daß er je ein Buch dieses Autors gelesen hat‹« (Waibl 1980, 18). 139 Waibl 1980, 23 – 25. 140 Waibl 1980, 81. Vermutlich spielt das jeweils zeitgenössisch vorherrschende Bild von der menschlichen Natur eine mindestens ebenso gewichtige Rolle. Man denke hier nur an das
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mus jedenfalls zeichnet wohl verantwortlich dafür, daß sie beide, wie Waibl141 konstatiert, gleichermaßen auf die »Flucht« in irgendeine Form von Utopie verzichteten. 1.1.5 Rousseau »Schließen wir vor allem nicht mit Hobbes, der Mensch sei von Natur böse […]. Hobbes hat nicht gesehen, daß dieselbe Ursache, welche die Wilden am Gebrauch ihres Verstandes hindert, den unsere Rechtsgelehrten annehmen, sie zu gleicher Zeit am Mißbrauch ihrer Fähigkeiten hindert, den er selbst annimmt.«142
Ein Jahrhundert nach Hobbes kehrt Rousseau dessen Theorie eines ursprünglich kriegerischen Naturzustandes um143 : Die natürliche Gabe des Mitleids zügelte demzufolge ursprünglich, schon vor »dem Gebrauch jeglicher Reflexion«144, die Leidenschaften der Menschen, die vor der Vergesellschaftung folglich nicht etwa in einem bellum omnium in omnes, sondern vielmehr in Frieden und Eintracht lebten. Von diesem paradiesischen Zustand aus betrachtet liest sich die weitere zivilisatorische Entwicklung der Menschheit konsequenterweise wie eine Verfallsgeschichte. In seiner preisgekrönten Beantwortung der von der Akademie von Dijon 1750 gestellten Frage, ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, übt Rousseau heftige Kritik an der Künstlichkeit und Überfeinerung seiner Zeit – des Rokoko – und an der damit einhergehenden Maskierung und Verstellung der Menschen145, was er u. a. zum Anlaß nimmt, die Ausgangsfrage zu verneinen. Wis-
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Menschenbild der frühen Barockoper : Die 1642 – also zu Hobbes’ Lebzeiten – uraufgeführte Oper L’incoronazione di Poppea von Claudio Monteverdi präsentiert im Grunde nur menschliche Bestien, legt also einen dem Hobbes’schen vergleichbaren anthropologischen Pessimismus an den Tag; zu Rousseaus Zeiten ein Jahrhundert später hingegen bestimmen menschlicher Edelmut, herrscherliche Milde und das Liebesglück der Beteiligten das Treiben auf der Opernbühne. Zu Freuds Zeiten hingegen hat wiederum ein illusionsloser Naturalismus den Sieg davongetragen. Waibl 1980, 82. Rousseau, Jean-Jacques, 1995: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand. (Philosophische Bibliothek, 243). Hamburg. 5. Aufl., 167 bzw. 169. Siehe auch ebd. 299: »Der Irrtum von Hobbes besteht also nicht darin, daß er den Kriegszustand unter den unabhängigen, gesellig gewordenen Menschen festgesetzt hat, sondern daß er diesen Zustand als der Gattung natürlich angenommen und als Ursache von Lastern bezeichnet hat, deren Wirkung er ist.« Rohbeck 2004, 41. Rousseau 1995, 171. Rousseau 1995, 11. Norbert Elias stellt diese Kritik in den Zusammenhang des Zivilisationsprozesses im 18. Jahrhundert: »Die Einstellung zum ›einfachen Menschen‹ und vor allem auch zum ›einfachen Menschen‹ in seiner ausgeprägtesten Gestalt, zum ›Wilden‹, ist überall in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Symbol für die Stellung eines Menschen in der inneren, gesellschaftlichen Auseinandersetzung.« (Elias, Norbert, 1969a: Über
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senschaft und Technik bewirken in seinen Augen nicht die Läuterung der Sitten, sondern den Verfall der Tugend. In der Umkehrung der Hobbes’schen Naturrechts-Idee und der Annahme des Naturzustands als einer Art von Garten Eden allein liegt jedoch freilich nicht Rousseaus Originalität, da schon antike Autoren der moralischen Verderbtheit ihres Zeitalters die Unverfälschtheit und Tugendhaftigkeit des edlen Wilden gegenüberzustellen sich anschickten146. Originell ist eher die Entschlossenheit, mit der er das Ganze der Geschichte besonders in seiner zweiten Abhandlung Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755) einer kritischen Betrachtung unterzieht, die anthropologische, ökonomische und im weiteren Sinne moralphilosophische Gesichtspunkte beinhaltet. Rousseau verfaßt eine Kritik am Eigentum, an der instrumentellen Vernunft, an der menschlichen Selbstentfremdung und zugleich eine »Rekonstruktion der Grundlagen und Genese gesellschaftlicher Verhältnisse«147. Er entwirft damit eine »veritable Geschichtsphilosophie«148, die sich von der sich zeitgleich entwickelnden Geschichtsphilosophie eines Turgot oder Voltaire allerdings durch ihren Fortschrittspessimismus unterscheidet. Auch wenn Rousseau also den das Zeitalter prägenden Fortschrittsoptimismus nicht teilt, so ist er dennoch insofern ein Kind der Epoche, als die aufklärerische Reflexion und Kritik auch die Anlage zur Kritik, ja Verneinung ihrer selbst enthalten; die Aufklärung wird dabei zur »Selbstaufklärung«149. »Der Stachel der Negativität sitzt tief im Fleisch der Moderne«150, und Rousseau ist in diesem Sinne einer ihrer ersten prominenten Vertreter151. Die Suspendierung theologischer Prämissen in der neuzeitlichen Weltbetrachtung ruft eine tiefe Verunsicherung
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den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Bern/ München, 49) Rousseau selbst gibt den Hinweis auf Tacitus und dessen ethnographische Schrift Germania: »So [nämlich unverderbt, M.K.] waren die Germanen, deren Einfalt, Unschuld und Tugend zu schildern eine Feder erquickte, die es leid war, die Verbrechen und die Heimtücke eines gebildeten, reichen und genußsüchtigen Volkes zu schildern.« (Rousseau 1995, 19) Angehrn 1991, 62. Rohbeck 2004, 38. Ebd. Gamm, Gerhard, 2001a: Einleitung. Zeit des Übergangs. Zur Sozialphilosophie der modernen Welt. In: Ders./ Hetzel, Andreas/Lilienthal, Markus, 2001, 7 – 27 (hier : 25). Vorgezeichnet ist die Kritik am Wissen freilich schon bei Sokrates, wie Rousseau im übrigen selbst bemerkt (Rousseau 1995, 23). Kurt Weigand charakterisiert Rousseau in der Einleitung zur Übersetzung darüber hinaus als »Vater zweier sehr feindlicher Brüder, des Sozialismus und der Romantik«, womit er auch über die Ambivalenz der Aufklärung ganz allgemein ein Urteil spricht (Weigand, Kurt, 1995: Einleitung. Rousseaus negative Historik. In: Rousseau, Jean-Jacques, 1995: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand. (Philosophische Bibliothek, 243). Hamburg. 5. Aufl., VII – LXXXVII (hier : IX)).
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auch in bezug auf das Wissen um das Wesen des Menschen hervor, die Rousseau im Vorwort zum zweiten Discours zur Sprache bringt152. Seine eigene Antwort auf dieses Problem ist die Annahme zweier dem Menschen schon »vor dem Verstand« gegebener »Prinzipien«, aus denen »alle Regeln des Naturrechts […] fließen«: der Selbsterhaltungstrieb und, wie erwähnt, das Mitleid153. Der homme naturel handelt nie gegen sein Mitleid, außer wenn seine Selbsterhaltung bedroht ist; der homme naturel ist ferner kein Hordentier, sondern lebt in relativer Isolation als Einzelgänger. Erst mit der Vergesellschaftung sei es zur Ungleichheit unter den Menschen gekommen, wobei Rousseau die natürliche im Sinne einer angeborenen, physischen Ungleichheit durchaus nicht leugnet; sie sei aber erst im Zuge der Bildung von Gemeinschaften überhaupt relevant geworden. Freud hält die Ausbildung der »Fähigkeit zum Mitleiden« hingegen für eine vergleichsweise späte und attestiert dem kindlichen Charakter eine grundsätzliche Nähe zur Grausamkeit; bei der Beschreibung der Genese »des passiven Triebes zur Grausamkeit (des Masochismus)« durch »die schmerzhafte Reizung der Gesäßhaut« beruft er sich auf das »Selbstbekenntnis Jean Jacques Rousseaus«, das seitdem »allen Erziehern« bekannt sei154. Freud bedient sich im übrigen zweimal ausgerechnet Rousseaus Mandarin als Gewähr für seine These der fehlenden menschlichen Tötungshemmung gegenüber Artgenossen: »Im ›PÀre Goriot‹ spielt Balzac auf eine Stelle in den Werken J. J. Rousseaus an, in welcher dieser Autor den Leser fragt, was er wohl tun würde, wenn er – ohne Paris zu verlassen und natürlich ohne entdeckt zu werden – einen alten Mandarin in Peking durch einen bloßen Willensakt töten könnte, dessen Ableben ihm einen großen Vorteil einbringen müßte. Er läßt erraten, daß er das Leben dieses Würdenträgers für nicht sehr gesichert hält. ›Tuer son mandarin‹ ist dann sprichwörtlich geworden für diese geheime Bereitschaft auch der heutigen Menschen.«155 Die Theorie eines einzelgängerisch lebenden, dennoch aber vor allem durch sein Mitleid bestimmten Urmenschen wäre in Freuds Sinne – der ja, wie oben ausgeführt, im wesentlichen die Hobbes’schen Theorien teilt – also eine falsche anthropologische Prämisse. Allerdings ist der ›frühe‹ – nämlich der frühkindliche – Mensch insofern Einzelwesen, als »seine Laufbahn als Ge152 Rousseau erklärt dort, es sei »kein einfaches Unternehmen zu entwirren, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist« (Rousseau 1995, 67). 153 Rousseau 1995, 71 – 73. 154 GW V, 93 f. 155 GW X, 352 (Hervorhebung im Original); siehe auch GW XIV, 484 Anm. 1. (Die weiteren Erwähnungen Rousseaus in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (GW VI 29 f., 35, 44) beziehen sich allein auf den Klang des Namens, während in Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹ eine Anekdote aus Rousseaus Liebesleben zur Beschreibung der wissenschaftlichen Tätigkeit als »Ablenkung vom Sexuellen« herangezogen wird (GW VII, 61). Immerhin scheint Freud über Werk und Biographie Rousseaus gut informiert gewesen zu sein.)
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fühlswesen« tatsächlich »als reiner Narzißt beginnt. All unsere Bindungen an Objekte sind spätere ›Übertragungen‹«156. In Anknüpfung an die im Kapitel Geschichte und Geschichtskultur vorgenommene psychoanalytische Deutung der jeweiligen Vorstellung eines paradiesischen oder eines kriegerischen Naturzustandes ließe sich die Konstruktion Rousseaus – der ohnedem der Kindheit in seinem Werk, beispielsweise im Erziehungsroman Emile, eine bis dahin unbekannte Aufmerksamkeit schenkt – so möglicherweise als eine Projektion der Vorstellung einer unbeschwerten Kindheit deuten, wenn er schon in der ersten Abhandlung von der menschlichen Frühzeit als einer Zeit der »glücklichen Unwissenheit« spricht und die Natur mit der Mutter vergleicht: »Laßt euch endlich gesagt sein, ihr Völker, daß euch die Natur vor der Wissenschaft bewahren wollte, wie eine Mutter eine gefährliche Waffe aus den Händen ihres Kindes reißt.«157 Es ist der Kampf des Lustprinzips gegen das Realitätsprinzip, den Rousseau hier schildert und bei dem er als Parteigänger des ersteren auftritt. Die von Freud vor allem in Das Unbehagen in der Kultur als ambivalent beschriebene menschliche Vergesellschaftung – die Triebunterdrückung bedingt Selbstentfremdung und Unbehagen, gleichzeitig aber sind die Institutionen des Triebverzichts notwendig für das menschliche Zusammenleben – weicht von der Rousseau’schen Analyse nur insofern ab, als Rousseau sich mit relativer Ausschließlichkeit auf das Unbehagen focussiert. Rousseau begründet damit den Polarismus moderner Fortschrittsbetrachtung, der sich bis in unsere Tage erhält: den einer nicht abreißen wollenden Fortschrittskritik trotz einer ebenfalls gleichbleibenden Fortschrittsgläubigkeit158. Ohne Rousseau direkt zu nennen, setzt Freud sich freilich kritisch mit der u. a. und vor allem von Rousseau vertretenen kulturfeindlichen Position und der daraus resultierenden Forderung nach einer Rückkehr in ursprünglichere Verhältnisse auseinander. Er findet eine solche Haltung »erstaunlich«, »weil – wie immer man den Begriff Kultur bestimmen mag – es doch feststeht, daß alles, womit wir uns gegen die Bedrohung aus den Quellen des Leidens zu schützen versuchen, eben der nämlichen Kultur zugehört.« Diesen »Standpunkt befremdlicher Kulturfeindlichkeit« führt Freud zurück auf eine »tiefe, lang be156 So das Verhältnis von homme naturel und Freuds Psychoanalyse in der Interpretation Kurt Weigands, Weigand 1995, LXXVIII. 157 Rousseau 1995, 27 bzw. 29. Bei aller Verschiedenheit von der Freud’schen Konzeption der zivilisatorischen Entwicklung enthält doch Rousseaus Werk einige – freilich sehr generelle – anthropologische Annahmen, die auch Freud unterschrieben hätte: So spricht schon Rousseau von der menschlichen Instinktarmut und daraus resultierenden Anpassungsfähigkeit und von der längeren Dauer der Kindheit beim Menschen gegenüber Tieren, ebd. 87 bzw. 97. 158 Rousseaus Kritik an der instrumentellen Vernunft findet im 20. Jahrhundert einen Nachfolger in Form der diesbezüglichen Überlegungen Adornos und Horkheimers. (Rohbeck 2004, 41 f.)
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stehende Unzufriedenheit mit dem jeweiligen Kulturzustand«, die schon für den »Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen« verantwortlich gewesen sei. In neuerer Zeit hätten besonders die Entdeckungsfahrten und die Begegnung der Europäer mit weniger zivilisierten, dafür aber scheinbar glücklicheren Völkern die Kulturfeindlichkeit genährt159, wie es bei Rousseau ja durchaus der Fall gewesen sein mag. Wer nun davon abgesehen ›recht‹ hat mit seiner Konzeption der menschlichen Ursprünge, Hobbes und Freud mit ihrer Annahme eines kriegerischen oder Rousseau mit seinem Entwurf eines gewaltfreien Naturzustandes, läßt sich aufgrund der Schriftlosigkeit der menschlichen Vorgeschichte auch heute nur schwerlich entscheiden; der isolierten Lebensweise des Urmenschen scheinen moderne Forschungsergebnisse ebenso zu widersprechen wie der Idee eines bellum omnium in omnes160. Demnach gibt es – im Gegensatz zur Freud’schen 159 GW XIV, 445. Freud untersucht auf den folgenden Seiten die Quellen der Kulturfeindlichkeit ohne rechtes Ergebnis (so auch Köhler 2006, 89) und hält es für schwierig zu entscheiden, ob Menschen früherer Epochen generell glücklicher waren (GW XIV, 448). 160 In vielen Dingen wesentlich realistischer sind die diesbezüglichen Überlegungen Turgots: Die »globale Perspektive«, die Nachricht von zum Teil auf sehr viel niedrigerem kulturellen Niveau lebenden Völkern, letztlich der Vergleich mit den Frühphasen der europäischen Geschichte inspirieren Turgot zu einer Art von Theorie der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Rohbeck 2004, 32 f., Hervorhebung im Original). Er formuliert schon im 18. Jahrhundert, was im 19. und vor allem 20. Jahrhundert mit geringen Modifikationen Grundlage der vergleichenden Ethnologie und sich hieran anschließender Reflexionen über prähistorische Lebensformen ist: »Auch heute noch vermittelt uns ein Blick auf die Erde die gesamte Geschichte der menschlichen Gattung« (Turgot, Anne Robert Jacques, 1990: Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Herausgegeben von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge. Eingeleitet von Johannes Rohbeck. Übersetzt von Lieselotte Steinbrügge. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 657). Frankfurt/M., 198). Seine weiteren Analysen sind oftmals von einer erstaunlichen Scharfsinnigkeit, wenn er beispielsweise – ohne daß es den Begriff der Altsteinzeit bzw. des Paläolithikums noch die Disziplinen der Ur- und Frühgeschichte bzw. der vergleichenden Ethnologie zu Turgots Zeiten schon gegeben hätte – die Lebensweise des vorgeschichtlichen Menschen anhand des Vergleichs mit den Ureinwohnern Amerikas wesentlich treffender als sein Zeitgenosse Rousseau charakterisiert: »Familien oder kleine Völker, die weit voneinander entfernt leben, weil sie einen riesigen Raum zu ihrer Ernährung benötigen: das zeichnet das Stadium der Jäger aus.« (Turgot 1990, 171) Diese Jägergesellschaften, die Turgot zeitlich an den Anfang seiner historischen Betrachtung stellt, lebten ohne »feste Bleibe« und in überschaubaren Gruppen, die manchmal, wie noch in seiner Gegenwart die »Wilden Amerikas«, »nur aus fünfzehn bis zwanzig Menschen bestehen« (ebd.). Es sind nicht wie bei Rousseau isoliert lebende, durch ihr Mitleid gelenkte Einzelwesen, die am Beginn der menschlichen Geschichte stehen, es ist auch kein bellum omnium in omnes, der die Lebensform des prähistorischen Menschen ausmacht – vielmehr entwirft Turgot ein auch nach heutigen Maßstäben verhältnismäßig realistisches Bild von der Lebensweise pristiner Gesellschaften, das in seinen Grundzügen nicht im Widerspruch zu modernen Forschungsergebnissen steht. Auch wenn Turgots Betrachtungen spekulativen Charakter haben, so kommen sie doch in vielem der Wirklichkeit näher als diejenigen Rousseaus oder auch Hobbes’, weil Turgot seine Spekulationen zum großen Teil auf den Boden der Anschauung stellt. Be-
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Theorie – in pristinen Gesellschaften »sehr wohl eine variable Gradation der Aggressivität«, die eng mit ihrer »sozioökonomischen Organisationsform« verbunden ist. Die Wirtschaftsweise der Jäger und Sammlerinnen beinhaltet – wie Rousseau offenbar richtig gesehen hat – »keine über den unmittelbaren Bedarf hinausreichende Güterakkumulation«; die nicht seßhaften Gesellschaften weisen eine »weitgehend egalitäre Sozialstruktur« auf und haben aufgrund geringen Geburtenüberschusses kein Motiv zum »kriegerischen Erwerb von Lebensraum«161. Ferner sei an dieser Stelle die Vermutung geäußert, daß der Zusammenhalt des Sozialverbandes und somit auch das Soziale selbst zumindest innerhalb ein und derselben Jäger-und-Sammlerinnen-Horde eine notwendige Voraussetzung zum Überleben darstellt, »das schlechthin Asoziale« hingegen, das nach Hobbes und Freud gleichbedeutend wäre mit der größtmöglichen Freiheit162, den Interessen des aller Wahrscheinlichkeit nach auf Dauer nur in der Gruppe überlebensfähigen Urmenschen vollkommen zuwiderliefe. Die aus der Konsequenz besagten Denkens resultierende Annahme eines Gesellschaftsvertrages, der den von Gewalt geprägten Naturzustand durch die Einführung des Rechts beenden soll, besäße Gültigkeit allenfalls für eine sehr viel spätere Kulturstufe. Der Rechtshistoriker Uwe Wesel macht darauf aufmerksam, daß »Recht und Ordnung, law and order, […] nicht identisch« sind. »Vor dem Recht gibt es die sich selbstregulierende Ordnung segmentärer Gesellschaften, die man als Gewohnheit bezeichnen kann. Sie wird zerstört durch die Entstehung institutionalisierter politischer Herrschaft. Recht entsteht mit Herrschaft, ist [zunächst als Deliktsrecht, M.K.] eines ihrer wichtigsten Instrumente«163. Herrschaft aber erscheint historisch betrachtet ihrerseits erst verhältnismäßig spät. Die Frage nach der Berechtigung sowohl desjenigen sozialphilosophischen Entwurfes, der den kriegerischen Zustand in die Vergangenheit verlegt, als auch seines Konterparts, der die Gegenwart als kriegerischen Zustand begreift, läßt sich also vermutlich am ehesten beantworten, wenn man die menschliche (Prä)historie zeitlich differenziert betrachtet. Neueren anthropologischen Studien zufolge164 ist eine maximale Gruppengröße von ca. 150
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merkenswert erscheint aus heutiger Sicht auch die kritische Analyse der Voraussetzung zur Entstehung des Patriarchats, das dieser Interpretation zufolge – für einen Denker des 18. Jahrhunderts eher untypisch – offenbar keinen gottgewollten und seit Urzeiten bestehenden Zustand darstellt: »Die Unterjochung der Frauen durch die Männer gründet auf der ganzen Erde auf der Ungleichheit der Körperkräfte.« (Turgot 1990, 188) Waibl 1980, 75 f. Gamm, Gerhard, 2001c: Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders./ Hetzel, Andreas/Lilienthal, Markus, 2001, 108 – 133 (hier: 132). Wesel, Uwe, 1980: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 333). Frankfurt/M., 76. Aiello, Leslie C./Dunbar, Robin I. M., 1993: Neocortex size, group size and the evolution of
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Individuen die Obergrenze menschlicher kognitiver Kapazitäten für eine auf interindividuellem Vertrauen aufbauende, das Recht also entbehren könnende Gemeinschaft165. Die ethnologische Forschung bestätigt eine Gruppengröße von oft weniger als 50 bis höchstens 150 Individuen für heute lebende Stammeskulturen wie beispielsweise die Mbuti-Pygmäen oder die Hadza in Afrika, deren Lebensweise wahrscheinlich noch am ehesten der altsteinzeitlichen entspricht166. Das punctum saliens menschlicher Selbstentfremdung auf sozialer Ebene wäre demnach das Anwachsen der Gruppengemeinschaften167, das mit einer ursprünglichen ›Natur‹ des Menschen kollidiert – freies Vertrauen als Basis des sozialen Systems ist ab einer bestimmten Größe des letzteren nicht mehr möglich; an die Stelle ungezwungener Gemeinschaft tritt die Repression, nicht zuletzt auch die ›Verdinglichung‹ von Individuen. Hobbes’ und Freuds Überlegungen gewinnen für Krisen- und Umbruchphasen der Geschichte neue Plausibilität. Hobbes tat letztlich gut daran, seine Vorstellung eines bellum omnium in omnes zu enthistorisieren und vielmehr als Idealtypus zu begreifen, denn so – im Sinne einer immer drohenden Gefahr im Falle von Krisenzeiten, in denen eine bestimmte vorangegangene, althergebrachte Ordnung aus den Fugen gerät168 – besitzt der postulierte Kriegszustand tatsächlich historische Realität:
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language. In: Current Anthropology 34, 184 – 193 (diesen Hinweis verdanke ich Felix Engel). Plessners Überlegungen über Grenzen der Gemeinschaft erführen hierdurch eine gewisse Bestätigung (Plessner, Helmuth, 1924: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn). Siehe u. a. Wesel 1980, 78 – 80. Auch in solchen vergleichsweise egalitär organisierten Gemeinschaften findet sich übrigens häufig eine – wenn auch geringe – soziale Stratifikation, die aber nicht auf repressive Dominanzstrategie gegründet ist, sondern auf das bereits erwähnte Vertrauen innerhalb der Gruppe: Die »Big Men« sind eher Mittler als Unterdrücker (für diesen Hinweis bin ich Gerolf Hanke zu Dank verpflichtet). Die Geschlechtsegalität der Hadza, Mbuti und der im südlichen Afrika lebenden San untersucht Ute Luig (Luig, Ute, 1990: Sind egalitäre Gesellschaften auch geschlechtsegalitär? Untersuchungen zur Geschlechterbeziehung in afrikanischen Wildbeutergesellschaften. In: Lenz, Ilse/Luig, Ute (Hgg.), 1990: Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften. Berlin, 75 – 152). Vgl. auch den dritten Teil der vorliegenden Arbeit. Erst nach Fertigstellung der vorliegenden Arbeit entnahm ich einem Aufsatz von Christoph Antweiler, daß das »Phänomen der sog. ›Ultrasozialität‹« – also der auch hier thematisierten »ungewöhnlichen Größe heutiger Gesellschaften« – aktuell Untersuchungsgegenstand der Evolutionspsychologie und Evolutionsökologie ist, ansonsten aber in den gegenwärtigen Sozialwissenschaften weitgehend vernachlässigt wird (Antweiler, Christoph, 2010: Pankulturelle Universalien – Basis für einen inklusiven Humanismus? In: Rüsen, Jörn (Hg.), 2010: Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen. (Der Mensch im Netz der Kulturen, 8). Bielefeld, 93 – 143 (hier : 102 f.)). Gewisse Parallelen bestehen hier auch zu Elias, der die bei wenig stabilem Gewaltmonopol bestehende größere Gefahr körperlicher Gewalt erörtert (Elias, Norbert, 1969b: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2:
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Ethnische Unruhen, Kriege, Plünderungen infolge von Naturkatastrophen usf. erweisen den Menschen tatsächlich häufig genug als ›lupus‹, den Krieg aller gegen alle als eine Art von Damoklesschwert, das dem Zivilisationsmenschen die Hinfälligkeit seiner kulturellen Errungenschaften im Angesicht beständig drohender Gefahren vor Augen führt. Psychologisch betrachtet mag diese in Krisenzeiten hervorbrechende Bedrohung des Menschen durch seinesgleichen ihren Urgrund im Familienleben besitzen, das bei Abzug der libidinösen Bindungen tatsächlich die Form eines bellum omnium in omnes anzunehmen imstande ist. Nur in dem idealen Falle einer vollständig gesunden psychosozialen Entwicklung – von der fraglich erscheint, ob sie in hinreichend selbstentfremdeten Gesellschaften überhaupt möglich ist – wird ein Gleichgewicht von aggressiven und libidinösen Triebpotentialen erreicht, das eine gewisse psychische Stabilität beinhaltet. Freilich hat der Mensch über 99 Prozent seiner Geschichte in der jagendsammelnden Existenzweise zugebracht169 ; Rousseau wäre ergo dahingehend zuzustimmen, daß die menschliche Zivilisation eher den Sonderfall in der Millionen Jahre währenden Geschichte des Menschen darstellt. Durch chronologische Ausdifferenzierung ließen sich also die Theorien eines bellum omnium in omnes und eines goldenen Zeitalters bis zu einem gewissen Grade miteinander synthetisieren.
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Philosophie der Geschichte als Geschichtsphilosophie
Zeitgleich mit der Herausbildung des deutschen Kollektivsingulars »Geschichte« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – wodurch ›Geschichte‹, wie im Kapitel Geschichte und Geschichtskultur dargelegt, nicht mehr Geschichte ›von‹ etwas, sondern Subjekt ihrer selbst ist und prinzipiell das Ganze der Geschichte umfaßt – ist auch im französischen Sprachraum zum ersten Mal von einer Philosophie der Geschichte die Rede: Voltaire gebraucht den Begriff philosophie de l’histoire 1764 in einer Rezension zu Humes Complete History of England170 und verwendet ihn ein Jahr später als Titel einer Schrift, die er seinem 1753 erstmalig erschienenen171 Essai sur les moeurs et l’esprit des nations voranstellt. Er gibt damit der im Entstehen begriffenen Disziplin der Geschichtsphilosophie im engeren Sinne den Namen, die sich zunächst vor allem darum bemüht, die Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Bern/München, 318 – 323). 169 Wesel 1980, 78. 170 Nagl-Docekal, Herta, 1996a: Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich? In: Dies. (Hg.), 1996, 7 – 63 (hier : 7). 171 Angehrn 1991, 69.
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Entwicklung der Menschheit philosophisch – und das heißt vor allem: nicht länger theologisch, sondern mit den Mitteln vernunftmäßigen Begreifens – in ihrer Ganzheit zu deuten. An die Stelle Gottes und mit ihm des göttlich geordneten Kosmos tritt der vernunftbegabte Mensch, »dessen Erfahrungs-, Handlungs- und Lebensraum« die Geschichte ist – eine Geschichte, die er »selbst macht« und die »zum Horizont von Sinnstiftung schlechthin«, ja zum »Erlösungssymbol der Menschheit« wird172. Neben die Konzeption einer philosophischen Interpretation der Geschichte als ganzer und die Verabschiedung der Idee einer in der Geschichte waltenden göttlichen Vorsehung173 tritt der Gedanke des Fortschritts als wesentliches Merkmal ›klassischer‹ Geschichtsphilosophie174. Dieser Fortschritt ist vor allem ein Fortschritt der menschlichen Vernunft, die sich dem neuen Verständnis zufolge auch in der Geschichte durchsetzt. Er manifestiert sich zum einen in der zunehmenden »Vervollkommnung menschlicher Fähigkeiten«, die sich anhand des unbestreitbaren technischen Fortschritts ja auch durchaus nachweisen läßt; zum anderen aber ist damit ein Akt menschlicher Selbstbehauptung, die Emanzipation von überkommenen Dogmen und nicht zuletzt gesellschaftlichen Zwängen gemeint, was das außerordentliche Vertrauen des Zeitalters »in die praktische Macht der Aufklärung« deutlich macht. Dieses Denkmuster zieht sich, in einer französischen Linie der Ideengeschichte, von Voltaire und Turgot über Condorcet hin zu Comte und kulminiert in einer deutschen, die vor allem mit den Namen Kant, Schelling, 172 Baumgartner 1996, 166 f. Baumgartner betont ferner, daß bei diesem Prozeß nicht – wie Löwith (1953) meint – die Eschatologie, sondern vielmehr die Ekklesiologie säkularisiert wird, da die »Heilsgeschichtskonzeption des Christentums« eben »nicht aus dem Gedanken an das Letzte, sondern aus dem Gedanken an das ausgebliebene Letzte« resultiere. Das »Ausbleiben der Parusie« habe erst »zur Entwicklung eines geschichtlichen Bewußtseins des Heils« geführt. Voltaire schließlich kritisiert die Kirche, »nicht ein falsches Eschaton« und ›erfindet‹ so den Begriff der Geschichtsphilosophie, d. h. die Vernunft tritt an die Stelle der nunmehr als obsolet empfundenen kirchlichen Autorität (ebd. 167 f.). Daneben interpretiert Baumgartner die Geschichtsphilosophie der Aufklärung vor allem auch als theoretische Reaktion auf die Krise des von Leibniz formulierten Theodizeeprogramms (ebd. 166). Einen mehr praktisch-lebensweltlichen Deutungsansatz verfolgt Koselleck, wenn er die Entstehung des geschichtsphilosophischen Bewußtseins »aus der politischen Situation des Bürgertums« im 18. Jahrhundert erklärt (Koselleck, Reinhart, 1959: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg/München, u. a. 2 f., meine Hervorhebung). Der Entstehungsgeschichte der Geschichtsphilosophie widmet sich jüngst auch Sommer, Andreas U., 2006: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. (Schwabe Philosophica, 8). Basel. 173 Voltaire versteht seine Geschichtsdeutung ausdrücklich als Gegenentwurf zu dem noch heilsgeschichtlich orientierten Discours sur l’histoire universelle Bossuets (Bossuet, Jacques B., 1966: Discours sur l’histoire universelle (1681). Chronologie et pr¦f. par Jacques Truchet. Paris), Löwith 1953, 104 sowie Angehrn 1991, 70. 174 Angehrn 1991, 67. Daher wird hier auch Rousseau nicht zur ›Geschichtsphilosophie‹ im engeren Sinne gerechnet.
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Fichte und Hegel verbunden ist, in der Vorstellung eines Ganges der Freiheit175. Die Epoche der eigentlichen Geschichtsphilosophie umfaßt also nur wenige Jahrzehnte von der Mitte des 18. bis zum Beginn, oder, so man (wie es hier geschieht) Marx mit einrechnet, zur Mitte des 19. Jahrhunderts. 1.2.1 Voltaire »Il faut donc, encore une fois, avouer qu’en g¦n¦ral toute cette histoire est un ramas de crimes, de folies, et de malheurs…«176
Besonders deutlich wird Voltaires aufklärerischer Impuls bei seiner Betrachtung der Geschichte im letzten Kapitel seines in Auszügen bereits zwischen 1745 und 1751 im Mercure de France publizierten177 Essai, wo er beispielsweise im Hinblick auf den Urheber des zweiten Kreuzzuges Bernhard von Clairvaux in drastischer Sprache schreibt, »il faut Þtre imb¦cile pour ¦crire que Dieu fit des miracles par la main de ce moine«, zumal dieser Kreuzzug ein Desaster gewesen sei. Weder Gott noch göttliche Vorsehung bedienen sich der Menschen als Werkzeuge. Die Geschichte sei ferner »[c]hez toutes les nations […] d¦figur¦e par la fable, jusqu’ ce qu’enfin la philosophie vienne ¦clairer les hommes«178 ; vernunftmäßiges Erkennen in Gestalt der Philosophie soll also die Ungereimtheiten und fabulösen Entstellungen der herkömmlichen Geschichtsschreibung auflösen – dieser von Voltaire postulierte Vorgang des nachträglichen Durcharbeitens einer möglicherweise durch die Erinnerung verzerrten Geschichte gleicht prinzipiell der Freud’schen Methode des Durcharbeitens individueller Krankengeschichten oder ganz allgemein dem psychoanalytischen Sekundärvorgang, dessen Aufgabe bekanntlich in einer nachträglichen Organisation des Primärvorgangs besteht. Voltaire charakterisiert die Geschichte als »ramas […] de folies« und damit implizit – wie später Freud – als eine Geschichte der Psychopathologie; allerdings erarbeitet Voltaire weder von diesem noch von einem anderen Standpunkt aus ein wirklich stringentes geschichtsphilosophisches System179. 175 Angehrn 1991, 76 (Hervorhebung im Original). »Geschichte als Gang der Freiheit« lautet auch der Untertitel des Kapitels zur klassischen Geschichtsphilosophie bei Angehrn. 176 Voltaire, FranÅois-Marie, 1963: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’ Louis XIII. Herausgegeben von Ren¦ Pomeau. Bd. 2. Paris, 804. 177 Rohbeck, Johannes, 1990: Turgot als Geschichtsphilosoph. In: Turgot, Anne Robert Jacques, 1990: Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Herausgegeben von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge. Eingeleitet von Johannes Rohbeck. Übersetzt von Lieselotte Steinbrügge. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 657). Frankfurt/M., 7 – 87 (hier : 8 Anm. 3). 178 Voltaire 1963, 800 f. 179 So auch Angehrn 1991, 71. Voltaires philosophie de l’histoire gleicht im Grunde eher aus der
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Wenn Voltaire den Januscharakter der Religion dahingehend interpretiert, daß man auf der ganzen Erde sich ihrer bedient habe, Schlechtes zu tun, die Religion aber »partout institu¦e pour porter au bien«180 sei, so erinnert dies an die Freud’sche These, nach der Religion hauptsächlich ein Mittel zur »Abwehr von Triebregungen«181, schließlich zur Sublimierung ist und genau wie in der Sicht Voltaires ambivalente Eigenschaften aufweist. Voltaire und Freud ähneln sich in ihrem Selbstverständnis als Aufklärer ; und Freud dürfte Voltaire unter dem Einfluß der Lektüre der entsprechenden Schriften von Josef Popper-Lynkeus auch hauptsächlich als solchen rezipiert haben182. Für Popper-Lynkeus’ etwas einseitigen Aufklärungsenthusiasmus war Voltaire in einer eigenwilligen Zusammenstellung gemeinsam mit Caesar und Konfuzius einer der drei größten Männer der Weltgeschichte183, der die Religion bekämpft und so der wissenschaftlichen Betrachtungsweise ihren modernen Triumph ermöglicht habe. Allerdings handelt es sich bei dieser durch Popper-Lynkeus vermittelten Voltaire-Rezeption Freuds um Wissen aus zweiter Hand; es erscheint fraglich, ob Freud tatsächlich die rein philosophischen Schriften Voltaires im Original gelesen hat. Er zitiert Voltaire in seinen Gesammelten Werken nur dreimal, erstmalig in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten184 und zweimal in Das Unbehagen in der Kultur, wo er die im Candide geäußerte Empfehlung zur Bearbeitung des Gartens zur Veranschaulichung des Prinzips der Ablenkungen von der Härte des Lebens gebraucht185. Genau wie in Rousseau scheint er also auch in Voltaire hauptsächlich den Dichter und weniger den Denker wahrgenommen, eine unmittelbare Beeinflussung durch den Philosophen Voltaire daher nicht stattgefunden zu haben.
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Perspektive des Aufklärers geschriebenen ›weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ als besagtem System. Voltaire 1963, 810. Köhler 2006, 9. Daß er die Schriften Popper-Lynkeus’ über Voltaire gelesen habe, erwähnt Freud in einem demselben gewidmeten Gedenkwort (Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus, GW XVI, 265). Popper-Lynkeus, Josef, 1903: Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben. Socialphilosophische Betrachtungen. Anknüpfend an die Bedeutung Voltaire’s für die neuere Zeit. Dresden/Leipzig. 3. Aufl., 5. GW VI, 72 (mit einer aus der Sekundärliteratur gewonnenen Anekdote zum Thema Unifizierungswitz). GW XIV, 432 f. sowie 438 Anm. 1.
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1.2.2 Kant »Der kategorische Imperativ Kants ist so der direkte Erbe des Ödipuskomplexes.«186
Kants geschichtsphilosophische Überlegungen verteilen sich auf wenige und überdies relativ kurze Schriften187; ihr Focus ist vor allem die »Erkennbarkeit der Geschichte« im Hinblick auf ein in der Zukunft liegendes Ziel derselben. Ein solches Ziel sieht er in der postulierten weltbürgerlichen Gesellschaft, in der sich die Vernunft als natürliche Anlage des Menschen dereinst voll entfalten können soll. Kant verknüpft somit »die (theoretische) Perspektive der historischen Reflexion […] mit der (praktischen) des politisch-geschichtlichen Handelns«188. Er selbst will zu einer Geschichte der Menschheit aus philosophischer Sicht nach eigenen Worten freilich nur einen »Leitfaden«189 beisteuern. Dabei unterstellt er den »Naturanlagen eines Geschöpfes«, dazu »bestimmt« zu sein, »sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln« – beim Tier seien es körperliche Organe, beim Menschen hingegen die Vernunft, die sich ihrem Zweck gemäß entwickeln soll. Sie sei sein »Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern« und kenne »keine Grenzen ihrer Entwürfe«. Allerdings sollen sich diese Naturanlagen des Menschen »nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln«; das Individuum ist sterblich und nur begrenzt lernfähig, die »Gattung« hingegen ist »unsterblich« und daher eigentlicher Träger einer Entwicklung der Vernunft190. Auch wenn die Vernunft in Kants Augen eine Naturanlage des Menschen ist, so ist die Geschichte ihres Fortschreitens doch eine kulturelle und in diesem Sinne von der Naturgeschichte getrennte191, da sich der Mensch kraft seiner Vernunft aus der Abhängigkeit von der Natur befreit. Für seine Mutmaßungen über den Beginn dieser Entwicklung – »der ersten Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen«192, wie er es nennt – wählt Kant den biblischen Bericht von Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies als »Karte«, die er entsprechend seiner Prämisse interpretiert. 186 Das ökonomische Problem des Masochismus, GW XIII, 380. 187 Im wesentlichen sind dies: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Kant, Immanuel, 1964: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. (Werke in sechs Bänden, 6). Darmstadt, 31 – 50, im Folgenden zit. als Kant 1964a), Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (ebd., 83 – 102, im Folgenden zit. als Kant 1964c), Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (ebd., 191 – 251, im Folgenden zit. als Kant 1964d), Der Streit der Fakultäten (ebd., 261 – 393, im Folgenden zit. als Kant 1964e; darin: Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei? Ebd., 351 – 368). 188 Angehrn 1991, 77. 189 Kant 1964a, 34. 190 Kant 1964a, 35 – 37. 191 Rohbeck 2004, 46. 192 Kant 1964c, 85.
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Ausgehend von der »Existenz des Menschen«, die keiner weiteren rationalen Ableitung »fähig« sei193, nimmt er denselben als zunächst instinktgeleitetes, dem Tier ähnliches Wesen an, bei dem sich jedoch alsbald die Vernunft zu regen beginnt – ein Vorgang, den er nicht weiter begründet, sondern lediglich beschreibt als Vergrößerung des Wissens des Menschen von seinen Nahrungsmitteln »über die Schranken des Instinkts«194 hinaus. Das Regen der Vernunft, die den Instinkt infragestellt und Begierden gegen den Naturtrieb »erkünsteln kann«, wäre demnach das Äquivalent zum biblischen Sündenfall. Menschliche Freiheit wird hier begriffen als (relative) Freiheit vom »Naturtriebe« und als daraus resultierende Wahlmöglichkeit, wobei Kant das Wirken der Vernunft ausdrücklich auch auf den Geschlechtstrieb bezieht, der bei den Tieren lediglich »auf einem vorübergehenden« und »größtenteils periodischen« Reiz beruhe, während der Mensch diesen auch ohne unmittelbare Reizquelle fortwährend empfinde. Der »Überdruß« der »Sättigung einer bloß tierischen Begierde« werde hierdurch vermieden, das Feigenblatt, das den Überdruß zu verhindern helfe, sei ergo »das Produkt einer weit größeren Äußerung der Vernunft« als die Erweiterung der Nahrungsmittel. »Weigerung war das Kunststück, um von bloß empfundenen zu idealischen Reizen, von der bloß tierischen Begierde allmählich zur Liebe […], zum Geschmack für Schönheit […] überzuführen«195. Freiheit vom Trieb in dem Sinn, daß seine Befriedigung nicht periodisch gebunden ist, sondern aufgeschoben werden kann, bildet auch nach psychoanalytischer Auffassung die Grundvoraussetzung für den Triebverzicht; Kant beschreibt in seinen Worten prinzipiell nichts anderes als die Modalitäten von Triebverzicht und vor allem Sublimierung, bei welcher der Sexualtrieb auf ein nicht geschlechtliches Ziel abgeleitet wird. Gerade schöpferische und intellektuelle – oder allgemeiner : kulturelle – Leistungen verdanken sich dieser Ablenkung und Umwandlung des Geschlechtstriebs196, wie schon Kant erkennt. »Der dritte Schritt der Vernunft« – nach ihrer Einflußnahme auf Ernährung und
193 Im Prinzip wählt Kant als Ausgangspunkt seiner Betrachtung Adam und Eva, ein zur Fortpflanzung fähiges Paar »in seiner ausgebildeten Größe« – und zwar ein einziges Paar, »damit nicht so fort der Krieg entspringe, wenn die Menschen einander nahe und doch einander fremd wären« (Kant 1964c, 86). Der Krieg läge demnach in der Natur des Menschen. 194 Kant 1964c, 88. 195 Kant 1964c, 89 (Hervorhebung im Original). 196 Siehe Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität, GW VII, 150: »Er [der Sexualtrieb] stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprünglich sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung.« (Hervorhebung im Original)
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Geschlechtstrieb – sei die »überlegte Erwartung des Künftigen«197, die den Menschen ganz besonders vor dem Tier auszeichne, zugleich aber auch Ursache von Verdruß und Besorgnissen sei198. »Der vierte und letzte Schritt« der Vernunft schließlich ist nach Kant derjenige, daß der Mensch sich als »Zweck der Natur« zu begreifen gelernt habe; hier liegen die Wurzeln zum Streben nach Naturbeherrschung und Vergesellschaftung: Denn der Mensch erkennt im Mitmenschen seinesgleichen, den Zweck der Natur, und diese Erkenntnis ist zur »Errichtung der Gesellschaft« »weit mehr als Zuneigung und Liebe«199 notwendig. Die Verbannung »aus dem Mutterschoße der Natur« rufe im Menschen zwar die Sehnsucht nach dem früheren Garten Eden hervor, doch die ihn zur Ausbildung all seiner in ihn gelegten Begabungen drängende Vernunft trete zwischen ihn und den »eingebildeten Sitz der Wonne« und lasse ihn die verhaßte Bürde trotz allem dulderisch ertragen – Kant scheint hier jenes Prinzip zu erörtern, das die Psychoanalyse als Realitätsprinzip bezeichnet. Es ist zwingend notwendig für den Ausgang des Menschen »aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit« und sein »Fortschreiten zur Vollkommenheit«. Was aber, wie erwähnt, »für die Gattung ein Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren« sei200, bedeute dies nicht unbedingt für das Individuum – nur durch eine positive Zukunftserwartung läßt sich eine derartige Teleologie eigentlich rechtfertigen201. Erst durch eine solche bekommt das Schauspiel der Geschichte einen nachvollziehbaren Sinn, wird verständlich, weshalb der Mensch überhaupt »aus dem Zeitabschnitte der Gemächlichkeit und des Friedens in den der Arbeit und der
197 Kant 1964c, 90 (Hervorhebung im Original). 198 In dieser »Erwartung des Künftigen« sah »das Weib […] die Beschwerlichkeiten, denen die Natur ihr Geschlecht unterworfen hatte, und noch obenein diejenigen, welche der mächtigere Mann ihr auferlegen würde, voraus« (Kant 1964c, 90). Auch wenn Kant sich hier stark am biblischen Bericht orientiert, so geht auch er – wie vor ihm schon, in expliziterer Weise, Turgot – implizit davon aus, daß die patriarchalische nicht die ursprüngliche Seinsform des Menschen ist. 199 Kant 1964c, 91. Die genannte Erkenntnis bedingt auch das Gebot, den anderen nicht zu verdinglichen, gleichzeitig bedeutet sie die Vertreibung »aus dem Mutterschoße der Natur«. 200 Kant 1964c, 92. 201 Ähnlich auch Rohbeck 2004, 46. Bei Kant heißt es weiter : Ehe »die Vernunft erwachte, war noch kein Gebot oder Verbot, und also noch keine Übertretung« (Kant 1964c, 92), der »erste Schritt […] auf der sittlichen Seite ein Fall«, u. a. »Strafe« (ebd., 93). »Denn die Natur hat gewiß nicht Instinkte und Vermögen in lebende Geschöpfe gelegt, damit sie solche bekämpfen und unterdrücken sollten. Also war die Anlage derselben auf den gesitteten Zustand gar nicht gestellt, sondern bloß auf die Erhaltung der Menschengattung als Tiergattung; und der zivilisierte Zustand kommt also mit dem letzteren in unvermeidlichen Widerstreit, den nur eine vollkommene bürgerliche Verfassung (das äußerste Ziel der Kultur) heben könnte, da jetzt jener Zwischenraum gewöhnlicherweise mit Lastern, und ihrer Folge, dem mannigfaltigen menschlichen Elende, besetzt wird.« (Kant 1964c, 94, Anm.)
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Zwietracht«202 übergehen mußte, weshalb, nach der Kant’schen Interpretation, aus dem »Jägerleben« das Hirtendasein und aus dem Sammlerleben der Ackerbau hervorging und die Zwistigkeiten unter den Menschen zu jenem Zeitpunkt begannen, als die Tiere des Hirten die Feldfrüchte des Bauern fraßen. Die Ackerbauern nämlich betrachteten den Boden als ihr Eigentum, und zu seiner Verteidigung schlossen sich viele von ihnen in Siedlungen zusammen, wo überdies der Tauschhandel entstand und mit ihm, so Kant, die Kultur und die Kunst – was er freilich an dieser Stelle nicht näher erläutert. Für Kant »das Vornehmste« jedoch ist die Entstehung »einer gesetzmäßigen Macht« als rechtlicher Institution, über die »selbst keine Ausübung der Gewalt« erfolgt203. An anderer Stelle – im Sechsten Satz der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht – charakterisiert Kant den Menschen als ein »Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat«204 ; in seiner Abhandlung Zum ewigen Frieden wiederum stellt er fest, daß der »Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, […] kein Naturstand (status naturalis)« ist, »der vielmehr ein Zustand des Krieges«205 sei. In dieser Interpretation kann ihm also große Nähe zu Hobbes und prinzipiell auch zu Freud attestiert werden; der Unterschied freilich besteht darin, daß Kant, besonders in der Abhandlung Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, diesen Kriegszustand nicht als Ursprung menschlichen Daseins, sondern als dem Sündenfall nachgeordnet annimmt und daß er für die Zukunft auf eine Besserung der institutionellen Verhältnisse in Form einer weltbürgerlichen Gesellschaft hofft, in der auch der Souverän nicht mehr im kriegerischen Naturzustand lebt. Der Krieg sei auf der gegenwärtigen Kulturstufe noch Bedingung der Freiheit206, ferner generell Mittel der Natur zur Ausbreitung und Vergesellschaftung der Menschen, da er den Zusammenschluß gegen Fremde befördere207. Der Krieg habe zunächst zur Folge, daß die Menschen sich über den Globus ausbreiten; der »Krieg aber selbst bedarf keines besondern Bewegungsgrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein«208. Die äußere – kriegerische – Bedrohung durch andere Völker nötige ein Volk dazu, »sich innerlich zu einem Staat [zu] bilden«; der »Mechanism der Natur« sorge ferner dafür, daß die Menschen sich, durch »Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesin-
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Kant 1964c, 95 f. (Hervorhebung im Original) Kant 1964c, 96 f. Kant 1964a, 40 (Hervorhebung im Original). Kant 1964d, 203. Kant 1964c, 99. Zu Kants Auffassungen über die Rolle des Krieges in der Geschichte des Menschen besonders Kant 1964d, 219 – 227. 208 Kant 1964d, 222.
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nungen«, unter »Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen«209. Ähnlich führe der Wettbewerb der Völker untereinander zu einem Gleichgewicht der Kräfte. Freud stimmt in Warum Krieg? mit Kant darin überein, daß der Krieg der menschlichen Natur entspreche: »Interessenkonflikte unter den Menschen werden also prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden. So ist es im ganzen Tierreich, von dem der Mensch sich nicht ausschließen sollte«. Der »Weg von der Gewalt zum Recht« gründe auf dem Zusammenschluß etlicher Schwacher, durch den »die größere Stärke des Einen« aufgewogen werde. Auch dies sei noch Gewalt, aber eben die Gewalt einer Gemeinschaft, in der der Einzelne durch Übereinkunft und die Einführung von Gesetzen auf eigene Gewaltausübung verzichte210. Die Konflikte zwischen verschiedenen »Gemeinwesen« schließlich bewertet Freud unterschiedlich: »Man kann die Eroberungskriege nicht einheitlich beurteilen. Manche, wie die der Mongolen und Türken, haben nur Unheil gebracht, andere im Gegenteil zur Umwandlung von Gewalt in Recht beigetragen«; als Beispiel führt er u. a. die »kostbare pax romana« an. Mit Kant ist er sich darin einig, daß, »[s]o paradox es klingt«, der Krieg »kein ungeeignetes Mittel zur Herstellung des ersehnten ›ewigen‹ Friedens« sei, »weil er imstande ist, jene großen Einheiten zu schaffen, innerhalb deren eine starke Zentralgewalt weitere Kriege unmöglich macht«. Doch seien die Eroberungen meist nicht von Dauer, die Menschheit habe letztlich nur viele »Kleinkriege gegen seltene, aber umsomehr verheerende Großkriege« eingetauscht. Er stimmt seinem Briefpartner Einstein (und eigentlich auch Kant) darin zu, daß nur die »Einsetzung einer Zentralgewalt […], welcher der Richtspruch in allen Interessenkonflikten übertragen wird«, Kriege sicher verhindern könne. Der Völkerbund sei zwar »als solche Instanz gedacht«, es fehle ihm aber (ähnlich wie heute der UNO) die Macht zur Durchsetzung seiner Ziele211. Über die tiefenpsychologischen Motivationen für den Krieg referiert Freud im weiteren die Ergebnisse seiner Trieblehre. Das scheinbare Paradoxon vom Krieg als eigentlich zerstörerischer, letztlich aber schöpferischer Kraft sucht Kant seinerseits aufzulösen, indem er als Maßnahme, die die Natur anwendet, um ihre Anlagen in der Gesellschaft zu entwickeln, den »Antagonism derselben« benennt: die »ungesellige Geselligkeit«212, den Drang der Menschen sowohl zur Vergesellschaftung als auch zur Vereinzelung, zur Bindung aneinander als auch zur Feindseligkeit und Konkurrenz. Ohne menschliche Herrsch- und Habsucht würden Kant zufolge die Naturanlagen nie entfaltet; die List der Natur bestehe in der Aufhebung der 209 210 211 212
Kant 1964d, 223 f. GW XVI, 14 f. GW XVI, 17 f. Kant 1964a, 37 (Hervorhebung im Original).
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zerstörerischen Interessen der Menschen gegeneinander213. Kant macht sich also keine Illusionen über die »Bösartigkeit der menschlichen Natur«214, daher ist die »Vernunft in der Geschichte […] eine herzustellende, nicht bloß zu konstatierende«215 ; es gibt gewissermaßen einen historisch zu verwirklichenden Auftrag im Sinne einer handlungstheoretischen Anweisung, wozu ebenfalls stimmt, daß das Individuum nach Kant die historische Schuld weder der »Vorsehung« noch den »Stammeltern« zuschreiben kann, sondern allein sich selbst216. Folglich trägt es die Verantwortung im Umgang mit dieser Schuld. Auch in der Psychoanalyse kann nur das Individuum selbst die eigenen Schuldgefühle auflösen, obwohl an der Entstehung des Schuldgefühls bzw. -bewußtseins, das Freud als »Ausdruck einer Spannung zwischen Ich und Über-Ich« definiert, die elterliche Autorität maßgeblich beteiligt ist. Das Über-Ich verdankt seine Genese der Introjektion dieser Autorität »ins Ich«, und wesentliche ihrer Merkmale – »ihre Macht, Strenge, Neigung zur Beaufsichtigung und Bestrafung« – werden gleichsam mit verinnerlicht. Freud, der Kant vor allem als Philosophen der Erkenntniskritik und der Moral rezipiert, setzt dessen kategorischen Imperativ gleich mit dem Über-Ich und definiert ersteren so als »direkte[n] Erbe[n] des Ödipuskomplexes«217. Freud beruft sich des öfteren – nicht nur hinsichtlich der Moralphilosophie, sondern auch der a priori-Bedingungen, des Zeit/RaumVerständnisses218, des Traums und des Komischen – auf die Kant’sche Autorität, erörtert »beglaubigend Grundsätze seiner Lehre, deren Verständnis« allerdings manchem Kritiker »nicht eben angemessen geraten erscheint«219 ; überdies schlössen sich »beider Lehren […] in Sachen Moral aus«220. Freuds Überlegungen zur Entstehung der Moral sind in der Tat sehr viel näher an Nietzsche als an Kant221. Im Gegensatz zu Nietzsche jedoch, der für Kant hauptsächlich Schimpf und Spott übrig hatte222, bezeugt Freud trotz aller inhaltlichen Differenz Kant gegenüber stets seine hohe Wertschätzung. 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222
Kant 1964d, 224. Kant 1964d, 210. Angehrn 1991, 84. Kant 1964c, 101. GW XIII, 379 f. Ähnlich auch GW IX, 4 und 32. Zur Kant-Rezeption Freuds: Heinz, Rudolf, 1981: Psychoanalyse und Kantianismus. Würzburg. GW XIII, 27 f. sowie Heinz 1981, 15 f. bzw. 28 f. So Heinz 1981, 28. Heinz 1981, 82. Zu dieser Thematik vgl. das Nietzsche-Kapitel der vorliegenden Arbeit. Man denke an die betreffenden Äußerungen in Der Antichrist (Abschnitt 11): »Die ›Tugend‹, die ›Pflicht‹, das ›Gute an sich‹, das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit – Hirngespinnste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens, das Königsberger Chinesenthum ausdrückt. […] Kant wurde Idiot. – Und das war der Zeitgenosse Goethes! Dies Verhängniss von Spinne galt als der deutsche Philosoph, – gilt es noch! … Ich hüte mich zu sagen, was ich von den Deutschen denke …«
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1.2.3 Schelling »Allerdings nun indem das Ich … wird … erinnert es sich nicht mehr des Wegs, den es bis dahin zurückgelegt hat, denn da das Ende dieses Wegs eben erst das Bewußtsein ist, so hat es … den Weg zum Bewußtsein selbst bewußtlos und ohne es zu wissen zurückgelegt…«223
Hatte Kant die Vernunft als eine Naturanlage des Menschen begriffen, die sich im Laufe der Geschichte auf das Ziel der weltbürgerlichen Gesellschaft hin entfaltet, so ist Schelling »der erste und wohl wirkungsträchtigste Denker, der am Leitfaden der Vernunft ein systematisches, die ganze Geschichte umgreifendes Konzept entwickelt«224. Er tut dies, indem er, ausgehend von Kants Kritik der reinen Vernunft, die »Vernunftstruktur« auf die historische Zeit überträgt und sie als Folge von Phasen menschlicher Entfaltung begreift. Schelling wird so zum eigentlichen Begründer der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus. Kant hatte in der Kritik der reinen Vernunft drei menschliche »Erkenntnisvermögen« erörtert: das der sinnlichen Wahrnehmung als »Vermögen der Rezeptivität«; das des Verstands, der dem Menschen »erlaubt, Dinge in Raum und Zeit gemäß ihren Eigenschaften wahrzunehmen, sie in einen Erfahrungskontext einzustellen und als Gegenstände zu erkennen«, als »Vermögen der Begriffe«; und schließlich das der »Vernunft im engeren Sinne«, durch die »das durch den Verstand erkannte Gegenständliche unserer Erfahrungswelt zu einem umfassenden Urteilszusammenhang, d. h. zur Totalität erweitert und damit auf das Unbedingte bezogen wird«, als »Vermögen der Ideen«. Alle drei Vermögen ergeben zusammen die Komponenten der »Vernunft (im weiteren Sinne)«. Schelling verknüpft nun die genannten Strukturelemente der Vernunft mit einer Chronologie der Selbstverwirklichung der Vernunft: Die erste Phase der Geschichte ist demnach die ursprüngliche und unverfälschte Entwicklungsstufe »der sinnlichen Wahrnehmung, das Paradies«; die zweite Phase ist die »des Sündenfalls«, in welcher der aufkommende »Begriff die Einheit des Lebens in der sinnlichen Wahrnehmung auflöst und zerstört«; in der dritten Phase schließlich münden die Bemühungen, den Sündenfall und die Zwiespältigkeit der Welt mit den Mitteln des Verstandes ungeschehen zu machen, in ein neues Paradies auf (Nietzsche, Friedrich, 1988 f: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6: Der Fall Wagner. GötzenDämmerung. Der Antichrist u. a. (dtv, 2226). München u. a., 177 f.) 223 Zit. nach Marquard 1987, 16. 224 Baumgartner 1996, 153. Zum Folgenden ebd. 153 f. Schellings geschichtsphilosophischer Entwurf findet sich in: Schelling, Friedrich W. J., 1976a: Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis genes. III. explicandi tentamen criticum et philosophicum (1792). In: Ders., 1976: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der SchellingKommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm Gustav Jacobs, Hermann Krings und Hermann Zeltner. Werke Bd. 1. Stuttgart, 47 – 181.
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höherer Ebene. Die Weltgeschichte ist somit sowohl »eine Bewußtseinsgeschichte der Menschengattung« als auch eine »Befreiungsgeschichte der menschlichen Vernunft aus dem dumpfen Dasein der Sinnlichkeit zum reflektierten Dasein der Vernunfteinheit«225. Prinzipiell ähnelt dieser Vorgang dem, den Freud unter dem Titel Der Fortschritt in der Geistigkeit in seiner letzten großen kulturtheoretischen Abhandlung Der Mann Moses und die monotheistische Religion für die Entstehung des Monotheismus beschreibt, welcher den Gottesbegriff dergestalt ändere, daß dabei eine »Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung«, ein »Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit« stattfinde. Freilich sieht Freud darin »streng genommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen«, weswegen er auch die Kehrseiten des Prozesses nicht verschweigt226. Der späte Schelling ist im übrigen von der Allmacht der Vernunft nicht länger überzeugt, ja sein Werk ist mehr und mehr geprägt durch das Erschaudern über diese Einsicht227. Der philosophische Idealismus erfährt zunächst eine naturphilosophische Wandlung228, der damit einhergehenden romantischen »›Verzauberung‹ der Natur« folgt jedoch bald darauf eine Entzauberung, »die Romantiknatur demaskiert sich als Triebnatur«229. Die allumfassende Macht der Vernunft wird obsolet mit der »Wiederkehr der Idee der Natur«230. Der Boden ist bereitet für den unvergleichlichen Aufstieg der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in welcher auch der junge Freud seine geistige Sozialisation
225 Baumgartner 1996, 154. Siehe auch Schellings Jahrzehnte später formulierte Definition der zentralen Aufgabe der Wissenschaft, die diesem Kapitel bereits als einleitendes Zitat vorangestellt wurde (Münchener Vorlesungen, 1827, hier zit. nach Marquard 1987, 16): »Allerdings nun indem das Ich … wird … erinnert es sich nicht mehr des Wegs, den es bis dahin zurückgelegt hat, denn da das Ende dieses Wegs eben erst das Bewußtsein ist, so hat es … den Weg zum Bewußtsein selbst bewußtlos und ohne es zu wissen zurückgelegt … (es) findet in seinem Bewußtsein nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler jenes Wegs, nicht den Weg selbst. Aber eben darum ist es nun Sache der Wissenschaft … jenes Ich des Bewußtseins mit Bewußtsein zu sich selbst, d. h. ins Bewußtsein, kommen zu lassen. Oder : die Aufgabe der Wissenschaft ist … eine Anamnese«. In diesem Verständnis von Wissenschaft und Bewußtsein berühren sich Schelling und Freud. Das (auch historische) Werden des Bewußtseins ist eine Ich-Erweiterung. 226 GW XVI, 220. Vgl. auch das diesem Essay Freuds gewidmete Kapitel am Ende des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit. Zu den Kehrseiten der Vernachlässigung des Körperlichen gegenüber dem Geistigen schreibt Freud: »Die Harmonie in der Ausbildung geistiger und körperlicher Tätigkeit, wie das griechische Volk sie erreichte, blieb den Juden versagt.« (GW XVI, 223) 227 Kittsteiner 2004, 66 Anm. 50. 228 Marquard 1987, XI. 229 Marquard 1987, 4. 230 Baumgartner 1996, 169. Fraglich freilich bleibt, was genau diese »Vernunft« sei – und ob sie tatsächlich zur Natur in einem Widerspruch stehen muß. Solchen Überlegungen an dieser Stelle nachzugehen, würde den Rahmen des Kapitels allerdings sprengen.
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empfängt231. Den Beziehungen zwischen Schelling und Freud geht Odo Marquard nicht nur in seiner 1987 veröffentlichten Habilitation, sondern u. a. auch in der in der Einleitung bereits zitierten Aufsatzsammlung Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie nach. Dort macht er darauf aufmerksam, daß neben inhaltlichen Übereinstimmungen indirekt auch ganz konkrete persönliche Verbindungen bestanden: Freuds Lehrer Meynert war Eleve Griesingers, dessen Lehrer Herbart wiederum genau wie Schelling Fichte-Schüler war. Noch bedeutsamer ist in diesem Zusammenhang freilich die Tatsache, daß ein weiterer Lehrer Freuds, Ernst Brücke, selbst Schüler des Schelling-Jüngers Johannes Müller gewesen ist. Ohne sich dessen bewußt zu sein, wird Freud das Rüstzeug, das ihm die Naturphilosophie und vor allem der späte Schelling mittelbar in die Hand gaben, für seine eigenen Theorien verwenden, so daß er bis in die Begrifflichkeiten hinein dem unbewußten Vorgänger folgt: Wie Schelling arbeitet er »mit einer Zwei-Tendenzen-Theorie«, deren Elemente er als die »Systeme« des »Unbewußten« und »Bewußten« bezeichnet, während Schelling sie als »bewußtlose« und »bewußte Tätigkeit« auffaßt. Auch ein als »frei beweglich […]« und »gestaltlos[…]« verstandener »Trieb«, die »Leistung der ›Hemmung‹ und ›Verdrängung‹« und einige andere zentrale Kategorien finden sich wörtlich bei beiden, sowohl bei Schelling als auch bei Freud232, so daß man – bei aller Unterschiedlichkeit der Lehren, die nicht zuletzt aber der Unterschiedlichkeit der Epochen ihrer Entstehung geschuldet ist – die Psychoanalyse in einem gewissen Sinne als zumindest mittelbaren Erben der Schelling’schen Philosophie begreifen kann.
1.2.4 Fichte »[D]er Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.«233
Schellings Lehrer Johann Gottlieb Fichte entwirft 1806 in seiner Schrift Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters ein ähnliches Modell wie Schelling: Es gilt ihm, der die Geschichte als Philosoph d. h. apriorisch und nicht empirisch begreifen will, den »Weltplan«234 derselben aufzudecken; dieser Weltplan ist vernünftig, denn »Vernunft ist das Grundgesetz des Lebens einer Menschheit, so wie alles geistigen Lebens«, sie ist nach Fichte dasjenige ordnende Prinzip, das auch den Naturprozessen zugrunde liegt. Wo »die Vernunft noch nicht ver231 Vgl. die entsprechenden Kapitel im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit. 232 Marquard 1982, 88. 233 Fichte, Johann G., 1845a: Sämtliche Werke. Bd. 7: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Herausgegeben von Immanuel H. Fichte. Leipzig, 7. 234 Fichte 1845a, 6.
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mittelst der Freiheit wirksam seyn kann, ist sie als Naturgesetz und Naturkraft wirksam«, und zwar als »dunkler Instinct«. Als solcher wirke sie in der ersten von zwei Hauptepochen der irdischen Existenz der Menschheit, in der letztere »ihre Verhältnisse« noch nicht »mit Freiheit nach der Vernunft [eingerichtet]« habe. »Der Instinct ist blind, ein Bewusstseyn ohne Einsicht der Gründe«, die Freiheit aber, »als der Gegensatz des Instinctes, ist daher sehend und sich deutlich bewusst der Gründe ihres Verfahrens«235. Freiheit also ist im Gegensatz zum Instinkt, der auch Vernunft, aber eben eine unbewußte Vernunft ist, das Bewußtsein der Vernunft ihrer selbst und ihrer Gründe236. Die Geschichte der Menschheit ist folgerichtig eine Bewegung zur Freiheit, die Fichte in fünf Zeitalter einteilt: die Zeitalter des Vernunftinstinkts, des in äußeren Zwang verwandelten Vernunftinstinkts, des sich gegen diesen Zwang auflehnenden Freiheitstriebs, der Vernunftwissenschaft und der Vernunftkunst237. Die eigene Gegenwart sieht er im Zentrum dieser Entwicklung, da die Emanzipation »von aller äußeren, falschen Autorität« gerade erst begonnen und sich nicht einmal die »Einsicht in die unüberbietbare Wahrheit der Wissenschaftslehre«238 durchgesetzt habe. Der Gang zum Positiven führt »durch das absolut Negative«, eine dialektische Denkfigur, derer sich nach ihm ebenso Hegel und Marx bedienen werden. Wie schon bei Kant manifestiert sich überdies auch bei Fichte ein deutlicher Zukunftsbezug des geschichtsphilosophischen Modells. Anders als jener aber, der die Verantwortlichkeit für die Vernünftigkeit der Geschichte der Natur zuschrieb, fordert Fichte historische Vernunft als »nicht bloß zu erkennende, sondern selbsttätig hier und jetzt zu realisierende« ein, Fichtes Konzept erscheint daher unter den geschichtsphilosophischen Entwürfen »als eine der dezidiertesten Stellungnahmen für Freiheit«239. Arnold Gehlen sah in der Fichte’schen Vorstellung, »daß der Mensch ›die Freiheit‹ realisiert, indem er die Verfügungsgewalt über die ihm entglittenen Produkte seiner eigenen Selbsttätigkeit wiedererlangt«, den Kerngedanken des Konzeptes der Entfremdung, das sich als eine der beiden »wichtigsten und folgenreichsten philosophischen Erfindungen der beiden letzten Jahrhunderte« (die andere war die ebenfalls von Fichte herkommende »dialektische Denkmethode«) wie eine unsichtbare Verbindungslinie von Fichte über Feuerbach und Marx zu Freud ziehe. Die »Träume, die Ticks […] und überhaupt das ganze 235 Fichte 1845a, 7 – 9. 236 Zum Themenkomplex »Willensfreiheit des Handelns« und »unbewußten Triebinhalten« siehe Klein (1984, 34 f.), der sich um eine triebtheoretische Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs zwischen genannten Kategorien bemüht. 237 Fichte 1845a, 11 f. 238 Gamm, Gerhard, 1997: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. (Reclams Universal-Bibliothek, 9655). Stuttgart, 39. 239 Angehrn 1991, 86 – 88.
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neurotische Arsenal« seien nichts anderes »als bewußtlose Produkte der Selbsttätigkeit des Ich«, die durch die Analyse aufgelöst würden, auf diese Weise »Freiheit und Verfügungsgewalt des Ich […] wiederherstellend«. Gehlen übt scharfe Kritik an Fichtes mit dieser »Formel von der ›verlorenen Freiheit‹, von der Entfremdung und anscheinenden, täuschenden Selbständigkeit und Übermacht des von uns Erzeugten« verknüpftem Versuch, das Fundament der Erfahrungswelt im Ich darzulegen240 ; er sieht in der Ermächtigung des Ich und der Verabsolutierung des Subjektiven durch den Idealismus den Boden, auf dem Jakobinertum und Totalitarismus gedeihen. Implizit übt Gehlen mit seiner Idealismuskritik auch Kritik an Freud, der zur Zeit der Abfassung des Gehlen’schen Aufsatzes seinen Rang als Gewährsmann des Linkshegelianismus – namentlich beispielsweise Erich Fromms, den Gehlen hier zitiert – behauptete. Der anarchische Charakter der idealistischen Vorstellung von der Realisierung der Freiheit sei »wie ein Bazillus eingekapselt in der Psychoanalyse verborgen, dort auf die Stunde der Politisierung dieser Glaubenslehre wartend«. Gehlen selbst setzt dem »direkte[n] Ausspielen der Subjektivität« die Abhängigkeit des Subjekts von äußeren Bedingtheiten entgegen; das Mängelwesen Mensch benötige Institutionen, weil es jenseits des Subjekts noch gewissermaßen objektive Anforderungen gebe, die den Menschen zwangsläufig von seiner unmittelbaren Subjektivität entfremdeten241. Bei seiner impliziten Freud-Kritik verkennt Gehlen offenbar, daß Freud sich vom Idealismus ja gerade durch seine empirisch-naturwissenschaftliche Prägung unterscheidet, daß er viel zu sehr Naturwissenschaftler ist, als daß er die Bedeutung der Erfahrungswelt mißachten könnte. Ausdrücklich begreift Freud den Menschen – und zwar auch den Menschen und sein Inneres – als dem Realitätsprinzip d. h. den Anforderungen der Außenwelt unterworfenes Wesen. Freud postuliert gewiß die Befreiung des Ich aus neurotischer Gebundenheit, da die neurotische ›Lösung‹ von »Probleme[n] der Wunschkompensation« durch das »Zurücktreten des sozialen Faktors und das Überwiegen des sexuellen« nur 240 Gehlen, Arnold, 1952/53: Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 40, 338 – 353 (hier : 338 – 340, Hervorhebung im Original). 241 Gehlen 1952/53, 349 – 352 (Hervorhebung im Original). In der Tat beriefen sich große Teile der nur etwas mehr als ein Jahrzehnt nach der Abfassung des Gehlen’schen Aufsatzes sich Bahn brechenden Studentenbewegung auf Aspekte der Freud’schen Lehre, freilich hauptsächlich in den Interpretationen Fromms, Marcuses u. a. (z. B. Fromm, Erich, 1990: Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewußten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse. Herausgegeben von Rainer Funk. (Schriften aus dem Nachlaß, 3). Weinheim; Marcuse, Herbert, 1965: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Übersetzt von Marianne von Eckardt-Jaffe´. (Bibliothek Suhrkamp, 158). Frankfurt/ M.) Weit zustimmender beurteilt Gehlen Freud übrigens in seiner 1969 erschienenen Schrift Moral und Hypermoral (Gehlen, Arnold, 1969: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Frankfurt/M./Bonn, u. a. 43 – 45, 83, 122).
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mehr eine Entstellung ohne produktiven Nutzen sei und allein Störfunktion besitze. Auch gebe es Parallelen zwischen der neurotischen Erkrankung des Individuums und den »großen sozialen Institutionen«, die zur Lösung ähnlicher Herausforderungen entstanden seien wie die individuelle Neurose; das Verständnis der letzteren trage somit auch viel zum Verständnis der Institutionen bei. Während aber die Neurose »unbrauchbar für anderes als für unsere Aufklärung« sei242, leugnet der Sozialanthropologe Freud durchaus nicht die Notwendigkeit von Institutionen (wenngleich die von Gehlen genannte Kirche sicher nicht zu denen von Freud als erhaltenswert gedachten gehört); selbige spielen Freud zufolge vielmehr eine wichtige Rolle bei der Ermöglichung eines nicht durch das überschießende menschliche Triebpotential gestörten sozialen Miteinanders. Die von Fichte postulierte »Selbstreflexion« im Sinne einer »Einheit von Vernunft und dem interessierten Gebrauch der Vernunft«, »von Anschauung und Emanzipation« freilich ist, zumindest nach Habermas’scher Lesart, »[i]n der analytischen Situation« verwirklicht243.
1.2.5 Hegel »In diesem Punkt treffen sich Hegel und Freud: eine Kultur entsteht durch die Bewegung der Begierde…«244
Fußend auf Schelling und Fichte, entwickelt Hegel in weitaus vielschichtigerer, umfassenderer Form die Entfaltung der Vernunft bis zum Stadium ihres »Beisich-selber-Sein[s]« in Gestalt absoluten Geists245. »Der einzige Gedanke, den die Philosophie [zu einer Betrachtung des Geschichtlichen, M.K.] mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.«246 Dieser Gedanke ist zugleich apriorische Annahme als auch das durch die Betrachtung der Geschichte zu Erweisende: ihre Rationalität, sie selbst als Werdegang der Vernunft zu analysieren247. Die Vernunft verwirklicht sich dabei vermittelst des Handelns der Subjekte – und zwar ohne deren bewußte Intention248. Die »Handlungen der Menschen« aber beruhen auf »ihren Bedürfnissen, ihren Leidenschaften, ihren Interessen«, nicht zuletzt »ihren Charakteren und Talenten«249 ; »nichts Großes in 242 Das Interesse an der Psychoanalyse, GW VIII, 416. 243 Habermas, Jürgen, 1968: Erkenntnis und Interesse. (Theorie, 2). Frankfurt/M., 348 f. 244 Ricœur, Paul, 1969: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt/M., 476. 245 Baumgartner 1996, 154. 246 Hegel 1986, 20 (Hervorhebung im Original). 247 Angehrn 1991, 91. 248 Angehrn 1991, 98. 249 Hegel 1986, 34.
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der Welt« sei »ohne Leidenschaft vollbracht worden«250. Daher bediene sich die Vernunft der List, »die Leidenschaften für sich wirken« zu lassen251. »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«252, die Geschichte der sich befreienden Vernunft. Das Gesetz des Lebens besagt, daß das im Keim Enthaltene sich entfalten muß, um nicht abzusterben253, das Ansich als das Mögliche muß zum Fürsich als das Wirkliche werden, und diesem Gesetz unterliegt auch der Geist. Die Freiheit ist als Keim in der Vernunft angelegt, sie muß sich durch das Mittel der historischen Realität entfalten254. Der Kant’schen Naturabsicht entspricht bei Hegel die Metapher des Weltgeists, und auch bei Hegel ist, wie zuvor bei Kant, der Bereich des Politischen, die größer werdende Regulierung des Sozialen durch das Recht als gesellschaftliche Realisierung von Freiheit der Prüfstein, das entscheidende Kriterium bei der Betrachtung des »Fortschritt[s] im Bewußtsein der Freiheit«255. Kritisch setzt sich Hegel mit der zu seiner Zeit geläufigen Vorstellung auseinander, nach der der erste Mensch bereits im vollen Besitz der Freiheit und der Wahrheit, die nachmalige Entwicklung eine »Verschlechterung« dieses Zustandes gewesen sei; diese Vorstellung ist nach Hegel unbegründet, die philosophische Analyse habe sich überdies mit der Geschichte ab dem Zeitpunkt zu beschäftigen, »wo die Vernünftigkeit in weltliche Existenz zu treten beginnt« – und diese weltliche Existenz sei der Staat256. Vor dem ersten Staat gebe es keine Geschichte, sondern nur Vorgeschichte, die aus genannten Gründen nicht Gegenstand seiner Untersuchung sein könne. Die hierauf folgende Entwicklung der Geschichte, des Bewußtseins der Freiheit vollziehe sich in Stufen, welche durch den jeweilig vorherrschenden Volksgeist repräsentiert werden: So wissen die Orientalen »noch nicht, daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist«, »sie wissen nur, daß Einer [nämlich der Herrscher oder Despot, M.K.] frei ist«; für Griechen und Römer sind einige, und zwar die Bürger frei; »[e]rst die germanischen Nationen sind im Christentum zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch als Mensch frei ist, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht«. Hegel ist dabei 250 251 252 253
Hegel 1986, 38 (Hervorhebung im Original). Hegel 1986, 49. Hegel 1986, 32. Angehrn 1991, 95. Entgegen der an ihm häufig geübten Kritik läßt dieses Modell trotz immanentem Fortschrittsgedanken auch das Prinzip der Negativität und damit des Verfalls zu (Baumgartner 1996, 154 f.). 254 Hegel 1986, 33 f. Zur Metapher des Keimes und seiner Entfaltung ebd., 31: »Nach dieser abstrakten Bestimmung kann von der Weltgeschichte gesagt werden, daß sie die Darstellung des Geistes sei, wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, erarbeitet; und wie der Keim die ganze Natur des Baumes, den Geschmack, die Form der Früchte in sich trägt, so enthalten auch schon die ersten Spuren des Geistes virtualiter die ganze Geschichte.« 255 Hegel 1986, 32 bzw. Angehrn 1991, 93 f. Siehe auch Rohbeck 2004, 58 f. 256 Hegel 1986, 78 – 82.
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nicht so unrealistisch zu unterstellen, daß mit der Übernahme des Christentums die Sklaverei ein sofortiges Ende gefunden habe und »die Regierungen und Verfassungen […] auf das Prinzip der Freiheit gegründet worden« seien257; vielmehr sei dadurch nur der Anfang einer langen Entwicklung gemacht worden, die bis in seine eigene Zeit fortdauere, im preußischen Staat aber im Prinzip ihren Endzweck erreicht habe258. Die Identifikation des Endzwecks mit der Gegenwart bedeutet einen der wesentlichen Unterschiede zum geschichtsphilosophischen Modell Kants, der diesen Endzweck – ebenso wie Fichte – für die Zukunft postuliert hatte. Hegels Geschichtsphilosophie ist damit im Gegensatz zu der eher »zukunftsgerichtet[en]« Kants und Fichtes vor allem »vergangenheitsorientiert«259. In einen nicht unerheblichen Widerspruch zueinander geraten letztlich die Annahme einer unbedingten Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung, die das Individuum im Grunde nicht willentlich beeinflussen kann, und der autarken, »verändernde[n] Praxis« des Individuums in der Geschichte; das historische Individuum wird in gewissem Grade durch den unterstellten Automatismus der geschichtlichen Entwicklung entmündigt. Dennoch bildet Hegels Modell in der Stringenz seiner gedanklichen Durchführung und Komplexität den »Kulminationspunkt der Geschichtsphilosophie«260 ; sein bleibendes Verdienst ist es, die gesamte Welt historisch erfaßt zu haben. Die mit Hegel beginnende »Verabsolutierung des Historischen«261 wird in der Folge nicht nur die im engeren Sinne historischen Diskurse, sondern selbst das naturwissenschaftliche Denken bestimmen und so zu einem Paradigma abendländischer Weltbetrachtung avancieren. Auch die psychoanalyti-
257 Hegel 1986, 31 f. 258 Rohbeck 2004, 61. 259 Angehrn 1991, 102. Hierzu auch Hölscher, Lucian, 1999: Hegel und die Zukunft. In: Ders., 2009: Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft. Göttingen, 157 – 166. Hölscher führt die Tatsache, daß Hegel »von dem, was kommen wird, nichts zu sagen« wisse (159), auf eine im Vergleich zu heute wesentlich größere Vielschichtigkeit des Zukunftskonzepts sowie »die semantische Mehrdeutigkeit« (161) des Begriffs der ›Zukunft‹ an der Schwelle zum 19. Jahrhundert zurück. Zum einen war letzterer »noch in hohem Maße besetzt von religiösen Konnotationen« (162) – ›Zukunft‹ meinte noch im 17. Jahrhundert vor allem das Schicksal des Individuums nach seinem Ableben –, zum anderen »erschloss die klassische Formenwelt die Welt der Zukunft«, Hegel »zehrte« bei seinen Aussichten in die Zukunft »vom utopischen Potential der antiken Sprachen« (163 f.), was jedoch zugleich eine »semantische Distanz« der aus ihnen abgeleiteten Terminologie »zu den bestehenden Verhältnissen« (164) bedingte: »Der Geist erschloss sich bei Hegel die Zukunft, aber er tat dies, wie Benjamins Engel der Geschichte, gewissermaßen mit rückwärtsgewandtem Blick: In der Vergangenheit richtete sich sein Blick nur auf die Genese seiner selbst. Die Zukunft wurde von der Vergangenheit verschlungen, weil sich in ihr das, was kommen würde, der Form nach schon vorgebildet fände« (165). 260 Angehrn 1991, 100 – 102. 261 Rohbeck 2004, 62.
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sche als wesentlich genealogische Methode steht unter diesem mittelbaren Einfluß262. Hegels philosophische Betrachtung des Geschichtlichen ergibt sich folgerichtig aus seiner Geistphilosophie und seinem fundamental durch das dialektische Entwicklungsmodell geprägten Denken, ja »Hegels Philosophie als ganze ist in einem grundlegenden Sinn Geschichtsphilosophie«263. Das dialektische Prinzip, das konstitutiv ist für das ›Geschichtsphilosophische‹ an Hegels Philosophie im allgemeinen, bildet eine bedeutsame Verbindung zur Psychoanalyse. So sucht Ricœur in seinem berühmten Versuch über Freud durch einen Vergleich der sowohl Hegel als auch Freud impliziten Dialektik »in Freud ein umgekehrtes Bild Hegels«264 : Freud »verbindet eine thematisierte Archäologie des Unbewußten mit einer nicht thematisierten Teleologie des ›Bewußtwerdens‹, so wie Hegel die explizite Teleologie des Geistes mit einer impliziten Archäologie des Lebens und des Wunsches verbindet«265. Hegel entwickelt in den Worten Ricœurs »eine Phänomenologie nicht des Bewußtseins, sondern des Geistes«266, dieser Geist ist also mehr als das bloße Bewußtsein. Die »Dialektik des verdoppelten Bewußtseins« schließlich »weist eine erstaunliche strukturelle Homologie mit« der analytischen Beziehung auf, die »gesamte analytische Beziehung kann neu interpretiert werden als Dialektik des Bewußtseins, die vom Leben zum Selbstbewußtsein, von der Wunschbefriedigung zur Anerkennung des anderen Bewußtseins fortschreitet«267. Das Verhältnis Analytiker/Analysand erinnere an die Hegel’sche Beziehung Herr/Knecht, und auch zwischen dem Analytiker und dem Analysanden finde in der Therapie eine Art von Kampf um Anerkennung statt. Die Hegel’schen Begriffe »Befriedigung« und »Anerkennung« letztlich sind in den Augen Ricœurs von so fundamentaler Bedeutung für die Psychoanalyse, »daß alle Dramen«, die selbige aufdecke, »auf der Linie zwischen ›Befriedigung‹ und ›Anerkennung‹ liegen«268. Freuds Denken sei wie 262 Vgl. die einleitenden Kapitel des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit. Um eine Vermittlung von Hegel’schem und psychoanalytischem Denken bemüht sich jüngst auch Zˇizˇek (Zˇizˇek, Slavoj, 2008: Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus. Übersetzt von Isolde Charim und Lydia Marinelli. Wien, 105 – 132). 263 Angehrn 1991, 103. 264 Ricœur 1969, 473. Auf wesenhafte Parallelen zwischen dem Denken Hegels und demjenigen Freuds geht vor Ricœur übrigens schon Gehlen ein (Gehlen 1952/53, 341 f.). 265 Ricœur 1969, 472. 266 Ricœur 1969, 473 (Hervorhebung im Original). Freilich ist der Hegel’sche Geist »Geschichte, das [Freudsche] Unbewußte ist Schicksal« (Ricœur 1969, 480). 267 Ricœur 1969, 485 (meine Hervorhebung). Habermas sieht überdies in Hegels »Begreifen« eine Parallele zur »explanatorische[n] Kraft« des »tiefenhermeneutische[n] Verstehen[s]«, die sich »in der Selbstreflexion« behaupte (Habermas 1968, 331 f.). 268 Ricœur 1969, 486 (meine Hervorhebung). Axel Honneth betont die spezielle Eignung der Objektbeziehungstheorie für das Verständnis der Liebe als »Interaktionsverhältnis […], dem ein besonderes Muster der reziproken Anerkennung zugrunde liegt«; er übt zugleich
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das Hegels elementar dialektisch, besonders in der späteren, der zweiten Freud’schen Topik: »Die zweite Topik ist die eigentliche Dialektik […] Mit der Frage nach dem Über-Ich tritt die dialektische Situation in Erscheinung […]. [D]ie Gegensatzpaare – Ich/Es, Ich/Über-Ich, Ich/Welt – › welche jene Abhängigkeiten konstituieren, stellen sich alle, wie in der Hegelschen Dialektik, als Herr-Knecht-Beziehungen heraus, die es sodann zu überwinden gilt.«269 Da Freud diese Topik auch, wie er in der Nachschrift zu seiner Selbstdarstellung schreibt, als konstitutiv für »die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vordrängt,« betrachtet und in selbigen »nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich« erblickt, »welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt«270, so ist hier, in der Dialektik, der für eine etwaige Verwandtschaft von Hegels Geschichtsphilosophie und Freuds Kulturtheorie entscheidende gemeinsame Nenner gefunden. Die analytische Situation selbst, nach Ricœur also eine Dialektik des Bewußtseins, zeichnet sich aus durch Dialektiken auf sehr unterschiedlichen Ebenen: die Dialektik der Übertragung, die Dialektik von Widerstand und »Auftrieb« des Unbewußten271, schließlich die Dialektik der psychischen Veränderung272. Der Versuch, die analytische Situation zwischen dem Individuum und seinem individuellen Behandler samt ihrer zugehörigen Dialektik auf die Geschichte der Gesellschaft oder gar der Gattung zu übertragen, ist gewiß nicht ganz unproblematisch273 ; und doch gibt es, so die hier formulierte These, einige Parallelen, denen nachzugehen sich als fruchtbar erweisen könnte: Das Ich der analytischen Situation schildert Freud in einer seiner letzten Schriften, dem Abriß der Psychoanalyse, als »von den Anforderungen des Es und des Überichs eingeengt« und überfordert; gewissermaßen ist es Knecht
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Kritik an der traditionellen Freud’schen Annahme, die »Interaktionspartner des Kindes« seien lediglich für die »Entfaltung der libidinösen Triebe« desselben von Bedeutung und unterstreicht die von der jüngeren Forschung herausgestellte unabhängige Rolle, die die »emotionale[n] Bindungen für die frühkindliche Entwicklung« spielen (Honneth, Axel, 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/ M., 154 f.; meine Hervorhebung). Ricœur 1969, 488 f. Freud, Sigmund, 1971: »Selbstdarstellung«. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse. Herausgegeben und eingeleitet von Ilse Grubrich-Simitis. (Fischer-Taschenbücher, 6096). Frankfurt/M., 98. Abriß der Psychoanalyse, GW XVII, 104 f. Fischer, Gottfried, 1989: Dialektik der Veränderung in Psychoanalyse und Psychotherapie. Modell, Theorie und systematische Fallstudie. (Anwendungen der Psychoanalyse, 2). Heidelberg. Das vielzitierte praktische Problem der Anwendung aus der Einzelanalyse gewonnener individualpsychologischer Erkenntnisse auf die Ebene der Phylogenese, der Geschichte und der Gesellschaft ist also wiederum eines der Übertragung.
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seiner Triebe und eines gestrengen Über-Ichs. Das Ziel der Analyse besteht nun in der Stärkung und Erweiterung des Ichs; der Dialog und die Interaktion mit dem Analytiker ist das Mittel hierzu274, die ambivalente Übertragung das Geschehen, durch das unbewußte Wünsche »aktualisiert« und somit erkenn- und begreifbar werden275. Auch das Ich der Geschichte scheint »von einem blinden Zentrum beherrscht«; der Mensch hat das Gefühl, »weder Herr im Hause [seines] Ichs, noch Herr über [seine] Geschichte« zu sein276. Und diese Tatsache ist das eigentliche und zentrale Movens aller geschichtsphilosophischen Versuche. Hegel sah den Weltgeist am Werk, Schopenhauer den Willen, Marx naturwüchsige Prozesse und die Macht des Kapitals277. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es zunehmend das Unbewußte, das als Nicht-Ich zu Bewußtsein tritt. So handelt es sich laut Windelband bei Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten um »den Versuch einer Synthese von Schopenhauer, Hegel und dem späten Schelling«; »Hegels absoluter Geist« sei bei Hartmann das Unbewußte, das jedoch »dessen unbewußte Zwecktätigkeit« bewahre278. Ernst Troeltsch wiederum führt Hegels Differenzierung von An-sich-Seiendem und Für-sich-Seiendem auf die Dichotomie von un- und halbbewußten Handlungen zurück, die ein vollbewußtes Handeln eher als Sonderfall erscheinen lassen; die volle Kongruenz beider finde möglicherweise nie statt279. Das Ich der Geschichte strebt nun möglicherweise auch nach Erweiterung seiner selbst; die durchaus nicht lineare, aber dennoch mit einer gewissen Stetigkeit mit dem Zivilisationsprozeß einhergehende Zunahme an Wissen ebenso wie die zumindest für die abendländische Entwicklung typische Emanzipation von Gott ist eventuell eine Manifestation dieses Strebens nach Ich-Erweiterung. 274 GW XVII, 63 – 138, besonders 97 – 108. Siehe oben (das wörtliche Zitat findet sich auf Seite 103). 275 Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand, 1972: Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bde. mit fortlaufender Seitenzahl. Übersetzt von Emma Moersch. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 7). Frankfurt/M., 550. 276 Kittsteiner 2004, 64. 277 Kittsteiner 2004, 71. Schopenhauers Willensphilosophie ist sicher keine Geschichtsphilosophie im engeren Sinne; und doch kann man sie als eine Antwort auf die zeitgenössische Geschichtsphilosophie und die von ihr behandelten oder gar erst aufgeworfenen Fragen betrachten – das erwähnte »Movens« wäre demzufolge das gleiche wie dasjenige der Geschichtsphilosophie. 278 Kittsteiner 2004. 65. Den zentralen Unterschied zwischen Hartmanns und Freuds Verständnis des Unbewußten charakterisiert Hayden White im übrigen wie folgt: »Hartmanns Philosophie bestreitet, um es in Freuds Terminologie zu sagen, die Wahrheiten, die dem Ich bekannt sind, und unterwirft es den Forderungen des Es.« (White, Hayden, 1991: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Übersetzt von Peter Kohlhaas. Frankfurt/M., 456) 279 Troeltsch, Ernst, 1922: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie. Tübingen, 46 f. Vgl. auch das Troeltsch-Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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Dieser Prozeß freilich ist ambivalent, ebenso ambivalent übrigens wie die Übertragung in der analytischen Situation. Auch in der Kulturgeschichte lassen sich mannigfaltige Übertragungen, positive sowohl als negative, ausmachen; an die Stelle des Analytikers allerdings treten hier Götter, Heroen, Heilige, Denker, politische Führer usf. Das Streben nach Ich-Stärkung bzw. –Erweiterung kann man optimistischerweise als »List der Vernunft« bezeichnen; die erwähnte Ambivalenz des Prozesses freilich findet in diesem Begriff nicht genügend Nachhall280. Bei Freud sind Kritik und Intellekt vom jeweiligen Affekt abhängige Größen281, er räumt aber zugleich ein, daß »wir […] kein anderes Mittel zur Beherrschung unserer Triebhaftigkeit« besitzen »als unsere Intelligenz«282. Den intelligiblen Fähigkeiten also wohnt per se eine Ambivalenz inne, sie sind keine autarke Kraft, vielmehr sind sie für unterschiedliche Zwecke instrumentalisierbar. Hegels Idee einer geschichtlich wirksamen Vernunft, die die Interessen und Leidenschaften der Menschen listenreich für sich wirken lasse, muß schließlich dahingehend ergänzt werden, daß umgekehrt die Leidenschaften häufig die ›Vernunft‹ – oder besser gesagt: den Intellekt – zu bevormunden, ja für sich zu instrumentalisieren imstande sind. Der dynamische historische Prozeß bildet somit gewissermaßen ein dialektisches Wechselspiel zwischen Hegel’scher ›Vernunft‹ und Schopenhauer’schem ›Willen‹. Eine tatsächlich unverzerrte Vernunft ist schließlich auch nicht identisch mit den bloßen intelligiblen Kapazitäten des Menschen, ergo keine reine Bewußtseinsleistung, sondern vielmehr Ausdruck eines intakten Zusammenspiels der psychischen Instanzen und somit eine ebenso bewußte wie emotionale Größe283. 280 Die »Tendenz« des »seelischen Apparates« zur Stabilisierung seiner selbst, die Freud in Jenseits des Lustprinzips beschreibt (GW XIII, 5), ließe sich auch mit einer ›List der Vernunft‹ im weiteren Sinne identifizieren. Laut Marquard besteht überdies eine Verbindung zwischen Hegels Gedanken einer ›List der Vernunft‹ und der Freud’schen Sublimierungstheorie dergestalt, daß die letztere eine besondere Form der ersteren darstelle. Sublimierung ist demnach entscheidend für die »Vernünftigkeit der Geschichte«. Marquard 1987, 237: »Freuds Sublimierungstheorie ist vom Gedanken der ›List der Vernunft‹ d. h. der ›indirekten Vernunft‹, der ›Vernunft durch Nichtvernunft‹ diejenige Form, die die Vernunft (die sie nicht mehr vom ›Ich‹ und der Geschichte erhofft) von der ›Natur‹ erwartet und dabei nicht mehr – wie noch die transzendentalphilosophische Naturphilosophie – auf die ›verzaubernde‹ Organismusidee der Natur zu bauen vermag.« (kursiv im Original) 281 So in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (XIX. Vorlesung über Widerstand und Verdrängung), GW XI, 303. »[D]ie Aufgabe der intellektuellen Urteilsfunktion« charakterisiert Freud später als »Bejahung« bzw. Verneinung von »Gedankeninhalten«. Die Verneinung erscheint hier als »intellektuelle[r] Ersatz der Verdrängung« (Die Verneinung, GW XIV, 12). 282 GW XIV, 371. 283 Ähnlich auch Honneth, Axel, 2007: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1835). Frankfurt/M., 53: »Vielleicht ist diese Einsicht, der zufolge zwischen psychischer Intaktheit und unverzerrter Vernünftigkeit ein interner Zusammenhang bestehen muß, der stärkste Impuls, den die
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Was immer der Hegel’sche »Geist« sein mag – präziser fassen läßt sich die menschliche Welt, wenn man sie nicht als Phänomenologie des Geistes, sondern als Phänomenologie der Seele im psychoanalytischen Sinne begreift, eben als jene »Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich«, als die Freud sie versteht. Von allen genannten Parallelen seines Denkens zu Hegel ahnte Freud selbst freilich nichts; er erwähnt Hegel in seinem gesamten Œuvre lediglich an zwei Stellen, und zwar zum einen in der Traumdeutung mit der lapidaren Feststellung, daß nach Hegel »dem Traum aller objektive verständige Zusammenhang« fehle – eine Information, die Freud der Sekundärliteratur entnommen hat284 – und zum anderen in der Vorlesung Über eine Weltanschauung, wo er das prozessuale Denken der Marx’schen Theorie als »Niederschlag jener dunkeln Hegelschen Philosophie« deutet, »durch deren Schule auch Marx gegangen« sei285. Dieses – im Prinzip nicht falsche – Urteil ist aber höchstwahrscheinlich ein vermitteltes, denn mit Hegels Philosophie selbst hat Freud sich allem Anschein nach nie konkret auseinandergesetzt286.
1.2.6 Marx »Und obwohl der praktische Marxismus mit allen idealistischen Systemen und Illusionen erbarmungslos aufgeräumt hat, hat er doch selbst Illusionen entwickelt, die nicht weniger fragwürdig und unbeweisbar sind als die früheren.«287
Während Hegel die Vernunft in der Geschichte als etwas Gegebenes voraussetzte und im Bereich des Politischen nachzuweisen suchte, so begreift Marx in seiner Kritik an Hegel die Vernunft nicht als etwas »Vorausgesetztes«, sondern in der Anwendung erst noch »zu Realisierendes«; das eigentliche Maß der Geschichte ist Marx zufolge überdies nicht das Politische bzw. der Staat, sondern das gesellschaftliche Sein – denn um Geschichte (und letztlich also auch Politik)
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Kritische Theorie von Freud empfangen hat […]«. Hegel hat übrigens durchaus begrifflich unterschieden zwischen ›Vernunft‹ und ›Verstand‹ (Gröbl-Steinbach, Evelyn, 2003: Geschichtsphilosophie und postmoderne Vernunftkritik. In: Rohbeck, Johannes/NaglDocekal, Herta (Hgg.), 2003: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien. Darmstadt, 136 – 161 (hier : 140 f.)). Zu Vernunft und Kultur Gil, Thomas, 1992: Kulturtheorie. Ein Grundmodell praktischer Philosophie. Frankfurt/M. 2. Aufl., 82 ff. GW II/III, 58. Über eine Weltanschauung, GW XV, 191 f. Eine entsprechende, in einem Brief Freuds vom 15. März 1875 (abgedruckt in: Freud, Sigmund, 1989: Jugendbriefe an Eduard Silberstein. 1871 – 1881. Herausgegeben von Walter Boehlich. Frankfurt/M., 117) dargelegte »Leseempfehlung« seines Lehrers Brentano ging laut Hemecker vermutlich »ins Leere« (Hemecker 1991, 51). GW XV, 195.
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›machen‹ zu können, bedürfe es zunächst eines bestimmten materiellen Seins288. Das Politische präsentiere sich dem Einzelnen in der Dominanz des Staates nun vielmehr als fremde Größe, ja die gesamte institutionelle Realität habe sich verselbständigt »und das ursprüngliche Subjekt zum ›Produkt seines Produkts‹ degradiert«289. Marx verknüpft diese Erkenntnis mit dem Postulat einer »soziale[n] Geschichtsschreibung«290. Er löst es dergestalt ein, daß er der realen Welt keine Vernünftigkeit, sondern im Gegenteil Unvernunft unterstellt und mit der zentralen (laut Gehlen auf Fichte zurückgehenden) Figur der »Entzweiung und Entfremdung« operiert. Marx betont dabei die fundamentale Beziehung von Mensch und Natur291. »Die erste geschichtliche Tat« ist Marx zufolge »die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung« elementarer »Bedürfnisse«292. Die zweite geschichtliche Tat bedeute die Loslösung von der Natur : Diese beginnt nicht erst mit der (für Hegel den Beginn der Geschichte markierenden) Staatsgründung, sondern schon mit der »Erzeugung neuer Bedürfnisse« als erster Art der »Selbstgestaltung«. Arbeit ist kontrollierter Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, ist »Naturaneignung« und zentraler Begriff der Lebensgestaltung, letztlich diejenige Qualität, die den Menschen vom Tier unterscheidet293. Da der Mensch aber durch Arbeit »auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur«294. Motor des geschichtlichen Fortgangs sind demnach nicht die Bedürfnisse, sondern die Arbeit, durch die sich der Mensch selbst erzeugt, letztlich aber sich seiner selbst entfremdet. Der »Doppelcharakter der Arbeit« – einerseits »Stoffwechsel mit der Natur«, andererseits jedoch aufgrund von Arbeitsteilung und wirtschaftlicher Ausnutzung ebenso gesellschaftliches Phänomen zu sein – führt nicht nur zu einer Entfremdung des menschlichen Individuums, sondern auch seiner sozialen Verhältnisse. Der Gang der Geschichte besteht nun zum wesentlichen in einer sich steigernden Entfremdung, bedingt vor allem dadurch, daß die Produktivkräfte in Widerspruch zu den Produktions- bzw. Eigentumsverhältnissen geraten. Der Abfolge der verschiedenen Produktionsweisen – der asiatischen, antiken, feudalen und bürgerlichen – entspricht die Abfolge »unterschiedliche[r] Eigen288 Angehrn 1991, 106 – 109 (für die wörtlichen Zitate: ebd. 106). Ähnlich auch Rohbeck 2004, 64 f. 289 Angehrn 1991, 112. 290 Angehrn 1991, 108 (meine Hervorhebung). 291 Angehrn 106. Zur zentralen Bedeutung der Beziehung Mensch-Natur sagt Marx: »Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.« (Marx, Karl, 1971: Werke – Schriften – Briefe. Bd. 1: Frühe Schriften II. Darmstadt, 16) 292 Marx 1971, 29. 293 Angehrn 1991, 109 f. bzw. Rohbeck 2004, 65. 294 Marx, Karl, 1962b: Werke – Schriften – Briefe. Bd. 4: Das Kapital I. Kritik der politischen Ökonomie. Darmstadt, 177.
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tumsformen: vom ursprünglichen Stammeigentum, antiken Gemeinde- und Staatseigentum, feudalen Grundeigentum bis zum bürgerlich-kapitalistischen Privateigentum«295. In der entfremdeten Welt gibt es weder volle Erkennbarkeit noch Versöhnung296, in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform als letzter Stufe der Entfremdung aber ist selbige »ins Totale gesteigert«. Das Proletariat soll durch die absolute »Negativität seines Leidens« zum Verwirklicher der Emanzipation werden, die »Naturwüchsigkeit« d.i. »Nicht-Beherrschbarkeit« der Geschichte ihrer Kontrolliertheit durch den Menschen weichen. Diese Entwicklung begreift Marx als mehr oder weniger zwangsläufige, das im Wesen der kapitalistischen Ordnung immanente Prinzip der Selbstüberwindung sorge für die dialektische Veränderung297. Marx greift für seine diese Heilsgewißheit unterstützenden Analysen besonders auch auf die Autoren der klassischen politischen Ökonomie zurück und hüllt seine geschichtsphilosophische Prämisse so »in eine wissenschaftliche Form«298. Der große Reiz, der von seinen Werken vor allem im 20. Jahrhundert ausging, verdankt sich gewiß nicht zuletzt ihrem Doppelcharakter aus Ökonomie und Philosophie, der wissenschaftlichen Verpackung einer geschichtsphilosophischen, ja quasi-religiösen Heilserwartung299. Die nach Hegel einsetzende allgemeine Kritik an der Geschichtsphilosophie, die nicht zuletzt auf der Enttäuschung über das Ausbleiben eines vom Optimismus der Aufklärung erwarteten Heils beruht, sie wird bei Marx zu einer zugespitzten Fortführung der Geschichtsphilosophie, zu einer materialistischen Umstülpung idealistischer Dialektik, bereichert durch die Forderung nach aktiver Gestaltung der Geschichte; die »geschichtsphilosophischen Ideale werden nicht zurückgenommen, sondern« in Wahrheit »verabsolutiert«300. Das schon bei Hegel angelegte Problem der Unterstellung einer entschiedenen, vom Individuum unabhängigen Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung verschärft sich bei Marx noch dadurch, daß er trotz behaupteter Gesetzmäßigkeit den Menschen zur Selbstgestaltung seiner Existenz, zur aktiven Überwindung der Entfremdung auffordert301. Der zentrale Gedanke der Entfremdung ist es sicher, der Marx und Freud eint und letzteren für die marxistisch inspirierte Philosophie so attraktiv macht, daß Odo Marquard von der »Verwandlung« der Freud’schen Theorie »zu einer 295 296 297 298
Rohbeck 2004, 66 f. Angehrn 1991, 106. Angehrn 1991, 114 – 116. Gamm, Gerhard, 2001b: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867). In: Ders./ Hetzel, Andreas/Lilienthal, Markus, 2001, 29 – 56 (hier : 33 f.). 299 Hierzu vor allem die Kritik Löwiths, derzufolge »das Endziel des historischen Messianismus von Marx« ein »Reich Gottes, ohne Gott« ist (Löwith 1953, 46). 300 Angehrn 1991, 111. Ähnlich auch Klein 1984, 82 f. 301 Angehrn 1991, 101.
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milden Form von Marxismus« durch Existentialismus und Kritische Theorie spricht und Freud dort in der Rolle als »Marx-Ersatz« sieht302. Der konkrete Begriff der »Entfremdung(en)« bezeichnet bei Freud übrigens hauptsächlich eine Abwehrleistung, deren Zusammenhänge mit einem durch Arbeit hervorgerufenen Schuldgefühl er dem französischen Schriftsteller Romain Rolland in einem an selbigen gerichteten Brief vom Januar 1936 anhand einer Erinnerungsstörung auf der Akropolis303 erläutert: Entfremdungen existieren demnach »in zweierlei Formen; entweder erscheint uns ein Stück der Realität als fremd oder ein Stück des eigenen Ichs. In letzterem Fall spricht man von ›Depersonalisation‹«. Entfremdungen »dienen alle der Abwehr, wollen etwas vom Ich fernhalten, verleugnen«, wobei die abzuwehrenden »Elemente« entweder »aus der realen Außenwelt« oder der »Innenwelt« des Ichs stammen304. Freud erläutert den Zusammenhang der Entfremdung mit dem Schuldgefühl, das er in dem konkret geschilderten Fall auf den Umstand zurückführt, es durch Arbeit weiter »gebracht zu haben« als der Vater, was für die psychische Wahrnehmung »von alters her verboten ist«, da es dem Kind einst »unerlaubt« war, »den Vater übertreffen zu wollen«305. Arbeit erscheint ergo insofern als Ursache des Schuldgefühls, als sie dem Sohn das ursprünglich nicht erlaubte Übertreffen des Vaters und somit auch das Übertreten eines Verbotes ermöglicht, welches mit psychischen Sanktionen verbunden ist. Hier wäre eine Verknüpfung mit dem Marx’schen Begriff der Arbeit möglich: Psychoanalytisch gewendet, könnte auch die historische Entfremdung aus der Arbeit des Sohnes resultieren, der im Zuge einer zivilisatorischen Weiter- und Höherentwicklung den Vater – d.i. die vorangegangene(n) Generation(en) – realiter in der Tat übertrifft und diesbezüglich ein Schuldgefühl entwickelt, das ihm Teile seines Ichs entfremdet. An anderer Stelle sieht Freud Arbeit als Ablenkung der sexuellen Energie auf ein »von der Versagung der Außenwelt« unberührtes Triebziel, als Libidoverschiebung zum Zweck der »Leidabwehr«306 oder auch, hierin der Marx’schen Interpretation näher, aus dem »ökonomische[n]« Grunde, die »Anzahl [der] Mitglieder« einer Gesellschaft zu »beschränken« und sie durch Lebensmittelpro-
302 Marquard 1987, 18. Die kommunikationstheoretische Interpretation – namentlich Jürgen Habermas – attestiert Freud in der Tat, Herrschaft und Ideologie besser »durchschaut« zu haben als Marx, da dieser durch die Konzentration auf »das Werkzeuge fabrizierende Tier« »Herrschaft und Ideologie nicht als verzerrte Kommunikation« habe begreifen können, während im Unterschied dazu Freud nicht die »gesellschaftliche[…] Arbeit«, sondern »die Familie« sowie »kommunikatives Handeln« analysiert habe (Habermas 1968, 342). 303 So auch der Untertitel des in den GW XVI, 250 – 257 abgedruckten Briefes. 304 GW XVI, 254 f. 305 GW XVI, 256 f. 306 GW XIV, 437 f. Zur Arbeit besonders auch ebd. 438 Anm. 1.
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duktion ernähren zu können307. Sowohl Marx als auch Freud sind überdies beide in nicht unerheblicher Weise durch die Philosophie Feuerbachs beeinflußt308, und auch der Religion stehen sie beide in gleicher Weise ablehnend gegenüber309. Schon bevor Freud Odo Marquard zufolge zum »Marx-Ersatz« in Existentialismus und Kritischer Theorie avancierte, gab es denn auch mannigfaltige Bestrebungen, beider Lehren miteinander in Einklang zu bringen, nicht zuletzt aufgrund des Umstands, daß viele von Freuds Anhängern und Mitstreitern der Sache des Marxismus zugetan waren310. Freud selbst freilich war diesbezüglich von tiefer Skepsis erfüllt311. An mehreren Stellen seines Werkes äußert er sich kritisch über die Verengung der Perspektive auf materielle Gesichtspunkte bei der Untersuchung gesellschaftlicher Zustände und sozialer Zwänge312, be307 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. XX. Vorlesung: Das menschliche Sexualleben, GW XI, 322. 308 Zu Feuerbach und Marx: Löwith 1953, 51 – 53 (das dort (52) zitierte Marx’sche Postulat einer Vernichtung der Familie könnte für eine ausstehende psychoanalytische Untersuchung von Person und Werk Marx’ aufschlußreich sein; ähnlich auch das in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie geäußerte Postulat einer Vernichtung statt einer bloßen Widerlegung der Feinde: Marx, Karl, 1962a: Werke – Schriften – Briefe. Bd. 1: Frühe Schriften I. Darmstadt, 491). Der junge Freud bekennt, daß er Feuerbach »unter allen Philosophen am höchsten verehr[t] und bewunder[t]« (Brief an Silberstein vom 7. 3. 1875, siehe Freud 1989, 111). Mit diesem enthusiastischen Bekenntnis zu Feuerbach besitzt die Nachwelt zugleich den Beweis, daß der der Philosophie gegenüber zeitlebens so ambivalent eingestellte Freud zumindest diesen Philosophen mit einem gewissen Eifer studiert haben muß. Feuerbachs Charakterisierung der eigenen Person, »nichts als ein geistiger Naturforscher« zu sein, hätte im übrigen auch gut Freuds eigene Devise sein können (Gay, Peter, 1988: Ein gottloser Jude. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse. Übersetzt von Karl Berisch. Frankfurt/M., 67). 309 Zu den Parallelen von Feuerbachs und Freuds Religionskritik vgl. das Freuds Essay Die Zukunft einer Illusion gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit. 310 Schöpf, Alfred, 1998: Sigmund Freud und die Philosophie der Gegenwart. Würzburg, 190 – 199 sowie Jones, Ernest, 1962b: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. 3: Die letzte Phase 1919 – 1939. Übersetzt von Gertrud Meili-Dworetzki unter Mitarbeit von Katherine Jones. Bern/Stuttgart, 401. So fand schon 1928 im ›Verein sozialistischer Ärzte‹ »[e]ine ausführliche Diskussion« zum Thema statt, wo Jones zufolge allgemein der von Bernfeld und Simmel vertretenen Ansicht beigestimmt wurde, »daß Psychoanalyse und Marxismus nicht nur vereinbar seien, sondern sich sogar ergänzten«. Auch der politische Marxismus zeichnete sich umgekehrt zumindest in seinen Anfängen durch eine gewisse Psychoanalysefreundlichkeit aus: So erhielt Sndor Ferenczi nach der bolschewistischen Revolution in Ungarn eigens einen Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Budapester Universität (Jones 1962b, 26). 311 So entgegnete Freud auf den zur Zeit der Machtübernahme Mussolinis geäußerten »Vorwurf […], weder schwarz noch rot, weder Faschist noch Sozialist zu sein: ›Nein, man sollte fleischfarben sein‹« (Jones 1962b, 400). 312 Eher zurückhaltend noch in Die Zukunft einer Illusion, wo er zwar feststellt, »daß die Güter selbst, die Mittel zu ihrer Gewinnung und Anordnungen zu ihrer Verteilung nicht das Wesentliche oder das Alleinige der Kultur sein können« (GW XIV, 331), gleichzeitig aber einräumt, das »große Kulturexperiment […], das gegenwärtig in dem weiten Land zwi-
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schreibt die »psychologische Voraussetzung« des »kommunistischen Systems« als »haltlose Illusion«313 und hält den Sozialisten ein »idealistisches Verkennen der menschlichen Natur«314 vor. Am ausführlichsten setzt sich Freud mit Marx bzw. dem Marxismus in der 1932 entstandenen Vorlesung Über eine Weltanschauung auseinander, wobei er dem Marxismus eine »Gegnerschaft« zur wissenschaftlichen Weltanschauung unterstellt315. Er räumt zunächst zwar die »Unzulänglichkeit [s]einer Orientierung« ein, äußert aber dann sein Befremden über bestimmte Aussagen der Marx’schen Theorie wie die, wonach »die Entwicklung der Gesellschaftsformen ein naturgeschichtlicher Prozeß sei, oder daß die Wandlungen in der sozialen Schichtung auf dem Weg eines dialektischen Prozesses auseinander hervorgehen«316. Er selbst führt die gesellschaftlichen Klassenunterschiede auf Kämpfe zwischen »Menschenhorden« zurück, bei denen »die Sieger die Herren, die Besiegten die Sklaven« wurden und kein »Naturgesetz«, sondern vielmehr »die fortschreitende Beherrschung der Naturkräfte« und ihr Einsatz im Dienste der menschlichen Aggression, als »Machtmittel« gegen Feinde, den Ausschlag gegeben hätten317. Das »Verhältnis des Menschen zur Beherrschung der Natur« müsse »notwendigerweise auch seine ökonomischen Einrichtungen beeinflussen«. Freud würdigt die Leistung des Marxismus, die Zusammenhänge zwischen ökonomischen Faktoren und den geistigen, moralischen und künstlerischen Ansichten des Menschen nach-
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schen Europa und Asien angestellt wird«, aufgrund mangelnder »Sachkenntnis« nicht abschließend bewerten zu können (ebd. 330). GW XIV, 472 f. (Das Unbehagen in der Kultur). Dort heißt es weiter (473): »Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes, und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht. Sie ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in Urzeiten, als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigt sich bereits in der Kinderstube, kaum daß das Eigentum seine anale Urform aufgegeben hat, bildet den Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen unter den Menschen, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mutter zu ihrem männlichen Kind. Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muß.« Ähnlich auch GW XVI, 23. GW XIV, 504. GW XV, 191. Wie oben (vgl. das Kapitel über Hegel) bereits erwähnt, führt Freud diese ihm angeblich fremde Dialektik des Marx’schen Denkens auf dessen Beeinflussung durch Hegel zurück – hierbei gleichwohl aber nicht erkennend, daß auch sein eigenes Denken eine der Hegel’schen verwandte dialektische Struktur aufweist. Bemerkenswert ist Freuds an gleicher Stelle geäußerte Einschätzung, daß Marx’ Theorien für ihn »nicht ›materialistisch‹« klingen – der Materialismus, dem Freud anhing, war offenkundig ein anderer. GW XV, 192.
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gewiesen zu haben318, übt aber zugleich Kritik an der einseitigen Beschränkung auf ökonomische Motive bei der Analyse menschlichen Verhaltens in der Gesellschaft und negiert deren »Alleinherrschaft« mit einem Hinweis auf die Unterschiede der Kulturen bei ganz ähnlich gearteten wirtschaftlichen Voraussetzungen319. Freud verleiht seinem Unverständnis darüber Ausdruck, daß psychologische Momente völlig außer Acht gelassen würden, obwohl ursprüngliche Triebregungen nicht nur bei »der Herstellung [der] ökonomischen Verhältnisse beteiligt« gewesen, sondern »auch unter deren Herrschaft« immer noch bedeutsam seien. Schließlich geht er auf die »Verwirklichung« der marxistischen Forderung nach revolutionärem Umsturz »im russischen Bolschewismus«320 ein, durch die der »theoretische Marxismus« eine »unheimliche Ähnlichkeit mit dem« gewonnen habe, wogegen er eigentlich rebelliere. Obwohl »[u]rsprünglich selbst ein Stück Wissenschaft«, habe er »ein Denkverbot geschaffen, das ebenso unerbittlich« sei wie früher »das der Religion«, Skepsis ihm gegenüber werde »so geahndet wie einst die Ketzerei von der katholischen Kirche«. Die Schriften von Marx hätten »die Stelle der Bibel und des Korans eingenommen, obwohl sie nicht freier von Widersprüchen und Dunkelheiten sein sollen als diese älteren heiligen Bücher«. Der Marxismus, einst Zerstörer von Illusionen, habe nun »selbst Illusionen« geschaffen, »die nicht weniger fragwürdig und unbeweisbar sind als die früheren«. Das Ansinnen, die menschliche Natur binnen »weniger Generationen« umzuwandeln, hält Freud für unrealistisch321, die Vorstellung eines diesseitigen Paradieses vergleicht er (wie nach ihm u. a. auch Karl Löwith322) mit der jüdischen Erwartung eines »Messias auf Erden«. Die Umwandlung der Menschennatur erfordere neben dem erwähnten Denkverbot einen »Zwang in ihrer Erziehung« und »die Anwendung der Gewalt bis zum Blutvergießen«, die der Bolschewismus damit rechtfertige, daß dies eben die nötigen Instrumente in einer Zeit seien, da die menschliche Natur ihrer Veränderung noch harre. Freud beschließt seine skeptischen Überlegungen mit dem Eingeständnis, daß er selbst keinen Vorschlag wisse, wie anders eine gesellschaftliche Neuordnung vonstatten gehen könne und stellt es der Zukunft anheim zu entscheiden, ob der 318 GW XV, 193. Freud verbindet dies mit einer hellsichtigen Gegenüberstellung von Stärken und Schwächen der Marx’schen Theorie (ebd.): »Die Stärke des Marxismus liegt offenbar nicht in seiner Auffassung der Geschichte und der darauf gegründeten Vorhersage der Zukunft, sondern in dem scharfsinnigen Nachweis des zwingenden Einflusses, den die ökonomischen Verhältnisse der Menschen auf ihre intellektuellen, ethischen und künstlerischen Einstellungen haben.« 319 Die gleiche Kritik der Reduzierung der gesamten Geschichte »auf einen sozial-ökonomischen Prozeß« übt später auch Löwith (1953, 38). 320 GW XV, 194. 321 GW XV, 195. 322 Vgl. die oben bereits zitierte Parallelisierung von Marxismus und Messianismus (Löwith 1953, 46).
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»großartige Versuch einer solchen Neuordnung«323 im zeitgenössischen Rußland von Erfolg gekrönt sein wird. Ob die einem imaginierten Kritiker seiner Lehren in einem fiktiven Streitgespräch in den Mund gelegte Annahme der »Kurzlebigkeit und klägliche[n] Erfolglosigkeit«324 des russischen Wagnisses tatsächlich, wie Lohmann325 meint, ein verschlüsselter Hinweis auf Freuds eigene Einschätzung ist, sei dahingestellt; der von Lohmann attestierten generellen Unvereinbarkeit von Marxismus und Psychoanalyse zum Trotze brechen die Versuche zu ihrer Synthese bis heute nicht ab. Die Gründe für diese allen Bedenken trotzenden Bemühungen mag man vielleicht in der Angst vor dem Unbewußten und dem daraus resultierenden Wunsch nach Kontrollierbarkeit desselben erblicken; denn wie Kittsteiner schreibt, ist Marxens Begriff der Naturwüchsigkeit im Prinzip nichts anderes als ein Synonym für das Unbewußte, folglich der Kommunismus »bei Lichte besehen nichts anderes als Aufhebung der unbewußten Geschichte«326. Freud lieferte dann gewissermaßen die psychologische Ergänzung einer politisch-ökonomischen Theorie über das Verfügbarwerden des Unbewußten, auch wenn Freud selbst allenfalls von einer lediglich partiellen Möglichkeit der Umwandlung von ›Es‹ in ›Ich‹ ausgeht. Was das Verhältnis von Sein und Bewußtsein letztlich anbetrifft – für das auch Marx eine gegenseitige Wechselwirkung annimmt – , so liegt es in der Konsequenz der zitierten Kritik Freuds an der einseitigen Beschränkung des Marxismus auf ökonomische Faktoren, daß der Begriff des Bewußtseins in der Psychoanalyse eigentlich ein wesentlich komplexerer ist als der philosophische, wird das Bewußtsein der Psychoanalyse zufolge doch noch durch wesentlich andere Faktoren bestimmt als durch das gesellschaftliche Sein327. So nimmt die Funktion Wahrnehmung-Bewußtsein demnach beispielsweise und grundlegend »gleichzeitig die Informationen aus der Außenwelt und die, die von innen kommen«328, 323 GW XV, 196. Die Verwirklicher dieses »großartige[n] Versuch[s]« charakterisiert er freilich als »unzugänglich dem Zweifel, unempfindlich für die Leiden Anderer, wenn sie ihren Absichten im Wege sind« (ebd.). 324 GW XIV, 369. 325 Lohmann, Hans-Martin, 2006b: Marxismus. In: Ders./Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006, 373 – 376 (hier : 373). 326 Kittsteiner 2004, 75. Zu den Analogien von Marxens und Freuds Interpretation eines gesellschaftlichen Unbewußten siehe auch Gamm 2001b, 45: »Marx lehrt ein gesellschaftliches Unbewußtes zu sehen, das analog zu demjenigen Freuds, ein der Gesellschaftsform anhaftendes Unbewußtes ist« (Hervorhebung im Original). 327 Hierzu Marx, Karl/Engels, Friedrich, 1958: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In: Dies., 1957 ff.: Werke und Briefe. Bd. 3. Berlin (Ost), 26 sowie Marx, Karl/Engels, Friedrich, 1961: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: Dies., 1957 ff.: Werke und Briefe. Bd. 13. Berlin (Ost), 3 – 160 (hier : 9). 328 Laplanche/Pontalis 1972, 97.
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auf – das materielle Sein bildet hier als Informationsquelle nur einen zwar nicht unerheblichen, aber beileibe nicht den einzigen Teil.
1.3
Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie
War das 18. noch das Jahrhundert des Aufklärungsoptimismus und des weitgehend uneingeschränkten Vertrauens in das sittliche Fortschreiten der menschlichen Gattung, so setzt im Laufe des 19. Jahrhunderts diesbezüglich eine Ernüchterung um nicht zu sagen Enttäuschung ein. Die Heilserwartungen der Aufklärung haben sich nicht (oder nur sehr teilweise) erfüllt; überdies werden die zeitgenössischen Revolutionen, je nach Standpunkt, erfahren als Scheitern eines prinzipiell wünschenswerten emanzipatorischen Prozesses oder aber als negativ konnotierter Kontinuitätsbruch, der Traditions- und Kulturverlust nach sich zieht. Geschichte erscheint immer weniger als rational noch als ›machbar‹329. Auch die Hegel’sche Annahme, wonach sich die historische Vernunft im preußischen Staat bereits realisiert habe, kann im Zeitalter der Restauration nicht überzeugen330. So wird die theoretische Bündelung des aufklärerischen Optimismus, die klassische Geschichtsphilosophie, obsolet; an ihre Stelle tritt ein Pluralismus der Geschichtserzählungen, der bis in die heutige Gegenwart andauert. Freilich bedeutet die Verabschiedung der Idee eines sittlichen Fortschritts, eines Fortschrittes der Vernunft keine generelle Verabschiedung der Fortschrittsidee; vielmehr verschiebt sich diese, denn so man zwar nicht mehr an die moralische Vervollkommnung des Menschen durch die und in der Geschichte glaubt, so glaubt man nun, vielleicht mehr als je zuvor, an den Fortschritt der (Natur)wissenschaften und der technischen Entwicklung331. Reflexionen über die Geschichte hingegen bestehen hauptsächlich in einer Kritik der klassischen Geschichtsphilosophie, die inhaltlich Anstoß nimmt an der Realitätsferne ihrer Konstrukte und methodisch an der Projektion von Wünschen auf einen als einheitlich und systematisierbar gedachten historischen Verlauf. Dem wird nun zunehmend die Uneinheitlichkeit und Nicht-Systematisierbarkeit der Geschichte entgegengehalten332. Der Historismus des späteren 19. Jahrhunderts fragt statt dessen nach den Möglichkeiten historischer Erkenntnis, nach der Methode der sich professionalisierenden Geschichtswissenschaft. Eine weitere, 329 Angehrn 1991, 123 f. bzw. 131 f. 330 Jedenfalls weder aus heutiger noch aus der Wahrnehmung des Vormärz (Rohbeck 2004, 58). 331 Baumgartner spricht von der Emigration des »in die Geschichtsphilosophie eingebundene[n] Pathos« in dasjenige der Naturwissenschaften (Baumgartner 1996, 170). Freuds eigene Sozialisation fällt in diese Epoche. Diesen Bedingtheiten widmet sich der zweite Teil der vorliegenden Arbeit. 332 Angehrn 1991, 122 f.
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besonders im 20. Jahrhundert einflußreich gewordene Form kritischer Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie besteht in der These vom ›Ende‹ der Geschichte333, die verschiedene Ausformulierungen erfährt, besonders sinnfällig wird jedoch in den entsprechenden Theorien Lyotards, der im zur Neige gehenden 20. Jahrhundert auch dem technischen Fortschritt (ein Jahrhundert zuvor noch eine Art ›Schwundstufe‹ der Idee des sittlichen Fortschritts) seine sinnstiftende Bedeutung abspricht und das »›Ende der großen Geschichtserzählung‹« behauptet334. Zeitgleich jedoch erfährt zumindest die formale Philosophie der Geschichte nach dem linguistic turn mit den Erkenntnissen Dantos, Ricœurs und Whites entscheidende neue Impulse. Im Folgenden sollen ausgewählte Autoren einer ›Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie‹ auf etwaige Übereinstimmungen mit der Psychoanalyse hin untersucht werden; das Vorgehen ist dabei (wie schon in den Kapiteln zuvor) ein weitgehend chronologisches335. Krise der Geschichtsphilosophie 1.3.1 Burckhardt »Unter den Kultur- und Kunsthistorikern seiner Zeit hatte Jacob Burckhardt den nachhaltigsten Einfluß auf seine [Freuds] Ansichten.«336
Bereits in der Einleitung seiner zwischen 1868 und 1870 entstandenen Weltgeschichtlichen Betrachtungen distanziert sich Burckhardt von der Geschichtsphilosophie, die für ihn »ein Kentaur, eine contradictio in adjecto« ist, da sie »Subordinieren« und damit »Nichtgeschichte«, Geschichte hingegen aber »Koordinieren« und »Nichtphilosophie« sei337. Er selbst jedoch will keine Geschichtsphilosophie, sondern »nur Winke zum Studium des Geschichtlichen« liefern. Das Vokabular verdeutlicht die Programmatik: Nicht vom Kollektivsingular Geschichte und einer dadurch zum Ausdruck kommenden einheitli333 Exemplarisch: Gehlen, Arnold, 1974: Ende der Geschichte? Zur Lage der Menschen im Posthistoire. In: Schatz, Oskar (Hg.), 1974: Was wird aus dem Menschen? Graz u. a., 61 – 75. 334 Rohbeck 2004, 21. 335 Die Pluralität der Ansätze ist wohl die Ursache dafür, daß bis dato keine »vorgegebene systematische Ordnung« für die Philosophie der Geschichte seit dem späteren 19. Jahrhundert existiert (Angehrn 1991, 142); die hier gewählte Einteilung samt zugehöriger Zwischenüberschriften orientiert sich vor allem an Angehrn (1991). 336 Cassirer Bernfeld 1951, 243. 337 Burckhardt, Jacob, 2000: Weltgeschichtliche Betrachtungen. In: Ders.: Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte u. a. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Peter Ganz. (Werke, 10). München, 354. Zur Kritik an dieser Einschätzung Angehrn 1991, 126: »Aus heutiger Sicht ließe sich diese Gegenüberstellung samt beiden Kennzeichnungen in Frage stellen; denkbar ist eine Theorie jenseits deduktiver Systematisierung ebenso wie eine nicht-narrativ-koordinierende Historie.«
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chen Historie, sondern vom »Geschichtlichen« möchte Burckhardt handeln338. Er betont den Verzicht auf jede Systematik und übt, exemplarisch an Hegel, Kritik an dem »kecke[n] Antizipieren eines Weltplanes« und den dadurch bedingten »irrigen Prämissen« der Geschichtsphilosophie, die auf Ideen beruhten, »welche die Philosophen seit dem dritten oder vierten Lebensjahr eingesogen haben«; Geschichtsphilosophie sei daher »keiner Voraussetzungslosigkeit fähig«339. Sie ergehe sich in »Spekulation über die Anfänge« und auch über die Zukunft, wo doch weder Anfang noch Ziel der Geschichte den Menschen eigentlich zugänglich seien. Während die Geschichtsphilosophen »das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe« zur mündigen Gegenwart interpretierten, will Burckhardt »das sich Wiederholende, Konstante, Typische« behandeln; das Beständige in den Wechselfällen, in der Unbeständigkeit der Geschichte ist für ihn die unveränderliche Menschennatur – von diesem »einzigen bleibenden und möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird«, will seine Schilderung daher ihren Ausgang nehmen340. Konkreter Darstellungsgegenstand der Betrachtungen sollen die drei Potenzen Staat, Religion und Kultur und ihre wechselseitigen Beziehungen sein, wobei er die ersteren als statisch, die Kultur aber als dynamisch begreift341. »Eitel« seien jedwede »Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates«, »[a]bsurd« die Kontrakthypothese, nach der es, zur Begründung des Staates, einen »von allen Seiten freiwilligen« Vertragsschluß gegeben habe und die von Rousseau denn »auch nur als ideale hypothetische Aushilfe gemeint« sei. Der Staat sei vielmehr aus Gewalt, die immer, da aus der »Ungleichheit der menschlichen Anlagen« resultierend, »das Prius« darstelle, hervorgegangen, ja der Staat sei oft wohl nichts anderes gewesen als die »Systematisierung« der Gewalt342. Genauso sieht es über ein halbes Jahrhundert später auch Freud343. Aus Burckhardts Sicht ist die Beurteilung von Staat und Geschichte anhand moralischer Maßstäbe irreführend, da der Staat nicht »das Sittliche verwirklichen« kann, was in Wahrheit »nur die Gesellschaft kann und 338 Rohbeck 2004, 121. 339 Burckhardt 2000, 355. Zu Hegel und Burckhardt ferner Heftrich, Eckhard, 1967: Hegel und Jacob Burckhardt. Zur Krisis des geschichtlichen Bewußtseins. (Wissenschaft und Gegenwart, 35). Frankfurt/M. 340 Burckhardt 2000, 356 (Hervorhebungen im Original). 341 Hierzu Angehrn 1991, 128 sowie Rohbeck 2004, 123 – 125. 342 Burckhardt 2000, 372 f. Auf Hobbes geht Burckhardt an dieser Stelle übrigens nicht ein, auch wenn für diesen sicher ebenfalls gilt, daß die Vorstellung des Gesellschaftsvertrages ein idealtypisches Konstrukt ist. Zu diskutieren wäre – was Burckhardt allerdings unterläßt – eine genauere Definition des ›Vertrages‹; bei Freud beispielsweise ist es das Bündnis mehrerer Schwacher, der die Übermacht eines Einzelnen brechen soll, also durchaus nicht der freiwillige Vertragsschluß aller Beteiligten. 343 Vgl. die teilweise im Kant-Kapitel bereits zitierten Ansichten aus Warum Krieg?, besonders GW XVI, 19 f.
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darf«. Er ist lediglich »Notinstitut« und erschöpft sich in der Funktion, »Hort des Rechtes« zu sein344. Die Religion hingegen begreift Burckhardt als »Reflex ganzer Völker und Kulturepochen« und vergleicht gewisse primitivere Religionen mit »unheimlichen Kinderträumen, deren Schreckgestalten versöhnt werden«345, so wie später ja auch Freud, wenngleich mit den Mitteln der Psychopathologie und weniger bejahend, die Bedingungen der Religionsentstehung und den Charakter der Religion auf ganz ähnliche Weise interpretieren wird. Als Kultur schließlich bezeichnet Burckhardt »die ganze Summe derjenigen Entwickelungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen« und die zugleich »unaufhörlich modifizierend und zersetzend« die beiden anderen Potenzen beeinflussen346. Die Kultur steht beim Autor eines zum Klassiker gewordenen kulturhistorischen Werkes über die italienische Renaissance und anderer bedeutender kulturhistorischer Schriften im übrigen viel stärker im Focus der Betrachtung als beispielsweise bei Hegel, dessen Interesse vor allem dem Staat galt; Burckhardts Ansatz ist, hierin auch heute noch zeitgemäß, ein »mit Strukturanalysen« arbeitender, den man als »kulturtheoretische[n]« bezeichnen könnte347. Das große Postulat der Weltgeschichtlichen Betrachtungen schließlich ist eine »Kultur der Erinnerung«348. Burckhardts basale Erfahrung, die die Entstehung der Weltgeschichtlichen Betrachtungen beeinflußt wenn nicht motiviert hat, ist die eines beschleunigten Traditionsverfalls und Kontinuitätsbruches seit der Französischen Revolution, mit dem in seinen Augen Geschichts- und Kulturverlust einhergingen349. Barbarei sei Geschichtslosigkeit350, welcher Burckhardt das geschichtliche Bewußtsein als Orientierung entgegensetzen möchte. Historisch-kulturelle Kontinuität soll das Gegengewicht gegen die Traditionsvergessenheit der Zeitläufte bilden. In seiner Forderung einer Kultur der Erinnerung und der Selbstvergewisserung, einer durch historisches Bewußtsein gewonnenen Identität351 nimmt er Positionen vorweg, die ganz ähnlich über hundert Jahre später auch Paul Ricœur mit seiner Theorie der narrativen Identität vertreten wird352. In seinem 344 345 346 347 348 349
Burckhardt 2000, 377 f. Hierzu auch Angehrn 1991, 128. Burckhardt 2000, 378 bzw. 380. Burckhardt 2000, 391. Rohbeck 2004, 121. Angehrn 1991, 132 (meine Hervorhebung). Löwith 1953, 29, Angehrn 1991, 131 f. sowie Rohbeck 2004, 120. Laut Löwith ist dabei »unter allen modernen Geschichtsbetrachtungen die von Burckhardt der Natur der Geschichte so nahe wie nur möglich« (Löwith 1953, 32). 350 Burckhardt 2000, 358. 351 »[D]as Festhalten des Vergänglichen, die Kultur der Erinnerung werden zu dem eigentlich Wertvollen der Historie. […] Es geht um den Mittelweg zwischen Historismus und Rationalismus, um eine Vergewisserung unserer kulturellen Identität […].« (Angehrn 1991, 132) 352 Vgl. das Ricœur-Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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kulturhistorischen, ja kulturtheoretischen Ansatz mag er für Freud eine gewisse Vorbildfunktion besessen haben, denn nach dem Zeugnis Suzanne Cassirer Bernfelds hatte Burckhardt, wie in dem diesem Kapitel vorangestellten Zitat bereits angeklungen, von allen »Kultur- und Kunsthistorikern seiner Zeit […] den nachhaltigsten Einfluß« auf Freuds Sehweise. Leider verzichtet Cassirer Bernfeld auf eine genauere Bestimmung dieses Einflusses und auch auf Belege, die ihre Behauptung stützen würden; diesen Einflüssen gesondert nachzugehen, wäre ein interessantes Forschungsprojekt, das einzulösen in der vorliegenden Arbeit im Detail leider nicht geleistet werden kann. Freud zitiert Burckhardt, hier allerdings aus zweiter Hand, in seiner Abhandlung über Leonardo da Vinci353 und nochmals in seiner Schrift über den Michelangelo’schen Moses354, beide Male jedoch nur in eher randständiger Bedeutung. Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen kann er frühestens nach der Veröffentlichung durch Jakob Oeri im Jahre 1905 gelesen haben; sollte dies tatsächlich bald nach der Herausgabe der Fall gewesen sein, so fiele die Lektüre in die Jahre unmittelbar vor Freuds erster eigener größerer kulturtheoretischer Abhandlung Totem und Tabu. Freud mag – und es sei der rein hypothetische Charakter dieser Aussage nochmals betont – gewisse mittelbare Anregungen von dieser (nicht bewiesenen) Lektüre empfangen haben, so beispielsweise einige Gedanken über das Wesen der Religion oder ganz allgemein das nicht-chronologische, sondern strukturell kulturtheoretische Vorgehen, das Burckhardts Schrift wie ja prinzipiell auch Freuds sozialanthropologischen Texten zugrundeliegt355. Daß vor allem der frühe Freud einem kulturhistorischen Text Burckhardts – namentlich der Griechischen Kulturgeschichte – Anregungen sogar für seine therapeutische Arbeit verdankt, beweist eine nicht näher datierte, vermutlich um die Jahrhundertwende entstandene Notiz, die für die psychoanalytische Deutungsarbeit eine Orientierung an Burckhardts Empfehlungen für das Verständnis von historischen Denkweisen und Anschauungen vorschlägt: »Für die Art, wie man sich bei der Deutungsarbeit verhalten soll: Burckhardt. Griech. Kulturgesch. p 5, gerade mit heftiger Anstrengung ist hier das Resultat am wenigsten zu erzwingen; ein leises Aufhorchen bei gleichmäßigem Fleiß führt weiter.« GrubrichSimitis sieht hier »in nuce […] das spätere behandlungstechnische Konzept der ›gleichschwebenden Aufmerksamkeit‹« enthalten356. Auch als Arzt ist Freud also 353 GW VIII, 128. 354 Der Moses des Michelangelo, GW X, 176 und 178. 355 Einig ist er sich mit Burckhardt sicher auch in der Annahme einer unveränderlichen Menschennatur : »Das tiefste Wesen des Menschen besteht in Triebregungen, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen.« (GW X, 331 f.) 356 Grubrich-Simitis, Ilse, 1993: Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Frankfurt/M., 135 f. (Für diesen Hinweis auf ihre eigene Publikation im Zusam-
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›Kulturhistoriker‹ im weitesten Sinne. Laut Grubrich-Simitis finden sich in der Einleitung der Griechischen Kulturgeschichte darüber hinaus viele weitere Entsprechungen zwischen den Ansichten und Einstellungen des Kulturhistorikers Burckhardt und jenen Freuds, so etwa »Burckhardts Kritik an der akademischen Praxis seines Fachs« und »Forderung nach grundlegend neuen kulturgeschichtlichen Einteilungen und Methoden« sowie seine Überzeugung, »daß nicht äußere Ereignisse die wichtigen zu erforschenden Tatsachen seien, sondern Denkweisen und Anschauungen, lebendige Kräfte, aufbauende und zerstörende, kurzum ›das Innere der vergangenen Menschheit‹«. Kulturhistorische Wissenschaft »lebe wesentlich von dem, ›was Quellen und Denkmäler unabsichtlich und uneigennützig, ja unfreiwillig, unbewußt‹ mitteilten«357. Es waren also vermutlich nicht nur Freuds konkrete Ansichten über Kunst und Kultur, die Burckhardt nachhaltig beeinflußte; vielmehr dürfte die anzunehmende Identifikation mit der Wissenschaftlerpersönlichkeit Burckhardt neben den bewußten auch eher suggestive Wirkungen gezeitigt haben, die von der Freud-Forschung noch nicht zur Gänze erschlossen worden sind.
1.3.2 Nietzsche »…Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, dass sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen.«358
Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen waren ursprünglich kein zur Publikation vorgesehenes Opus, sondern ein Konzept für akademische Vorträge, die er teilweise öffentlich hielt; zu den Hörern im Winter 1870/71 gehörte auch Friedrich Nietzsche359. Wenig später macht sich Nietzsche selbst an die Abfassung einer (Unzeitgemäßen) Betrachtung über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in der er die Burckhardt’sche Position vom genuinen Wert des Geschichtlichen, darüber hinaus aber die gesamte Geschichtskultur seiner Zeit einer grundlegenden Kritik unterzieht. Er tut dies, wie es im Titel der Bemenhang mit Freuds Verhältnis zu Burckhardt bin ich der Verfasserin zu Dank verpflichtet.) Schon Freuds Biograph Ernest Jones bezeugt anhand eines Zitats aus einem Brief an Fließ die Lektüre von Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte: »Dann liest er mit Genuß Burckhardts ›Griechische Kulturgeschichte‹ und stellt Parallelen zu seinen psychoanalytischen Entdeckungen fest: ›Meine Vorliebe für das Prähistorische in allen menschlichen Formen ist im gleichen geblieben‹ (30. Januar 1899).« (Jones 1960, 385) 357 Grubrich-Simitis 1993, 337 f. 358 Nietzsche, Friedrich, 1988a: Sämtliche Werke. Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I – IV. (dtv, 2221). München u. a., 270. 359 Burckhardt 2000, 351 f. (Vorwort des Herausgebers Jakob Oeri).
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trachtung schon anklingt, von einem Standpunkt aus, der das Leben allem anderen, so auch der Historie, überordnet und vollzieht auf diese Weise die »lebensphilosophische Wende in der Geschichtstheorie«360. Die Historie gewinnt ihren Wert höchstens im Dienst des Lebens – die Geschichte kann aber auch, diese Gefahr sieht Nietzsche, zur Gegnerin des Lebens werden, wenn sie das Einssein-mit-sich behindert durch ein Verhaftetsein im Vergangenen, durch das Sich-Verlieren im »Strome des Werdens«. Das Tier könne im Gegensatz zum es um diese Fähigkeit beneidenden Menschen »fast ohne Erinnerung« glücklich leben, »ganz und gar unmöglich« jedoch sei es, »ohne Vergessen überhaupt zu leben«. Die »Kraft zu vergessen« also ist des Lebens unabdingbare Voraussetzung361, »das Unhistorische und das Historische ist gleichermaassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig«362. Die lebensphilosophische Begrifflichkeit von Gesundheit, Krankheit, Heilung etc. prägt somit auch Nietzsches Reflexionen über die Historie363. Vorteile und Unzulänglichkeiten der historischen Kultur untersucht Nietzsche, indem er »eine Dreiheit von Arten der Historie« unterscheidet, die er als »monumentalische«, »antiquarische« und »kritische« bezeichnet. Der Tätige und Strebende, der »einen grossen Kampf kämpft«, benötige die monumentalische Art der Historie, die das Große, Heroische und Mächtige thematisiert, da er »Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie […] in der Gegenwart nicht zu finden vermag«364. Die monumentalische Art der Historie dient dem Emporsteigen über das Niedrige, die frühere Möglichkeit der Größe ist Ansporn, Größe auch in der Gegenwart zu verwirklichen; herrscht jedoch die monumentalische »über die anderen Betrachtungsarten« des Vergangenen, droht sie die Gegenwärtigen zu »Verwegenheit« und »Fanatismus« zu verführen365. Die antiquarische Art der Historie schließlich, die der Bewahrende und Verehrende betreibt, hat identitätsstiftenden Wert; hier sieht Nietzsche freilich umgekehrt die »Gefahr der musealisierenden Ehrfurcht«366 und des Stillstandes, die das Lebendige abtöten können. 360 Angehrn 1991, 133 bzw. Rohbeck 2004, 127. (Zur »lebensphilosophische[n] Wendung« zuerst: Schnädelbach, Herbert, 1974: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Freiburg/München, 76). 361 Nietzsche 1988a, 250. Siehe auch Angehrn 1991, 134. 362 Nietzsche 1988a, 252. 363 Angehrn 1991, 133. 364 Nietzsche 1988a, 258. 365 Nietzsche 1988a, 262. 366 Angehrn 1991, 135. Siehe u. a. Nietzsche 1988a, 265: »Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, dass die bewahrende und verehrende Seele des antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet.« Das mag eine sarkastische Kritik am zeitgenössischen Historismus sein (der Historismus sei, so Rohbeck (2004, 131), »[d]as abschreckende Beispiel«; explizit wird Nietzsches Kritik am Historismus allerdings vor allem im vierten Abschnitt der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung); möglicherweise ist es aber
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»Der Mensch hüllt sich«, wenn er es hierin übertreibt, »in Moderduft«, denn die antiquarische Art der Historie »versteht eben allein Leben zu bewahren, nicht zu zeugen«. Als dritte und letzte Art der Historie ist dem Menschen die kritische notwendig, die Fähigkeit, »eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können«, indem er »sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt«. Weder »Gerechtigkeit« noch »Gnade«, »sondern das Leben allein« sitze hier allerdings zu Gericht. Dem Leidenden ist die Befreiung von Geschichte eine Wohltat; gleichwohl beinhaltet sie das implizite Risiko eines pietätlosen Abschneidens der »Wurzeln« und der Tradition, mit dem letztlich die Verleugnung der eigenen Identität einhergeht367. Nicht die ›Befreiung‹ von Geschichte, sondern ein Verständlich-werden derselben und, bestenfalls, eine Versöhnung mit ihr ist hingegen das Programm des Durcharbeitens der Psychoanalyse. Befreit werden soll der Leidende also nicht von der ›Geschichte‹ – was prinzipiell auch gar nicht möglich ist –, sondern vielmehr von ihrem Zerrbild, von der Last historisch nicht gelöster bzw. nicht ›bewältigter‹ und letztlich verdrängter Aufgaben. Die Befreiung zielt, im Gegensatz zu der Art von Befreiung, wie Nietzsche sie im Rahmen seines Konzepts einer kritischen Historie fordert, nicht auf ein Zerbrechen und Auflösen der Geschichte, sondern auf ein Zusammenfügen des scheinbar Unzusammenhängenden, das Kohärent-werden des Inkohärenten. Das Richten und Verurteilen sind überdies von allenfalls sekundärer Bedeutung, das Verstehen ist wichtiger. Und während Nietzsche das Vergessen für das wirksame Mittel zur Ermöglichung eines Lebens in Freiheit hält, sieht die Psychoanalyse im Verdrängen (das nur eine besondere Form des Vergessens ist) eigentlich das Gegenteil der Befreiung; das Verdrängte ist nicht selten der undurchschaute Grund des Zwangs. Noch in einem anderen Zusammenhang analysiert Nietzsche Wert und Wirkung historischen Bewußtseins: So verdanke sich selbigem der moderne Verfall der Moral, weil auf diese Weise moralische Werte in ihrer historisch bedingten Dimension und Pluralität erkennbar und damit relativ geworden seien; historisches Bewußtsein hat demnach eine destruktive Komponente. Nietzsche hält, so Karsten Fischer in seiner Dissertation, dem historischen Bewußtsein die Alternative des historischen Sinns als »genealogischen« Denkens entgegen, welches in größeren analytischen Tiefen seinen Anfang nehmen und eine Geschichte nicht nur »der Phänomene«, sondern »der Denksysteme« schreiben müsse. Ein solcher historischer Sinn schließt eine »reflexive Metaebene« mit ein. Zentrale Kategorien der Historie sollen gefunden werden, das zugleich auch eine Kritik an Burckhardts Art der Geschichtsbetrachtung. In Anbetracht dieser und anderer ähnlicher Textstellen wäre verständlich, daß sich, wie Rohbeck (2004, 127) schreibt, »die anfängliche Freundschaft« nach Burckhardts Lektüre der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung merklich abkühlte. 367 Nietzsche 1988a, 268 – 270 (Hervorhebung im Original).
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Ziel ist »eine Geschichte der Geschichte«. Der Wille zur Macht freilich ist für Nietzsche die einzige ewige Tatsache: Nicht nur menschlichem Tun und Denken, sondern dem Leben allgemein liegt er zugrunde. Und schon Nietzsche entdeckt, daß die »Erfindung des schlechten Gewissens die Beherrschung der inneren Natur des Menschen« gestattet, die wiederum die Grundlage darstellt »für die Beherrschung der äußeren Natur«. Karsten Fischer sieht eine in diesem Motiv begründete »Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik« von Nietzsche über Freud und Weber zu Adorno368. Denn die doppelte Naturbeherrschung ist ein Leitgedanke nicht nur Nietzsches, sondern u. a. auch Freuds, wenngleich letzterer zusätzlich auch Auswirkungen der doppelten Naturbeherrschung »auf die sozialen Beziehungen« der Menschen annimmt369. Nietzsche erhebt überdies die Psychologie über die traditionelle Philosophie und bezeichnet sie als »Weg zu den Grundproblemen«370 ; es erscheint so gesehen nur folgerichtig, wenn Freud dessen Erbe antritt. Die Ähnlichkeit von besonders in der Genealogie der Moral formulierten Gedanken Nietzsches und entsprechenden zivilisationstheoretischen Gedanken Freuds ist Fischer zufolge so eminent, daß man fast »von einer Paraphrasierung der Genealogie der Moral durch Freud« sprechen könne. Beinahe alle grundlegenden Bestandteile Freud’scher Kulturtheorie finden sich demnach schon bei Nietzsche: Die »Introjektion der Triebenergie« (die sogenannte »Verinnerlichung des Menschen«) ist schon für Nietzsche genau wie später für Freud die ausschlaggebende Voraussetzung »für die Selbstdomestikation des Menschen«; darüber hinaus bildet die Wendung der Aggressionsenergie nach innen, gegen das Ich, das zweifelsohne effizienteste Instrument zur Triebhemmung. Nietzsche und Freud erklären so die Arbeit des Gewissens, das Freud durch das Instanzenmodell und den Ausdruck »Über-Ich« systematisch und begrifflich ausdifferenziert. Auch Nietzsche begreift das Gewissen letztlich als Schuldbewußtsein, das sich häufig in Gestalt des Strafbedürfnisses manifestiert371. Freilich aber ist der Mensch für Freud eben nicht jene »›kranke Bestie‹«, die Nietzsche in ihm sieht, »sondern ein an seinen zwar mangelhaften aber doch auch immer wieder intelligent verbesserbaren […] Lebensverhältnissen leidendes Wesen«372. Freuds Verdienst ist 368 Fischer 1999, 26 – 29 (Hervorhebungen im Original). Den diesbezüglichen Parallelen zwischen Nietzsche und Freud hat sich vorher freilich u. a. schon Hayden White gewidmet, der Nietzsche zugutehält, daß er zur »Erklärung des Ursprungs des Bewußtseins« im Gegensatz zu Freud nicht erst einen Urvatermord »postulieren« müsse (White 1991, 472). 369 Fischer 1999, 52. Fischer führt weiter aus, daß Freud freilich zur doppelten Naturbeherrschung »keine Alternative« sehe und »keinen dialektischen Verlauf des Prozesses«, kein »dialektische[s] Umschlagen« der Naturbeherrschung erkenne (ebd. 55 f.). 370 Fischer 1999, 29 bzw. Nietzsche, Friedrich, 1988e: Sämtliche Werke. Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. (dtv, 2225). München u. a., 39. 371 Fischer 1999, 55 bzw. Nietzsche 1988e, 321 – 324. 372 So die Kritik Matthias Kettners an »Fischers Engführung Freud-Nietzsche« (Kettner,
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es, die Analyse pathologischer Strukturen um die therapeutische Methode ihrer Auflösung ergänzt zu haben, durch die eine Leidenslinderung bewirkt werden kann, ohne sich in einem Gewaltakt von ›der‹ Geschichte befreien noch auch die Geschichte für das Leben instrumentalisieren zu müssen. Der psychoanalytische Weg ist ein entschieden historischer – durchaus im Gegensatz zur kritischen Historie Nietzsches und dem mit ihr strukturell verwandten Posthistoire des 20. Jahrhunderts, die Gefahr laufen, die offenbar als Bürde empfundene Geschichte selbst preiszugeben. Historismus 1.3.3 Droysen »Historikern und Psychoanalytikern ist gemeinsam, daß sie selber gewissermaßen das Instrument des Verstehens – sei es eines historischen Individuums oder eines Patienten – darstellen. Der Verstehensbegriff der Psychoanalyse ist mit dem auf Erfassung intentionalen Handelns gerichteten ›Verstehen‹ des Historismus aufs engste verwandt.«373
Zeitgleich mit Burckhardt setzt sich ebenfalls der Historismus kritisch mit der – angeblich – nur spekulativ vorgehenden Geschichtsphilosophie auseinander, welcher nun als Alternative die auch in den kontemporären Naturwissenschaften erfolgreich angewandte empirische Forschung entgegensetzt werden soll374. Darüber hinaus fragt der Historismus verstärkt nach den Bedingungen historischen Wissens und der Möglichkeit historischer Erkenntnis. Für diesen Prozeß der geschichtswissenschaftlichen Professionalisierung war Droysens Vorlesung über die Theorie der sich neu konstituierenden Disziplin, genannt Historik, von grundlegender Bedeutung; selbige verbindet eine formale Methodologie mit einer inhaltlich-materialen Systematik und hat die Bestimmung, »ein Organon des historischen Denkens und Forschens zu sein«375. Die Arbeit des Historikers steht dabei im Zentrum der Betrachtung; wichtig ist die Divergenz von Forschung und Darstellung, denn der Historiker untersucht Droysen zufolge nicht eigentlich die ›Vergangenheit‹, sondern er sieht sich vielmehr konfrontiert »mit Matthias, 2005: Psychoanalytische Kulturtheorie – die Zukunft einer Desillusion. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.), 2005: Kulturtheorie. (Freiburger literaturpsychologische Gespräche, 24). Würzburg, 19 – 44 (hier : 39)). Kettner sieht hierin »einen Unterschied ums Ganze«. 373 Wehler 1971b, 19. Wehler plädiert für eine teilweise Ergänzung der traditionellen Verstehenslehre durch die psychoanalytische Theorie; auch historische Quellen seien letztlich »– wie menschliche Handlungen überhaupt – fast nie eindeutig, sondern überdeterminiert und daher vieldeutig« (ebd. 16). 374 Rohbeck 2004, 74. Zur Kritik an der Gegenüberstellung von (Geschichtsphilosophie der) Aufklärung und Historismus als angeblichem Gegensatzpaar ebd., 75 f. 375 Rohbeck 2004, 85 f. bzw. Droysen, Johann Gustav, 1977: Historik. Historisch-kritische Ausgabe von Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt, 425.
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einer Gegenwart von Materialien«, die er erforscht, während die Vorstellung von Geschichte erst durch seine rekonstruierende Darstellung entsteht: Die Vergangenheit ist nun einmal vergangen376. Der Mensch ist nicht nur geschichtlich Handelnder, er ist auch Subjekt historischer Erkenntnis; das Erkenntnisprinzip der Geschichtswissenschaft besteht im »Nachvollzug von Intentionen menschlicher Handlungen« durch das forschende Individuum377. Droysen entwickelt, von ähnlichen Überlegungen Vicos über ein Jahrhundert zuvor abgesehen378, als erster eine Theorie der Methode des Verstehens in Abgrenzung zur naturwissenschaftlichen Methode des Erklärens, der Subsumtion von Einzeltatsachen unter allgemeine Gesetze. Die Hermeneutik befaßt sich mit den – historischindividuellen – Äußerungen des menschlichen Geistes, ihr Ort ist folglich die Geisteswissenschaft, deren Hypothek allerdings nun in Anbetracht der Individualisierung ihres Forschungsgegenstandes in der Formulierung allgemeingültiger Aussagen besteht379. Die Äußerungen des menschlichen Geistes sind prinzipiell ein veräußerlichtes Inneres, daher untersucht das Verstehen grundsätzlich die Beziehung von Außen und Innen; es verbindet diese Relation allerdings zusätzlich mit derjenigen von Teil und Ganzem, da sämtliche Äußerungen auf eine innere Basis zurückzuführen sind, welche gleichsam das Ganze darstellt380. Droysens Theorie des Verstehens mag vom Individuellen ausgehen; dennoch begreift er historische Tatsachen nicht als Ergebnis singulärer Handlungen von Einzelnen, sondern als Resultat von Handlungszusammenhängen: Historische Tatsachen fußen nicht eigentlich auf Willensakten von Individuen 376 Droysen 1977, 8 f. (Hervorhebung im Original) sowie Rohbeck 2004, 87. 377 Rohbeck 2004, 77. Droysen drückt dies mitunter recht poetisch aus: »Von dem logischen Mechanismus des Verstehens unterscheidet sich der Akt des Verständnisses. Dieser erfolgt unter den dargelegten Bedingungen als unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele in Seele, schöpferisch wie das Empfängnis in der Begattung.« (Droysen 1977, 424) 378 Siehe hierzu Riedel, Manfred, 1978: Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften. Stuttgart, 17: »Die ›Neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Völker‹ (1725 – 1744), die sich an der Philologie und Geschichte orientiert, beruht auf dem ersten, fundamentalen Prinzip, daß der Mensch die gesellschaftlich-geschichtliche Welt selbst erzeugt und deshalb ihre Gestaltung im Rückgang auf Gestaltungsformen (modificazioni) seines Geistes mit dem höchstmöglichen Grad von Gewißheit einsehen kann, während ihm die Welt der Natur undurchdringlich bleibt. Vico formuliert damit, mehr als ein Jahrhundert vor Droysen und Dilthey, das Konstitutionsproblem der hermeneutischen Wissenschaften, das er auf originäre, bis heute unüberholte und fortwirkende Weise auflöst.« 379 Rohbeck 2004, 77 sowie Angehrn 1991, 145. 380 Angehrn 1991, 145. Siehe auch Droysen 1977, 423: »Die einzelne Äußerung wird verstanden als eine Äußerung des Innern im Rückschluß auf dies Innere […] Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen, aus dem es hervorgeht, und das Ganze aus dem Einzelnen. Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist wie der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der einzelnen Äußerung und die einzelne Äußerung aus dessen Totalität. Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induktion wie Deduktion.« (Hervorhebung im Original)
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als vielmehr auf der Interaktion mehrerer, einem geschichtlich entwickelten (kulturellen) Ganzen angehörender Individuen. Der der geisteswissenschaftlichen Methode immanenten Problematik, verallgemeinernde Aussagen zu treffen, bietet Droysen also hier eine Lösungsmöglichkeit an. Es gilt, das »Typische im Individuellen« aufzuzeigen381. Der Nachvollzug von Intentionen menschlicher Handlungen ist strenggenommen nichts anderes als Psychologie; und auch die Relationen von Außen und Innen sowie von Teil und Ganzem und deren Verknüpfung bilden ein psychologisches Strukturmoment. Nur wenige Jahre nach Droysens Tod wird der junge Freud, von der vom Erklären geprägten Naturwissenschaft herkommend und von Droysens Theorien aller Wahrscheinlichkeit nach weitgehend unbeeinflußt, sein Augenmerk dem im weitesten Sinne ›historischen‹ Individuum zuwenden, die neurotischen Äußerungen desselben auf ein (pathologisches) ›geistiges‹ Inneres zurückführen und letztlich die Handlungen des Individuums im Kontext von Handlungszusammenhängen – familiärer, gesellschaftlicher, kultureller Art – analysieren, um so gleichsam das Typische im Individuellen zu erforschen, ja eine Theorie dieses Typischen – der menschlichen Seele – zu entwickeln. Unabdingbares Instrument für die praktische Anwendung seiner Theorie ist die Sprache, die schon Droysen »als ein Äußerlichmachen unseres Inneren, ein unmittelbares Hervorbrechen jener unserer geistigen Totalität, die zugleich empfindet, vergleicht, urteilt, schließt«382, charakterisiert. »Das Gegebene« auch für Freud – wie für den Historiker – »sind nicht die Vergangenheiten, […] sondern das von ihnen in 381 Rohbeck 2004, 90. Den Beziehungen zwischen der Singularität des Historischen und seiner allgemeinen Deutung unter dem Stichwort des Typischen widmet sich auch Habermas (1968, 321): »In jeder Geschichte, und sei sie noch so kontingent, steckt ein Allgemeines, denn aus jeder Geschichte kann ein anderer Exemplarisches herauslesen. Geschichten werden um so eher als ein Exempel verstanden, je mehr Typisches sie enthalten. Der Begriff des Typus bezeichnet hier eine Qualität der Übersetzbarkeit: eine Geschichte ist in einer gegebenen Situation und im Hinblick auf ein bestimmtes Publikum typisch, wenn die ›Handlung‹ leicht aus ihrem Zusammenhang gelöst und auf andere, ebenfalls individuierte Lebensverhältnisse übertragen werden kann.« (Hervorhebung im Original). In dieser Weise verfahre »auch der Arzt, der anhand eines gegebenen Materials die Lebensgeschichte des Kranken rekonstruiert« (ebd. 322). In der Kategorie des Typischen liegt möglicherweise auch das Potential zu einer Synthese der scheinbar gegensätzlichen »wissenschaftstheoretische[n] Programm[e]« des Verstehens historischer Ereignisse im Anschluß an Droysen und Dilthey und des Erklärens geschichtlich relevanter Handlungen im Anschluß an Hempel u. a. (zu den sich historisch verändernden und einander ablösenden Paradigmen dieser Programme: Rohbeck, Johannes/Nagl-Docekal, Herta, 2003a: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Eine Einleitung. In: Dies. (Hgg.), 2003: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien. Darmstadt, 7 – 17 (hier: 9)). Eine Einschränkung erfährt das hier thematisierte Konzept des »Typischen« freilich durch die besonders von Koselleck herausgearbeitete Tatsache, daß die Geschichte angesichts des modernen gesellschaftlichen Wandels spätestens seit dem 19. Jahrhundert ihren Status als magistra vitae weitgehend eingebüßt hat (Koselleck 1995, 38 – 66). 382 Droysen 1977, 25.
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dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.« In diesem Hier und Jetzt ist »[j]eder Punkt […] ein gewordener«, sein einstiges Sein und seine Entwicklung sind vergangen, »aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm« – ideell und als »latente Scheine; ungewußt sind sie, als wären sie nicht da.« Das Auge des Forschers schließlich vermag dieses latent Vorhandene, dies Ungewußt-Unbewußte zu erhellen und es »in das leere Dunkel der Vergangenheit zurückleuchten zu lassen.« Nicht letztere freilich wird hell, sondern nur, was von ihr »noch unvergangen« ist, als ihre »geistige Gegenwart«383. 1.3.4 Dilthey »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte.«384
Im Gegensatz zu Droysen, der auch eine materiale Deutung von Geschichte vornimmt, richtet Dilthey sein Augenmerk auf die Methodologie der Geschichtswissenschaft. Dilthey entwickelt die von Droysen stammende methodologische Dichotomie von Erklären und Verstehen weiter, indem er das Verstehen von sinnvollen menschlichen Äußerungen als prinzipielle und wesentliche Vorgehensweise der Geisteswissenschaften begreift; er radikalisiert zugleich die Historisierung und konstatiert einen entschiedenen Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaft: »Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte […].« Diltheys erkenntnistheoretisches Konzept ist folglich eine ›Kritik der historischen Vernunft‹, die, in Anlehnung an Kants Vernunftkritik und gleichzeitig über diese hinausgehend, auch die Vernunft selbst in ihrer historischen Dimension als etwas Gewordenes begreift385. Zum Dreh- und Angelpunkt 383 Droysen 1977, 422. Zur unbewußten »gegenwärtigen Vergangenheit« und ihrer leiblichen Repräsentation siehe die Ausführungen Straubs: »Die Psychoanalyse hat in eindringlicher und ganz eigener Weise unseren Blick dafür geschärft, daß eine lebendige Gegenwart nicht ohne die ihr inhärenten Spuren ehemaliger Ereignisse bzw. Erlebnisse gedacht werden kann. Solche Erlebnisse, und mögen sie noch so weit zurückliegen, gehören zur psychischen, in den Leib und das leibliche Verhalten eingeschriebenen gegenwärtigen Vergangenheit. Sie sind in ihrer psychischen Realität und Wirksamkeit nicht von bewußten, sprachlichen Repräsentationen abhängig.« (Straub, Jürgen, 2001: Erbschaften des nationalsozialistischen Judäozids in »Überlebenden-Familien« und die Nachkommen deutscher Täter. Ein Widerstreit der Interpretationen. In: Grünberg, Kurt/Straub, Jürgen (Hgg.), 2001: Unverlierbare Zeit. Psychosoziale Spätfolgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern und Tätern. (Psychoanalytische Beiträge aus dem Sigmund-Freud-Institut, 6). Tübingen, 223 – 280 (hier : 224); Hervorhebung im Original) 384 Dilthey, Wilhelm, 1931: Gesammelte Schriften. Bd. 8: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Herausgegeben von Bernhard Groethuysen. Leipzig/ Berlin, 224. 385 Rohbeck 2004, 91 f. Obwohl Dilthey dabei wie gesagt auf Droysen zurückgreift und dessen Theorien lediglich weiterentwickelt, gilt Dilthey heute allgemein als Ahnherr der Human-
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historischer Erkenntnis erhebt Dilthey das Erlebnis und erreicht so die Synthetisierung »von historischem Bewusstsein und lebensweltlicher Erfahrung, von Geschichtstheorie und Lebensphilosophie«; anders als bei Nietzsche bilden Leben und Historie keinen Widerspruch. Das Erlebnis beinhaltet mehr als den reinen Denkvorgang und sowohl das subjektive Erleben als auch das Erlebte selbst; es wird verstehbar in der Gestalt des Ausdrucks bzw. der Lebensäußerung386. Diltheys Postulat ist folgerichtig der Rückgang zur »psychologischen Wurzel«387 als Grund des Erlebens; die Wissenschaft vom »kunstmäßige[n] Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen«388 nennt Dilthey Hermeneutik. Zu ihren Aufgaben zählt die Reproduktion von Zusammenhängen der Erinnerungen; und hierin besteht ihre zentrale Verwandtschaft mit der Psychoanalyse. Auf sehr unterschiedlichen Wegen gelangen Dilthey und Freud also zu in manchen Punkten ähnlichen Theorien. Jürgen Habermas nahm diese Ähnlichkeiten zum Anlaß, die hermeneutischen Theorien Freuds und Diltheys in Erkenntnis und Interesse einem generellen Vergleich zu unterziehen: »Wie Freud« vermute auch Dilthey die »Unzuverlässigkeit […] der subjektiven Erinnerung« aufgrund von Verstümmelungen389. Die philologische Hermeneutik habe es allerdings nur mit externen, die Psychoanalyse hingegen mit internen Verstümmelungen zu tun, die »als solche einen Sinn« besäßen und als kausaler Zusammenhang untersucht werden könnten. Freud halte der Dilthey’schen Hermeneutik des bewußt Intendierten eine Tiefenhermeneutik des unbewußt Intendierten entgegen390. Die psychoanalytische Tiefenhermeneutik »bezieht
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wissenschaften (ebd., 92). Das wörtliche Dilthey-Zitat findet sich in: Dilthey, Wilhelm, 1970: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Herausgegeben von Manfred Riedel. Frankfurt/M., 348. Rohbeck 2004, 93 – 95. Für die Charakterisierung des Stellenwerts der lebensweltlichen Erfahrung greift Dilthey interessanterweise – ähnlich wie vor ihm Burckhardt – auf die anthropologische Prämisse der immer gleichen Menschennatur zurück: »Wie die menschliche Natur immer dieselbe ist, so sind auch die Grundzüge der Lebenserfahrung allen gemeinsam« (Dilthey 1931, 79). (Laut Marquard führt die Anpassung der Geschichtsphilosophie an die Anthropologie freilich zur Zerstörung der Geschichtsphilosophie: Marquard, Odo, 1965: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. In: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hg.), 1965: Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Basel/Stuttgart, 209 – 239 (hier : 217).) Dilthey, Wilhelm, 1922: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Herausgegeben von Bernhard Groethuysen. Leipzig/Berlin, 89. Dilthey 1970, 267. Habermas 1968, 265. Habermas 1968, 266 f. (Hervorhebung im Original) In den Worten Mario Erdheims: »Freud konnte einen neuen Ansatz für das Verstehen entwickeln, weil er nicht wie Dilthey dem Umgang mit Texten verhaftet blieb, sondern sich in eine unmittelbare menschliche Konfrontation einließ. Revolutionär an Freuds Leistung war vorerst einmal seine Praxis.«
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sich auf Texte, die Selbsttäuschungen des Autors anzeigen«391. Dabei werde der Sinn nicht allein des verstümmelten Textes, sondern der Verstümmelung selbst untersucht392. Die Psychoanalyse verknüpfe die »Hermeneutik mit Leistungen, die genuin den Naturwissenschaften vorbehalten zu sein schienen«393. Schon Freud selbst beschäftigte sich bekanntlich mit der Analyse literarischer Texte, die er gewissermaßen ›tiefenhermeneutisch‹ untersuchte394. Genau an diesem Punkt aber – der nicht weiter reflektierten Anwendung einer im therapeutischen Setting gewonnenen Theorie auf die Arbeit am Text – entstehen gravierende methodologische Probleme. Jürgen Straub würdigt die Leistung Alfred Lorenzers, im Rahmen seiner Konzeptionen zu einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse die besonderen jeweiligen Bedingungen und vor allem Unterschiede therapeutischer und textwissenschaftlicher psychoanalytischer Forschung herausgestellt zu haben395 – mit Untersuchungsobjekt und -zielsetzung ändere sich nämlich auch die entsprechende Methodologie und Methodik. So ist der Autor eines Textes oftmals eben kein lebendes Subjekt mehr, der Text hat nicht die gleiche Stellung wie ein Patient, und der Interpret kann den Text auch nicht (analog zur in der therapeutischen Situation idealerweise stattfindenden Wandlung des Patienten) verändern; die traditionelle psychoanalytische Theorie und Methodik aber ist angewiesen auf in der therapeutischen Tätigkeit gewonnene Einsichten396. Der Analytiker deutet affektives Geschehen, nicht allein einen wie immer gearteten ›textlichen‹ Inhalt. In der angewandten Psychotherapie nimmt er seine Interpretationen im Rahmen direkter Interaktionsund Kommunikationssituationen vor, an denen außer ihm nur eine weitere Person beteiligt ist und die ferner durch Übertragungs- und Gegenübertra-
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(Erdheim, Mario, 1982: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt/M., 161 f.) Habermas 1968, 267 (Hervorhebung im Original). »Das nichtpathologische Muster eines solchen Textes ist der Traum« (ebd., 269); Freud betätigt sich als Philologe des Traums, der Schlüssel letztlich für die pathologischen Verzerrungen von »Texten« ist. Hier läßt sich einwenden, daß Freud keine ›Träume‹ als solche analysiert, sondern sprachlich artikulierte Träume, nicht den bloßen Trauminhalt, sondern assoziative Bilder zum Traum: »Die Analyse von Träumen bedarf der freien Assoziationen des Träumers« (Straub, Jürgen, 1999: Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie. (Perspektiven der Humanwissenschaften, 18). Berlin/New York, 295). Habermas 1968, 271. Habermas 1968, 263. In den Worten Claudius Messners ist die Psychoanalyse ergo mehr als eine rein hermeneutische, sie ist »zugleich ärztlich-therapeutische und hermeneutische Kunst, ist Maieutik« (Messner, Claudius, 1985: Die Tauglichkeit des Endlichen. Zur Konvergenz von Freuds Psychoanalyse und Diltheys Hermeneutik. (Saarbrücker Hochschulschriften, 1: Psychologie). St. Ingbert, 193). Vgl. u. a. die bereits zitierte Schrift über Wilhelm Jensens Gradiva (GW VII, 31 – 125). Straub 1999, 280 – 295. »Die Psychoanalyse begreift« Lorenzer dabei »als hermeneutische Wissenschaft, die sich mit der Analyse handlungsrelevanter Symbolsysteme befaßt« (ebd., 280 f.). Straub 1999, 281 f.
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gungsprozesse geprägt sind. Analysen erfolgen außerdem aufgrund eines Leidensdrucks der Patienten und erstrecken sich in der Regel über einen langen Zeitraum, finden regelmäßig unter eindeutig bestimmten anwendungsbezogenen Bedingungen statt; die Leidenslinderung geht idealiter einher mit der Bewußtwerdung der für die Entstehung der Symptomatik verantwortlichen biographischen Faktoren, und die »Aufklärung dient im therapeutischen Kontext unmittelbar der Transformation des praktischen Selbst- und Weltverhältnisses eines Menschen«. In der sich mit literarischen Texten beschäftigenden psychoanalytischen Hermeneutik hingegen ist die Situation eine gänzlich andere: Die Interpretation eines Textes kann bestenfalls sinnbildlich »als virtuelles Gespräch« verstanden werden397. Ein personaler Kommunikationspartner fehlt, die Textauslegung ist zudem unberührt von alltagsweltlichen Einschränkungen, wie sie in der analytischen Praxis begegnen; das Interpretandum ist aufgrund seiner schriftlichen Fixierung immer verfügbar, »[i]m Gegensatz zur Flüchtigkeit des ephemeren Wortes im psychoanalytischen Gespräch«398. Eine beliebig große Zahl von Rezipienten kann folglich stets auf das Gleiche Bezug nehmen, Deutungen sind intersubjektiv nachprüfbar. Die Relation Text-Leser weicht erheblich von derjenigen zwischen Analysand und Analytiker in der therapeutischen Situation ab. Textwissenschaftliche Verstehensleistungen sind ergo grundsätzlich von solchen verschieden, die vor dem Hintergrund einer sozialen Praxis erbracht werden. Eine Veränderung bewirken Textlektüren höchstens beim Leser, nicht beim Textproduzenten – während der Analytiker auf den Patienten verändernd einwirken, ihn bei seiner psychischen Gesundung unterstützen soll399. Allen Unterschieden zwischen therapeutischer und textwissenschaftlicher psychoanalytischer Forschung zum Trotz sah laut Straub auch Lorenzer bestimmte Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den genannten Verstehensleistungen: so etwa das »szenische Verstehen«, das in beiden Fällen die Ausarbeitung von »Interpretationen im Einsatz [der] ganzen Person« erfordert. Sowohl der Therapeut als auch der Tiefenhermeneutiker muß jeweils seine persönlichen Erfahrungen in seine Interpretationen einfließen lassen, anderenfalls erschlösse 397 Straub 1999, 286 f. Der psychoanalytische ›Dialog‹ ist außerdem kein Austausch von ›Argumenten‹ im eigentlichen Sinne. Zur genaueren Charakterisierung des aus dem therapeutischen Setting gewonnenen Verstehenskonzepts wäre folglich eine präzisere Definition des Begriffs ›Dialog‹ vonnöten, wenn man Verstehen wie u. a. Wimmer als grundsätzlich »dialoghaftes Geschehen« begreift (Wimmer, Franz M., 1978: Verstehen, Beschreiben, Erklären. Zur Problematik geschichtlicher Ereignisse. (Symposion, 57). Freiburg/München, 165 – 170). 398 Straub 1999, 287. 399 Straub 1999, 287 f. Dennoch »vernachlässigte« die »traditionelle psychoanalytische Literaturdeutung […] die Rolle des Lesers bzw. wissenschaftlichen Interpreten fast vollständig« (ebd., 289; Hervorhebung im Original).
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sich der verborgene Sinn der untersuchten Texte nicht. Die ›Wechselbeziehung‹ von Text und Leser und die analytische Reflexion derselben bilden eine Grundvoraussetzung für tiefenhermeneutische Textanalysen; letztere zielen nicht auf die tatsächlichen Personen, die die zu interpretierenden Texte geschaffen haben oder in selbigen eine Rolle spielen, »sondern auf textuell vermittelte, soziokulturelle und psychische Phänomene«. Straub nennt Lorenzers »Ansatz der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse und psychoanalytischen Sozialforschung« die aktuell »ausgefeilteste Variante einer psychoanalytischen Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaft«, die überdies bereits »in zahlreichen Forschungsfeldern erprobt« worden sei400.
1.3.5 Troeltsch »Der Begriff eines Gemeingeistes ist nun freilich nur möglich unter Zuhilfenahme eines weiteren grundlegenden Begriffes der Historie, des Begriffes des Unbewußten.«401
Als hauptsächliches Problem des Historismus wurde schon früh sein Wertrelativismus begriffen402 ; Ernst Troeltsch begegnet dieser Problematik mit einer Art von Rehabilitierung der geschichtsphilosophischen Frage nach Wesen und Bedeutung der Geschichte. Er anerkennt zunächst die Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung durch den zu seiner Zeit sehr erfolgreichen Historismus, benennt aber zugleich mit der diesem eignenden Begrenzung auf Detailforschung und der Vernachlässigung der »eigentliche[n] Aufgabe der Historie«, nämlich der »Synthese großer Entwicklungszusammenhänge«, die zentralen Schwierigkeiten der bloßen »Seminarhistorie«403. Troeltsch postuliert hingegen – vor allem in seinem unvollendet gebliebenen Werk Der Historismus und seine Probleme (1922) – die Verbindung historischer Empirie mit philosophischer Spekulation und der Kategorie des »Werturteils«. In der Mitte zwischen empirisch arbeitender Geschichtswissenschaft und philosophischer Ethik sieht er das Aufgabenfeld der Geschichtsphilosophie. Allerdings gibt es laut Troeltsch keine über aller Geschichte stehenden, gewissermaßen ›absoluten‹ Werte; vielmehr will er »aus der Wertbeurteilung des Gewesenen die Gegenwart erneuern und doch zugleich jene Wertbeurteilung aus den Bedürfnissen und Horizonten der Gegenwart gewinnen«, das Problem des Historismus also durch die reziproke 400 401 402 403
Straub 1999, 288 f. (Hervorhebung im Original) Troeltsch 1922, 46 (Hervorhebung im Original). Rohbeck 2004, 78 sowie Angehrn 1991, 175 f. So in seinem Essay Die Krisis des Historismus, enthalten in: Troeltsch, Ernst, 2002: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918 – 1923). Herausgegeben von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit. (Kritische Gesamtausgabe, 15). Berlin/New York, 437 – 455 (hier : 442 f.). Siehe auch Rohbeck 2004, 98 bzw. 101.
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Beeinflussung und Ergänzung einstiger und aktueller Wertmaßstäbe lösen404. So wird zugleich auch »die materiale Geschichtsphilosophie wieder aufgewertet und in den Zusammenhang der Kulturwissenschaften gestellt«; hierin liegt nach Rohbeck das gegenwärtige Interesse der »von Troeltsch rehabilitierte[n] Philosophie der Geschichte«405. Auf der formalen Ebene – die er »formale Geschichtslogik« nennt – arbeitet Troeltsch u. a. mit der »Kategorie der individuellen Totalität als Grundeinheit«, die »Kollektiv-Individualitäten« wie »Völker, Staaten, Klassen, Stände, Kulturzeitalter« etc. ebenso bezeichnet wie »Vorgangskomplexe aller Art wie Kriege, Revolutionen usw.«406 Schon »[i]n der zusammengesetzten Natur des Begriffes« der »individuellen Totalität« oder auch »Kollektivität« komme eine »Spannung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen, zwischen dem Gemeingeiste und den Einzelgeistern, Gesellschaft und Einzelpersonen, objektivem und subjektivem Geiste«407 zum Ausdruck. Um das hier reformulierte klassische Problem der Kontingenz der Geschichte angemessen darzustellen, bedient sich Troeltsch – wie dem dieses Kapitel einleitenden Zitat bereits zu entnehmen ist – des Terminus des Unbewußten, den er gar als »grundlegenden« Begriff »der Historie« bezeichnet. Es handelt sich hierbei im übrigen um die erstmalige Übertragung des »Begriff[s] des Unbewussten aus der Psychologie auf die Historiographie«408. Freilich negiert Troeltsch einen näheren Zusammenhang mit dem »schwierige[n] Begriff des psychologischen Unbewußten«409, ohne allerdings auf konkretere Definitionen 404 Rohbeck 2004, 101 f. Das wörtliche Zitat findet sich bei Troeltsch 1922, 118. 405 Rohbeck 2004, 98. Ähnlich auch Giugliano, Antonello, 2003: Geschichtsphilosophie als Kulturgeschichte. In: Rohbeck, Johannes/Nagl-Docekal, Herta (Hgg.), 2003: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien. Darmstadt, 165 – 183 (hier : 173), der aber zugleich Kritik übt an Troeltschs angeblichem Rückfall »in einen metaphysischen Sinn der Geschichte« (ebd. 176). 406 Troeltsch 1922, 32 f. (Hervorhebung im Original) 407 Troeltsch 1922, 44. (Hervorhebung im Original) 408 So zumindest Rohbeck 2004, 100. 409 In seiner Distanzierung vom »schwierige[n] Begriff des psychologischen Unbewußten« nimmt Troeltsch paradoxerweise selbst eine psychologische Bestimmung des Unbewußten vor, die zur psychoanalytischen durchaus nicht im Widerspruch steht: »Dieses Unbewußte des Historikers hat mit der Psychologie mindestens zunächst wenig zu tun. Denn es ist nicht der schwierige Begriff des psychologischen Unbewußten, sondern die tausendfach von der Historie bestätigte Tatsache, daß unsere Handlungen, Gefühle, Instinkte, Strebungen und Entschlüsse viel mehr Voraussetzungen in sich tragen als wir wissen und eine viel größere oder ganz andere Bedeutung für das Ganze und die Dauer haben, als uns selbst bewußt war. Es ist nicht Bewußtlosigkeit, sondern Ueberschießen des Gehaltes über das aktuell Bewußte und Zurückgehen des Bewußten in unbekannte Tiefen, die sich erst dem die ganzen Auswirkungen überschauenden Historiker annähernd offenbaren und ihm immer neue Fragen stellen. Wo solche Fragestellungen möglich geworden sind, da sagt man dann mit Recht, daß ein Zeitalter ›historisch‹ geworden sei, und da wird man auch insbesondere erst das Verhältnis zwischen Einzelindividuen und Totalität übersehen können, das in einem bestimmten Falle vorliegt.« (Troeltsch 1922, 47)
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dieses psychologischen Unbewußten einzugehen. Weder im Text noch in den Anmerkungen nimmt er Bezug auf den zeitgenössischen psychologischen Diskurs, auch Freud nennt er nicht. So bleibt letztlich unklar, ob er bei dem von ihm kritisierten psychologischen Unbewußten die Psychoanalyse oder aber andere psychologische Definitionen desselben im Auge hat. Jedoch verrät seine Argumentation wenigstens inhaltlich, ob beabsichtigt oder nicht, eine gewisse Nähe zu psychoanalytischen Interpretationen, wenn er konstatiert, daß »auch innerhalb jedes Einzel-Individuums selbst die ungeheure Masse seiner Voraussetzungen, Instinkte und Strebungen unbewußt oder halbbewußt [ist], so daß man die Momente des vollbewußten Handelns geradezu als Ausnahmszustände betrachtet hat«410. Dieses Un- und Halbbewußte – wobei das Halbbewußte wohl am ehesten dem ›Vorbewußten‹ des psychoanalytischen Vokabulars entspricht – ist Troeltsch zufolge nicht nur im Individuum, sondern auch gesellschaftlich wirksam. In der Annahme eines gesellschaftlichen Unbewußten besteht also eine bedeutende Parallele zur psychoanalytisch beeinflußten Gesellschaftstheorie. Eine explizite Thematisierung des Begriffs »gesellschaftliches Unbewußtes« im Anschluß an Freud unternehmen laut Hans Tessar411 übrigens lediglich Erich Fromm und Mario Erdheim. So entwickelt Fromm in diesem Zusammenhang die Vorstellung eines »›gesellschaftlichen Filters‹«, der sich »aus Sprache, Logik und Sitten« konstituiert und darüber entscheidet, »welche Erfahrungen zu Bewußtsein kommen dürfen« und welche »für das Funktionieren der Gesellschaft« unbewußt bleiben müssen, »so daß der ganze kulturelle Apparat dem Zweck dient, das gesellschaftliche Unbewußte intakt zu halten«412. Eine Transformation des gesellschaftlichen Ist-Zustandes ermöglicht das Bewußtwerden von bisher Unbewußtem, da es durch gesellschaftliche Veränderung seine Bedrohlichkeit verliert; Fromm benennt als bedeutendsten Faktor bei der »Aufhebung der
410 Troeltsch 1922, 46. An dieser Stelle nimmt er auch die Parallelisierung von Hegels Terminologie von Ansich und Fürsich und un-[bzw. halb]bewußt und bewußt vor (46 f.; vgl. auch das Hegel-Kapitel der vorliegenden Arbeit): »Hierin wurzelt die Hegelsche Unterscheidung des ›An-sich-seienden‹ und des ›Für-sich-Seienden‹ [uneinheitliche Orthographie im Original], wo die volle Deckung beider vielleicht nie eintritt oder vielleicht erst dem lange hinterher den Wirkungszusammenhang erst [Wh. im Original] überschauenden Historiker aufgeht.« Der Historiker wäre hier eine Art Repräsentant desjenigen Prozesses, den die Psychoanalyse als Sekundärvorgang bezeichnet. 411 Tessar, Hans, 2008: Die Produktion gesellschaftlicher Unbewusstheit. Eine neue Anthropologie, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Gesellschaftsphilosophie. Hamburg, 65. 412 Fromm 1990, 81 (Hervorhebung im Original). Fromm fährt fort: »Im Vergleich dazu scheint die individuelle Verdrängung, die auf Grund besonderer Erfahrungen des einzelnen nötig ist, unbedeutend. Außerdem sind die individuellen Faktoren um so effektiver, je mehr sie die gleiche Ausrichtung wie die gesellschaftlichen Faktoren haben.«
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Verdrängung« den sozialen Wandel413. Zu ergänzen wäre hier sicherlich die Veränderung durch Generationswechsel, die ebenfalls und in vermutlich nicht geringerem Maße das Bewußtwerden von bislang Verdrängtem ermöglicht. In der Definition Mario Erdheims ist das gesellschaftliche Unbewußte gleichbedeutend mit den Eigenschaften einer Gesellschaft, die nicht genügend reflektiert werden und daher »unerwartete […] Entwicklungen provozieren«; sie bilden aber gleichsam den »Motor des Kulturwandels«414. Troeltsch und Erdheim sind sich also grundsätzlich einig, daß Geschichte vor allem aufgrund eines gesellschaftlich wirksamen Unbewußten schlecht vorhersagbar und eigentlich erst aus der Rückschau interpretierbar ist. Das Kardinalproblem der Geschichtsphilosophie, die mit Teleologien operiert und sich in diesem Zusammenhang um Zukunftsdeutungen bemüht, liegt demnach in der mangelnden Berücksichtigung unbewußter Momente. Die »Identifikation mit einer Institution« und »deren Zielen« bedingt eine Verdrängung von deren Defiziten und Mängeln, was wiederum die bewußte Thematisierung und Veränderung verhindert oder zumindest erschwert. Schon in seiner Dissertation widmet sich Erdheim den »subjektiven und objektiven Faktoren des Geschichtsprozesses«, deren Dualität bewirke, daß die beabsichtigten Zielsetzungen des menschlichen Handelns sich nicht mit den realen Resultaten decken; subjektives Bewußtsein und tatsächliches Handeln seien nicht »unentwirrbar miteinander verbunden«, sondern vielmehr »selbständige Elemente«415. Der objektiv festgestellte Kulturwandel vollziehe sich daher unbewußt und nicht-intendiert. Erdheim beschreibt damit prinzipiell das Gleiche wie Troeltsch, der die besagte »Spannung zwischen […] objektivem und subjektivem Geiste« als das »schwierigste Problem aller Historie« bezeichnet416 und auf anderen Wegen zu ähnlichen Schlüssen gelangt wie die Vertreter der psychoanalytischen Gesellschaftstheorie.
413 Fromm 1990, 90 f. sowie Tessar 2008, 82 f. 414 Tessar 2008, 65. 415 Tessar 2008, 65 – 69 bzw. Erdheim, Mario, 1973: Prestige und Kulturwandel. Eine Studie zum Verhältnis subjektiver und objektiver Faktoren des kulturellen Wandels zur Klassengesellschaft bei den Azteken. (Kulturanthropologische Studien zur Geschichte, 2). Wiesbaden, 17. Zielsetzung von Erdheims Dissertation ist folglich eine Analyse des Prestiges – hier am Beispiel der Azteken – in seiner Bedeutung für unbewußte Mechanismen kultureller Entwicklung. 416 Troeltsch 1922, 44. Siehe oben.
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Restitution der Geschichte: Universalhistorische Entwürfe 1.3.6 Weber »Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?«417
Sowohl gegen die Geschichtsphilosophien, die in der Tradition der Aufklärung eine sich historisch verwirklichende Vernunft thematisieren, als auch gegen solche, die im Sinne des Historischen Materialismus ökonomische Gesichtspunkte und materielles Sein zum Zentrum der Geschichte erheben, wendet sich Max Weber, wenn er die Kulturbedeutsamkeit von Ideen als universalgeschichtliche Probleme untersucht und in der Folge eine Soziologie der Religionen schreibt. Der hierin zum Ausdruck kommende »tiefgreifende[…], in seinen materialen Implikationen und forschungsmethodologischen Konsequenzen kaum zu überschätzende[…] Bruch mit den geschichtsphilosophischen Grundüberzeugungen des 19. Jahrhunderts«418 beinhaltet aber in seiner komparatistischen, letztlich universalhistorischen Perspektive und Orientierung an der empirischen Geschichtsforschung zugleich eine Restitution der Geschichte419, gewissermaßen eine neue Art von Erzählung, die eben auch kulturelle Besonderheiten berücksichtigt420. So bildet die Frage nach der Besonderheit der okzidentalen Kultur, die Grundfrage, weshalb »gerade auf dem Boden des Okzidents […] Kulturerscheinungen auftraten«, die »von universeller Bedeutung« sind, den programmatischen Ausgangspunkt von Webers Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie. Webers eigene Gegenwart also – in der abendländisches Denken auch de facto einen globalen Siegeszug angetreten hat – ist der Bezugspunkt dieser Analyse; als »Eigenart« der okzidentalen Zivilisation erkennt Weber den »spezifisch gearteten ›Rationalismus‹«, der alle Lebensbereiche erfaßt421. Nach Webers Rationalisierungskonzept sind es wesentlich zwei Komponenten, die besagtem Rationalismus zur Durchsetzung verhelfen: die 417 Weber, Max, 1920a: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus u. a. Tübingen, 1 (Hervorhebung im Original). 418 Lilienthal, Markus, 2001b: Max Weber : Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05). In: Gamm, Gerhard/Hetzel, Andreas/Lilienthal, Markus, 2001: Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie. (Reclams Universal-Bibliothek, 18114). Stuttgart, 94 – 107 (hier: 94). 419 Angehrn 1991, 162 f. 420 Giugliano 2003, 177 – 183. 421 Weber 1920a, 11. Siehe auch Angehrn 1991, 166.
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»Entzauberung der Welt« – die »mit der altjüdischen Prophetie einsetzte« und gemeinsam »mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken […] alle magischen Mittel der Heilssuche […] verwarf«422 – und »die Ausdifferenzierung der Realitäts- und Geltungssphären gegeneinander«423. Rationalisierung bedeutet vor allem ein Verständlich-werden des Unverständlichen, ein Berechenbarwerden des vormals Unberechenbaren, damit letztlich auch ein Verfügbarwerden des zuvor Unverfügbaren. Der Zweck erhält umso effizientere Mittel zu seiner Umsetzung. Die rationalste, d. h. die dem jeweiligen Zweck am besten gerecht werdende Ordnung behauptet sich Weber zufolge in Europa seit der Reformation. Rationale Ordnung ist charakteristisch nicht nur für den Wirtschaftsbetrieb, sondern auch für die Staatsverwaltung; sie wird hier wie dort gewährleistet durch den »Fachbeamten, den Eckpfeiler des modernen Staats und der modernen Wirtschaft des Okzidents«. Die Naturwissenschaften erhöhen durch enorme Erweiterung des Wissens die potentielle Verfügungsgewalt über die Außenwelt. Gleichzeitig wird kapitalistisches Wirtschaften zur »schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens«424. Die protestantische Ethik hat an dieser Entwicklung entscheidenden Anteil, bewirkt ihre »innerweltliche […] Askese« doch die moralische Legalisierung des Gewinnstrebens und des Gütererwerbs für praktische und nützliche Zwecke, die »Entfesselung des Erwerbsstrebens« und gleichzeitig aber ebenso die »Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang«425. Die »Paradoxie« protestantischer Ethik und »der kapitalistischen Rationalisierung« besteht jedoch freilich in der Tatsache, durch eine Ausrichtung auf das Diesseitige und die Bindung an »Sachgesetzlichkeiten« eben genau »jenen (religiösen) Geist [zu] unterminieren«, der dem asketischen Ideal einen überweltlichen Sinn gegeben hatte426. Eine »verselbständigte Rationalisierung tendiert« überdies »zur Eliminierung alles Schöpferischen«427; »Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz« stehen einer düsteren Vision zufolge am Ende der zivilisatorischen Entwicklung428. Die auch von Weber konstatierte Entfremdung hat bei ihm im Unterschied zu Marx aber »kein strukturierendes Zentrum« wie die Produktionsverhältnisse429 ; Weber betont, 422 Weber 1920a, 94 f. (Hervorhebungen im Original) Die »Entzauberung der Welt« begann also in jener Epoche, die Jaspers später als »Achsenzeit« bezeichnen wird – eine Entwicklung, die nach Weber im Calvinismus ihren Abschluß fand. 423 Angehrn 1991, 167. 424 Weber 1920a, 3 f. (Hervorhebung im Original) 425 Weber 1920a, 190 – 192 (Hervorhebung im Original). Die innerweltliche Askese kann psychoanalytisch wohl im Sinne einer Sublimierung interpretiert werden. 426 Lilienthal 2001b, 104 f. (der sich hier seinerseits hauptsächlich auf Weber 1920a, 203 f. bezieht). 427 Angehrn 1991, 167. 428 Weber 1920a, 204. 429 Angehrn 1991, 167.
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wie oben bereits ausgeführt, gegen den Marxismus die Wirkmacht des ›Geistes‹, und zwar als Ensemble »psychischer Dispositionen«, die eben nicht unmittelbar, sondern indirekt, ja unbewußt wirksam sind430 und häufig andere Entwicklungen zur Folge haben als die bewußt intendierten. In diesem Punkt besteht eine gewisse Nähe zu Troeltsch ebenso wie zur psychoanalytisch beeinflußten Gesellschaftstheorie. Laut Marianne Weber hat sich ihr Mann tatsächlich in die Lektüre von Freuds Schriften »vertieft« und das große Potential der Psychoanalyse erkannt. Aufgrund vor allem methodologischer Vorbehalte – so besonders der Einschätzung einer mangelnden Objektivierbarkeit psychoanalytischer Erkenntnisse – blieb Webers Einstellung zur Psychoanalyse jedoch zeitlebens »zutiefst ambivalent«431. Dennoch sieht Fischer bei Weber eine »Fortführung der Entwicklungslinie zivilisationstheoretischer Kulturkritik«, die mit Nietzsche beginnt und über Freud und Weber zu Adorno führt; vor allem Freuds Aufsatz Totem und Tabu biete mannigfaltige »Anhaltspunkte für Bezugnahmen Webers auf
430 Lilienthal 2001b, 100 bzw. 104 (meine Hervorhebung). Den Verbindungen zwischen Soziologie und Psychologie bei Max Weber widmet sich auch Cavalletto, George, 2007: Crossing the Psycho-Social Divide. Freud, Weber, Adorno and Elias. (Rethinking classical sociology). Aldershot, besonders 92 – 125. So habe Weber in Stellungnahmen zur Methodologie die Anwendung einer verstehenden Psychologie (die begrifflich auf Jaspers zurückgeht, hierzu Warsitz, Rolf P., 1990: Zwischen Verstehen und Erklären. Die widerständige Erfahrung der Psychoanalyse bei Karl Jaspers, Jürgen Habermas und Jacques Lacan. (Epistemata: Reihe Philosophie, 78). Würzburg, 17) für Handlungen und Handlungszusammenhänge gefordert, die nicht rational nachvollziehbar seien (Cavalletto 2007, 106 – 113). In bezug auf Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus und das Konzept einer verstehenden Psychologie heißt es bei Cavalletto u. a. (115 f.): »It was in Weber’s psychological investigation of irrational motivation that he discovered the dynamics of anxiety and self-instrumentalization that tied ascetic Protestantism to modern capitalism – an investigation which, while consciously eschewing ›technical psychology‹ (i. e., physiological psychology), gained ist insights through the successful implementation of the very verstehende psychology that he extols theoretically and abstractly in his methodological works.« Zu den Parallelen von verstehender Psychologie und Psychoanalyse siehe auch Jaspers, Karl, 1977: Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe. (Serie Piper, 150). München, 23: »Dilthey hatte gegen die theoretisch erklärende Psychologie eine andere ›beschreibende und zergliedernde Psychologie‹ gestellt; diese Aufgabe machte ich mir zueigen, nannte die Sache ›Verstehende Psychologie‹ und arbeitete die längst geübten, von Freud auf eine eigentümliche Weise faktisch angewandten Verfahren heraus, durch die man im Unterschied von den unvermittelbar erlebten Phänomenen die genetischen Zusammenhänge des Seelischen, die Sinnbezüge, die Motive aufzufassen vermag.« 431 Fischer 1999, 78 f. Fischer nennt folgende Schriften Freuds, die Weber demzufolge gelesen habe(n könnte): Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Totem und Tabu (ebd., 80). Nach Johannes Cremerius beruhte Webers Rezeption der Psychoanalyse zu einem nicht unerheblichen Teil auf der Begegnung mit dem zwielichtigen Freud-Jünger Otto Gross (Cremerius 1981a, 22 f.).
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Freud«432. Die Chance für eine Beeinflussung Freuds durch Weber sei umgekehrt größer, auch wenn Freud Weber nie zitiere. Freuds Biograph Ernest Jones macht in der Tat auf einige der Parallelen zwischen Webers und Freuds Annahmen bezüglich der von Weber als »spät und künstlich konstruierte«433 eingestuften israelitischen Abkunft Moses sowie der ägyptischen Ursprünge der Beschneidungssitte und der Rolle der historischen Leviten als »persönliche Anhänger« von Mose aufmerksam, die eine Lektüre Freuds von Webers Schrift Das antike Judentum plausibel erscheinen lassen könnten434. Er sagt damit aber nicht, daß Freud, wie Fischer schreibt, Webers Protestantische Ethik und Das antike Judentum tatsächlich gelesen noch daß eine ›Beeinflussung‹ stattgefunden hat435. Gleichwohl ist selbiges durchaus im Bereich des Möglichen, obzwar bislang unbewiesen und vermutlich auch in Zukunft unbeweisbar. Die Psychoanalyse selbst steht – ihre Wurzeln in der Naturwissenschaft legen dies bereits nah – in der von Weber konstatierten okzidentalen Tradition einer rationalen Auflösung des Irrationalen, indem sie vordergründig irrational Anmutendes wie Träume, Neurosen, Ticks usf. in ihrer Genese rational verständlich macht. In der Analysesituation aber tritt ein anderes Bestreben der ›rationalen‹ Auflösung des Unverständlichen zutage, das Bestreben des Patienten nämlich, eine rationale und »logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung« für die nicht erfaßten tatsächlichen Motive »einer Handlung, eine[s] Gedanken[s], eine[s] Gefühl[s] etc.« zu suchen. Diesen Vorgang heißt die Psychoanalyse im Anschluß an Jones Rationalisierung. Die Rationalisierung erstreckt sich »vom Wahn bis zum normalen Denken« und ist nicht unmittelbar als Abwehr »gegen die Triebbefriedigung gerichtet«, sondern verdeckt »eher sekundär die verschiedenen Elemente des Abwehrkonflikts«, ähnlich »der sekundären Bearbeitung«. Die Rationalisierung besitzt eine sichere Basis »in Ideologien, allgemeiner 432 Fischer 1999, 80. Weber folge überdies in Wirtschaft und Gesellschaft »[b]is in die Formulierungen hinein […] dem kulturtheoretischen Ansatz Sigmund Freuds«, wenn er dem Verhältnis von Religiosität und Sexualität nachgehe (ebd., 84 bzw. Weber, Max, 1922: Wirtschaft und Gesellschaft. (Grundriß der Sozialökonomik, 3). Tübingen, 344). Auch in »der Protestantischen Ethik, wo er das Verschwinden der Privatbeichte im Calvinismus« (Fischer 1999, 78 Anm. 16) einen »Vorgang von größter Tragweite« nennt, erinnere Webers Sprache stark an Freud, bspw.: »Das Mittel zum periodischen ›Abreagieren‹ des affektbetonten Schuldbewußtseins wurde beseitigt« (Weber 1920a, 97). 433 Weber, Max, 1921: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 3: Das antike Judentum. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen, 131. 434 Jones 1962b, 432 – 434. 435 Fischer 1999, 80: »Freud […] war vertraut mit Webers religionssoziologischen Arbeiten und hat, ohne dies kenntlich zu machen, auf die 1904 – 1905 erschienene Protestantische Ethik und die 1921 publizierte Studie über Das antike Judentum Bezug genommen. Letzterer schreibt jedenfalls Ernest Jones starke Auswirkungen vor allem auf Freuds zwischen 1934 und 1938 entstandene Arbeit Der Mann Moses und die monotheistische Religion zu. Demzufolge übernahm Freud Webers Thesen […].«
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Moral, Religionen, politischen Überzeugungen etc.« – den Weber’schen Ideen –, »da die Tätigkeit des Über-Ichs hier die Abwehrmechanismen des Ichs verstärkt«436. Der Umkehrschluß – die Vermutung, daß Religionen, allgemeine Moral, politische Überzeugungen und Ideologien ihrerseits nicht unwesentlich durch Rationalisierung geprägt sein könnten (was ihre genannte stützende Funktion für die Rationalisierung des Individuums zu erklären imstande wäre) – böte zumindest theoretisch die Möglichkeit, die im Sinne Webers historisch wirkmächtigen Ideen selbst einer Psycho-Analyse zu unterziehen, somit die Irrationalität der gesellschaftlichen Rationalisierung437, die ihr zugrundeliegenden unbewußten Triebkräfte aufzudecken und ergo eine Antwort zu finden auf die Frage nach den Gründen, weshalb die Geschichte regelmäßig andere Entwicklungen zeitigt als die bewußt intendierten. 1.3.7 Jaspers »Mitten in der Geschichte stehen wir und unsere Gegenwart. Diese wird nichtig, wenn sie in den engen Horizont des Tages zur bloßen Gegenwart sich verliert.«438
Ähnlich wie Weber orientiert sich auch Jaspers an der historischen Empirie und erkennt eine »Achse der Weltgeschichte« zwischen 800 und 200 v. Chr., in der der »Mensch, mit dem wir bis heute leben«439, entstand – »und zwar gleichzeitig in den drei großen Kulturkreisen Chinas, Indiens und des Abendlandes«, wo »der reale Zusammenschluß der Menschheit« sich ereignete und somit eine erstmals einheitliche, eine universale Menschheitsgeschichte begründet wurde440. Die Achsenzeit markiere das Ende der frühen Hochkulturen, die sie gleichsam 436 Laplanche/Pontalis 1972, 418 f. 437 Dieser Aufgabe sah sich bereits die ältere Frankfurter Schule verpflichtet, siehe folgendes Adorno-Zitat: »Nicht die Rationalisierung der Welt trägt Schuld an dem Unheil, sondern die Irrationalität dieser Rationalisierung« (zit. nach Fischer 1999, 11). Habermas rekonstruiert bekanntlich die Entwicklung von Weber hin zur älteren Frankfurter Schule (Habermas, Jürgen, 1981a: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt/M., 461 – 534). 438 Jaspers, Karl, 1949: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München, 5 (Vorwort). 439 Jaspers 1949, 19. 440 Angehrn 1991, 167 f. Auch zeitgenössische Autoren erkannten – wenngleich in ihrem Urteil auf die ihnen bekannte Welt beschränkt – zum Teil die über 2000 Jahre später durch Jaspers thematisierte Vereinheitlichungstendenz ihrer Gegenwart. Polybios beispielsweise meinte, daß ab 220 v. Chr. »die Geschichte […] ein zusammenhängendes Ganzes« geworden sei (Brunner/Conze/Koselleck, 1975, Art. »Geschichte«, 599). Vor Jaspers notierte bereits Jacob Burckhardt bei aller »Vielheit« der Kulturen gewisse globale Erscheinungen schon im Altertum und charakterisiert mit dem folgenden Zitat die später von Jaspers als Achsenzeit bezeichnete Epoche: »Obwohl dann auch in späten, abgeleiteten Perioden bisweilen ein scheinbares oder wirkliches Zusammenpulsieren der Menschheit eintritt, wie die religiöse Bewegung des VI. Jahrhunderts v. Chr. von China bis Ionien […]« (Burckhardt 2000, 357; Burckhardt bezieht sich hier freilich genau wie später Jaspers auf Lasaulx).
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einschmelze, um deren Überlieferungen zu etwas Neuem zu transformieren. Entscheidend im Hinblick auf die geistigen Kulturleistungen sei vor allem die in dieser Epoche statthabende ›Erfindung‹ wissenschaftlichen Denkens etwa bei den Griechen, die damit einhergehende Verabschiedung des Mythos durch den Logos, ebenso das Erscheinen weltgeschichtlicher Denkerpersönlichkeiten in Ost und West wie Konfuzius, Laotse, Buddha, Zarathustra, Sokrates, Platon usf. Bis in die Gegenwart lebe die Menschheit »[v]on dem, was damals […] geschaffen und gedacht wurde«, »[i]n jedem ihrer neuen Aufschwünge« – den sogenannten »Renaissancen« – nehme sie erinnernd auf die Achsenzeit bezug, sowohl im Abendland als auch in Indien und China441. Die Achsenzeit habe erstmals und bis in die Jetztzeit hineinwirkend die Herausforderung formuliert, »wie uns die Einheit der Menschheit konkret wird«442. Der Ausgang, die Verwirklichung genannter Aufgabe ist letztlich offen. Die These von einer ›Achsenzeit‹ der Menschheit wird heute von führenden Vertretern der historischen Kulturwissenschaften anerkannt443, was man als Beispiel für den unmittelbaren Einfluß werten kann, den geschichtsphilosophisches Denken zuweilen auf die empirischen Wissenschaften zeitigt; darüber hinaus gewinnt das Konkretwerden einer Vereinheitlichung der Menschheit als Aufgabe gerade in Zeiten jener vielschichtigen Prozesse, die man unter dem Stichwort ›Globalisierung‹ zusammenfaßt, neue Aktualität. Trotz aller später an der Psychoanalyse vor allem als institutioneller Organisation geübten Kritik stand besonders der junge Jaspers unter dem starken Einfluß Freud’scher Theorien, deren Inhalte er sich teilweise für sein Konzept einer Verstehenden Psychologie zueigen machte444. Nicht zufällig weist auch die Kategorie des Unbewußten bei Jaspers gewisse Parallelen zu ihrem psychoanalytischen Pendant auf, wenn er das Bewußtsein als »getragen vom Unbewußten«, als »ständiges Hervorwachsen aus dem Unbewußten und Zurückgleiten ins Unbewußte« definiert und die Rolle des Unbewußten auch für die »bewußten Schritte unseres Lebens« betont; »[d]as reine Bewußtsein vermag
441 Jaspers 1949, 20 – 26. 442 Jaspers 1949, 42. 443 Siehe hierzu Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), 1987: Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt. 2 Bde. Übersetzt von Ruth Achlama und Gavriella Schalit. (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, 653). Frankfurt/M.; Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), 1992: Kulturen der Achsenzeit II. Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik. 3 Bde. Übersetzt von Ruth Achlama. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 930). Frankfurt/M., Assmann 2003 sowie Armstrong, Karen, 2006: Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Weltreligionen. Übersetzt von Michael Bayer und Karin Schuler. München. 444 Warsitz 1990, 62. Warsitz spricht gar von der Psychoanalyse als der »verborgene[n] doppelte[n] Wahrheit der verstehenden Psychologie und Existenzphilosophie von Jaspers« (ebd.).
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nichts«445. »[D]er Prozeß der Geschichte des Geistes« sei letztlich das Eindringen in das Unbewußte, das Unbewußte sei gleichsam »nur so viel wert, als es im Bewußtsein Gestalt gewinnt und damit aufhört, unbewußt zu sein«. »Gesteigertes Bewußtsein, nicht das Unbewußte« sei das »Ziel«446. Auch bei Jaspers also ist ›Geistesgeschichte‹ prinzipiell ein Bewußtwerden von vorher Unbewußtem. 1.3.8 Toynbee »Die Wahrheit ist, daß die Beherrschung der nicht-menschlichen Natur, die die Wissenschaft mit sich bringt, von fast unendlich geringerer Bedeutung für den Menschen ist als seine Beziehungen mit sich, mit seinen Mitmenschen und zu Gott.«447
Unter den komparatistisch-universalhistorischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts war Oswald Spenglers lebensphilosophisch orientierter448 und ›morphologisch‹ vorgehender Untersuchung Der Untergang des Abendlandes rezeptionsgeschichtlich enormer Erfolg beschieden, welcher u. a. in ihrer literarisch anspruchsvollen Ausgestaltung eines für die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg typischen, letztlich aber bereits tief im 19. Jahrhundert wurzelnden Krisenbewußtseins449 gründete. Mindestens ebenso groß wie die Zustimmung jedoch war von Beginn an auch die Ablehnung des Werkes, das historische Analogien in überaus fragwürdiger Weise herzuleiten versucht und daher vielfach als »methodisch unhaltbar«450 sowie als wissenschaftlich unseriös eingestuft wurde. Wenige Jahre nach dem Erscheinen von Spenglers Schrift unternahm der englische Historiker Arnold J. Toynbee mit seinem zwölfbändigen Werk A Study of History451 seinerseits den Versuch einer gegenüberstellenden 445 Jaspers 1949, 337. Freilich definiert Jaspers »Unbewußtes« zunächst sehr allgemein als »all das, was wir in der Welt vorfinden, ohne daß aus ihm ein Inneres sich uns mitteilt«. Im darauffolgenden Satz schon aber gebraucht er das Substantiv mit bestimmtem Artikel, so daß hier durchaus das psychische Unbewußte gemeint sein kann. Das Unbewußte habe »zweierlei Sinn«: »Das Unbewußte, das die Natur ist, an sich und für immer dunkel, – und das Unbewußte, das der Keim des Geistes ist, der zum Offenbarwerden drängt.« 446 Jaspers 1949, 338. 447 Toynbee, Arnold J., 1958: Der Gang der Weltgeschichte. Bd. 2: Kulturen im Übergang. Übersetzt von Jürgen von Kempski. Stuttgart u. a., 98. 448 Angehrn 1991, 163. 449 Siehe hierzu Jaspers 1949, 288: »Nach dem ersten Weltkrieg war es nicht mehr das Abendrot nur Europas, sondern aller Kulturen der Erde. […] Die Stimmung ist völlig anders etwa bei Klages oder bei Spengler oder bei Alfred Weber. Aber die Wirklichkeit der Krise in einem geschichtlich ohne Vergleich dastehenden Ausmaß unterliegt bei ihnen allen keinem Zweifel.« 450 Jaspers 1949, 341 Anm. 3. 451 Populär wurde die von David C. Somervell besorgte Kurzfassung des Toynbee’schen Mammutwerks, die auch in der deutschen Übersetzung von Jürgen von Kempski zwei Bände umfaßt. Der erste Band der Kurzfassung entspricht dabei den Bänden I – VI, der
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Deutung der Kulturen im Sinne des Modells von Werden und Vergehen, die sich aber vom Spengler’schen Œuvre durch einen wissenschaftlicheren Umgang mit historischen Fakten, die Annahme der prinzipiellen Offenheit der Geschichte sowie einen damit verbundenen unapodiktischen Duktus vor allem bezüglich Aussagen über die Zukunft abhebt und somit insgesamt als ›bessere‹ Alternative zu Spengler gelten kann452. Wie Jaspers postuliert auch Toynbee die Orientierung »heutige[n] Geschichtsdenken[s]« an »der real sich vollziehenden ›Vereinheitlichung der Welt‹«, unterstellt also die Geschichte letztlich dem »Wollen der Menschheit«. Konkret entfaltet er, gestützt auf eine ungeheure Materialfülle, die monumentale Analyse der weltweiten Zivilisationen als Kulturzyklentheorie, wobei er vier Akte des Werdens und Vergehens von Kulturen ausmacht: Entstehung, Wachstum, Niedergang und Zerfall. Die Bedingung für Wachstum ist dabei nicht die »Machtexpansion im Sozialen oder gegenüber der Natur, sondern Selbstartikulation und Selbstbestimmung«, der Verfall einer Kultur besteht folgerichtig »in der Erschöpfung kreativer und innovatorischer Potenzen, in der Spannung zwischen neuen Situationsanforderungen und veralteten Reaktionsmustern«453. Die Anpassung des Menschen an seine Umwelt ist konsequenterweise wichtiger als deren Beherrschung454. Toynbee reagiert damit auf traditionelle Interpretationen, die der jeweiligen Umwelt die zentrale, ja totale Rolle bei der Herausbildung von Kulturen zusprachen: Die Umwelt ist demnach »der auffallendste Einzelfaktor«, aber eben »nicht die totale Verursachung bei der Formung von Kultur«455. Vielmehr seien Schöpfung und Entstehung ganz generell immer »ein Produkt der Wechselwirkung« von in der Regel zwei unterschiedlichen Faktoren456. Toynbee entwickelt hiervon ausgehend das Modell von
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zweite den Bänden VII – X des Originals, das 1959 – 61 noch durch zwei Zusatzbände ergänzt wurde. Löwith (1953, 21 – 25) freilich kritisiert eine allgemeine Ambivalenz und Widersprüchlichkeit in Toynbees Geschichtsbild, da dieser zwar »einen wiederkehrenden Rhythmus« von Werden und Vergehen unterstelle, zugleich aber der Geschichte »einen letzten Zweck und Sinn ab[zu]ringen« (21) versuche, den er in einer »fortschreitende[n] religiöse[n] Entwicklung« (23) ausmache. Angehrn 1991, 165. Toynbee spricht von »Gesellschaftskörpern« und beschreibt ihrer nicht nur (wie Spengler) acht, sondern insgesamt einundzwanzig. Das Schicksal der Menschheit liegt nach Toynbee letztlich aber nicht bei den Kulturen, sondern bei den Religionen, eine Annahme von möglicherweise – angesichts wieder erstarkender religiöser Fundamentalismen – ungeahnter Aktualität. Ähnlich wie in Darwins biologischem ist also auch in Toynbees kulturvergleichendem Ansatz nicht der Stärkste, sondern der Anpassungsfähigste der Sieger der Geschichte. Man mag in dem hier zum Ausdruck kommenden angelsächsischen Pragmatismus – cum grano salis – eine Art von angewandtem Realitätsprinzip erkennen. Toynbee ist seit Hobbes übrigens der erste Engländer in der Reihe der hier behandelten geschichtsphilosophischen Autoren. Toynbee, Arnold J., 1950: Der Gang der Weltgeschichte. Bd. 1: Aufstieg und Verfall der Kulturen. Übersetzt von Jürgen von Kempski. Stuttgart. 2., erw. Aufl., 62. Toynbee 1950, 68. Toynbee untermauert diese These mit einer vergleichenden Mythenin-
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challenge und response, von »Herausforderung und Antwort«457. Auch unter gleichartigen äußeren Bedingungen hätten die Menschen dennoch zuweilen sehr unterschiedliche Antworten auf genannte Herausforderungen gefunden458. Wenn die Umwelt also zwar der auffallendste, aber nicht der einzige Faktor bei der Entstehung von Kulturen sein kann, stellt sich die Frage nach der anderen entscheidenden Größe – und Toynbees Lösung besteht darin, daß er diesen zweiten Faktor als einen psychologischen identifiziert; die Unvorhersehbarkeit der Geschichte resultiere aus der mangelnden Meßbarkeit dieses psychologischen Moments459. Ein Beispiel für das Wechselspiel von Umweltbedingung und menschlicher Reaktion bildet die Entstehung der ersten Hochkulturen in Ägypten und Sumer durch die Herausforderung der »Austrocknung Afrasiens«: Die Antwort der Väter dieser Kulturen auf die sich verändernden Umweltbedingungen sei der »Wechsel ihrer Wohnsitze« an die Flüsse und die damit verknüpfte »Änderung ihrer Lebensweise« gewesen. Wer hingegen eine adäquate Antwort »schuldig« bleibe, riskiere je nach Herausforderung den eigenen Untergang460.
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terpretation: Mythen haben demzufolge immer Prüfungen bzw. eine Herausforderung des im Yin-Zustand befindlichen Beteiligten durch eine andere Wirkmacht, einen »Störungsfaktor« (ebd., 64), zum Thema; durch diese andere Wirkmacht wird das im Yin-Zustand Verharrende genötigt, »in Yang überzugehen«. So auch der Titel des entsprechenden Kapitels (Toynbee 1950, 61 – 80). Dieses Modell ist in gewissem Sinne eine Variante und Ausdifferenzierung des Problem/Lösung-Schemas und weist Parallelen auf zur handlungstheoretischen Interpretation der Kulturtheorie Thomas Gils: »Kulturelles Handeln ist dementsprechend eine vernunftgeleitete Auseinandersetzung mit der Welt, mit dem, was den Handelnden aus der physischen Welt, der sozialen Welt oder der Eigenwelt als An- und Aufforderungen begegnet, eine Antwort und Reaktion provozierend.« (Gil 1992, 86) Toynbee 1950, 69. Hier besteht eine wichtige Parallele zu Cassirers »symbolischen Formen«: »Die verschiedenen Formen der Kultur werden nicht durch eine Identität in ihrem inneren Wesen zusammengehalten, sondern dadurch, daß sich ihnen eine gemeinsame Grundaufgabe stellt« (Cassirer, Ernst, 1990: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Übersetzt von Reinhard Kaiser. Frankfurt/M., 337). In den Worten Kittsteiners geht es daher hier also »nicht um Substanzbegriffe, sondern um Funktionsbegriffe«. Kittsteiner sieht folglich die Aufgabe des Historikers nicht darin, »eine substanzhafte ›Identität‹ als Wurzel einer Kultur freizulegen«, sondern die Frage nach »der ›gemeinsamen Grundaufgabe‹« einer Kultur zu einer bestimmten Zeit zu stellen; diese Frage lasse sich wiederum mit Kosellecks Begriffspaar »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« verknüpfen (Kittsteiner 2006, 28 f.). Toynbee 1950, 62 f. sowie 69: »Diese unbekannte Größe ist die Reaktion der Handelnden auf die Prüfung, wenn diese wirklich eintritt. Diese psychologischen Momente, die recht eigentlich unmöglich zu wägen und zu messen und daher wissenschaftlich im vorhinein abzuschätzen sind, sind die eigentlichen Kräfte, die wirklich die Folge entscheiden, wenn die Begegnung stattfindet.« Toynbee 1950, 70 – 74. Am Beginn der Entstehung einer jeden solchen ›nicht abgeleiteten‹ – d. h. nicht aus einer vorherigen anderen Hochkultur hervorgegangenen – Zivilisation steht die erfolgreiche Meisterung der jeweiligen Herausforderung. Neben Sumer und Ägypten nennt Toynbee an nicht abgeleiteten Hochkulturen noch die chinesische, die »Maya- und
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In dieser Formulierung liegt bereits die zentrale Parallele zum nicht nur für die Erzählungen der Religion, sondern auch für die Psychoanalyse so wichtigen Begriff der Schuld. Wenn Toynbee den biblischen Sündenfall als »Annahme einer Herausforderung« interpretiert461, so ist folglich die sich an den Sündenfall anschließende Erzählung einer historischen ›Schuld‹ (in der religiösen Terminologie ›Erbsünde‹ genannt) nichts anderes als die Erzählung der Suche nach einer adäquaten Antwort auf die besagte Herausforderung und damit im Grunde die Geschichte einer noch nicht bewältigten Aufgabe. Die Etymologie des deutschen Wortes ›Schuld‹ bringt letztlich das Gleiche zum Ausdruck: ›Schuld‹ ist eine Substantivbildung zum Verb ›sollen‹ und bedeutete ursprünglich die »Verpflichtung zu einer Leistung«462, wie es sich heute noch am ehesten durch das Kompositum ›Bringschuld‹ mitteilt. ›Schuld‹ kann aus dieser Perspektive folglich interpretiert werden als nicht eigentlich metaphysische, sondern als im weitesten Sinne handlungstheoretische Kategorie, als ungelöste Aufgabe. Wenn die ›Herausforderung‹ im Sinne eines ›Sollens‹ der zentrale Begriff zur verstehenden Erklärung kultureller Genese ist, so bestimmt ›Schuld‹ gleichzeitig wesentlich menschliches Handeln. Nach Freud ist menschliches Handeln jedoch »selten […] das Werk einer einzigen Triebregung«463, daher ist der jeweilige Umgang mit der Herausforderung, wie Toynbee richtig konstatiert, schwer meßund kaum absehbar. Überdies ist die Beziehung zwischen Umweltbedingung und psychologischem Moment, zwischen äußeren und inneren Faktoren also, nach psychoanalytischer Auffassung eine wechselseitige dergestalt, daß das Ich nicht nur der äußeren Realität, sondern zugleich inneren Triebregungen, Wünschen etc. gerecht zu werden versucht. Herausforderungen werden nicht nur von der Außenwelt gestellt, sondern auch vom psychischen Apparat selbst464. Die erfinderisch machende Not ist folglich keine rein äußere. Innere und äußere Bedingungen in Einklang zu bringen, ist Aufgabe des Realitätsprinzips. In diesem erweiterten Sinne einer sowohl an äußere als auch innerpsychische Vor-
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Andenkultur« sowie die minoische. Die Herausforderung, vor die sich die Schöpfer der chinesischen Kultur gestellt sahen, sei »die von Sumpf und Busch und Flut« am Gelben Fluß sowie zusätzlich eines, im Vergleich zu Ägypten und Sumer, noch extremeren Klimas gewesen. Die besondere Herausforderung der Maya- und Andenkultur hingegen bestand in der »Üppigkeit des tropischen Waldes«, während die minoische Kultur sich »durch das Meer« herausgefordert sah. Die Herausforderung der »angegliederten« Kulturen hingegen macht Toynbee nicht hauptsächlich in physischen Faktoren aus, sondern in menschlichen, genauer gesagt in der (nicht zuletzt psychologischen) Auseinandersetzung mit der vorangegangenen Kultur (Toynbee 1950, 69 – 80). Toynbee 1950, 66 f. Drosdowski, Günther (Hg.), 1997: Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. (Der Duden, 7). Mannheim u. a. 2. Aufl., 654. GW XVI, 21. Laplanche/Pontalis 1972, 184. Das Schuldgefühl, laut Freud das »wichtigste Problem der Kulturentwicklung« (GW XIV, 493 f.), resultiert letztlich aus der Diskrepanz zwischen Über-Ich und Ich (ebd., 496), ist also zunächst ein innerpsychisches Problem.
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aussetzungen geknüpften Herausforderung kann der Schuldbegriff potentiell den Schlüssel zum Verständnis der Entstehung unterschiedlicher Kulturen in ihrer je spezifischen Ausprägung liefern465. Der Thematik von äußeren und inneren Faktoren widmet sich Toynbee selbst bei der Frage nach der »Geltung von ›Naturgesetzen‹ in der Geschichte« und den Zyklen historischen Wandels; im Gegensatz beispielsweise zu Spengler, der letztlich natürliche Gesetzmäßigkeiten auf den Lauf der menschlichen Geschichte projiziert, hält Toynbee fest, daß weniger äußere Faktoren als vielmehr innere hierbei den Ausschlag geben. Die Basis historischen Wandels sei die Generation, die »Standardwellenlänge« für soziale Veränderungen ein Zeitraum von durchschnittlich drei Generationen466. Und schließlich müsse eine Psychologie, die eine »intellektuelle und willensmäßige Oberfläche« als »Ganze[s] der Psyche« betrachte, bei der Erklärung von historischen Zyklen scheitern; die Lösung bestehe ergo in der Tiefenpsychologie467. Toynbee argumentiert freilich nicht mit Freud, sondern mit Jung, mit dem ihn im Gegensatz zu ersterem ein 465 Das besondere Problem dabei besteht in der Analyse der Wechselbeziehungen von äußerer und innerer ›Schuld‹, von realer – gewissermaßen ›objektiver‹ – Herausforderung durch die Außenwelt und dem subjektiven Schuldgefühl, welches dann entsteht, wenn Aufgaben aus subjektiver Sicht schlecht gelöst werden; ein subjektives Gefühl entsteht jedoch auch unabhängig von objektiven Bewertungskriterien, beispielsweise aufgrund verzerrter Kommunikation etc. (u. a. Laplanche/Pontalis 1972, 458 f.). Genannte verzerrte Kommunikation kann darüber hinaus ebenso eine nonverbale sein, was ihre Analyse zusätzlich erschwert. Generell sind Verletzungen und eine Versagung der Anerkennung vor allem im frühkindlichen Alter Quelle des Schuldgefühls, die nicht allein durch sprachlichen Kontakt, sondern auch durch Körpersprache ausgelöst werden können (hierzu Gebhardt, Miriam, 2004: Frühkindliche Sozialisation und historischer Wandel. In: Zuckermann, Moshe (Hg.), 2004: Geschichte und Psychoanalyse. (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 32). Göttingen, 258 – 273 (hier: 266)), was Freuds in Totem und Tabu geäußerte Annahme einer unbewußten Kommunikation zwischen den Generationen bestätigt (GW IX, 191 sowie das den entsprechenden Aufsatz Freuds behandelnde Kapitel im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit). Festzuhalten aber bleibt, daß ›Schuld‹ – genau wie jeder unbewältigte psychische Konflikt – zunächst prinzipiell nichts anderes ist als eine ungelöste Aufgabe, oder, in anderer Terminologie, ein unabgeschlossenes Projekt, und erst dann ein irrationales Gepräge annimmt, ja zur kafkaesken Größe mutiert, wenn die Ursachen des Schuldgefühls verdrängt werden. Freilich stellen beispielsweise Naturkatastrophen auch in psychologischem Sinne eine enorme Herausforderung dar – als göttliche Strafe (wie im Mythos der biblischen Sintflut) wurden sie aber vielleicht erst dann empfunden, als das gesellschaftliche Schuldgefühl bereits eine längere Entwicklung durchgemacht hatte. 466 Toynbee 1958, 282 – 290. »[N]icht das Individuum«, sondern »die Familie« sei die eigentlich »verstehbare Einheit« bei der Betrachtung geschichtlicher Veränderung (ebd., 285). Für politische Veränderungen seien schließlich vier Generationen die Standardwellenlänge. Siehe hierzu ebd. 286: »Wenn sich eine Verkettung von drei Generationen so als die regelmäßige psychische Vermittlung sozialer Veränderung auf den drei Gebieten der Religion, Klasse und Nationalität erweist, dürfte es nicht überraschend sein zu finden, daß eine Verkettung von vier Generationen eine ähnliche Rolle auf dem Gebiet der internationalen Politik spielt.« 467 Toynbee 1958, 287.
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christliches Weltbild verbindet. Dennoch stehen Toynbees Ausführungen zu den Zyklen historischen Wandels, zur menschlichen Willensfreiheit und zur Beziehung zwischen Bewußtsein und Unbewußtem nicht in Widerspruch zu verwandten Gedanken Freuds468. Auch für das geistige Leben des Menschen, für die künstlerischen Hervorbringungen, ja selbst für wirtschaftliche Angelegenheiten spiele das Unbewußte die entscheidende Rolle469 ; und »[d]ie unmittelbaren Ursachen des Niederbruches in der kriegerischen Verwicklung zwischen Staaten oder im Klassenkampf« lagen nach Toynbee nicht in der »gewandteste[n] politische[n] Kunst« begründet, sondern waren letztlich »nur Symptome einer geistigen Krankheit.«470 Theorie des Zivilisationsprozesses 1.3.9 Elias »›Zivilisation‹ bezeichnet einen Prozeß oder mindestens das Resultat eines Prozesses. Es bezieht sich auf etwas, das ständig in Bewegung ist, das ständig ›vorwärts‹ geht.«471
Wie Weber untersucht auch Norbert Elias die spezifisch abendländische, sich im geschichtlichen Verlauf ausweitende Intellektualisierung und Rationalisierung, bezeichnet selbiges aber als Prozeß der Zivilisation472 und rückt überdies statt 468 Siehe hierzu z. B. Toynbee 1958, 290: »Die Herrschaft der Freiheit, die so ›Naturgesetze‹ in Schranken hält, ist jedoch insoweit unsicher, als sie von der Erfüllung zweier genauer Bedingungen abhängt. Die erste Bedingung ist die, daß die bewußte Persönlichkeit die unbewußte Unterwelt der Seele unter die Kontrolle des Willens und des Verstandes bringen muß. Die zweite Bedingung besteht darin, daß sie es auch fertigbringen muß, zusammen in Einheit zu wohnen mit anderen bewußten Persönlichkeiten, mit denen sie in der einen oder andern Weise zusammenleben muß im sterblichen Leben eines homo sapiens, der ein soziales Wesen war, bevor er noch Mensch, und ein geschlechtlicher Organismus, bevor er noch ein soziales Wesen war. Diese beiden notwendigen Bedingungen für die Ausübung der Freiheit sind in Wirklichkeit voneinander untrennbar ; denn wenn es wahr ist, daß ›wenn Schurken sich streiten, Ehrenmänner zu ihrem Eigentum kommen‹, so ist es ebenso wahr, daß, wenn sich Personen streiten, die unbewußte Seele der Kontrolle einer jeden von ihnen entrinnt.« 469 Toynbee 1958, 101: »…denn das Unterbewußte [sic!], nicht der Verstand ist das Organ, durch das der Mensch sein geistiges Leben lebt. Es ist die Quelle der Dichtung, Musik und sichtbaren Künste«. Die Bedeutung des Unbewußten selbst in wirtschaftlichen Angelegenheiten betont Toynbee in einem Kapitel über die Beherrschbarkeit von Naturgesetzen in der Geschichte (Toynbee 1958, 291). 470 Toynbee 1958, 294. 471 Elias 1969a, 3. 472 »Der Begriff ›Zivilisation‹ bezieht sich auf sehr verschiedene Fakten […]. Aber wenn man prüft, welches eigentlich die allgemeine Funktion des Begriffs ›Zivilisation‹ ist […], findet man zunächst etwas sehr Einfaches: dieser Begriff bringt das Selbstbewußtsein des Abendlandes zum Ausdruck.« (Elias 1969a, 1). Im ersten Kapitel des ersten Bandes behandelt Elias zunächst die Soziogenese der Begriffe »Zivilisation« und »Kultur« in
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der protestantischen Ethik vielmehr gesellschaftliche Verhaltensregeln sowie historische Veränderungen von langer zeitlicher Dauer und deren Wechselbeziehungen untereinander in den Mittelpunkt der Betrachtung. Im ersten Band seiner soziologischen Analyse widmet er sich der »›Psychogenese‹ der modernen Subjektform«, und zwar am Beispiel der aus »künstlerische[n] Darstellungen, vor allem aber Anstands- und Manierenbücher[n]« und dergleichen rekonstruierten Verhaltenscodes der mittelalterlichen courtoisie, der frühneuzeitlich-höfischen civilit¦ und der bürgerlichen civilisation473. Eine bleibende Transformation gesellschaftlicher Fremd- in Selbstzwänge ist Elias zufolge erst mit der civilisation seit dem späteren 18. Jahrhundert erreicht worden, als die Erfolge der civilit¦ in der abgewandelten Gestalt einer allgemeinen Vernunftherrschaft nicht länger nur für eine bestimmte exklusive Gruppe gelten, sondern auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden sollten – überdies »nicht mehr in der Form sanktionsbewährter Fremdzwänge, sondern als […] quasi-automatische Selbstverpflichtungen«474. Im zweiten Band behandelt Elias die Soziogenese der gesellschaftsgeschichtlichen Prozesse und Mechanismen, die sich entsprechend den drei Zeitabschnitten der Psychogenese des modernen Subjekts ebenfalls wesentlich in drei Stufen teilen läßt und von der Feudalordnung des Mittelalters über die höfische Gesellschaft des Absolutismus zum modernen Nationalstaat führt. Die große Instabilität mittelalterlicher Herrschaftsverbände bedingte nach Elias die Feudalisierung als »Desintegrationsdynamik«, während ein grundlegender wirtschaftlicher Wandel im Hochmittelalter hingegen die Entstehung »neue[r] gesellschaftliche[r] Arbeitsfelder« und »Steuerungsmedien« förderte, so daß die physische Gewalt letztlich »in einer Hand« gebündelt475, das entstandene »Kräftepatt zwischen Adel und Bourgeoisie« zur »Basis der absolutistischen Monarchie« werden konnte476. Gleichzeitig bewirkte diese Entwicklung eine gesellschaftliche Pazifizierung; an den absolutistischen Höfen wurden überdies die oben genannten Verhaltensnormen entwickelt, so daß weltliches Gewaltmonopol und individuelle Affektkontrolle tatsächlich einen konkreten historischen Zusammenhang bilden477. Das Gewaltmonopol wurde im übrigen finanziert durch ein Steuermonopol478 ; die Verbindung der drei
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Deutschland sowie des Begriffes »civilisation« in Frankreich, bevor er sich im zweiten Kapitel den Verhaltensökonomien widmet. Zu den Parallelen Weber/Elias auch Bogner, Artur, 1989: Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheorien Max Webers, Norbert Elias’ und der Frankfurter Schule im Vergleich. Opladen, 11. Lilienthal 2001c, 136. Zu courtoisie und civilit¦ bes. Elias 1969a, 136 – 139. Lilientahl 2001c, 139. Elias erläutert dies besonders am »Verhältnis der abendländischen Menschen zur Sauberkeit«: Elias 1969a, 328 – 332 Anm. 119 (Hervorhebung im Original). Lilienthal 2001c, 140 – 142. Bogner 1989, 24. Die Pazifizierung, das Zurücktreten des kriegerischen Elements an den Höfen, begünstigte laut Elias auch die Zunahme des »soziale[n] Gewicht[s] der Frauen«: Elias 1969b, 108 f. Elias 1969b, 142.
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Monopolstrukturen von territorialer Herrschaft, physischer Gewalt und der Steuern stellt schließlich das Fundament »der modernen (staatlichen) Sozialordnung« dar479. Bei Elias sind Individuum und Gesellschaft nicht länger »Opponenten, sondern […] integrale Momente interdependenter Entwicklungsprozesse« mit der Zivilisation als »Mitte«480, die er als Figurationen bezeichnet. Sie sind verstehbar als »Geflecht[e]« von »Absichten und Pläne[n]«481, die aus der Verzahnung menschlicher Interaktionen resultieren: »Planvolle individuelle Handlungen setzen sich zu dynamischen Mustern zusammen, die als ganze ungeplant erscheinen, aber dennoch rekonstruierbare Strukturen aufweisen«482. Elias’ Theorie der Zivilisation ist daher von einiger geschichtsphilosophischer Brisanz, weil er das alte Problem der Kontingenz der Geschichte als Interdependenzgeflecht analysiert, wobei sich für ihn auch die traditionelle Frage nach dem Gegensatz von ›Gesellschaft‹ und ›Ideen‹ nicht stellt483. Unter den bisher behandelten Autoren ist Elias zudem derjenige, dem die größte Nähe zu Freud attestiert werden kann; ähnlich wie bei Freud wird bei Elias die These zum »Brennpunkt der Analyse«, daß die Entwicklung des modernen Über-Ichs auf der Gründung »einer stabilen staatlichen Zentralgewalt mit einem dauerhaften Monopol der physischen Gewalt beruht«484. Wie Freud nimmt auch Elias eine Introjektion von Zwängen als Grundmuster des Zivilisationsprozesses an. Elias geht freilich über Freud hinaus, indem er diese Dynamik anhand des konkreten historischen Materials untersucht und die Beziehung verschiedener Phasen der Über-Ich-Bildung zur Genese von sozialen Verbänden beleuchtet; er unternimmt einen wichtigen Schritt in Richtung einer Historisierung der eigentlich ahistorischen Freud’schen Theoreme. Elias’ Werk kann insgesamt gelesen werden als historisch-soziologische Ausdifferenzierung der eher triebtheoretisch ausgerichteten Freud’schen Kulturtheorie485. In Die 479 Lilienthal 2001c, 143. 480 Lilienthal 2001c, 136. Siehe hierzu u. a. auch Elias 1969b, 3: »Es ist mehr als ein zufälliges, zeitliches Nebeneinander, daß in den Jahrhunderten, in denen die Funktion des Königs und des Fürsten ihre absolutistische Gestalt erhält, auch jene Affektverhaltung und Mäßigung, von der die Rede war, jene ›Zivilisation‹ des Verhaltens, spürbar stärker wird.« 481 Elias 1969b, 475 – 477 Anm. 129 (hier : 477). 482 Lilienthal 2001c, 145 (meine Hervorhebung). 483 Elias 1969b, 386. 484 Bogner 1989, 18. 485 Bogner 1989, 18 bzw. 25 f. (Zu »Selbstbeherrschung« und »Selbstzwang« in der Gesellschaft und im Individuum besonders Elias 1969b, 327 f.). Auch Toynbee beruft sich im übrigen auf ein Zitat von Elias über die Beziehungen zwischen ›äußeren‹ und ›inneren‹ Ängsten der unterschiedlichen Generationen und den Zusammenhang derselben mit historischer Veränderung (Elias 1969b, 451), um die These plausibel zu machen, daß »die in der Geschichte der Kulturen gültigen sozialen Gesetze tatsächlich Spiegelungen von psychologischen Gesetzen sind, die eine infrapersonale Schicht der unbewußten Seele beherrschen« (Toynbee
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Gesellschaft der Individuen historisiert Elias im übrigen auch die psychischen Funktionen, deren im wissenschaftlichen Sprachgebrauch übliche rigorose und dezidierte Trennung er für nicht naturgegeben, sondern für gesellschaftlich vermittelt hält. Die gebräuchliche Terminologie neige dazu, den »Funktionscharakter dessen, was wir ›Psyche‹ nennen, […] zu verdecken«, indem der Eindruck entstehe, es handele sich bei den als ›Ich‹ oder ›Bewußtsein‹ bezeichneten Funktionen eher um Substanzen, eher um etwas »Ruhende[s]« also als um etwas »Bewegte[s]«. Er kritisiert Äußerungen aus der psychoanalytischen Literatur, die dem ›Es‹ bzw. den Trieben Unveränderlichkeit unterstellen, sofern man den Wechsel der Triebrichtungen außer Betracht lasse, obwohl es doch bei etwas so grundlegend auf etwas anderes hin Orientiertem wie den menschlichen Trieben schlechterdings kaum möglich sei, »von diesem Gerichtetsein abzusehen«. Was als ›Triebe‹ oder ›Unbewußtes‹ bezeichnet werde, sei genau wie die psychischen Funktionen »ebenfalls eine bestimmte Form der Selbststeuerung des Menschen in Beziehung zu anderen Menschen und Dingen«, die freilich »bei einer starken Differenzierung der psychischen Funktionen das Verhalten zu anderen nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch auf Umwegen mitbestimmt«. Die ›Seele‹ sei letztlich eigentlich »nichts anderes als der Zusammenhang« derjenigen Funktionen, »die der Beziehung des Organismus zu anderen Teilen der Welt und seiner Selbststeuerung in solchen Beziehungen dienen« – im Unterschied zum Körper, dessen Funktionen »der Aufrechterhaltung und der ständigen Reproduktion des Organismus selbst dienen«. Die beim Menschen ungleich stark fortgeschrittene »Lösung der […] Beziehungssteuerung aus dem Bann der ererbten, reflexartigen Automatismen« mache die Beziehungssteuerung »einer gesellschaftlichen Verarbeitung in höherem Maße fähig und bedürftig als die aller anderen Tiere«, zugleich werde die Form derselben, »der Aufbau des Verhaltens« im Verhältnis zu anderen bei den Menschen »›individueller‹« als bei den restlichen Spezies – »[a]uch von dieser Seite her beginnt sich so die Gedankenkluft zwischen Gesellschaft und Individuum zu schließen«. Gleichzeitig sei hier der Ort, von welchem aus die »künstlichen Grenzpfähle […], durch die wir heute die Menschen beim Nachdenken in verschiedene Herrschaftsbereiche zerlegen, etwa in einen Bereich der Psychologen, einen Bereich der Historiker und einen Bereich der Soziologen«, beseitigt werden könnten. »Die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte« seien nämlich »unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im Zusam-
bezieht sich hier freilich auf die eher fragwürdige Annahme des ›Archetyps‹ eines Territorialstaates, der entsprechend Jungs Theorie ins Unbewußte eingebrannt sei, Toynbee 1958, 288 f.).
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menhang miteinander zu erforschen«; sie stellen nach Elias, »zusammen mit anderen Strukturen, den Gegenstand der einen Menschenwissenschaft«486. Angesichts der großen Bedeutung, die Freuds Psychoanalyse für das Elias’sche Denken besitzt, ist auffällig, wie vergleichsweise selten Elias seine Beziehung zu Freud insgesamt thematisiert487. Außer den hier behandelten Passagen aus Die Gesellschaft der Individuen – wo Elias es freilich ebenfalls vermeidet, Freud direkt zu erwähnen – finden sich nur wenige Bezugnahmen auf den Vater der Psychoanalyse und sein Werk; in den späteren Schriften werden sie gar so spärlich, daß man »den Eindruck gewinnen« könnte, Elias habe sich »seit dem ›Prozeß der Zivilisation‹ ganz von der Psychoanalyse abgewendet«488. Dabei räumt Elias in einem Schreiben an seinen niederländischen Eleven Johan Goudsblom noch in den 1970er Jahren ein, daß »Freuds Ideen [s]ein Denken mehr beeinflußt haben, als diejenigen irgendwelcher theoretischer Soziologen«489. Zur selben Zeit hält er Vorlesungen über Freud, und bis zuletzt ist er als Gruppenanalytiker tätig – eine Fähigkeit, die er Ende der 1930er Jahre im Londoner Exil erlangt hat, als er »an den ersten Versuchen der Gruppenanalyse« seines Freundes Sigmund Heinz Foulkes teilnahm490. Eine Textstelle aus den Anmerkungen zum zweiten Kapitel des ersten Bandes von Über den Prozeß der Zivilisation mag daher für die Frage nach den Gründen für die weitgehend vermiedene unmittelbare Beschäftigung mit Freud in den Schriften von Norbert Elias exemplarischen Wert besitzen; dort schreibt Elias nämlich: »Es braucht dabei kaum gesagt zu werden, aber es mag hier einmal ausdrücklich hervorgehoben sein, wieviel diese Untersuchung den vorausgehenden Forschungen Freuds und der phycho-analytischen [sic!] Schule verdankt. Die Beziehungen sind für jeden Kenner des psycho-analytischen Schrifttums klar, und es schien unnötig, an einzelnen Punkten darauf hinzuweisen, zumal sich das nicht ohne ausführlichere Auseinandersetzung hätte tun lassen«491. Elias hält die Beeinflussung durch Freud für so offenkundig, daß er eine eingehendere Themati486 Elias, Norbert, 1987: Die Gesellschaft der Individuen. Herausgegeben von Michael Schröter. Frankfurt/M., 56 – 60 (Hervorhebung im Original). 487 So auch König, Helmut, 1993: Norbert Elias und Sigmund Freud: Der Prozeß der Zivilisation. In: Leviathan 21, 205 – 221 (hier: 205). Möglicherweise ist dies auch einer der Gründe, weshalb beispielsweise das bereits zitierte Freud-Handbuch aus dem Jahre 2006 Elias im Rahmen einer Darstellung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Psychoanalyse lediglich an einer einzigen Stelle erwähnt – dies im übrigen nicht etwa im Beitrag von Johann August Schülein zur Soziologie (Schülein, Johann A., 2006: Soziologie. In: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, 417 – 422), sondern in demjenigen Hartmut Böhmes zur Kulturwissenschaft (in Lohmann/Pfeiffer 2006, 302 – 306 (hier : 304)). 488 König 1993, 205. 489 Zit. nach König 1993, 205. 490 Ebd. 491 Elias 1969a, 324.
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sierung derselben schlechterdings für nicht notwendig erachtet; gleichzeitig bedient er sich der psychoanalytischen Terminologie in so freier Weise, daß er auf die im Falle einer näheren Auseinandersetzung unumgängliche Erörterung von Detailfragen lieber verzichtet. So vermeidet Elias auch die Diskussion eines zentralen, für den gesamten Tenor der jeweiligen Zivilisationstheorien maßgeblichen Unterschieds zum Freud’schen Denken, welchen der Politologe Helmut König im zugrundeliegenden Triebbegriff erblickt: Während der Mensch für Freud »ein asoziales Triebbündel« sei, »das nur durch schmerzhafte und nie ganz gelingende Zurichtungsprozesse gesellschaftsfähig gemacht werden« könne, der »Konflikt zwischen Triebverzicht fordernder Kultur und auf Triebbefriedigung insistierenden Einzelnen« also im Prinzip ein von Grund auf unversöhnlicher sei492, begreife Elias den Trieb als etwas, das »förmlich von sich aus das Soziale« suche. Die menschliche Triebnatur sei für ihn »nicht mehr die mythische, archaische, asoziale Macht, die sie für Freud ist«, und die Auffassung, daß es sich bei ihr um eine »grundsätzlich kultur- und gesellschaftsfeindlich bleibende[…] Kraft« handele, sei Elias »völlig fremd«; vielmehr sei selbige nach seinem Verständnis »angewiesen auf das Soziale«. Aus diesem Grunde ersetze Elias das pessimistische und die »Unversöhnlichkeit von Trieb und Gesellschaft« auch in seinem Scheitern eindrucksvoll erhellende Konfliktmodell493 Freuds durch ein »allzu harmloses Harmoniemodell der Zivilisation, das ihren Ambivalenzen gegenüber blind« sei; ja König nennt Elias’ Zivilisationstheorie sogar, in deutlich ablehnender Konnotation, ein »Loblied der Zivilisation«494. Königs Parteinahme für Freud und seine scharfe Kritik an Elias verkennen jedoch die Tatsache, daß Elias eben kein bloßes »Harmoniemodell« der Zivilisation entwickelt hat: Der Vorwurf der Annahme beständig zunehmender Zivilisierungsgrade und einer unilinear fortschreitenden Zivilisation wurde auch von anderer Seite gegen Elias erhoben495 und beruht in der Regel auf einer unvollständigen Rezeption seiner Thesen. Elias beschreibt die Zivilisation tatsächlich nämlich als einen Prozeß, der »nicht kontinuierlich, sondern in Schüben und Gegenschüben verläuft«, weder »Nullpunkt« noch »Endpunkt kennt« und »nicht nur durch diachrone, sondern auch durch synchrone Verhaltensdifferenzen«, beispielsweise zwischen gesellschaftlichen »Ober- und Unterschichten«, charakterisiert ist. Wachsende Affektregulation bildet »kein Dogma« der Elias’schen Theorie; vielmehr werden ihr zufolge »Art und Intensität der Verhaltensregulation den spezifischen Erfordernissen der gesellschaftlichen Interdependenzen angepaßt«, »[w]enn sich 492 493 494 495
König 1993, 210. König 1993, 219 f. (meine Hervorhebung) König 1993, 207. So z. B. durch Duerr, Hans P., 1988 ff.: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 5 Bde. Frankfurt/M.
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die Interdependenzen wandeln, ändert sich auch der Modus der Verhaltenskontrolle«496. Überdies besteht die besondere Leistung der Elias’schen Theorie, wie oben bereits angeklungen, vor allem in der Historisierung des eigentlich ahistorischen und gerade dadurch problematischen Freud’schen Modells: Elias ersetzt kein ›realistische(re)s‹ Konfliktmodell durch ein ›unrealistische(re)s‹ Harmoniemodell, er ergänzt hingegen das allzu grobschlächtige, den Menschen auf seine Rolle als bloß triebgesteuertes Wesen reduzierende Verständnis Freuds durch das von diesem vernachlässigte Moment des Sozialen – letztlich des Sozialen in seinem geschichtlichen Wandel. Wo es Freud zu einer Historisierung der eigenen Theorie vermutlich schlechterdings an historischer Sachkenntnis fehlt, bringt Elias unterschiedlichste Voraussetzungen mit, in diesem prekären Punkte Abhilfe zu schaffen: Neben Kenntnissen der Philosophie, der Medizin und nicht zuletzt der Psychoanalyse selbst ist es vor allem Elias’ soziologische Ausbildung, die ihm, vermittelt überdies durch einige der führenden Vertreter ihres Fachs wie Alfred Weber und Karl Mannheim, im Gegensatz zum auf diesem Gebiet weitgehend unbedarften Freud das nötige Rüstzeug für eine Verknüpfung der Freud’schen Lehre mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen bereitstellt. Elias synthetisiert die mannigfaltigen und breitgefächerten Einflüsse, die auf ihn wirken, zu einer wahrhaft interdisziplinären ›Menschenwissenschaft‹, die den Menschen konsequent als nicht nur den Wechselbeziehungen mit anderen Individuen, sondern ebenso den Wechselbeziehungen zwischen Außen und Innen ausgesetztes Wesen analysiert. Nicht zu unterschätzen in diesem Zusammenhang dürften auch Elias’ praktische Erfahrungen aus der Gruppenanalyse sein, die psychisches und letztlich psychoanalytisch deutbares Geschehen auf der über-individuellen, interaktiven, sozusagen ›gesellschaftlichen‹ Ebene anschaulich machen. Dieselben Gruppenmitglieder können dabei in sehr unterschiedlichen ›Figurationen‹ auftreten und spiegeln bis zu einem gewissen Grade gesellschaftliche Einheiten wider. Diese ›Gesellschaft im Kleinen‹ bietet sich prinzipiell als geeignetes Laboratorium für die sozialpsychologische Erforschung von Gruppenprozessen einschließlich ihrer psychischen Implikationen dar. Die genannten Anregungen aufgenommen und sie zu einer eigenständigen, teilweise alte Forschungsfragen lösenden soziologischen Theorie verschmolzen zu haben, ist Elias’ bleibendes Verdienst. Er macht damit vor, wie Soziologie, Geschichte und Psychoanalyse zusammengedacht werden können.
496 Baumgart, Ralf/Eichener, Volker, 1991: Norbert Elias zur Einführung. (Zur Einführung, 62). Hamburg, 91 – 97.
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Posthistoire 1.3.10 Benjamin »Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken zukehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«497
Benjamin versteht die Geschichte vornehmlich als Leidensprozeß und das historische Leid als auch in der Gegenwart noch wirksam. Ziel einer Auseinandersetzung mit der Geschichte muß folglich die Leidensbefreiung sein. Wie zuvor schon für Nietzsche besteht für Benjamin der Wert der Geschichte in deren Anbindung »an die Lebenspraxis«; im Gegensatz zu Nietzsche aber bezieht er sich hierin auch auf Marx. Der historische Materialismus freilich ist in seinem Fortschrittsglauben mittlerweile »zum Problem geworden«498. Von Marx entlehnt Benjamin daher hauptsächlich den Standpunkt der Opfer der Geschichte; »der Geschichtsschreiber des Historismus« identifiziere sich durch das Dilthey’sche Nacherleben letztlich nur »mit dem ›Sieger‹«. Die »›Fortschritte der Naturbeherrschung‹« beinhalten nach Benjamin – wie schon bei Rousseau – auch »›Rückschritte der Gesellschaft‹«; der Mensch wird spätestens seit der Industrialisierung durch seine Technik ›überwältigt‹. Die Geschichte soll ergo durch erinnernden Rückblick ›angehalten‹ werden, um des historischen Unheils, des Unabgegoltenen zu gedenken; »die uneingelösten Ansprüche der Vergangenheit« sollen zumindest bewußt gemacht werden499. Jutta Wiegmann zufolge überträgt Benjamin hier Freud’sche Erkenntnisse, vor allem aus der Trauma- und Verdrängungstheorie, »auf die kollektive Geschichte«500. Seine Geschichtstheorie bestehe grundsätzlich aus einer Verknüpfung von Marx’schen Überlegungen mit solchen Freuds. Im Gegensatz zu anderen sowohl von Marx 497 Benjamin, Walter, 1974: Gesammelte Schriften I.2. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M., 697 f. (Hervorhebungen im Original) 498 Rohbeck 2004, 133. Benjamins Kritik am historischen Materialismus (Benjamin 1974, 693) nimmt in gewisser Weise Positionen Löwiths vorweg. 499 Rohbeck 2004, 134 – 136 (zur Überwältigung des Menschen durch die Technik Wiegmann, Jutta, 1989: Psychoanalytische Geschichtstheorie. Eine Studie zur Freud-Rezeption Walter Benjamins. (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik, 226). Bonn, 51). Das ›Unabgegoltene‹ Benjamins ist prinzipiell nichts anderes als die im Kapitel über Toynbee bereits thematisierte »Schuld« und damit letztlich ebenso eine ungelöste Aufgabe. 500 Wiegmann 1989, 41.
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als auch von Freud beeinflußten Denkern wie Horkheimer, Adorno und Bloch gelte Benjamins hauptsächliches Augenmerk jedoch nicht Freuds Libidotheorie, sondern dessen Einsichten in die Bedeutung der vom Individuum als bedrohlich und übermächtig erfahrenen Außenwelt für die Entstehung psychischer Traumen501. Gefahren drohen dem Individuum demzufolge in erster Linie von der äußeren Realität; durch die Leugnung dieses äußeren Bedrohungspotentials und der eigenen Hilflosigkeit selbigem gegenüber sowie die damit einhergehende Loslösung von der Realität perpetuiere sich erst individuelles Leiden. Benjamin nun begreife »das Überwältigtwerden« des modernen Menschen »durch die Technik« als diese äußere Bedrohung, die »kollektiv verdrängt« werde. Wie Freud als Ausweg aus dem Leiden die Einsicht des Individuums in die eigene Hilflosigkeit und die Gegenwärtigkeit des Verdrängten postuliere, damit das Individuum zum handelnden Subjekt werden, die Realität bewältigen und dem Leiden selbsttätig ein Ende setzen könne, so wird der Mensch auch bei Benjamin erst dann zum Subjekt der Geschichte, wenn »ihm das kollektiv Verdrängte […] bewußt« wird502.
1.3.11 Horkheimer und Adorno »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.«503
Wie Benjamin üben auch Horkheimer und Adorno Kritik an einer Geschichtsauffassung, die die Opfer der Geschichte aus dem Blick verliere; dies gilt letztlich für alle fortschrittsoptimistischen Geschichtserzählungen, die immer zumindest implizit eine Parteinahme für die ›Sieger‹ der Geschichte enthalten. Der Hegel’schen »Schrulle […], die Weltgeschichte […] im Hinblick auf Kategorien wie Freiheit und Gerechtigkeit konstruieren zu wollen«504, der optimistischen Geschichte einer List der Vernunft setzen sie folglich eine negative Geschichte der Vernunft in ihrer »Rolle des Anpassungsinstruments« entgegen, dessen List es sei, die »Menschen zu immer weiter reichenden Bestien zu machen«505 ; die 501 Wiegmann 1989, 12 – 14. 502 Wiegmann 1989, 51 f. (Hervorhebung im Original). 503 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W., 1987: Dialektik der Aufklärung. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt/ M., 25. Schon in dieser einleitenden Passage über den Begriff der Aufklärung verdeutlichen die Autoren ihre Beeinflussung durch Weber : »Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen« (ebd.). 504 Horkheimer/Adorno 1987, 253. 505 Horkheimer/Adorno 1987, 254.
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Selbsterhaltung wird im Zuge dessen letztlich zur Selbstzerstörung. Die Kritik der klassischen Geschichtsphilosophie gerät somit selbst zur Geschichtsphilosophie, indem sie die Weltgeschichte deutet als kontinuierlichen, auf das teleologische Ziel absoluten Leidens gerichteten Verfallsprozeß. Der historische Hintergrund für diese in eine radikale Umdeutung der traditionellen Vernunfterzählung mündende Kritik der Geschichtsphilosophie ist – ähnlich wie es schon bei der Kritik der Geschichtsphilosophie nach Aufklärung und deutschem Idealismus der Fall war – wiederum eine massive Enttäuschung über eine glückverheißende Geschichts- und Zukunftserzählung: Dieses Mal ist es freilich der Marxismus, dessen Pervertierung im Stalinismus ebensosehr den Anlaß für die düstere Variante einer Philosophie der Geschichte aus der Feder Horkheimers und Adornos bildet wie Weltkrieg und Holocaust; folgerichtig wird jetzt die gesamte Geschichte abendländischer Aufklärung umgemünzt in eine negative Teleologie506. Kern dabei ist die These vom »Verfall der Emanzipationsgeschichte zur Herrschaftsgeschichte, die Umkehrung der Naturunterwerfung in eine gesteigerte Naturwüchsigkeit«507. Auch jenseits der mit Horkheimer gemeinsam verfaßten Dialektik der Aufklärung ist »Adornos Leitmotiv […] nicht die […] Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften«, sondern die bei Nietzsche und Freud bereits formulierte Dialektik der (doppelten, sowohl die innere als auch die äußere Natur umfassenden) Naturbeherrschung508. Adorno spitzt Teile der Theorien Nietzsches, Freuds und Webers zu, indem er die maßlos gewordene zwischenmenschliche Gewalt als zivilisationspsychologische Folge der weltanschaulich gerechtfertigten Naturbeherrschung interpretiert; Bedingung für die »Emanzipation des Menschen von seiner äußeren Natur« sei »die Beherrschung seiner inneren, triebhaften Natur«, die erst »rationale Planung« möglich mache. Die »gewaltsam durchgeführte, gesellschaftlich organisierte« Naturbeherrschung führt folglich »zur Einengung des menschlichen Horizonts auf Selbsterhaltung und Herrschaft« und zur »immer geringere[n] Sensibilität der zivilisierten Menschen« für eigene Gewalt, die Nachahmung der Herrschaft über die äußere Natur auch im sozialen Bereich zur sozialen Herrschaft509 ; ohne die Ausübung von Gewalt sei der Fortbestand der Zivilisation jedoch nicht zu ge506 Rohbeck 2004, 139 f. Indem »die humanen Ideen« von der Geschichtsphilosophie »in die Geschichte selbst« transponiert würden, würden sie in den Dienst der herrschenden Geschichte gestellt (Horkheimer/Adorno 1987, 255): »So tragen Christentum, Idealismus und Materialismus, die an sich auch die Wahrheit enthalten, doch auch Schuld an den Schurkereien, die in ihrem Namen verübt worden sind«. 507 Angehrn 1991, 180. Wie schon Rousseau sehen die Autoren in natürlichen, technischen und ökonomischen Faktoren die Ursachen dieser Verfallsgeschichte. 508 Fischer 1999, 22 bzw. 102. Adorno gab selbst zu verstehen, daß er stärker von Nietzsche beeinflußt sei als von Marx und Hegel (ebd. 19). 509 Fischer 1999, 9 – 12 (Hervorhebung im Original).
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währleisten510. Fischer zufolge richtet sich Adornos »Kritik nicht gegen die […] Naturbeherrschung« als solche, die grundsätzlich notwendig ist, »sondern gegen ihre sekundäre Rationalisierung und kulturelle Überhöhung«511. Wie Freud nimmt Adorno als »zivilisatorische Urszene« einen Mord an; die »Auswechslung der Tatbeteiligten, ihrer Motive und psychischen Reaktionen« führt bei Adorno jedoch zu einem negativen Bild der Naturbeherrschung, das zu Freuds prinzipiell positiver Interpretation der doppelten Naturbeherrschung in deutlichem Gegensatz steht512. Bei der Frage, weshalb eine Emanzipationsgeschichte in eine Herrschaftsgeschichte umschlägt, ist möglicherweise nicht zwingend eine negative Teleologie der Vernunft vonnöten; es genügt, besagte Emanzipationsgeschichte als grundlegend ödipal zu begreifen513. Ödipus ist auf Ablösung – id est Emanzipation – von elterlicher, genauer väterlicher Dominanz bzw. ›Herrschaft‹ aus. Diese Ablösung, dies Unabhängigwerden aber gelingt dem Kulturkinde so gut wie nie völlig, denn auch der Sohn hat – wenn die Vater-Sohn-Beziehung als Herrschaftsbeziehung erlebt wurde – das Prinzip der Herrschaft internalisiert. Die Herrschaft des Vaters wird letztlich nur (wenngleich auf einer anderen Ebene) ersetzt durch eine andere Herrschaft, nämlich die des Sohnes. Wenn die Geschichte des emanzipatorischen Prozesses als ödipaler Ablösungsprozeß verstehbar wird, so liegt in der Ambivalenz dieses dynamischen psychischen
510 Horkheimer/Adorno 1987, 248. 511 Fischer 1999, 10. 512 Die Überlegungen zu einer zivilisatorischen Urszene finden sich noch nicht in der Dialektik der Aufklärung, sondern in den Minima Moralia (Adorno, Theodor W., 1951: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin u. a.) und der Negativen Dialektik (Adorno, Theodor W., 1970: Negative Dialektik. Frankfurt/M.): Fischer 1999, 118. Dennoch hält Konstantinos Rantis fest, »[d]ie Freudsche Zivilisationstheorie« stelle »auch den Kern der Zivilisationstheorie in der Dialektik der Aufklärung« dar, »doch verschiebt sich hier der Akzent auf das gesellschaftliche Herrschaftsprinzip, das sich im neutralen Freudschen ›Realitätsprinzip‹ verbirgt« (Rantis, Konstantinos, 2001: Psychoanalyse und »Dialektik der Aufklärung«. (Kritische Studien, 14). Lüneburg, 131). Jutta Wiegmann zufolge ist die Kritik am Freud’schen Realitätsprinzip ein durchgängiges Muster nicht nur bei Adorno, sondern auch bei Horkheimer und Bloch. Hierzu Wiegmann 1989, 92: »Die Prüfung dieses Realitätsprinzips führte allerdings auch Horkheimer und Adorno in eine tiefe Resignation. In der Dialektik der Aufklärung erscheint die von ihnen konstatierte Entfremdung des Menschen von der Natur als fast irreversible Entwicklung.« Die Charakterisierung des Realitätsprinzips in der beschriebenen Weise allerdings offenbart ein sehr einseitiges Verständnis desselben, das der Freud’schen Konzeption nicht gerecht wird. So ist das Realitätsprinzip eben nicht reines ›Anpassungs‹prinzip an im besten Sinne ›herrschende‹ Verhältnisse, sondern ebensosehr Rationalitätsprinzip, das die kritische Auseinandersetzung mit der Realität ermöglicht. 513 Zur nach wie vor gegebenen Aktualität des Ödipuskomplexes auch für kulturtheoretische Überlegungen vgl. das Kapitel Das Rätsel der Sphinx: Der Ödipuskomplex als Grundlage psychoanalytischer Anthropologie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit.
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Prozesses514 die Ursache auch für die Ambivalenz des Vernunftbegriffes. Besagte Ambivalenz resultiert aus dem Verhältnis des Sohnes zum Vater, der von ersterem zugleich als Vorbild wie auch als letztlich zu vernichtender Feind wahrgenommen wird; neben vielem anderen muß vor allem der Frevel des (hier symbolisch verstandenen) Vatermordes rationalisiert werden. Auch der »in der Konsequenz eines Fortschritts in der Geistigkeit« – mit anderen Worten: der zunehmenden Aufklärung – liegende »Gottesmord«, wie er zunächst »an den ›heidnischen‹ Göttern und dann an dem Gott des Monotheismus selbst«515 vorgenommen wird, löst massive kulturell wirksame Traumatisierungen aus, die zum Teil durch Rationalisierungen kompensiert werden müssen. 1.3.12 Foucault, Lyotard und das scheinbare Ende der großen Erzählung »Le grand r¦cit a perdu sa cr¦dibilit¦, quel que soit le mode d’unification qui lui est assign¦ : r¦cit sp¦culatif, r¦cit de l’¦mancipation.«516
Während die von Horkheimer und Adorno vorgebrachte Kritik an der Geschichtsphilosophie ihrerseits selbst am historischen Kontinuum, am Modell einer sich teleologisch vollziehenden geschichtlichen Entwicklung festhält und somit eine Form von Geschichtsphilosophie mit negativem Vorzeichen darstellt, zielen andere Spielarten der Kritik auf die generelle Auflösung des Kontinuums ins Fragmentarische. Vor allem die Idee eines ›Sinnes‹ und der Einheit der Geschichte soll durch eine Betonung der historischen Brüche verworfen werden; »Einheits- und Identitätsvorstellungen« gelten nunmehr grundsätzlich »als tendenziöse Festschreibungen«517. Diese Kritik an der Einheitsidee ist prinzipiell nichts Neues, schon bei Burckhardt und Nietzsche bestehen Ansätze hierzu518 ; neu ist vielmehr die Radikalität, mit der sie vorgetragen wird. Posthistoire, ›Nachgeschichte‹, ist das programmatische Schlagwort, unter das die jeweils sehr unterschiedlichen Positionen subsumiert werden können, die rundweg am sinnvollen Zusammenhang der Geschichte zweifeln. Wiederum ist es Enttäu514 »Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst« (Horkheimer/Adorno 1987, 38) – Die Tatsache, daß Horkheimer und Adorno mit dieser Formulierung ihren Begriff der Aufklärung mit jenem basalen menschlichen Affekt gleichsetzen, der in der Psychoanalyse eng mit der psychischen Entwicklung des Menschen verwoben ist und dessen Überwindung ein dialektisches Fortschreiten in selbiger bedeutet (Auchter, Thomas/Strauss, Laura V., 2003: Kleines Wörterbuch der Psychoanalyse. Göttingen. 2., überarbeitete Aufl., 39 f.), impliziert, daß die »Dialektik der Aufklärung« ihrem eigentlichen Wesen nach ein dynamischer psychischer Prozeß ist. 515 Assmann 2003, 134 sowie das Kapitel gravitas im dritten Teil der vorliegenden Arbeit. 516 Lyotard, Jean-FranÅois, 1979: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. (Collection ›critique‹). Paris, 63. 517 Angehrn 1991, 181. 518 Rohbeck 2004, 117.
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schung, die ihnen sämtlich zugrunde liegt – eine Enttäuschung, die sich aus denselben Quellen speist wie diejenige, die bereits Horkheimer und Adorno zu ihrer düsteren Analyse von Aufklärung und ›Vernunft‹ motivierte. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts scheinen die Projekte von Aufklärung und Moderne fundamental in Frage zu stellen; so formiert sich die im Geschichtsdenken des Posthistoire enthaltene Absage an genannte Projekte nicht zufällig vor allem im Umkreis des Postmodernismus519. Die wichtigsten Theorien sollen im Folgenden lediglich kursorisch wiedergegeben werden. Michel Foucault, dessen »nicht gerade einheitliche[s] Geschichtsbild« sich aus Marxismuskritik, der Genealogie Nietzsches sowie Anregungen durch linguistic turn und Annales-Schule komponiert, wiederholt die altbekannte Kritik an Hegel im Hinblick auf die abzulehnende »Totalität« und Einheit der Geschichte, welcher er – wohl im Sinne einer Reaktion auf die unmittelbar erlebten Kontinuitätsbrüche des 20. Jahrhunderts – die Diskontinuität und Brüche der Geschichte entgegensetzt. Weder hat die Geschichte Ziel noch Ursprung; und wieder ist die herkömmliche Geschichtsschreibung auch in den Augen Foucaults vor allem eine »Geschichte der Mächtigen«, der eine Gegengeschichte aus der Sicht der Opfer entgegengehalten werden muß520. Die Beschäftigung mit Themenkomplexen wie der Geschichte des ›Wahnsinns‹ und der Sexualität, die Affinität zum Begriff der ›Archäologie‹ und nicht zuletzt auch das Studium der Psychologie könnten eine Nähe zu Freud und zur Psychoanalyse vermuten lassen; jedoch ist Foucaults Verhältnis zu Freud vor allem durch Distanz geprägt. Gleichwohl gilt die Beziehung zur Psychoanalyse als ein »wichtige[r] und eindeutige[r] Faktor auf Foucaults philosophischem Weg«521. So begreift Foucault die Psychoanalyse, wenngleich er ihre in seinen Augen unvollständige Theorie des Symbols kritisiert und den Freud’schen Diskurs »imperialistisch« nennt, da er die Ausdrucksfähigkeit des Bildes okkupiere, »ohne die dem Visuellen eigentümliche Sprache zur Kenntnis zu nehmen, und […] alle Ansprüche des Subjekts beiseite [fege]«, als einen Sammelpunkt innerhalb der Humanwissenschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert, dessen besonderer und bleibender Wert im Begriff des Unbewußten bestehe: »des Unbewußten in seiner Eigenschaft als Grenzbegriff sämtlicher Humanwissenschaften, von dem ein unablässiger Argwohn, ein Verdacht gegenüber all jenen Wissenschaften ausgeht, die 519 Rohbeck 2004, 115. 520 Rohbeck 2004, 141 – 145. Ferner Foucault, Michel, 1981: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 356). Frankfurt/M. bzw. Foucault, Michel, 1987: Von der Subversion des Wissens. Herausgegeben und übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt/M. 521 Marques, Marcelo, 1990a: Vorwort. In: Ders. (Hg.), 1990: Foucault und die Psychoanalyse. Zur Geschichte einer Auseinandersetzung. Übersetzt von Monika Noll. Tübingen, 6 – 10 (hier : 7).
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den Gegenstand ›Mensch‹ konstruieren, ihr Begriffsarsenal aber von anderswoher entlehnen müssen«. Durch ihr »›permanentes Prinzip der Unruhe, des Infragestellens‹« erreiche die Psychoanalyse fast den Status einer »Meta-Humanwissenschaft«, denn ihre nicht abreißende Kritik gelte »der Möglichkeit einer Humanwissenschaft überhaupt«. Sie behandle das Problem der Bedingungen der Repräsentation – »des Konflikts, des Wunsches oder Begehrens, der Bedeutung« – in unmittelbarer Weise, indem sie sich selbigem an dem »an Widersprüchlichkeit kaum zu überbietenden Ort, nämlich dem Unbewußten, stellt«: so könne sie »über die Ebene von Funktion, Regel und Zeichen hinausgelangen und darunter jene Figuren ausfindig machen, welche die Endlichkeit des Menschen und damit die die Humanwissenschaften sowohl tragenden wie unterminierenden Grenzen und Prinzipien repräsentieren: den stummen Tod, das nackte Begehren und eine Sprache, die als höchster Vertreter des Gesetzes firmiert«522. Jean-FranÅois Lyotard bringt den Postmoderne-Begriff in die philosophische Diskussion523. Seine Devise vom »Ende der großen Erzählung« kann wiederum als Reaktion auf eine massive Enttäuschung gedeutet werden, diesmal durch eine als total verstandene, so divergente Richtungen wie den sich auf Ökonomie beschränkenden Liberalismus, den als gescheitert empfundenen Marxismus sowie den Faschismus umfassende Moderne. »Technisierung und Ökonomisierung« sind Auslöser des Legitimationsverlustes. Auch der technische Fortschritt, im 19. Jahrhundert noch eine Art Kompensat des obsolet gewordenen Aufklärungsoptimismus, hat keinen Sinn mehr. Lyotard hält ferner die Verständigung zwischen wissenschaftlichen Disziplinen im Anschluß an Wittgensteins Sprachspiel-Theorie für grundsätzlich gestört und nicht möglich; das verhindere letztlich auch die Integration unterschiedlicher Ansätze in eine große Erzählung. Die entwicklungsgeschichtliche Synthese in der Geschichtsphilosophie ist demnach ein Ding der Unmöglichkeit. Es mangelt an einem Subjekt, »das die eine Geschichte erzählen könnte«, ebenso wenig gibt es ›die‹ Menschheit; an die Stelle der einen großen Erzählung sollen folglich viele kleine Geschichten treten, an die Stelle des universalhistorischen Entwurfs die Beschränkung auf das Regionale und Lokale524. Vergessen wird dabei offensichtlich, daß schon Weber, Jaspers und Toynbee die grundsätzliche Möglichkeit einer universalen Geschichtserzählung, die zugleich die Vielheit und Individualität der Kulturen berücksichtigt, eindrücklich unter Beweis gestellt haben –
522 Forrester, John, 1990: Michel Foucault und die Geschichte der Psychoanalyse. In: Marques, Marcelo (Hg.), 1990: Foucault und die Psychoanalyse. Zur Geschichte einer Auseinandersetzung. Übersetzt von Monika Noll. Tübingen, 75 – 128 (hier: 81 – 89). 523 Lyotard 1979. 524 Rohbeck 2004, 146 – 149 (Hervorhebung im Original).
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wenngleich der ihnen teilweise eignende Eurozentrismus die genannte Kritik bis zu einem gewissen Grade durchaus rechtfertigt. Die These vom »Ende der Geschichte« wird, freilich mit positiver Konnotation, auch von ganz anderer Seite vertreten: Francis Fukuyama interpretiert die Durchsetzung des westlichen Liberalismus in Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer als Ende der großen emanzipatorischen Erzählung und Beginn eines nachgeschichtlichen Zeitalters525. Samuel Huntington allerdings formuliert schon etwa zur gleichen Zeit die These vom künftigen Kampf der Kulturen und damit implizit auch den Anfang einer neuen Erzählung526 ; deutlich wird an dieser Gegenüberstellung vor allem die jeweils sehr subjektive Sicht auf ›Geschichte‹. Jenseits dieser Überlegungen zur konkreten Historie und damit verbundener Mutmaßungen über deren Ende formiert sich freilich zur gleichen Zeit eine neue Art des Philosophierens über Geschichte: Der linguistic turn bedingt auch ein Nachdenken über die Formen der Geschichtsschreibung und die Voraussetzungen historischer Erkenntnis. Die Focussierung auf die Darstellung527 von Geschichte beinhaltet allerdings eine gänzlich anders gelagerte ›geschichtsphilosophische‹ Thematik. Diesen neuen Impulsen einer erzähltheoretisch reformulierten Philosophie der Geschichte sind die folgenden Kapitel gewidmet. Philosophie der Geschichte seit dem linguistic turn und die Rehabilitierung der Geschichtserzählung 1.3.13 Danto »Analyse verlangt nach einer deskriptiven Metaphysik, wenn sie systematisch durchgeführt werden soll.«528
Ausgerechnet von der sich am naturwissenschaftlichen Erkenntnisprinzip orientierenden analytischen Philosophie, die der ›klassischen‹ oder ›substantialistischen‹529 Geschichtsphilosophie im Grunde noch ferner steht als die sich ebenfalls als Gegenentwurf zur klassischen Form der Geschichtsphilosophie begreifende Geschichtswissenschaft im Sinne des Historismus530, gehen in der 525 Fukuyama, Francis, 1992: Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir? Übersetzt von Helmut Dierlamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr. München. 526 Huntington, Samuel P., 1996: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Übersetzt von Holger Fliessbach. München/Wien. 527 Rohbeck 2004, 119. 528 Danto 1974, 7. 529 Danto 1974, 11. 530 Angehrn 1991, 152 bzw. 154. Die analytische Philosophie der Geschichte setzt in ihrer »Fokussierung auf die ›Logik und Sprachanalyse der Geschichtswissenschaft‹« prinzipiell »die Konstitutionsanalyse des Neukantianismus« (konkret besonders der mit den Namen
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zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die wichtigsten Impulse für den geschichtsphilosophischen Diskurs aus. Wie schon im vorangegangenen Jahrhundert besteht auch im 20. nach wie vor das grundlegende erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische Problem des vermeintlichen Gegensatzes von Geschichtsschreibung und Wissenschaft, nun verschärft u. a. durch die Argumentation beispielsweise der französischen Annales-Schule, nach der das Bestreben, eine Geschichte zu erzählen, im Rahmen einer Disziplin, die den Rang einer Wissenschaft beanspruche, »ein hinreichender Beweis für ihren protowissenschaftlichen, um nicht zu sagen offenkundig mythischen oder ideologischen Charakter«531 sei. Das naturwissenschaftliche Erklären gilt also im 20. Jahrhundert selbst für bestimmte Strömungen der Geschichtswissenschaft als Erkenntnisideal. Diese Entwicklung dürfte nicht zuletzt auf den nachhaltigen Einfluß der philosophischen positivistischen Schulen wie u. a. des Wiener Kreises532 zurückzuführen sein, die wie schon Comte und Mill von der Vorstellung der »Einheit der wissenschaftlichen Methode«533 geleitet sind und die Dichotomie von Erklären und Verstehen durch die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Humanwissenschaften aufzulösen versuchen. Diesem Ziel ist zunächst auch die analytische Geschichtsphilosophie verpflichtet, die mit Carl Gustav Hempels 1942 veröffentlichtem Aufsatz The Function of General Laws in History534 ihren Anfang nimmt. Hempel formuliert hier in den Worten Dantos die These, »daß die historische Erklärung, ebenso wie die wissenschaftliche Erklärung generell, verlange, das zu erklärende Ereignis [das explanandum, M.K.] unter ein allgemeines Gesetz zu subsumieren«; er entwickelt folglich das sogenannte »Covering Law Model«, das von Verifikationsmodell und Wahrscheinlichkeitstheorie beeinflußt ist535. Die der Historie wie den Naturwissenschaften eignenden grundlegenden Gesetze weisen, so Hempel, einander entsprechende Funktionen auf. Paul Ricœur bemängelt an diesem Modell jedoch, es lasse die Tatsache unberücksichtigt, daß »in der Geschichte die Ereignisse ihren eigentlich historischen Stellenwert daraus beziehen, zuvor in eine offizielle Chronik, einen Augenzeugenbericht oder eine Erzählung aufgrund von persönlichen Erinnerung [sic!] aufgenommen worden zu sein« und be-
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Windelband und Rickert verbundenenen Südwestdeutschen Schule desselben) fort (ebd., 154). White 1990, 175. So Ricœur 1988, 166. Wright, Georg H. von, 2000: Erklären und Verstehen. Übersetzt von Günther Grewendorf und Georg Meggle. Berlin. 4. Aufl., 18. Hempel, Carl G., 1942: The Function of General Laws in History. In: The Journal of Philosophy 39, 35 – 48. Danto, Arthur C., 1996: Niedergang und Ende der analytischen Geschichtsphilosophie. In: Nagl-Docekal, Herta (Hg.), 1996: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. (Fischer-Taschenbücher, 12776). Frankfurt/M., 126 – 147 (hier: 126 f.).
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scheinigt diesem »nomologischen Modell« ergo ein »Schwinden der Erzählform«536. Die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts hat umgekehrt jedoch erheblichen Anteil an der linguistic turn genannten Wende, die eine verstärkte Hinwendung der Philosophie zum Phänomen und zur Bedeutung der Sprache beinhaltet: So vollzieht ein Vertreter der analytischen Philosophie, Arthur C. Danto, innerhalb seiner Disziplin den »Übergang zur Erzähltheorie«; er analysiert, im Gegensatz zu Hempel, in seiner Analytischen Philosophie der Geschichte »keine Gesetzesaussagen […], sondern ausschließlich ›erzählende Sätze‹«537. Danto begründet somit gewissermaßen die narrativistisch geprägte formale538 Geschichtsphilosophie des späteren 20. Jahrhunderts, zu der als wichtigste Repräsentanten auch Paul Ricœur und Hayden White zählen. Danto formuliert zunächst eine fundamentale Kritik an der substantialistischen – spekulativen – Geschichtsphilosophie, die historische »Ereignisse so zu sehen« sich befleißige, »daß sie erst im Kontext eines geschichtlichen Ganzen, das einem künstlerischen Ganzen ähnlich ist, Sinn ergeben«; im vorliegenden Fall aber sei »das Ganze« das »Ganze der Geschichte, das über die Schranken von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinausgeht«539. Danto wiederholt also die traditionelle Kritik an der Geschichtsphilosophie, die um Zukunftsvoraussagen bemüht ist540, und hält dieser die analytische Philosophie entgegen, die von der Prämisse ausgeht, daß das ›Ganze‹ nicht vorhanden und Geschichte lediglich als Vergangenheit erkennbar ist. Die analytische Philosophie der Geschichte verzichtet daher auf 536 Ricœur, Paul, 1988: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Übersetzt von Rainer Rochlitz. (Übergänge 18,1). München, 167 f. 537 Rohbeck 2004, 105. 538 Zwenger freilich behauptet einen materialen Charakter der analytischen Philosophie der Geschichte Danto’scher Prägung, da diese die Geschichte genau wie die Tatsachen der Beobachtungswissenschaft als etwas wirklich Gegebenes begreife und folglich »das Ganze der Vergangenheit als real existierend (und nicht bloß als gedacht)« hypostasiere (Zwenger 2008, 96). Zwenger geht sogar so weit, das Konzept Dantos als »substantialistisch« zu bezeichnen (ebd.). An anderer Stelle schreibt Zwenger : »Geschichte hat die Realität und die Struktur der Erzählung« (74) – dies aber ist eine Erkenntnis, die sich nicht zuletzt unter dem Einfluß von Dantos Konzeptionen durchgesetzt hat. 539 Danto 1974, 23. 540 Er reformuliert u. a. Poppers These von Geschichtsphilosophie als »Prophetie« (Rohbeck, Johannes/Nagl-Docekal, Herta, 2003a, 7). Ferner Danto 1974, 28: »Das Schema, das sie [die Geschichtsphilosophen, M.K.] in die Zukunft projizieren, ist eine Erzählstruktur. Kurz gesagt, sie sind bestrebt, die Geschichte zu erzählen, bevor noch die Geschichte richtig erzählt werden kann«. Auch wenn es gewiß auf viele Ausformungen der klassischen substantialistischen Geschichtsphilosophie zutreffen mag, daß sie die Zukunft zu deuten versuchen, erscheint doch die Festlegung dieses Kriteriums – das ›Ganze‹ der substantialistischen Geschichtsphilosophie schließe notgedrungen die Zukunft mit ein – als definitorisches Merkmal etwas voreilig; auch die Vergangenheit ist ein ›Ganzes‹, das theoretisch ebenso ›substantialistisch‹ deutbar ist.
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Deutungen des ›Ganzen‹ und bezieht sich auf die »›Logik und Sprachanalyse der Geschichtswissenschaft‹«; sie ist damit eher Geschichtstheorie als Geschichtsphilosophie bzw. »historiographische Texttheorie«. Erklärung und historische Darstellungsform sind lediglich zwei Gesichtspunkte desselben Sachverhalts541. Die basale Gestalt historischer Fragen entspricht Danto zufolge der schematischen Frage »was geschah in (bei) x« – die Antwort hierauf muß demnach also »Auswahl, Hervorhebung, Eliminierung in sich schließen […] und gewisse Kriterien der Relevanz [voraussetzen]«542 ; die Antwort hat folglich »die Form der Erzählung«543. Dantos zentrale These schließlich besagt, daß ›erzählende Sätze‹ historische Signifikanz aufgrund ihrer Reihenfolge innerhalb einer Erzählung besitzen. Die Deutung eines Ereignisses auf die eine oder eine andere Weise wird somit erst »vom Ende der Erzählung her« möglich bzw. ist von diesem abhängig544. Er macht dies u. a. am Beispiel einer für historiographische Texte charakteristischen Satzform deutlich: »›Der Dreißigjährige Krieg begann im Jahre 1618‹ bezieht sich auf Anfang und Ende des Krieges, doch er handelt nur von dessen Beginn«545. Die narrative Struktur bewirkt durch Selektion und Unterordnung der selektierten geschichtlichen Tatsachen unter außerhalb der Chronologie befindliche Prinzipien »mehr […] als selbst die aufwendigste Chronik« und macht aus dem »›Stoffzusammenhang‹ […] einen konsistenten Zusammenhang eigener Art«546. Die subjektive Eigenmächtigkeit bei der Se541 Schiffer, Werner, 1980: Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz. Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen. (Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, 19). Stuttgart, 26 f. 542 Danto 1974, 185 bzw. 188. 543 Schiffer 1980, 28. 544 Rohbeck 2004, 105. Der retrospektive Standpunkt ist also wesentlich für den »erzählenden« Satz; er konkretisiert sich beispielsweise in Formen wie »veranlaßte«, »antizipierte«, »begann«, »verursachte« etc. (Schiffer 1980, 31). Historische Aussagen können, »auf der Grundlage einer retrospektiven Selektion, […] im Sinne ›temporaler Ganzheiten‹ konstruiert werden« (ebd., 34). 545 Danto 1974, 246. Dagegen betont Schiffer, daß auch das zeitlich spätere Resultat beschrieben werden kann: »Durch die Verfassung von 1871 war der deutsche Kaiser der mächtigste Mann der Welt« (Schiffer 1980, 33). 546 Schiffer 1980, 29 (unter Bezugnahme auf Danto 1974, 190 – 231). Ein konkretes Beispiel für diese Art narrativer Selektion bilden die Projektverben (die Tätigkeiten im Hinblick auf ihr Ergebnis ausdrücken, z. B. »ein Haus bauen«, »Blumen pflanzen« etc.), welche selegieren, indem sie »[a]us der Vielfalt der Tätigkeiten einer Person in einem bestimmten Zeitraum« lediglich bestimmte auswählen und zusammenfassen: »X baut ein Haus«. Dieser Satz »zieht aus allen Tätigkeiten, die X in dem entsprechenden Zeitraum verrichtet, diejenigen zusammen, die auf das Projekt des Hausbauens bezogen werden können« und erreicht so eine »temporal kontinuierliche[…] bzw. temporal konsistente[…] Struktur« (Schiffer 1980, 35, Hervorhebung im Original. Zur Einschränkung der Gleichsetzung von Projektverben und narrativen Sätzen ebd., 36). Schiffer vertritt außerdem die These, daß »zwischen intentionalen und retrospektiv bezugnehmenden Beschreibungen kein Ausschließlichkeitsverhältnis« besteht (ebd., 37).
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lektion tut Danto zufolge jedoch der »Wahrheitsfähigkeit historischer Aussagen« keinen Abbruch, »denn an jede der möglichen temporalen Strukturen kann die Frage gestellt werden, ob sie ihrem faktischen Pendant ›genau‹ Rechnung trägt«547. Die historische Darstellung liefert kein Duplikat bzw. keine Reproduktion der Vergangenheit, »sondern eine Art Organisation der Vergangenheit«. Der Gegensatz von Natur- und Geschichtswissenschaft liegt dieser Theorie zufolge in der Weise ihrer »Organisations-Schemata«548. Die Erzählung ist »bereits eine Form der Erklärung«549. Die Analyse der erzählenden Sätze muß somit die »hauptsächlichen Merkmale« der Geschichte aufzeigen, da beide »in so einzigartiger Weise mit unserem Begriff der Geschichte verknüpft sind«550. In Ricœurs Augen liefert Dantos analytische Theorie der Erzählung »für die gesuchte Synthese von Erklären und Erzählen […] ›narrativistische Argumente‹«551; er selbst wird die Danto’schen Überlegungen in entscheidender Form erweitern. 1.3.14 Ricœur »Bei der Erzählung besteht die semantische Innovation in der Erfindung einer Fabel, die ebenfalls ein Werk der Synthesis ist: durch die Fabel werden Ziele, Ursachen und Zufälle zur zeitlichen Einheit einer vollständigen und umfassenden Handlung versammelt. Diese Synthesis des Heterogenen ist es, die die Erzählung in die Nähe der Metapher bringt.«552
Während Hempel eine naturwissenschaftlich-kausale Erklärung historischer Ereignisse zu liefern versuchte und Danto für die analytische Philosophie der Geschichte durch seine Untersuchung erzählender Sätze die Überleitung zur Erzähltheorie vollzog, richtete Ricœur sein Augenmerk verstärkt auf den Aspekt der Zeitlichkeit: »Zeit und Erzählung sind […] theoretisch und praktisch voneinander abhängig [und] bilden einen notwendigen Zusammenhang. […] Die Erzählung eröffnet und erschließt Zeitzusammenhänge«553. Von besonderer Bedeutung ist dabei die inhaltliche Figuration einer Erzählung in Gestalt der Fabelkomposition. Die Annahme, daß geschichtliche Handlungen die gleiche Struktur wie Erzählungen besitzen, bedingte das Postulat einer »Analyse von 547 548 549 550 551 552 553
Schiffer 1980, 35. Danto folgt nach Schiffer hier dem Vorbild Rankes. Danto 1974, 183 f. Danto 1974, 230 (Hervorhebung im Original). Danto 1974, 232. Rohbeck 2004, 105 (zu den narrativistischen Argumenten siehe auch Ricœur 1988, 214 f.). Ricœur 1988, 7 (Hervorhebung im Original). Straub, Jürgen, 1999a: Narrative Handlungserklärungen im Licht einer pragmatisch-epistemischen Erklärungstheorie. In: Ders./Werbik, Hans (Hgg.), 1999: Handlungstheorie. Begriff und Erklärung des Handelns im interdisziplinären Diskurs. Frankfurt/M./New York, 261 – 283 (hier: 277).
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Erzählung, Narration und Narrativität aller unterschiedlichen Formen des Geschichtenerzählens« auch unter dem Gesichtspunkt der Fabelkomposition, die Ricœur Ende der 1970er Jahre mit seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung vornahm und deren Ergebnis Hayden White als »wichtigste Synthese von Literatur- und Geschichtstheorie« des 20. Jahrhunderts bezeichnet554. Erst die Fabel erzeugt den »Sinn« einer Erzählung, indem sie »symbolisch« den »›aporetische[n]‹ Charakter der menschlichen Zeiterfahrung« artikuliert555. Die Komposition der Fabel nennt Ricœur mimesis556, die er in drei Stufen unterteilt: in Präfiguration, Konfiguration und Refiguration bzw. mimesis I, II und III557. Die Präfiguration der mimesis I besteht in einem Vorverständnis auf Seiten des Lesers, einer »Fähigkeit, die Handlung überhaupt an ihren Strukturmerkmalen zu erkennen«; sie ist ›pränarrativ‹ und wurzelt in der »Welt des Handelns«, dessen ›Nachahmung‹ die Fabel in gewisser Hinsicht darstellt558. Die Konfiguration der mimesis II hat vor allem die Bedeutung der Vermittlung zwischen dem Vorverständnis der mimesis I und dem »Nachverständnis«559 des Lesers, d. h. der Refiguration der mimesis III, in welcher der Leser die Erzählung in die eigene Erfahrung überführt und ›verarbeitet‹. Der Sinngehalt einer Erzählung muß »nicht nur vom schreibenden Autor, sondern auch vom Leser konstruiert« werden, indem er sie an der eigenen Zeit- und Lebenserfahrung mißt560. Diese Erfahrung definiert Ricœur als »(noch) nicht erzählte Geschich554 White 1990, 176. 555 White 1990, 179. Siehe auch Ricœur 1988, 89 (ferner ebd. 16 f. sowie 70 f.). 556 Der Begriff mimesis hier gebraucht weniger im Sinne von »Nachahmung« als vielmehr von »Handlung«, White 1990, 186. 557 Ricœur 1988, 87 – 135. Siehe hierzu auch die Überlegungen Kittsteiners (2006, 31 f.): »Nach diesem [dem Ricœur’schen, M.K.] Modell kann man auch die historischen, philosophischen und künstlerischen ›Narrationen‹ auffassen, um die es uns geht: Getragen von einem gemeinsamen ›Erfahrungsraum‹ in der Beleuchtung eines ›Erwartungshorizontes‹ (mimesis I), entwickelt der Erzähler Lösungsmöglichkeiten für das, was er und andere für die ›Grundaufgabe‹ seiner Zeit halten. (mimesis II) Diese narrativen Lösungsmöglichkeiten mit normativen Handlungsvorschlägen gehen über viele Vermittlungsschritte an die historisch Handelnden zurück, die ihre ›Aufgabe‹ in der Narration erkennen – oder konkurrierende Gegennarrative entwickeln (mimesis III). Um diesen letzten Punkt an einem Beispiel zu beleuchten: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gibt es die liberale Fortschrittserzählung des Bürgertums, es gibt ein sozialistisches Oppositionsnarrativ und hinter beiden kämpfenden Parteien taucht als drittes eine zivilisationskritische Haltung zur Geschichte auf.« 558 Ricœur 1988, 90 (Hervorhebung im Original). Zum »pränarrativen« Charakter ebd., 118 sowie Ricœur, Paul, 1991: Zeit und Erzählung. Bd. 3: Die erzählte Zeit. Übersetzt von Andreas Knop. (Übergänge 18, 3). München, 398. 559 Ricœur 1988, 105. 560 Rohbeck 2004, 107. Zur Parallelität von ›Handlung‹ und Erzählung, die die verstehende Konstruktion durch den Leser erst ermöglicht, White 1990, 181: »Das Schreiben einer historischen Erzählung ist demnach eine Handlung, die exakt derjenigen entspricht, durch die historische Ereignisse zustande kommen, aber eben eher im Bereich des ›Redens‹ als in
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te«, wobei er sich der scheinbaren Widersprüchlichkeit dieser Formulierung bewußt ist. Er sucht den Widerspruch aufzulösen, indem er sich eines Vergleichs mit der psychoanalytischen Situation bedient: Der Patient in der Analyse wird demnach dazu ermuntert, aus den »Bruchstücke[n] erlebter Geschichten […] eine Erzählung zu machen«; die Geschichte ist also gewissermaßen latent vorhanden, sie muß ›lediglich‹ noch erzählt werden. Dies ist die Aufgabe der Psychoanalyse, und im Ergebnis gewinnt der Patient, was Ricœur »narrative Identität« nennt: »Diese narrative Deutung der psychoanalytischen Theorie impliziert, daß die Geschichte eines Lebens auf nicht erzählten, verdrängten Geschichten beruht und auf tatsächliche Geschichten verweist, die das Subjekt übernehmen und als konstitutiv für seine persönliche Identität betrachten könnte.« Laut Roy Schafer, auf den Ricœur sich an dieser Stelle bezieht, ist »die Gesamtheit der metapsychologischen Theorien Freuds […] ein System von Regeln […], um die Lebensgeschichten neu zu erzählen und zu Fallgeschichten zu erheben«561. Das Prinzip der Fallgeschichte und des ›Durcharbeitens‹, das zum Ziel hat, aus diffus scheinenden und schwer zu erduldenden Bruchstücken »eine kohärente und akzeptable Geschichte« zu rekonstruieren, »in der der Analysand seine Ipseität wiedererkennen kann«, ist Ricœur zufolge aber nicht nur für das menschliche Individuum, sondern auch für Kollektive geeignet: »Individuum und Gemeinschaft konstituieren sich in ihrer Identität dadurch, daß sie bestimmte Erzählungen rezipieren, die dann für beide zu ihrer tatsächlichen Geschichte werden.« Ricœur schreibt den fiktionalen und non-fiktionalen Erzählungen unserer Kultur »kathartische[…] Wirkungen« zu, die der Selbsterforschung und letztlich der Selbsterkenntnis die entscheidenden Impulse liefern. Die Psychoanalyse ihrerseits stelle ein »besonders lehrreiches Laboratorium für eine spezifisch philosophische Untersuchung zum Begriff der narrativen Identität dar«; denn sie enthülle, »wie sich eine Lebensgeschichte durch eine Reihe von Rektifikationen konstituiert, die an früheren Erzählungen vorgenommen werden – genauso wie die Geschichte eines Volks, eines Kollektivs dem des ›Machens‹. Indem sie die in historischen Handlungen durch die Akteure, die sie produzierten, ›präfigurierten Fabeln‹ erkennen und sie als Abfolge von Ereignissen mit der Kohärenz von Erzählungen mit einem Anfang, Mittelteil und Ende ›konfigurieren‹, machen Historiker den in historischen Ereignissen implizit enthaltenen Sinn explizit. […] Menschliches Handeln hat Folgen, die ebenso vorhersehbar wie unvorhersehbar sind, die sowohl von bewußten als auch von unbewußten Intentionen durchdrungen sind und die durch kontingente Faktoren zunichte gemacht werden können, die zugleich wißbar und nicht wißbar sind.« Die »unbewußten Intentionen« können nach Ricœur durch das psychoanalytische »Durcharbeiten« explizit gemacht werden, wie im Folgenden näher ausgeführt werden soll. 561 Ricœur 1988, 118 (meine Hervorhebung). Ricœur nimmt bezug auf Schafers 1976 erschienenen Titel A New Language for Psychoanalysis (deutsche Ausgabe: Schafer, Roy, 1982: Eine neue Sprache für die Psychoanalyse. Übersetzt von Wolfgang Krege. (Standardwerke der Psychoanalyse). Stuttgart).
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oder einer Institution aus der Reihe von Korrekturen hervorgeht, die jeder neue Historiker an den Beschreibungen und Erklärungen seiner Vorgänger anbringt und allmählich auch an den Sagen, die dieser eigentlich historiographischen Arbeit vorangingen.«562 Zwischen der Arbeit des Historikers und dem psychoanalytischen ›Durcharbeiten‹ besteht also eine innere Wesensverwandtschaft563. Darüber hinaus ist die Psychoanalyse nicht nur für die individuelle Fallgeschichte – auf der Ebene der herkömmlichen Geschichtsschreibung vielleicht am ehesten mit der historischen Biographie oder der Schilderung eines historischen Einzelereignisses vergleichbar –, sondern auch für die große überindividuelle Erzählung – beispielsweise für eine Theorie der Kultur – nicht nur probate, sondern in der Argumentation Ricœurs vielleicht die geeignetste Methode. Implizit bedeutet dies, daß eine Erzählung menschlicher Geschichte(n) zugleich eine Erzählung der Geschichte(n) der menschlichen Seele ist. Das einende Merkmal von Sprache, Geschichte und schließlich auch der Seele ist das »In-derZeit-Sein«; die historische Erzählung ist nach Ricœur eine »Allegorie der Zeitlichkeit«, die Zeit selbst aber hat »narrativistischen Charakter«. Auch für das zitierte Grundproblem eines angenommenen Gegensatzes von Geschichtsschreibung und Wissenschaft hat die These der Narrativität der Zeit weitreichende Konsequenzen: »Es ist ihre narrative Struktur, die historische Ereignisse von natürlichen Ereignissen (denen eine derartige Struktur fehlt) unterscheidet.« Die Geschichte erfährt von hier aus ihre volle Berechtigung als Darstellungsform der Geschichte. Diese Geschichte erhält ihren Sinn aber erst durch die Fabel – die bedeutsame Erweiterung von Dantos Konzept durch Ricœur besteht also darin, daß der »narrative[…] Diskurs […] nicht in die lokalen Bedeutungen der Sätze, aus denen er sich zusammensetzt, zergliederbar« ist564. Der Sinn entsteht erst in der Ganzheit. In einem 1996 veröffentlichten Aufsatz widmet Ricœur sich speziell dem Verhältnis von Geschichte und Rhetorik565 und setzt die drei Phasen der »historische[n] Operation« – dokumentarische Forschung, Erklärung und schriftliche Fixierung – in Beziehung zu inventio, dispositio und elocutio der rhetorischen Praxis. Die inventio der Rhetorik und die dokumentarische Forschung der historischen Operation entsprechen einander, da beide Quellen (= »Beweise«) suchen bzw. diese sammeln; die Erklärungsphase der historischen Operation entspreche wiederum der dispositio und der Komposition der Fabel; die Geschichtsschreibung schließlich der elocutio. Ricœurs Augenmerk gilt insbe562 563 564 565
Ricœur 1991, 396 f. Vgl. hierzu auch das Voltaire-Kapitel der vorliegenden Arbeit. White 1990, 177 – 179. Ricœur, Paul, 1996: Geschichte und Rhetorik. In: Nagl-Docekal, Herta (Hg.), 1996: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. (Fischer-Taschenbücher, 12776). Frankfurt/M., 107 – 125.
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sondere der Frage, »ob es zwischen den verschiedenen Phasen der Rede und der historischen Operation eine engere Beziehung als die bloß äußerliche Verwandtschaft gibt«. Was diese Erörterung legitimiere, sei das in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft zu konstatierende »Auseinanderdriften der Theorien, die um die Frage der historischen Erklärung zentriert sind einerseits«, und jener, die sich auf die Stilmittel konzentrierten, »die der Darstellung der Vergangenheit die Illusion einer realen Gegenwart vermitteln, andererseits«. Es obliege der kritischen Geschichtsphilosophie, gegen eine derartige Polarisierung anzugehen »und Forschung und schriftliche Fixierung wieder zu einer einheitlichen Konzeption der historischen Operation zusammenzufügen«566. Ricœur postuliert eine stufenlose Verbindung von Erklärung und Aufzeichnung567 und kritisiert darüber hinaus die »Gegner des historischen Realismus«, die behaupten, entweder sei »die Vergangenheit eine untold story« oder es bestehe »vor der Erzählung nur ein formloses Chaos«. Einen solchen Realismus nennt Ricœur »grobschlächtig«, werde hier doch eine genaue Übereinstimmung zwischen der Vergangenheit und ihrer Darstellung angenommen. Er hält hingegen eine »subtilere[…] Neuformulierung des spontanen Realismus des Historikers« sowie die Ablehnung jener These für notwendig, derzufolge »es bei der Darstellung der Vergangenheit um Wahrheit in einem korrespondenztheoretischen Sinne gehe«. Neben »der untold story und dem formlosen Chaos« existiere vielmehr »eine dritte Lösung«: die Theorie, daß »der Gegenstand der Geschichte letztlich Menschen wie wir sind, die unter Bedingungen handeln und leiden, die sie nicht geschaffen haben, und dabei gewollte und ungewollte Resultate hervorbringen.« Diese These verknüpfe schließlich Geschichtstheorie und Handlungstheorie. »Das menschliche Handeln ist so geartet, daß es, um sich selbst zu begreifen, nach der Erzählung verlangt, die seine grundlegenden Artikulationen rekonstruiert.« Das Verhältnis von Geschichte und Handeln kann somit in zwei Richtungen nachvollzogen werden – »von der Erzählung zum Handeln in dem Maße, wie die Erzählung […] mimesis praxeos ist oder vom Handeln zur Erzählung in dem Maße, wie das Handeln […] nach einer Erzählung verlangt«. Der Handelnde und der Historiker gehören letztlich derselben raum-zeitlichen Sphäre an; der Historiker kann das »Handeln-Leiden« historisch Handelnder aufgrund bestimmter Strukturen verstehen, die sich handlungstheoretisch erfassen lassen. Ricœur begreift den Historiker überdies als »Erben der Vergangenheit«, die sich auf spezifische Weise in das Jetzt fortsetzt; bevor der Historiker anfange, die Vergangenheit darzustellen, sei er zunächst ihr Erbe. »Es ist diese passive Dimension des Erbes, die durch die Idee der Schuld genauer zum 566 Ricœur 1996, 109 f. »[D]ie narrative Form befindet sich am Schnittpunkt von dispositio und elocutio« (ebd., 116). 567 Ricœur 1996, 116.
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Ausdruck gebracht wird. Wir stehen immer schon in der Schuld der Menschen von einst, die dazu beigetragen haben, aus uns das zu machen, was wir sind, ehe wir das Projekt entwickeln können, uns die Vergangenheit vorzustellen. Vor der Vorstellung der Vergangenheit kommt das Beeinflußtsein durch sie.« Ricœur verbindet den Gedanken der Schuld mit der Bloch’schen Definition von »Geschichte als ›Erkenntnis durch Spuren‹«. Die Spur und dasjenige, dessen Spur sie ist, weise »kein Entsprechungsverhältnis in der Art der Kopie oder der kartographischen Projektion« auf; statt dessen bestehe die Relation vielmehr in einer »Stellvertreterfunktion«568 ; die Geschichte ist gewissermaßen die Stellvertreterin der Vergangenheit. So ist letztlich auch die Darstellung nur die Stellvertreterin des Dargestellten, nicht aber mit ihr deckungsgleich. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß im Rahmen des geschichtsphilosophischen Konzepts von Geschichte und Erzählung ein uraltes, ursprünglich mythologisch-religiöses Motiv, das Motiv der Schuld, in neuer Gestalt wiederbelebt wird; hierin liegt auch eine Parallele zu psychoanalytischen Deutungen der Geschichte: Die Schuld ist in gewissem Sinne die Stellvertreterin der Vergangenheit569.
1.3.15 White »Die Stärke der Untersuchungen von H. White beruht auf der Scharfsinnigkeit, mit der er die Voraussetzungen seiner Analysen großer historischer Texte expliziert und die Welt der Diskurse definiert, in der diese Voraussetzungen wieder ihre Stelle haben.«570
Hayden White interpretiert in seinem vielbeachteten Werk Metahistory571 »die Geschichtswissenschaft als eine durch und durch an literarisch-fiktionale Aktivitäten angeglichene Komposition von Fabeln«572. Ihm wurde nicht zuletzt deshalb häufig der Vorwurf gemacht, er beseitige mit seiner die Verbindung von Poesie und Historiographie betonenden These von der rhetorischen Präfiguration alles Geschichtlichen die Differenz von fiktionaler Erzählung und Geschichtsschreibung. Ausgehend von der Annahme, »daß historische Ereignisse dieselbe Struktur besitzen wie narrative Diskurse«573, deutet White den »historischen Diskurs[…] als Interpretation«, die historische Interpretation wiederum »als narrative[…] Gestaltung«; Sprache ist nicht lediglich Form, sondern »bereits vor ihrer Verwirklichung« Inhalt – und zwar »figürliche[r], tropologi568 Ricœur 1996, 122 – 124. 569 Vgl. auch die handlungstheoretischen Erörterungen des ›Schuld‹-Begriffes im ToynbeeKapitel der vorliegenden Arbeit. 570 Ricœur 1988, 242. 571 White 1991. 572 Straub 1999, 145 Anm. 97. 573 Rohbeck 2004, 108.
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sche[r] und generische[r]« Art574. Der historische Diskurs sei letztlich mit denselben Mitteln wie der literarische Text zu analysieren, und zwar vor allem mit den Mitteln der Rhetorik, denn »[d]ie ›Logik‹ des historischen Diskurses ist die ›Rhetorik‹.«575 So lassen sich im Sinne der tropologischen Theorie die rhetorischen Figuren – Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie – auf die narrative Struktur der Geschichtsschreibung anwenden. White bezieht sich hier seinerseits auf Ricœur : »Paul Ricœur hat behauptet, ein historiographischer Text verhalte sich zu seinem Referenten wie der Träger einer Metapher zu deren Sinn. Für Ricœur ist der historische Diskurs eine Art erweiterte Metapher […]«576. Ricœur freilich kritisiert White in dem oben bereits zitierten Aufsatz dahingehend, daß ihn, obwohl er »nachdrücklich auf die Frage der Darstellung der Vergangenheit hinweist, […] nicht die Realitätstreue dieser Darstellung [interessiert], sondern die Freiheit, die Strategien auszuwählen, die die Strukturierung des historischen Feldes bestimmen.«577 Das grundlegende Problem der Rhetorik sei ferner die scheinbare Gegensätzlich- oder Unvereinbarkeit ihrer beiden Pole, der Argumente, »die an die Vernunft appellier[en]« sollen auf der einen und der Theorie der Redewendungen, der Tropen, die eher »der Erbauung« dienen, auf der anderen Seite578. Bei White konstatiert Ricœur eine Überbetonung der Tropologie gegenüber der Argumentation. Die Tropologie aber darf Ricœur zufolge nicht »gegen die Argumentation gewendet« werden, da diese »das Gravitationszentrum der Epistemologie der Geschichtswissenschaft bleiben muß« – die Erklärung darf, wie im Kapitel über Ricœur bereits ausgeführt, »nicht von der Erforschung der dokumentarischen Beweise getrennt« werden579. White verschleiert, so jedenfalls der gegen ihn erhobene Vorwurf, die Grenzen zwischen Belletristik und Historiographie, indem er durch seine vollständige Konzentration auf die Bedeutung der Form »den Anspruch auf eine ›wahre‹ oder ›objektive‹ Erzählung preisgibt«580. Er verteidigt sich allerdings mit dem Hinweis, die tropologische Theorie eliminiere durchaus nicht die Divergenz 574 White, Hayden, 1996: Literaturtheorie und Geschichtsschreibung. In: Nagl-Docekal, Herta (Hg.), 1996: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. (Fischer-Taschenbuch, 12776). Frankfurt/M., 67 – 106 (hier: 69 – 73). 575 White 1996, 103, Anm. 17. 576 White 1996, 74. 577 Ricœur 1996, 119. 578 Ricœur 1996, 108. Daß die Kritik an der Rhetorik, sie ziele nicht auf verstandesmäßiges Erkennen, mit der stärkeren Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung seit dem 19. Jahrhundert zugenommen habe, ja »die Rhetorik von der westlichen Hochkultur in Acht und Bann geschlagen wurde«, erwähnt White nicht zuletzt, um darauf aufmerksam zu machen, daß bis dahin »die Historiographie als Zweig der Redekunst und damit als passender Gegenstand für die Theorie der Rhetorik betrachtet« wurde (White 1996, 101 f., Anm. 7). 579 Ricœur 1996, 125. 580 Rohbeck 2004, 112.
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von Faktum und Fiktion, sondern reinterpretiere nur deren gegenseitiges Verhältnis581. Er verweist in diesem Zusammenhang auf Freuds psychologische Deutung der Tropen im sechsten Kapitel der Traumdeutung über Traumarbeit582 und stellt für den geschichtsphilosophischen Diskurs die Chance einer viel präziseren Differenzierung anhand der genannten figürlichen Strukturen in Aussicht, als dies anhand der traditionellen Trennung von linearer und zyklischer Beschreibung bisher denkbar gewesen sei583. In der Tat scheinen weder die linearen und zyklischen noch die gängigen bio- und ratiomorphen Modelltypen der Geschichtsphilosophie ihrem Gegenstand in erschöpfender Weise gerecht geworden zu sein; sie wirken nicht selten wie ›übergestülpt‹. Die Annahme, Geschichte besitze selbst eine narrative Struktur, hat jedoch zur Konsequenz, Geschichte als ein der Sprache verwandtes Gebilde von ähnlicher Komplexität zu verstehen, das analogen Regeln unterworfen ist. Die Komplexität zeichnete denn auch verantwortlich dafür, daß weder zyklische noch lineare, weder bio- noch ratiomorphe Modelle zur Darstellung geschichtlicher Prozesse bisher ausreichend überzeugt haben. Den historischen Diskurs als eine Art erweiterte Metapher zu begreifen, bedeutet zugleich, der Komplexität des Phänomens Rechnung zu tragen; die Komplexität der sprachlichen Struktur, die der Produktion einer Metapher vorausgesetzt ist, gründet in demselben Sachverhalt, den Freud in bezug auf die Elemente des Trauminhalts ›Überdeterminierung‹ genannt hat584 und der nach Lacan den Gebilden des Unbewußten grundsätzlich zueigen ist585. An »Knotenpunkte[n]« von Assoziationsketten vollzieht sich laut Freud in der Traumarbeit die Verdichtung586 – die Verdichtung aber ist, mit Lacan gesprochen, »jene Struktur der Überlagerung von Signantien, wo die Metapher ihr Feld hat.«587 Die Metapher entspricht für Lacan der Verdichtung, die Metonymie 581 582 583 584
White 1996, 89. White 1996, 103 f., Anm. 18. Siehe u. a. auch White 1991, 574. White 1996, 81. GW II/III, 289. Gleichwohl wird auch die Sprache dem Phänomen der Überdeterminiertheit nur teilweise gerecht, vgl. das Kapitel Freud als Schriftsteller : Von den Fallgeschichten zur Theoriebildung im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit. 585 Laplanche/Pontalis 1972, 546. Im Gegensatz zum Unbewußten möchte das Bewußtsein »immer Bewußtsein von etwas ›Bestimmtem‹ sein, nur hier im Felde der Eindeutigkeit fühlt es sich zu Hause.« (Lang, Hermann, 1973: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt/M., 242). 586 GW II/III, 289 (Hervorhebung im Original). Verdichtung und Verschiebung sind jedoch Mechanismen nicht nur der Traumarbeit allein, sondern sie stellen vielmehr »Grund- und Steuerungsmechanismen des sogenannten Primärvorgangs« dar und »strukturieren« folglich auch »Symptome, […] Fehlhandlungen, Perversionen […] und Witz« (Lang 1973, 238). 587 Zit. nach Lang 1973, 238 Anm. 10. Die Metapher ist überdies »ausgezeichnete[r] Modus der Beziehung zwischen bewußter und unbewußter Rede«, also gleichsam am Schnittpunkt beider Bereiche angesiedelt (ebd., 244).
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der Verschiebung – die Sprache selbst hat eine »metonymale Struktur«, »die Lacan im Anschluß an den Phonologen Jakobson als Kontiguität, Verbindung zwischen den Sprachelementen überhaupt versteht.« Die Sprache habe gleichsam gleitenden Charakter, und es sei die Eigenschaft »der Verschiebung als ureigenstem Mittel des Unbewußten«, die Zensur überwinden zu können, die es ermögliche, »zwischen den Zeilen zu lesen«588. Geschichte ist kein eindimensionaler Prozeß, und so muß auch der um die Deutung geschichtlicher Prozesse bemühte Historiker demnach zwischen den Zeilen lesen können. Der historiographische Text als Art der Darstellung ist, wie der Text der fiktionalen Literatur, eine Form der Verdichtung und muß nach White auch mit den gleichen Methoden wie der literarisch-fiktionale Text untersucht werden. Die Überdeterminiertheit hat ihrerseits zur Folge, daß es nicht die eine einzig gültige Interpretation des Vergangenen gibt. Die Form hat erklärende Funktion, dies legitimiert den Ansatz Whites zunächst, die literarischen Strukturen in der Historiographie aufzudecken. Was bei der alleinigen Konzentration auf die Form aber geradezu zwingend vernachlässigt wird, ist die Problematik des Stoffes. Letztlich hängt es vom Stoff und nicht von der Form ab, ob Faktisches oder Fiktives erzählt wird, im Stoff also liegt der Unterschied zwischen an Fakten orientierter Geschichtsschreibung und fiktionaler Literatur. Die Bedeutung der Form stößt hier an ihre gewissermaßen natürlichen Grenzen, und »die Bedeutung eines historischen Ereignisses« ist nicht reduzierbar auf – letztlich willkürliche – Zuweisungen durch die »Einbettung in eine Geschichte«589. Dennoch bleibt vor allem Whites Hinweis auf die tropologischen Strukturmodelle und ihre Analogien im psychoanalytischen Primärvorgang, worin White sich im übrigen mit Lacan berührt, für den jüngeren geschichtsphilosophischen Diskurs richtungweisend. Anthropologie 1.3.16 Ein ›Antipode‹ der Geschichtsphilosophie: Die Anthropologie »Wir sollten uns nicht so weit überheben, daß wir das ursprünglich Animalische unserer Natur völlig vernachlässigen, dürfen auch nicht daran vergessen, daß die Glücksbefriedigung des einzelnen nicht aus den Zielen unserer Kultur gestrichen werden kann.«590 588 Lang 1973, 237 f. 589 Bode, Christoph, 2005: Der Roman. Eine Einführung. (UTB, 2580). Tübingen/Basel, 306: »Hayden White hatte im Hinblick auf Historiographie festgehalten, dass die Bedeutung eines historischen Ereignisses nicht in ihm selbst liege, sondern ihm zugeschrieben werde durch seine Einbettung in eine Geschichte, […] so dass die vorab gewählte Form der Erzählung die Bedeutung des Ereignisses diktiere […].« 590 Über Psychoanalyse, GW VIII, 59.
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Wenn gleich zwei der prominentesten, sonst aber voneinander unabhängigen Kritiker der Geschichtsphilosophie im späteren 19. Jahrhundert, sowohl nämlich Jacob Burckhardt als auch Wilhelm Dilthey, der von ihnen kritisierten Geschichtsphilosophie als alternatives fundamentum inconcussum der Geschichtsbetrachtung die immergleiche, unveränderliche Natur des Menschen entgegenhalten, so kann dies leicht darüber hinweg täuschen, daß heute wie damals kaum etwas so sehr zur Diskussion, ja in Frage steht wie eine solche unveränderliche Menschennatur. Die Natur oder auch das ›Wesen‹ des Menschen zu erfassen, hat sich die Anthropologie zur Aufgabe gesetzt; sie wird dort besonders aktuell, wo der Mensch sich nicht mehr in eine gottgegebene Ordnung eingebettet weiß, er sich also über sein ›Wesen‹ unsicher geworden und die sich daran anschließende Frage nicht mehr leicht zu beantworten ist. Der Begriff wird so erstmalig geprägt im Zuge einer Entwicklung, die im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit philosophiegeschichtlich eine »Wende zum Menschen«, schließlich eine »Wende zum Subjekt«591 vollzieht: Magnus Hundt ist 1501 der erste, der seiner Wissenschaft vom Menschen den Namen Anthropologie gibt592. Wirkmächtig wird eine Anthropologie genannte Theorie jedoch erst mit einer weiteren geistesgeschichtlichen »Wende«, die Odo Marquard im Rückgriff auf Husserl als »Wende zur Lebenswelt« bezeichnet hat: Die Abwendung »einerseits von der ›traditionellen Schulmetaphysik‹, andererseits von der ›mathematischen Naturwissenschaft‹« ermöglicht seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine philosophische Theorie des Menschen, die durch eine dritte Wende – nämlich eine solche »zur Natur« als »Abkehr von der Geschichtsphilosophie« – »fundamental wird«593. Zwischen der Philosophie der Geschichte und der Philosophie einer tendenziell unhistorischen Menschennatur scheint ein Ausschließlichkeitsverhältnis zu bestehen, das beide zu Antipoden macht; geschichtliche Veränderung, potenziert noch durch ein proklamiertes ›Ziel‹ von Geschichte, und unveränderliche menschliche Universalien liegen dabei im Widerstreit. Gleichwohl sind beide Philosophien aufeinander angewiesen, denn die geschichtliche Deutung des Menschen benötigt zur Orientierung ein bestimmtes Menschenbild, die Anthropologie muß ihrerseits in hinreichendem Maße den Menschen nicht nur synchron, sondern auch diachron, in seiner Geschichte, begreifen594. 591 Witteriede, Heinz, 2009: Eine Einführung in die Philosophische Anthropologie. Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen. Frankfurt/M. u. a., 11. 592 Marquard 1965, 211 sowie 225, Anm. 15. Freilich lassen sich spezifische ›Bilder vom Menschen‹ auch schon für frühere Zeiten und Autoren – so beispielsweise für die Denker des griechischen Altertums – ausmachen; eine begriffsgeschichtliche Untersuchung aber beginnt frühestens mit der Neuzeit (ebd. 210). 593 Marquard 1965, 211 (Hervorhebung im Original). 594 Gamm 2001a, 15 sowie Marquard 1982, 27 – 29. (Marquards eigene anthropologische
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Wie es ferner verschiedene Theorien über das ›Wesen‹ der Geschichte gibt, so gibt es umgekehrt auch unterschiedliche Ansätze zur Bestimmung des Wesens des Menschen: Neben philosophischen existieren vor allem biologische sowie Sozial- und Kulturanthropologien595. Zunächst etabliert sich im 18. Jahrhundert die biologische als »somatisch-physische Anthropologie«. Sie versucht durch »[z]oologische und medizinische Erforschungen der menschlichen Anatomie« »empirische Universalien« zu bestimmen596. Diese Konzentration auf äußere Aspekte nennt Kant in seiner 1798 erschienenen Vorlesungsveröffentlichung Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die »physiologische« in Abgrenzung zur »pragmatischen« d.i. philosophischen Menschenkenntnis – letztere muß das empirisch gewonnene Wissen in bezug auf einen wesenhaften Sinn interpretieren, also nicht nur berücksichtigen, »was die Natur aus dem Menschen«, sondern auch, was der Mensch »aus sich selber macht«. Das selbstreflexive Moment, das die Ergebnisse anthropologischer Forschung erkenntniskritisch – nämlich durch Rückführung auf das erkennende Subjekt und seine Prämissen selbst – beurteilt, begreift diese Ergebnisse nicht als determinierend für menschliches Handeln; der Mensch kann ›trotz‹ seiner Natur immer noch genügend ›aus sich selber machen‹. Denn neben den im weitesten Sinne körperlichen Aspekten menschlicher Existenz, denen die Naturwissenschaften ihre Aufmerksamkeit widmen, bestehen zugleich die inneren oder geistigen, die nicht in das Aufgabengebiet der Naturwissenschaften fallen, das ›Wesen‹ des Menschen aber nicht minder bestimmen597. Im deutschsprachigen Raum freilich sind die biologischen Anthropologien, die sich vor allem am »Evolutions- und Selektionsmodell« Darwins und an der Genetik orientieren, bis ins 20. Jahr-
Antwort ist die Theorie des homo compensator: Marquard, Odo, 2000: Philosophie des Stattdessen. Studien. (Universal-Bibliothek, 18049). Stuttgart). Hierzu ferner auch ein Zitat aus dem Vorwort zum zweiten Discours Rousseaus: »Gerade diese Unkenntnis der Natur des Menschen bringt soviel Unsicherheit und Dunkelheit in die rechte Definition des Naturrechts.« (Rousseau 1995, 69) Hier verdichten sich – bezeichnenderweise zur Zeit der Aufklärung, die das traditionelle Menschenbild ins Wanken bringt und als divergierende Antworten Geschichtsphilosophie und Anthropologie gebiert – die Unsicherheit des neuzeitlichen Menschen über sein eigentliches Wesen wie auch die sich daran anschließende, oben geschilderte Problematik für die geschichtliche Interpretation des Menschen. 595 Dressel, Gert, 1996: Historische Anthropologie. Eine Einführung. Wien u. a., 29 – 48. Auf die sich seit den 1990er Jahren formierende Historische Anthropologie soll am Schluß des Kapitels näher eingegangen werden. 596 Witteriede 2009, 12. 597 Kant, Immanuel, 1964 f: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders. 1964: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. (Werke in sechs Bänden, 6). Darmstadt, 395 – 690 (hier : 399; Hervorhebung im Original) sowie Habermas, Jürgen, 1958: Artikel »Anthropologie«. In: Diemer, Alwin/Frenzel, Ivo (Hgg.), 1958: Philosophie. Mit einer Einleitung von Helmuth Plessner. (Das Fischer-Lexikon, 11). Frankfurt/M., 18 – 35 (hier : 19).
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hundert hinein tonangebend598. Umstritten sind sie heutzutage u. a. aufgrund ihrer für rassistische Ideologien bedeutsam gewordenen rassen- und sozialtypologischen Systematisierungen, die auch »Hierarchisierungen« von biologisch »höherwertigen und minderwertigen Rassen« begründeten. Gleichzeitig kann nicht in Abrede gestellt werden, daß die biologischen Anthropologien – die sich von rassenanthropologischen Ansätzen mittlerweile größtenteils losgesagt haben – in Form beispielsweise der vergleichenden Verhaltensforschung durch Konrad Lorenz und seinen Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt im 20. Jahrhundert große Fortschritte erzielt haben599. Im angelsächsischen Raum sowie in Frankreich hingegen etablierten sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem Kultur- und Sozialanthropologien; die besonders in den USA einflußreiche cultural anthropology beschäftigt sich mit der ethnologischen Erforschung hauptsächlich primordialer schriftloser Völker im Hinblick auf das menschliche Kulturschaffen in seinen mannigfaltigen Erscheinungen600. »Interdisziplinärer Bezugspunkt« ist dabei häufig die Psychologie und, besonders bei den Boas-Schülerinnen Margaret Mead und Ruth Benedict, die Psychoanalyse601. Im Gegensatz zur amerikanischen cultural anthropology rückt die britische und französische Sozialanthropologie unter dem Einfluß der Soziologie und vor allem der Modelle Durkheims stärker das jeweilige Sozialsystem in den Mittelpunkt und erblickt in der Gesellschaft den wichtigsten Gegenstand ihrer Untersuchung, so vor allem auch in der Funktion sozialer Institutionen und Praktiken. Der strukturalen Sprachwissenschaft verpflichtet sieht sich schließlich das Werk des 2009 verstorbenen Claude L¦viStrauss, der aus dem Vergleich von Verwandtschaftskonstellationen in verschiedenen Kulturen eine für alle Menschen gültige Grundstruktur des ›Menschseins‹ erschlossen hat, die sich dabei nur in unterschiedlicher Form konkret manifestiert602. 598 Dressel 1996, 30 – 36. Zu den wichtigsten Strängen innerhalb der biologischen Anthropologien gehören heute die Ethologie und die Soziobiologie. 599 Dressel 1996, 32 f. Zur Kritik an Eibl-Eibesfeldt ebd., 33 Anm. 13. 600 Witteriede 2009, 15. Vgl. auch die Abgrenzung der Kulturanthropologie von der biologischen Anthropologie durch Marschall (Marschall, Wolfgang, 1990a: Einleitung. In: Ders. (Hg.), 1990: Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Margaret Mead. München, 7 – 17 (hier : 7)): Die Kulturanthropologie beschäftige sich demnach mit Kultur im Sinne von »Vorstellungen, Verhaltensweisen und dere[n] Produkte[n], soweit sie veränderbar sind«; die Bioanthropologie hingegen mit einer »unveränderlichen« Natur des Menschen. 601 Dressel 1996, 48. 602 Witteriede 2009, 15 sowie Dressel 1996, 44 – 46. Die strukturale Anthropologie beschäftigt sich im Anschluß an die strukturale Sprachwissenschaft vor allem mit »unbewußte[n] Gesetzmäßigkeiten«, die menschlichen Handlungen zugrunde liegen: Martin, Jochen, 1994: Der Wandel des Beständigen. Überlegungen zu einer historischen Anthropologie. In: Freiburger Universitätsblätter 33 (126), 35 – 46 (hier: 40; meine Hervorhebung) sowie L¦vi-
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In den 1920er Jahren – nach der Etablierung der biologischen und der Kulturund Sozialanthropologien als wissenschaftliche Disziplinen also – setzte die philosophische Interpretation der Ergebnisse dieser Disziplinen ein; die moderne Philosophische Anthropologie ist ergo wesentlich »eine Reaktion« auf die empirischen Wissenschaften603. Sie kann gedeutet werden als der »Versuch, dem Menschen wieder seine Sonderstellung« in Abgrenzung zu Natur und Tier »zurückzugeben«604 und gleichzeitig den cartesischen Dualismus durch die Erfassung des Menschen als Ganzheit zu überwinden. Max Scheler sieht in der Mannigfaltigkeit der Erklärungsansätze zum Wesen des Menschen vor allem eine tiefe diesbezügliche Verunsicherung, der er eine philosophische Überlegung über [d]ie Stellung des Menschen im Kosmos entgegensetzt. Der Mensch sei wesentlich »Träger« des Geistprinzips und daher der »Neinsagenkönner«, steter Protestant »›gegen alle bloße Wirklichkeit‹« und »Asket des Lebens«; Geist und Leben stehen prinzipiell im Gegensatz zueinander, und der Geist ist es, der den Menschen zum Neinsagen befähigt: Der Mensch ist – ähnlich wie bei Freud – seiner Triebnatur nicht vollkommen unterworfen605, sondern kann sich kraft seines Geistes – den Scheler freilich als ein metaphysisches Prinzip begreift – davon lösen. Der Geist ist ferner das einzige nicht gegenstandsfähige Prinzip, während der Mensch an sich in seiner »Weltoffenheit« zu »vollendeter Sachlichkeit« instand gesetzt ist. Helmuth Plessner entwickelt fast zeitgleich einen anthropologischen Ansatz, der das erkenntnistheoretische a priori und a posteriori integriert, indem er den Menschen als »totalreflexives Ich« begreift, das »sich selbst und alles, was [es] betrifft, bewußt erlebt«. Wie Scheler, der ein Stufenmodell des Lebens vom »Gefühlsdrang« über »Instinkt« und »Gedächtnis« hin zur »praktische[n] Intelligenz« und dem den Menschen vom Tier unterscheidenden Geist entwirft, legt auch Plessner seiner Anthropologie ein Stufenschema zugrunde, das allerdings im Unterschied zu Scheler die Positionsform des Leibes, das Verhältnis von Leib und Umwelt, untersucht. Der Mensch zeichnet sich Plessner zufolge durch seine dreifache Position »als Körper«, »als Leib in diesem Körper« und »als exzentrisch liegender Blickpunkt« aus, »von Strauss, Claude, 1967: Strukturale Anthropologie I. Übersetzt von Hans Naumann. Frankfurt/M. 603 So zumindest Habermas 1958, 20. Daß die Philosophische Anthropologie überdies zu einer Zeit entsteht, in der Troeltsch eine Krise des Historismus konstatiert, mag auf einen generellen Paradigmenwechsel von der historischen zur anthropologischen Betrachtung des Menschen hindeuten. 604 Dressel 1996, 38. 605 Witteriede 2009, 19 f., 27 – 29 bzw. 131 f. (Hervorhebung im Original). Zur Rezeption der Psychoanalyse durch Scheler Marquard 1987, 17: Scheler begreift die Trieblehre Freuds als »›naturalistische‹ Form der ›homo faber-Lehre‹« und weist zugleich die aus der »These vom Menschen als ›Triebwesen‹« resultierende »negative[…] Theorie des Geistes« zurück; er übernimmt freilich die Idee der Sublimierung der Triebe, allerdings ohne dadurch dem Geist seinen besonderen – metaphysischen – Rang abzusprechen.
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dem aus er sich und sein gesamtes Lebenssystem« überschauen und letztlich auch »für seine Zwecke […] instrumentalisieren« kann606. Für »seine exzentrische Stellung« sind »Instinktschwäche, Triebüberschuß und Organprimitivität« kennzeichnend607. Arnold Gehlen schließlich orientiert sich an der empirischen Forschung und deutet den Menschen folglich als Kulturwesen von Natur : In seiner Eigenschaft als Mängelwesen muß sich der Mensch Entlastung verschaffen, die er durch Handlung erreicht. Menschengemachte Institutionen sind demnach (auch in ihren archaischen Ausprägungen) notwendig und wünschenswert. Hier vor allem setzen die gegen Gehlens Theorie vorgebrachten Einwendungen an, denn eine etwaige Kritik an genannten Institutionen sei bei Gehlen von vornherein ausgeschlossen, da eine solche im Widerspruch zum von Gehlen angenommenen Zwang zur Handlung stehe – Gehlens Institutionenlehre erwecke den Anschein, als benötige der Mensch von Natur aus die Repression und eine autoritär organisierte Gesellschaft608. Ferner mißachte Gehlens Ansatz in seiner Konzentration auf das menschliche Einzelwesen die Kategorie der Gruppenbeziehungen und leide an der Nicht-Berücksichtigung der »sozialisa606 Witteriede 2009, 88 f. sowie 131 – 134 (unter Bezugnahme auf Plessner, Helmuth, 1928: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin; Hervorhebungen im Original). Laut Kamper ist Plessner der einzige, »der der philosophischen Anthropologie eine Zukunft dadurch verschaffte, daß er in seinem ›Prinzip der Unergründlichkeit oder der offenen Frage‹ […] die Geschlossenheit jeder naturalistischen Anthropologie ein und für allemal als methodologisch naiv decouvrierte« und »sich expressis verbis gegen eine naturalistische Version von Anthropologie, aber auch gegen eine ausschließlich historische Perspektive wendet« (Kamper, Dietmar, 1973: Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger Anthropologie-Kritik. (Reihe Hanser, 133). München, 42 f.). »›Philosophische Anthropologie‹ als verwirklichte Skepsis (im Sinne Plessners) bzw. die um die Dimension der Geschichtsphilosophie ›ergänzte‹ Naturphilosophie des Menschen (im Sinne Marquardts [sic!]) hätte nichts geringeres zu leisten, als eine Anthropologie des Anthropologie treibenden Menschen bzw. eine Anthropologie der Anthropologien« (ebd., 45). 607 Habermas 1958, 25. 608 Witteriede 2009, 116 (der hier wesentlich die Kritik von Honneth und Joas referiert) und 133 bzw. Habermas 1958, 33 unter Bezugnahme auf Gehlen, Arnold, 1940: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Berlin sowie Gehlen, Arnold, 1956: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Bonn. Ähnlich wie Habermas auch Marquard 1965, 220: »Freilich: diese Anthropologie spricht von Entlastung ›des‹ Menschen, nicht von der ›aller‹ Menschen: sie bringt es zu keiner Theorie gegen ungerechte Verteilung der Entlastungsmittel, zu keiner gegen Unterdrückung. Darum weiß sie zwar zu begründen, warum der Mensch kein Tier ist, nicht aber, warum er kein Unmensch sein dürfe.« Die Kritik an Gehlens Anthropologie ist in gewissem Sinne eine Art von modifizierter Form der Anthropologiekritik Hegels, der seinerseits der Anthropologie bereits vorgeworfen hatte, lediglich das ›Ansich‹ zu berücksichtigen, nicht aber das Moment geschichtlicher Entwicklung des Menschen (Marquard 1965, 217). Ein weiterer Vorwurf gegen Gehlen ist der des Biologismus und der »Geistblindheit«. Auch an der MängelwesenTheorie wurde Kritik geübt, da die »menschliche Unspezialisiertheit« durchaus im Sinne der Evolution sei (Witteriede 2009, 116 f.).
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torische[n] und gattungsgeschichtliche[n] Bedeutung intersubjektiver Handlungsweisen« aufgrund eines einseitig »individualistischen Handlungsmodell[s]«609. Allen drei Vertretern der Philosophischen Anthropologie aber ist letztlich trotz aller Unterschiede zueigen, daß sie beim »Außen« ansetzen, beim »Tier-Mensch-Vergleich« und dem Menschen eine »einzigartige[…] Weltoffenheit« unterstellen, die ihn vom Tier, das »in ein spezifisches Milieu« streng eingepaßt ist, unterscheidet; so besitzt der Mensch letztlich die Fähigkeit der bewußten Distanzierung »von Eigen- und Fremdeinflüssen«610. Seit den 1970er Jahren kann ein Schwinden des Einflusses der im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts wirkmächtigen Philosophischen Anthropologie konstatiert werden, das mit einer stärker werdenden Kritik durch die Gesellschaftstheorie einhergeht. Die traditionelle Kontroverse um natürliche Invarianz und historische Variabilität, um Natur und Geschichte, letztlich um Anlage und Umwelt, wird wieder aktuell611. Einen Vermittlungsversuch zwischen beiden Positionen unternimmt Dietmar Kamper mit seinem Konzept der »anthropologischen Differenz«, die eine »Selbstkritik der Anthropologie« durch die Berücksichtigung der Historizität einer jeden, also auch einer jeden anthropologischen, Erkenntnis ermöglichen soll612. Einen anderen Versuch der Integration anthropologischer und historischer Forschung stellt die relativ junge Disziplin der Historischen Anthropologie dar, die unter dem Einfluß u. a. von Kulturanthropologie, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte und auch der deutschen Philosophischen Anthropologie »kulturübergreifend« »nach menschlichen Grundphänomenen unter dem Gesichtspunkt ihrer Zeitlichkeit, ihrer Veränderbarkeit, ihrer je spezifischen Bedeutung« fragt und die universalen »Herausforderungen an den Menschen«, die »nicht auf eine [bestimmte] Gesellschaft beschränkt sind« (wie beispielsweise Religion, Geschlechtsreife etc.), vergleichend untersucht613.
609 Honneth, Axel/Joas, Hans, 1980: Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften. (Campus Studium, 545: Kritische Sozialwissenschaft). Frankfurt/M./New York, 61. Die Autoren zollen Gehlen trotz ihrer Kritik die Anerkennung, daß »der Sachgehalt seiner Analysen ebenso wie der seiner sozialpsychologischen Gegenwartsdiagnosen oft hoch einzuschätzen« sei (ebd.). 610 Witteriede 2009, 131 – 134. 611 Allgemein hierzu Lepenies, Wolf/Nolte, Helmut, 1971a: Experimentelle Anthropologie und emanzipatorische Praxis. Überlegungen zu Marx und Freud. In: Dies. 1971, 9 – 76 (hier : 27). 612 Kamper 1973, 131 bzw. 133 (Kampers Ergebnisse referierend auch Witteriede 2009, 120 f.). Aktuell wirksame anthropologische Disziplinen, die diese historische Komponente nicht oder nicht ausreichend berücksichtigen, sind nach Witteriede (2009, 17) u. a. die Neurobiologie, Genetik, Verhaltens- und Soziobiologie. 613 Martin 1994, 42 – 46. Zum Begriff der »Herausforderung« vgl. auch das Toynbee-Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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Auch die Freud’sche Psychoanalyse – die vor allem Trieblehre ist – operiert mit einem bestimmten Bild vom Menschen: einem Bild, das vor allem die Geprägtheit »des Menschen durch seine Triebnatur« betont, welche nicht allein »Bedürfnisnatur«, sondern auch – hierin entsprechenden Überlegungen Schelers und Plessners nicht unähnlich – durch »›Überflußtriebe‹ erotischer und aggressiver« Art gekennzeichnet ist614. Die Antriebspotentiale des Menschen sind, im Gegensatz zum Tier, unspezialisiert, »ihre Ziele […] verschiebbar«; der Mensch kommt überdies verhältnismäßig unfertig auf die Welt und ist folglich länger von elterlicher Fürsorge abhängig615. Für Freud hob sich der Mensch also in dem Moment vom Tier ab und schwang sich »über die animalischen Bedingungen der Existenz« empor, als er »eine Sozialisationsagentur« für diesen abhängig-bedrohten Nachwuchs ersann »und instinktgesteuertes Verhalten in kommunikatives Verhalten verwandeln konnte«616. Die psychoanalytische Anthropologie begreift den Menschen ergo nicht – wie es beispielsweise Gehlens Philosophischer Anthropologie zum Vorwurf gemacht wurde – als bloßes Individuum, sondern von vornherein als Gruppenwesen, das sozialer Interaktion und Kommunikation bedarf617; in der Einbeziehung der Gruppenkategorie liegt gewiß eine ihrer zentralen Stärken. »Als Naturbasis der Geschichte« erkennt Freud die überschießenden und unspezialisierten menschlichen Antriebspotentiale und deren »Kanalisierung«618. Dabei macht er zugleich in der »Übermacht der Natur«, der Unzulänglichkeit des Körpers und dem Mißverhältnis
614 Marquard 1987, 225 (Hervorhebung im Original). 615 Habermas 1958, 26 f. Diese anthropologischen Grundannahmen decken sich mit den entsprechenden Ergebnissen der biologischen Forschung schon der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Habermas 1958, 25 – 27, der dort zwar nicht auf die Psychoanalyse, wohl aber auf die biologische Anthropologie unter Bezugnahme auf Forschungsresultate u. a. des Anatomen Bolk und des Zoologen Portmann eingeht). Freud wird seine wichtigsten Anregungen für ein biologisch gefärbtes Bild vom ›Wesen‹ des Menschen vermutlich schon im Medizinstudium erhalten haben. Eine direkte bioanthropologische Auseinandersetzung mit der Trieblehre Freuds bildet übrigens Konrad Lorenz’ Schrift Das sogenannte Böse (Lorenz, Konrad, 1963: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien). 616 Habermas 1968, 342. Bei aller späteren Distanzierung von unterschiedlichen Aspekten seiner Schrift (beispielsweise von der dort vorgenommenen Interpretation der Genese gesellschaftlicher Institutionen vornehmlich aus verzerrter Kommunikation) betont Habermas, daß er auch drei Jahrzehnte nach deren Veröffentlichung noch an seiner »kommunikationstheoretischen Deutung der Psychoanalyse« festhält (Habermas, Jürgen, 2000: Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse. In: Müller-Doohm, Stefan (Hg.), 2000: Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit Erkenntnis und Interesse. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1464). Frankfurt/M., 12 – 20 (hier : 14 – 18)). 617 Siehe hierzu u. a. Zur Einführung des Narzißmus, GW X, 143: »Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist.« 618 Habermas 1968, 342 f.
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zwischen Trieben und Vernunft ›natürliche Leidensquellen‹ aus619 ; »die äußere reale Not« sei überdies der »Hauptmotor der Kulturentwicklung«620. Die Kanalisierung der überschießenden Antriebspotentiale finde auf dem Wege der Sublimierung und des zunehmenden Triebverzichtes statt; der Triebverzicht sei notwendig für das menschliche Zusammenleben und »innerhalb der Kultur nicht aufhebbar«. Wandelbar allein ist Freud zufolge der Grad des Triebverzichts, weshalb er sich für eine diesbezügliche Liberalisierung einsetzt621. Die Triebtheorie hat infolge ihres unhistorischen Charakters, ihrer Nähe zur unveränderliche und unumstößliche natürliche Gesetzmäßigkeiten zementierenden biologischen Anthropologie die Kritik der emanzipatorischen »Geschichts- und Gesellschaftsauffassung« der Nachkriegsjahrzehnte auf sich gezogen622 ; das emanzipatorische Potential der Aufdeckung verzerrter Kommunikation durch die Psychoanalyse steht demnach im Mißverhältnis zur konservativen Triebtheorie. Namentlich von Habermas wurde für diesen auffälligen Widerspruch eine grundlegende »Zwiespältigkeit des Freudschen Erkenntnisinteresses« verantwortlich gemacht, das sich nicht allein aus »einem kritischemanzipatorischen«, sondern auch aus einem »positivistisch-konservativen« Anteil konstituiere; Wolf Lepenies und Helmut Nolte zufolge zieht Habermas allerdings »die Trennungslinie zwischen positivistischer Metapsychologie und emanzipatorischer Gesellschaftstheorie […] zu scharf«623. Für eine Vermittlung zwischen Unhistorischem und Historischem bietet sich möglicherweise auch in der Psychoanalyse, und zumal in der psychoanalytischen Kulturtheorie, die gleiche Konzeption an, die in der Historischen Anthropologie zur Anwendung kommt: die Untersuchung universaler Herausforderungen – unter die man elementar auch die Triebnatur des Menschen rechnen kann – in ihrem historischen Wandel. Zu erörtern, ob Triebe und Unbewußtes selbst tatsächlich wesentlich ungeschichtlich d.i. geschichtlich unveränderbar sind, soll hier nicht Aufgabe sein. Unfraglich aber ist der Umgang des Menschen mit seiner Triebnatur – genauer : die Kanalisierung der Überflußtriebe – eines der kulturübergreifenden menschlichen Grundphänomene, die, um eine oben bereits zitierte Formulierung Jochen Martins wieder aufzugreifen, »unter dem Gesichtspunkt ihrer Zeitlichkeit, ihrer Veränderbarkeit, ihrer je spezifischen Bedeutung« hinterfragt werden können. Indem man also so in gewissem Grade auch die Triebtheorie historisiert, darüber hinaus das Verhältnis von Ich, Es und Über619 620 621 622
GW XIV, 433 – 35, 437 f. und 444. GW XIII, 424. Vgl. das Plato-Kapitel der vorliegenden Arbeit. Waibl 1980, 73. Lepenies/Nolte 1971a, 30 unter Bezugnahme auf Marcuse. Zeitgleich vollzog sich auch innerhalb der Psychoanalyse selbst ein Paradigmenwechsel von der Trieb- hin zur Objektbeziehungstheorie (Ermann 2010, 16 f.). 623 Lepenies/Nolte 1971a, 72 Anm. 97.
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Ich in seinem geschichtlichen Wandel und seinen unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen historisch und vergleichend erforscht, ist eine zwischen Anthropologie und ›Geschichtsphilosophie‹ im weiteren Sinne vermittelnde psychoanalytische Theorie der Kultur denkbar624. Grundsätzlich verdankt die Psychoanalyse ihrer »Sonderstellung« – einer Position zwischen, vereinfacht gesagt, dem Außen der Erfahrungswelt und dem Innen des seelischen Apparats – eine unvergleichliche Komplexität ihrer Theoreme, die sich für eine historische Betrachtung des Kulturwesens von Natur als überaus fruchtbar erweisen könnte625.
1.4
Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie und nach Freud: Zusammenfassende Überlegungen
»Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.«626
Eine Geschichte der Geschichtserzählungen ist zugleich eine Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses, der Ängste, Hoffnungen und Wünsche. Der Geist einer Zeit kommt vielleicht nirgendwo plastischer zum Ausdruck als in der zugehörigen Geschichtserzählung. Letztere ist ein Gradmesser für die seelische Verfaßtheit eines Zeitalters. Alle Kulturen sind dabei vertraut mit zyklischen und linearen Zeiterfahrungen; archaische Kulturen freilich sind durch eine Dominanz der zyklischen geprägt. Die historische Bedeutungszunahme des linearen Geschichtsverständnisses dagegen meint man recht genau begründen sowie zeitlich einordnen zu können: Übervölkerungen, Migrationen und vor allem die ethnischen Verschiebungen seit dem Ende des fünften vorchristlichen Jahr624 Vgl. auch das Elias-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 625 Grubrich-Simitis weist ferner darauf hin, daß gerade die vielfach kritisierte Metapsychologie Freuds der Versuch gewesen sei, die ebenso »spannungsreiche wie produktive Sonderstellung der Psychoanalyse im Verhälnis zur Physiologie bzw. zu den Neurowissenschaften«, nicht zuletzt der Biologie »einerseits und zu Psychologie und Soziologie andererseits zu markieren« (Grubrich-Simitis 1993, 352). Grubrich-Simitis plädiert, unter Bezugnahme auf Überlegungen Alfred Lorenzers zum prinzipiellen »Doppelcharakter« der Psychoanalyse (Lorenzer, Alfred, 1984: Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse. Frankfurt/M.), für eine stärkere Berücksichtigung der naturwissenschaftlichen Quellen der Psychoanalyse. Freuds Definition der »Libido« als »Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann« – und womit er ausdrücklich nicht nur die geschlechtliche, sondern auch »die Selbstliebe, anderseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freundschaft und die allgemeine Menschenliebe« (GW XIII, 98) usf. bezeichnet, gibt ferner Anlaß zu der Hypothese, daß die triebtheoretische Metapsychologie zu dem jüngeren Paradigma der Objektbeziehungstheorie und seiner Betonung emotionaler Bedürfnisse des Kindes durchaus nicht im Widerspruch stehen muß. 626 Hegel 1986, 49.
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tausends bedingten demnach die Entstehung eines linearen Geschichtsbewußtseins als Wandlungsbewußtsein im Bereich der frühen Hochkulturen627. Die genannten Gründe für diese Entwicklung darf man psychologisch gewiß als traumatische Erfahrungen begreifen628 ; und die seelische Reaktion auf »traumatische Situation[en]«, auf ein »nicht zu bewältigendes Anfluten zu zahlreicher und intensiver Reize« sowohl innerer als auch äußerer Herkunft, ist die Angst629. Die Angst ihrerseits führt zu einer Verschärfung des Bewußtseins. Die Erfindung der Schrift, vielleicht beredtster Ausdruck eines erstarkten Bewußtseins, legt davon Zeugnis ab, und das Horkheimer/Adorno’sche Diktum von der »Aufklärung« als »radikal gewordene[r], mythische[r] Angst«630 erfährt so eine gewisse Bestätigung. Zugleich werden die verstörenden neuen Situationsanforderungen durchaus nicht eigentlich ›bewältigt‹; das Wissen um das Unerledigt-, das Unabgegoltensein läßt mit der Angst ebenso das Gefühl der Schuld größer werden. Auch am Ende der Bronzezeit sind es ethnische Verschiebungen, die ein wiederum verstärktes Geschichtsbewußtsein hervorrufen631; es folgt die Achsenzeit und mit ihr eine neue Form der Verdichtung von Heilserwartungen, als welche man den Monotheismus deuten kann: Die Große Erzählung verkündet freilich noch ein diesseitiges Heil, zudem begrenzt auf das Volk Israel. Die traumatische Erfahrung des Kreuzestods Christi, des vermeintlichen messianischen Heilsbringers, aber bewirkt eine Verschiebung der Heilserwartung auf Jenseitiges; außerdem ist das Heil nun ein vergleichsweise universelles, nicht länger beschränkt auf ein bestimmtes Volk. In Augustinus wird diese Große Erzählung kanonisch für ein ganzes Jahrtausend632. 627 Vgl. das Kapitel Geschichte und Geschichtskultur mit den dortigen Literaturhinweisen. 628 Ich verwende den Begriff der kollektiven traumatischen Erfahrung hier im gleichen Sinne wie Jan Assmann in bezug auf das (ebenfalls kollektive) »Trauma« der »Zerstörung Jerusalems und [der] babylonische[n] Gefangenschaft«, das zu einer »posttraumatischen Geschichtsverarbeitung« in Gestalt der biblischen Erzählung geführt habe (Assmann 2004, 13 f.). Ähnlich auch Assmann, Jan, 2006a: Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939 [1934 – 38]). In: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006: FreudHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, 181 – 187 (hier : 187; vgl. auch das dem Freud’schen Mose-Essay gewidmete Kapitel im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit). 629 Laplanche/Pontalis 1972, 64 unter Bezugnahme auf Hemmung, Symptom und Angst (GW XIV, 111 – 205). Zur Entwicklung der Angst-Theorie Freuds ferner auch Nagera, Humberto (Hg.), 1976: Psychoanalytische Grundbegriffe. Eine Einführung in Sigmund Freuds Terminologie und Theoriebildung. Übersetzt von Friedhelm Herborth. (Fischer-Taschenbücher, 6331). Frankfurt/M., 442 – 444. 630 Horkheimer/Adorno 1987, 38 sowie das beiden Autoren gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit. 631 Ethnische Verschiebungen, die mit dem bereits im Kapitel Geschichte und Geschichtskultur thematisierten Zusammenbruch der bronzezeitlichen Kulturen einhergingen (vgl. das genannte Kapitel mit den dortigen Literaturhinweisen). 632 Joachim von Fiore allerdings bildet im 12. Jahrhundert mit seiner Einführung einer wei-
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Erst mit der Neuzeit erscheint Geschichte nicht mehr als gott-, sondern menschengemacht – und wenn nicht länger Gott die Geschicke der Welt lenkt, stellt sich plötzlich die Frage nach der Mach- und Planbarkeit, in der Folge allerdings auch nach der Kontingenz der Geschichte633. Zunächst einmal wird in der Aufklärung eine Art ›Kassensturz‹ vorgenommen: Voltaire läutet die Epoche der eigentlichen »philosophie de l’histoire« ein, indem er die bisherige Geschichte sinngemäß als eine der Psychopathologie deutet. Folgerichtig sieht er die Aufgabe des Historikers in der Entzerrung des irrational Verstellten – und schreibt ihm also gewissermaßen eine ähnliche Rolle zu wie die Psychoanalyse dem Analytiker. Der Historiker der Aufklärung muß die Geschichte nachträglich ›durcharbeiten‹ und erscheint als Repräsentant jenes Prinzips, das die Psychoanalyse später »Sekundärvorgang« nennt. Nicht Gottes unergründlicher Ratschluß ist die treibende Kraft der Geschichte; vielmehr kann selbige mithilfe menschlichen Erkennens sinnhaft gedeutet werden. Die Säkularisierung des Weltbildes bedingt daneben eine Verschiebung der Heilserwartung vom Jenseits ins Diesseits; das erstarkte Bewußtsein eines historischen Wandels, die zunehmende Beherrschung der Naturkräfte suggeriert eine Zielgerichtetheit des historischen Verlaufs, der in einer Art begrifflicher Verdichtung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Kollektivsingular verbalisiert wird, und weckt Begehrlichkeiten, Hoffnungen und Wünsche der Machbarkeit, die in der »Verzeitlichung der Utopie« ihren plastischen Ausdruck finden634. Die Ermächtigung des Subjekts und die sich vermindernde Angst vor den beherrschbar gewordenen Naturkräften – eine Angst, die möglicherweise ihrerseits schon eine Projektion gewesen sein mag – führt allerdings nicht zur Angstlosigkeit; im Gegenteil verschiebt sich die Angst und wird nun zu einer Angst vor der Nicht-Beherrschbarkeit der Geschichte. »Die Geschichtsphilosophie von Kant über Schelling bis zu Hegel und Marx« kann man auch als »Reaktionsbildung« auf diese neuartige »Angst in der Geschichte« interpretieren635. Sie wird in gewiß nicht unerheblicher Weise genährt durch die zahlreichen Ernüchterungen und Enttäuschungen, die die zeitgenössische Geschichte bereithält: Dem Umschlagen der Französischen Revolution in eine Herrschaft des Schreckens käme dabei teren, irdischen Heilszeit ein wichtiges Bindeglied zwischen der auf Jenseitiges gerichteten Heilserwartung und der in der Aufklärung scheinbar schon im Diesseits verwirklichten oder doch zum Greifen nahe scheinenden Glückseligkeit. 633 Damit geht die beginnende »Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung« parallel, die Koselleck beschrieben hat (Koselleck 1995, 359). 634 Lübbe 1993, 27 mit Bezug auf eine Formulierung Kosellecks. Übrigens ist es von sekundärer Bedeutung, ob man der Geschichte einen zivilisatorischen und sittlichen Fortschritt oder wie Rousseau einen Verfallsprozeß unterstellt – Hoffnungen auf eine Besserung der Verhältnisse können in beiden Fällen entstehen. 635 So zumindest Kittsteiner 2004, 71 sowie Ders., 1991: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt/M./Leipzig, 31 – 100.
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die Bedeutung eines Fanals zu, das nicht nur den aufklärerischen Fortschrittsenthusiasmus, sondern jegliche philosophische Zukunftshoffnung infragestellt636. Allerdings weckt jede Enttäuschung neue Wünsche, und je größer die mit ihr korrelierte Angst, desto größer mitunter die sich auf ihrem Boden bildenden Allmachtsphantasien637. Der zentralen Enttäuschung durch den Verlauf der Französischen Revolution folgen weitere, namentlich durch die Restauration und mehr oder weniger gescheiterte zeitgenössische Revolutionen638 hervorgerufene, die den Gegensatz zwischen dem bewußt Intendierten und dem von bewußten Zielen unabhängigen Tatsächlichen, zwischen Bewußtem und NichtBewußtem, ja letztlich die Existenz eines Unbewußten überhaupt immer deutlicher hervortreten lassen und eine Krise der teleologischen Geschichtsphilosophie heraufbeschwören639. Deutlich zu spüren ist die Ernüchterung bei Schopenhauer, dessen »Trieb-Welt ohne Ziel« prinzipiell freilich Hegels Weltgeist gleicht, »von dem das Telos abgezogen wurde«640. Hartmanns Philosophie des »Unbewußten« ist dagegen eine späte Bemühung, der allgemeinen Resignation durch eine teleologische Zähmung des Unverfügbaren zu begegnen641; dem nachsommerlichen Fatalismus des Jahrhunderts, der im deutlichen Kontrast steht zum Enthusiasmus des vorangegangenen 18., tut dies jedoch keinen 636 So auch Hans Michael Baumgartner, demzufolge die gemeingültige Macht der Vernunft bzw. der Fortschrittsoptimismus sich schon unter dem Eindruck der Französischen Revolution erstmals infrage gestellt sieht. Hegel unterscheidet sich vom frühen Schelling nicht zuletzt durch seine auch das Verfallsmoment berücksichtigende Dialektik (siehe das HegelKapitel der vorliegenden Arbeit), während sich bei Schopenhauer bereits die »Wiederkehr der Idee der Natur« ankündigt, die im Naturalismus des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht (Baumgartner 1996, 168 f.). 637 Kittsteiner nimmt das 1795/96 – also unmittelbar nach der Terrorphase der Französischen Revolution – entstandene Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus zum Anlaß, die darin formulierte Ambition »mit einer alloplastischen psychotischen Reaktion zu vergleichen« und interpretiert »die ganze Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus« als »gewaltsame[n] Versuch zur Umdeutung der Welt und ihrer Geschichte nach Maßgabe des seine Freiheit einfordernden Ichs« (Kittsteiner 2004, 71 f.; Hervorhebung im Original). Auch Marx mit seiner Absolutsetzung geschichtsphilosophischer Leitbilder (Angehrn 1991, 111 sowie das Marx-Kapitel der vorliegenden Arbeit) dürfte man dann folgerichtig solche Allmachtsphantasien unterstellen. 638 Natürlich sind die zeitgenössischen Revolutionen – vor allem die des Jahres 1830 – nicht rundweg ›gescheitert‹. Dennoch darf man im Hinblick auf ihre psychologische Wirkung sicher annehmen, daß viele der mit ihnen verbundenen Hoffnungen und Wünsche sich nicht zur Gänze erfüllt haben und ihr Ergebnis von nicht wenigen als Enttäuschung erlebt wurde, so insbesondere im Falle der Märzrevolution. 639 Kittsteiner bringt das Hervortreten der »Nicht-Verfügbarkeit des Geschehens, d[es] Unbewußte[n] in der Geschichte« (Kittsteiner 2004, 72, Hervorhebung im Original) hingegen nicht mit den zeitgenössischen Revolutionen, sondern mit den Denksystemen Schellings, Schopenhauers und Nietzsches in Zusammenhang (ebd.). 640 Kittsteiner 2004, 63. 641 Kittsteiner 2004, 72.
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Abbruch. Die Erfahrung, einem unbeherrschbaren Prozeß – nämlich der Geschichte – unterworfen zu sein, bedingt eine Verschiebung des Fortschrittsglaubens von der moralischen Läuterung in der Geschichte zur größer werdenden technischen Beherrschung der Natur642. Zugleich soll die empirische Methode endlich die Sicherheit geben, die alle trügerischen Glücksverheißungen nicht zu geben imstande waren; die Professionalisierung der Wissenschaften ist somit auch eine Antwort auf die Angst vor der eigenen Ohnmacht. Abgesichertes, überprüfbares Wissen hingegen erscheint als die Macht, nach der das sich als machtlos erlebende Subjekt dürstet. Bezeichnenderweise wird nun nicht nur die Natur, sondern auch die Geschichte durch eine wissenschaftliche Methodologie gebändigt. Psychologie ist dabei die Antwort, die Historismus, Lebensphilosophie und sogar die Experimente eines von Brücke und Helmholtz geprägten jungen Wiener Nervenarztes gemeinsam finden. Ob das Erlebnis als Dreh- und Angelpunkt historischer Erkenntnis, die Historie als im Dienste des Lebens stehend oder die individuelle Lebensgeschichte als verantwortlich für Pathologien begriffen wird: Das Leben hat wie die Geschichte eine psychologische Wurzel, Geschichte ist eigentlich eine Geschichte der Seele. Das 20. Jahrhundert traut sich angesichts einer zunehmenden »realen […] Vereinheitlichung der Welt« wieder universalhistorische Analysen zu, allerdings ohne »den Leitfaden« der »klassischen Ideale von Freiheit und Vernunft«. Die neuen gesamtgeschichtlichen Entwürfe gleichen einer durch die Erfahrung der Ernüchterung und der Unverfügbarkeit des Historischen hindurchgegangenen Geschichtsphilosophie, die nicht nur verstärkt komparatistisch vorgeht643, sondern nunmehr auch das Moment des Unbewußten berücksichtigt: Weber, Toynbee und auch der nach Droysen und Dilthey dritte bedeutende Vertreter des Historismus, Ernst Troeltsch, behandeln jetzt teilweise sogar ganz explizit ein gesellschaftlich und historisch wirksames Unbewußtes. (Der Psychoanalyse freilich bleibt es vorbehalten, auch eine Theorie des Unbewußten zu formulieren.) Norbert Elias schließlich verbindet Elemente psychoanalytischer Zivilisationstheorie mit einer soziologischen Analyse des konkreten historischen Materials; er überwindet zugleich den Gegensatz von Gesellschaft und Individuum, indem er die Geschichte als Interdependenzgeflecht interpretiert. Die Unverfügbarkeit, das ›Unbewußte‹ der Historie scheint zunehmend analysierbare Strukturen erkennen zu lassen644. Andererseits macht sich das Unbewußte gleichzeitig auch ganz real be-
642 Kittsteiner gibt freilich zu bedenken, daß die Erfahrung »des Unterworfenseins unter einen nicht verfügbaren Prozeß« vom homo faber »vor dem Hintergrund seiner wachsenden technischen Kompetenz nur desto schmerzlicher erfahren wird« (Kittsteiner 2004, 72 f.). 643 Angehrn 1991, 162 f. 644 Vgl. die den jeweiligen Autoren gewidmeten Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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merkbar : Die moderne Nervosität am Vorabend des Ersten Weltkriegs645 mag man als die altbekannte Angst vor dem Unbewußten identifizieren, das sich im Krieg als Affekt tatsächlich entäußert. Diese traumatische Erfahrung verstärkt den Wunsch nach Kontrollierbarkeit der Geschichte; die in den neumarxistischen Strömungen der Zwischenkriegszeit unternommenen Versuche einer Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse resultieren möglicherweise aus genau dieser Sehnsucht, die unbewußte Geschichte abzuschaffen, den unverfügbaren Geschichtsprozeß endlich verfügbar zu machen. Ebenso »die naturalisierte Geschichtsphilosophie«, die an die Stelle von Klassenkämpfen Rassenkämpfe setzt646 und frei nach Joachim von Fiore ein ›Drittes Reich‹647 als irdische Heilszeit für die Angehörigen der siegreichen Rasse verkündet, hat aller Wahrscheinlichkeit nach ganz ähnliche Motive. Wegbereiter der etwa eine Generation nach der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs folgenden zweiten, noch verheerenderen Katastrophe sind im übrigen maßgeblich Geschichtsphilosophien: Die genannte naturalisierte Geschichtsphilosophie zeichnet verantwortlich für den größten Krieg und den schlimmsten Genozid der Geschichte. Daß aber auch die in der Tradition Marxens stehende Geschichtsphilosophie im Stalinismus eine unerhörte Pervertierung erfährt, läßt die Enttäuschung so fundamental werden, daß manche Denker ihr nur durch eine negative Geschichtsphilosophie Ausdruck verleihen können. Andere wiederum diagnostizieren ein generelles »Elend des Historizismus« und analysieren den Wunsch nach Planbarkeit der Geschichte und vor allem der Zukunft sowie den daraus resultierenden (Wunsch)glauben an allgemeine Gesetze in der Geschichte als entscheidenden Faktor bei der Umformung »einer offenen in eine geschlossene Gesellschaft« und als Unterpfand des Totalitarismus648. Wieder andere sehen in der Enttäuschung über das Scheitern von Aufklärung, Marxismus, Fort645 Vgl. hierzu auch Winkler, Heinrich A., 2009: Geschichte des Westens. Bd. 1: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München, 1151. Hannah Arendt charakterisiert dieselbe Epoche unter Bezugnahme auf Stefan Zweig freilich als ein Zeitalter der »trügerischen Ruhe und Sicherheit« (Arendt, Hannah, 1955: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M., 205). Beide Positionen betonen letztlich nur zwei unterschiedliche zentrale Aspekte einer hochambivalenten Ära. 646 Zur »naturalisierte[n] Geschichtsphilosophie« Lübbe 1993, 31. 647 Moeller van den Bruck, Arthur, 1923: Das dritte Reich. Berlin. Zur Rezeption des Werks Joachims von Fiore im 19. und 20. Jahrhundert: Gould, Warwick/Reeves, Marjorie: Joachim of Fiore and the myth of the Eternal Evangel in the nineteenth and twentieth centuries. Oxford 2001. 2., erw. Aufl. 648 Lübbe 1993, 30 mit Bezugnahme auf Popper, Karl, 1965: Das Elend des Historizismus. Übersetzt von Leonhard Walentik. (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 3). Tübingen. Zu dieser Thematik auch Popper, Karl, 1959: Prediction and Prophecy in the Social Sciences. In: Gardiner, Patrick (Hg.), 1959: Theories of History. Glencoe (Ill.), 276 – 284 sowie Ders., 2003: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen. Herausgegeben von Hubert Kiesewetter. Tübingen. 8. Aufl.
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schrittsdenken und Moderne Anlaß, die Geschichte zu zerstückeln und sich statt dessen lieber auf das Bruchstück zu konzentrieren. Zugleich allerdings findet auf anderem Gebiet durch eine Analyse der literarischen Form eine zaghafte Rehabilitierung der Geschichtserzählung statt. Dieser knappe Abriß über die Geschichte der Geschichtsphilosophien bestätigt vor allem eines: die These Max Webers von der historischen Wirkmacht der Ideen. Besonders die religiösen und profanen Erzählungen des erlösenden Heils, die sämtlich im weitesten Sinne Geschichtsphilosophien – Philosophien des Wunsches nämlich – sind, entpuppen sich als treibende Kraft der Geschichte. Erzählungen der Schuld aber sind alle Geschichtsphilosophien unabhängig sowohl von einem religiösen Bekenntnis als auch von einer Heilsverkündung: Denn gleich, ob die jeweilige Erzählung mit dem Sündenfall der Genesis, mit dem Urvatermord, mit der Entdeckung der Vernunft im Übergang vom Mythos zum Logos, mit der erstmaligen Befriedigung elementarer Bedürfnisse beginnt und folglich eine Geschichte der Erbsünde, der negativen ›Vernunft‹, der Selbstentfremdung, der Klassenkämpfe oder auch nur in vergleichsweise pragmatischer Art von Herausforderungen, auf die gute oder schlechte Antworten gefunden werden, erzählt – es ist letztlich immer eine Geschichte der Schuld als des Uneingelösten, der Bürde einer nicht bewältigten Aufgabe. Schuld und Unbewußtes liegen dabei auf derselben Ebene: Denn selbst wenn die Kategorie der Schuld bewußt thematisiert wird – wie etwa die Erbsünde im Christentum –, so ist doch der konkrete Inhalt dieser Schuld eigentlich so gut wie immer unbekannt, unbewußt. Die Angst vor dem Unbewußten in der Geschichte ist die Angst vor der unbewußten Schuld. Nicht zu wissen, was Inhalt dieser Schuld ist, macht Angst und ist etwas zutiefst Unbehagliches; je greifbarer, je konkreter historische Schuld erfahrbar wird, je lauter das Unbewußte an die Pforten des Bewußtseins pocht, desto bedrohlicher wird auch die historische Erzählung, die Geschichte der Schuld selbst. Man kann sich auf zwei Arten dieser Bedrohung entledigen: entweder, indem man den Wunsch nach Schuldlosigkeit als historischen Zustand in die Zukunft projiziert oder aber, indem man die große Geschichte der Schuld in ihre Einzelteile zerlegt, der (an der Geschichte) Leidende sich somit gleichsam, wie von Nietzsche gefordert, von der Geschichte befreit. Das zugrundeliegende Muster aller heilverkündenden Geschichtsphilosophien und auch ihrer jeweiligen Kritik ist folglich ein wiederkehrendes: An erster Stelle steht eine Störung des Gleichgewichts im weitesten Sinne649. Schuld ist zunächst nichts anderes als die Aufgabe, auf die neu entstandene Herausforderung – die eben auch eine psychologische ist – eine adäquate Antwort zu 649 Diese Störung des Gleichgewichts kann ausgelöst werden beispielsweise durch ethnische und soziale Verschiebungen, Kriege, kurzum durch traumatisierende Erfahrungen unterschiedlichster Art.
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finden. Ist das Ungleichgewicht freilich so groß, daß keine befriedigende Antwort gefunden werden kann, wird der Inhalt der Schuld verdrängt, das Gefühl des Unbehagens kompensiert durch die Formulierung von Wünschen. Diese Formulierung hat die Gestalt einer Erzählung. Die unrealistischen, unerfüllbaren Wünsche und die durch sie bedingten Vorstellungen sind die bekannten Illusionen. Halten selbige der Realitätsprüfung nicht stand, gibt es theoretisch mehrere Möglichkeiten, der daraus resultierenden Enttäuschung zu begegnen: Das Ziel des Wunsches kann verschoben werden. Auch die Produktion neuer Illusionen – wenn beispielsweise eine zuvor religiöse Zukunftshoffnung säkularisiert wird – ist prinzipiell nichts anderes als die Verschiebung eines Wunschziels. Eine weitere Möglichkeit ist die bereits mehrfach angeklungene Zerlegung der Geschichtserzählung; sie wird besonders dort brisant, wo die Verschiebung des Wunschziels nicht mehr möglich scheint. Dies ist der Fall, wenn die Enttäuschung eine sozusagen ›flächendeckende‹ geworden ist, die keine Hoffnung mehr zuläßt. Die Größe der Enttäuschung ist freilich eine eher subjektive als objektive, eher abhängig von der Stärke des zugrundeliegenden Wunsches als von der Realität650. »Die Zerstückelung der Geschichte wird« aufgrund der sie veranlassenden Enttäuschung »als Befreiung von einem übermächtigen Druck gefeiert«. Daß geschichtsphilosophische Betrachtungsweisen darüber hinaus, wie Kittsteiner demonstriert hat, »in ver-rückter Form selbst inmitten des Denkens ihrer Verächter wieder auftauchen«651, kann ange650 Je stärker der Wunsch, desto größer die aus der Enttäuschung hervorgehende – man möchte sagen: narzißtische – Kränkung. Und wie groß wird der Wunsch (und im Anschluß die Kränkung und Enttäuschung) in der Aufklärung, da die Glückseligkeit erstmals auf Erden greifbar scheint, wie groß nachher die Enttäuschung, die durch gescheiterte Träume von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im 19. und durch Stalinismus, Holocaust und Weltkrieg im 20. Jahrhundert hervorgerufen wird. Nach Freud führen übrigens genau jene »teilweise unerfüllbare[n] Forderungen« des Kultur-Über-Ichs, als die sich auch manche geschichtsphilosophischen Forderungen und Wünsche identifizieren lassen, zum Unbehagen in der Kultur und zur Kulturfeindlichkeit (Köhler 2006, 110). Das Phänomen der »Enttäuschung« exemplifiziert Freud anhand der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in Zeitgemäßes über Krieg und Tod und kritisiert zugrundeliegende Illusionen und Kulturheuchelei (vgl. das diesem Aufsatz gewidmete Kapitel im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit). Freud als »gottloser Jude« steht nur sehr bedingt auf dem Boden christlich geprägter Heilserwartungen und ist vermutlich auch aus diesem Grunde weniger anfällig für Illusionen. In seiner Illusionskritik ist Freud dabei tendenziell näher an den Kritikern des Historizismus als an dessen Repräsentanten. 651 Kittsteiner 1998, 11. (Die Gemeinsamkeiten von Geschichtsphilosophie, Historismus und Posthistoire betont im übrigen auch Rohbeck (2004, 151 – 166)). Die in vielen geisteswissenschaftlichen Diskursen der Gegenwart vorherrschende Tendenz zur Partikularisierung des Denkens mag man auch unter dem Terminus der Zerstückelung zusammenfassen, die möglicherweise ganz ähnliche Ursachen hat wie die Zerstückelung der Geschichtsphilosophie. Das von Kittsteiner angesprochene Erlebnis der »Befreiung von einem übermächtigen Druck« resultiert vermutlich aus dem Umstand, daß sich mit den eigentlich ›unzerstückelten‹, ›ganzheitlichen‹ Wahrheiten einer Erzählung nicht mehr auseinander-
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sichts der zugrundeliegenden psychologischen Mechanismen nicht verwundern. Wer das Ende einer Erzählung aus Enttäuschung über ihren vermeintlichen Ausgang verkündet, macht nur allzu deutlich, wie sehr er selbst auf dem Boden dieser Erzählung und ihrer impliziten Verlockungen und Hoffnungen steht652. Der Gegensatz von Zerstückelung und Ganzheit ist ein universeller, ja ein mythischer. Zerstückelt wird, was Angst macht – nicht zuletzt aber auch der geliebte Gott. Die Flucht aus dem Ganzen ins Detail birgt die Gefahr, das Allgemeine und Wesentliche zu übersehen653. Dieses ›Übersehen‹ steigert sich mitunter zur Leugnung. Es ist dabei jedoch ein grundlegender Irrglaube – ein Irrglaube, der besonders in den empirischen Wissenschaften verbreitet ist – es gäbe kein Ganzes mehr, wenn man es nur geschickt genug in seine Einzelheiten zerlege. Das Ganze ist, und es ist immer mehr als die bloße Summe seiner Teile654 – die Seerose des impressionistischen Gemäldes oder die dreidimensionale Plastik werden freilich erst aus einer gewissen Distanz heraus als Ganzes erkennbar, so wie umgekehrt die Erde aus geringer Distanz heraus als Scheibe erscheint. Auch die Geschichte wird erst aus der Distanz als ein Ganzes sichtund deutbar655. Eine Ganzheit, die gefährlich erscheint, läßt sich wie gesagt durch Zerstückelung erträglicher machen – die Leugnung der Ganzheit aber entpuppt sich somit als eine Form der Verdrängung. Auch die Psychoanalyse letztlich ist eine Wissenschaft der Ganzheit; sie widerspricht damit den Partikularisierungsbestrebungen der wissenschaftlichen Diskurse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – die Gründe für ihren gleichzeitigen Niedergang sind möglicherweise dieselben, deretwegen die Geschichtsphilosophie obsolet geworden zu sein scheint.
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setzen muß, wer sich auf das Bruchstück konzentriert. Man könnte darin einen Versuch des Selbstschutzes erkennen, wie er sich auch im Widerstand des Patienten in der Analyse manifestiert, wenn dieser sich gegen das Anliegen des Analytikers sträubt, aus Bruchstücken der Erinnerung eine kohärente Erzählung zu rekonstruieren. Zur näheren Charakterisierung dieses Sachverhalts sei ein Vergleich mit der Rezeption von Belletristik erlaubt: Auch fiktionale Erzählungen werden in der Regel von ihrem Ende her beurteilt; gefällt das Ende eines Romans oder einer Novelle nicht, gefällt auch der Roman oder die Novelle im ganzen nicht. Die psychologischen Mechanismen sind im Grunde die gleichen wie bei der Rezeption nicht-fiktiver Geschichtserzählungen. Selbstverständlich ist Detailtreue unerläßlich für den Realismus der historischen Erzählung; die hier formulierte Kritik richtet sich auch nicht gegen das Detail als solches, sondern gegen die Konzentration auf selbiges zugunsten einer Verdrängung des Ganzen. Für »eine Rehabilitierung der Kategorie des Ganzen« plädiert auch Jörn Rüsen (Rüsen, Jörn, 2006: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen. Köln u. a., 2). Foucaults These, »genealogisches Denken« erstrebe »die Auflösung aller Einheiten« (Angehrn 1991, 181), kann widersprochen werden: Genealogisches Denken zielt ebenso gut auf das Erkennen größerer Zusammenhänge und Einheiten, letztlich auf das Erkennen des Ganzen.
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Prinzipiell also ist die Deutung auch des Ganzen der Geschichte möglich656 ; die Frage ist nicht das »ob«, sondern das »wie«. Das Problem vieler bisheriger Geschichtsphilosophien scheint grundsätzlich in der Dialektik von Wunsch und Enttäuschung zu bestehen. Für eine die Selbstreflexion mit einschließende Geschichtsphilosophie, die empirisches Material deutet, wäre also eine Auseinandersetzung mit potentiellen Wünschen erforderlich, um der Gefahr der Projektion wie auch allzu großer Enttäuschung zu entgehen657. Die Universalhistoriker des 20. Jahrhunderts haben freilich gezeigt, daß Analysen des Gesamtgeschichtlichen auch ohne Glücksverheißungen möglich sind. Besonders die Vertreter einer historischen Sozialphilosophie658 – Weber und Elias –, aber auch Jaspers, Toynbee und Troeltsch haben die »›Realdialektik‹ gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeiten«659 mithilfe einer Methodologie der Überprüfbarkeit und der Absicherung ihrer Erkenntnisse untersucht. Eine Kulturtheorie, die äußeren und inneren Faktoren beim Werden und Vergehen von Kulturen und der gesellschaftlichen Entwicklung gleichermaßen Rechnung trägt, muß allerdings auch psychologische Komponenten berücksichtigen. Ein Dialog zwischen historischer Sozialphilosophie und Psychoanalyse, wie er sich besonders bei Elias ankündigt, wäre letzten Endes möglicherweise potentiell auch geeignet, das schwierige Verhältnis von Anthropologie und Geschichtsphilosophie, von Natur- und Kulturwissenschaften zu reformieren – ist doch die Sonderstellung der Psychoanalyse zwischen beiden Polen genau besehen weniger eine Schwäche, als vielmehr ein Vorzug. 656 Baumgartner sieht den Wert der materialen Geschichtsphilosophien vor allem in ihrer Eigenart »als heuristische Entwürfe zur Erschließung und zur Deutung vorhandenen historischen Materials« (Baumgartner 1996, 162). Ähnlich auch Kleingeld (Kleingeld, Pauline, 1996: Zwischen Kopernikanischer Wende und großer Erzählung. Die Relevanz von Kants Geschichtsphilosophie. In: Nagl-Docekal 1996, 173 – 197 (hier : 193 f.)), die die Möglichkeit von Geschichtsphilosophie in heutiger Zeit grundsätzlich für gegeben erachtet – undogmatische »Bescheidenheit« vorausgesetzt. Einfache Teleologien wie Geschichten von Fortoder Rückschritt etc. eignen der Geschichtsphilosophie demzufolge nicht zwingend. Rohbeck sieht in einer Reformulierung der Geschichtsphilosophie eine Möglichkeit, der Realitätsferne einer »die historischen Entwicklungen« ignorierenden Ethik zu begegnen; »Geschichtsphilosophie repräsentiert gegenüber der Ethik das Realitätsprinzip« (Rohbeck 2004, 162 f.). 657 Mit dem Phänomen der Enttäuschung und dem wünschenswerten »Realismus des Wünschens« setzt sich auch Peter Furth auseinander. Er geht davon aus, daß »die Unaufgebbarkeit unerfüllbarer Wünsche« ihren eigenen Sinn besitze und die Enttäuschung folglich eine »positiv erlebt[e]«, »aktive und dauerhafte Haltung« sein müsse (Furth, Peter, 1991: Phänomenologie der Enttäuschungen. Ideologiekritik nachtotalitär. (Fischer-Taschenbücher, 10570). Frankfurt/M., 97). 658 Gamm sieht in der Sozialphilosophie die Antwort auf die Defizite von traditioneller Geschichtsphilosophie einer- und Anthropologie andererseits: »›Das Soziale‹ kompensiert den Bestimmtheitsverlust des Menschen, es ermöglicht auch die Abbildung jener Transformationsdynamik, die modernen Gesellschaften eigen ist.« (Gamm 2001a, 18) 659 Gil 1992, 30 (Hervorhebung im Original).
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Der vorangegangene erste Teil der Arbeit hat versucht, »Geschichtsphilosophie« begrifflich und historisch zu erläutern; obwohl Freud das Ziel und der Leitfaden dieser Untersuchung war, stand er doch gleichsam im Hintergrund. Der folgende Teil rückt Freud nun in den Vordergrund der Betrachtung. Zum Hintergrund, zur Folie wird folglich jetzt die Philosophie und mit ihr die weiteren geistes-, wissenschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Szenerien, vor denen Freuds Entwicklung sich vollzieht. Der genaueren Einordnung dieser Hintergründe ist das gleichnamige erste des sich in drei Kapitel gliedernden Teiles der vorliegenden Arbeit gewidmet. Das zentrale zweite Kapitel beschäftigt sich mit Freuds Texten, allerdings wiederum auch vor einem Hintergrund: dem von Freuds Wissenschaftsbiographie. Das dritte Kapitel schließlich faßt die Ergebnisse der Untersuchung zusammen.
2.1
Hintergründe
Freuds Werk ist durch Gegensätze, ja Widersprüche – im mindesten aber : Ambivalenzen – geprägt. Am sinnfälligsten werden diese zum einen in dem naturwissenschaftlich inspirierten, auf Erfahrungswissen gründenden Materialismus, der Freud zeitlebens eine Art von »Grundüberzeugung« war, und zum anderen in »dem Hang zur Spekulation«660, der vor allem in seinen metapsychologischen und kulturtheoretischen Schriften späterer Jahre zur Geltung gelangt. Verständlich wird diese Dichotomie erst, wenn man sich die Bedingungen von Freuds wissenschaftlicher Sozialisation vergegenwärtigt: Sie fand statt in einer grundlegenden »Übergangssituation« zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft661, einer Epoche von überdies »enormen« und häufig entgegengesetzten »geistigen Bewegungen«662 auf unterschiedlichsten Gebieten und nicht zuletzt von gesellschaftlichen Umbrüchen, unter denen die Emanzipation der Juden und die damit einhergehende Säkularisierung der jüdischen Lebenswelt innerhalb des deutschen Kulturraums eine besonders exponierte 660 Traverso, Paola, 2003: »Psyche ist ein griechisches Wort…« Rezeption und Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud. Übersetzt von Leonie Schröder. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1570). Frankfurt/M., 41. 661 Hemecker 1991, 111 (Zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaften ist denn auch das entsprechende Kapitel bei Hemecker überschrieben, ebd. 75). Ähnlich auch Gödde, Günter, 1999: Traditionslinien des »Unbewußten«. Schopenhauer, Nietzsche, Freud. Tübingen, 9. 662 Hemecker 1991, 74.
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Stellung einnimmt663. Die Ambivalenzen, die in Freuds Œuvre auszumachen sind, stellen zunächst also ein Merkmal der Zeit dar, deren Kind Freud ist. So sieht Wilhelm Hemecker in Freud »die Hauptgestalt eines gewaltigen Entwicklungsromans«, die solch widerstreitende zeitgenössische Standpunkte wie die Religion ihres jüdischen Milieus, »die Religionskritik Feuerbachs«, den naturphilosophischen Pantheismus der Goethe-Tradition, »die positivistische Wissenschaftlichkeit Ernst Brückes und der Wiener Medizinischen Schule« und »den Irrationalismus Schopenhauers, Eduard von Hartmanns und Nietzsches« in sich zusammenführt und daraus später die Psychoanalyse hervorbringt664. Diese Hintergründe muß auch eine Arbeit zu erhellen versuchen, die Freuds Entwicklung vom Arzt zum Kulturtheoretiker nachzeichnen will: Die philosophie- und geistes- bzw. wissenschaftsgeschichtlichen sowie, darüber hinaus, die soziologischen Hintergründe können Aufschluß darüber geben, welche Faktoren Freuds Werdegang, insbesondere sein Verhältnis zur Philosophie bestimmen und auf welchen Umwegen Freud schließlich selbst zum Philosophen wird. Diese Arbeit vermag Genanntes aber nur kursorisch und exemplarisch zu tun, denn ihr Focus ist die Relevanz Freud’scher Überlegungen für die Geschichtsphilosophie; außerdem sind die Prähistorie der Psychoanalyse und ihre Beziehungen zur Philosophie des 19. Jahrhunderts ein Thema, das bereits von zahlreichen anderen Arbeiten behandelt worden ist665. Das vorliegende Kapitel beschränkt sich daher thematisch auf eine exemplarische Auswahl666 und gliedert sich in drei Teile: einen ersten, der sich einer für das 19. Jahrhundert maßgeblichen geistesgeschichtlichen Entwicklungslinie widmet, welche von der Transzendentalphilosophie zur Vorherrschaft der Naturwissenschaften führt; einen zweiten, der den »Traditionslinien des ›Unbewußten‹«667 vor den diesbezüglichen Freud’schen Entdeckungen folgt; und einen dritten, der sich aus kultur663 Lässig, Simone, 2004: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. (Bürgertum, N.F., 1). Göttingen, 13 sowie 243 – 441. 664 Hemecker 1991, 74. 665 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Kaiser-El Safti, Margret, 1987: Der Nachdenker. Die Entstehung der Metapsychologie Freuds in ihrer Abhängigkeit von Schopenhauer und Nietzsche. (Conscientia, 13). Bonn; Marquard 1987 (s. o.); Gay, Peter, 1989: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Übersetzt von Joachim A. Frank. Frankfurt/M.; Hemecker 1991 (s. o.); Gasser, Reinhard, 1997: Nietzsche und Freud. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, 38). Berlin/New York; Gödde 1999 (s. o.); Baum, Günther/Koßler, Matthias (Hgg.), 2005: Die Entdeckung des Unbewußten. Die Bedeutung Schopenhauers für das moderne Bild des Menschen. (Schopenhauer-Jahrbuch, 86). Würzburg. 666 Der selektiven Beschränkung zum Trotz werden mit der Konzentration auf ausgewählte Themenbereiche alle genannten »gegensätzlichen Positionen«, die laut Hemecker (1991, 74) von entscheidender Bedeutung für die Genese der Psychoanalyse gewesen sind, weitgehend abgedeckt. 667 So der Titel des oben bereits zitierten Werks von Günter Gödde (1999). Ich verwende ihn hier (ohne Anführungszeichen) auch als Kapitelüberschrift (Kapitel 2.1.2).
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geschichtlicher Perspektive mit der gesellschaftlichen Situation des Judentums im 19. Jahrhundert und davon ausgehend mit den jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse befaßt. Diese nur abrißhaften Darstellungen bilden die Grundlage für die Untersuchung von Freuds geistiger Sozialisation im sich anschließenden Kapitel, wo u. a. der Frage nachgegangen werden soll, wie die hier vorgestellten Entwicklungslinien sich im Individuum Freud treffen und in welcher Weise er selbige synthetisiert.
2.1.1 Ambivalenzen und Entwicklungslinien »Wir haben so oft Gelegenheit gehabt, die Gefühlsambivalenz im eigentlichen Sinne, also das Zusammentreffen von Liebe und Haß gegen dasselbe Objekt, an der Wurzel wichtiger Kulturbildungen aufzuzeigen.«668
Vom deutschen Idealismus, in dem die klassische Geschichtsphilosophie kulminierte, ausgehend führt ein geistiger Entwicklungsstrang weiter innerhalb der Philosophie – wie im ersten Teil dieser Arbeit behandelt – hin zu den Reaktionsbildungen auf die Geschichtsphilosophie in Historismus und Posthistoire669 ; ein anderer geistiger Entwicklungsstrang hingegen weist über die Philosophie hinaus hin zu den Naturwissenschaften670. Der philosophische Idealismus erfährt zunächst eine »naturphilosophische[…] Wendung«671; denn die Transzendentalphilosophie, die nach Marquard die Antwort war auf eine besondere »philosophische Situation«, in der weder die Suspendierung der Metaphysik noch die Realisierung der Geschichtsphilosophie glückte, resultierte aus der »Furcht vor einer Herrschaft der ›Triebnatur‹«672. Diese Furcht bedingt eine Autorisierung des Ich, Transzendentalphilosophie ist eine »Theorie des Ich«, das sie »›genetisch‹ […] als die vernünftige Geschichte seiner Selbstvermittlungen« versteht. Zur Naturphilosophie wird sie, weil sie der Geschichte – der sie im Gegensatz zur eigentlichen Geschichtsphilosophie keinen ›Endzweck‹ zu geben imstande ist – »die ›politische‹ Definition […] ersparen« und diese statt dessen durch eine andere Definition ersetzen will: Auch die Natur hat Geschichte, die Einbuße an politischer Vernünftigkeit wird zum Mehr an natürlicher Vernünftigkeit, die Natur wird überdies ›verzaubert‹, sie wird durch ihre ästhetische 668 GW IX, 189. 669 Auch wenn viele Theoretiker aus Historismus und Posthistoire keine ›Philosophen‹ im engeren Sinne waren, so bleibt doch das Fragen nach Sinn und Zweck bzw. Unsinn und Nicht-Zweck der Geschichte immer ein eigentlich philosophisches Anliegen. 670 Ähnlich Marquard 1987, 5. 671 Marquard 1987, XI. 672 So jedenfalls die – in ihrem Grunde psychoanalytisch anmutende und im übrigen nicht weiter spezifizierte – Marquard’sche Interpretation (Marquard 1987, 2 f.).
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Anschauung zur »›Romantiknatur‹«673. Da Transzendentalphilosophie »wesentlich (mindestens) ›Genealogie‹«674 ist, überträgt sie ihrer naturphilosophischen Wendung das genealogische, das entwicklungsgeschichtliche Denkmuster. Schelling begreift die Natur als »sich entwickelnde[n]«, »lebendige[n] Organismus«, dem aber nach wie vor der idealistische »Geist« als Ordnungsprinzip zugrundeliegt675. Durch den genetischen Ansatz wird gleichzeitig »der Weg […] frei, ›empirische‹ Aprioris zu erkunden« und damit auch, nach der Substitution »metaphysische[r] Grundbegriffe durch geschichtliche«, letzteren wiederum naturgeschichtliche zur Seite zu stellen676. Diese genealogische Tendenz des Denkens bleibt auch dann erhalten, als nach der naturphilosophischen Wendung des Idealismus ein weiterer Wandel sich vollzieht: Der romantischen Verzauberung der Natur folgen Entzauberung und Entlarvung der Romantiknatur »als Triebnatur«677. Der ›Geist‹ der idealistischen Philosophie wird zum ›Willen‹ der Schopenhauer’schen. Festzuhalten bleibt: Die Hinwendung zur Natur und deren nachmalige Entzauberung, dazu die Offenheit für empirische Aprioris weisen über den Bereich der eigentlichen Philosophie hinaus. Eine so geartete Philosophie gibt den emporkommenden Naturwissenschaften ungewollt das Rüstzeug selbst in die Hand, ihr »die Natur […] streitig [zu] machen«. Sowohl Philosophie als auch Naturwissenschaften eignet aber gleichermaßen die epochentypische »Hinwendung zur Zeit«, die man als eine Reaktion auf die »Abwendung von Gott« interpretieren kann. Die Hinwendung zur Zeit spiegelt sich in den unterschiedlichsten Bereichen, natürlich auf dem Gebiet klassischer Geschichtsphilosophie, aber auch in dem lebensphilosophischen Fragen nach der Genealogie der Moral, der geologischen Erforschung der Erdgeschichte, der biologischen der Artenentstehung, der linguistischen der Ursprünge der Sprache usf. – im 19. Jahrhundert wird »Entwicklung oder, besser noch, Evolution […] großgeschrieben«. Nicht nur die Philosophie, sondern sämtliche Wissenschaften, ja das gesamte Zeitalter fängt an, »sich geschichtlich zu verstehen«678 – dies aber alles vor dem Hintergrund wiederum einer Entwicklung, die nicht nur die Abwendung von Gott, sondern auch vom Idealismus beinhaltet. Unterschiedliche Konzepte treten an seine Stelle: »Der revolutionäre Bruch im Denken
673 Marquard 1987, 3 f. 674 Marquard 1987, 84 (Hervorhebung im Original). Dort heißt es weiter (89): »Transzendentalphilosophie ist – ihrer Tendenz nach – Geschichtsphilosophie. […] Da ist zweitens, daß die metaphysischen Grundbegriffe durch geschichtliche ersetzt werden.« (Hervorhebungen im Original). 675 Hirschberger 1981b, 380. 676 Marquard 1987, 89 – 91 (Hervorhebung im Original). 677 Marquard 1987, 4. Vgl. das Schelling-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 678 Gamm 2001a, 9 – 11 (Hervorhebungen im Original).
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des 19. Jahrhunderts«679 bedingt vielgestaltige Reaktionen auf die Leerstelle, die die Abwendung vom Idealismus hinterlassen hat. Wer das Schema ›von x zu y‹ als einen vereinfachenden Ausdruck für die geschilderte Entwicklung des 19. Jahrhunderts verwendet, kann y durch die verschiedensten Begriffe ersetzen: »Von Hegel zu Nietzsche«, wie Löwith sein bereits zitiertes Werk betitelt hat, bedeutet zugleich soviel wie ›vom Geist zum Leben‹; für Schopenhauers Voluntarismus gilt entsprechend ›vom Geist zum Willen‹, für Feuerbachs Sensualismus ›vom Geist zur Natur‹, für Herbarts Psychologie »[v]om Idealismus zum Realismus«, für Marx’ Sozialtheorien ›vom Idealismus zum Materialismus‹, für Darwins Abstammungslehre ›von der göttlichen Schöpfung zur Entstehung der Arten‹680. Fast allen diesen Ersatzbildungen zueigen ist die Hinwendung zur 679 Löwith, Karl, 1950: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard. Stuttgart. 2. Aufl. 680 »Vom Idealismus zum Realismus« betitelt Hirschberger sein Herbart-Kapitel (Hirschberger 1981b, 443). Die Ambivalenzen und Entwicklungslinien der Epoche verdichten sich besonders in drei der hier genannten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, an denen sich nicht nur eine allgemeine geistesgeschichtliche Entwicklung demonstrieren läßt, sondern die darüber hinaus auch für Freuds eigene geistige Entwicklung ganz konkret von eminenter Bedeutung waren: Herbart, Feuerbach und Darwin. Die beiden ersteren waren Philosophen, der dritte hingegen Naturforscher – analog wird die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend zur »Philosophie des Zeitalters« (Schnädelbach, Herbert, 1983: Philosophie in Deutschland 1831 – 1933. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 401). Frankfurt/M., 119, Hervorhebung im Original). Die derartigen Übergängen gesetzmäßig innewohnenden Ambivalenzen werfen ein Licht auch auf diejenigen Ambivalenzen, die später Freuds Berufswahl entscheidend mitbestimmen. Johannes Hirschberger läßt in seiner berühmten Geschichte der Philosophie mit Herbart übrigens »[d]ie Philosophie der Gegenwart« beginnen (Hirschberger 1981b, 439 – 447); Herbart ist in dieser Darstellung der erste Philosoph, der auf Hegel folgt und damit gewissermaßen eine neue Epoche einläutet. Daß Hegels Tod eine epochale Zäsur in der Geschichte der Philosophie bedeutet, daß mit ihm gleichzeitig der deutsche Idealismus stirbt, ist mittlerweile fast eine Art Allgemeinplatz philosophiegeschichtlicher Betrachtung geworden: Schnädelbach 1983, 15 (der im übrigen selbst das Todesjahr Hegels als symbolisches Datum zum Ausgangspunkt seiner Darstellung macht). Der Titel von Herbarts Hauptwerk Psychologie als Wissenschaft, neugegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik (1824/25) verdeutlicht seine philosophiegeschichtliche Stellung »auf dem Wendepunkt zwischen der alten metaphysischen Schule und der neuen psycho-physischen Richtung.« Die »Bedeutung der Empirie« für die Psychologie wird damit bereits von ihm »gewürdigt« (Hartenstein, Ernst, 1892: Zur Kritik der psychologischen Grundbegriffe Herbarts. Rostock, Einleitung zit. nach Hemecker 1991, 19 Anm. 43). Freuds Lehrer Meynert war übrigens in nicht geringfügiger Weise durch die Lehren Herbarts beeinflußt (Jones 1960, 433 f. sowie das Schelling-Kapitel der vorliegenden Arbeit mit den dortigen Literaturhinweisen). Schon »[b]ei Herbart finden sich die Grundbegriffe: Vorstellung, Bewußtsein, Schwelle, Unterschwelligkeit, Hemmung, Verdrängen« (Dorer, Maria, 1932: Historische Grundlagen der Psychoanalyse. Leipzig, 175). In der nachhegel’schen Entwicklung der Philosophie, die mit Herbart das »Reale […] wieder in seiner Realität an sich« und als »Gegenstand der Erkenntnis« betrachtete (Hirschberger 1981b, 443), geht Feuerbach noch einen Schritt weiter als Herbart: Das Reale wird bei ihm ganz konkret zum sinnlich Erfahrbaren und in dieser Eigenschaft zum unableitbaren Fundament der Erkenntnis (Co-
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stofflichen Außenwelt, in gewissem Sinne zur äußeren ›Realität‹. Auf literaturgeschichtlicher Ebene entspricht dieser Entwicklung der Übergang von der innerlichen Romantik zur die zweite Jahrhunderthälfte bestimmenden Strömung des Realismus681, dessen äußerste Form der die genaue Natur- und Milieuschilderung postulierende Naturalismus bildet682. Das verstärkte Interesse an der stofflichen Außenwelt führt folgerichtig zum Aufschwung der Naturwissenschaften und ihrer Methoden, und innerhalb der Naturwissenschaften behauptet sich allmählich als paradigmatische Disziplin die Medizin683. Vor diesen Hintergründen also entsteht am Ende des Jahrhunderts die Psychoanalyse. Wichtig für eine Untersuchung der Relevanz psychoanalytischer Kategorien für die Geschichtsphilosophie ist die Tatsache, daß ihr von Anbeginn an das entwicklungsgeschichtliche Prinzip innewohnt; sie ist so ein »Versuch zu einer genealogischen Philosophie«684, die aber, im Gegensatz zur idealistischen Geschichtsphilosophie, den Menschen als nicht allein durch Vernunft, sondern ebenso durch Unbewußtes geleitetes Naturwesen begreift.
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reth, Emerich/Ehlen, Peter/Schmidt, Josef, 1997: Philosophie des 19. Jahrhunderts. (Grundkurs Philosophie, 9). Stuttgart u. a. 3. Aufl., 148; zu Feuerbach und Freud vgl. weiter die Kapitel der vorliegenden Arbeit zu Marx und zu Freuds Aufsatz Die Zukunft einer Illusion). Was Theorien wie die Herbarts und Feuerbachs forderten – die Hinwendung zur Realität und letztlich zur Anschauung des Sinnlich-Erfahrbaren – verwirklichten die Naturwissenschaften, und diese sind in der zweiten Jahrhunderthälfte untrennbar mit dem Namen Charles Darwins verbunden. ›Darwin statt Hegel‹ könnte die Losung des Zeitalters lauten, denn die Übertragung des entwicklungsgeschichtlichen, organologischen Denkens von der Geistphilosophie auf die Naturforschung macht die Naturwissenschaft zu einer Art Ersatzbildung der Geschichtsphilosophie. (Hirschberger (1981b, 417) nennt Hegels Denken grundsätzlich organologisch: »Da der Geist für Hegel Leben ist, muß das Denken sich genauso entfalten wie der lebendige Organismus.«) Gerhard Plumpe (1995: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen) hält ein Festhalten an diesen Epochenbegriffen aus systemtheoretischer Sicht nach wie vor für berechtigt, während andere Epochenbezeichnungen – wie etwa die der sogenannten »Weimarer Klassik« – obsolet erscheinen. Die Hinwendung zur ›Natur‹ geht freilich einher mit einem gleichzeitigen »Entzug der Natur«, der Folge einer zunehmenden Ablösung des Menschen von seiner natürlichen Umwelt im Übergang zur modernen – nicht zuletzt durch Industrialisierungs- und Rationalisierungsprozesse und schließlich die Entzauberung der Natur geprägten – Gesellschaftsform ist (Gamm 2001a, 19 – 23). Hemecker 1991, 18. Marquard 1987, 16 (kursiv im Original).
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2.1.2 Traditionslinien des Unbewußten »Wenn man die Unterscheidung annimmt, welche ich kürzlich vorgeschlagen habe, die den seelischen Apparat in ein der Außenwelt zugewendetes, mit Bewußtsein ausgestattetes Ich und ein unbewußtes, von seinen Triebbedürfnissen beherrschtes Es zerlegt, so ist die Psychoanalyse als eine Psychologie des Es (und seiner Einwirkungen auf das Ich) zu bezeichnen.«685
Freud charakterisiert die Psychoanalyse hier in erster Linie als eine Psychologie des Es und damit des Unbewußten; daß nicht er, sondern die philosophische Tradition den Begriff des »Unbewußten« geprägt habe, räumt er 1923 in seinem Kurzen Abriß der Psychoanalyse selbst ein: »Das ›Unbewußte‹ stand […] schon seit langem als theoretischer Begriff bei den Philosophen zur Diskussion«. Freilich sei dies nicht mehr als eben ein theoretischer Begriff gewesen, und erst in der von ihm in frühen Jahren praktizierten Hypnose wurde das Unbewußte »leibhaft, handgreiflich und Gegenstand des Experiments«686. Wie unscharf – um nicht zu sagen: ambivalent, ja widersprüchlich – Freud allerdings die Bezeichnung ›Philosoph‹ bzw. ›Philosophie‹ verwendet, tritt deutlich hervor, wenn er den ›Philosophen‹, denen er eben noch die Einführung der Kategorie des Unbewußten zugesteht, in seiner nur ein Jahr später verfaßten Selbstdarstellung vorhält, das Psychische mit dem Bewußten gleichzusetzen: »Dabei stieß man freilich mit dem Widerspruch der Philosophen zusammen, für die ›bewußt‹ und ›psychisch‹ identisch war und die beteuerten, sie könnten sich so ein Unding wie das ›unbewußte Seelische‹ nicht vorstellen«687. Diese Widersprüchlichkeit in Freuds Sprachgebrauch ist kennzeichnend für sein grundlegend ambivalentes Verhältnis zur Philosophie, das sich seinem Bestreben verdankt, eigene spekulative Tendenzen zu bezwingen und seine Erkenntnisse mit wissenschaftlichen Methoden abzusichern688. Auch wenn Freud stets die Eigenständigkeit seiner 685 Freud 1971, 222. 686 Freud 1971, 204. An anderer Stelle – in der kurzen Abhandlung Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung von 1914 – bekräftigt Freud noch einmal den Unterschied zwischen der spekulativen Betrachtung des Unbewußten durch die Philosophie und der psychoanalytischen, die auf naturwissenschaftlich geschulter Anschauung beruhe und zur Kenntnis des Unbewußten durch die Erfahrung des Widerstandes in der Therapie gelange: »Die theoretische Würdigung des Umstandes, daß dieser Widerstand mit einer Amnesie zusammentrifft, führt dann unvermeidlich zu jener Auffassung der unbewußten Seelentätigkeit, welche der Psychoanalyse eigentümlich ist und sich von den philosophischen Spekulationen über das Unbewußte immerhin merklich unterscheidet« (Freud 1971, 152). Die wichtigsten Primärtexte über das Unbewußte von Schelling bis Nietzsche hat ferner Ludger Lütkehaus herausgegeben (Lütkehaus, Ludger (Hg.), 1989: »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. (Fischer-Taschenbücher, 6582). Frankfurt/M.). Zur »Entdeckung des Unbewußten« auch Ellenberger, Henri F., 1973: Die Entdeckung des Unbewußten. 2 Bde. Übersetzt von Gudrun Theusner-Stampa. Bern u.a 687 Freud 1971, 61. 688 Gödde 1999, 13 f.
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Konzeption des Unbewußten betont hat, so steht er doch andererseits in einer geistesgeschichtlich-philosophischen Tradition, die wenn nicht unmittelbaren, so doch immerhin einen mittelbaren Einfluß auf seine Theorien ausgeübt haben muß689. Bereits Augustinus hat in seinen Confessiones den Umstand reflektiert, daß mögliche Erinnerungen sich nicht selten jenseits des bewußten Gedächtnisses befinden, aber zuweilen ins Bewußtsein gelangen; in Anbetracht der Autorität, die Augustinus für das gesamte Mittelalter zukam, verwundert es nicht, daß diese Spekulationen jahrhundertelang von Theologen, Mystikern, Philosophen debattiert wurden690. Erst Leibniz jedoch wird »als Vater der Psychologie des Unbewußten« angesehen, da seine »unmerklichen Perzeptionen« den »unbewußten Vorstellungen« ähneln und der Gedanke vom limen als Wahrnehmungsschwelle ein Bewußtsein impliziert, das nicht starr, sondern als fließender Übergang »von Klarheits- und Intensitätsgraden« aufgefaßt werden muß. Von einem genuinen psychischen Unbewußten geht Leibniz freilich noch nicht aus. Der Begriff »Bewußtsein« wurde allerdings auch erst 1720 durch Christian Wolff geprägt, so daß ein diesem kontrastierendes »Unbewußtsein« folgerichtig erst danach, und zwar durch Wolffs Schüler Platner im Jahre 1776, dem »Bewußtsein« entgegengestellt werden konnte. Wenig später verwenden Schelling und Jean Paul fast zur selben Zeit den Begriff des »Unbewußten«, der erstere im Zusammenhang mit seiner metaphysischen Naturphilosophie, letzterer in einer Ästhetik der Dichtkunst. Carus gilt als derjenige, der die »Termini ›unbewußt‹ und ›das Unbewußte‹ in seinem Hauptwerk ›Psyche‹ (1846) als Fachbegriffe in die Psychologie eingeführt« hat; Eduard von Hartmann schließlich stellt die unbewußte Seelentätigkeit in das Zentrum eines philosophischen Gedankengebäudes, seiner Philosophie des Unbewußten. Während für Schelling und auch noch für Carus das Unbewußte positiv konnotiert ist, die Natur im Sinne naturphilosophischer Interpretation als göttlich gedeutet wird, steht Hartmann bereits in einer anderen Traditionslinie des Unbewußten, die man mit Gödde als die Denktradition des »›triebhaft-irrationalen‹ Unbewußten« – im Gegensatz zur Tradition des »vitalen Unbewußten« in der Naturphilosophie und des »kognitiven Unbewußten« bei Leibniz, Herbart und Fechner – bezeichnen kann und in der auch Schopenhauer und Nietzsche verortet sind691. 689 Hierzu vor allem Kaiser-El Safti 1987, 167 – 316, Gödde 1999 sowie Baum/Koßler 2005. 690 Clark, Ronald W., 1981: Sigmund Freud. Übersetzt von Joachim A. Frank. Frankfurt/M., 136 sowie Hölscher 1989, 106. Gregory Zilboorg bemerkte überdies die Ähnlichkeit der psychoanalytischen Auffassung von der Seele mit derjenigen des Thomas von Aquin (Gay 1988, 120). 691 Gödde 1999, 25 – 28 (Hervorhebungen im Original; zum limen als »Wahrnehmungsschwelle« hingegen Clark 1981, 136). Ferner Gödde 1999, 29 – 34. Gödde zieht überdies Parallelen zwischen dem »kognitiven Unbewußten« und dem »Vorbewußten« Freuds: »Man kann sagen, daß das kognitive Unbewußte des Leibniz, das bei Carus und v. Hart-
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Grundlage für diesen Perspektivwechsel bei der Betrachtung des Unbewußten von der Betonung des Vitalen hin zur Betonung des Triebhaften bildet die bereits erwähnte postromantische ›Entzauberung‹ der Natur, die erwähnte ›Demaskierung der Romantiknatur als Triebnatur‹692. Gerade aber die Verwandtschaft der Gedanken Schopenhauers und Nietzsches mit denen Freuds ist häufig bemerkt worden – übrigens auch von Freud selbst693 – und Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen. Freuds Mitgliedschaft im Leseverein der deutschen Studenten in den 1870er Jahren brachte ihn erstmalig in intensiveren Kontakt mit beiden Philosophen; die Wirkung ihrer Ideen muß aber dennoch keine unmittelbare gewesen sein694. Ohnedem war das »Unbewußte« zur selben Zeit bereits Modethema der Salons, was vor allem auf die damalige Popularität der Hartmann’schen Philosophie des Unbewußten zurückzuführen ist695. Freuds spätere »Konzeption des Unbewußten« als eines Gebietes, in das der Mensch seine unangenehmen Erinnerungen abdrängt, steht nichtsdestotrotz der »triebhaft-irrationalen« Traditionslinie, der auch Schopenhauer und Nietzsche angehören, am nächsten. Denn obwohl nicht zu übersehende Kongruenzen zwischen der psychoanalytischen und der transzendentalphilosophischen bzw. naturphilosophisch-romantischen Auffassung »eines leiblich fundierten Unbewußten« bestehen, fällt Freud im Gegensatz zur letzteren nicht hinter Kant zurück, der für jede Erkenntnis ihren bewußten Nachweis zur Bedingung gemacht hat – während Schelling, Carus u. a. der erkenntnistheoretischen Schwierigkeit erliegen, das Unbewußte als Urgrund des Daseins nur intuitiv und spekulativ ergründen zu können696. Chasseguet-Smirgel betont, das Unbewußte sei Freud zwar »von der deutschen Romantik nahegelegt« worden, er habe es aber abgelehnt, »darin zu versinken«, sondern habe statt der Verschmelzung mit einer mütterlichen Natur die väterliche Beherrschung derselben gesucht697. In
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mann als relatives Unbewußtes bezeichnet wird, bei Freud unter dem Namen des Vorbewußten wieder auftaucht.« (Gödde 1999, 578.) Siehe oben (Kapitel Ambivalenzen und Entwicklungslinien), Marquard 1987, 4 f. und 226 f. sowie das Schelling-Kapitel der vorliegenden Arbeit. So beispielsweise in der bereits zitierten Schrift Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, wo Freud seinem Erstaunen über die auffälligen Parallelen zwischen seinem eigenen Verdrängungsbegriff und ähnlichen Überlegungen Schopenhauers aus dem 32. Kapitel des dritten Buches von Die Welt als Wille und Vorstellung Ausdruck verleiht, gleichzeitig aber jegliche Beeinflussung mit dem Hinweis auf seine »Unbelesenheit« ausschließt; das Studium Nietzsches habe er bewußt vermieden, um sich seine »Unbefangenheit« zu bewahren (Freud 1971, 151 f. bzw. ebd., 87). Hemecker 1991, 66 – 74. Clark 1981, 137. Gödde 1999, 580 f. Chasseguet-Smirgel, Janine, 1988: Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Psychoanalytische Studien. Übersetzt von Eva Moldenhauer. München/Wien, 176. Chasseguet-Smirgel faßt das Väterlich-Trennende, das die Einswer-
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jedem Fall sprengt Freud mit seiner gewissermaßen synthetischen – nämlich gleichermaßen die rationalistische, vernunftmäßige ›Eroberung‹ des Unbewußten wie die antirationalistische Kritik an der Idee eines allmächtigen Bewußtseins umfassenden – Konzeption den 250 Jahre alten ›cartesianischen‹ Lehrsatz, den »cartesianischen Dualismus«, in dem alles Unbewußte körperlich d. h. physiologisch sowie Psychisches und Bewußtes identisch waren. »Das Geistige oder Psychische ist viel umfassender als das Bewußtsein«698 – dies ist die zentrale Erkenntnis, die auch eine um Realismus bemühte Geschichtserzählung berücksichtigen muß.
2.1.3 Jüdische Wurzeln »Meine Eltern waren Juden, auch ich bin Jude geblieben.«699
Wenn Freud sich selbst als Juden bezeichnet, so meint er, der bekennende Atheist700, damit nicht eine religiöse Überzeugung, sondern eine kulturelle Prägung im Sinne einer durch die Außenseiterstellung bedingten Neigung zur Unabhängigkeit und Opposition701. Das Judentum ist eine Religion ohne echtes Dogma, es ist »eher Orthopraxie als Orthodoxie«702, und die von Freud sich selbst attestierte gedankliche Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit mag hier eine ihrer Wurzeln besitzen. Allerdings wächst Freud nicht allein in einer jüdischen Umgebung, sondern »zwischen […] zwei Kulturen«703 auf; seine Assimilationsleistung muß daher um so höher bewertet werden, zumal Freuds Vater Jakob allem Anschein nach kein vollständig okzidentalisierter Jude gewesen ist704 und Freud gleichsam »am Nullpunkt anfangen« mußte705. Daß, wie Freud selbst in einem Brief an Karl Abraham bezeugt, »die talmudische Denk-
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dung mit der Natur verhindert, als Teil von Freuds jüdischem Erbe auf, während das romantische Element als »deutsch« begriffen wird. Mertens, Wolfgang, 2000: Psychoanalyse. Geschichte und Methoden. (Beck’sche Reihe, 2061). München. 2. Aufl., 62 f. Paul Tillich stellt die Psychoanalyse gar »in die große Tradition des Kampfes gegen den Rationalismus«, gegen eine unheilvolle Entwicklung, die ihm zufolge »vom Calvinismus, von Descartes und der strengen amerikanischen Religiosität getragen worden sei« (Gay 1988, 99 f.). Freud 1971, 40. Gay 1988, 13. Robert, Marthe, 1975: Sigmund Freud zwischen Moses und Ödipus. Die jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse. Übersetzt von Hans Krieger. München, 7 f. Hierzu auch GW XIV, 110. Maier, Johann, 2007: Judentum. (Studium Religionen, UTB 2886). Göttingen, 186. Küng führt das Scheitern, »aus der Hebräischen Bibel« eine einheitliche »Dogmatik« abzuleiten, auf die Heterogenität der Überlieferung zurück (Küng, Hans, 2007: Das Judentum. Wesen und Geschichte. München/Zürich, 64). Robert 1975, 15. Robert 1975, 21. Robert 1975, 26.
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weise« nicht ganz aus ihm »verschwunden« ist706, verwundert in Anbetracht der Tatsache kaum, daß sein vermutlich frühestes Bildungserlebnis im Studium der Bibel bestand707. Freuds entwicklungsgeschichtlich bestimmtes Denken, das später nicht zuletzt für sein Interesse an Kulturtheorie eine zentrale Rolle spielen wird, läßt sich möglicherweise nicht allein durch die oben geschilderte epochentypische Hinwendung zur Zeit und zur Genealogie, sondern darüber hinaus auch durch seine jüdische Erziehung erklären; denn die Bibel, mit der sich der Knabe früh intensiv beschäftigt708, ist im Prinzip nichts anderes als die prototypische Ausformung genealogischen Denkens709. Zur Erhellung dieser Hintergründe – möglicher Einflüsse einer jüdischen Umwelt auf Freuds Denken sowohl im Hinblick auf frühe Bildungserlebnisse als auch auf die konkrete gesellschaftliche Situation – sollen im Folgenden einige allgemein-geistesgeschichtliche sowie soziologische Fakten skizziert werden; letztere orientieren sich hauptsächlich an der Biographie von Freuds Vater Jakob, der einem noch sehr traditionellen jüdischen Milieu entstammte und seinem Sohn durch die Migration nach Westen die vollständige Assimilation ermöglichte710. Der »universalgeschichtliche[…] Rahmen« der »geglaubten Geschichte« ist ein besonderes jüdisches Spezifikum711, ihre Einstellung zur Zeitlichkeit – wie im Kapitel über die Ursprünge der Geschichtsphilosophie bereits ausgeführt – unterscheidet die Juden beispielsweise von den Griechen: »Das ewige Gesetz, das die Griechen in der regelmäßigen Bewegung des sichtbaren Himmels verkörpert sahen, offenbarte sich den Juden in den Wechselfällen ihrer Geschichte«, nur »die Juden« sind »ein geschichtliches Volk«. Auch »[d]ie Christen sind kein geschichtliches Volk«, »eine jüdische Theologie der Geschichte [ist] möglich und innerlich notwendig, während eine christliche Geschichtsphilosophie ein künstliches Gebilde darstellt«712. Die Wurzeln der Geschichtsphilosophie liegen Löwith zufolge vor allem also in der jüdischen Tradition; auch die Wurzeln der Freud’schen ›Geschichtsphilosophie‹ mögen zum Teil in ihr begründet sein. Bereits Max Weber bemerkt im dritten Band seiner Religionssoziologie, daß aus 706 Zit. nach Robert 1975, 9. 707 Krüll, Marianne, 1979: Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung. München, 186 – 193. 708 Freud 1971, 40. 709 Den in der Forschung schon häufig thematisierten Beziehungen von Theologie und Geschichtsbegriff widmet sich in jüngerer Zeit u. a. ein von Myriam Bienenstock herausgegebener Sammelband (Bienenstock, Myriam (Hg.), 2007: Der Geschichtsbegriff: eine theologische Erfindung? (Religion in der Moderne, 17). Würzburg). 710 Krüll 1979, 232 f. 711 Maier 2007, 21. 712 Löwith 1953, 178 f. Im 19. Jahrhundert wird von aufgeklärten westlichen Juden wie Formstecher und Hirsch sogar der Versuch unternommen, in Anlehnung an die Denksysteme des deutschen Idealismus eine eigenständige jüdische Geschichtsphilosophie zu etablieren (Maier 2007, 157).
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jüdischer Sicht die ganze Welt »ein geschichtliches Erzeugnis« sei; die »Vorstellung einer künftigen gottgeleiteten politischen und Sozialrevolution« habe das gesamte »Verhalten der antiken Juden« beeinflußt. Ferner sei ihre religiöse Ethik eine »in hohem Grade rationale, das heißt von Magie sowohl wie von allen Formen irrationaler Heilssuche freie«, eine »religiöse Ethik des innerweltlichen Handelns«, die auch im 20. Jahrhundert »noch der […] europäischen und vorderasiatischen religiösen Ethik zugrunde [liege]«713. Der Hoffnung auf eine Wiederherstellung des »›sehr guten‹ Urzustand[s]«, auf eine messianische Heilsperiode714, entspricht die Annahme eines »Ur-Weltensabbat[s]« vor dem ersten Schöpfungstag; ein über- bzw. vorzeitliches Moment eignet also auch der an sich auf Zeitlichkeit ausgerichteten jüdischen Schöpfungstheologie. Den im Schöpfungsbericht geschilderten Antagonismen Finsternis/Licht, Tod/Leben etc. entspringt ein »relativer dualistischer Ansatz«715 des Judentums; dualistisch ist auch die talmudische Annahme von »einem guten und einem schlechten Trieb« im Menschen, »wobei der ›schlechte Trieb‹, wenn er im Torahgehorsam unter Kontrolle gehalten wird, auch positiv zur Wirkung gebracht werden kann, nämlich im Sinne berechtigter Selbsterhaltung und gebotener Fortpflanzung«716. Wenngleich den Juden eine Vorzugsstellung als auserwähltem Volk zukommt, so sind doch die Söhne des ebenfalls auserwählten Noah die Ahnherren der gesamten Menschheit717, womit ein universalistischer Zug der jüdischen Religion zueigen ist, die ihrerseits nicht zuletzt Grundlage zweier weiterer Weltreligionen gewesen ist. Die Nähe der jüdischen Religion zur Philosophie wiederum wird deutlich an der traditionellen Interpretation Abrahams als »erste[m] Philosophen«718 ; Gelehrsamkeit stand unter Juden, besonders auch in der Diaspora, allgemein in hohem Ansehen719, die Bezeichnung »Volk des Buches« erhielt mit der Erfindung des Buchdrucks überdies neue Geltung720. Die rationalistische
713 Weber 1921, 6 (Hervorhebungen im Original). Eine »Ethik des innerweltlichen Handelns« steht überdies der praktischen Philosophie nahe, zu der die Geschichtsphilosophie allgemein gerechnet wird. (Auch die Psychoanalyse ist, grosso modo, eine Art Ethik innerweltlichen Handelns, frei von »irrationaler Heilssuche«, weitgehend frei allerdings auch vom religiösen Element – in gewissem Sinne eine säkularisierte Form einer solchen Ethik. Herauszufinden, inwieweit hier eine Beeinflussung stattgefunden hat, würde den Rahmen dieser Arbeit allerdings sprengen.) 714 Maier 2007, 32 bzw. 36. 715 Maier 2007, 24 f. 716 Maier 2007, 31 f. Auch Freuds Trieblehre ist streng dualistisch geprägt; die Theorie von der Sublimierung der Triebe mag darüber hinaus in der talmudischen Denkweise einen frühen Vorläufer gehabt haben. 717 Maier 2007, 19, 22 sowie 37. 718 Maier 2007, 40. 719 Krüll 1979, 102. 720 Maier 2007, 140 (Hervorhebung im Original). »Das Tora-Studium« war gerade auch für
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Tendenz des Judentums war ein guter Nährboden für aufklärerische Tendenzen seit dem 18. Jahrhundert wie die Haskala, die durch Jakob Freud dem Sohn nähergebracht wurde. Die Vermittlung der jüdischen Tradition als auch erster aufklärerischer Impulse erfolgte also über den Vater721, während die »zweite« Kultur, die Freud prägte, ihm in Gestalt deutscher Sprache und Umgebung, später in Form klassisch-humanistischer Bildung während des Besuchs des Gymnasiums in Wien begegnete. Die Epoche, in die Freuds Sozialisation fiel, war jedoch auch geprägt durch eine intellektuelle Entwurzelung und daraus resultierende Identitätskrise des Judentums722. Das Schicksal von Freuds Vater Jakob veranschaulicht in typischer Form jene »Zeit des Umbruchs«, denn Jakob Freud war einer der »ersten galizischen Juden, die aus dem traditionellen Milieu der ostjüdischen Gemeinde sowohl geistig wie materiell in ein neues Leben aufbrachen«. 1772 war Galizien im Zuge der ersten polnischen Teilung Österreich zugeschlagen worden, nachdem im 15. und 16. Jahrhundert zahlreiche deutschsprachige Juden – »Aschkenasim« – nicht zuletzt aufgrund von Verfolgungen ins relativ neutrale Polen eingewandert waren. Schon 1571 jedoch war die judenfreundliche Königsdynastie in Polen ausgestorben, mit der Konsequenz, daß slawische Völkerschaften gegen polnische Fürsten und deren jüdische »Handlanger« rebellierten und im 17. Jahrhundert Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung verübten. Die Folge war u. a. eine grundlegende Krise des polnischen Judentums auch in geistigen Dingen, die sich zum Teil im Entstehen »mystisch-messianische[r] Bewegungen« wie des Sabbatianismus und des im 18. Jahrhundert durch Baal Schem Tow, genannt »Bescht«, begründeten Chassidismus, äußerte, unter dessen Einfluß auch Jakob Freud stand723. Die chassidische »Mystik war in gewisser Weise wegbereitend für die Aufklärung und damit für die Möglichkeit der Assimilation, da sie die unbedingte Gesetzestreue, die der Rabbinismus forderte, durchbrach«724. Galizien wurde zu einem Hauptgebiet der »jüdischen Aufklä-
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gläubige Juden der Diaspora-›Stetl‹ »eigentlicher, wesentlicher Lebenszweck« (Krüll 1979, 104). Krüll 1979, 188 sowie 232 f. An dieser Stelle sei nochmals an die Ausführungen ChasseguetSmirgels erinnert, wonach der »Judaismus« eine Religion der (väterlich konnotierten) »Trennung« ist (Chasseguet-Smirgel 1988, 174). »Mystische Verzückung oder Ekstase laufen dem Geist der jüdischen Religion zuwider«, »Gott ist der ganz Andere« (ebd., 175). Freilich kannte gerade auch das Diaspora-Judentum eine Reihe bedeutender mystischer Bewegungen wie beispielsweise die Kabbala (Küng 2007, 224 f. und Maier 2007, 25) oder den Chassidismus (s. u.). Hemecker 1991, 106. Krüll 1979, 92 – 96. Krüll 1979, 100. Die Assimilation erfolgte aber dennoch bei Westsefarden und in Italien erfolgreicher und außerdem ohne größeren »Traditionsbruch« (Maier 2007, 149). Unter dem Einfluß des Mendelssohn-Schülers Naphtali Herz Homberg kam es zwar auch in Österreich zur Gründung jüdischer Reformschulen; diese stießen allerdings auf Widerstand und wurden bald wieder geschlossen, Krüll 1979, 98 f.
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rungsbewegung« Haskala; in der Folge kam es immer mehr zu Generationenkonflikten zwischen orthodoxen Vätern und Söhnen, die der Haskala nahestanden, Zeichen eines grundlegenden kulturellen Wandels und Paradigmenwechsels725. In der »kulturell zweitbedeutendste[n] Stadt Galiziens nach Krakau«, in Tysmenitz, wurde Jakob Freud am 18. Dezember 1815 geboren, einer Stadt, aus der viele namhafte Rabbiner und Talmudisten stammten und in welcher die Haskala schon im frühen 19. Jahrhundert gegenwärtig war. Jakob Freud empfing hier die ersten aufklärerischen Eindrücke, die er später seinem Sohn vermitteln sollte726. Zunächst aber vollzog er durch seinen Weggang aus Galizien die entscheidende Abkehr von der Tradition, welche möglicherweise zugleich ein Bruch mit seiner Familie war727. Er zog mit seinem Großvater 1844, vier Jahre vor der Märzrevolution, nach Mähren, wo die Situation der Juden eine wesentlich andere war als in seiner Heimat Galizien. Die Judenpolitik der Regierung zielte hier vermehrt auf Assimilation728, und obschon das Revolutionsjahr 1848 keine echte Zäsur der Geschichte der Juden im deutschsprachigen Raum darstellt729, so kam es doch in Österreich zu einer weitgehenden rechtlichen Gleichstellung. Auch für Jakob Freud markierte das Revolutionsjahr »den eigentlichen Schritt […] in die bürgerliche Welt« und damit die wohl bedeutendste Veränderung innerhalb seines Lebens; ein Gedenkblatt in Jakob Freuds Exemplar der von Ludwig Philippson veröffentlichten illustrierten Bibel auf Hebräisch und Deutsch – der Bibel der Assimilationsjuden – nennt als Datum den 1. November 1848. 1852 ist Jakob Freud als Bürger im mährischen Freiberg gemeldet730 ; am 29. Juli 1855 heiratet er, der bereits mindestens einmal verheiratet gewesen ist, die kaum 20jährige Amalie Nathanson, die wie er aus Galizien stammt, im Unterschied zu ihm aber in Wien aufgewachsen ist. Die Trauung 725 Krüll 1979, 99 – 101. Die gesellschaftliche Struktur war überdies eine entschieden patriarchale: Der Tradition zufolge konnten »nur ein männlicher Jude […] in den Bund […] aufgenommen« werden, Frauen konnten allein durch ihre Männer ins Jenseits eintreten, und allein »der Mann konnte die Scheidung verlangen« (Krüll 1979, 104 – 107). Auch Freuds eigene Haltung war – wie sich später nicht zuletzt in seinen kulturtheoretischen Schriften wie Totem und Tabu manifestieren wird, wo »die Abwesenheit von Frauen auf die Bühne« gestellt (Hamburger, Andreas, 2005: Das Motiv der Urhorde. Erbliche oder erlebte Erfahrung in Totem und Tabu. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.), 2005: Kulturtheorie. (Freiburger literaturpsychologische Gespräche, 24). Würzburg, 45 – 86 (hier: 70)) und einzig der Konflikt von Vätern und Söhnen thematisiert wird – grundlegend patriarchal, was zum Teil auch ein jüdisches Erbe gewesen sein mag. 726 Krüll 1979, 111 – 113. 727 So jedenfalls Krüll 1979, 126 f. Zu den – größtenteils hypothetischen – Details dieses Bruches mit der Familie ebd. 728 Krüll 1979, 116 f. 729 Lässig 2004, 90. 730 Krüll 1979, 121. Zum Verhältnis des Staates zum Judentum ferner Lässig 2004, 91: »In einigen Ländern, ganz besonders in Böhmen, hatte sich der Staat sogar schon im Verlauf der Revolution als Schutzherr jüdischer Interessen präsentiert.«
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wird durch einen Reform-Rabbiner vorgenommen, was darauf schließen läßt, daß auch die Familie der Braut der Haskala nahestand731. Amalie ist überdies Nachfahrin des »berühmten Gelehrten« Nathan Halevy Charmaz, welcher im 18. Jahrhundert wirkte732 ; auch von mütterlicher Seite also ist Freud aller Wahrscheinlichkeit nach die Hochschätzung der Gelehrsamkeit im Sinne einer Familientradition weitergegeben worden. Nach offizieller Darstellung wird dem frisch vermählten Paar neun Monate nach der Hochzeit, am 6. Mai 1856, der erste Sohn Sigmund geboren; im Melderegister jedoch ist als Datum seiner Geburt der 6. März 1856 angegeben733. Sollte diese letztere Angabe stimmen, war entweder Freud ein Siebenmonatskind oder Amalie Freud schon vor der Hochzeit schwanger – weswegen möglicherweise von den Eltern aus Gründen der Pietät die Geburt von März auf Mai ›verschoben‹ wurde734. Unabhängig vom genauen Datum seiner Geburt gilt festzuhalten: Einflüsse jüdischer Geschichtstheologie und der Haskala-Aufklärung mögen für Freuds kulturtheoretische Interessen von nicht unerheblicher Bedeutung gewesen sein; sie ergänzen die allgemeineren Beeinflussungen durch den in Freuds Sozialisationsphase herrschenden Zeitgeist735. 731 Krüll 1979, 123 – 125. Zur Frage, wie oft Jakob Freud insgesamt verheiratet war und welches Schicksal seine erste(n) Frau(en) ereilte, ebd. 122 f. 732 Bernfeld, Siegfried/Cassirer Bernfeld, Suzanne, 1981: Bausteine der Freud-Biographik. Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt/M., 79 f. 733 Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981, 80. 734 Diese These ist meines Wissens noch nie zuvor geäußert worden – weder von Bernfeld, der den Hinweis auf die Diskrepanz bei den Datumsangaben liefert, aber vermutlich das genaue Datum der Hochzeit nicht kennt, noch von Krüll, die das Datum der Hochzeit mit »29. Juli 1855« angibt (s. o.). Auch die Biographien von Jones (1960), Clark (1981) und Gay (1989) gehen vom 6. Mai 1856 als Geburtsdatum aus. (Lohmann erwähnt zwar »Mutmaßungen und Hypothesen […] über das wahre Datum seiner Geburt, das aus Schicklichkeitsgründen auf später verlegt worden sei«, nennt aber hierzu keine Details (Lohmann, Hans-Martin, 2006a: Die intellektuelle Biographie. In: Ders./Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006, 49 – 76 (hier : 49)). Im Hinblick auf die Quellen, die mir zur Verfügung standen, wäre die o.g. These also zumindest subjektiv tatsächlich eine originäre Leistung; objektiv sind neue Erkenntnisse über Freuds Biographie in Anbetracht des nicht abreißen wollenden Interesses an Freuds Biographie aber vermutlich ohnehin kaum noch möglich.) 735 Allan Janik und Stephen Toulmin gehen in ihrer Monographie über Wittgensteins Wien der Frage nach, wie sich das kulturelle Milieu und Klima der Hauptstadt Österreich-Ungarns auf die intellektuelle Entwicklung des genannten Philosophen ausgewirkt haben; ihre Hauptthese besagt, daß »die im Niedergang und Verfall des Habsburgerreiches sich manifestierenden Krisen eine tiefe Wirkung auf Leben und Erwartungen seiner Bürger« gehabt und »wesentliche Gemeinsamkeiten in den Weltdeutungen von Künstlern und Schriftstellern auf allen, selbst den abstraktesten Gebieten des Denkens und der Kultur« hervorgerufen haben (Janik, Allan/Toulmin, Stephen, 1987: Wittgensteins Wien. Übersetzt von Reinhard Merkel. (Serie Piper, 519). München/Zürich, 16). So sei eine gewisse »Doppelbödigkeit« – die Tatsache, daß hinter der heiteren Fassade eine dunklere, nicht selten pathologische Seite sich verberge – charakteristisch gewesen für mannigfaltige Bereiche des Wiener Lebens (ebd., 42). Die für den jungen Freud wichtige Philosophie war überdies für
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Freud als Geschichtsphilosoph
Im Folgenden soll vor dem Hintergrund von Freuds Wissenschaftsbiographie zunächst seine geistige Sozialisation in Kindheit und Jugend sowie seine Entwicklung zum Theoretiker der Kultur untersucht werden, bevor das Augenmerk im Anschluß daran schließlich seinen konkreten Texten gilt. Die zeitliche Gliederung folgt der von Günter Gödde vorgenommenen Einteilung in Schaffensphasen, wobei die bis 1885 reichende vorpsychoanalytische Phase – nach Gödde die durch das Bemühen des Niederhaltens des Philosophen in ihm geprägte »positivistische[…] Frühphase«736 – hier um die Jahre der Kindheit ergänzt ist. infantia, pueritia, adolescentia: vorpsychoanalytische Phase (bis 1885) 2.2.1 Frühzeitige Vertiefungen »Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auf natürliche Objekte bezog und auch den Wert der Beobachtung als eines Hauptmittels zu ihrer Befriedigung nicht erkannt hatte. Frühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte, kaum daß ich die Kunst des Lesens erlernt hatte, hat, wie ich viel später erkannte, die Richtung meines Interesses nachhaltig bestimmt.«737
Mit diesem berühmten Zitat aus seiner Selbstdarstellung beschreibt Freud in verdichteter Form den frühen Forscherdrang seiner Kindheit und Jugend, der in auffälligem Gegensatz steht zu seiner späteren Tätigkeit als Arzt: Die spekulative Anthropologie, nicht die wissenschaftliche Naturbeobachtung war seine früheste Leidenschaft, geweckt möglicherweise durch die genannte »Vertiefung in die biblische Geschichte« mit ihrer theologischen Ausdeutung von Herkunft und Werdegang des Menschen. Es sind genau diejenigen »kulturellen Probleme das Wiener Bildungsbürgertum jener Zeit keine »spezialisierte Angelegenheit einer autonomen und geschlossenen Disziplin«, sondern »vielgestaltig und stand mit allen anderen Aspekten der zeitgenössischen Kultur in Wechselbeziehung« (ebd., 31). Die Frage, weshalb ausgerechnet »so viele von Freuds Patienten bürgerliche Damen mittleren Alters waren«, erklären Janik und Toulmin, etwas vereinfachend, mit dem Umstand, »daß eine bürgerliche Hochzeit häufig eher eine Art Geschäftskontrakt als eine persönliche Verbindung darstellte« und die gesellschaftlichen Normen allgemein die Wirkung hatten, »die Frauen zu frustrieren«. Sexuelle Tabuisierungen hätten ferner »einer ausgeprägten sexuellen Sensibilisierung« den Weg geebnet (ebd., 57). 736 Gödde 1999, 14 f. Gödde teilt Freuds Wissenschaftlerleben ein in eine »vorpsychoanalytische Phase (1870 – 1885)«, eine »Entstehungsphase [der Psychoanalyse, M.K.] (1885 – 1900)«, eine »mittlere Schaffensperiode (1900 – 1920)« sowie »das Spätwerk (1920 – 1939)« (ebd., 15). Ich habe hier nicht nur wie erwähnt die Zeit vor 1870 ergänzt, sondern auch, wie im Augustinus-Kapitel bereits angekündigt, die Bezeichnungen der menschlichen Altersstufen. 737 Freud 1971, 40.
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[…]«, zu denen sein Augenmerk später, wie er selbst in der 1935 verfaßten Nachschrift zur Selbstdarstellung bemerkt, »[n]ach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie«738 heimkehren wird. Im Folgenden gilt es also aufzuzeigen, weshalb Freud überhaupt erst einen Umweg über »die Stellung und Tätigkeit des Arztes« einzuschlagen für nötig hält, für die er eigenen Worten zufolge weder in seiner Jugend noch später »besondere Vorliebe« empfindet739 – um in reiferen Jahren doch nur zu seinem anfänglichen Interesse zurückzufinden. Freuds Lebensgeschichte ist – wohl nicht zuletzt aufgrund zahlreicher autobiographischer Details in seinen eigenen Schriften, vor allem der Traumdeutung740 – wiederholt zum Gegenstand wissenschaftlicher, genauer : psychoanalytischer Untersuchung geworden, denn die genealogische Methode seiner Lehre läßt sich natürlicherweise ebenso auf die Genese dieser Lehre und nicht zuletzt auf ihren Urheber selbst anwenden. So sind Freuds erste Lebensjahre recht früh in den Blickpunkt der psychoanalytisch inspirierten Biographen geraten: Schon fünf Jahre nach Freuds Tod widmeten sich Siegfried Bernfeld und Suzanne Cassirer Bernfeld in einem Aufsatz Freuds frühe[r] Kindheit741. Den biographischen Ursachen für Freuds Interesse an Archäologie – eine lebenslange Leidenschaft, die maßgeblich war für seine Theoriebildungen über die Ursprünge und die Entwicklung menschlicher Kultur und ergo für das Gros seiner kulturtheoretischen Schriften – ging Suzanne Cassirer Bernfeld 1951 nach742. Sie interpretiert den als traumatisch erfahrenen Wegzug des dreijährigen Freud aus seinem Geburtsort Freiberg, den die Familie 1859 verläßt, um zunächst nach Leipzig, kurz darauf aber nach Wien überzusiedeln, als Initialzündung für dessen historisches und archäologisches Interesse743. In der Tat bestehen auf738 Freud 1971, 98. 739 Freud 1971, 40. 740 Grubrich-Simitis, Ilse, 1971: Einleitung: Sigmund Freuds Lebensgeschichte und die Anfänge der Psychoanalyse. In: Freud 1971, 7 – 33 (hier : 22 f.). 741 Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981, 78 – 92. 742 Vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit. Daß die Beschäftigung mit Freuds Beziehung zur Archäologie auch 60 Jahre später noch nichts von ihrer Faszination verloren hat, zeigen u. a. die Beiträge von Andreas Mayer, Heinz Weiss und Benigna Gerisch in einem jüngst erschienenen Aufsatzband zum Thema Freud und die Antike (Benthien, Claudia/Böhme, Hartmut/Stephan, Inge (Hgg.), 2011: Freud und die Antike. Göttingen, 117 – 186). 743 Cassirer Bernfeld 1951, 243 (»Freiberg wurde zu einem verschütteten Schatz, er selbst zu einem Schliemann«, ebd.). Die frühkindliche Initialzündung für Freuds Interesse an der Geschichte fiele demnach also zeitlich zusammen mit der Abfassung der Entstehung der Arten, die Darwin von 1856 bis 1859 vornimmt – also zufälligerweise genau in Freuds Freiberger Phase. Darüber hinaus beginnt sich seit den 1830er Jahren die Archäologie »von einer Liebhaberei zu einer Wissenschaft« herauszubilden (Eggert, Manfred K. H., 2006: Archäologie. Grundzüge einer Historischen Kulturwissenschaft. (UTB, 2728). Tübingen/ Basel, 38); die Eindrücke, die Freud in seiner Jugend von der immer größere Fortschritte
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fällige Parallelen zwischen Freuds leidenschaftlichem Interesse an der Vergangenheit des Menschen und der von einer gewissen Sehnsucht durchdrungenen Darstellung der bei einem späteren Besuch in Freiberg erfolgten Aktivierung von Erinnerungen seiner frühesten Kindheit, anonymisiert wiedergegeben in seiner Schrift Über Deckerinnerungen744. Er malt sich hier u. a. aus, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er seinen Heimatort nicht mit drei Jahren verlassen müssen – die Frage »was wäre, wenn« aber ist zugleich eine der Kernfragen historischen Interesses. Cassirer Bernfeld geht auch auf die besondere personelle Situation der Freiberger »prähistorischen Kindheit« ein und unterstreicht dabei die Bedeutung der katholischen und darüber hinaus im Gegensatz zur germanophonen Familie Freud tschechisch sprechenden Kinderfrau für die Begegnung des Kleinkindes mit einer fremden Sphäre, »einer anderen Kultur«745. Gregory Zilboorg deutet die diese Kinderfrau betreffenden Ereignisse – sie hatte Freud mit in die Kirche genommen und so erstmalig mit dem Christentum in Kontakt gebracht, war aber später wegen Diebstahls entlassen und verhaftet worden – gar als Ursache für Freuds späteren (gemessen an der sonstigen Virtuosität seiner Gedanken in der Tat) »flache[n]« Atheismus und »›Szientismus‹«746. Für die Anfänge von Freuds frühem anthropologischen Interesse hingegen ist eine Stelle aus der Traumdeutung aufschlußreich, wonach er als Sechsjähriger die von seiner Mutter vermittelte Behauptung in Zweifel zog, der Mensch sei aus Erde geschaffen und müsse daher »zur Erde zurückkehren«747. Etwa zeitgleich
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machenden Disziplin erhalten haben mag, trugen vermutlich ihren Teil zu Freuds Interesse an Archäologie bei. »Ich erging mich viele Stunden lang in einsamen Spaziergängen durch die wiedergefundenen herrlichen Wälder mit dem Aufbau von Luftschlössern beschäftigt, die seltsamerweise nicht in die Zukunft strebten, sondern die Vergangenheit zu verbessern suchten.« (GW I, 543) Siegfried Bernfeld hat herausgefunden, daß sich hinter dem anonymisierten Erzähler Freud selbst verbirgt (Bernfeld/Cassirer Bernfeld 1981, 93 – 111). Cassirer Bernfeld 1951, 244 f. Auf die besondere familiäre Konstellation aus einer sehr jungen Mutter und einem zwanzig Jahre älteren Vater, der bereits zwei erwachsene Söhne aus erster Ehe hat, von denen der eine wiederum zur Zeit der Geburt Sigmunds seinerseits schon Vater war, wird immer wieder gern hingewiesen. Gay 1988, 69 f. Gay zitiert ferner Zilboorg mit den Worten (ebd., 70): »›Freud wandte nicht nur vierzig Jahre, sondern sein ganzes Leben an den Versuch, die Katastrophe [ = den Verlust des katholischen Kindermädchens, M.K.] ungeschehen zu machen, die ihn in seiner Kindheit befallen hatte.‹« Über die Zusammenhänge von christlichem Theismus – der Freud in Gestalt des geliebten Kindermädchens begegnet war – und Atheismus – an dem Freud ein Leben lang festhalten sollte – vgl. auch die bemerkenswerte Interpretation Karl Löwiths: »Auch der radikale Atheismus, der freilich so selten ist wie ein unbedingter Glaube, ist nur innerhalb der christlichen Tradition möglich. Denn die Anschauung, daß die Welt völlig gottlos und gottverlassen ist, setzt den Glauben an einen transzendenten Schöpfergott voraus, der sich um seine Geschöpfe kümmert.« (Löwith 1953, 184). Freud wäre in diesem Punkt Erbe der christlichen Tradition. GW II/III, 211: »Als ich sechs Jahre alt war und den ersten Unterricht bei meiner Mutter
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mit dieser Belehrung über die Herkunft des Menschen aus der Erde muß, wohl unter Anleitung des Vaters, jene »[f]rühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte« begonnen haben, von der Freud in seiner Selbstdarstellung spricht. Obwohl Jakob und Amalie Freud offenbar »typische Assimilationsjuden« gewesen sind und viele der religiösen Gebote ignorierten, lag dem Vater viel am Bibelstudium des Sohnes als Mittel zur Bildung, wie eine für den Sohn zu dessen 35. Geburtstag verfaßte Widmung in seiner Bibel bezeugt748. Es handelte sich bei diesem Bibelexemplar um die bereits erwähnte Philippson’sche hebräischdeutsche Bibel, deren zahlreiche Abbildungen – zusammen immerhin 685 Holzschnitte, die ägyptische Götter, orientalische Stadtansichten, die mediterrane Flora und Fauna u. ä. darstellen und so ein sehr anschauliches Bild von der Welt des antiken Orients vermitteln sollen749 – für den Knaben Sigmund vermutlich die erste mittelbare Begegnung mit diesem Kulturraum bildeten und für sein späteres Interesse an alten Kulturen den ersten konkreten Ausschlag gegeben haben mögen. Eventuell rühren hierher auch »sonderbare geheime Sehnsüchte«, die im Erwachsenen beim Studium seiner archäologischen Sammlung emporquellen, »vielleicht aus der Erbschaft der Ahnen nach dem Orient und dem Mittelmeer und einem Leben ganz anderer Art, spätkindliche Wünsche unerfüllbar und der Wirklichkeit unangepaßt« – wie er in einem Brief an Ferenczi schreibt750. Die Verbindung von der im Kapitel über Jüdische Wurzeln bereits thematisierten prototypischen Ausformung entwicklungsgegenoß, sollte ich glauben, daß wir aus Erde gemacht sind und darum zur Erde zurückkehren müssen. Es behagte mir aber nicht und ich zweifelte die Lehre an. Da rieb die Mutter die Handflächen aneinander […] und zeigte mir die schwärzlichen Epidermisschuppen, die sich dabei abreiben, als eine Probe der Erde, aus der wir gemacht sind, vor. Mein Erstaunen über diese Demonstration ad oculos war grenzenlos und ich ergab mich in das, was ich später in den Worten ausgedrückt hören sollte: Du bist der Natur [sic!] einen Tod schuldig« (Hervorhebungen im Original). Die Fehlleistung im Shakespeare-Zitat – in dessen Drama Henry IV heißt es eigentlich »Du bist Gott einen Tod schuldig« – mag darauf hindeuten, daß Freud den vom Elternhaus vermittelten Glauben an einen Gott durch den modernen »Glaube[n] an die Natur« ersetzt hat; auch dies wäre eine Parallele zum Zeitgeist (Hemecker 1991, 105). (Möglicherweise war – ohne freilich derartige Details überbewerten zu wollen – das beispiellose »Erstaunen über diese Demonstration ad oculos« von Bedeutung für Freuds spätere Affinität für die exakte wissenschaftliche Beobachtung, die sich schon im hier geschilderten Fall auf die im wahrsten Sinne ›mütterliche‹ Erde = Natur bezog. »Teil der Selbsteroberung Freuds« war es freilich, diese »Mutter Natur nicht zu umarmen«, sondern auf Distanz zu halten (Gay 1989, 36 sowie das folgende Kapitel).) 748 Krüll 1979, 186 f. 749 Krüll 1979, 189 – 191. »Ägypten« hat hier schon für den jungen Freud »eine stark emotional gefärbte Bedeutung« erhalten, es »war für ihn Sinnbild der […] nicht-jüdischen Welt« (ebd., 231). Auch »[d]ie frühe Josefidentifizierung«, die Freud im übrigen mit Goethe teilt (Eissler, Kurt R., 1974: Über Freuds Freundschaft mit Wilhelm Fließ nebst einem Anhang über Freuds Adoleszenz und einer historischen Bemerkung über Freuds Jugendstil. In: Aus Freuds Sprachwelt und andere Beiträge. Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 2. Bern u. a., 39 – 100 (hier : 88)), dürfte hier eines ihrer un- oder vorbewußten Motive haben. 750 Zit. nach Gay 1989, 198.
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schichtlichen Denkens im biblischen Text und dem visuellen Erlebnis der Abbildungen hat darüber hinaus möglicherweise für die Entfaltung vor allem seines kulturtheoretischen Interesses eine bedeutsame Rolle gespielt751. In diesem Kontext von Belang ist auch das über das erste Lernen mit dem Vater hinausgehende Bildungserlebnis, die Begegnung mit der ›zweiten Kultur‹, die neben der jüdischen Tradition für ihn prägend sein wird: Mit neun bestand Freud »die Aufnahmeprüfung für das Leopoldstädter Kommunal-Real- und Ober-Gymnasium«; die dortige »Schulbildung war streng klassisch ausgerichtet«752 und vermittelte dem Jungen »die ersten Einblicke in eine untergegangene Kulturwelt, die wenigstens mir später ein unübertroffener Trost in den Kämpfen des Lebens werden sollte«, wie er in seinem kurzen Aufsatz Zur Psychologie des Gymnasiasten bekennt753. Seine ›erste Kultur‹ aber, die Ausbildung seiner jüdischen Identität im Sinne einer, wie oben bereits ausgeführt, kulturell bedingten Neigung zur Unabhängigkeit und Opposition, erfährt einen wichtigen Impuls sicher durch ein in der Traumdeutung erwähntes Erlebnis des ungefähr zehn- bis zwölfjährigen Freud: die Erzählung seines Vaters von dessen Reaktion auf einen Antisemiten, der ihm die Mütze vom Kopf schlägt; Freuds Vater hob die Mütze auf, statt sich gegen den Christen zu verteidigen754. Hier mag eine Ursache für Freuds geistige Unabhängigkeit und ebenso für seinen Atheismus liegen: Neben der durch sein Judentum bedingten Verwehrung der vollen Zugehörigkeit zur österreichischen Gesellschaft lädt der unheroische Vater nicht zur Gottesfürchtigkeit ein. Die durch das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen – die erste Begegnung mit der ›zweiten‹ Kultur erfolgte in Gestalt des tschechischen Kindermädchens, eine weitere in Form gymnasialer Schulbildung – bedingte erschwerte kulturelle Identitätsfindung, die Trennung von Freiberg, das Bibelstudium anhand eines Exemplars, das mit seinen reichen Illustrationen nicht nur theologische, sondern auch erste kulturwissenschaftliche Kenntnisse vermittelte, die Vertiefung in die antike Kultur und humanistische Bildung auf dem Gymnasium – all diese Faktoren mögen also ihren Teil dazu beigetragen haben, daß aus dem Kind eines Wollhändlers ein anthropologisch interessierter, über »menschliche Verhältnisse« spekulierender Jüngling wurde, der als Erwachsener von sich sagen wird,
751 Mit sieben Jahren urinierte Freud im Schlafzimmer der Eltern, was seinen Vater zu einer negativen Prophezeiung über die Zukunft des Sohnes veranlaßte und so angeblich das auslösende Moment für Freuds Ehrgeiz und Wissensdurst darstellte (Gay 1989, 33). 752 Clark 1981, 28 f. 753 GW X, 205. Freuds Gymnasialzeit widmet sich explizit Knoepfmacher, Hugo, 1979: Zwei Beiträge zur Biographie Sigmund Freuds. 1: Sigmund Freud im Gymnasium. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 11, 51 – 63. 754 GW II/III, 202 f.
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er habe »als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis«755. 2.2.2 Ambivalenzen und Umwege: Vom Lust- zum Realitätsprinzip »In dem Maße, in dem es ihm [ = dem Realitätsprinzip] gelingt, sich als Regulationsprinzip durchzusetzen, geht die Suche nach Befriedigung nicht mehr auf den kürzesten Wegen vor sich, sondern schlägt Umwege ein und schiebt ihr Ergebnis aufgrund von Bedingungen auf, die durch die Außenwelt auferlegt werden.«756
Ernest Jones charakterisiert Freuds grundlegenden »Konflikt zwischen der Versuchung, seinem Denken« – und nicht zuletzt »seiner Einbildungskraft – freien Lauf zu lassen, und dem Bedürfnis, sie mit einer wissenschaftlichen Disziplin zu zügeln«, in Freuds eigener Begrifflichkeit als den Gegensatz zwischen Lust- und Realitätsprinzip. Das Realitätsprinzip hat demnach bei Freud zunächst den Sieg über das Lustprinzip davongetragen757, die wissenschaftliche Disziplin über den Hang zur Spekulation – und die »Suche nach Befriedigung« Umwege beschritten, welche von der Außenwelt nahegelegt wurden. Jene Umwege also, von denen Freud in seiner im vorigen Kapitel bereits zitierten Nachschrift zur Selbstdarstellung spricht, sind offenbar hauptsächlich Einflüssen von außen geschuldet. Der junge Freud spürt, daß seine Sehnsucht nach philosophischer Erkenntnis in Form spekulativer Denkoperationen nicht mehr dem Geist seiner Zeit entspricht; hätte er zwei bis drei Generationen früher gelebt, wäre es ihm vermutlich nicht nötig erschienen, selbige zu zügeln. Da er jedoch in einer Epoche aufwächst, die die wissenschaftliche, vor allem naturwissenschaftliche Methode zu ihrem Glaubensbekenntnis erhoben hat, verwundert es nicht, daß er, wie er Jones später berichtet, freiwillig auf die philosophische Lektüre verzichtet und dies damit begründet, »[i]n jungen Jahren« sei seine »Neigung zum Spekulieren so groß« gewesen, daß er »ihr um keinen Preis nachgeben wollte«758. Schon auf Freuds Gymnasium, und zwar im Schuljahr 1872/73, fand eine lehrplanmäßige Beschäftigung mit philosophischer Propädeutik (Logik und Psychologie) anhand der Lehrbücher von Gustav Adolph Lindner statt; Lindner 755 Freud, Sigmund, 1986b: Briefe an Wilhelm Fließ. 1887 – 1904. Unter Mitwirkung von Michael Schröter herausgegeben von Jeffrey M. Masson. Frankfurt/M., 190. Ähnlich auch ein ebenfalls an Fließ gerichteter Brief vom 1. Januar 1896: »Ich sehe, wie Du auf dem Umwege über das Arztsein Dein erstes Ideal erreichst, den Menschen als Physiologe zu verstehen, wie ich im geheimsten die Hoffnung nähre, über dieselben Wege zu meinem Anfangsziel, der Philosophie, zu kommen. Denn das wollte ich ursprünglich, als mir noch gar nicht klar war, wozu ich auf der Welt bin.« (Freud 1986b, 165) 756 Laplanche/Pontalis 1972, 427. 757 Jones 1960, 55. 758 Jones 1960, 49.
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hatte bei Franz Exner studiert, der sowohl in seiner Funktion als Universitätslehrer wie auch als Schulreformer der Herbart’schen Philosophie und Pädagogik in allen Schulen des Reiches Geltung verschaffte und etwaige Einflüsse des deutschen Idealismus wirkungsvoll abwendete. Gerade für die Psychologie postulierte er die empirische Beobachtung statt der traditionellen Spekulation; sein Anti-Hegelianismus und Positivismus mußte in Anbetracht seiner schulreformatorischen Bemühungen von großer Wirkung gerade auf die österreichische Jugend sein. Lindners Lehrbuch ging in seiner dritten Auflage noch über Exner hinaus und plädierte für eine völlige Loslösung der empirischen Psychologie von der Philosophie und für ihre Entwicklung hin zu einer exakten Wissenschaft759, was auf den 16jährigen Freud – dem solche Ansichten im Philosophieunterricht vermittelt wurden – bleibenden Eindruck in Form einer kritischen Distanz zur philosophischen Beeinflussung der Psychologie und zur Philosophie überhaupt gemacht haben muß. Besonders in den 1870er Jahren gelangte die »Ehrfurcht vor der Wissenschaft« im übrigen in Österreich auf »ihren Höhepunkt«760. Freuds »Scheu vor [s]einer subjektiven Neigung, in der wissenschaftlichen Forschung der Phantasie zuviel einzuräumen«761, besitzt also relativ eindeutige Wurzeln in den Beeinflussungen durch den Zeitgeist seiner Jugendjahre. Der Beginn des Umwegs muß somit schon in die Jahre vor der Matura datiert werden. Freuds Entwicklung bietet ein anschauliches Beispiel für Elias’ These vom »gesellschaftliche[n] Zwang zum Selbstzwang«762. Vermutlich verbindet sich schon für den Knaben mit dem Wechsel zum Gymnasium eine bestimmte Erwartungshaltung, die sowohl seine eigenen Erwartungen an einen durch den Besuch einer höheren Schule ermöglichten gesellschaftlichen Aufstieg als auch das Bestreben, den damit zusammenhängenden potentiellen Erwartungen der Außenwelt zu genügen, umfaßt und überdies die Ausbildung eines bestimmten Habitus begünstigt. Neben die willentliche Steuerung des eigenen Verhaltens tritt somit auch jener »Automatismus« des Selbstzwangs, den Elias bescheibt763. Die mit dem Besuch des Gymnasiums außerdem verknüpfte fortschreitende Integration in die österreichische Mehrheitsgesellschaft vergrößert und differenziert für den Assimilationsjuden vermutlich zunehmend auch das gesellschaftliche Geflecht, in welchem er sich bewegt; »[m]it der Dif759 Hemecker 1991, 12 f. bzw. 111 – 113. Hemecker präzisiert den bereits von Jones (1960, 432) gegebenen Hinweis auf das in der Herbart-Tradition stehende Lehrbuch dahingehend, daß Freud im Unterricht nicht die erste, sondern die dritte Auflage des Lindner’schen Lehrbuchs benutzt haben muß. Die früheste Begegnung mit Gedanken Herbarts fand demnach schon auf dem Gymnasium statt (Hemecker 1991, 12 Anm. 14 sowie 110 Anm. 469). 760 Jones 1960, 54 f. 761 Freud in einem Brief an M. Bonaparte vom 12. 11. 1938, zit. nach Gay 1989, 36. 762 Elias 1969b, 312 (Kapitelüberschrift). 763 Elias 1969b, 317.
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ferenzierung des gesellschaftlichen Gewebes« aber »wird auch die soziogene, psychische Selbstkontrollapparatur differenzierter«764. Freilich hat sich der Entwicklung Freuds daneben auch die psychoanalytisch geprägte Biographik im Sinne einer Untersuchung der familiären Situation und deren Auswirkungen angenommen. In bezug auf Berufsziele ließ der Vater Freud beispielsweise beachtliche Wahlfreiheit, weshalb »ein Aspekt der Pubertätskrise, nämlich die bewußte Rebellion gegen den Vater, wegfiel«765. Eher scheint das allem Anschein nach nicht unproblematische Verhältnis zur Mutter für Freuds Widerstand gegen die eigenen, dem Lustprinzip zuzuordnenden spekulativen Neigungen von Bedeutung gewesen zu sein; dies mag zum Teil auch auf die traditionell enge Mutter-Sohn-Bindung bei Juden des osteuropäischen Milieus zurückzuführen sein766, die die pubertäre Lösung von der Mutter erschwert haben dürfte767. Laut Chasseguet-Smirgel ist »der Boden, auf dem die schönsten Blumen der Romantik« und auch der Naturphilosophie blühen, »die Verschmelzung mit der Mutter«. »Der Vater, der Dritte, der die Mutter vom Kind trennt, ist verschwunden. Gott und Natur sind eins.«768 Wenn Freud sich also, obwohl er ursprünglich eigentlich Jura studieren wollte, kurz vor der Matura für das Studium der Medizin entscheidet, so ist dies vermutlich »eine Methode, die liebende, erdrückende Mutter Natur nicht zu umarmen, sondern zu fliehen oder doch auf Armeslänge entfernt zu halten«769, sich aber dennoch weiterhin mit ihr zu befassen, sie nicht völlig aufzugeben. Freuds Ambivalenz freilich wird mehr als deutlich, wenn man das ausschlaggebende Ereignis in Rechnung stellt: Die Entscheidung für die Naturwissenschaft erfolgt nämlich, wenn man seinen eigenen Aussagen Glauben schenken darf, aufgrund eines literarischen Textes770 – 764 Elias 1969b, 319 f. 765 Eissler 1974, 68. Freuds Pubertät war im übrigen durchaus keine ruhige (ebd., 59). 766 Krüll 1979, 107. Krüll zitiert hierzu (in ihrer eigenen Übersetzung) Landes und Zborowski: »Es gibt keine Vermeidungsvorschriften zwischen Mutter und Sohn mit Ausnahme des Verbots des Geschlechtsverkehrs. Die Mutter ist alles: Wärme, Intimität, Nahrung, unbedingte Liebe, Sicherheit, praktische Realität. Dieser extrem libidinöse Charakter der Mutter […] steht in völligem Gegensatz zum distanzierten, vergeistigten Wesen des Vaters.« Zu den Auswirkungen des »spezifischen Aufbau[s] des Beziehungsgeflechts« während der Kindheit auf die psychosoziale Entwicklung des Individuums Elias 1969b, 332. 767 Auch Peter Gay spricht davon, daß »Freud die Bedeutung seiner leidenschaftlichen unbewußten Bindungen an diese gebieterische Mutterfigur nie ganz durchgearbeitet« habe (Gay 1989, 20). Vielen Freud-Biographen dient die intensive, aber überaus prekäre Verliebtheit des adoleszenten Freud in Gisela Fluß als Indiz für diese Tatsache (z. B. Eissler 1974, 59 – 90). 768 Chasseguet-Smirgel 1988, 167. 769 Gay 1989, 36. 770 Freud 1971, 41 sowie GW II/III, 443. Traverso sieht in der Literatur ganz allgemein »ein konstitutives, ja ein epistemologisch produktives Element« für die »Entstehung von Freuds Denken« (Traverso 2003, 41). In der kurzen Schrift Zur Vorgeschichte der analytischen Technik stellt Freud selbst eine Verbindung her zwischen der Entwicklung seiner Methode
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und nicht nur das, dieser Text »enthält nichts, was ein Studium der Medizin empfehlen würde«771, seine Veröffentlichung markiert außerdem den Beginn genau derjenigen pantheistischen Naturphilosophie Schellings und Hegels772, von der sich die Naturwissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu lösen versucht. Der Zusammenhang jedoch, in dem Freud diesen Text – den ursprünglich Goethe zugeschriebenen, wohl aber von dem Schweizer G. C. Tobler773 verfaßten Aufsatz Die Natur – vermutlich am 8. März 1873774 erstmalig hört, steht ganz im Zeichen der Richtung, die die zeitgenössische Naturwissenschaft genommen hat: Der Zootom Carl Brühl veranstaltete in Wien regelmäßig populäre Vorlesungszyklen über den auf Freud große Anziehung ausübenden Darwinismus, und bei einem derartigen Vortrag wurde der damals noch für ein Werk Goethes gehaltene Aufsatz rezitiert, wohl um die geistige Verwandtschaft Goethes und Darwins sowie die Bedeutung Goethes für die von Darwin weiterentwickelte genetische Methode zu betonen. Dieses Erlebnis hat also vermutlich deshalb so große Wirkung auf den jungen Freud ausgeübt, weil es zugleich mehrere, zum Teil miteinander im Widerstreit liegende Tendenzen seiner Persönlichkeit ansprach: das pantheistisch-mystische Element des Tobler’schen Textes seine spekulativen Neigungen, der Darwinismus und die naturwissenschaftliche Methode hingegen das Bestreben, diese Neigungen im Zaum zu halten775. Zudem wird im Aufsatz Die Natur »dem Bibelgott eigentlich nur der Mantel der Natur übergehängt«776, vielleicht also fühlte Freud sich unbewußt erinnert an seine frühe Beschäftigung mit der biblischen Geschichte, die ihn erstmalig die genealogische Denkweise gelehrt haben dürfte; an die Stelle der Heilsgeschichte freilich tritt jetzt – durchaus im Sinne einer Verschiebung – die Naturgeschichte. Diese adoleszente Ambivalenz im Individuum Freud findet zugleich ihre Entsprechung in der Ambivalenz seines Zeitalters, das sich aber, genau wie Freud, nach dem Schwanken zwischen Naturphilosophie und Na-
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der freien Assoziation und der Börne-Lektüre seiner frühen Jugend (GW XII, 311 f.). Einige der Aphorismen Börnes enthalten überdies Weisheiten, die den jungen Freud zusätzlich beeinflußt haben mögen: »Das Tier im Menschen sollte mehr der Gegenstand unsrer Erziehung sein als der Mensch im Menschen.« (Börne, Ludwig, 1964: Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. Bd. 1. Düsseldorf, 3) »Die Französische Revolution hat den Unterschied der Stände aufgehoben. Eine solche Revolution wäre auch in der Philosophie zu wünschen, damit die Schranke einstürze, welche die Philosophen zwischen Körper und Seele aufgerichtet haben.« (Börne 1964, 141) Eissler 1974, 78. Hemecker 1991, 14. Traverso 2003, 42 sowie Hemecker 1991, 95. So Hemecker 1991, 92. Hemecker 1991, 14 f., 77 f. bzw. 93 f. Auch Helmholtz, Virchow u. a. haben sich mit Ansichten Goethes und deren Bedeutung für die Naturwissenschaft beschäftigt – Virchow hebt beispielsweise die Rolle Goethes für die genetische Methode und damit für die moderne Naturwissenschaft hervor (Hemecker 1991, 76 – 78). Zit. nach Hemecker 1991, 104.
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turwissenschaft, zwischen mystischem Pantheismus und Religionskritik etc. letztlich für die Naturwissenschaft und ferner das entscheidet, was Marquard die Entzauberung der Romantiknatur nennt. Freud lernt so, seine eigene »vulkanische Natur« »der zielstrebigen Verfolgung seiner Mission unterzuordnen«777, gleichzeitig aber ist die Entscheidung für die Naturwissenschaft eine Form der Verdrängung, eine »Abwehr alles Triebhaften«778. Freuds Atheismus und Szientismus sind, ebenso wie der Atheismus und Szientismus der Zeit seiner geistigen Sozialisation, von einer oftmals frappierenden Flachheit, aber man darf darüber nicht vergessen, daß die zugrundeliegende Reduzierung des Denkens auf die Anschauung von Gesetzmäßigkeiten die Trennung vom beziehungsweise die gewollte Distanz zum Gegenstand der Untersuchung bietet – eine Distanz, die die Erkenntnis bestimmter natürlicher Gesetzmäßigkeiten überhaupt erst ermöglicht und in diesem Sinne gegenüber Naturphilosophie und Spekulation einen erkenntnistheoretischen Fortschritt bedeutet. Die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft meint allerdings – im Gegensatz beispielsweise zur angelsächsischen – einmal mehr eine scharfe, vielleicht überscharfe Trennung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie vornehmen zu müssen779, weshalb auch die zur Naturwissenschaft gewordene Psychologie sich letztlich »von der Philosophie befreit […], nur um die gebieterische Umarmung einer neuen Herrin, der Physiologie, zu akzeptieren«780. Freud, der zwar auf dem Gymnasium die philosophischen Klassiker Apologie des Sokrates und Kriton781 studiert, sonst aber hauptsächlich von der im Philosophieunterricht postulierten Emanzipation und gleichzeitigen Trennung der Wissenschaft von der Philosophie beeinflußt wird, ›befreit‹ sich, analog zum Zeitgeist, schließlich auch von der Philosophie – wenngleich niemals zur Gänze. 777 Gay 1989, 181. 778 Eissler 1974, 79 f. bzw. (für das wörtliche Zitat) 89. 779 Vgl. die folgenden Bemerkungen Ernst Haeckels (1868), zit. bei Hemecker 1991, 14: »Während man in England schon seit langer Zeit die Begriffe Naturwissenschaft und Philosophie als gleichbedeutend ansieht, und mit vollem Recht jeden wahrhaft wissenschaftlich arbeitenden Naturforscher einen Naturphilosophen nennt, wird dagegen in Deutschland schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die Naturwissenschaft streng von der Philosophie geschieden, und die naturgemäße Verbindung beider zu einer wahren ›Naturphilosophie‹ wird nur von Wenigen anerkannt«, was Haeckel auf die »phantastischen Ausschreitungen« Schellings und allgemein der romantischen Naturphilosophie zurückführt. Die von Haeckel beschriebene, in seinen Augen gewiß nicht ganz zu Unrecht spezifisch deutsche Trennung zwischen Wissenschaft und Philosophie erinnert zudem stark an die zeitgleiche scharfe Trennung zwischen Geschichte und Geschichtsphilosophie, ferner in der Literatur- und Musikwissenschaft zwischen den – konstruierten – Epochen »Klassik« und »Romantik«, zwischen »Kultur« und »Zivilisation« und dergleichen übertriebene Grenzziehungen auf unterschiedlichsten kulturwissenschaftlichen Gebieten mehr. 780 Gay 1989, 141. 781 Hemecker 1991, 40 (vgl. auch das Plato-Kapitel der vorliegenden Arbeit).
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2.2.3 Der Traum des Philosophen »Die Jugend des Menschen ist eine wilde Zeit der Anarchie. […] Das tyrannische Gehirn ergreift mit starker Hand die Zügel der Regierung; zernichtet ist die schnöde Herrschaft des Bauches und die gefährlichere des Herzens.«782
Freuds Umweg über die Naturwissenschaften also ist aus psychoanalytischer Perspektive eine Form der Domestikation spekulativer Neigungen; sein anthropologisches Interesse verschiebt sich auf die Medizin, der Hang zur Spekulation wird durch das naturwissenschaftliche Arbeiten sublimiert. Daß er sich aber von seinen ursprünglichen Interessen nicht ganz verabschieden kann oder will, wird daraus ersichtlich, daß er das erste Jahr an der Universität »ganz und gar auf rein humanistische Studien verwenden« möchte, »die mit [s]einem Fach noch nichts zu tun haben, [ihm] aber gar nicht unnützlich sein sollen«, wie er in einem Brief an Eduard Silberstein schreibt783. Seine Korrespondenz mit diesem Jugendfreund enthält darüber hinaus regelmäßige Äußerungen zur Philosophie, die er allem Anschein nach immer noch nicht ganz aufgeben will, wenngleich er die »Philosophen« zusammen mit »Hemdkrägen« und »Monarchen« als »die nutzlosesten Dinge von der Welt« bezeichnet784. Er besucht jedoch nachweislich den Leseverein der deutschen Studenten und kommt wohl hier erstmalig mit den Gedanken Schopenhauers und Nietzsches in Kontakt785. Im dritten Semester seines Studiums, dem Wintersemester 1874/75, ergänzt er außerdem seinen Stundenplan um eine Veranstaltung bei Franz Brentano, und zwar einen Lektürekurs »ausgewählter philosophischer Schriften«; im darauffolgenden Sommersemester belegt er sogar zwei Veranstaltungen bei Brentano mit insgesamt immerhin fünf Semesterwochenstunden, darunter ein Seminar über Logik786. Brentano, den er als »verdammt gescheite[n], ja geniale[n] Kerl« sowie »in vielen Hinsichten idealen Menschen«787 bezeichnet, bleibt Freud bis zum Sommerse782 Börne 1964, 145. 783 Brief vom 17. 7. 1873. Freud 1989, 30. 784 Brief vom 22. 8. 1874. Freud 1989, 63. Ferner auch Clark 1981, 48 sowie Hemecker 1991, 30 Anm. 94. 785 Hemecker 1991, 66. 786 Clark 1981, 48 bzw. Hemecker 1991, 137. Eine vollständige Auflistung aller von Freud während seines Studiums besuchten Veranstaltungen findet sich bei Hemecker 1991, 135 – 140. 787 Brief vom 7. 3. 1875, in dem Freud Silberstein davon berichtet, daß er und ein Kommilitone mit Brentano »in nähere Beziehung getreten« und von ihm »in seine Wohnung« gebeten worden seien, um nicht näher bezeichnete »Einwände[…]« der Studenten zu diskutieren. Außerdem sei in ihm »unter dem zeitigenden Einfluß Brentano’s […] der Entschluß gereift […], das Doktorat der Philosophie auf Grund von Philosophie und Zoologie zu erwerben«. Der Traum des Philosophen war also in jener Anfangszeit seines Studiums noch nicht ganz ausgeträumt (Freud 1989, 109). Die große suggestive Wirkung, die der sich stets für die Berechtigung philosophischen Denkens in schwieriger Zeit einsetzende Brentano auf seine
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mester 1876 treu. Unter dem Eindruck der Lehre dieses in seiner Zeit einflußreichen, heute hauptsächlich nur noch in seiner Bedeutung für die Entwicklung der Theorien seiner berühmteren Schüler wie beispielsweise der Husserl’schen Phänomenologie788 rezipierten akademischen Philosophen nähert der spätere erklärte Atheist Freud sich sogar zeitweilig dem Theismus789. In jene Zeit fällt im übrigen auch die Lektüre des wie Brentano von der Theologie inspirierten Feuerbach790. Nicht so sehr mit Brentanos Theismus, als vielmehr mit seiner konsequenten Bewußtseinsphilosophie und ebenso konsequenten Negierung der Existenz unbewußter Vorstellungen791 aber muß Freud sich zusehends derart schwergetan haben, daß, wie er Jahrzehnte später in seiner Selbstdarstellung schreibt, die »Eigenheit und Enge [s]einer Begabungen« ihm in einigen »Fächern, auf die [er] [s]ich in jugendlichem Übereifer gestürzt hatte, jeden Erfolg versagten«792. Freuds lebenslange Voreingenommenheit gegen die Philosophie resultiert hauptsächlich aus der Konfrontation mit der abstrakten Bewußtseinsphilosophie seines Lehrers Brentano, bei dem er schließlich in den letzten fünf Semestern seines Studiums keine Veranstaltungen mehr belegt793. Schon im September 1875, nach seiner Rückkehr von einem Ferienaufenthalt bei seinen Brüdern in Manchester, teilt er Silberstein mit, »[g]egen Philosophie« sei er »mißtrauischer als je«794. Ab dem Wintersemester 1876/77 widmet er sich schließlich ganz seinem Medizinstudium, er verschiebt seine ursprünglich anthropologisch-philosophische Wißbegierde nun vollends auf die Natur, zunächst im zoologischen Laboratorium von Carl Claus, später im physiologischen von Ernst Brücke, wo er eigenen Worten zufolge »endlich Ruhe und volle Befriedigung« erlangt795. Brücke, diesen Vertreter eines radikalen Positivismus und
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Schüler ausgeübt haben muß, bestätigt u. a. Carl Stumpf, der von sich sagt, wegen Brentano sein Jurastudium abgebrochen und sich fortab der Philosophie gewidmet zu haben (Werle, Josef M., 1989: Franz Brentano und die Zukunft der Philosophie. Studien zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssystematik im 19. Jahrhundert. (Studien zur österreichischen Philosophie, 15). Amsterdam/Atlanta, 26). Werle 1989, 19 – 23 bzw. 144. Gay 1988, 49. Vgl. oben sowie Gay 1988, 66: »Theologie mußte zur Anthropologie werden.« Gerade diese Komponente Feuerbach’scher Philosophie dürfte für den mit der biblischen Geschichte aufgewachsenen und frühzeitig anthropologisch interessierten Freud von einigem Reiz gewesen sein. Hemecker 1991, 115. Freud 1971, 41. Es ist also nicht zuletzt auch eine enttäuschte Erwartungshaltung, die Freuds Antipathie gegenüber ›der‹ Philosophie bestimmt. Hierzu vor allem Hemecker 1991, 33 f. bzw. 138 – 140 sowie das ebd. 67 wiedergegebene »Protokoll zum Vortragsabend vom 1. April 1908 der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung«: »Prof. Freud betont vor allem sein eigentümliches Verhältnis zur Philosophie, deren abstrakte Art ihm so unsympatisch [sic!] sei, daß er auf das Studium der Philosophie schließlich verzichtet habe.« Brief vom 9. 9. 1875. Freud 1989, 145. Freud 1971, 41. Ferner Clark 1981, 55.
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einer ebenso radikalen Ablehnung jeglichen Pantheismus’ und jeglicher Naturmystik, der zusammen mit Helmholtz, Du Bois-Reymond und Virchow in seiner Zeit einflußreichster Propagandist des neuen Glaubens an die naturwissenschaftliche Methode ist796, bezeichnet Freud noch im Jahre 1927, als er »nach großem Umweg« über die Medizin längst »die anfängliche Richtung wieder gefunden« hat, als die »größte[…] Autorität, die je auf [ihn] gewirkt« habe797. »In dieser materialistischen oder besser : mechanistischen Periode« habe die Medizin nämlich »großartige Fortschritte gemacht«, jedoch zugleich, wie Freud 1924 mit einem zeitlichen Abstand von einem halben Jahrhundert erkennt, »das vornehmste und schwierigste unter den Problemen des Lebens in kurzsichtiger Weise verkannt«798. Es ist eine Art von Ironie des Schicksals, daß er ausgerechnet im Laboratorium Brückes – zu einer Zeit also, da er nie weiter entfernt gewesen sein dürfte von den kulturellen und geistigen Themen, die ihn als Jüngling gefesselt hatten – jenen Mann kennenlernt, der mit seinen Entdeckungen im Bereich der Erforschung der Hysterie für die Abkehr vom alleinigen Glauben an die Physiologie und für die Entstehung der Psychoanalyse von unvergleichlicher Bedeutung sein wird: Josef Breuer behandelt von 1880 bis 1882 die Hysterikerin Bertha Pappenheim und kommt zu dem Schluß, daß die Hysterie psychische und nicht physiologische Ursachen haben muß. Laut seinem Biographen Clark sind es bemerkenswerterweise zunächst aber vor allem Breuers »kulturelle Interessen«, die Freud für ihn einnehmen. Spätestens im Juli 1883 liest Breuer Freud erstmalig die Krankengeschichte der Bertha Pappenheim vor799, von der Freud »den Eindruck« erhält, »hier sei mehr für das Verständnis der Neurose geleistet worden als je zuvor«800. Die Öffnung für die Probleme des Geistes, die sich vollends während seines Studienaufenthaltes bei Charcot zwei Jahre später in Paris vollziehen wird, wird hier schon vorbereitet, und die Behandlung der als
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Gay 1989, 45 f. Nachwort zur »Frage der Laienanalyse«, GW XIV, 290. Freud 1971, 227. Clark 1981, 59. Ferner ebd., 121 sowie Gay 1989, 78. Freud 1971, 51. Während seines Militärdienstes 1880 übersetzt Freud außerdem auf Vermittlung seines einstigen philosophischen Lehrers Brentano für den Altphilologen Theodor Gomperz vier Essays aus den Gesammelten Werken von John Stuart Mill (Gay 1989, 48). Von Gomperz selbst aber vernahm Freud, wie er in einem Brief an dessen Witwe später schreibt, als erstem »Bemerkungen über die Rolle des Traumes im Seelenleben der Urmenschen, Dinge, die mich seither so intensiv beschäftigt haben« (Freud, Sigmund, 1980: Briefe 1873 – 1939. Herausgegeben von Ernst und Lucie Freud. Frankfurt/M. 3. Aufl., 316). Vielleicht war die Begegnung mit dem Geisteswissenschaftler und die durch die Übersetzungsarbeit bedingte Beschäftigung mit geisteswissenschaftlichen Themen nicht ganz unschuldig daran, daß Freud sich nach der jahrelangen Konzentration auf Fragestellungen der Physiologie wieder für die Probleme des Geistes öffnete.
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»Anna O.« bekannt gewordenen Patientin Bertha Pappenheim als »Keimzelle der ganzen Psychoanalyse«801 bezeichnet werden. iuventus: Entstehungsphase der Psychoanalyse (1885 – 1900) 2.2.4 Die Wiederkehr des Verdrängten: Von der Naturwissenschaft zur naturwissenschaftlich inspirierten Geisteswissenschaft »Da gibt es in der Welt etwas, es ist kurios zu sagen, was sich nicht wägen lassen will, nicht messen lassen will, dem Seziermesser und dem Mikroskop entgleitet und doch die fabelhaftesten Wirkungen übt. Die ganze Weltgeschichte ist eine Leistung dieses nicht wägbaren, nicht meßbaren, unsichtbaren und schlüpfrigen Dinges. […] Es ist die Seele.«802
1885 erhält Freud die lang ersehnte Dozentur für Neuropathologie und außerdem die Zulassung zum Habilitationsverfahren; daß er sich selbst am Beginn eines neuen Lebensabschnitts wähnt, demonstriert die von ihm in jener Zeit vorgenommene Verbrennung eines Großteils seiner Aufzeichnungen der letzten vierzehn Jahre. Vom Oktober 1885 bis zum Frühjahr 1886 verbringt Freud über vier Monate in Paris; an der dortigen SalpÞtriÀre – einer alten Irrenanstalt, die unter Charcot jedoch zu einem »der berühmtesten neurologischen Forschungszentren Europas«803 avanciert ist – steht im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung nicht mehr, wie in den Laboratorien Claus’ und Brückes und noch im Wiener Krankenhaus, wo er 1882 als Aspirant zu arbeiten begonnen und ein Verfahren zur Härtung und Einfärbung neurologischer Schnitte erfunden hat, die reine Anschauung naturwissenschaftlicher Phänomene, die Sektion organischen Materials, sondern die Arbeit am Patienten – die gewissenhafte Prüfung einer möglichst großen Zahl von Fällen und die Untersuchung aller zugehörigen Symptome führt Charcot zum Erfolg und übt so großen Einfluß auf den jungen Freud aus804. Über den bewunderten Lehrer sagt Freud, daß es selbigem »zwar keine Ruhe läßt, bis er ein Phänomen, das ihn beschäftigt, richtig beschrieben und eingeordnet hat, daß er aber dann sehr wohl eine Nacht schlafen kann, ohne die physiologische Erklärung der betreffenden Erscheinung gegeben zu haben«805. Dies ist die wichtigste Lehre, die Freud von Charcot empfängt: Die Physiologie kann zu Gunsten der genauen Beobachtung des Patienten vernachlässigt werden; nicht Nervenzellen oder auch Kokain (mit dem 801 Breuer in einem Brief an A. Forel, zit. bei Gay 1989, 79. 802 Döblin, Alfred, 1926: Zum siebzigsten Geburtstag Sigmund Freuds. In: Tögel, Christfried, 2006: Freud und Berlin. (Aufbau-Taschenbücher, 2188). Berlin, 163 – 175 (hier : 164). 803 Clark 1981, 81 bzw. (für das wörtliche Zitat) 86. 804 Clark 1981, 72 bzw. 91. Siehe auch Freuds eigenen Bericht über seinen Aufenthalt bei Charcot (Freud 1971, 134 – 137). 805 Freud 1971, 137.
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sich Freud vor seinem Pariser Aufenthalt beschäftigt hat), sondern der Mensch und seine Symptome bilden den Focus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. In gewissem Sinne kehrt Freud so zu den »menschlichen Verhältnissen«, zu Fragen der Anthropologie zurück, die ihn in seinen Jugendjahren beschäftigt hatten. Damit einher geht eine allmähliche Verlagerung des Interesses vom Physiologischen auf das Psychologische, er übt sich nun in Hypothesen über die Zusammenhänge zwischen körperlichen Symptomen und ihren eventuellen seelischen Ursprüngen806. Freilich entfernt Freud sich damit von der reinen naturwissenschaftlichen Methode, die ihn seine Arbeit in den Wiener Laboratorien gelehrt hat, gewinnt aber umgekehrt mehr Ganzheitlichkeit der Betrachtung. Die Begegnung mit Charcot, die Einsicht, daß die Ursache für Hysterie nicht physiologisch, sondern psychologisch zu erklären ist, gilt der psychoanalytischen Geschichtsschreibung als eigentlich auslösendes Moment der »fundamentale[n] Umorientierung seiner wissenschaftlichen Interessen von der Anatomie des Nervensystems zur Psychopathologie«, die ihn erst die enorme Tragweite der Breuer’schen Entdeckungen bei der Behandlung der Bertha Pappenheim habe verstehen lassen und die Chance zur Ausbildung der psychoanalytischen Methode gegeben habe807. Freuds Pariser Aufenthalt also markiert den Beginn der Entstehungsphase der Psychoanalyse und damit indirekt auch der sich an spätere psychoanalytische Erkenntnisse anschließenden Erweiterung auf Themengebiete der Gesellschaft, der Geschichte und der Kultur. Biographisch betrachtet handelt es sich bei dieser Umorientierung Freuds um eine Art von ›Wiederkehr des Verdrängten‹ in anderer Gestalt, eine ›Rückverschiebung‹ des einstigen philosophisch-anthropologischen Interesses auf »Probleme des Geistes«; dennoch ist die Grundlage der neuen wissenschaftlichen Betrachtung immer noch die in Studium und Labor erlernte naturwissenschaftliche Methode – daß selbige nun den physiologischen Purismus verliert, ist auch der Not geschuldet, die beobachteten Symptome schlechterdings nicht physiologisch erklären zu können808. Denn das Psychische birgt, wie Freud selbst sagt, »nicht meßbare« Quantitäten809 ; der Erforschung komplexer seelischer Prozesse eignet daher grundsätzlich etwas Spekulatives. Es handelt sich aber hier nicht um eine Spekulation von der Art vormoderner Mystiker oder auch nur idealistischer Transzendentalphilosophie, sondern um eine sozusagen 806 Clark 1981, 89. 807 Freud 1971, 127, editorischer Hinweis von Ilse Grubrich-Simitis. 808 Clark 1981, 99 bzw. 117 sowie Gay 1989, 96 f. Freud gibt in seinem Bericht über den Pariser Aufenthalt außerdem selbst den Hinweis, daß er seine ursprünglich geplanten anatomischen Untersuchungen aufgrund eines schlecht ausgestatteten Labors nicht habe durchführen können; die Beschäftigung mit nicht-anatomischen Fragestellungen ist also auch aus der Not ganz konkreter Arbeitsbedingungen geboren (Freud 1971, 132). 809 Studien über Hysterie, GW I, 141.
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empirisch bzw. naturwissenschaftlich fundierte Spekulation. Für die gerechte Beurteilung der Psychoanalyse als Wissenschaft jedoch ist etwas anderes von noch entscheidenderer Bedeutung: Die Abwendung von Anatomie und Physiologie und somit von naturwissenschaftlichem Purismus und die Hinwendung zu Fragen des menschlichen Geistes, wie Freud sie seit seinem Pariser Aufenthalt vollzieht, hat die eklatante Folge, daß die Psychoanalyse trotz ihrer naturwissenschaftlichen Herkunft nicht als Naturwissenschaft gewertet werden kann – sie ist strukturell davon verschieden: Eine Wissenschaft, die sich den Problemen des menschlichen Geistes widmet, ist vielmehr eine ›Geisteswissenschaft‹ als alles andere. Aus dem Naturwissenschaftler wird allmählich ein naturwissenschaftlich inspirierter Geisteswissenschaftler. Für Freud, der aus Geldmangel im März 1886 Paris verläßt und nach Wien zurückkehrt, um dort eine eigene Praxis zu eröffnen, wo er wie der verehrte Charcot u. a. die Hypnose anwendet, sind von nun ab Probleme des Geistes (zunächst in Gestalt der nicht zuletzt aus Paris hinlänglich bekannten Hysterie) sein Hauptaufgabenfeld. Wenn Freud Jahrzehnte später in Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung konstatiert, einige seiner Veröffentlichungen hätten »von vornherein gezeigt, daß die Lehren der Psychoanalyse nicht auf das ärztliche Gebiet beschränkt bleiben können, sondern der Anwendung auf verschiedenartige andere [!] Geisteswissenschaften fähig sind«810, so macht seine Fehlleistung deutlich, daß er sich vermutlich selbst insgeheim – und unbewußt, im Sinne einer verdrängten Wunschregung – als Geisteswissenschaftler fühlt. Schon Karl Jaspers kritisierte die Methodologie der Psychoanalyse, da selbige eigentlich Verstehende Psychologie sei, sich aber besonders in ihrer Terminologie fälschlicherweise als Naturwissenschaft geriere811. Später erhellen sowohl Ricœur als auch Marquard unabhängig voneinander die Gründe, die dafür sprechen, in der Psychoanalyse keine reine Natur- bzw. Beobachtungswissenschaft zu sehen: Freud beschäftigt sich nach seinem Pariser Aufenthalt und unter dem Eindruck der Zusammenarbeit mit Breuer, von dem er einige Patienten übernimmt812, mit Geschichten individueller Fälle; die »Fälle« der Psychoanalyse aber entsprechen Ricœur zufolge vom er810 Freud 1971, 161. Zu den hier zuvor kurz angerissenen biographischen Abläufen Gay 1989, 62 – 67, Clark 1981, 92 – 94 sowie Freud 1971, 138 (wo Freud auch auf einen ca. vierwöchigen Berlin-Aufenthalt unmittelbar im Anschluß an die Zeit in Paris eingeht). 811 Warsitz 1990, 63 f. Siehe hierzu Jaspers, Karl, 1946: Allgemeine Psychopathologie. Berlin. 4., akt. Aufl., 251: »Dadurch [gemeint ist die Verbindung geisteswissenschaftlicher Tradition mit der Psychiatrie, M.K.] wurde innerhalb der Psychopathologie das, was faktisch jederzeit aber zunehmend ärmer, und was in der Freudschen Psychoanalyse in wunderlichen Verkehrungen geschah und sich selber mißverstand, methodisch begriffen.« (Hervorhebung im Original) Die erste Auflage der Allgemeinen Psychopathologie erschien bereits 1913. Jaspers war einer der wenigen klinischen Psychiater, die Freud in jener Periode überhaupt zur Kenntnis nahmen (Warsitz 1990, 62 f.). 812 Clark 1981, 126.
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kenntnistheoretischen Standpunkt aus eher den »Idealtypen« im Sinne Max Webers denn naturwissenschaftlich erklärbaren Tatsachen. »Man muß Freud die gleichen Fragen stellen, wie man sie Dilthey, Max Weber, Bultmann stellt, nicht solche, wie man sie einem Physiker oder Biologen stellt.« Die »Erfahrung« der Psychoanalyse habe »weit größere Ähnlichkeit mit dem Verstehen als mit dem Erklären«, die Probleme der Psychoanalyse ähnelten sehr viel mehr denen der Geschichtswissenschaft als denen der Beobachtungswissenschaften813. Diese Ansicht teilt im Prinzip auch Marquard, wenn er schreibt: »[D]ie Psychoanalyse entdeckt und diskutiert die Probleme des geschichtlichen Daseins. Sie konnte das, weil und insofern nicht die Nähe zu einer ›mechanistischen‹ Naturwissenschaft, sondern die Nähe zum geschichtlichen Denken das philosophisch erhebliche Kennzeichen dieser Psychologie ist«. Die Psychoanalyse verwandle die »naturwissenschaftliche[…] Denkweise« dergestalt, »daß diese Denkweise […] empfindlich wurde« für historische (und philosophische) Fragen; die Psychoanalyse sei der »Versuch zu einer genealogischen Philosophie«, die nicht auf der Grundlage eines Bewußtseins, sondern von dessen »(gegf. unbewußte[r]) Geschichte« aufbaue814. Die Psychoanalyse als Naturwissenschaft zu begreifen freilich ist ein Irrtum, dem nicht nur ihre Gegner, sondern Freud selbst erlegen ist. Wenige Jahre nach Ricœur und Marquard wird Jürgen Habermas es als »szientistische[s] Selbstmißverständnis« bezeichnen, »daß Freud in der Tat eine neue Humanwissenschaft begründet, aber in ihr stets eine Naturwissenschaft gesehen hat«815. Der oben bereits thematisierte »Doppelcharakter der Psychoanalyse«816, in den Worten Ricœurs eine »gemischte Rede«817, d. h. weder Natur- noch Kulturwissenschaft in Reinform zu sein, fordert eine die methodologische Orthodoxie zum Bewertungsmaßstab erhebende Kritik geradezu heraus. Dieser 813 Ricœur 1969, 383. Lorenzer hält die von Charcot entwickelte »Typenbildung«, die, so meine Vermutung, zumindest gewisse Parallelen zur Weber’schen Idealtypenbildung aufweist, für eines der entscheidenden »Vermittlungsgelenk[e]« »zwischen den beiden ›Polen‹ der Freudschen Erkenntnisanstrengung« (Lorenzer 1984, 149). 814 Marquard 1987, 15 f. (Hervorhebungen im Original). Vgl. oben, Kapitel Ambivalenzen und Entwicklungslinien. 815 Habermas 1968, 300 f. (Hervorhebungen im Original). Straub hält es übrigens für fraglich, ob Freud tatsächlich so sehr Opfer eines derartigen Selbstmißverständnisses war, wie von Habermas unterstellt und weist darauf hin, daß Ricœur diesbezüglich »[e]ine differenziertere Auffassung« verfochten habe: »Er hat die hermeneutischen Grundlagen der Psychoanalyse freigelegt, ohne die (Trieb-)Ökonomik und Energetik über Bord zu werfen, was nicht zuletzt bedeutet, daß die Extensionalität des in die Neurophysiologie hineinreichenden Denkens Freuds als produktiv anerkannt wird.« (Straub 1999, 280 Anm. 37) 816 Grubrich-Simitis 1993, 352. Vgl. das Anthropologie-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 817 Ricœur 1969, 79. Ricœur »möchte zeigen, daß diese offenbare Ambiguität wohlbegründet und daß diese gemischte Rede die Basis der Psychoanalyse ist.« Er hält beide Dimensionen der »gemischten Rede« für nötig.
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Doppelcharakter ist umgekehrt jedoch ein historisches Faktum, dem man seinerseits am ehesten durch ein historisches Verständnis, ergo durch eine Vergegenwärtigung der Genesebedingungen der Psychoanalyse gerecht wird818 : Ihre Wurzeln liegen nun einmal in der Naturwissenschaft; sie ist ferner Resultat eines durch die sich am Beobacht-, Feststell- und Überprüfbaren orientierende methodologische Sozialisation hindurchgegangenen anthropologischen Interesses, das sein Untersuchungsmaterial empirisch und nicht durch Spekulation gewinnt. Grundlage ist eine spezifische – nämlich in der Arztpraxis sich abspielende – Form von ›Feldforschung‹, wie sie auf anderer Ebene nicht nur die Sozialund Kulturanthropologien, sondern auch die Verhaltensbiologie betreibt. Im Unterschied zur Biologie freilich ist das entscheidende Mittel des Erkenntnisgewinns in der Sozialanthropologie genau wie in der Psychoanalyse die Sprache, die verbale Kommunikation mit dem Untersuchungsobjekt819. Die ebenfalls durch Kommunikation gewonnene, für die Entstehung der Psychoanalyse zentrale Erkenntnis, daß hinter körperlichen Symptomen lebensgeschichtliche Ursachen sich verbergen, kann man indes als historischen Zufall werten – einen Zufall freilich, der ohne eine entsprechende Prädisposition, ohne ein gewissermaßen ›humanwissenschaftliches‹ Interesse bei Freud nicht möglich gewesen wäre. Die methodische Orientierung an den Naturwissenschaften ist in den historischen Kulturwissenschaften im übrigen nichts Außergewöhnliches – im Gegenteil verdankt sich die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert vor allem auch der Auseinandersetzung mit und der Orientierung an den Naturwissenschaften820. In der Ganzheitlichkeit des psychoanalytischen Ansatzes, in der »Verknüpfung von Erleben und Leiberfahrung«821, liegt wiederum – dies sei hier allerdings aufgrund der bei solch umfassenden Fragestellungen ja immer gebotenen Vorsicht lediglich als Hypothese formuliert – möglicherweise das Potential zu einer zukünftigen Überbrückung des Gegensatzes von Erklären und Verstehen. 818 Hierzu auch Lorenzer 1984 sowie Grubrich-Simitis 1993. 819 Die von Beginn an vorhandene relative Offenheit der Ethnologie gegenüber Fragestellungen der Psychoanalyse mag aus dieser methodologischen Verwandtschaft resultieren, die sich nicht im Quellenstudium erschöpft, sondern sich gewissermaßen den ›ganzen‹ Menschen zum Untersuchungsgegenstand wählt und mit ihm kommuniziert und interagiert. Hier sei überdies daran erinnert, daß auffällig viele derjenigen Forscherpersönlichkeiten, die Entscheidendes zur Verknüpfung sozial- und kulturwissenschaftlicher Ansätze mit solchen der Psychoanalyse beigetragen haben, wie Freud über eine medizinische Ausbildung verfügten, ›Menschenwissenschaftler‹ par excellence waren (so u. a. Norbert Elias, Alexander Mitscherlich, Alfred Lorenzer). Zur Bedeutung der Sprache in der Psychoanalyse vgl. im übrigen besonders das folgende Kapitel der vorliegenden Arbeit. 820 Rohbeck 2004, 74. 821 Lorenzer 1984, 162.
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2.2.5 Freud als Schriftsteller: Von den Fallgeschichten zur Theoriebildung »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.«822
Freud macht für diese Tatsache »die Natur des Gegenstandes […] eher verantwortlich […] als [s]eine Vorliebe«; und er hat insofern nicht unrecht, als erstere tatsächlich »eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist«, erforderlich macht, da die physiologische Erklärung hier zur Erfassung der Phänomene nicht ausreichen würde. Freud unterschlägt andererseits freilich, daß auch seine eigene Vorliebe ihm die Feder geführt haben dürfte. Denn schon als Jugendlicher offenbarte er »ein Sprachtalent von solcher Außerordentlichkeit […], daß er für einen Beruf, in dem er seine ungewöhnliche Begabung hätte anwenden können, prädestiniert schien«. Freud aber wählte aus nunmehr hinreichend untersuchten Gründen einen Beruf, bei dem er diese Begabung gar nicht benötigte; und bei der Lektüre seiner Schriften aus jener Periode, da er sich von »Poesie und Phantasie« verabschiedete, »hat man den leisen Eindruck, daß Freuds Sprache zu der Zeit etwas von ihrem alten Glanz eingebüßt habe«, wie Eissler konstatiert823. Die seit seinem Pariser Aufenthalt statthabende Hinwendung zu Problemen des Geistes, zu gewissermaßen ›historischen‹ Fällen und deren sprachlicher Fixierung aber geht einher mit einer erneuten Ermächtigung des Lustprinzips, das sich nicht zuletzt in Gestalt der wiedergewonnenen Lust an sprachlicher Ausschmückung durchzusetzen beginnt. Während er sich in der 1891 erschienenen Schrift Zur Auffassung der Aphasien dem Thema der Sprachstörungen noch ganz in physiologischer Manier zuwendet824, veröffentlicht Freud, zusammen mit Breuer, zwei Jahre später – nach dem Tod der ehemaligen Mentoren Brücke und Meynert – im Neurologischen Zentralblatt die Vorläufige Mitteilung, in der sie die Fachwelt über ihre Beobachtungen informieren, daß physische Symptome entgegen der herrschenden Ansicht Ergebnis psychischer Vorgänge seien, und 822 GW I, 227 (Epikrise zur Krankengeschichte der Elisabeth v. R. aus den Studien über Hysterie). 823 Eissler 1974, 78 f. Schon Freuds Deutschlehrer bescheinigte seinem Schüler im Hinblick auf dessen Aufsatz für die Maturaprüfung, er habe »einen idiotischen Stil« im Herder’schen Sinne, d. h. einen unverkennbaren Stil, der »zugleich korrekt und charakteristisch ist« (Freud 1971, 119; Hervorhebung im Original). 824 Allerdings versäumt er es auch in dieser medizinischen Schrift nicht, die Bedeutung der psychologischen Methode zu unterstreichen, so in der Inhaltsangabe GW I, 473: »Die Natur des hier abgehandelten Gegenstandes erforderte vielfach ein näheres Eingehen auf die Abgrenzung zwischen der physiologischen und der psychologischen Betrachtungsweise.«
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dabei zugleich die heilende bzw. »abreagierende« Funktion der Sprache besonders hervorheben. Sprache sei »ein Surrogat für die Tat«825. Der neue Mut zur Sprache, der bald seinen Siegeszug in Freuds Œuvre hält, ist möglicherweise auch Resultat der Einsicht in die Bedeutung der Sprache für die Therapie. Der Wiederabdruck der Vorläufigen Mitteilung bildet das erste Kapitel für die 1895 veröffentlichten Studien über Hysterie, die als »eigentliche Einführung der Psychoanalyse in die Welt« zu gelten haben. Auf die Vorläufige Mitteilung folgen darin fünf Krankengeschichten826, in denen sich Freud als eine Art medizinischer Novellist und »Romancier«827 betätigt. Bereits den Studien über Hysterie attestiert Muschg »literarischen Anspruch«. Sie enthielten »die Spur einer ungewöhnlichen Gabe, Gedankliches sinnlich faßbar wiederzugeben. Das Mittel dazu ist die Metapher, die bildliche Ausdrucksweise«828. Die Beziehung zwischen dem historiographischen Text – auch eine psychoanalytische Fallgeschichte ist letztlich ein solcher – und seinem Referenten gleicht, wie oben bereits ausgeführt, nach Ricœur jener zwischen dem Träger einer Metapher und deren Sinn; die Metapher ist ferner nach Lacan das sprachliche Analogon zur Verdichtung, eine »Überlagerung von Signantien«829. Die psychopathologischen Phänomene, die Freud in seinen Fallgeschichten untersucht, sind ihrerseits überdeterminiert – daher ist der metaphorische Stil Freuds der Komplexität des Dargestellten am ehesten angemessen, wenngleich die Linearität der Sprache der Überlagerung seelischer Begebenheiten niemals vollständig genügen kann830. Freuds Meta-
825 GW I, 87. Auch der Ausdruck »verdrängt« wird hier erstmalig verwendet (so Clark 1981, 153 mit Bezug auf GW I, 89; zu den hier geschilderten biographischen Abläufen ebd.), außerdem werden schon erste Vergleiche angestellt zwischen der Hysterie und den Träumen (z. B. GW I, 92) und zur Untermauerung und Veranschaulichung des Mitgeteilten einige Patientenbeispiele vorgestellt. (Gleichwohl räumen die Verfasser ein, daß »nur der Mechanismus hysterischer Symptome und nicht die inneren Ursachen der Hysterie unserer Kenntnis näher gerückt worden sind« (GW I, 97).) 826 Clark 1981, 154 (die erste davon zu Anna O., geschrieben von Breuer und nicht in den GW enthalten, die restlichen aus Freuds Feder: A: Emmy v. N.; B: Miss Lucy R.; C: Katharina; D: Elisabeth v. R.). 827 Gamm 2001c, 131. 828 Muschg, Walter, 1975: Freud als Schriftsteller. (Kindler-Taschenbücher, 2159). München, 18 (meine Hervorhebung). Eine Liste der von Freud in seinen kulturtheoretischen Schriften verwendeten »Gleichnisse« findet sich übrigens im Namen- und Sachregister des IX. Bandes der kritischen Frankfurter Studienausgabe (Neuaufl.: Freud, Sigmund, 1986a: Kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/M., 612 f.) 829 Vgl. das Hayden White gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit mit den dortigen Literaturhinweisen. 830 Hierzu Mahony, Patrick, 1989: Der Schriftsteller Sigmund Freud. Übersetzt von Helmut Junker. (Edition Suhrkamp, 1484). Frankfurt/M., 17: »Ungeachtet seiner verbalen Fähigkeiten war sich Freud der sozusagen hinkenden Natur der Sprache (vgl. GW 13, 69) schmerzlich bewußt, wenn sie ein verläßliches Instrument zur Beschreibung von Krankenbehandlungen abgeben sollte [..] Psychische Ereignisse sind überdeterminiert und
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phorik bedient sich schon in der Fallgeschichte der Elisabeth v. R. in Anbetracht der Überlagerung psychischer Phänomene des Vergleichs mit seiner besonderen Leidenschaft, der Archäologie: »So gelangte ich bei dieser ersten vollständigen Analyse einer Hysterie, die ich unternahm, zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode erhob und zielbewußt einleitete, zu einem Verfahren der schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials, welches wir gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu vergleichen pflegten.«831 Die Fallgeschichte der Elisabeth v. R., von Muschg als »erzählende Kunst, beruhend auf einem lustvollen Gestalten und Verweilen«832 bezeichnet, nimmt also in Freuds frühem Œuvre eine besonders exponierte Stellung ein, da sie für die Freud’sche Theoriebildung von bis dahin unvergleichlichem Wert war. Unter Zuhilfenahme der in den Kapiteln über Danto, Ricœur und White skizzierten geschichtsphilosophischen Theorien soll daher im Folgenden eine knappe Analyse dieser Fallgeschichte unternommen werden, um etwaige Analogien zwischen Freuds psychoanalytischer Tätigkeit und einer formalen Philosophie der Geschichte, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, aufzuzeigen. Im Herbst 1892 kommt die 24jährige Elisabeth v. R.833 wegen seit zwei Jahren andauernder Beinschmerzen und einer dadurch bedingten Gehbehinderung zu Freud in die Praxis; sie ist allem Anschein nach Hysterikerin und hat folglich – dies ist die auf den Freud’schen und Breuer’schen Forschungen der vorangegangenen Jahre fußende Annahme – eine untold story, die es zu erzählen gilt. Die herkömmliche Methode der Behandlung wäre, eine physiologische Erklärung des Leidens zu finden, den wie auch immer gearteten ›Text‹ der Krankheit naturwissenschaftlich-kausal zu erklären. Hier bestehen gewisse Parallelen zum Anliegen der analytischen Philosophie und speziell Hempels, historische Ereignisse – und eine hysterische Erkrankung stellt im weiteren Sinne auch ein solches historisches Ereignis dar – unter Naturgesetze zu subsumieren. Das damit verbundene »Schwinden der Erzählform«834 jedoch hat sich als ungeeignet erwiesen, die hinter den Symptomen verborgene nicht erzählte Geschichte zu explizieren und damit letztlich die Hysterie aufzulösen. Auch die Bruchstücke der untold story, die in Form frei assoziierter Wörter oder einzelner Sätze von der Patientin mitgeteilt werden, genügen für sich genommen nicht, eine kohärente Geschichte zu formulieren835 ; es fehlt das entscheidende Element der Fabel.
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beziehen Inhalte gleichzeitig aus verschiedenen, übereinander gelagerten Schichten, werden als Text jedoch zu einem einzigen verbalen Band verflacht.« GW I, 201. Muschg 1975, 19. Eigentlich Ilona Weiss (Gay 1989, 87). Ricœur 1988, 167. Erst in der Zusammenschau läßt sich aus den frei assoziierten Wörtern eine Geschichte
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Diese Fabel wird erst greifbar in Form der vollständigen Krankengeschichte, also am Ende der Therapie: Der Beinschmerz der Elisabeth v. R. entpuppt sich als körperliches Symbol ihres schmerzvoll wahrgenommenen »Alleinstehen[s]«836 und der damit verbundenen Verdrängung von Todeswünschen gegen die eigene Schwester, in deren Mann sie sich verliebt hatte. Freuds Vorgehen bei der Analyse gleicht in vielem der »historischen Operation«, die Ricœur der rhetorischen Praxis gegenüberstellt837. So wie der Historiker in der Phase dokumentarischer Forschung in ›Dialog‹ tritt mit den relevanten Quellen – seien es Texte, materielle Überreste oder Augenzeugen – so findet auch Freuds historische Operation in einem Zwiegespräch mit einer ›Augenzeugin‹ statt. Dokumentarische Forschung und Erklärungsphase – denen auf dem Gebiet der Rhetorik inventio und dispositio entsprechen – sind in diesem Fall kaum voneinander zu trennen, denn beides ereignet sich zum größten Teil in den Therapiesitzungen selbst, wenngleich die Erklärung erst am Ende der Therapie vollständig wird. Ist die Analyse erfolgreich abgeschlossen, kann auch die Phase der dispositio in die der schriftlichen Fixierung, der elocutio, überführt werden, was Freud auf seine Weise, in Form der vielgelobten Novellen, realisiert. Ricœurs Postulat der Einheit der historischen Operation wird auf diese Weise idealtypisch eingelöst. Dies verdankt sich wohl nicht zuletzt dem Umstand, daß Freud »mit der klassischen Rhetorik wohlvertraut ist und diese Kenntnis auch im öffentlichen Diskurs zu operationalisieren versteht.«838 Der Privatdozent Freud erkennt für seine Krankengeschichten die gleiche Erfordernis wie für seine Vorträge, nämlich die »der Publikumsbeziehung, die nur mit (im neutralen Sinn) rhetorischen Mitteln hergestellt und aufrechterhalten werden kann«. Freud ist auch als Schreibender eigentlich Redner, »[d]ie Rede-Situation schimmert sozusagen noch durch die Schreib-Situation hindurch«839. Die Publikumsbeziehung ist nach Ricœurs mimesis-Modell insofern von Bedeutung für die inhaltliche Figuration einer Geschichte, als das Vorverständnis auf Seiten des Lesers unabdingbare Voraussetzung für seine Rezeption und sein richtiges
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rekonstruieren, was allerdings die aktive Beteiligung und damit auch eine gewisse schöpferische Begabung des Behandlers zur Voraussetzung hat (GW I, 277). GW I, 217 (gesperrt im Original). Vgl. Ricœur 1996 sowie das Ricœur-Kapitel der vorliegenden Arbeit. Haas, Michael, 2004: Sigmund Freud als Essayist. Untersuchungen zu Idee und Form des psychoanalytischen Essays bei Sigmund Freud. (Schriftenreihe Poetica, 75). Hamburg, 76. Schönau, Walter, 1968: Sigmund Freuds Prosa. Literarische Elemente seines Stils. (Germanistische Abhandlungen, 25). Stuttgart, 230 f. Schönau nennt hierfür folgende Gründe (ebd.): »Der mündliche Charakter, die Berücksichtigung des Publikums, die Vorwegnahme gewisser Einwände, die Tendenz zur Dialogisierung – dies sind Merkmale seiner Schriften, die das Grundmodell seiner Mitteilungs- und Darstellungsweise noch erkennen lassen.« Mahonys Kritik an Schönau und gleichzeitige Argumentation, »daß Freuds Schreiben Wissen erzeugt und nicht nur beschreibt« (Mahony 1989, 21 f., Hervorhebung im Original) steht freilich nicht zwingend im Dissens zur Kennzeichnung Freuds als Rhetoriker.
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Verständnis der Geschichte selbst ist. Im Falle der Studien über Hysterie leistet der Wiederabdruck der Vorläufigen Mitteilung, neben der üblichen Vertrautheit des Lesers mit Strukturmerkmalen seelischer Vorgänge, einen hierüber hinausgehenden entscheidenden Beitrag zur Präfiguration der mimesis I. Die Fabelkomposition der mimesis II birgt allerdings die Schwierigkeit, nicht nur den bloßen Ablauf der Geschehnisse in den Therapiesitzungen unter dem Gebot der Beschränkung auf Relevantes zu berichten, sondern währenddessen immer auf die von der Patientin mitgeteilten Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit zu rekurrieren840, also gleichsam mindestens zwei Ebenen der Vergangenheit in der Konfiguration der Fabel zu berücksichtigen. Nur der Reihenfolge nach zu erzählen, was nacheinander in der Therapie geschah, wäre nicht ausreichend – denn entscheidend ist das Wissen um die Symptomgenese und um die Bedeutung dieses Falles für Freuds eigenes psychoanalytisches Verfahren. »Alle psychoanalytisch orientierten Fallgeschichten […] müssen expandierende und strukturierende, progressive und regressive Zeitachsen gleichermaßen darstellen«841, wie Evelyne Keitel es formuliert. Überdies besteht das Problem, der Überdeterminiertheit der geschilderten Phänomene ganz allgemein wenigstens näherungsweise gerecht zu werden. Freud muß folglich eine Art »komplexe Metapher« erzeugen. Schon für Aristoteles war »[d]ie zentrale Analogiebildung, auf der die Wirkung der Dichtung« sowie die »Interaktion von Text und Leser« fußt, »die Fabelkomposition, die darauf hinausläuft, eine komplexe Metapher zu bilden. […] Die Zusammenfügung der Geschehnisse, also die Fabelkomposition, ergibt den ›mythos‹«, welcher durch drei Eigenschaften charakterisiert ist: »Ganzheit, Folgerichtigkeit und Schönheit«842. Vor allem die Eigenschaften der »Ganzheit« und »Schönheit« sind es, die den Novellencharakter von Freuds Krankengeschichten hervorrufen. Die Leserfreundlichkeit seiner Texte aber verdankt sich noch einer weiteren rhetorischen Strategie, die Freud anwendet: Entgegen der üblichen unpersönlichen Diktion wissenschaftlichen Schreibens, das hauptsächlich wenn nicht ausschließlich die dritte Person sowie Passiv- statt Aktivformen gebraucht und so einen hermetischen Charakter des Textes bewirkt, benutzt Freud vor allem die erste und zweite Person und aktivische Formen; er macht den Leser zu seinem Begleiter, der sich vollends mit ihm identifizieren kann: »In Freuds Schriften sind Autor und Leser in der Erarbei840 Die Assoziation des Patienten geht schließlich immer durch Regression auf vergangenes Geschehen zurück. Zum allgemein ›historischen‹ Charakter der Psychoanalyse Freuds eigene diesbezügliche Aussagen in Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, GW X, 47 sowie Freud 1971, 146. 841 Keitel, Evelyne, 1986: Psychopathographien. Die Vermittlung psychotischer Phänomene durch Literatur. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 3. Folge, 71). Heidelberg, 91 (Hervorhebungen im Original). 842 Bauer 2005, 15.
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tung des Gegenstands schließlich ununterscheidbar«843. Freud erzeugt Wissen, indem er den Leser die eigene Erfahrung, den eigenen, durch die fortschreitende Behandlung seiner Patientin sich vergrößernden Erkenntnisgewinn nacherleben läßt. Die Konsequenz beim Leser für die Refiguration der mimesis III besteht darin, daß er die Bedeutung der bei der Behandlung der Elisabeth v. R. (und anderer Patienten) gewonnenen Erkenntnisse im besten Sinne nach-vollziehen kann. Trotz der Vereinigung unterschiedlicher, d. h. u. a. progressiver wie regressiver Zeitachsen und vorwärts und rückwärts gerichteten Einzelschritten steuern Freuds Fallgeschichten letztlich auf ein Ziel zu – der Nach-vollzug des Lesers gründet damit nicht zuletzt auf jener Eigenheit des Freud’schen Stils, die Mahony »prozessual« nennt; Freud wähle gerade in den Studien über Hysterie vor allem »die Vorsilben her- und hervor, die beispielhaft die phänomenologische und prozeßhafte Natur der deutschen Sprache veranschaulichen«. Deutsche Präfixe verwandelten »die lexikalische Wurzel im Sinne von wahrnehmbaren Vorgängen«, überdies tendierten – Mahony bzw. sein Gewährsmann Schotte beruft sich hier auf eine Bemerkung Hugo von Hofmannsthals – romanische Sprachen »zur Stase«, die deutsche hingegen »zu Lebhaftigkeit und Beweglichkeit«844. Neben angelsächsischen Beobachtern wie Mahony messen vor allem französische Autoren den spezifischen Eigenschaften der deutschen Sprache eine herausragende Rolle für die psychoanalytische Theoriebildung bei; so lotse »[d]ie Neigung des Deutschen zur ›Offenlegung‹, zur Bestandsaufnahme all dessen, was in ihm geschieht«, und außerdem »seine Fähigkeit, das Gemeinte sichtbar zu machen«, Georges-Arthur Goldschmidt zufolge »Auge (und Ohr) […] einerseits auf die Gesamtbetrachtung, andererseits auf die mehr oder minder bewußte Nichtwahrnehmung«845. Der Charakter der Anschaulichkeit und das Prozessuale des Deutschen also haben aus französischer wie angel843 Mahony 1989, 144. 844 Mahony 1989, 145 f. (Hervorhebungen im Original). Mahony bezieht sich hier seinerseits auf Jacques Schotte. Der prozessuale Schreibstil Freuds zeigt sich bereits in der ersten von Freud verfaßten Krankengeschichte der Frau Emmy v. N. 845 Goldschmidt, Georges-Arthur, 2006: Freud wartet auf das Wort. Freud und die deutsche Sprache II. Übersetzt von Brigitte Große. Zürich, 57. Dort heißt es weiter (ebd.): »Die psychoanalytische Eignung des Deutschen hat sich erst durch Freud als psychoanalytisch erwiesen […] – und zwar so, daß das Psychoanalytische gar nicht anders konnte, als sich im Deutschen zu manifestieren. […] Die Fähigkeit des Deutschen, Präpositionen und Substantive zu Gattungsnamen zusammenzufügen, erlaubt die beliebige Herstellung von Wörtern je nach den Erfordernissen der Umstände und des Augenblicks. Jedweder ›Sprecher‹ kann sich aus allen möglichen Elementen ein Wort basteln und läuft höchstens Gefahr, daß dieser Platz schon besetzt ist, das heißt – ein außerordentlich häufiges Phänomen –, der ›Sprecher‹ kann spontan Wörter kreieren, die es schon lange gab, ohne daß er davon wußte, was im Französischen fast ausgeschlossen ist.« Speziell den Fallgeschichten Freuds widmet sich aus französischer Sicht Chiantaretto, Jean-FranÅois, 1999: L’¦criture de cas chez Freud. Paris.
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sächsischer Sicht nicht unerheblichen Anteil an der Genese der Psychoanalyse. Das Prozessuale Freud’scher Fallgeschichten – oder auch seiner freilich auf nicht-fiktionalem Stoff beruhenden »Novellen« – bildet eine aufschlußreiche Parallele zum Wesen des Romans, das Georg Lukcs »als etwas Werdendes, als ein[en] Prozeß«846 definiert, der »die Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst«, »zur klaren Selbsterkenntnis«847 darstelle. »Die Welt des Romans weist einen Riss zwischen Innen und Außen, zwischen Seele und Umgebung auf« – diese Welt, die Welt des problematischen Individuums, ist im Grunde identisch mit der Welt der Neurotiker und Hysteriker, kurzum der Freud’schen Patienten. Es besteht so betrachtet ein struktureller Zusammenhang zwischen dem Weg des psychoanalytischen Patienten und dem des Roman-Individuums, dessen »Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies« sich Lukcs zufolge in der Kunst und besonders in jener Kunst, die sich durch Sprache artikuliert, durchsetzt848. Anders als Lukcs aber sieht Freud eine Möglichkeit der Heilung und Lösung und ergo Überwindung des zitierten Risses durch die Sprache849. Denn die Hysterie und letztlich die Seele schöpft, so Freuds am Ende der Epikrise zur Fallgeschichte der Elisabeth v. R. geäußerte Vermutung, möglicherweise aus derselben Quelle wie die Sprache850. Die Krankengeschichte selbst hat die Aufgabe, den psychoanalytischen Erkenntnisgewinn exemplarisch nachzuvollziehen; die nachfolgende Epikrise dient vor allem der verallgemeinernden Theoriebildung. Die Mittel, deren sich Freud dabei bedient, sind die Zusammenfassung des zuvor Mitgeteilten, der Vergleich mit anderen Krankengeschichten, letztlich die Verknüpfung beider zu allgemeinen Aussagen über das Wesen der Hysterie. Er formuliert die These der 846 Lukcs, Georg, 1971: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916/1920). (Sammlung Luchterhand, 36). Neuwied/Berlin, 62. 847 Lukcs 1971, 70. Jedoch: »Nach dem Erringen dieser Selbsterkenntnis scheint zwar das gefundene Ideal als Sinn des Lebens in die Lebensimmanenz hinein, aber der Zwiespalt von Sein und Sollen ist nicht aufgehoben und kann auch in der Sphäre, wo dies sich abspielt, in der Lebenssphäre des Romans nicht aufgehoben werden« (ebd.). 848 Bauer 2005, 48. 849 Die Sprache eignet sich vielleicht auch und gerade deshalb als Mittel der Überwindung des Risses zwischen Innen und Außen, weil sie sich, wie Gamm darlegt, derartigen Kategorisierungen prinzipiell entzieht (Gamm, Gerhard, 1992: Die Macht der Metapher. Im Labyrinth der modernen Welt. (Bibliothek Metzler, 8). Stuttgart, 153). (Technisch betrachtet wird sie überdies im ›Innen‹ des Organismus gebildet, gelangt mithilfe von Schallwellen ins ›Außen‹, um durch das Hörorgan wieder im ›Innen‹ eines anderen Organismus anzukommen.) 850 GW I, 251. Die sprachliche Benennung erscheine nur wie eine »bildliche Übertragung«, »sehr wahrscheinlich« aber sei das Metaphorische »einmal wörtlich gemeint« gewesen, denn nach Darwin bestehe der »›Ausdruck der Gemütsbewegungen‹ […] aus ursprünglich sinnvollen und zweckmäßigen Leistungen«. Freud argumentiert hier freilich als Schüler der Biologie und nicht der Sprachphilosophie.
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»Bewußtseinsspaltung«, er berichtet vom »Widerstand« des Patienten851; von besonderer Bedeutung aber ist, wie auch von ihm selbst bemerkt, die sprachliche Form, durch die hier Wissen geschaffen wird. Der Schritt von der Physiologie hin zur Psychologie bedeutet gleichsam den Übergang von der Nervenzelle zum ganzen Menschen und damit zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, als die die Psychoanalyse sich zunehmend erweist; im Mittelpunkt von Freuds Arbeit stehen eben nicht länger Nervenzelle und Mikroskop, sondern der Patient und die Sprache, durch die er sich mitteilt. Freud, der »Historiker der Seele« (Alfred Döblin), gelangt von der Untersuchung hysterischer Symptome »zur Symptomgenese und schließlich zur Lebensgeschichte« des Patienten852 ; von der Lebensgeschichte aber führt ein weiterer Schritt zur Familie, von da aus zur Gesellschaft und letzten Endes zur Kultur. Folgt man den Überlegungen Ricœurs, so birgt theoretisch auch die überindividuelle Erzählung – beispielsweise der große kulturanalytische Essay, dem Freud sich in vorgerücktem Alter immer stärker zuwendet – potentiell kathartische Wirkungen nicht nur für das Individuum, sondern für die ganze Gesellschaft. Die »Novellen« der Krankengeschichten sind ihrerseits der erste Schritt auf dem Weg zu jenen großen Erzählungen menschlicher Geschichte und Kultur, deren letzte – kurz vor seinem Tod entstandene und sich dem Mann Moses und der monotheistischen Religion widmende – Freud selbst als einen »historischen Roman«853 angelegt hat. Es scheint, als habe sich Freud am Ende seines Lebens die spekulative Freiheit der Dichter nehmen wollen, die er um ihre Eingebungen nicht nur bewundert, sondern wohl auch ein Stück weit beneidet haben dürfte854.
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GW I, 233. Grubrich-Simitis 1971, 13 (meine Hervorhebung). Vgl. das dem genannten Aufsatz gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit. Vgl. hierzu ein Zitat aus seinem Essay über Jensens Gradiva: »In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben.« (GW VII, 33)
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2.2.6 Das Rätsel der Sphinx: Der Ödipuskomplex als Grundlage psychoanalytischer Anthropologie »Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit […]. Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern mußte. […] Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus, und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt.«855
1896, im Jahr nach der Veröffentlichung der Studien über Hysterie, stirbt Freuds Vater. Dieses, wie er es im Vorwort zur zweiten Auflage der Traumdeutung nennt, »bedeutsamste Ereignis […] im Leben eines Mannes«856 ist zumindest für seine in den späten 1890er Jahren unternommene Selbstanalyse857 von enormer Bedeutung, bei der er jene im Brief an Fließ beschriebene frühkindliche »Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater« entdeckt, die erst 1910 erstmalig als »Ödipuskomplex« bezeichnet wird858 und später als Kernkomplex aller Neurosen auch zur Grundlage einer psychoanalytischen Theorie der Kultur avanciert859. Freilich antizipierte bereits Schopenhauer die psychoanalytische »Polarität von Lust- und Realitätsprinzip« bezüglich des Ödipus von Sophokles; und für Nietzsche schließlich war Ödipus einer der großen dionysischen Heroen, dessen »apollinische (äußerlich beherrschte) Maske« die schweren seelischen Kämpfe weitgehend verberge, weswegen man nicht bei der Maske stehen bleiben dürfe, »sondern […] in die Abgründe des unbewußten Erlebens hinabsteigen [müsse]«860. Freud steht somit erneut in einer bestimmten, wenngleich vielleicht nicht bewußt erfahrenen Tradition und löst auch dieses Nietzscheanische Postulat ein. So bewundernswert allerdings das Projekt einer derartigen Selbsterforschung erscheinen mag, muß gleichsam konstatiert werden, daß sie eine professionelle Analyse nicht ersetzt und daß Freud mit großer Wahrscheinlichkeit nicht alle seine Konflikte bewältigte. Vor allem das oben861 erwähnte, von Ambivalenzen nicht freie Verhältnis Freuds zu seiner 855 Brief an Fließ vom 15. 10. 1897. Freud 1986b, 293. 856 GW II/III, X. 857 Zur Selbstanalyse u. a. Gay 1989, 114 – 119. Der Selbstanalyse Freuds widmet sich ferner Anzieu in einer zweibändigen Untersuchung (Anzieu, Didier, 1990: Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse. 2 Bde. Übersetzt von Eva Moldenhauer. München/ Wien). 858 Laplanche/Pontalis 1972, 351. 859 GW IX, 188. 860 Gödde 1999, 276. 861 Vgl. Kapitel Ambivalenzen und Umwege: Vom Lust- zum Realitätsprinzip.
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Mutter blieb vermutlich weitgehend unanalysiert862. Die angenommene starke Mutterbindung mag ihren Teil dazu beigetragen haben, daß Freud die ödipale Situation selbst womöglich insgesamt gravierender, dringlicher, deutlicher erlebt hat, was wiederum viele seiner auf dem Ödipuskomplex aufbauenden Theorien – hier ist besonders an die später in Totem und Tabu entwickelten Hypothesen zu denken – entscheidend beeinflußt haben dürfte863. Für die Möglichkeit einer universellen Gültigkeit des Ödipuskomplexes sind die Bedingungen seiner Entdeckung, zu denen auch Freuds eigene Sozialisation in einem bestimmten kulturellen Umfeld gerechnet werden muß, von ausgesprochener Wichtigkeit. So nennt Anne Parsons unter der besagten Fragestellung zum einen »die hebräische Tradition«, zum anderen »die protestantische Leistungsethik«, die »Freuds patriarchalische Haltung« und gleichzeitig sein Bild des Ödipuskomplexes geprägt hätten864 ; diese prinzipiell nicht falsche Analyse ist sicher dahingehend einzuschränken, daß die protestantische Leistungsethik den im katholischen Wien lebenden Juden Freud allenfalls indirekt oder aber in dem übertragenen Sinne, daß die Juden die »Protestanten« Wiens waren und daher eine der protestantischen vergleichbare Leistungsethik kultivierten865, beeinflußt haben kann. Bereits zu Lebzeiten Freuds, in den 1920er Jahren, fand zwischen Ernest Jones und dem Ethnologen Malinowski eine Debatte über die universelle Gültigkeit des Ödipuskomplexes statt866. Malinowski, der als erster Ethnologe psychoanalytische Vorstellungen in der Feldforschung berücksichtigte867, äußerte hieran Zweifel, da seine Untersuchungen bei den matrilinear organisierten Trobriandern ergeben hatten, daß die biologische Vaterschaft in ihrer Verwandtschaftsstruktur keine Rolle spielte und die von Freud beschriebene ödipale Konstellation damit entfiel. Vielmehr waren das Verhältnis von 862 Siehe hierzu Gay 1989, 106 f.: »Es ist von Bedeutung für die Geschichte der Psychoanalyse, daß Freud so sehr der Sohn seines Vaters war und sich mehr Gedanken über die Beziehungen zum Vater machte als über die Beziehungen zur Mutter und daß er unbewußt darauf bedacht war, etwas von seiner Ambivalenz gegenüber der Mutter unanalysiert zu lassen.« 863 Vgl. das entsprechende Kapitel der vorliegenden Arbeit. Eine gewisse Einseitigkeit und ein Hang zur gebieterischen Orthodoxie kennzeichnet allgemein Freuds Verhältnis zur eigenen Ödipuslehre. 864 Parsons, Anne, 1974: Besitzt der Ödipuskomplex universelle Gültigkeit? Eine kritische Stellungnahme zur Jones-Malinowski-Kontroverse sowie die Darstellung eines süditalienischen Kernkomplexes. In: Muensterberger, Werner (Hg.), 1974: Der Mensch und seine Kultur. Psychoanalytische Ethnologie nach Totem und Tabu. Übersetzt von Dieter Dörr. München, 206 – 259 (hier: 250 f.). 865 Beller, Steven, 1993: Wien und die Juden 1867 – 1938. Übersetzt von Marie Therese Pitner. (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, 23). Wien u. a., 264. 866 Eine zusammenfassende Darstellung dieser Kontroverse bietet Anne Parsons in ihrem o.g. Aufsatz (206 – 215). 867 Reichmayr, Johannes, 1995: Einführung in die Ethnopsychoanalyse. Geschichte, Theorien und Methoden. (Fischer-Taschenbuch, 10650). Frankfurt/M., 38.
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Bruder und Schwester und die Rivalität zwischen Onkel (nämlich dem Bruder der Mutter) und Neffe (dem Sohn der Schwester) von besonderer Bedeutung868. Jones verteidigte jedoch die Ödipustheorie in ihrer orthodoxen Form, indem er das Unverständnis der Trobriander für das Prinzip biologischer Vaterschaft, ja das ›mutterrechtliche‹ System selbst als Ausdruck einer Abwehr und »Verneinung« der problematischen ödipalen Vater-Sohn-Beziehung interpretierte. Es erscheint allerdings fraglich, ob ein komplexes »soziales System allein auf der ›Verneinung‹ eines Affektes« beruhen kann. Der Umstand, »daß es Gesellschaftsformen mit ganz unterschiedlichen Familienstrukturen und voneinander abweichenden Inzest-Verboten gibt, die sich auf keinen Fall allein aus den biologischen Tatsachen der Paarung und Fortpflanzung erklären lassen«869, hat darüber hinaus dazu geführt, daß die These von der Bedeutung des aus der patriarchalisch geprägten Dreiecksbeziehung resultierenden Ödipuskomplexes als »kulturanthropologische Invariante« heute als obsolet gilt870. Der vor allem in der Mathematik gebräuchliche Begriff der Invariante allerdings bezeichnet etwas Unveränderliches und Statisches, das dem dynamischen Charakter psychoanalytischer Vorstellungen nicht gerecht wird. Anne Parsons weist darauf hin, daß nach der psychoanalytischen Triebtheorie »Quelle, Objekt und Ziel von Trieben verschiebbar« sind und »bereits die frühesten Formulierungen Freuds die Möglichkeit variabler Familienstrukturen miteinbezogen«, das Übereinstimmen von biologischer und sozialer Verwandtschaft also durchaus nicht die unabdingbare Voraussetzung für die Identifikation des Knaben mit einer das Väterliche repräsentierenden männlichen Figur darstellt. Ebenso in matrilinearen Gesellschaftsformen sei die Dreier-Beziehung hingegen das ausschlaggebende Moment. Parsons plädiert für eine Erweiterung der Ödipustheorie, die die kulturellen Unterschiede berücksichtigt und so die Jones-Malinowski-Kon868 Parsons 1974, 206 f. In aller Kürze sei darauf verwiesen, daß sich nach Malinowski freilich noch viele andere Wissenschaftler mit der Trobriander-Problematik auseinandergesetzt haben: So untersuchte Annette Weiner vor allem die in ihren Augen durch Malinowski falsch bewertete Stellung der Frau (Weiner, Annette B., 1976: Women of value, men of renown. New perspectives in Trobriand exchange. Austin), während beispielsweise Melford Spiro sich explizit mit der Ödipusthematik beschäftigte (Spiro, Melford E., 1982: Oedipus in the Trobriands. Chicago). 869 Parsons 1974, 207 – 209. Norbert Bischof schließlich formulierte die These von der biologisch bedingten Inzestbarriere, die zumindest vordergründig mit der psychoanalytischen Vorstellung von infantilen Inzestwünschen kollidiert (Bischof, Norbert, 1985: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonflikts von Intimität und Autonomie. München/Zürich). Daß das Inzesttabu hingegen nicht auf biologische, sondern gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen sei, macht Wesel geltend (Wesel 1980, 82 f.). Als explizite philosophische Kritik an der Psychoanalyse und insbesondere dem psychoanalytischen Ödipusthema versteht sich ferner Deleuze, Gilles/Guattari, F¦lix, 1974: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt/M. 870 Gamm 2001c, 132.
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troverse beizulegen imstande wäre871. Hier läßt sich anknüpfen an das oben872 vorgestellte Konzept der Historischen Anthropologie, das menschliche »Grundphänomene« in ihrem historischen Wandel und ihren unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen thematisiert. Zu den unbestreitbaren menschlichen Universalien zählen das Erwachsen-Männliche und das Erwachsen-Weibliche sowie das Kindlich-Männliche und das Kindlich-Weibliche und die jeweiligen Wechselbeziehungen untereinander. Wenn der Ödipuskomplex nun als Grundphänomen im o.g. Sinne begriffen wird, impliziert dies seine grundsätzliche historische und kulturelle Wandelbarkeit. Man könnte ihn kulturübergreifend definieren als das Hingezogensein des Kindes zur jeweils andersgeschlechtlichen erwachsenen Bezugsperson, in seiner negativen Form zur gleichgeschlechtlichen Bezugsperson (das realiter aber vor allem in der Mischform des »sogenannten vollständigen Ödipuskomplex[es]« vorkommt)873, ferner als Dialektik des Wunsches zu sein (nämlich wie die das Väterliche re-
871 Parsons 1974, 209 – 215 (meine Hervorhebung). Für die Variabilität des Ödipuskomplexes spricht u. a. auch Freuds Annahme einer ›negativen‹ Form und der Mischungen von positiver und negativer Form des Ödipuskomplexes, der somit nicht reduzierbar ist auf die bloße Rivalität zwischen Vater und Sohn (Das Ich und das Es, GW XIII, 261 sowie Laplanche/Pontalis 1972, 351 – 357). Gottfried Fischer postuliert im übrigen ein »ökologischdialektisches« Verständnis des Ödipuskomplexes, das einerseits dessen »determinativen« und »spezifizierenden« »Umweltbezug«, andererseits »die dialektische Beziehung von Subjektivität und Objektivität« der Umweltbedingungen einbezieht. »Die Umwelt des Individuums ist sowohl in ihrer objektiven Beschaffenheit zu berücksichtigen als auch in ihrer subjektiven Besonderheit als individuelle und soziale ›Lebenswelt‹« (Fischer, Gottfried, 2005: Modell Ödipus – zwischen transgenerationaler Traumatisierung und Neurose. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.), 2005: Kulturtheorie. (Freiburger literaturpsychologische Gespräche, 24). Würzburg, 141 – 160 (hier: 145 f.)). Fischer betont ferner die Aktualität des Ödipuskomplexes, der »[i]n seiner Spannung zwischen Aufklärung und transgenerationalem Wiederholungszwang […] einen zentralen Aspekt unserer gesellschaftlichen Dynamik zum Ausdruck [bringt]« und nach wie vor Geltung als »Kernkomplex« beanspruchen könne (ebd. 159; ferner auch Fischer, Gottfried, 1998: Konflikt, Paradox und Widerspruch. Für eine dialektische Psychoanalyse. (Fischer-Taschenbücher, 13854). Frankfurt/M.). Die dialektische Dimension des Ödipuskomplexes auf der Ebene der Dreiecksbeziehung betonen Laplanche und Pontalis (1972, 352): »In Wirklichkeit lassen sich zwischen der positiven und der negativen Form eine ganze Reihe gemischter Fälle feststellen, bei denen die Formen in einer dialektischen Beziehung koexistieren«, beide Ausprägungen sind ergo »in unterschiedlichem Grade in dem sogenannten vollständigen Ödipuskomplex« enthalten (ebd. 351). Die Bedeutung des verneinenden Ergebnisses der von Greve und Roos unternommenen empirischen Studie zur Frage, ob Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren ödipale Tendenzen zeigen (Greve, Werner/Roos, Jeanette, 1996: Der Untergang des Ödipuskomplexes. Argumente gegen einen Mythos. Bern u. a.), relativiert sich demnach in Anbetracht der o.g. Tatsachen. 872 Vgl. das Anthropologie-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 873 Laplanche/Pontalis 1972, 351 (siehe oben). Der Komplex ist somit auch wesentlich komplexer als der eigentlich eher idealtypisch zu begreifende positive Ödipuskomplex in seinem traditionellen Verständnis.
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präsentierende erwachsene Person) und des Wunsches zu haben874 (nämlich die das Mütterliche repräsentierende erwachsene Person) und darüber hinaus als die Verdichtung aller am principium individuationis beteiligten Beziehungen sozialer, kommunikativer und allgemein psychologischer Art, die je nach soziokulturellem bzw. historischem Umfeld unterschiedliche Manifestationen erfährt. Seine besondere kulturtheoretische Bedeutung erhält der Ödipuskomplex aufgrund der allen Kulturen sich stellenden Herausforderung menschlicher Individuation, deren zentraler Kern – die Ablösung aus kindlicher Gebundenheit und gleichzeitige Initiation, für die sämtliche pristinen Kulturen Riten erfunden haben – in die Zeit der geschlechtlichen Reife, in die Pubertät fällt875. Die Pubertät aber ist nach psychoanalytischer Auffassung die der Wiederkehr des ödipalen Konfliktes und idealiter seiner Lösung, die entscheidende Weichenstellung im Reifungsprozeß. Die sich hieran anschließende Problematik muß in ebenfalls entscheidender Weise kulturell wirksam sein, zumal »die Individuation des Menschen immer auch Sozialisation ist«876. Den Beziehungen von »Adoleszenz und Kulturentwicklung« in ›heißen‹ und ›kalten‹ Kulturen geht beispielsweise u. a. der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim nach877. Im weiteren Sinne ist der Ödipuskomplex eine Metapher für den Generationendiskurs. Gerade in jüngster Zeit erlebt das Konzept der Generation sowohl »in den Geschichts-, Sozial- und Erziehungswissenschaften« als auch in der
874 Als Aufeinandertreffen dieser beiden Wünsche definiert Paul Ricœur den Ödipuskomplex (Ricœur 1969, 490): »Wunsch, zu sein wie, und Wunsch zu haben können sich einander nähern, sich vermischen, aber nur als zwei unterschiedene, wenn auch verschlungene Vorgänge.« 875 Freilich wird von der heutigen Forschung die Bedeutung der frühkindlichen, präödipalen Sozialisation betont sowie ferner die klassische Triebtheorie zugunsten einer Affekttheorie eingeschränkt (Gebhardt 2004, 264 f.). »[D]ie Sozialisierung« ist demzufolge kein »intrapsychische[r] Prozeß in der ödipalen Phase«, sondern ein »interaktive[r] Vorgang, der auf Selbstorganisation der intimen Erfahrungen und der sich im Pflegeverhalten manifestierenden gesellschaftlichen und individuellen Vorstellungen und der Sozialisationsgeschichte der Pflegepersonen beruht. […] Insofern sind kulturelle Vorstellungen und Formen frühkindlicher Sozialisation […] für den weiteren Verlauf des Vergesellschaftungsprozesses grundlegend« (ebd., 268, meine Hervorhebung). Die erste Phase der Vergesellschaftung liegt somit zeitlich vor der Verarbeitung des Ödipuskomplexes (hierzu u. a. die Arbeiten von Martin Dornes, 1993: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. (Fischer-Taschenbücher, 11263). Frankfurt/M.; Ders., 1997: Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre. (Fischer-Taschenbücher, 13548). Frankfurt/M.). Allerdings ist die frühkindliche Sozialisation ihrerseits umgekehrt auch entscheidend für Art und Ausprägung der ödipalen Situation. In einer patriarchalen Gesellschaft muß die patri-ödipale Situation besonders wirkmächtig sein. Grundsätzlich ist die Individuation und die selbige vollendende, in der Pubertät erfolgende Ablösung von den Eltern die vielleicht größte Herausforderung im Leben des Menschen. 876 Messner 1985, 11. 877 Erdheim 1982, 271 – 368.
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aktuellen publizistischen Belletristik eine bedeutende »Renaissance«878. Historisch betrachtet ist die Erfolgsgeschichte des Generationskonzepts eng mit derjenigen geschichtsphilosophischer Konzepte verknüpft: Die »jeweils junge […] Generation« wird seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkt als Trägerin »eine[s] in die Zukunft gerichteten gesamtgesellschaftlichen Fortschrittsprojekt[s]«, als entscheidender Motor einer ergo »generationellen Fortschrittsdynamik« begriffen879. Zukunftshoffnungen verbinden sich mit Erwartungen, die in die nachwachsende Generation gesetzt werden. Die Verwirklichung des von den Geschichtsphilosophien postulierten ›Zieles‹ der nunmehr als Kollektivsingular formulierten, vereinheitlichten Geschichte ist dementsprechend die Aufgabe der jungen Generation. Genau wie die Geschichtsphilosophie der Aufklärung selbst hat auch diese Idee fundamentale Krisen erfahren; dennoch »speist sie […] den Generationsdiskurs nach wie vor«880. Im 20. Jahrhundert formulierte Karl Mannheim einen wirkungsgeschichtlich einflußreichen Begriff von Generation, der die Bedeutung von identitätsstiftenden Generationserlebnissen herausstellte881. Marc Bloch untersuchte die Verbindung von Generation und Kultur und nannte den Generationsbegriff gar »die erste Maßeinheit bei einer rationalen Analyse der Menschheitsgeschicke«, die Ge878 Parnes, Ohad/Vedder, Ulrike/Willer, Stefan, 2008: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1855). Frankfurt/M., 12 bzw. 19. 879 Parnes/Vedder/Willer 2008, 12 f. (meine Hervorhebung) 880 Parnes/Vedder/Willer 2008, 13. 881 Mannheim, Karl, 1964a: Das Problem der Generationen. In: Ders., 1964: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Herausgegeben von Kurt H. Wolff. Berlin/Neuwied, 509 – 565. Im Kapitel Grundtatsachen im Gebiete der Generationserscheinungen behandelt Mannheim das Problem gesellschaftlicher Erinnerung und konstatiert, daß »[v]ergangene Erlebnisse […] in zweifacher Weise vorhanden sein [können]: a) als bewußte Vorbilder, an denen man sich orientiert, wie etwa – nur um ein Beispiel zu nennen – die meisten späteren Revolutionen sich bewußt oder halbbewußt an der französischen Revolution orientierten, oder b) unbewußt ›komprimiert‹, nur ›intensiv‹, ›virtuell‹, wie etwa in der konkreten Gestalt eines Werkzeuges alle vergangenen Erfahrungen, wie in einer spezifischen Erlebnisform (Sentimentalität etwa) die Geschichte des Seelenlebens virtuell enthalten ist« (ebd., 532 f.). In der zugehörigen Anmerkung (28) weist Mannheim darauf hin, daß dies nur »die beiden polaren Möglichkeiten sozialer Erinnerung« seien, »wobei unter ›bewußten Vorbildern‹ in erweiterter Bedeutung etwa auch jenes Gesamtwissen verstanden werden kann, welches in unseren Bibliotheken aufgestapelt liegt. Dieses in der Bibliothek vorhandene Wissen kommt aber für das Weiterleben stets nur insofern in Betracht, als es immer wieder aktualisiert wird« (man vergleiche die in dem Freuds Mose-Essay gewidmeten Kapitel der vorliegenden Arbeit beschriebenen verwandten Überlegungen Aleida Assmanns). Mannheim räumt ferner ein, daß »[ü]ber die Instinktsphäre und über die insbesondere durch Freud behandelte verdrängte und unterbewußt mitpräsente Sphäre […] noch gesondert gehandelt werden« müsse (ebd., Hervorhebung im Original). Wenige Seiten später thematisiert Mannheim überdies explizit – und im Grunde präziser als Freud – die Modalitäten unbewußter transgenerationaler Kommunikation (ebd., 538 – 540).
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neration selbst eine kürzere Variante der Kultur882. Franz Borkenau entwickelte den Entwurf zu einer »Kulturgeneration«, indem er »Veränderungen in den Haltungen der Völker zum Tod« erforschte und in selbigen »die großen Epochen der geschichtlichen Entwicklung« ausmachte883. Einer sich gegen derartige Entwürfe der Generationstheorie wendenden Kritik zufolge läßt die nicht differenzierende Anwendung des Generationsbegriffs auf Epochen, »in denen das Generationsbewußtsein keine reale Entsprechung besitzt«, seinen Gebrauch »für die Periodisierung der Kulturgeschichte« in zweifelhaftem Licht erscheinen884. Dagegen ließe sich allerdings einwenden, daß kultureller Wandel sich generationell auch unabhängig von Generations»bewußtsein« in einem für die Zeit seit dem späteren 18. Jahrhundert zu konstatierenden Sinne vollzieht. Die Generation muß sich nicht zwingend bewußt als solche begreifen, um dennoch – nicht zwangsläufig intentional, sondern vielmehr häufig unbeabsichtigt – verantwortlich für kulturellen und historischen Wandel zu sein885. Freud macht geltend, »daß keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen« und daß sich gerade aus dieser transgenerationalen »psychischen Kontinuität«, die großenteils unbewußt abläuft, »Fortschritt« und »Entwicklung« ergeben886. 882 Bloch, Marc, 1974: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Übersetzt von Siegfried Furtenbach. (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, 9). Stuttgart, 177 (die bei Parnes/Vedder/Willer 2008, 19 angegebene Seitenzahl 192 paßt nicht zur dort zitierten Ausgabe von 1974). 883 Borkenau, Franz, 1984: Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes. Herausgegeben und eingeführt von Richard Löwenthal. Stuttgart, 83. Borkenau setzt sich hier kritisch mit den in seinen Augen widersprüchlichen Äußerungen Freuds zu Todesangst und Unsterblichkeitsglaube auseinander. 884 Diese Kritik wiedergegeben bei Parnes/Vedder/Willer 2008, 19. 885 Jürgen Straub und Kurt Grünberg weisen darauf hin, daß »[t]ransgenerationelle Tradierungen in Familien« in interaktiver, also weder zwingend bewußter noch intentionaler, Weise geschehen und sich häufig in »leiblichen Register[n] der Mitteilung« wie »Haltung und Bewegung«, »Gestik und Mimik«, »Blick und […] Stimme«, »gewährten oder versagten Berührungen«, körperlicher Gewalt etc. manifestieren (Grünberg, Kurt/Straub, Jürgen, 2001a: Die Gegenwart der Vergangenheit. Vorbemerkungen zur »unverlierbaren Zeit«. In: Dies. (Hgg.), 2001, 7 – 38 (hier : 8 f.). Zu Erinnerung, Trauma und Generationszusammenhängen auch Straub, Jürgen, 2002: Unverlierbare Zeit, verkennendes Wort. Nach der Shoah: Sekundäre Traumatisierung der »zweiten Generation«. In: Platt, Kristin (Hg.), 2002: Reden von Gewalt. (Schriftenreihe »Genozid und Gedächtnis«). München, 271 – 302). Daß es allerdings auch schon in vormoderner Zeit eine bestimmte Form von Generationenbewußtsein gegeben hat, ist Grundlage und Untersuchungsgegenstand des DFG-Graduiertenkollegs 1047, »Generationenbewußtsein und Generationenkonflikte in Antike und Mittelalter«, an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. 886 GW IX, 190 f. Über das Konzept der Generation sowie »intergenerationeller Beziehungen in Begriffen von Schuld und deren Übertragungen« bei Freud auch Parnes/Vedder/Willer 2008, 293 – 299, dort am Beispiel des erst knapp ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod veröffentlichten Manuskripts Übersicht der Übertragungsneurosen (Freud, Sigmund, 1985:
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Wie immer der generationale Konflikt zwischen Freud und seinem Vater beschaffen gewesen sein mag, der Tod des letzteren begünstigt Freuds Kreativität, welcher sich nicht nur die Entdeckung des Ödipuskomplexes, sondern auch eine revolutionäre Theorie des Traums verdankt. Die zwischen 1897 und 1899 entstandene Traumdeutung geht erstmals über die Deutung rein pathologischer Phänomene hinaus und untersucht das ›Normale‹, wodurch die Psychoanalyse zugleich eine Art »Anspruch auf philosophische Relevanz«887 behauptet. Der verhinderte Philosoph Freud kehrt nach dem in der Adoleszenz eingeschlagenen Umweg allmählich wieder zurück zu ursprünglicheren Interessen. Die Traumdeutung beinhaltet so auch eine erstmalige Anwendung psychoanalytischer Theorien auf die Kultur888. Schon im ersten Kapitel geht Freud auf die »primitiven Völker[…]« und die Bedeutung des Traums für »die Bildung ihrer Anschauungen von der Welt und von der Seele« ein889. Der Mythos ist dem Traum strukturverwandt, ist eine Art »Wachtraum der Völker«890 und erscheint wie der Traum als das Produkt eines Wunscherfüllungsstrebens, als Ausgleich für Versagungserlebnisse und Reaktion auf unerfüllte Triebwünsche891. Im fünften Kapitel führt Freud den Ödipuskomplex in die Welt ein, ohne ihn freilich schon so zu nennen892. Das siebente und letzte, das berühmte ›philosophische‹893 Kapitel der Traumdeutung schließlich beinhaltet eine Theorie der Psyche, die Thomas Köhler als die »wichtigste metapsychologische Schrift« Freuds bezeichnet894. Freud betonte selbst den besonderen Rang, den die Traumdeutung für die Geschichte der Psychoanalyse besaß: Die Psychoanalyse sei durch sie nicht länger »eine Hilfswissenschaft der Psychopathologie«, sondern »vielmehr der Ansatz zu einer neuen und gründlicheren Seelenkunde«, deren »Voraussetzungen und Ergebnisse [auch] auf andere Gebiete des seelischen und geistigen Geschehens übertragen« werden können; »der Weg ins Weite, zum Weltinteresse ist ihr eröffnet«895.
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Übersicht der Übertragungsneurosen. Ein bisher unbekanntes Manuskript. Ediert und mit einem Essay versehen von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt/M.). Marquard 1987, 15. Gay 1989, 347. GW II/III, 2. Ricœur 1969, 17. Gamm 1992, 143. GW II/III, 254 – 282, besonders 267 – 271. Gay 1989, 124. Köhler 2006, 16. Freud 1971, 75.
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gravitas: Mittlere Schaffensperiode (1900 – 1920) 2.2.7 Totem und Tabu (1912/13) »Der Verfasser erinnert sich, wie Freud ihm schon im Jahr 1910 einmal seufzend gestand, er wünschte, er könnte seine medizinische Praxis an den Nagel hängen und sich ganz dem Studium kultureller und historischer Probleme widmen – letztlich der großen Frage, wie der Mensch zu dem wurde, was er ist.«896
Erst einige Jahre nach der Veröffentlichung der Traumdeutung wagt sich Freud an die explizite Anwendung psychoanalytischer Kategorien auf Kunst und Kultur: Mit den Motiven dichterischen Schaffens setzt er sich in dem Aufsatz Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva« auseinander, gefolgt vom ersten religionspsychologischen Essay Zwangshandlungen und Religionsübungen sowie einer Studie über Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität. Es ist nicht zuletzt der Austausch mit den seit 1902 gewonnenen Weggefährten897, der die Beschäftigung mit kulturellen Themen befördert; doch erst »der nachdrückliche Hinweis von Jung auf die weitgehenden Analogien zwischen den geistigen Produktionen der Neurotiker und der Primitiven« bildet den äußeren Anstoß, sein Augenmerk diesem Thema zu widmen898. Vordergründig verfolgt Freud mit Totem und Tabu die Absicht, sozialanthropologische Beweise für seine Ödipustheorie zusammenzutragen899 ; zugleich aber unternimmt er den kühnen Versuch, den Ursprung von Zivilisation und Religion im Sinne des Ödipuskomplexes zu rekonstruieren. Nichts weniger als die alte philosophische Frage nach der Ablösung des Menschen von der Natur, nach ›Urszene‹ und Urgesellschaft, nach dem mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte beschäftigt ihn – wie zuvor schon die großen Zivilisationstheoretiker und Geschichtsphilosophen von Hobbes und Rousseau über Kant bis zu Marx und Nietzsche. Freud nimmt sich vollends die spekulative Freiheit, die er sich seit seiner Jugend selbst verboten und erst seit den Studien über Hysterie wieder allmählich gestattet hatte; er gibt seiner frühen Lust am Fabulieren nach, und so ist er mit dieser ethnologischen Studie nicht zufällig auch auf der Höhe seiner schriftstellerischen Kunst: Kein Geringerer als Thomas Mann nennt 896 Jones 1960, 47. 897 Freud 1971, 160. 898 Freud 1971, 92 unter Bezug auf Jung, Carl G., 1912: Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Leipzig/Wien. Die in Totem und Tabu behandelten Fragen beschäftigten Freud freilich schon spätestens seit 1908 (Gay 1989, 367). Allgemein zur Entstehung der psychoanalytischen Kulturtheorie aus der therapeutischen Praxis Erdheim 1982, 161 – 199. 899 Hamburger, Andreas, 2006: Totem und Tabu (1912/13). In: Lohmann, Hans-Martin/ Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, 168 – 171 (hier : 168).
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Totem und Tabu später »nach Aufbau und künstlerischer Form ein allen großen Beispielen deutscher Essayistik verwandtes und zugehöriges Meisterstück«900. Inhaltlich und methodisch orientiert Freud sich am britischen Evolutionismus901, der die Darwin’sche Evolutionstheorie auch für das Gebiet der Humanwissenschaften dienstbar zu machen versuchte902. Freud war durch die bereits zwischen 1870 und 1890 begonnene Lektüre der Werke führender seiner Vertreter mit den Theorien des Evolutionismus vertraut, u. a. auch mit der von der evolutionistischen Ethnologie angenommenen »Parallele zwischen ›primitivem‹ und ›neurotischem‹ Verhalten«. Überdies war Freud Anhänger des Lamarckismus ebenso wie des ›Biogenetischen Grundgesetzes‹ Ernst Haeckels, demzufolge sich in der individuellen Entwicklung eines Lebewesens die gesamte Stammesgeschichte spiegele903 ; Freud überträgt dieses Muster auf die seelische Entwicklung904. Sowohl der Evolutionismus als auch die biogenetischen Theorien aber waren zu jener Zeit, da er an Totem und Tabu arbeitete, schon veraltet bzw. widerlegt905. Daß somit zentrale der in Totem und Tabu formulierten Annahmen schon früh als obsolet galten906, begünstigte andere Lesarten des Textes – so etwa seine Interpretation als Verschiebung von Theorien über die europäische Gesellschaft auf das Milieu der ›Primitiven‹, ferner »als Exotisierung der
900 Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte, Vortrag aus dem Jahre 1929, hier zit. nach Hamburger 2005, 53. 901 Hamburger 2006, 168. 902 Reichmayr 1995, 24. Daß die »Verschmelzung von biologischem und kulturellem Evolutionismus« bereits vor der Veröffentlichung von Darwins Hauptwerk begonnen hatte, betont dagegen Harris. Die große Wirkung der Darwin’schen Theorie leistete somit lediglich einen Beitrag zu einer enormen »Popularisierung« dieses Modells (Harris, Marvin, 1989: Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch. Übersetzt von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt/M./New York, 439). 903 Reichmayr 1995, 24. Als seine »literarische Hauptquelle« gibt Freud selbst »die bekannten Werke von J. G. Frazer (Totemism and Exogamy, The Golden Bough)«, ferner W. Robertson Smiths Annahmen zur Totemmahlzeit sowie Darwins These vom Hordenleben der frühesten Menschen an (Freud 1971, 93 f.). Zu Freuds Lamarckismus ferner insbesondere auch Hamburger 2005. Freuds Festhalten an der lamarckistischen Überzeugung (bis hin zu seinem letzten kulturtheoretischen Werk über den Religionsstifter Mose) deutet Hamburger mit Yerushalmi als Spiegel von Freuds »angeborene[m] Gefühl des Jüdischseins« (Hamburger 2005, 72 904 Schon in seiner Schrift über Leonardo da Vinci geht Freud übrigens auf diesen von ihm unterstellten Zusammenhang zwischen Biologie und Entwicklungspsychologie ein: »Wir sind durch gewichtige biologische Analogien darauf vorbereitet, daß die seelische Entwicklung des Einzelnen den Lauf der Menschheitsentwicklung abgekürzt wiederhole« (GW VIII, 167). 905 Reichmayr 1995, 24. 906 Hierzu aus ethnologischer Sicht die frühe Kritik Kroebers (Kroeber, Alfred L., 1920: Totem and Taboo. An Ethnologic Psychoanalysis. In: Ders., 1952: The Nature of Culture. Chicago, 301 – 305).
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Institutionalisierungskonflikte der Psychoanalyse«, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Essays eine erste grundlegende Krise erfuhr907. Freud knüpft mit Totem und Tabu besonders an seine oben erwähnte Schrift Zwangshandlungen und Religionsübungen an und versucht, mithilfe des Modells der Triebabwehr und psychoanalytischer Auffassungen zur kindlichen Sexualentwicklung ausgewählte Sitten und Traditionen indigener Völker in ihrer pathogenen Bedeutung zu entziffern908. In der ersten der vier Abhandlungen, Die Inzestscheu überschrieben, bietet Freud den »methodische[n] Schlüssel« der Parallelisierung von primitiven Völkern und Kindern und Neurotikern. Das Inzesttabu erscheint »als Motiv der Exogamie und weiterer sozialer Vermeidungsregeln«. Die zweite Abhandlung mit dem Titel Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen enthält einen Vergleich des Tabus mit der Zwangsneurose, die beide durch »das Moment unbewußter Feindseligkeit« charakterisiert sind: »gegenüber Feinden, Herrschern und Toten« beim Tabu, »gegenüber geliebten Objekten« bei der Zwangsneurose. Freud unterläßt es gezielt, hier schon eine Erklärung der Ursache dieser Feindseligkeit abzugeben. Statt dessen erörtert er in einem Einschub über die Parallelen frühkindlicher Projektion und animistischer Weltwahrnehmung die Entstehung sozialer und seelischer Instanzen in Analogie zur infantilen Entwicklung. Die dritte Abhandlung über Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken interpretiert »den Animismus als Vorstufe der religiösen Weltanschauung« und die Erfindung von Geistern als Einschränkung der in der Magie noch dominanten Vorstellung von der Omnipotenz der Einbildungen. Die vierte und letzte Abhandlung – Die infantile Wiederkehr des Totemismus – schließlich soll Antworten geben auf die bislang bewußt offen gelassenen Fragen, und zwar unter Rückgriff auf die von Darwin stammende Figur der Urhorde, »in der die Dominanz eines Männchens die Exogamie der vertriebenen jungen Männer erklärt«909. Das Totemtier deutet Freud unter dem Einfluß seiner Erfahrungen mit dem kleinen Hans und Ferenczis verwandten Beobachtungen beim kleinen Arpd als Vater907 Hamburger 2006, 168 unter Bezug auf Erdheim, Mario, 2001: Einleitung. In: Freud, Sigmund, 2001: Totem und Tabu. Frankfurt/M., 7 – 42 (hier: 21 – 25). Siehe auch Reichmayr 1995, 22. Ein nicht zu unterschätzendes Motiv ist die Abgrenzung gegenüber dem einstigen Kronprinzen Jung und den »Arbeiten der Züricher Schule«, in denen »eher eine Durchdringung der Analyse mit religiösen Vorstellungen als das beabsichtigte Gegenteil zustande« komme (Freud 1971, 172). Die zügig vorgenommene Publikation der ersten Abhandlung von Totem und Tabu gilt als »Reaktion auf Jungs Über Wandlungen und Symbole der Libido und auf die drohende Spaltung« der psychoanalytischen Bewegung. Totem und Tabu wurde darüber hinaus gelesen »als Dokument der Ablösung von Freuds jüdischer Herkunft« und »als Reflex auf die kulturelle Position des assimilierten Judentums« (Hamburger 2006, 168). 908 Köhler 2006, 10. 909 Hamburger 2006, 168.
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Ersatz910. Das totemistische Tötungs- und Inzesttabu ergibt sich folgerichtig aus der ödipalen Problematik. »[A]ls Kern des Totemismus und als Ausgangspunkt der Religionsbildung« konstruiert Freud, inspiriert durch W. Robertson Smiths Überlegungen über die Totemmahlzeit, den Urvatermord als Ursprung von Moral, Religion und »soziale[r] Organisation« der Menschheit. Die Söhne vereinigten sich nach der Tötung und dem gemeinschaftlichen Verzehr des Urvaters »zu einem Brüderclan durch die Satzungen des Totemismus«, der eine erneute Tat wie den Vatermord verhindern sollte »und verzichteten insgesamt auf den Besitz der Frauen«, um deretwillen sie den Vater ermordet hatten. »[D]as Schuldbewußtsein der Menschheit« resultiere letztlich aus dem der Brüderhorde nach dem frevelhaften Mord, die Totemmahlzeit sei eine »Gedächtnisfeier« desselben911. Auch die weitere Religionsentwicklung wird von Freud diskutiert: So entstammen Götter »der Rückführung der Vaterfigur aus der Tier- in die Menschengestalt […]. Unter ausdrücklicher Übergehung der Muttergottheiten erklärt Freud das Christentum als Neufassung des Vaterfrevels bei gleichzeitiger Vergötterung des Sohnes«912. Die zwei maßgeblichen »Faktoren« der »Entwicklung der Religionen« seien »das Schuldbewußtsein des Sohnes und der Sohnestrotz«913, der Ödipuskomplex wird damit zum zentralen Ursprung »von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst«914. Bei Freuds in seiner ersten kulturtheoretischen Schrift Totem und Tabu formulierten Konstruktion handelt es sich um den Versuch, höchst unterschiedliche Methoden, Theorien und nicht zuletzt auch Phantasien miteinander zu synthetisieren, um den ödipalen Kernkomplex als Basis einer als neurotisch beurteilten Kultur zu fixieren. Die Vielfalt der genannten Ansätze bot früh schon Anlaß für ebenso mannigfaltige Kritik; auf die Hinfälligkeit sowohl der lamarckistischen als auch der evolutionistischen Sichtweise wurde bereits eingegangen. Zwei weitere bedeutende Stützen, die Urhordenhypothese einer- und das Konzept des Totemismus andererseits, werden mittlerweile ebenfalls überwiegend verworfen915. So ist beispielsweise die Familie als soziale Organisationsform Uwe Wesel zufolge »sehr viel älter«, als von den Vertretern der Hordenund Hordenpromiskuitätstheorie – zu denen auch Bachofen, Morgan und Engels zählten – angenommen wurde: Ihre Entstehung datiere in die frühe Altsteinzeit und wird mit dem aufrechten Gang in Verbindung gebracht916. Eine 910 911 912 913 914 915
GW IX, 156 – 160. Freud 1971, 94. Hamburger 2006, 169. GW IX, 183. GW IX, 188. Hamburger 2006, 169 mit weiterführenden Literaturhinweisen (zur Urhordenhypothese vor allem Kroeber 1920). 916 Wesel 1980, 81 (mit Verweis auf Gough, Kathleen, 1975: The Origin of the Family. In: Reiter,
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erste grundlegende Kritik am Konzept des Totemismus schließlich wurde bereits 1917 (also nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Totem und Tabu) durch Goldenweiser geäußert, der darlegte, daß es sich dabei um ein nachträgliches Konstrukt handelt917. Diese Kritik wurde 1962 durch L¦vi-Strauss erneuert, der den Totemismus eine »Illusion« nennt und als moderne Projektion deutet918. Die Gründe für das Inzesttabu lägen überdies nicht in einem geschichtlichen Ereignis, sondern im Tauschprinzip, das der Vergesellschaftung zueigen sei919. Abgesehen von diesen mittlerweile als überholt anzusehenden theoretischen Prämissen, auf denen seine Spekulation fußt, zeichnet Freud mit Totem und Tabu darüber hinaus das Bild einer rein männlichen urzeitlichen sozialen Gemeinschaft ohne Mütter ; Frauen kommen darin so gut wie nur als Objekt männlicher Begierde und Rangkämpfe vor. Das fast völlige Fehlen eines aktiven weiblichen Moments ist erst jüngst wieder Gegenstand einer dezidierten Kritik geworden920. Gut ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung von Totem und Tabu zieht Freud es in der Selbstdarstellung vor, seine Theorie vom Urvatermord nicht als »Hypothese«, sondern vielmehr als »Vision« zu bezeichnen. Ausdrücklich stellt er dabei den historischen Charakter des Urvatermordes infrage und verdeutlicht,
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Rayna R. (Hg.), 1975: Toward an Anthropology of Women. New York, 51 – 76). Zum Vorhandensein der Familie sowie intimer Beziehungen schon in jägerischen Gesellschaften auch Dux, Günter, 1992: Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen Frau und Mann. Frankfurt/M., 57 f. Hamburger 2006, 169 unter Bezugnahme auf Goldenweiser, Alexander A., 1917: Religion and Society. A Critique of Emile Durkheim’s Theory of the Origin and Nature of Religion. In: Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods 14, 113 – 124. Auch Max Weber formuliert in Wirtschaft und Gesellschaft eine ähnliche Totemismus-Kritik, derzufolge »[d]er Glaube an die einst universelle Geltung und erst recht die Ableitung fast aller sozialen Gemeinschaften und der gesamten Religion aus dem Totemismus […] als eine gewaltige Uebertreibung heute wohl durchweg aufgegeben« sei (Weber 1922, 247). L¦vi-Strauss, Claude, 1965: Das Ende des Totemismus. Übersetzt von Hans Naumann. (Edition Suhrkamp, 128). Frankfurt/M. (original 1962), 25 – 46 bzw. 135. Trotz aller Kritik an der Totemismustheorie bescheinigt Chris Knight selbiger noch 1996 eine gewisse Aktualität und relativiert zugleich L¦vi-Strauss’ diesbezügliche Aussagen: »We need not follow L¦vi-Strauss as he surveys the world, carefully excluding peoples’ food avoidances from what he defines as their ›totemism‹. This is, after all, a question of personal definition. […] In many traditional cultures, one’s kin are one’s ›flesh‹, just as is one another’s produce. Morality is rooted in the principle that ›one’s own flesh is for others to enjoy‹. Consequently, a man may selfishly abuse neither the species he hunts, nor his female kin: the two avoidances are one.« (Knight, Chris, 1996: Totemism. In: Barnard, Alan/Spencer, Jonathan, 1996: Encyclopedia of social and cultural anthropology. London/New York, 550 f., Hervorhebung im Original). Hamburger 2006, 169. Die grundlegenden Parallelen zwischen L¦vi-Strauss’ Interpretation des Inzestverbots als »universale[s] und minimale[s] Gesetz […], damit aus ›Natur‹ ›Kultur‹ werde«, und einer »strukturelle[n] Konzeption des Ödipus« erhellen jedoch Laplanche und Pontalis (1972, 355). So bei Hamburger 2005 sowie 2006, 170.
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daß ihn selbiger weit weniger interessiert als die Tatsache, mit seinen kulturtheoretischen Überlegungen »die Religionsbildung […] auf den Boden des Vaterkomplexes« und der diesen prägenden Ambivalenz »gestellt« zu haben; der Kampf von »Sohnestrotz und […] Vatersehnsucht […] in immer neuen Kompromißbildungen« bestimme, wie oben bereits erwähnt, die Entwicklung der Religion bis hin zum Christentum921. Der Urvatermord hat also vor allem symbolische Bedeutung, wie es generell Mythen zueigen ist; L¦vi-Strauss nannte Totem und Tabu denn auch einen Mythos, »übrigens einen sehr schönen Mythos«922. Daß überdies Freuds Augenmerk sich in Wahrheit nicht dem Totemismus, sondern eigentlich den mit ihm zusammenhängenden Tabuvorschriften widmet, betont Karsten Fischer923. Wenn also Urvatermord und Totemismus für Freud nur, überspitzt formuliert, eine Art Mittel zum Zweck der Etablierung der Ödipustheorie in der Ethnologie darstellen, hätte sich eine substantielle Kritik weniger auf die Mittel, als vielmehr auf den beabsichtigten Zweck zu konzentrieren. So spricht beispielsweise der gegen die Hordentheorie erhobene Einwand, bereits in der Altsteinzeit sei die Familie die bestimmende soziale Organisationsform gewesen, zwar gegen den Urvatermord, nicht aber gegen den Ödipuskomplex – im Gegenteil erscheint die Wirksamkeit des Ödipuskomplexes in der Familie tendenziell plausibler als in der durch Promiskuität geprägten Urhorde. Für eine Rehabilitierung der maßgeblichen These von Totem und Tabu, nach der der Ödipuskomplex »alle Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst« beinhalte, plädiert Eberhard Haas unter Bezugnahme auf eine ödipal interpretierte Theorie des Opfers, die nach wie vor ein bedeutsames Werkzeug der Kulturanalyse ist924. Die bereits erwähnte Annahme Freuds, daß 921 Freud 1971, 94 f. 922 Zit. nach Petermann, Werner, 2004: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal, 499. Als »wissenschaftlichen Mythus« bezeichnet Freud die Theorie »vom Vater der Urhorde« selbst in Massenpsychologie und Ich-Analyse (GW XIII, 151). 923 Fischer 1999, 59. 924 Haas erläutert anhand von Thesen Loewalds die psychische Entsprechung von individueller Emanzipation und symbolischem Elternmord und sieht Parallelen zum allgemeinen Opferdrama (Haas, Eberhard T., 2002: …und Freud hat doch recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt. Gießen, 81 f.): »Immer wieder stößt der Vergleich zwischen Ritual und Psychoanalyse – hier auf der Stufe des (positiven) Ödipuskomplexes – auf dieselbe Dramaturgie: ›emanzipatorischer Elternmord‹, postmortaler Gehorsam, Bereicherung des symbolischen Denkens und seelische Strukturbildung. Über-Ich oder IchIdeal entwickeln sich in Analogie zum sakralisierten Sündenbock. Seelische Strukturen entstehen kraft Verstoßung des mit Projektionen aufgeladenen Objekts. […] Auf den unterschiedlichsten Entwicklungsstufen […] ergeben sich Variationen desselben Opferthemas, nicht nur im individuellen Lebenszyklus, sondern auch in allen gesellschaftlichen Institutionen. Unter diesem Gesichtspunkt muß der zentrale Gedanke aus Totem und Tabu, daß im Ödipuskomplex ›alle Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen‹ […] rehabilitiert und, mit diesen Ergänzungen versehen, wiederholt und bekräftigt werden.«
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kulturelle Entwicklung auf der in nicht unerheblichem Maße unbewußten Weitergabe von Erfahrungen an die nächste Generation, auf unbewußter Kommunikation zwischen den Generationen also beruht, hält William Grossman ferner für eine für die Entstehung »der Objektbeziehungstheorie und der Intersubjektivität des Seelenlebens« überaus bedeutende Einsicht925. Im Gegensatz zur Behauptung einer genetischen »Vererbung psychischer Dispositionen«, wie Freud sie auch aufstellt926, kann seine These von der unbewußten transgenerationalen Kommunikation weiterhin disziplinübergreifende Relevanz für sich in Anspruch nehmen. Sie ist darüber hinaus von zentraler Wichtigkeit für die die Geschichtsphilosophen seit jeher beschäftigende Frage nach der Kontingenz der Geschichte ebenso wie diejenige nach Fortschritt und Entwicklung. Das von Freud erkannte »Bestreben des Sohnes […], sich an die Stelle des Vatergottes zu setzen«927, birgt ferner großes Potential für eine als ambivalent verstandene, das Prinzip der Negativität einschließende Emanzipationsgeschichte928 ; die Ambivalenz der Vater-Sohn-Beziehung und das damit verbundene kulturell wirksame, durch realiter oder lediglich in der Phantasie ausgeführte gewalttätige Handlungen gegen die Väter im Laufe der Geschichte sich verstärkende, unklarer werdende Schuldgefühl929 gehören zu den eigentlich bahnbrechenden Entdeckungen aus Totem und Tabu, die auch in Zukunft für eine kulturhistorisch reformulierte Philosophie der Geschichte ein bedeutendes theoretisches Instrumentarium liefern. 2.2.8 Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) »Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein früherer.«930
Ungefähr ein halbes Jahr931 nach Beginn des Ersten Weltkrieges verfaßt Freud, der wie viele andere seiner Zeitgenossen anfänglich noch gewisse Sympathien 925 Hamburger 2006, 170 unter Bezugnahme auf Grossman, William, 1998: Freud’s Presentation of ›The Psychoanalytic Mode of Thought‹ in Totem and Taboo and His Technical Papers. In: International Journal of Psycho-Analysis 79, 469 – 486. 926 GW IX, 190. 927 GW IX, 183. Diese Beobachtung entspricht freilich Feuerbachs These, wonach der Mensch den »unbewußten Wunsch« hege, »selbst Gott zu sein« (Coreth/Ehlen/Schmidt 1997, 149). 928 Vgl. das Horkheimer und Adorno gewidmete Kapitel im ersten Teil der vorliegenden Arbeit. 929 Köhler 2006, 110. 930 GW X, 328 f. 931 Vermutlich im März und April 1915 (Freud 1986a, 34, editorische Anmerkung).
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für den Krieg hegte932, die beiden Essays Die Enttäuschung des Krieges und Unser Verhältnis zum Tode, welche unter dem Sammeltitel Zeitgemäßes über Krieg und Tod in der Zeitschrift Imago veröffentlicht wurden. Der erste der beiden Essays, der die Enttäuschung über den kriegsbedingten Rückfall von vermeintlich hoher Sittlichkeit in mehr oder weniger sittenlose Barbarei thematisiert, ist auch ein Dokument von Freuds eigener Ernüchterung in Anbetracht einer bisherige Grausamkeiten überbietenden, weltweiten militärischen Auseinandersetzung und einer geringer werdenden Hoffnung auf ein rasches Ende derselben933. Freilich geht es Freud bei seiner Analyse besagter Enttäuschung vor allem darum, den Glauben an die hohe Moralität der Kulturnationen als Illusion934 zu entlarven, die Schwere der nunmehrigen Enttäuschung aus einer Überbewertung der Kultiviertheit und ihres sittlichen Potentials zu erklären. Er konstatiert den Widerspruch, daß Staaten »sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden«, während sie nach außen jegliche Sittlichkeit vermissen ließen935. Freud führt damit die Enttäuschung über die Kultur auf jenen schon von Hobbes bemerkten Umstand zurück, daß Strafandrohung zwar der gesellschaftliche Garant für ein regelkonformes Verhalten der Individuen ist, der Souverän selbst jedoch noch im Naturzustand lebt936. Letzteres hat auch einen Effekt »auf die Sittlichkeit der Einzelnen« – der Krieg befördere die Brutalität des Individuums, dem »man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut« habe. Freud erklärt dies, indem er auf die psychoanalytische Theorie des Gewissens als »soziale Angst« rekurriert; folglich sei das Gewissen nicht jener »unbeugsame Richter, für den die Ethiker es ausgeben«. Die »an sich weder gut noch böse« zu nennenden Triebregungen, aus welchen »das tiefste Wesen des Menschen« gebildet ist, sind demnach nicht auflösbar, sondern nur durch äußere Zwänge, zu denen sowohl »Liebesprämien« als auch »Strafen« gehören, bis zu einem gewissen Grade domestizierbar. Die Folge der Triebunterdrückung letztlich ist, daß der Mensch durch die ihn seiner Triebveranlagung entfremdenden Kulturforderungen psychologisch »über seine Mittel [lebt]«, die Kultur also auf einem gut Teil »Heuchelei« beruht937. Von großer kulturtheoretischer Relevanz sind ferner Freuds Bemerkungen über die Überschätzung der Intelligenz, die keine »selbständige Macht«, sondern häufig 932 Lohmann 2006a, 66. 933 Köhler 2006, 47. 934 GW X, 331: »Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.« 935 GW X, 331. 936 Vgl. das Hobbes-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 937 GW X, 330 – 336.
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nur »Instrument zu Handen eines Willens« sei. Der Intellekt kann allein dann »verläßlich arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühlsregungen entrückt« ist. Damit beschreibt Freud jenes Konzept von irrationaler Rationalisierung, das auch den Pathologien der Vernunft zugrunde liegt. Freud bescheinigt in diesem Sinne den kriegführenden Nationen, viel eher den Leidenschaften als eigentlichen Interessen nachzugeben; sie gebrauchten die »Interessen, um die Leidenschaften zu rationalisieren; sie schieben ihre Interessen vor, um die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu können«. Grundvoraussetzung für eine Besserung der Verhältnisse sind nach Freud »mehr Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit […] in den Beziehungen der Menschen zueinander und zwischen ihnen und den sie Regierenden«938 – Freud stellt also durchaus nicht einseitig kulturpessimistisch die Möglichkeit der Besserung in Abrede939, sondern gemahnt vielmehr daran, keinerlei Illusionen anzuhängen, die die Macht der menschlichen Triebnatur verleugnen und nur realitätsfernen Wünschen gehorchen940. Der zweite Essay knüpft vor allem an Überlegungen aus Totem und Tabu an und erläutert anhand des Typus des Urmenschen das Verhältnis des modernen Zivilisationsbürgers zum Tode, das durch das Erlebnis des Krieges eine nachhaltige Störung erfahren habe. Dieses Verhältnis aber war laut Freud kein ehrliches. Der Tod wurde eigentlich verleugnet, das Leben verlor durch besagte Verdrängung jedoch an Inhaltsschwere941. Das bisherige Verhältnis zum Tod sei letztlich durch einen »Ambivalenzkonflikt« geprägt gewesen, wie Freud ihn auch dem Urmenschen attestiert: Die verstorbenen geliebten Personen waren »einerseits ein innerer Besitz, Bestandteile unseres eigenen Ichs, anderseits aber auch teilweise Fremde, ja Feinde. Den zärtlichsten und innigsten unserer Liebesbeziehungen hängt mit Ausnahme ganz weniger Situationen ein Stückchen Feindseligkeit an, welches den unbewußten Todeswunsch anregen kann«942 – diesen Tatbestand konnte Freud schließlich u. a. bereits bei seiner Patientin Elisabeth v. R. zu Beginn der 1890er Jahre studieren. Das kulturelle Tötungsverbot sei »[a]n der Leiche der geliebten Person« als Antwort auf die hinter der Trauer verborgene »Haßbefriedigung« entstanden und wurde im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung »auf den ungeliebten Fremden« und letztlich sogar »auf den Feind ausgedehnt«, den der früheste Urmensch noch ohne Gewissensnot tötete943. Der zur Zeit der Niederschrift gegenwärtige Krieg aber »streift 938 GW X, 339 f. (Hervorhebung im Original). Siehe auch die Hegel bzw. Weber gewidmeten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 939 Ähnlich Köhler 2006, 108. 940 Vgl. auch die Zusammenfassenden Überlegungen des ersten Teils der vorliegenden Arbeit. 941 GW X, 341 – 344. 942 GW X, 353. 943 GW X, 348 f.
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uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen«. Zeitgemäß sei es also, sich auf den Tod einzustellen, um »das Leben aus[zu]halten«. Die Emanzipation von der Illusion und die Akzeptanz der Wirklichkeit bieten nach Freud die Möglichkeit, das Leben erträglich zu gestalten944. Mit dem verhältnismäßig kurzen Aufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod nimmt Freud vieles von dem vorweg, was er in seinen späteren kulturtheoretischen Schriften, besonders in Das Unbehagen in der Kultur und in dem Warum Krieg?945 betitelten Briefwechsel mit Einstein, teilweise auch in Die Zukunft einer Illusion und in den metapsychologischen bzw. triebtheoretischen Texten wie Jenseits des Lustprinzips näher ausführt; seine Zweifel in der Einschätzung menschlicher Fähigkeit zum Frieden werden sich dabei verschärfen. Norbert Elias schließlich bleibt es vorbehalten, Freuds Gedanken über den Krieg und dessen Beziehung zum menschlichen Verhalten dahingehend zu ergänzen, daß er eine »Differenz von intra- und internationaler Pazifizierung«, eine »Spaltung des Gewissens« annimmt, die aus dem spezifischen Aufbau der für die Bildung des Über-Ichs maßgeblichen sozialen Zwänge resultiert, und damit jene »Inkonsistenz im Verhalten ›zivilisierter‹ Menschen« begreiflich macht, die auch die Basis für Freuds Reflexionen bildeten946. senectus: Spätwerk (1920 – 1939) 2.2.9 Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) »Was ist nun eine ›Masse‹, wodurch erwirbt sie die Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so entscheidend zu beeinflussen, und worin besteht die seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen aufnötigt?«947
Unmittelbar nach dem Ende des insgesamt mehr als vier Jahre währenden Krieges, der ihn bereits nach wenigen Monaten zu zeitgemäßen Betrachtungen über das Verhältnis der Kultur zu Krieg und Tod inspirierte, revidiert Freud seine Triebtheorie im Sinne der Annahme eines Todestriebes, der nach Rückführung des Lebendigen in den anorganischen Zustand strebt und sich, nachträglich nach außen gewendet, als Aggressions- und Destruktionstrieb äußert948. Der neuformulierte Triebdualismus umfaßt also die beiden »Urtriebe Eros und Destruktion«, die Freud später den Grundprinzipien Liebe und Streit des Em944 GW X, 354 f. 945 Dieser kurze Text von 1932 ist im Kant-Kapitel der vorliegenden Arbeit bereits behandelt worden und erfährt daher hier keine explizite Untersuchung in einem eigenen Kapitel. 946 Bogner 1989, 26 (Hervorhebung im Original). 947 GW XIII, 76. 948 Laplanche/Pontalis 1972, 494 f.
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pedokles gleichsetzt949. Wie Freud selbst bestätigt, läßt er in dieser und zeitnah entstandenen Arbeiten seiner »lange niedergehaltenen Neigung zur Spekulation freien Lauf«950 ; daß er sich dabei allerdings mehr und mehr in einer »mythologische[n] Spekulation« verliert951, bildet sicher einen der zentralen Gründe, weshalb die neue Triebtheorie und besonders die Vermutung eines Todestriebes selbst unter seinen Anhängern als umstritten gelten952. Die sich an die genannten Überlegungen anschließende Konzeption einer Triebmischung, die Annahme also, daß erotische und aggressive Kräfte nur gemeinsam in unterschiedlichen Legierungsverhältnissen vorkommen953, ist freilich von großer Relevanz auch für eine Theorie der Kultur, die beispielsweise nach den Bedingungen für Phänomene im Zusammenhang mit der soziologischen Größe der Masse fragt. Mit den Beziehungen von Massenpsychologie und Ich-Analyse beschäftigt sich Freud im ungefähr zur selben Zeit wie Jenseits des Lustprinzips entstandenen, aber erst 1921 veröffentlichten gleichnamigen Essay954. Individualpsychologie sei von Beginn an immer auch Sozialpsychologie, wie Freud in der Einleitung zu seiner Schrift betont955. Es ist dies das einzige Werk Freuds, das im engeren Sinne zur Soziologie gezählt werden kann, mit der Freud sich allgemein wenig auskannte. Während der Erste Weltkrieg den historischen Hintergrund und ein wichtiges Motiv für die Entstehung von Zeitgemäßes über Krieg und Tod bildete, ist es nun der Sturz der alten Ordnungen nach dem Ende dieses Krieges, der selbiges – und nicht zuletzt den (wenngleich nicht explizit genannten) Bezugspunkt – für Freuds massenpsychologische Reflexionen darstellt. Hauptinspiration ist das von Freud eingangs ausführlich und großenteils bejahend referierte Werk Psychologie der Massen des »konservativ-autoritären Kulturpessimisten Gustave Le Bon«, dessen Analyse allerdings »befangen ist in dem Gegensatzpaar Elite und Masse«956. Neu an Freuds Ansatz gegenüber älteren Erklärungsversuchen des
949 Die endliche und die unendliche Analyse, GW XVI, 92 (Hervorhebungen im Original gesperrt). 950 Freud 1971, 84. Zur Entwicklung von Freuds Trieb- und Libidotheorie Marquard 1987, 224 f. 951 Gamm 1992, 157. Einen Vergleich von Freuds triebtheoretischen und Schopenhauers ›transzendenten‹ Reflexionen »über Leben und Tod« unternimmt Stephan Atzert (Atzert, Stephan, 2005: Zwei Aufsätze über Leben und Tod: Sigmund Freuds Jenseits des Lustprinzips und Arthur Schopenhauers Transscendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen. In: Baum/Koßler 2005, 179 – 194). 952 Laplanche/Pontalis 1972, 495. Zur Kritik an Freuds Triebtheorie auch Lepenies/Nolte 1971a, 30. 953 Hierzu auch Laplanche/Pontalis 1972, 529 – 532. 954 Zur zeitlichen Einordnung der Entstehung Köhler 2006, 65 sowie Freud 1986a, 63. 955 GW XIII, 73. 956 Reiche, Reimut, 2006: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Lohmann, HansMartin/Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stutt-
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Phänomens Masse ist die psychoanalytisch fundierte Deutung der Suggestion, die bis dato »alles erklärte«, selber aber scheinbar »der Erklärung entzogen« war957. Freud wiederholt zunächst die schon in Zeitgemäßes über Krieg und Tod formulierte Definition des Gewissens als soziale Angst und erläutert die Gründe für das von Le Bon festgestellte Nachlassen des Verantwortlichkeitsgefühls des Menschen in der Masse dahingehend, daß das Individuum in der Masse »die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen ab[…]werfen« kann958. Bei der Beantwortung der Frage, was hinter der Suggestion liege, rekurriert er schließlich auf das schon in Zur Einführung des Narzißmus thematisierte959 Konzept des Ich-Ideals, das später auch für den in Das Ich und das Es beschriebenen Aufbau des psychischen Apparats eine entscheidende Rolle spielen wird: Für die Entstehung von Massen ist die »Identifikation von Individuen mit einem Führer und untereinander« ausschlaggebend960. Dabei können vier Schritte unterschieden werden: erstens die »Identifizierung der Massenindividuen untereinander«, zweitens die »Identifizierung mit dem Führer (oder der Idee, Ideologie)«, drittens die »Projektion […] des individuellen Ich-Ideals auf die Idee oder den Führer«, die so eine Mystifikation und Festigung erfahren und viertens die »Ersetzung des individuellen Ich-Ideals durch das ›Objekt‹, also den Führer oder die ›kollektiv‹ gewordene Idee«. Institutionen erscheinen entsprechend als Affektbindung, welche die andernfalls drohende Selbstzerstörung der unorganisierten Massen vereitelt. Eine aktuelle Kritik freilich wendet ein, aus heutiger Perspektive gebe es gar keine unorganisierten Massen, vielmehr bestehe »eine Tendenz zur Selbstregulation«, die »eng an die ›libidinöse [nicht zuletzt aggressive] Struktur‹ […] von Massen, Bewegungen und Institutionen gebunden« sei; darüber hinaus benutze Freud den Begriff der Masse relativ unpräzise und lehne es ab, die kreativen Aspekte von Massenbewegungen zu erkennen und zu würdigen. Freud schreibt überdies mit Massenpsychologie und Ich-Analyse keine Evolutions-, sondern eher eine »Konstitutionstheorie […] von Gesellschaft«; er deutet letztere nicht als durch einen evolutionären Prozeß entstanden, sondern durch die Handlung des Urvater-Mordes gegründet961.
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gart, 171 – 174 (hier : 171 f.). Zum historischen Kontext der Entstehung vgl. auch die Einleitung der vorliegenen Arbeit. GW XIII, 97. GW XIII, 79. GW X, 138 – 170 bzw. Laplanche/Pontalis 1972, 203. Köhler 2006, 10 mit (hier nicht explizit genanntem) Bezug auf GW XIII, 104. Ein Gefühl des Triumphes vermittelt nach Freud die Deckung von Ich und Ideal, »[a]ls Ausdruck der Spannung zwischen Ich und Ideal« interpretiert er hingegen das Schuld- bzw. Minderwertigkeitsgefühl (ebd. 147). Reiche 2006, 172 f. Dort heißt es weiter (173 f.): »Heute wissen wir, daß alle schöpferischen, kulturinnovativen Leistungen auf die vorübergehende Auflösung bislang festgefügter IchGrenzen angewiesen sind.« Jaspers, der in seinem eher skeptischen Urteil über die Massen selbst auch von Le Bon beeinflußt war (Jaspers 1949, 346 Anm. 8), anerkannte hingegen in
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Wiederum ist es also Freuds ahistorische Denkweise, die die Grenzen seines soziologischen Versuchs umreißt und dafür verantwortlich zeichnet, daß gewisse seiner Theoreme – wie beispielsweise die Interpretation »de[s] erste[n] epische[n] Dichter[s]« als erstes sich aus der Massenpsychologie d.i. aus der als ›Masse‹ gedeuteten Brüderhorde emporschwingendes Individuum962 – genau wie die Vision vom Urvatermord allenfalls symbolischen Wert beanspruchen können. Dennoch enthält auch dieser Text Freuds eine Fülle bedeutsamer Gedanken und Erkenntnisse: Daß beispielsweise jedweder »Einzelne […] Bestandteil von vielen Massen« ist »und sein Ichideal nach den verschiedensten Vorbildern aufgebaut« hat963, mußte sich die Rollensoziologie wiederum unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Kategorien erst »mühsam erarbeite[n]«, wie Reiche konstatiert964. Wichtig ist ferner Freuds Hinweis auf die auch von Le Bon in ihrer Relevanz für die Masse behandelte Illusion, die nach psychoanalytischer Auffassung im unerfüllten Wunsch begründet ist und die Freud zu einem Vergleich von Massenindividuum und Neurotiker motiviert, da bei beiden »nicht die gemeine objektive, sondern die psychische Realität« maßgebend und das Phantasieleben besonders wirkmächtig sei965. Er äußert zudem bereits in dieser Schrift die Vermutung, daß die sozialistische Massenbindung, die allem Anschein nach nun erfolgreich den Platz der religiösen einnehme, gegen die Andersdenkenden dieselbe Unduldsamkeit zeitigen werde, wie sie im Zeitalter der Religionskämpfe den religiösen Parteien eignete966. Interessant sind Freuds Ausführungen über das preußische Militär, dessen Mißerfolg im unlängst vergangenen Krieg er auf die »Vernachlässigung [des] libidinösen Faktors« zurückführt; »die lieblose Behandlung des gemeinen Mannes durch seine Vorgesetzten« sei in entscheidender Weise verantwortlich für die Kriegsneurosen ebenso wie für die Niederlage des deutschen Heeres967. Die in eben jenem Krieg
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seinen geschichtsphilosophischen Reflexionen den Aspekt schöpferischen Potentials, wenngleich mit sehr spezifischer Akzentsetzung: »Aber es ist auch möglich, daß in den Massen selber die vernünftig ringende Arbeit wirklichen Geistes sich entwickle […] Die Welt würde auf einen Höhepunkt der Geschichte zugehen, wo in den Massen selber das wirklich würde, was früher auf Aristokratien beschränkt war : Erziehung, zuchtvolle Gestaltung des Lebens und Denkens des einzelnen Menschen« etc. (Jaspers 1949, 167). GW XIII, 152. Zur Kritik Reiche 2006, 173. GW XIII, 144. Reiche 2006, 171. GW XIII, 85 f. GW XIII, 108. GW XIII, 103. Es mag eine gewisse persönliche Bitterkeit in Freuds Äußerungen mitschwingen, wenn er schreibt: »Bei besserer Würdigung dieses Libidoanspruches hätten wahrscheinlich die phantastischen Versprechungen der 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten nicht so leicht Glauben gefunden und das großartige Instrument wäre den deutschen Kriegskünstlern nicht in der Hand zerbrochen.« Besagten amerikanischen
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wieder zum Vorschein getretene Feindseligkeit zwischen unterschiedlichen Ethnien bringt Freud in Zusammenhang mit seinem Konzept der Gefühlsambivalenz und auch, bezogen auf die gegenseitige Ablehnung sich eigentlich stark ähnelnder Völker, mit dem später, in Das Unbehagen in der Kultur, sogenannten »Narzißmus der kleinen Differenzen«, welcher die Verachtung des Süddeutschen für den Norddeutschen, des Engländers für den Schotten usf. verstehen helfe968. Wenngleich Freuds massenpsychologische Überlegungen unter dem Einfluß Le Bons dessen heute als problematisch empfundene elitäre Sichtweise teilen, fällt doch gleichsam auf, daß Freud tatsächlich die Masse und weniger ihre Führer im Auge hat, also nicht einseitig auf das Charisma der großen Führerpersönlichkeiten focussiert. Dieser Vorwurf aber wurde verschiedentlich gegen Max Weber erhoben969, dessen idealtypische Klassifizierung einer Herrschaft »rationalen«, »traditionalen« und »charismatischen Charakters«970 auf massenpsychologischen Erwägungen beruht und ebenfalls maßgeblich durch das Werk Le Bons beeinflußt ist971. Durch seine Konzentration auf die Begabung charismatischer Führer mit »spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften«972 vernachlässige Weber mitunter die aktive Rolle der Masse973. Freud hingegen begründet die Wirkung charismatischer Führer mit dem jeweiligen Ich-Ideal des Massenindividuums, ja nach seiner Einschätzung müsse der Führer »oft nur die typischen Eigenschaften dieser Individuen in besonders scharfer und reiner Ausprägung […] besitzen«, um von dem Verlangen der Masse nach einer unbeugsamen Leitfigur mit der übermäßigen Geltung ausgestattet zu werden, »auf die er sonst vielleicht keinen Anspruch hätte«974. Freuds Verständnis ist hier ein hinreichend dialektisches; er nimmt vorweg, was Jaspers in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte über die Wechselwirkung von Führenden und Masse mit anderen Worten sagt: daß
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Präsidenten »verabscheute« Freud eben aufgrund der erwähnten falschen Versprechungen (Gay 1989, 623). GW XIII, 111 bzw. GW XIV, 474. Mommsen, Wolfgang J., 1974: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 53). Frankfurt/M., 69; Dahrendorf, Ralf, 1992: Nachwort. In: Weber, Max, 1992: Politik als Beruf. (Reclams Universal-Bibliothek, 8833). Stuttgart, 91 f.; Günther, Michael, 2005: Masse und Charisma. Soziale Ursachen des politischen und religiösen Fanatismus. Frankfurt/M. u. a., 147. Weber 1922, 124 (Hervorhebungen im Original). Günther 2005, 127 f. Auch Webers Herrschaftssoziologie enthalte das »Eliten-Massensyndrom« (ebd.). Neben Le Bon macht Günther vor allem Nietzsche für diesen Umstand verantwortlich (ebd., 129 f. sowie 147 Anm. 46). Weber 1922, 140. Günther 2005, 144. Ernst Troeltsch nennt die »Unterscheidung von Massen und Persönlichkeiten« übrigens ein »falsch gestellte[s] Problem« und »eine[n] der vielen in der Wissenschaft vorkommenden Zirkel« (Troeltsch 1922, 731). GW XIII, 145.
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»[d]er Staatsmann, der Denker, der Künstler, der Dichter […] sich an Kräfte in den Massen wenden« müssen, sofern sie erfolgreich sein wollen, daß sie letztlich »Exponenten eines Massenwillens« darstellen. In der Masse selbst sieht Jaspers einen »entscheidenden Faktor des Geschehens« in der gegenwärtigen Situation einer sich mehr und mehr vereinheitlichenden Welt975. Eine Aktualisierung der genuin psychoanalytischen Massentheorie als Sozialpsychologie hingegen nimmt Alexander Mitscherlich nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus vor ; er nennt sein Projekt eine »Massenpsychologie ohne Ressentiment« und distanziert sich damit von den elitär-kulturpessimistischen Voraussetzungen, die noch für Freud und auch ihn selbst einst galten976.
2.2.10 Die Zukunft einer Illusion (1927) »Es liegt nicht im Plane dieser Untersuchung, zum Wahrheitswert der religiösen Lehren Stellung zu nehmen. Es genügt uns, sie in ihrer psychologischen Natur als Illusionen erkannt zu haben.«977
Im Frühjahr 1927 widmet sich Freud erneut dem bereits mehrfach unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelten Thema der Religion; im Gegensatz zu 975 Jaspers 1949, 163 f. (meine Hervorhebungen). 976 »Die Massenpsychologie seit dem klassischen Werk von Gustave Le Bon ist doch dadurch ausgezeichnet, daß ihre Kritiker, Analytiker, Historiker immer die Masse von außen betrachten. Nie hat ein Massenpsychologe in Frage gestellt, ob er nicht auch selbst Massenmensch sei. […] Wir alle sind also Massenmenschen, und es fragt sich nur, bis zu welchem Grad, das heißt wie weit die Vorurteilsregulation reicht und wie groß die Abhängigkeit von ihr ist. Dies allein ist die gültige Ausgangsposition, die den Weg weisen soll. Durch sie entrinnt man der unfruchtbaren Kulturkritik, die fast alle älteren Massenpsychologien bis herauf zu der von Ortega y Gasset beherrscht.« (Mitscherlich, Alexander, 1972: Massenpsychologie ohne Ressentiment. Sozialpsychologische Betrachtungen. (Suhrkamp-Taschenbuch, 76). Frankfurt/M., 44 – 46) Mitscherlich selbst hingegen wird von Timo Hoyer eine »ausgeprägte Geringschätzung des Massengeschmacks« (und damit im Prinzip eine durchaus weit reichende Vorurteilsregulation) attestiert (Hoyer, Timo, 2008: Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich – ein Porträt. Göttingen, 508). Martin Dehli charakterisiert den Autor der ›Massenpsychologie ohne Ressentiment‹ unter Rückgriff auf dessen Tagebuchaufzeichnungen gar als von extremem elitären Ressentiment gerade gegenüber der ›Masse‹ geprägten Geist, der umgekehrt aber durch das verändernde Aufgreifen kulturkritischer Positionen aus dem Umkreis der Konservativen Revolution entscheidend zu deren Integration in die Debatten der Nachkriegszeit beigetragen habe (Dehli, Martin, 2007: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs. Göttingen, 252 – 254. Ähnlich Freimüller, Tobias, 2007: Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler. (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, 6). Göttingen, 233 – 244.) Bereits ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen der Gedanken zur Massenpsychologie veröffentlichte Mitscherlich seine vielbeachteten sozialpsychologischen Thesen zur vaterlosen Gesellschaft: Mitscherlich, Alexander, 1963: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München. 977 GW XIV, 356.
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Totem und Tabu aber, wo es ihm hauptsächlich um den Ursprung derselben zu tun war, erweitert er die dort formulierten Gedanken nun, indem er eine generelle Deutung der Religion vornimmt. Religiöse Inhalte gehen demzufolge aus einem aus der Ohnmacht gegenüber den Naturmächten resultierenden Wunsch hervor; sie sind als Illusionen zu bewerten und besitzen bei der Kulturerrichtung durch Triebunterdrückung unterstützende Funktion978. In den beiden Eingangskapiteln umreißt Freud sein Verständnis von ›Kultur‹ und schenkt überdies besondere Aufmerksamkeit dem Phänomen der Kulturfeindlichkeit, das er später in Das Unbehagen in der Kultur noch ausführlicher behandeln wird. Im dritten und vierten Kapitel gibt er eine Begriffsbestimmung der Religion und verortet selbige und ihren Stellenwert innerhalb der allgemeinen kulturellen Entwicklung, bevor er in den Kapiteln fünf bis zehn die Religion als veralteten Kulturbesitz attackiert und, hierin ganz Kind des 19. Jahrhunderts, für ihre Ersetzung durch eine Erweiterung des Wissens plädiert979. Die Zukunft einer Illusion gilt als »Freuds Hauptwerk über die Religion« in ihrer Bedeutung als »soziales Phänomen«980. Freud eröffnet seine Reflexionen mit einer Schilderung des Dilemmas, vor das sich derjenige gestellt sieht, der nicht nur nach Ursprüngen und Entwicklung, also Vergangenheit und Gegenwart seines Untersuchungsgegenstandes, sondern auch nach dessen zukünftigem Schicksal fragt. Präzise benennt er die Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben und liefert damit zugleich, wahrscheinlich ohne sich dessen allzu bewußt zu sein, eine treffende Analyse des zentralen Dilemmas der um Zukunftsdeutungen bemühten Geschichtsphilosophie: So gebe es zum einen kaum jemanden, der »das menschliche Getriebe in all seinen Ausbreitungen« zu überblicken vermöge, vor allem aber bestehe zum anderen die Gefahr, daß subjektive Erwartungen und Wünsche bei der Einschätzung des Zukünftigen maßgeblich ins Gewicht fielen. Außerdem besäßen die Menschen grundsätzlich eine nur mangelnde Distanz zur eigenen Gegenwart; selbige müsse erst zur Vergangenheit werden, damit man aus ihr Hinweise für die Bewertung der Zukunft schöpfen könne. Diese Ausführungen gelten vor allem der Relativierung und teilweisen Rücknahme des im Titel angeklungenen Programms des Essays. Hierauf folgt eine Definition von Kultur als »all das, worin 978 Köhler 2006, 10 f. Erst vier Jahre zuvor hatte Freud sich u. a. mit einer Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert (GW XIII, 315 – 353) auseinandergesetzt (Köhler 2006, 10). Zur zeitlichen Einordnung der Entstehung u. a. Freud 1986a, 137 (editorische Anmerkung). 979 Will, Herbert, 2006: Die Zukunft einer Illusion (1927). In: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, 174 – 177. (Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich vor allem auf die Überlegungen Freuds zu Kultur und Religion in den ersten drei Kapiteln des Essays. Das vierte Kapitel beinhaltet eine Verteidigung seiner Thesen in dialogischer Form.) 980 Freud 1986a, 138.
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sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat« und eine Darstellung der »zwei Seiten« dieser Kultur: Sie enthalte einerseits die Fähigkeiten zur Beherrschung der Natur sowie die »Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse«, andererseits die Institutionen zur Ordnung der sozialen Beziehungen und der Verteilung der besagten Güter. Bewußt interpretiert Freud die gegenseitige Verschränkung dieser zwei Seiten und die Bedingungen menschlicher Beziehungen innerhalb der Gesellschaft unter ökonomischen Aspekten und streift auch das Thema der Verdinglichung, wobei er allerdings nicht nur die Verdinglichung im Rahmen der Ausnutzung der Arbeitskraft, sondern auch diejenige als Sexualobjekt erwähnt981. Schließlich nennt er den Einzelnen einen virtuellen Feind der Kultur und gelangt so zum Thema des kulturellen Unbehagens: »Es ist merkwürdig, daß die Menschen, so wenig sie auch in der Vereinzelung existieren können, doch die Opfer, welche ihnen von der Kultur zugemutet werden, um ein Zusammenleben zu ermöglichen, als schwer drückend empfinden.« Es gilt folglich, die Kultur gegen die Kulturfeindlichkeit des Individuums zu verteidigen. Nach der anfänglichen Referierung ökonomischer Gesichtspunkte geht Freud damit allmählich über zu einer mehr psychologischen Erklärungsweise. Bei seiner zitierten, sehr allgemeinen Schilderung der Kulturfeindlichkeit fällt auf, an welche Grenzen ein nicht weiter differenzierter Kulturbegriff stoßen kann; wie im Falle der Beurteilung der Masse und der Einschätzung des Naturzustands ist es Freuds ahistorische Denkweise, die geschichtliche Entwicklungen nicht oder kaum berücksichtigt und dem Gegenstand daher vermutlich nur teilweise gerecht wird. Freud differenziert beispielsweise nicht zwischen pristinen kleinen und modernen großen Kulturen, nicht zwischen prähistorischen Jägergesellschaften und den historischen Zivilisationen, der Begriff der Kultur wird folglich zu großmaschig und einseitig gefaßt. Gleichzeitig aber schildert er die Wahrnehmung, nach der die ›Kultur‹ mit ihren triebeinschränkenden Verboten »einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderzahl auferlegt wurde, die es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht- und Zwangsmitteln zu setzen«. Er beschreibt also damit einen historischen Akt und impliziert zugleich, daß es eine solchermaßen verstandene Art von ›Kultur‹ nicht immer gegeben hat. Die genannten Probleme seien daher möglicherweise nicht dem »Wesen der Kultur selbst« immanent, sondern rührten aus der Unzulänglichkeit der bisherigen »Kulturformen«; die Aufgabe »der Regelung der menschlichen Angelegenheiten« sei nicht zur Zufriedenheit gelöst. Freud zieht folgerichtig die Möglichkeit einer Neuregelung in Erwägung, »welche die Quellen der Unzufriedenheit mit der Kultur versagen macht«982, um sie dann allerdings wieder in Zweifel zu ziehen mit der Begrün981 GW XIV, 325 f. 982 GW XIV, 327.
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dung, »jede Kultur« müsse u. a. aufgrund der menschlichen Aggressionsneigung »auf Zwang und Triebverzicht aufbauen«. Ausschlaggebend sei vielmehr, wie man die Bürde der »Triebopfer« reduzieren könne, »denn die Massen sind träge und einsichtslos, sie lieben den Triebverzicht nicht«983, ihre Leidenschaften, von denen sie getrieben würden, seien für Argumente unempfänglich. Problematisch ist hier nicht nur der ahistorische Kulturbegriff, der zu gewissen Widersprüchen in der Beurteilung menschlicher Kulturfähigkeit führt, sondern auch der einseitig-elitäre Massenbegriff. Die Erkenntnis, daß es Grenzen der menschlichen Erziehbarkeit gebe984, ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Zwangsläufigkeit der menschlichen Kulturfeindlichkeit. Im zweiten Kapitel konstatiert Freud, daß im Gegensatz zu einer auf Ökonomisches sich beschränkenden Anschauung (wie der nicht explizit genannten marxistischen) die psychoanalytische im materiellen Besitz einer Gesellschaft und den Instrumenten zu seiner Gewinnung sowie den Bestimmungen zu seiner Verteilung weder ihren ausschließlichen noch auch ihren hauptsächlichen sehen könne, vielmehr sei der seelische mindestens ebenso wichtig wie der materielle. Als solchen wichtigen »psychologische[n] Kulturbesitz«, der »aus Kulturgegnern […] Kulturträger[…]« mache, nennt Freud diejenige seelische Instanz, die er erst 1923 in Das Ich und das Es mit dem Begriff »Über-Ich« gekennzeichnet hat. Je mehr Personen es gebe, bei denen die »Erstarkung des Über-Ichs« verwirklicht sei, desto krisenfester sei eine Kultur985. Freud macht in diesem Zusammenhang auf das Gefahrenpotential einer nur für ausgewählte gesellschaftliche Klassen geltenden Triebeinschränkung aufmerksam, das ein größeres Ressentiment der »Unterdrückten« gegen die Kultur zur Folge haben könne; diese Unterdrückten seien schließlich »bestrebt, die Kultur selbst zu zerstören«. Kulturen, die sehr viele ihrer Mitglieder »unbefriedigt« lassen, haben demnach geringe Chancen, »sich dauernd zu erhalten«986. Hier bestehen gewisse Parallelen zu Arnold Toynbees Interpretation kulturellen Zerfalls und insbesondere zu seiner Analyse der sogenannten »inneren Proletariate«, die maßgeblich am Untergang von Kulturen beteiligt sind. Toynbee argumentiert zwar nicht tiefenpsychologisch, betont jedoch, daß »Proletarianismus […] mehr ein Zustand des Fühlens als eine Angelegenheit äußerer Verhältnisse« und daß »[d]er wahre Echtheitsstempel des Proletariers […] weder Armut noch niedrige Herkunft« als vielmehr ein bestimmtes »Bewußtsein« sei – das Bewußtsein nämlich, »seines angestammten Platzes in der Gesellschaft enterbt zu sein«987. Ergo ist bei ihm die nötige Identifikation mit der jeweiligen Kultur nicht mehr 983 984 985 986 987
GW XIV, 328. GW XIV, 330. GW XIV, 331 f. GW XIV, 333. Toynbee 1950, 376 (meine Hervorhebung).
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gegeben. Auch für Toynbee sind es also psychologische Momente, die nicht nur die Entstehung, sondern ebenso den Zerfall von Kulturen entscheidend beeinflussen. Für Freud gehören neben den »Kulturvorschriften« auch noch Kulturideale und Kunsterzeugnisse zum »seelische[n] Gut« einer Kultur. Er führt dabei die Kulturideale auf die »ersten Leistungen« zurück, »welche das Zusammenwirken von innerer Begabung und äußeren Verhältnissen einer Kultur ermöglicht« haben. Es ist ein nicht von der Hand zu weisender Gedanke, daß der Charakter einer Kultur und ihre impliziten Ideale ursächlich mit der Konstellation von äußerer und innerer Herausforderung und den jeweils gefundenen Antworten zusammenhängen. Die aus dem Kulturideal gewonnene »narzißtische Befriedigung«, gewissermaßen das Selbstbewußtsein ob einer gelungenen kulturellen Leistung, wirkt nach Freud auch als Kompensation der Kulturfeindseligkeit; denn sogar die gesellschaftlich Unterdrückten können daran teilhaben. Und schließlich können die Unterdrückten trotz unterschwelliger Feindseligkeit gegen die Kultur affektiv an ihre Herren gebunden sein, was Freud als Grund anführt, weshalb viele Kulturen dennoch lange Bestand hatten988. Die Annahme eines Kulturideals und seiner narzißtischen Komponente liefert Freud auch die Antwort für ein Problem, das er sich in Zeitgemäßes über Krieg und Tod noch nicht erklären konnte: »Warum die Völkerindividuen einander eigentlich geringschätzen, hassen, verabscheuen, und zwar auch in Friedenszeiten, und jede Nation die andere, das ist freilich rätselhaft«989. Sah er sich damals noch außerstande, einen Grund hierfür anzugeben, so führt er diesen Umstand jetzt zurück auf die Eigenart der kulturellen narzißtischen Befriedigung, zu ihrer Komplettierung die Konfrontation und Spiegelung mit anderen Kulturen zu benötigen; aufgrund der zwischen den Kulturen bestehenden Unterschiede fühle sich eine jede dazu berechtigt, die andere geringzuachten. Auf diese Art böten »die Kulturideale Anlaß zur Entzweiung und Verfeindung zwischen verschiedenen Kulturkreisen« und »Nationen«. Letztlich stelle sogar die Kunst nicht nur »Ersatzbefriedigungen für die ältesten […] Kulturverzichte« bereit, sondern steigere in ihren Werken die »Identifizierungsgefühle«, die jeder Kulturkreis benötige und fungiere ebenso wie die Kulturideale als narzißtische Befriedigung990. Doch »[d]as vielleicht bedeutsamste Stück des psychischen Inventars einer Kultur« sind die »religiösen Vorstellungen«991, denen Freud sich in den folgenden Kapiteln zuwendet. Um sie in ihrer Genese zu erklären, beginnt er das dritte 988 989 990 991
GW XIV, 334 f. GW X, 340. GW XIV, 334 f. GW XIV, 335.
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Kapitel mit einer Schilderung des Naturzustands und einer naturalistischen Deutung der feindseligen Natur, wie er sie später in Das Unbehagen in der Kultur wiederholen wird. »[D]ie Übermacht der Natur« erscheint dort als eine der drei Ursachen menschlichen Leidens992. Auch in Die Zukunft einer Illusion erscheint die Natur als zwar »großartig«, aber ebenso »grausam, unerbittlich«, die Erde »bebt, zerreißt« und »begräbt«, das Wasser »überflutet und ersäuft« usf.993 Das hierdurch verursachte Gefühl der Hilflosigkeit sei der Grund, weshalb der Mensch sich Kompensationen in Gestalt religiöser Vorstellungen geschaffen habe. Das Bild einer feindlichen Natur ist dabei nicht nur typisch für Freud, sondern auch für das Jahrhundert, in dem er geboren wurde und dem er den Größtteil seiner Bildung und Ansichten verdankt. Gerade der frühe, ›unzivilisierte‹ Mensch, der den Mächten der Natur noch wesentlich hilfloser ausgeliefert war als der moderne, müsse das Leben als einen harten Kampf wahrgenommen haben. Diese – freilich schon sehr alte – Anschauung mündete im 19. Jahrhundert letztlich in die Evolutionstheorie994, die auch, wie bereits geschildert, Freud maßgeblich beeinflußt hat. Das 20. Jahrhundert allerdings hat die Meinung vom entbehrungsreichen Lebenskampf der frühen Jäger und Sammler weitgehend revidiert; die Umwelt wurde von ihnen womöglich gar nicht als sonderlich leidvoll erfahren, zumal sie in einer Art von »Überflußgesellschaft« gelebt hätten995. Ob also, wie Freud schreibt, »die unbezwungene Natur« dem vorgeschichtlichen Menschen grundsätzlich und zwangsläufig eine »Schädigung« beigebracht hat dergestalt, daß daraus »[e]in ständiger ängstlicher Erwartungszustand und eine schwere Kränkung des natürlichen Narzißmus« erwuchsen996, ist fraglich. Möglich aber ist, daß unter bestimmten Voraussetzungen wie beispielsweise Klimaveränderungen u. ä. die Natur den Menschen tatsächlich nicht nur vor neuartige äußere, sondern auch psychische Herausforderungen gestellt hat, die die Entstehung der Religion begünstigt haben997. Freud benennt als ersten Schritt bei der Entwicklung der Religion die Vermenschlichung der Natur als Reaktion auf das Gefühl der Hilflosigkeit, das dem 992 993 994 995
GW XIV, 444. GW XIV, 336 f. Wesel 1980, 79. Wesel zitiert hier eine Formulierung Marshall Sahlins’ (Wesel 1980, 79). Toynbee sieht in dieser Form eines natürlichen Überflusses den Grund, weshalb es bei manchen Völkern keinen Anreiz zu kultureller Fortentwicklung gegeben habe; sie seien gewissermaßen ›wunschlos glücklich‹ (Toynbee 1950, 87 f. mit Bezug auf ein Zitat von Drummond). 996 GW XIV, 337. 997 Erste Spuren von Praktiken, die man mit religiösen Ritualen in Verbindung bringen kann, gibt es aktuellen Forschungen zufolge nicht vor dem Mittelpaläolithikum (Antes, Peter, 2006: Grundriss der Religionsgeschichte. Von der Prähistorie bis zur Gegenwart. (Theologische Wissenschaft, 17). Stuttgart, 16 sowie Müller-Karpe, Hermann, 2005: Geschichte der Gottesverehrung von der Altsteinzeit bis zur Gegenwart. Frankfurt/M./Paderborn, 15).
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frühkindlichen ähnelt; die Götter werden demgemäß nach dem Vorbild der Eltern geschaffen998. Die allmähliche Beobachtung der Regelhaftigkeit der Naturphänomene aber führe zur Entmenschlichung der Naturkräfte und Transzendierung der Götter, die folglich nicht länger identisch sind mit den Naturkräften, sondern nur noch vereinzelt intervenieren. Das Schicksal stehe letztlich auch über ihnen999. Je größer die Eigenständigkeit der Natur wird und die Götter sich aus ihr verabschieden, desto mehr wird nach Freud »das Moralische ihre eigentliche Domäne«. Ihre Aufgabe besteht nun auch darin, »die Mängel und Schäden« nicht nur der Natur, sondern ebenso der Kultur zu kompensieren. Die Reaktion auf die Unvollkommenheit der Welt bildet ein Wunsch nach Vervollkommnung, der die Entstehung von für die Geschichtstheologie entscheidenden Kategorien wie Vorsehung und Endzweck, »Absichten einer uns überlegenen Intelligenz«, hervorruft1000. Das Leben nach dem Tod ist nicht länger Vernichtung, sondern eine Vollendung, die auf Erden vermißt war. Der Ort der Vervollkommnung ist folgerichtig das Übersinnlich-Transzendente; am Ende der geschilderten Entwicklung steht schließlich der Monotheismus1001. Diesem Fortschritt in der Geistigkeit wird Freud sich ein Jahrzehnt später in seiner letzten großen religionspsychologischen Abhandlung Der Mann Moses und die monotheistische Religion ausführlicher widmen. »[D]ie psychische Genese der religiösen Vorstellungen« ist also Freud zufolge 998 GW XIV, 338. Der »Objektwahl nach dem Anlehnungstypus« entsprechend »wird die Mutter, die den Hunger befriedigt, zum ersten Liebesobjekt und gewiß auch zum ersten Schutz gegen alle die unbestimmten, in der Außenwelt drohenden Gefahren, zum ersten Angstschutz« (GW XIV, 345 f.). Figürliche Darstellungen von Frauen, die seit dem Jungpaläolithikum bezeugt sind, werden von Teilen der Forschung tatsächlich mit dem Kult einer Urmutter in Verbindung gebracht (Antes 2006, 17). Andere Forscher gehen hingegen davon aus, daß bildliche Götterdarstellungen erst mit der Entstehung der frühen Hochkulturen erscheinen (so Müller-Karpe 2005, 28). Konkret faßbare Inhalte religiöser Gegenstände erschließen sich in jedem Fall nicht vor Beginn der schriftlichen Zeit. Nach Freud wird die Mutter in ihrer nährenden und schützenden Funktion alsbald durch den Vater ersetzt, der zuvor jedoch »selbst eine Gefahr« war und den man daher nicht weniger fürchte, »als man sich nach ihm sehnt und ihn bewundert« (GW XIV, 346). Interessant ist nun Freuds auf diese Überlegungen folgende Hypothese, derzufolge die »fremde[n] Übermächte«, gegen die der Mensch sich nie vollständig wird verteidigen können, mit den Attributen »der Vatergestalt« ausgestattet werden; so kreiert der Mensch »die Götter, vor denen er sich fürchtet, die er zu gewinnen sucht und denen er doch seinen Schutz überträgt« (ebd.). Ähnlich (als personifizierte Naturmächte) hat schon Hegel die Entstehung der Götter gedeutet. 999 GW XIV, 339. Freud beschreibt hier gewissermaßen den ersten Schritt auf dem Weg zur von Weber analysierten Entzauberung der Welt. 1000 GW XIV, 340. Jaspers verlegt diesen geistesgeschichtlichen Vorgang in die Achsenzeit: »Aber der Mensch erfuhr durch seinen höchsten Aufschwung erst seine ganze Not, die Einsicht in seine Unvollendung und seine Unvollendbarkeit. Das Ziel war Erlösung.« (Jaspers 1949, 243). 1001 GW XIV, 340 f.
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in Wunscherfüllungen begründet; wie einst der von ihm bewunderte Feuerbach bezeichnet Freud die Religion in der Konsequenz als Illusion1002. Selbst sieht er sich in seiner in den letzten Kapiteln entfalteten Religionskritik als »Zerstörer von Illusionen« und Vollender der Aufklärung. In den Worten Peter Gays betätigt Freud sich »als letzter aufklärerischer Philosoph«1003. Dabei räumt Freud noch im Entstehungsjahr seiner Schrift in einem vom 20. 6. 1927 datierten Brief an Eitingon ein, daß die Analyse per se nicht zwingend die Abkehr von der Religion zur Konsequenz haben müsse1004. 1002 GW XIV, 352 sowie Gay 1988, 67. Freud greift im Grunde Feuerbachs Thesen in psychoanalytischer Wendung auf. Für Feuerbach ist der Geist nicht länger etwas Absolutes, sondern »seinerseits schon unbewußt, von Natur aus, bestimmt« (Löwith, Karl, 1928: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Neu abgedruckt in Thies, Erich (Hg.), 1976: Ludwig Feuerbach. (Wege der Forschung, 438). Darmstadt, 33 – 61 (hier: 60)). »[D]as Geistige« kann nicht »außer und ohne das Sinnliche« sein, »[d]er Geist ist nur die Essenz, der Sinn, der Geist der Sinne«, und da Gott »nichts anderes als der Geist« ist (Feuerbach: Vorlesung über das Wesen der Religion, zit. nach Coreth/Ehlen/Schmidt 1997, 148), führt sein sensualistischer Ansatz Feuerbach geradewegs zur Religionskritik (ebd.), am ausführlichsten dargelegt in seinem zwischen 1839 und 1840 entstandenen und 1841 veröffentlichten Werk Das Wesen des Christentums. »›[D] as Wirkliche in seiner Wirklichkeit und Totalität‹«, die »Wirklichkeit des Diesseits« und »der Natur«, letztlich »des Menschen« erfassen zu wollen, läßt Gott endlich als bloße Einbildung und Wunschprojektion des Menschen erscheinen (Weischedel, Wilhelm, 1996: Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen in Alltag und Denken. München. 26. Aufl., 243 bzw. 246). Feuerbach steht mit solchen Überlegungen in seiner Zeit freilich nicht allein – schon David Friedrich Strauß gibt in seinem Leben Jesu von 1835 der raum-zeitlichen Welt die Bedeutung des Seins und der Gesetzlichkeit schlechthin (Hirschberger 1981b, 469). Theologie also wird in zunehmendem Maße zur Anthropologie, Religion bezeichnet Feuerbach folgerichtig als »Illusion« (Feuerbach, Ludwig, 1956b: Das Wesen des Christentums. Bd. 2: Das unwahre, d.i. theologische Wesen der Religion. Berlin, 528). Siehe auch Feuerbach 1956b, 533: »Hier haben wir darum den […] Beweis, daß der Mittelpunkt, der höchste Gegenstand des Christentums nichts andres als der Mensch ist, daß die Christen das menschliche Individuum als Gott und Gott als das menschliche Individuum anbeten.« (Die Anthropologisierung der Religion hat ihrerseits bereits antike Vorläufer, so schon bei der Kritik des Xenophanes an den Mythologien von Homer und Hesiod und nicht zuletzt bei Aristoteles, der die Mutmaßung äußerte, die Gestalt und Lebensform der Götter sei der der Menschen nachgebildet, Gamm 1992, 147). Feuerbach nimmt generell viel von dem vorweg, was später vor allem in Freuds Kulturanthropologie wieder auftaucht: Der Mensch in seiner Interpretation als Gattungswesen, die Abhängigkeit desselben von seiner äußeren – und inneren – Natur (die ›unbewußte‹ Bestimmtheit des Geistes durch die Natur), die Deutung der Religion als Projektion von Menschlichem auf das ›Göttliche‹, eine triebpsychologisch begründete Religionskritik (so in seiner 1857 erschienenen Theogonie, Coreth/Ehlen/Schmidt 1997, 146) bilden erstaunliche Parallelen zu Freud und deuten auf eine nicht zu unterschätzende Beeinflussung durch den bewunderten Philosophen hin. 1003 Gay 1988, 67 bzw. 53. Zur Kritik an dieser Einschätzung Gamm 1992, 160 – 165. 1004 Gay 1988, 23. Auch in der Nachschrift zur Selbstdarstellung von 1935 – zum Zeitpunkt der Beschäftigung mit Mose und den Ursprüngen des Monotheismus – beurteilt Freud die Religion weniger negativ (Freud 1971, 97 – 100).
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Die Religionsentwicklung der infantilen Neurose gleichzustellen und somit als den Weg einer zunehmenden Verdrängung zu interpretieren, überzeugt nur teilweise. Wie schon in seiner frühen religionskritischen Schrift Zwangshandlungen und Religionsübungen begeht Freud erneut den Fehler, bestimmte Parallelen zwischen Neurose und Religion zu verabsolutieren, den neurotischen Charakter gewisser religiöser Praktiken für ›das‹ Wesen ›der‹ Religion auszugeben. Dennoch enthält seine Schrift wichtige Gedanken zu Teilaspekten der Entwicklung von Kultur und Religion; von besonderem Wert sind seine Überlegungen zur Kulturfeindlichkeit, die er in Das Unbehagen in der Kultur wieder aufgreift.
2.2.11 Das Unbehagen in der Kultur (1929/30) »Zunächst vermute ich bei den Lesern den Eindruck, daß die Erörterungen über das Schuldgefühl den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen […]. Das mag den Aufbau der Abhandlung gestört haben, entspricht aber durchaus der Absicht, das Schuldgefühl als das wichtigste Problem der Kulturentwicklung hinzustellen und darzutun, daß der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird.«1005
Weniger als zwei Jahre nach Vollendung von Die Zukunft einer Illusion nimmt Freud im Sommer 1929 die Abfassung eines neuen Buches in Angriff, das tatsächlich schon Ende desselben Jahres erscheint, genau wie Die Traumdeutung drei Jahrzehnte zuvor jedoch auf das folgende Jahr vordatiert wird1006. In diesem Das Unbehagen in der Kultur betitelten Buch erhebt Freud die schon in Die Zukunft einer Illusion fixierten Überlegungen zur Kultur zum Hauptthema. Er greift die dort gegebene Definition von »Kultur« wieder auf, welche selbige als »Summe der Leistungen und Einrichtungen« versteht, die zweierlei Absicht verfolgen: »Schutz des Menschen gegen die Natur« sowie »Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander«1007; allerdings, wie Ricœur konstatiert, unter »einer Vertiefung und […] Vereinheitlichung des Kulturbegriffs angesichts des Todestriebes.« Kultur bewegt sich jetzt maßgeblich »zwischen Eros und Thanatos«1008. Die unter dem Eindruck der zweiten Triebtheorie vorgenommene Ausweitung und Umarbeitung früherer Gedanken zur Kulturentwicklung manifestiert sich vor allem in der These eines sich vergrößernden Schuldgefühles, das durch eine gesteigerte Triebentmischung, eine Befreiung des Destruktionstriebes aus der vormaligen Gebundenheit, die für Freud 1005 1006 1007 1008
GW XIV, 493 f. Freud 1986a, 193 (editorische Anmerkung). GW XIV, 448 f. Ricœur 1969, 310.
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zwingend zur Vergesellschaftung gehört, verursacht wird und das kulturelle Unbehagen bedingt1009. Wie schon in seiner Selbstdarstellung einige Jahre zuvor, distanziert sich Freud nun noch ausdrücklicher von der Theorie des Urvatermords; hieß es am Schluß von Totem und Tabu unter Rückgriff auf ein FaustZitat noch, im Anfang sei die Tat gewesen, so räumt er jetzt ein, daß die Tat selbst »nicht entscheidend« sei für das Schuldgefühl. Wichtig sei vielmehr die ursprüngliche Gefühlsambivalenz, das Schuldgefühl ist folglich nur »Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb.« Und der besagte Konflikt werde ausgelöst, »sobald den Menschen die Aufgabe des Zusammenlebens gestellt wird«1010 – ergo vom Beginn ihrer Geschichte an. Das Instrument der Kultur gegen die Aggression besteht in deren Verinnerlichung, sie wird »gegen das eigene Ich gewendet«, so daß das Über-Ich »gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte«1011. Hauptsächlich in dieser Schrift also unternimmt Freud die von Karsten Fischer »Paraphrasierung der Genealogie der Moral«1012 genannte Neuformulierung bestimmter Gedanken Nietzsches auf der Ebene der Zivilisationstheorie. Die Dynamik der Kulturentwicklung ergibt sich Freud zufolge aus dem Verzicht auf Sexual- und Aggressionstrieb, wobei er letzterem im Vergleich zu früher ungleich höhere Aufmerksamkeit schenkt. Der Triebverzicht gerät zum »entscheidenden tertium datur«, das das Gegeneinander von Eros und Thanatos zum strukturbildenden Konflikt erhebt1013. Die Beziehungen zwischen Kultur(entwicklung) und zunehmendem Triebverzicht und ebenso diejenigen zwischen den Instanzen sind grundlegend dialektisch. Durch die Übertragung von Theoremen der zweiten Freud’schen Topik auf die Kulturanalyse ergibt sich die im entsprechenden Kapitel der vorliegenden Arbeit bereits behandelte Parallele zu Hegel, da, wie Ricœur sagt, »[m]it der Frage nach dem Über-Ich […] die dialektische Situation in Erscheinung [tritt]« und die Antagonismen von Ich/ Es, Ich/Über-Ich und Ich/Welt sämtlich als Herr-Knecht-Beziehungen im Sinne der Hegel’schen Dialektik interpretiert werden können, die überwunden werden müssen1014. 1009 Bayer, Lothar/Krone-Bayer, Kerstin, 2006: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, 178 – 181. 1010 GW XIV, 492 (meine Hervorhebung). (Für das Faust-Zitat am Ende von Totem und Tabu: GW IX, 194.) 1011 GW XIV, 482 f. 1012 Fischer 1999, 55 sowie das Nietzsche-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1013 Bayer/Krone-Bayer 2006, 181. Die »Kulturversagung« durch Triebverzicht ist laut Freud »die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben« (GW XIV, 457). Vgl. auch das Rousseau-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1014 Ricœur 1969, 488 f. sowie das Hegel-Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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Freud bewertete Das Unbehagen in der Kultur selbst nicht sonderlich wohlwollend. Thomas Köhler sieht den eigentlichen Wert der Schrift denn auch eher in der »Präzisierung der Trieblehre« als in der Theorie der Kultur ; der Text sei eigentlich »inhaltsleer« und aufgrund einer mangelnden Kernhypothese »das [am] meisten überschätzte Buch Freuds«1015. Kritik läßt sich gewiß am wie gehabt sehr allgemeinen und kaum differenzierten Kulturbegriff Freuds üben, den er seinen Reflexionen zugrundelegt; ebenso am »weiter nicht zu begründenden Widerstreben«, das mit der Sexualfunktion seit der Aufrichtung des Menschen angeblich verbunden sei1016 und womit Freud die Ursache der Kulturfeindlichkeit grosso modo schon in die früheste Altsteinzeit verlegt. Freuds Annahme, die Forderungen des Lustprinzips seien generell unerfüllbar1017, wird man vielleicht unter Wiederholung der schon oben aufgestellten These, daß beispielsweise die frühen Jägergesellschaften die Umwelt nicht unter dem Blickwinkel der Versagung wahrnahmen, relativieren dürfen. Freilich geht Freud von der Möglichkeit eines Glücks in einem »ermäßigten Sinn« aus, das von »der individuellen Libidoökonomie« abhängt1018. Auch die mit Hobbes geteilte Vorstellung eines ursprünglichen Naturzustandes im Sinne eines Krieges aller gegen alle, der die größtmögliche Freiheit bedeute und den erst die Kultur durch Zwangsmittel beende, ist sicher obsolet. Denn so wäre Freiheit »das schlechthin Asoziale, das es zu bezwingen und zu unterwerfen gälte«1019. Alle diese Einwände jedoch wiederholen nur in unterschiedlicher Gestalt die zentrale Kritik, die berechtigterweise an der mangelnden historischen Differenzierung in Freuds kulturtheoretischen Analysen geübt wird. Die postulierte Dialektik der nicht nur individuell, sondern auch kulturell wirksamen Instanzen, die Beziehungen zum gesellschaftlichen Schuldgefühl und die Analyse des Aggressionstriebs als Hautproblem bei der Vergesellschaftung hingegen sind bedeutsame Einsichten in das innere Getriebe der menschlichen Kultur, die freilich einer Präzisierung und Ausdifferenzierung anhand des konkreten historischen Materials bedürften.
1015 Köhler 2006, 11 bzw. 88. Zu Freuds eigener Einschätzung vgl. den bei Jones 1962b, 519 wiedergegebenen Brief Freuds an Lou Andreas-Salom¦ sowie kritische Äußerungen im Text selbst (GW XIV, 476). 1016 GW XIV, 466, Anm. 2. 1017 GW XIV, 442. 1018 Ebd. 1019 Gamm 2001c, 132. Vgl. auch das Rousseau-Kapitel im ersten Teil der vorliegenden Arbeit.
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2.2.12 Zur Gewinnung des Feuers (1932) »Die Wärme, die das Feuer ausstrahlt, ruft dieselbe Empfindung hervor, die den Zustand sexueller Erregtheit begleitet, und die Flamme mahnt in Form und Bewegungen an den tätigen Phallus.«1020
Etwas mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung von Das Unbehagen in der Kultur greift Freud eine dort bereits in einer Anmerkung formulierte Hypothese über die Beziehung zwischen der prähistorischen Zähmung des Feuers und der infantilen Lust, es durch den Harnstrahl zu löschen1021, wieder auf und macht sie in der relativ kurzen, nur sieben Seiten umfassenden Schrift Zur Gewinnung des Feuers zur Grundlage einer Deutung des griechischen Prometheus-Mythos. Die wesentlichen Bestandteile der Sage, »die Art, wie Prometheus das Feuer transportiert, der Charakter der Tat (Frevel, Diebstahl, Betrug an den Göttern) und der Sinn seiner Bestrafung«, gestatten nach Freud trotz allen Entstellungen die analytische Interpretation1022, daß »der historische Kern des Mythus eine Niederlage des Trieblebens« ist1023 ; die Entstellungen seien letztlich nicht gravierender als die, die bei der Deutung der Träume aufzulösen seien. Das Verständnis des Mythos als Wachtraum1024 läßt Freud in den betrogenen Göttern die Repräsentanten des Trieblebens erblicken, die von Prometheus um »die homosexuell-betonte Lust«1025 am Wettstreit mit dem als phallisch begriffenen Feuer gebracht werden, indem der Kulturheros auf das Löschen desselben vermittels seines Harnstrahls verzichtet. Triebverzicht also ist die Grundbedingung der Gewinnung des Feuers, und der Mythos drückt schließlich nichts anderes als »den Groll« über diesen Triebverzicht aus1026. Die Leber, die dem an den Fels geschmiedeten Prometheus täglich durch einen Vogel entrissen wird, ist dementsprechend ein Sinnbild der Triebgelüste, die sich nach ihrer Befriedigung ebenso regelmäßig erneuern. Der Vogel steht hier gleichnishaft für den Penis, was Freud zu einer Interpretation auch des Mythos vom aus seiner Asche neu erstehenden Phoenix inspiriert, der ursprünglich wohl nicht Symbol der »im Abendrot untergehende[n] und dann wieder aufgehende[n] Sonne«, sondern des »nach seiner Erschlaffung neu belebten Phallus« gewesen sei1027. Schlußendlich ist auch die lernäische Hydra im Sinne der aus Träumen bekannten »Umkehrung des manifesten Inhalts« eigentlich ein Brand, dessen Flammen von Herakles gelöscht werden. Der Urmensch, der laut Freud die Außenwelt unter 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027
GW XVI, 6. GW XIV, 449 Anm. 1. GW XVI, 4. GW XVI, 7. Ricœur 1969, 17. Vgl. das Kapitel 2.2.6 der vorliegenden Arbeit. GW XVI, 3. GW XVI, 6. GW XVI, 7.
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Zuhilfenahme von Erfahrungen mit dem eigenen Körper verstehen lernen mußte, habe die Analogien, die das Feuer ihm offenbarte, »nicht […] ungenützt gelassen«; so erhielt folglich die Thematik der Elemente von Feuer und Wasser ihre symbolische Entsprechung in einer sexuell-körperlichen: »[D]er Mensch [löscht] sein eigenes Feuer« – nämlich die sexuelle Erregung – durch das »Wasser« seines eigenen Harns1028. Mit seiner psychoanalytischen Interpretation der Gewinnung des Feuers widmet sich Freud einem der zentralen Schritte in der kulturellen Entwicklung des Menschen, den er bereits in Das Unbehagen in der Kultur treffend als »ganz außerordentliche, vorbildlose Leistung« und »Großtat« charakterisierte1029. Der Gebrauch des Feuers bildete schließlich auch die Voraussetzung für den Übergang von roher zu gekochter Nahrung, der generell mit dem Übergang von Natur zu Kultur assoziiert wird1030. Diese Auffassung wurde übrigens jüngst wieder von dem Anthropologen Richard Wrangham dahingehend wiederholt, als der Verzehr von Gekochtem einen entscheidenden Fortschritt innerhalb der Hominisation zur Konsequenz gehabt und gewissermaßen aus Affen Menschen gemacht habe1031. Die Nutzung des Feuers, die nach bisherigem Stand der Archäologie erstmals im Mittelpleistozän, d. h. in einem Zeitraum vor ca. 800000 bis 130000 Jahren, durch den Homo heidelbergensis erfolgte1032, läßt sich darüber hinaus anhand von aus dem zur Neige gehenden Mittelpleistozän datierenden Funden aus einer Höhle in Nizza »nicht nur zum Rösten und Wärmen, sondern auch für Beleuchtungszwecke erkennen«; somit kann davon ausgegangen werden, daß es sich bei solch »künstlich erhellten« Orten um »sozial wichtige Kontaktbereiche« gehandelt hat1033. Möglicherweise (sofern es zur genannten Zeit überhaupt schon eine komplexe Sprache gab) begannen sich die frühen Menschen in solchen Kontaktbereichen bereits Mythen über die Zähmung des Feuers zu erzählen. Freuds Behauptung, bei den heute noch überlieferten Mythen über den Erwerb des Feuers sei selbiger immer ein Diebstahl, »nicht nur in der griechischen Sage vom Feuerbringer Prometheus«, sondern »bei den verschiedensten und entlegensten Völkern«1034, erfährt zumindest teilweise eine Bestätigung in den von L¦vi-Strauss wiedergegebenen diesbezüglichen Mythen einiger lateinamerikanischer Stämme1035. Ferner ist auffällig, daß auch das Löschen des Feuers durch 1028 GW XVI, 8 f. 1029 GW XIV, 449. 1030 Wesel 1980, 123 unter Bezugnahme auf L¦vi-Strauss, Claude, 1971: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt/M. 1031 Wrangham, Richard W., 2009: Feuer fangen. Wie uns das Kochen zum Menschen machte – eine neue Theorie der menschlichen Evolution. Übersetzt von Udo Rennert. München. 1032 Müller-Beck 2008, 49. 1033 Müller-Beck 2008, 51. 1034 GW XVI, 5. 1035 L¦vi-Strauss 1971, 188 f.
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Urinieren in manchen dieser Mythen eine Rolle spielt: Die Cuna aus Panama wissen zu berichten, daß einst ein Leguan ein unter der Hängematte des Jaguars, des »Herrn des Feuers«, befindliches Stück Glut an sich nahm und auf die verbleibenden urinierte, »um sie zu ertränken«. Er floh schließlich mit dem Feuer durch den Fluß, durch den ihm der Jaguar nicht folgen konnte1036. Bei den Bororo aus Brasilien hingegen vernichten Sonne und Mond das Feuer, indem sie darauf urinieren1037. Nach L¦vi-Strauss ist das im Mythos vorkommende natürliche Material grundsätzlich »das Instrument, nicht der Gegenstand der Bezeichnung«1038 – und bestätigt damit bis zu einem gewissen Grade die auch der Freud’schen Interpretation zugrundeliegende Annahme, daß hinter den manifesten Inhalten des Mythos sich in metaphorischer Verkleidung latente Inhalte verbergen. 2.2.13 Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) »Das Judenvolk in Ägypten war sicherlich nicht ohne irgend eine Form von Religion, und wenn Moses, der ihm eine neue gegeben, ein Ägypter war, so ist die Vermutung nicht abzuweisen, daß die andere, neue Religion die ägyptische war.«1039
1933, im Jahre der nationalsozialistischen Machtergreifung, erscheint der erste Band von Thomas Manns Romantetralogie über den biblischen Traumdeuter Joseph, im darauffolgenden Jahr der zweite. Der Nobelpreisträger, der sich im Rahmen der Vorarbeiten zum Joseph-Roman seit der Mitte der 1920er Jahre intensiver mit der Psychoanalyse auseinandersetzte, 1929 den engagierten Vortrag Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte hielt1040 und sich 1036 L¦vi-Strauss 1971, 185 Anm. 3. Freud hätte den physisch überlegenen Jaguar vermutlich als Sinnbild eines phallischen Triebes gedeutet, das diesen aufhaltende Wasser des Flusses als Manifestation des Harnstrahls, der das Feuer der sexuellen Erregung zu löschen imstande ist. 1037 L¦vi-Strauss 1971, 254. 1038 L¦vi-Strauss 1971, 437. »[D]as mythische Denken […] geht […] wie die Sprache vor, welche die Phoneme unter den natürlichen Lauten auswählt« und genau wie das mythische Denken nicht »unterschiedslos dieses empirische Material in all seiner Fülle annehmen, verwenden und gleichwertig behandeln [kann]«, sondern vielmehr »eine kleine Zahl von Elementen beibehält, die geeignet sind, Gegensätze auszudrücken und Gegensatzpaare zu bilden. Doch wie in der Sprache geraten die verworfenen Elemente nicht in Vergessenheit. Sie verstecken sich hinter denen, die zum Anführer der Reihe aufgerückt sind und sie mit ihren Körpern verdecken […].« Hier läßt sich anknüpfen an die oben behandelten Beziehungen zwischen erzähltheoretischer Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse, besonders psychoanalytischer Traum(- und Mythen)deutung. 1039 GW XVI, 116. 1040 Kurzke, Hermann, 1985: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. München, 219 – 222. Kurzke charakterisiert die Wirkung Freuds auf den sich nunmehr für die Ziele der Weimarer Republik einsetzenden einstigen Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen wie folgt: »Freud öffnet die Perspektive für einen philosophisch zaghaften, aber emotional mit
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1930 für die Verleihung des Goethe-Preises an Freud verwandte, ist einer der wenigen Schriftsteller, zu denen Freud persönliche Beziehungen pflegt1041. So kehrt Freud wohl unter dem Einfluß der Lektüre von Thomas Manns JosephRoman1042, aber auch des zeitgenössisch erstarkenden Antisemitismus im Sommer 19341043 zurück zu den Anfängen jener in der Selbstdarstellung erwähnten frühen Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung, die seine Interessen nachhaltig in die bekannten Bahnen gelenkt hat1044 – so nachhaltig, daß er sich jetzt am Ende seines Lebens selbst daran macht, eine psychoanalytisch inspirierte biblische Geschichte zu schreiben, ähnlich wie Thomas Mann es auf dem Felde der Belletristik tut. Und ebenso wie bei Thomas Mann geht es auch bei Freud um die Ursprünge des Monotheismus im alten Ägypten, um Pharao Echnaton und seine Beziehungen zur jüdischen Religion. Im Unterschied zur Romandichtung des ersteren allerdings, in der der Jakobssohn Joseph als Zeitgenosse des ägyptischen Ketzerkönigs auftritt, identifiziert Freud Mose als Gefolgsmann des Echnaton, der nach dessen Sturz den Hebräern die in Ägypten selbst nunmehr verfemten Lehren seines Königs nahebringt und so zum Religionsstifter avanciert. Die Arbeit an diesem Buch, das vollständig unter dem Titel Der Mann Moses und die monotheistische Religion erst in seinem Sterbejahr 1939 veröffentlicht wird, beschäftigt Freud während der letzten fünf Jahre seines Lebens und kann in vielerlei Hinsicht als sein kulturtheoretisches Vermächtnis gelten. Ebenso unterschiedliche wie zentrale Motive und Motivationen, die Freuds Leben und Werk geprägt haben, schießen in dieser Schrift zusammen und verdichten sich zu einer vielschichtigen Studie, die vermutlich mehr mit Freud selbst als mit dem historischen Mose zu tun hat. So unterstellt Marthe Robert Freud bei seinen Ambitionen eine gewisse Eifersucht auf Thomas Mann, da sein eigenes »Talent zum Romancier nicht hatte entfaltet werden können oder
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Verve vorgetragenen Einbruch der aufklärerischen Geschichtsphilosophie des Fortschritts in eine bis dahin ganz fatalistische und deterministische Weltanschauung.« (Kurzke 1985, 221) Robert 1975, 145 bzw. Mertens 2000, 8. Assmann 1998, 216. Assmann meint an anderer Stelle, die Konzeption der Form des MoseEssays sei durch die Mann’schen Romane inspiriert (Assmann 2006a, 182). Daß Freud Manns Roman in der Tat mit einer gewissen Begeisterung gelesen hat, geht aus einem Brief an den Schriftsteller vom 29. 11. 1936 hervor: »Unlängst legte ich Ihren neuen Band der Josefsgeschichte aus der Hand, mit dem wehmütigen Gedanken, daß dieses schöne Erlebnis jetzt vorüber ist, und daß ich die Fortsetzung wahrscheinlich doch nicht werde lesen können« (zit. nach Jones 1962b, 533). Das Zitat bezieht sich wohl nicht, wie bei Jones (ebd., Anm. 13) zu lesen, auf den ersten, sondern vielmehr auf den dritten Teil der Tetralogie, Joseph in Ägypten, der im Oktober 1936 in Wien bei Bermann-Fischer veröffentlicht wurde (zur Chronologie der Joseph-Romane: Kurzke, Hermann, 1999: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München, 418). Jones 1962b, 230 sowie Assmann 2006a, 183. Freud 1971, 40 sowie oben, die Kapitel zu Kindheit und Jugend Freuds.
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dürfen«1045 ; und in der Tat trägt die erste Fassung des Essays über Mose aus dem Jahre 1934 den Untertitel Ein historischer Roman1046. Zudem äußert sich in dem beinahe obsessiven Bemühen, die Identität Moses zu klären, einmal aufs Neue Freuds »leidenschaftliche[s] Interesse für alles, was mit den Rätseln von Geburt und Herkunft zusammenhängt«; auch der Essay über Mose speist sich letztlich, wie Robert es formuliert, aus dem schon in der Traumdeutung und den dort wiedergegebenen eigenen Träumen sich manifestierenden »Bedürfnis, seine Biographie zu korrigieren«1047. Es ist seine zeitlebens als problematisch erfahrene jüdische Identität1048, die Freud mit seiner Rekonstruktion ihrer Ursprünge thematisiert, und dies vor dem historischen Hintergrund eines immer bedrohlicher werdenden Antisemitismus, der letztlich, nach dem Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, auch ihn selbst ins Exil zwingt. Generell verdankt sich Der Mann Moses also einer Wiederkehr von lange Verdrängtem – einer bis in früheste Jugend zurückgehenden Lust am Fabulieren, an romanhafter Spekulation, an der in vielerlei Hinsicht lehrreichen biblischen Geschichte1049, aber auch an der Identifikation mit einem Glaubensstifter im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum1050. Das Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion gliedert sich in 1045 Robert 1975, 145. Die in dem o.g. Brief Freuds an Mann vorgenommene Analyse eines Josephkomplexes Napoleons interpretiert Robert als Spiegelung seiner eigenen Person sowohl in dem korsischen Eroberer als auch im Traumdeuter Joseph. Freud rede eigentlich von sich selbst und »von seiner unbezähmbaren Leidenschaft, die ihn jetzt dazu drängt, den Roman seines Lebens abermals zu schreiben« (ebd. 146). 1046 Vgl. das Kapitel Freud als Schriftsteller sowie Assmann 1998, 216 und Freud 1986a, 457. 1047 Robert 1975, 147. 1048 Vgl. u. a. einen Brief Freuds an Arnold Zweig (zit. bei Gay 1989, 680 sowie bei Assmann 2006a, 183). Vgl. auch den Hinweis auf Köln (die Stadt, aus der seine Vorfahren einer Bemerkung in der Selbstdarstellung zufolge im Spätmittelalter vertrieben wurden, Freud 1971, 40) im Zusammenhang mit dem Phänomen des Antisemitismus, hinter dem sich eine verdeckte Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie verbergen könnte; im Mose-Essay heißt es hierzu: »Nicht alle Vorwürfe, mit denen der Antisemitismus die Nachkommen des jüdischen Volkes verfolgt, können sich auf eine ähnliche Rechtfertigung berufen. […] Von den ersteren ist der Vorwurf der Landfremdheit wohl der hinfälligste, denn an vielen, heute vom Antisemitismus beherrschten Orten gehören die Juden zu den ältesten Anteilen der Bevölkerung oder sind selbst früher zur Stelle gewesen als die gegenwärtigen Einwohner. Das trifft z. B. zu für die Stadt Köln, wohin die Juden mit den Römern kamen, ehe sie noch von Germanen besetzt wurde.« (GW XVI, 196 f., Hervorhebung im Original). 1049 Vgl. das Kapitel Frühzeitige Vertiefungen. 1050 Gay 1989, 683. Wolfgang Hegener deutet Freuds Mose-Essay und die immanente Kritik an der Vaterlosigkeit des Christentums schließlich als verdeckte Auseinandersetzung mit der seit »den 30er Jahren zunehmend vaterlos« werdenden Psychoanalyse, die »mehr und mehr die ausschließliche Beziehung zwischen Mutter und Kind/ Säugling« in den Focus ihrer Betrachtung stelle (Hegener, Wolfgang, 2001: Wege aus der vaterlosen Psychoanalyse. Vier Abhandlungen über Freuds »Mann Moses«. Tübingen, 15).
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drei Teile von unterschiedlicher Länge; die beiden ersten, Moses ein Ägypter und Wenn Moses ein Ägypter war…, wurden in »Form eines Fortsetzungsromans« bereits 1937 in verschiedenen Ausgaben der Zeitschrift Imago veröffentlicht. Nach seiner Emigration nach London ergänzt Freud die beiden genannten Aufsätze um eine dritte, bedeutend längere Abhandlung mit dem Titel Moses, sein Volk und die monotheistische Religion, der er zwei Vorbemerkungen voranschickt, und bringt alle drei zusammen als Buch heraus1051. Im ersten Aufsatz rechtfertigt er die u. a. von seinem Gewährsmann, dem amerikanischen Ägyptologen James Henry Breasted, geäußerte These von der ägyptischen Nationalität des Mose anhand der ägyptischen Herkunft des Namens sowie der Interpretation der Aussetzungssage, die dem Zweck diene, dem ägyptischen Religionsstifter nachträglich eine jüdische Identität zu verschaffen1052. Der zweite Aufsatz beinhaltet folglich die Vermutung, Mose sei ein Anhänger Echnatons gewesen und habe den Hebräern nicht allein die Aton-Religion, sondern ebenfalls »die Sitte der Beschneidung« gegeben1053. Wie schon in Totem und Tabu, inszeniert Freud auch in dieser Schrift zunächst das scheinbare Scheitern seiner Argumentation, und zwar durch Verweis auf die von der zeitgenössischen Forschung angenommene Entstehung des biblischen Jahwe-Glaubens aus der midianitischen Verehrung eines Vulkangottes, die ergo einen ägyptischen Ursprung wenig wahrscheinlich machen würde; er löst die vermeintliche Diskrepanz auf, indem er zwei unterschiedliche Wurzeln des jüdischen Monotheismus annimmt, die ägyptische und die midianitische, die durch die Tradition verbunden worden seien. Der dritte Aufsatz wird durch zwei Vorbemerkungen eröffnet, deren erstere, wie zumindest die Datumsangabe vorgibt, vor dem Anschluß Österreichs verfaßt wurde und die Absicht der Nichtveröffentlichung aus taktischer Pietät gegenüber der katholischen Kirche als dem einzig verbleibenden Schutz vor den politisch-gesellschaftlichen Gefahren der Zeit rechtfertigen soll, während die zweite, nach der Emigration erstellt, die Entscheidung für die Publikation begründet. Nach dieser Schilderung des historischen Hintergrundes referiert Freud die Ergebnisse der vorangegangenen Abhandlung und verortet sie nun im Rahmen einer erweiterten »religionsgeschichtliche[n] Perspektive«, für die er auf Schlußfolgerungen aus seiner ersten größeren kulturtheoretischen Schrift Totem und Tabu rekurriert1054 : Entgegen der beispielsweise in der Selbstdarstellung formulierten teilweisen Rücknahme der Idee eines realen historischen Urvatermordes1055 schildert Freud ihn in Der Mann Moses ganz so, als habe er tatsächlich stattgefunden, und zwar nicht nur 1051 1052 1053 1054 1055
Assmann 2006a, 183 f. GW XVI, 104 f. sowie 111 f. GW XVI, 124. Assmann 2006a, 183 f. Vgl. das Kapitel über Totem und Tabu der vorliegenden Arbeit.
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»ein einziges Mal«, sondern »ungezählt oft« über einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden1056. Im Laufe der sich anschließenden historischen Entwicklung wurde der Vater durch das Totemtier ersetzt, das Totemtier seinerseits durch mit ihm gedanklich zusammenhängende Götter, die irgendwann einem Obergott untergeordnet wurden1057, bevor schließlich der eine Vatergott im Monotheismus zurückkehrte; für die Durchsetzung dieser Entwicklung jedoch war es beim ersten Mal noch zu früh, und so harrten die Ägypter aus, »bis das Schicksal die geheiligte Person des Pharao beseitigt hatte«, um sich danach wieder dem alten polytheistischen Kult zu widmen, »die wilden Semiten« hingegen »nahmen […] das Schicksal in ihre Hand und räumten den Tyrannen« – den Religionsstifter Mose – »aus dem Wege«1058 ; die Tötung Moses reproduzierte den Mord am Urvater. Mord und Monotheismus fielen vorerst der Verdrängung anheim, kehrten aber in der Zeit der Propheten nach mehrhundertjähriger Latenz mit beispielloser Wirkmacht wieder. Das Christentum interpretiert Freud dabei schließlich als Sohnesreligion, die den weit konsequenteren Monotheismus der jüdischen Vaterreligion teilweise relativiert habe durch die Einführung einer »Muttergottheit« und »mystischer Elemente«1059. Freuds »psychohistorische[…] Religionstheorie« ruht im Grunde »auf den beiden Beinen einer Traditions- und einer Resonanztheorie«, die Antwort auf die Fragen zu geben versuchen, wie einerseits die mosaische Botschaft über viele hundert Jahre fortbestehen und wie sie dann andererseits eine derart unvergleichliche Tragweite entwickeln konnte. Die biblischen Berichte besitzen dabei den Stellenwert der bewußten Erinnerung – Freuds Augenmerk aber gilt der »historischen Wahrheit«, die in Gestalt von »Erinnerungsspuren« unbewußt dahinter liegt1060. Er erweitert gewissermaßen die in Totem und Tabu formulierte These von der unbewußten transgenerationalen Kommunikation um die Annahme eines ontogenetischen und eines phylogenetischen Gedächtnisses; das ontogenetische enthält individuell Verdrängtes, das phylogenetische hingegen, und das ist durchaus lamarckistisch gemeint, das »Erleben früherer Geschlechter«. So könne endlich auch »die Kluft zwischen Individual- und Massenpsychologie überbrückt, […] die Völker […] wie de[r] einzelne[…] Neurotiker [behandelt]« werden1061. Zur Erklärung der ungemeinen Massenwir1056 GW XVI, 186. 1057 Köhler 2006, 238. 1058 GW XVI, 149. Freud vertritt hier die von dem Alttestamentler Ernst Sellin geäußerte These, einige Stellen der biblischen Überlieferung deuteten auf die Ermordung Moses hin (Sellin, Ernst, 1922: Mose und seine Bedeutung für die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte. Leipzig/Erlangen). 1059 GW XVI, 190 – 194. 1060 Assmann 2006a, 184 f. 1061 GW XVI, 206 f.
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kung, die die mosaische Religion Jahrhunderte nach dem Auszug aus Ägypten und der postulierten Ermordung des Mose entfaltete, konstruiert Freud einen Zusammenhang zwischen der individuellen Neurose und der Religionsgeschichte: Die für die Ausbildung einer Neurose fixierte »Formel« »[f]rühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten«1062 gelte auch für die Entwicklung der Religion. Die intensive Reaktion auf den Monotheismus Jahrhunderte nach der Verkündung am Sinai und nach einer ebenso langen »Latenz« begründet Freud damit, »daß jedes aus der Vergessenheit wiederkehrende Stück sich mit besonderer Macht durchsetzt, einen unvergleichlich starken Einfluß auf die Menschenmassen übt«. Betrachtete Freud die Religion in früheren Schriften noch als reine Illusion, so gesteht er ihr mit seiner Rekonstruktion der Ursprünge des Monotheismus nunmehr zu, auf ihre Weise »historisch zu nennende[…] Wahrheit« zu enthalten1063. Freuds Theorien über Mose und die monotheistische Religion wurden jahrzehntelang kaum beachtet, was u. a. sicher auch damit zusammenhängen mag, daß seine »Konstruktion von Moses als Schöpfer des jüdischen Volkes […] gegen alle historische Wahrscheinlichkeit [geht]«1064. Die »zwei Fundamente«, auf die er seine Theorie stellt, die These des ägyptischen Mose und der Urvatermord, »tragen nicht«: So gibt es beim gegenwärtigen Stand der Forschung »nicht die geringsten Quellen und Spuren eines historischen Moses«1065 und damit keinerlei Anhaltspunkte für seine tatsächliche Existenz, darüber hinaus handelt es sich bei der »Sinai-Offenbarung« wohl um »eine Rückprojektion aus viel späterer Zeit«1066. Auch existieren keine Parallelen zwischen der ägyptischen Aton-Religion und dem biblischen Monotheismus: »Echnatons […] Sonnenkult und die mosaische Monolatrie haben kaum etwas miteinander gemeinsam«, zumal ersterer beispielsweise ethische Aspekte vollständig ausblendet, und dies sogar im Widerspruch nicht allein zum mosaischen, sondern ebenso zum altägyptischen Glauben1067. Gleichsam deutet nichts auf eine Verdrängung des Mordes an Mose hin1068. Jan Assmann sieht in Freuds Text vielmehr das berühmteste Beispiel jener Sorte von »Enthüllungsliteratur«, die sich aufgrund des Nichtvorhandenseins zweifelsfreier historischer Beweise alljährlich durch Pu1062 1063 1064 1065 1066 1067
GW XVI, 185. GW XVI, 190 f. (Hervorhebung im Original) Assmann 1998, 238. Assmann 2003, 127 f. Assmann 2004, 8. Assmann 2004, 9 f. Eine mittelbare Parallele sieht Assmann allerdings in der beiden Religionen eignenden Verbindung von Politik und Theologie (Assmann 2000, 135). 1068 Yerushalmi, Yosef H., 1992: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. Berlin, 125.
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blikationen zur Frage der Identität des Religionsstifters hervortue1069. Zudem sei bereits in der Antike die Behauptung von Moses ägyptischer Abstammung erstmalig formuliert und bis ins 18. Jahrhundert hinein von den unterschiedlichsten Autoren, unter ihnen Toland und Schiller, immer wieder aufgegriffen worden. Die Wiederentdeckung Echnatons durch die Ägyptologie des 19. Jahrhunderts schließlich provozierte eine Erneuerung dieser Tradition, zu der besonders auch Freuds diesbezügliche Spekulation zu rechnen ist1070. Freilich vertraten auch andere prominente Zeitgenossen die These, Mose sei möglicherweise kein Jude gewesen; auf Max Weber wurde in diesem Zusammenhang bereits hingewiesen1071. Das zweite Fundament von Freuds Theorie allerdings, die eigentlich schon fast verworfene Annahme eines real stattgefundenen Urvatermordes, ist gewiß noch problematischer als die Identifizierung Moses als Ägypter. Denn sie geht bei Freud einher mit einem Psycho-Lamarckimus, an dem besonders Yerushalmi scharfe Kritik übt1072. Hier nahm in den 1990er Jahren eine gelehrte Diskussion ihren Ausgang, im Zuge derer Jacques Derrida1073 und Richard Bernstein1074 Freud gegen den Vorwurf des Lamarckismus zu verteidigen versuchten. Freuds fragliche Äußerungen sind jedoch eindeutig1075. Umgekehrt erfährt Freuds Text »[n]ach 50jähriger Latenzzeit« mit Yerushalmis Buch aber »ein ganz einzigartiges Comeback«, wie Assmann es nennt1076. Vor 1069 Assmann 2000, 121. 1070 Assmann 1998, besonders 213 – 218, sowie Yerushalmi 1992, 20 f. Schon bei dem antiken Autor Manetho erscheint Mose als Ägypter. Er ist identisch mit Osarsiph, in dem Jan Assmann »eine verschobene«, mündliche überlieferte »Erinnerung an Echnaton« erkennt; Echnaton fungiert grundsätzlich als eine Art »Trauma«, das in ebenfalls traumatisch erlebter Zeit wiederkehrt (Assmann 2000, 126 f.). Den historischen Hintergrund für den Exodus-Mythos bildet nach Assmann (1998, 221) im übrigen die Hyksoszeit. 1071 Vgl. das Weber-Kapitel der vorliegenden Arbeit. Gleichwohl gibt Weber zu bedenken, daß »[d]ie ägyptischen Namen […] natürlich in einer Zeit ägyptischer Vorherrschaft in Palästina und der Sinaiwüste so wenig etwas für ägyptische Herkunft des Bundesstifters oder vollends seines Gottes [beweisen], wie babylonische oder hellenische Namen bei Juden der Spätzeit über deren Abkunft etwas aussagen« (Weber 1921, 131). 1072 Yerushalmi 1992, 54 f. 1073 Derrida, Jacques, 1995: Mal d’Archive. Paris. Dt. Ausgabe: Derrida, Jacques, 1997: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann. Berlin. (Die Auseinandersetzung mit Yerushalmis Lamarckismus-Vorwurf findet sich in der deutschen Ausgabe vor allem auf den Seiten 62 – 64.) 1074 Bernstein, Richard J., 1998: Freud and the Legacy of Moses. (Cambridge studies in religion and critical thought, 4). Cambridge. Dt. Ausgabe: Bernstein, Richard J., 2003: Freud und das Vermächtnis des Moses. Übersetzt von Dirk Westerkamp. Berlin/Wien. (Die Auseinandersetzung mit Yerushalmis Lamarckismus-Vorwurf findet sich in der deutschen Ausgabe vor allem auf den Seiten 82 – 90.) 1075 Assmann 2003, 131. 1076 Assmann 2003, 119 sowie 2004, 2, wo er es mit der zeitgleichen »Erinnerung an Auschwitz« in Verbindung bringt. Hierzu auch LaCapra, Dominick, 1996: Säkularisierung, der Holocaust und die Wiederkehr des Verdrängten. In: Nagl-Docekal, Herta (Hg.), 1996: Der
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allem Jan Assmann ist es auch, der trotz aller Kritik im Detail die besonderen und bleibenden Verdienste von Freuds Schrift betont, zu denen er in erster Linie dasjenige zählt, »den Monotheismus als ein psychohistorisches Problem erschlossen zu haben«: Die Schwierigkeiten des Monotheismus entsprechen denen der Vaterbeziehung in all ihrer ambivalenten Färbung. So spielen auch in der »Vaterreligion« die »Auflehnung gegen und Unterwerfung unter den väterlichen Willen, Auserwähltheitseuphorie, Schuldgefühle, Minderwertigkeits- und Allmachtsphantasien« eine entscheidende Rolle. Die psychohistorischen Folgen des Eingottglaubens bezeichnete Freud bekanntlich mit dem Schlagwort vom Fortschritt in der Geistigkeit1077, den er als »Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen«, aber auch als positiv konnotierten »Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit« definierte1078. Auf die Parallelen zu ähnlichen Konzeptionen Schellings wurde oben bereits eingegangen1079. Daß darüber hinaus Freuds Beurteilung des Bilderverbots einen Vorläufer in entsprechenden Überlegungen Kants besitzt, verdeutlicht wiederum Jan Assmann1080. Freud steht hier also in einer geistesgeschichtlichen Tradition, die vor allem mit den Namen protestantischer Denker verknüpft ist. Der Judaist Peter Schäfer weist darauf hin, daß Freuds »Bild der jüdischen Religion vom Reformjudentum des 19. Jahrhunderts inspiriert« war, welches seinerseits vom Protestantismus beeinflußt gewesen sei; sein »›jüdische[s] Gedächtnis‹« verdanke seine spezifische Form und Ausgestaltung daher in nicht unerheblicher Weise dem Christentum: »Freuds ›Triumph der Geistigkeit‹ ist die Geburt des jüdischen Monotheismus aus dem Geist des Christentums«1081. Die frühzeitige Lektüre der Philippson’schen Bibel und die daraus resultierende gedankliche Prägung mag denn auch dafür verantwortlich gewesen sein, daß Freuds Rekonstruktion der Geschichte des Monotheismus nach den Prinzipien der Neurosenlehre »mit geradezu unheimlicher Genauigkeit der biblischen Geschichtskonstruktion, das heißt: dem kulturellen Gedächtnis Israels« gleicht. Die biblische Beschreibung unterteilt die Geschichte Israels nämlich in Abschnitte, die nach Assmann relativ exakt mit den Phasen der Neurose übereinstimmen; er deutet diese konstruierte
1077 1078 1079 1080 1081
Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. (Fischer-Taschenbücher, 12776). Frankfurt/M., 235 – 269. Assmann 2003, 119 f. GW XVI, 220. Vgl. auch das Schelling-Kapitel der vorliegenden Arbeit. Vgl. das Schelling-Kapitel der vorliegenden Arbeit. So sah Kant genau wie später Freud im Bilderverbot den Grund für den »Enthusiasm […], den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte«. Zit. nach Assmann 2003, 123. Schäfer, Peter, 2003: Der Triumph der reinen Geistigkeit. Sigmund Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion. (Schriftenreihe Ha’ Atelier Collegium Berlin, 7). Berlin/ Wien, 37 f. Auch in bezug auf seinen Atheismus war Freud ja letztlich Erbe der christlichen Tradition, vgl. das Kapitel Frühzeitige Vertiefungen.
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Geschichte – das »kulturelle[…] Gedächtnis Israels«1082 – als Reaktion auf traumatische Erfahrungen, denen das antike Volk im Laufe seiner Geschichte immer wieder ausgesetzt war. Im Bereich des kulturellen Gedächtnisses ließen sich demnach psychoanalytische Termini wie Latenz etc. verwenden, denn das Schuldbewußtsein sei »nicht das Symptom einer der bewußten Überlieferung unzugänglichen psychischen Disposition, sondern ein Leitmotiv der biblischen Texte«, die letztlich die Ethnogenese des jüdischen Volkes in entscheidender Weise bedingen1083. Nicht Urvatermord und genetisch vererbte Erfahrung, sondern die Frage nach Sinn und Inhalt des Gedächtnisses ist der entscheidende Schlüssel zur Untersuchung eines kulturellen Unbewußten, die nicht psycho-biologisch, sondern psycho-kulturell verfahren muß; Freuds »psycholamarckistischer Ansatz« hat ihn freilich gehindert, die Bedeutung der Problematik des kulturellen Gedächtnisses zu erkennen1084. Hingegen kann, so Assmann, an Freuds Überlegungen zu einem kulturellen Unbewußten angeknüpft werden, wenn man sie im Sinne der Resonanztheorie interpretiert: »An die Stelle des Urhordentraumas und seiner Wiederholung durch den Mord an Mose träten dann die schweren historischen Traumatisierungen des jüdischen Volkes von der assyrischen Eroberung des Nordreichs 722 v. Chr. bis zur endgültigen Vertreibung aus Palästina nach dem Bar-Kochba-Aufstand 135 n. Chr.«1085 Mose fungiert dabei als Erinnerungs-, nicht als historische Figur. Assmanns Postulat ist daher das einer Gedächtnisgeschichte, die sich nicht auf »die forensische Wahrheit« beschränkt1086, sondern »der symbolischen Wahrheit« nachgeht. Die Leitfrage lautet nicht, »wie es eigentlich gewesen« sei, sondern wieso etwas erinnert wurde1087, nicht Archäologie, Hermeneutik ist folglich vonnöten1088. Assmann attestiert den »Archive[n]« kultureller Tradierung außerordentliche Komplexität, weswegen das kulturelle Erinnerungsvermögen »nicht nur eine m¦moire volontaire, sondern auch eine m¦moire involontaire« umfasse, »in seinen Tiefenschichten ist vieles enthalten, das nach langer Latenz wieder wirksam werden und die Menschen heimsuchen kann«1089. Jan Assmanns Frau Aleida Assmann unterscheidet bei den Archiven kultureller Überlieferung wesentlich drei Typen: ein »bewohntes ›Funktionsgedächtnis‹«, das u. a. zur Herstellung von Sinn, Untermauerung von Identität und Begründung von Handlung eines Einzelwesens oder einer Gemeinschaft dient und also eine 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089
Assmann 2004, 10. Assmann 2004, 13 – 15 (meine Hervorhebung). Assmann 2004, 7. Assmann 2006a, 187. Assmann 2000, 122. Assmann 2003, 127 (meine Hervorhebung). Assmann 2004, 15. Assmann 2003, 133 f.
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willentliche Auswahl von Erinnertem beinhaltet; ein »unbewohntes ›Speichergedächtnis‹«, das mit einer Ausquartierung von Wissen verbunden ist und die Verwaltung desselben Fachleuten überantwortet, gleichwohl aber ein Reservoir darstellt für zukünftig und potentiell Erinnerbares; sowie drittens zwar noch vorhandene, aber temporär nicht mehr wahrgenommene »Spuren, Reste, Relikte, Sedimente einer vergangenen Zeit«, die in einem »Latenz-Zustand« verweilen und von späteren Generationen wiedergefunden, interpretiert und »imaginativ wiederbelebt werden« können. Diese »Ablagerung« produziert »in Erinnerungsräumen jene Qualität von Tiefe«, die das kulturelle Unbewußte kennzeichnet1090. Hier vor allem also wären solche Inhalte zu verorten, die nach einer Phase der Latenz ihre Wirkung entfalten und den Menschen, um die obige Formulierung Jan Assmanns wiederaufzugreifen, »heimsuchen« können1091. Auch die Kultur selbst kann im übrigen bis in die Tiefen des individuellen Unbewußten ausstrahlen, denn das Kind empfängt Wahrnehmungen nicht nur der individuellen Erfahrung, sondern ebensosehr kulturell erzeugte, die es ständig umgeben und seine Psyche beeinflussen; kulturelle Prägungen können dabei durch die »Dreiheit von Handlungen, Erzählungen und Bildern« hervorgerufen werden1092. Auch kulturelle Erinnerung und geschichtlicher Sinn, letztlich Traditionsbildung, bilden sich vermutlich auf ähnliche Weise aus. In diesem Zusammenhang sei noch einmal erinnert an Rüsens Begriff der »Geschichtskultur« mit seinen drei Dimensionen, der ästhetischen, politischen und kognitiven1093. Besonders die ästhetische Dimension, d. h. das Formal-Sinnliche, dürfte schon auf die kindliche Psyche wirken, freilich auch die politische, sofern sie sich narrativ in Mythen u. ä. äußert. Gewissen formalen1094 wie inhaltlichen Mängeln zum Trotz ist Freuds Mo1090 Assmann, Aleida, 2003: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München, 408 – 410. 1091 Der Begriff der ›Heimsuchung‹ in diesem Zusammenhang geht natürlich auf Nietzsche zurück (hierzu A. Assmann 2003, 413). 1092 Assmann 2004, 16 – 21. Als Beispiele für die »pragmatisch bedingten kulturellen Prägungen« nennt Jan Assmann u. a. »die Säuglingsbeschneidung bei Juden und Muslimen« sowie die »enge Wickelung bei Russen und Indianern«, für die »narrativen Prägungen« die »folkloristischen Überlieferungen« und »[f]ür die ikonischen Prägungen« die »christliche Bilderwelt« mit ihrer »realistischen Darstellung von sadistischen Folterungen und Hinrichtungen« (ebd. 21, Hervorhebungen im Original). Daß gerade dem Bild »eine besondere Nähe zum Unbewußten« zugesprochen wird, betont im übrigen Aleida Assmann (A. Assmann 2003, 410). Das Verhältnis von kulturellem Symbol und individuellem Erleben begreift Jan Assmann als ein dialektisches (Assmann 2004, 17): »So wie eigenes Erleben einen Resonanzraum für kulturelle Symbole bilden kann, in dem sie erst ihre Bedeutung und affektive Strahlkraft entfalten, so können umgekehrt kulturell vermittelte Prägungen einen Resonanzraum für individuelles Erleben bilden.« 1093 Vgl. das Kapitel Geschichte und Geschichtskultur der vorliegenden Arbeit sowie Rüsen 1994. 1094 Daß die Mängel im äußeren Aufbau des Essays und die damit verbundenen inhaltlichen
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notheismus-Studie aufgrund der Vielschichtigkeit des versammelten analytischen Materials einer seiner ergiebigsten kulturtheoretischen Texte, was nicht zuletzt das rege Interesse der jüngeren Forschung an selbiger unter Beweis stellt. Wie bei seinem ersten kulturwissenschaftlichen Essay Totem und Tabu ist es auch in seinem letzten über Mose nicht die hypothetische Rekonstruktion eines absoluten Ursprungs des Schuldgefühls im Urvatermord, die die bleibende Leistung Freuds auf diesem Gebiet darstellt, sondern vielmehr die Erschließung der psychohistorischen Dimension kulturgeschichtlicher Vorgänge, die Entdeckung der grundsätzlichen Parallelen zwischen Vater- und Gottesbeziehung und die immanente Ambivalenz derselben. Es handelt sich überdies um einen wichtigen Beitrag zur Gedächtnisgeschichte, welche in den letzten zwei Jahrzehnten mit entsprechenden Publikationen u. a. von Jörn Rüsen, Aleida und Jan Assmann sowie Paul Ricœur1095 neue Brisanz erfährt. Hier liegen auch die entscheidenden Anknüpfungspunkte für eine Philosophie der Geschichte, die sich mit kulturellen Erzählungen und ihrer Bedeutung für die Ausbildung narrativer Identitäten befaßt1096. Die von Freud aufgedeckten Mechanismen vor allem im Zusammenhang mit einem kulturellen bzw. gesellschaftlichen Unbewußten wie Verdrängung und Wiederkehr geistiger Inhalte auf über-individueller Ebene eröffnen neue Perspektiven für eine kulturgeschichtlich reformulierte Geschichtsphilosophie, die sich im Anschluß an Max Weber mit der Wirkmacht historischer Ideen auseinandersetzt. Die von Freud unternommene psychoanalytische Untersuchung des von ihm so bezeichneten Fortschritts in der Geistigkeit aber könnte für ein tieferes Verständnis der Ambivalenzen der ›Aufklärung‹ und allgemein von Emanzipations- und Rationalisierungsprozessen von fundamentaler Relevanz sein1097. Wiederholungen etc. eher der Entstehungsgeschichte und der vermutlich kaum zu unterschätzenden inneren Anteilnahme Freuds am behandelten Thema – und weniger nachlassenden schriftstellerischen Fähigkeiten des Autors – geschuldet sind, verdeutlicht die hohe Qualität des zeitlich später entstandenen Textes Abriß der Psychoanalyse (Freud 1986a, 458, editorische Vorbemerkung). 1095 Ricœur, Paul, 2004: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek u. a. (Übergänge, 50). München. 1096 Vgl. das Ricœur-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1097 In erster Linie für die Entwicklung des okzidentalen Rationalisierungsprozesses. Jüngst erst hat der Historiker Heinrich August Winkler übrigens eine Geschichte des Westens verfaßt, die er bezeichnenderweise mit Echnaton beginnen läßt; er nennt den »jüdische[n] Monotheismus eine Metamorphose des ägyptischen« (Winkler 2009, 25), und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Jan Assmann. Assmann selbst allerdings sieht keinerlei Verbindung zwischen Echnatons Sonnenkult und dem jüdischen Monotheismus (vgl. oben sowie Assmann 2004), mutmaßt aber gleichzeitig, daß es ohne Amarna als »real existierende Vergangenheit nicht zu Mose als Figur der Erinnerung gekommen wäre«, daß gewissermaßen »zwei kausal in keiner Weise verbundenen Erinnerungsströme im Laufe der Geschichte zusammengeflossen sind und eine Beziehung gestiftet haben« (Assmann 2000, 122 f.; im Falle des Ketzerkönigs, dessen Spuren beseitigt wurden, gab es demzufolge
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2.3
Freud als Geschichtsphilosoph: Zusammenfassende Überlegungen
»Daß der Mensch sich in die natürliche Gegebenheit der Welt nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt – mit diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozeß zwischen dem Subjekt und dem Objekt. […] Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur. Ihr liegt eine innere Tatsache zugrunde, die man als ganze nur gleichnisweise und etwas verschwimmend ausdrücken kann: als den Weg der Seele zu sich selbst…«1098
Freuds Entwicklung wurde hier bis in seine frühe Kindheit hinein verfolgt, weil sie Aufschluß zu geben vermag nicht nur über die individuellen Ambivalenzen und Umwege, die seine Sozialisation und die Entstehung seiner Lehre begleiteten, sondern weil der untersuchte Lebensweg bis zu einem gewissen Grade exemplarischen Charakter für seine Epoche und darüber hinaus für die Geschichte der Wissenschaft auf dem Weg in die Moderne des 20. Jahrhunderts beanspruchen kann. An Freud selbst also wird die vieldiskutierte Verschränkung der Geschichte von Gesellschaft und Individuum aufzeigbar. Die psychologischen Mechanismen, die im jugendlichen Freud wirksam sind, lassen sich prinzipiell auch auf der Ebene eines allgemeinen geistesgeschichtlichen Prozesses ausmachen: Die spekulative Freiheit, die sich der jugendliche Freud offenbar ebenso sehr genommen hat wie beispielsweise die Natur- als auch die Geschichtsphilosophie in der Tradition des deutschen Idealismus, birgt potentiell die Gefahr des Realitätsverlustes; in psychoanalytischer Deutung ist hier ein mit der Mutterbeziehung in Zusammenhang gebrachtes Lustprinzip am Werk, das sich noch nicht durch die Bedingungen der realen Außenwelt eingeschränkt sieht. Es ist die »Zweierwelt der Gefühle und Phantasien« und ihr Reiz der »Verschmelzung«, in welche aber alsbald das väterliche Prinzip »der Zeugenschaft des Dritten, der Beobachtung, des Denkens und der Sprache« einbricht1099. Konkret bedeutet dies sowohl bei Freud als auch in den sich professionalisierenden Wissenschaften eine Hinwendung zur faktischen Außenwelt, die Realitätsprüfung und gleichzeitige Bändigung der Triebnatur durch Trenjedoch keinen echten Erinnerungsstrom, sondern hier wäre eher von einer »Unterströmung« zu sprechen, »einer verschobenen, kryptischen Erinnerung«, die im Hellenismus wiederkehrt und einen ägyptischen Antijudaismus begründet, ebd. 123 f.). Winklers Einschätzung der Bedeutung des Monotheismus aber steht zu Freuds und Assmanns Annahmen nicht im Widerspruch: »Der jüdische Monotheismus bedeutete also in der Tat einen gewaltigen Schub in Richtung Rationalisierung, Zivilisierung und Intellektualisierung.« (Winkler 2009, 28) Den Zusammenhang von biblischer Religion und moderner Wissenschaft sah übrigens schon Jaspers (1949, 121 – 123). 1098 Simmel, Georg, 1983: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas. Berlin, 183. 1099 Schöpf 1998, 212.
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nung. Das Verhältnis von Ich und Triebnatur wird im 19. Jahrhundert zunehmend bestimmt durch die Angst vor dem Unkontrollier- und Unverfügbaren1100, und die Antwort auf die zeittypische Problematik liegt nicht länger in einem emphatisch bejahten Einswerden mit selbigem, sondern in der väterlichen Beherrschung des angstmachenden Unbewußten1101. Bei Freud mag der beschriebene Antagonismus in Extremform vorhanden gewesen sein, weshalb der eigentlich kulturwissenschaftlich interessierte Jüngling die Laufbahn des Naturwissenschaftlers und Arztes einschlägt. Schon der gymnasiale Philosophieunterricht, der durch ein Lehrbuch Gustav Adolph Lindners vom zeitgenössischen idealismusfeindlichen und empiriefreundlichen Geist geprägt ist, treibt den adoleszenten Freud dazu, seine spekulativen Neigungen zu unterdrücken, bevor er sich nach einigen Semestern des Philosophiestudiums bei Franz Brentano endgültig von der Philosophie ab- und vollends der empirisch-naturwissenschaftlichen Forschung zuwendet. Die Zerstückelung des Untersuchungsgegenstandes, die präzise Anschauung des Details im Laboratorium, im übrigen unter den Augen väterlicher Mentoren, bietet das Gefühl einer Beherrschbarkeit der Natur1102 und einer Sicherheit, die zumindest für eine bestimmte Zeit Befriedigung zu spenden imstande ist. Das Fehlen der Fabel in der physiologischen Erklärung der Hysterie jedoch erweist sich als ein Problem, das nach neuartigen Lösungsansätzen, letztlich nach der Erzählung verlangt. Das Unbewußte, nach Lacan selbst strukturiert wie eine Sprache, gibt seine Geheimnisse nicht unter dem Mikroskop, sondern nur durch Kommunikation preis. Die Rückkehr zu geistigen Problemen vollzieht sich aber unter Beibehaltung der Distanz zum Gegenstand der Untersuchung1103 sowie physikalischer Kategorien zur Beschreibung der im seelischen ›Apparat‹ wirksamen Kräfte, während der Sinn seelischer Vorgänge durch tiefenhermeneutische Arbeit im Rahmen einer historischen Operation erschlossen wird. Die Synthetisierung beider Positionen erfolgt in der Form der gemischten Rede, die sich ferner des Stilmittels der Metapher bedient, da selbige die geeignetste Darstellungsform für sich ebenfalls durch Überlagerung und Überdeterminiertheit auszeichnende seelische Vorgänge bildet. Auffällig ist, daß Freud seine Entdeckungen, die im Grunde eine Übertretung des väterlichen Gebots naturwissenschaftlicher Strenge darstellen, erst nach dem Tod der väterlichen Mentoren veröffent1100 Kittsteiner 1991 und 2004 sowie die Zusammenfassenden Überlegungen des ersten Teils der vorliegenden Arbeit. 1101 Chasseguet-Smirgel 1988, 176 sowie das Traditionslinien des Unbewußten überschriebene Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1102 Vgl. die Zusammenfassenden Überlegungen des ersten Teils der vorliegenden Arbeit. 1103 Hierin mag man den zentralen Unterschied zwischen der Psychoanalyse Freuds und der Analytischen Psychologie Jungs erblicken. Jedenfalls hätte Freud es selbst wohl so gesehen.
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licht1104. Der Tod des leiblichen Vaters hingegen führt ihn zur Entdeckung jener oben beschriebenen triangulären Struktur, die Freud nach dem griechischen König Ödipus benennt und die sich bald als Kernkomplex aller Neurosen erweist. Damit ist auch der Weg zur Kulturanalyse eröffnet. Als historisch und kulturell variables menschliches Grundphänomen im Sinne der Historischen Anthropologie verstanden, besitzt der Ödipuskomplex nach wie vor kulturtheoretische Relevanz vor allem für die Frage nach geschichtlichem Wandel. Weder Urvatermord noch die genetische Weitergabe historisch erworbener Erfahrungen sind freilich heute noch von Interesse; von bleibendem Wert aber sind die rein psychologischen bzw. psychokulturellen Momente von Freuds im weitesten Sinne ›geschichtsphilosophischen‹ Überlegungen. Seine Schriften zu Kultur, Religion und Gesellschaft erhellen die auch auf überindividueller Ebene wirksamen seelischen Mechanismen wie die unbewußte Kommunikation zwischen den Generationen, das historisch anwachsende Schuldgefühl, die nicht nur gegenüber Familienmitgliedern, sondern auch Führern und Göttern bedeutsame Gefühlsambivalenz und die dynamischen Konflikte zwischen den Instanzen. Er unternimmt treffende Analysen zur Kulturfeindlichkeit, zur Psychologie der Massen und zum kulturellen Gedächtnis. Sowohl in seiner Interpretation eines kriegerischen Naturzustands als auch in seinen Reflexionen über Masse und Kultur allerdings offenbart sich ein grundsätzliches Problem seines Denkens1105 : Freud »arbeitet mit der geschichtslosen Abstraktion einer Kultur überhaupt«1106, sein Kulturbegriff krankt an seiner mangelnden Historizität1107. 1104 Vgl. das Kapitel Freud als Schriftsteller. 1105 Vgl. die entsprechenden Kapitel der vorliegenden Arbeit. Ähnlich auch Reichmayr 1995, 25. 1106 Gamm 2001c, 131. Diese ahistorische Abstraktion »weiß [daher auch] nichts über das Spezifische einer Kultur zu sagen« (ebd.). Gamm deutet ferner Freuds Analyse des kulturellen Unbehagens als Ausdruck der »Erfahrung einer ihrer Kontingenz ausgelieferten (entropischen) Moderne, die kein telos der Kulturevolution mehr kennt« (ebd.,128, Hervorhebung im Original), den Todestrieb als Metapher für die »Ambivalenz der Moderne« (ebd., 129). 1107 Ähnlich auch schon Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), 1972: Soziologie und Psychoanalyse. Stuttgart u. a., 8. Mario Erdheim erkennt übrigens »zwei verschiedene und sich eigentlich ausschließende« Freud’sche Kulturparadigmen, die er »das psychohygienische« und »das libidinöse Kulturparadigma« nennt (Erdheim, Mario, 2007: Das Fremde in der Kultur. Zur Aktualität von Freuds Kulturtheorie. In: Günter, Michael/Schraivogel, Peter (Hgg.), 2007: Sigmund Freud. Die Aktualität des Unbewussten. Tübingen, 71 – 82 (hier : 72)). Das gewissermaßen ›klassische‹ psychohygienische Paradigma thematisiert demzufolge den »Gegensatz zwischen Sexualität und Kultur, wobei Kultur […] als Produkt der Sublimation«, »die Familie [als] ›die Keimzelle der Kultur‹« und die frühe Kindheit als determinierend für die weitere Entwicklung betrachtet werden; Geschichte werde »nur unter dem Vorzeichen des Wiederholungszwangs« interpretiert, »die Spezifität des Neuen nicht erkannt« – »der psychohygienische Kulturbegriff« bringe ergo »die Geschichte (im Sinn von Kulturwandel) zum Verschwinden« (ebd., 72 – 74). Das libidinöse Kulturparadigma in-
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Obwohl Freud, auf unterschiedliche Stellen seines Werkes verstreut, Gedanken äußert über die Gewinnung des Feuers, die Einführung des Ackerbaus, die Entstehung des Monotheismus, Ereignisse also, die zeitlich mitunter extrem weit auseinanderliegen, argumentiert er immer mit dem prinzipiell gleichen Begriff von Kultur. Genealogisches Denken heißt bei Freud nicht zwingend historisches Denken. Der Grund hierfür ist ein vergleichsweise trivialer : Der »Historiker der Seele« war nun einmal kein Historiker, sondern Naturwissenschaftler und Arzt. Aller beeindruckenden historischen Bildung zum Trotz fehlte ihm ein genuin historischer gedanklicher Zugriff. Statt dessen erlag er der – in seiner Zeit jedoch vielfach geteilten – Versuchung, die menschliche Geschichte aus dem Blickwinkel des Naturforschers zu beurteilen1108 ; Freuds Reflexionen über historische Entwicklungen stoßen denn auch genau dort an ihre Grenzen, wo er evolutionistisch und lamarckistisch argumentiert. Und dennoch bedeuten die aus dem Erfahrungswissen der therapeutischen Praxis und im Kontakt mit Patienten gewonnenen Einsichten in das Wesen der Kultur nicht nur als »Prozeß der Vergemeinschaftung«, sondern »auch der Symptombildung« eine wichtige Ergänzung zu den Zivilisationstheorien, die entweder – wie die Nietzsches oder Cassirers – innerhalb der philosophischen Tradition stehen oder – wie die Durkheims, Webers und Simmels – auf der Erforschung der sozialen Lebenswelt beruhen1109. Die Menschheitsgeschichte als »Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich« zu begreifen erscheint überdies als ein realistischeres Fundament einer Philosophie der Geschichte als die Annahme einer historisch wirksamen Vernunft1110 oder dessen – das Erdheim in einer Stelle aus Das Unbehagen in der Kultur ausmacht (GW XIV, 462) – sehe Familie und Kultur in einem Gegensatz zueinander, indem es der Familie einen »›Hang zur Vereinzelung‹«, der Kultur aber eine Neigung zur Vergesellschaftung unterstelle; folglich sei »nicht de[r] Triebverzicht, sondern die libidinöse Bewegung […] kulturschaffend«. Erdheim attestiert »der psychohygienischen Kulturtheorie« Potential zur Legitimierung des »autoritären Staat[s]«, der »libidinösen« dagegen zur Untermauerung der »Hoffnung auf bessere Zustände« (Erdheim 2007, 75 – 77). Bemerkenswerterweise – und von Erdheim nicht beachtet – rekurriert Arnold Gehlen zur Untermauerung seiner Institutionenlehre und der Theorie des Staatsethos genau auf dieses »libidinöse Kulturparadigma« – und nicht etwa auf das sogenannte »psychohygienische« (Gehlen 1969, 122 sowie 166). 1108 Laut Reichmayr las Freud evolutionistische Literatur bereits seit ca. 1870 (Reichmayr 1995, 24; vgl. das Totem und Tabu gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit), also schon lange vor der Entstehung der Psychoanalyse. Der auch von Reichmayr konstatierte »Gegensatz« zwischen der »ahistorische[n] Vorgehensweise in Freuds kulturtheoretischen Schriften« und der »detaillierten historischen Rekonstruktionsarbeit bei seiner klinischen Arbeit« (ebd., 25) hat also seinerseits historische Gründe. 1109 Gutjahr, Ortrud, 2006: Kulturbegriff. In: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar, 239 – 245 (hier: 245). Auf die Parallelen von Freuds Kulturanalyse und Simmels Tragödie der Kultur weist im übrigen Gamm hin (Gamm 2001c, 129). 1110 Freud 1971, 98. Daß bezüglich der Vorstellung einer historisch wirksamen Vernunft nicht
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die Beschränkung der Geschichte auf einen sozioökonomischen Prozeß. Die für Freud charakteristische Distanz zu Illusionen jedweder Art bewahrt ihn zudem vor dem zentralen Fehler vieler Geschichtsphilosophien, den historischen Prozeß nach Maßgabe subjektiver Wünsche zu analysieren. Aufgabe einer zukünftigen psychoanalytisch inspirierten Philosophie der Geschichte wäre es allerdings, die Freud’schen Theorien über die Kultur anhand des tatsächlichen historischen Materials zu überprüfen. Der folgende dritte Teil der Arbeit soll ergo den Versuch unternehmen, ausgewählte Aussagen Freuds über bestimmte wichtige geschichtliche Ereignisse in einen historischen Kontext einzuordnen. Anhand größerer historischer Differenzierung soll untersucht werden, inwieweit Freuds Annahmen mit der aktuellen Forschung kompatibel sind und wie Freuds Kulturbegriff in der Konsequenz ›historisiert‹ werden kann.
zwingend an Hegel gedacht werden muß, verdeutlicht die Tatsache, daß selbiger genau wie später Freud »individuelles Glück und kulturelle[n] Fortschritt nicht« aneinander geknüpft sieht (Gamm 2001c, 129).
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Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse
Der dritte und letzte Teil der Arbeit bemüht sich, einige der wichtigsten Aussagen Freuds zu menschheitsgeschichtlichen Ereignissen chronologisch zu ordnen und in ihren historischen Rahmen zu stellen. Die Benennung der Kapitel nach den Lebensaltern, die schon Augustinus als Mittel der Periodisierung verwendete, intendiert dabei keine Strukturierung der Geschichte nach einem biomorphen Modell – denn die Problematik eines solchen Modells besteht im Tode des senectus: Der Mensch zwar ist sterblich, die »Gattung aber unsterblich«, wie schon Kant wußte1111. Wenn die Lebensalter hier trotzdem zum Einsatz kommen, dann verbirgt sich dahinter bestenfalls also der spielerische Umgang mit einer geschichtsphilosophischen Tradition – der seinerseits gut die Verlegenheit zu verdecken imstande ist, in Anbetracht relativer Kürze des Textes und relativer Länge des in ihm behandelten historischen Abschnitts schlechterdings keinen besseren Behelf zur zeitlichen Einteilung gefunden zu haben.
3.1
infantia: Das Altpaläolithikum
»Es soll in glücklichen Gegenden der Erde, wo die Natur alles, was der Mensch braucht, überreichlich zur Verfügung stellt, Völkerstämme geben, deren Leben in Sanftmut verläuft, bei denen Zwang und Aggression unbekannt sind. Ich kann es kaum glauben, möchte gern mehr über diese Glücklichen erfahren.«1112
Mit diesem Zitat aus Warum Krieg? relativiert Freud seine in früheren Schriften1113 geäußerte Überzeugung vom entbehrungsreichen Lebenskampf des frühen Menschen im Angesicht einer bedrohlichen Umwelt ebenso wie die Vorstellung eines zwingend als kriegerisch zu begreifenden Naturzustandes. Man fragt sich infolgedessen, wie Freud die menschliche Urgeschichte beurteilt hätte, hätte er sie nicht durch die Brille der Evolutionstheorie des 19., sondern mit den Augen des Kulturanthropologen des späteren 20. Jahrhunderts gesehen. Möglicherweise wäre das geschichtslos-abstrakte Verständnis von ›Kultur‹ einem differenzierteren, historischen Verständnis gewichen. Vielleicht hätte Freud am Ende seines Lebens, statt hierfür erneut die beinahe schon verworfene Urvatermord-Theorie zu bemühen, seine Monotheismus-Studie eingebunden in eine große psychohistorische Erzählung von den Anfängen der menschlichen Gattung bis in die Gegenwart, eine Summe all seiner über das gesamte Œuvre 1111 Kant 1964a, 37. Vgl. das Kant-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1112 GW XVI, 23. 1113 Vgl. insbesondere die Kapitel zu Die Zukunft einer Illusion und Das Unbehagen in der Kultur.
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verteilten Reflexionen über das Wesen menschlicher Kultur, einen Roman der Seele nach dem Vorbild des bewunderten, eventuell auch heimlich beneideten Thomas Mann1114. Analog zum Vorspiel der Joseph-Tetralogie hätte auch Freud einen mythologisch-philosophischen Einstieg in seinen Seelenroman wählen können, und vielleicht hätte er dies anhand einer Referierung seiner Triebspekulation getan, die so sehr der Lehre des Empedokles ähnelt und derzufolge das Sein unter dem Mit- und Gegeneinander der Urtriebe Eros und Destruktion sich vollzieht. Letztlich besteht ja das ganze Universum aus schöpferischen und zerstörerischen Kräften. Auch im einzelnen Lebewesen existiert Freud zufolge der Antagonismus der Urtriebe – der tierische Instinkt ist womöglich nur eine besondere, gerichtete Manifestation des Triebs. Diese Gerichtetheit entfällt beim Menschen aufgrund seiner im Vergleich zu anderen Säugern frühen Geburt: Der Mensch erlernt, was ihm nicht in die Wiege gelegt ist1115. So wie bei der Entstehung des Lebens einst aus Chemie Biologie wurde, wird beim Menschen aus Biologie folglich zunehmend Psychologie. Daß der Mensch relativ unfertig auf die Welt kommt, hat außerdem zur Folge, daß er wie kein anderes Wesen den Einflüssen der Umwelt ausgesetzt ist; seine Natur ist daher eine zutiefst geschichtliche. Als Ersatz für fehlende Instinkte präsentiert sich die bei anderen Tierarten nicht fehlende, aber nur in Ansätzen ausgebildete Kultur. Obgleich Primaten über die nötige Intelligenz zur Produktion und zur Nutzung von Werkzeugen durchaus verfügen, steht vor allem ihre Anatomie der Entfaltung ausgefeilterer Traditionen des Werkzeuggebrauchs im Wege; erst der aufrechte Gang gibt die Hände dafür frei1116. Die Aufrichtung des Menschen – die dem im Herbst 2009 publizierten Fund eines von seinen Entdeckern ›Ardi‹ getauften Ardipithecus ramidus nach vermutlich bereits vor über vier Millionen Jahren erfolgt sein muß – ist zeitlich betrachtet auch eines der frühesten menschheitsgeschichtlichen Ereignisse, über die Freud sich explizit äußert: Sie sei die Grundlage für »die Entwertung der Geruchsreize«, »die Isolierung der Periode« und das »Übergewicht der Gesichtsreize«, für das »Sichtbarwerden der Geni1114 Zur Geschichte als »Roman der Seele« vgl. das achte Kapitel aus dem ersten Band der Joseph-Tetralogie von Thomas Mann. 1115 Klein 1984, 31. Es ist überdies letztlich nur eine Frage des Standpunkts, ob man die menschliche Unspezialisiertheit als ›Mangel‹ betrachtet oder nicht. 1116 Harris 1989, 38 f. Eine psychohistorische Deutung der Kultur im Hinblick auf die frühe menschliche Geburt unternimmt Ludwig Janus: »Der entscheidende Gesichtspunkt ist der, dass die extreme Hilflosigkeit durch eine starke Bindungsbereitschaft von Kind und Eltern kompensiert wird. Hierdurch wird ein innerlicher Beziehungsraum zwischen Eltern und Kindern entfaltet, wie er für den Homo sapiens typisch ist und ihn von anderen Primaten unterscheidet. Dieser Beziehungsraum ist für das Kind ein Ergänzungsraum [!] der den uterinen Schutzraum ersetzt. Aus diesem Raum heraus entfaltet sich menschliche Kultur, insofern sie analoge Ersatz- und Schutzräume erfindet und anbietet.« (Janus, Ludwig, 2008: Menschheitsgeschichte als psychologischer Entwicklungsprozeß. Arbeiten zur Psychohistorie. Heidelberg, 16)
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talien« und die daraus resultierende Scham, für die »Kontinuität der Sexualerregung, Gründung der Familie« und die Entstehung der Kultur. Kurz gesagt: »Am Beginne des verhängnisvollen Kulturprozesses stünde also die Aufrichtung des Menschen«1117. Sie wäre demzufolge verantwortlich für das mit der Sexualität einhergehende und »weiter nicht zu begründende[…] Widerstreben«, das selbige zum »Opfer der organischen Verdrängung« mache und »eine volle Befriedigung« auf diesem Gebiet versage1118. Freud verortet also die Ursachen für den Triebverzicht des viktorianischen Zeitalters, den er in seiner neurologischen Praxis so ausgiebig studieren konnte, am Beginn der Menschwerdung überhaupt. Zumindest die These, daß die aus der Aufrichtung des Körpers resultierende Verlegung der Geschlechtssignale auf die Vorderseite die Bedeutung der Gesichtsreize erhöht, erfährt dabei eine Bestätigung durch die Verhaltensbiologie. Diese Entwicklung führe außerdem zu »einer Vermenschlichung des Aktes«, bei welchem die reziproke Zuwendung des Antlitzes um so größeres Gewicht erhalte; Menschen begatten sich daher nicht mehr wie Primaten hauptsächlich a tergo, sondern vis--vis1119. Die sexuelle Repression des späten 19. Jahrhunderts aber als gewissermaßen direkte Folge des aufrechten Ganges und die mit letzterem beginnende Kulturentwicklung als eine durchweg »verhängnisvolle« zu bezeichnen, darf man sicher als tendenziöse Darstellung, die ihr zugrundeliegende Wahrnehmung als verzerrte ansprechen. Immerhin nennt Freud seine diesbezüglichen Reflexionen »eine theoretische Spekulation«1120 und räumt die Möglichkeit des Irrtums ein1121. Die von Freud auch in Betracht gezogenen möglichen Zusammenhänge zwischen der Gründung der Familie und der menschlichen Aufrichtung allerdings stehen nicht im Widerspruch zur anthropologischen Forschung1122. Statt in den kulturtheoretischen Schriften hauptsächlich mit der Figur der von einer Art Urpatriarch dominierten Horde zu operieren, wäre die Konzentration auf die Familie als Einheit sozialer Organisation ergo ein möglicherweise aussichtsreicheres Unterfangen für die Betrachtung auch der menschlichen Vorgeschichte gewesen. So hätte die – freilich auch hypothetische, aber im Vergleich zur protopatriarchalen Urhorde ungleich realistischere – psychoanalytische Rekonstruktion der paläolithischen Famili1117 GW XIV, 459 Anm. 1. Die Idee, eine mit dem aufrechten Gang in Zusammenhang zu bringende »organische Verdrängung« habe »den Weg zur Kultur gebahnt«, äußert Freud schon vergleichsweise früh in einem an Fließ gerichteten Brief vom November 1897 (Freud 1986a, 194, editorische Vorbemerkung zu Das Unbehagen in der Kultur). 1118 GW XIV, 466 Anm. 2. Vgl. das Kapitel über Das Unbehagen in der Kultur. 1119 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, 1984: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. München/Zürich, 319. 1120 GW XIV, 459 Anm. 1. 1121 GW XIV, 465. 1122 Gough 1975, Wesel 1980 sowie das Totem und Tabu gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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ensippe den Ausgangspunkt bilden können für eine weniger mythenbildende Definition der ›Menschennatur‹ anhand des von Freud auch sonst häufig bemühten Urmenschen und für eine folglich faktentreuere anthropologische Grundlegung urgeschichtlicher Spekulation. Der Doppelcharakter der Psychoanalyse nämlich kann sich potentiell für die Erforschung und Untersuchung menschlicher Prähistorie als ausgesprochen hilfreich erweisen, ist doch auch die Urgeschichtsforschung nur dann imstande, gewinnbringend zu »arbeiten, wenn sie sich zugleich als Natur- und als Kulturwissenschaft versteht«1123. Die Familie ist – und dies wohl, wie erwähnt, seit frühester Zeit – menschliches Grundphänomen in historischem und kulturellem Wandel; unter ihren verschiedenen Interaktionsmustern sticht vor allem die Eltern-Kind-Interaktion hervor1124. Diese beginnt, schematisch ausgedrückt, mit der pränatalen Einheit des Fötus mit der Mutter1125, setzt sich fort in der postnatalen Dualität von Mutter und Kind und erhält ihre trianguläre Struktur durch den Eintritt des Vaters in die Mutter-Kind-Dyade. Die Männer, die zeitweilig abwesend waren, wenn sie zur Jagd gingen, waren wohl schon in prähistorischer Zeit Repräsentanten der ›Außenwelt‹ und der äußeren ›Realität‹, während die Mütter die kleineren Kinder zum Sammeln der Früchte in weniger weit vom Siedlungsplatz entfernten Gebieten mitnahmen1126 und eher die soziale Binnenwelt verkörperten. Die männliche Initiation wird im Zusammenhang mit der Jagd gestanden haben; das väterlich konnotierte Realitätsprinzip, die richtige Einschätzung von in der Außenwelt lauernden Gefahren, ist notwendige Überlebensstrategie und daher bei der Initiation und der Wissensweitergabe an den Nachwuchs von entscheidender Bedeutung1127. Initiationsriten hingegen1128 – die wahrscheinlich 1123 So Müller-Beck 2008, 30. 1124 Daß die »Eltern-Kind-Interaktion« in ihrer kulturspezifischen Ausprägung eine »geschichtsmächtige Kraft« ist, betont Miriam Gebhardt (2004, 272, meine Hervorhebung). 1125 Auch die vorgeburtliche Lebenszeit ist mittlerweile in den Focus psychoanalytischer Forschung gerückt: Janus, Ludwig, 1990: Die Psychoanalyse der vorgeburtlichen Lebenszeit und der Geburt. (Reihe Psychologie, 19). Pfaffenweiler. 2., erw. Aufl. 1126 Müller-Beck 2008, 41 f. 1127 Auch das Wissen um die Genießbarkeit bestimmter Pflanzen und Früchte freilich ist überlebensnotwendig. 1128 Auf die Existenz von Initiationsriten schon in (jung)paläolithischer Zeit weist der bemerkenswerte Fund in der Höhle von Tuc d’Audoubert hin, wo sich neben vermutlich zu Kultzwecken aufgestellten Tierschädeln und aus Lehm geformten Wisenten »[i]m plastischen Höhlenlehm« auch »die Abdrücke von Füßen Jugendlicher erhalten« haben. Die Forschung geht davon aus, »daß hier Jugendliche in die Überlieferungen der Gruppe eingeweiht – initiiert – wurden« (Bosinski, Gerhard, 1987: Die große Zeit der Eiszeitjäger. Europa zwischen 40000 und 10000 v. Chr. (Fünfte Theodor Mommsen-Vorlesung 1986). In: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 34, 1 – 139 (hier: 106 – 109)). Ludwig Janus interpretiert die Steinzeithöhlen als Mutterleibssymbole, Initiationsriten und andere Ausformungen der »Schamanenreise« als symbolische Heimkehr in den Uterus; es führe »eine kulturhistorische Kontinuität von der Steinzeithöhle über die
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nicht auf die allerfrüheste Zeit, sondern vielleicht erst auf das Mittel- oder Jungpaläolithikum zurückgehen – mögen ein kulturelles Mittel zur Überwindung des Ödipuskomplexes gewesen sein, der allerdings in vorherrschaftlicher Zeit gewiß nicht dieselben Komplikationen beinhaltete wie in späteren Epochen1129. Von der Aufrichtung des Menschen und den damit in Verbindung gebrachten Anfängen der Familie vergehen weitere über zwei Millionen Jahre bis zu den Geröllgeräten des Oldowan, die als die frühesten Zeugnisse einer anhand von Werkzeugen betriebenen Umweltnutzung gelten und damit zugleich den ersten faßbaren qualitativen Unterschied zu den Ökosystemen der Tiere markieren1130. Freud hat also nicht unrecht, wenn er in einer freilich sehr allgemeinen Formulierung als erste Akte der Kultur den »Gebrauch von Werkzeugen« zusammen mit der – historisch betrachtet wohl erst über eine Million Jahre später erstmalig erfolgten – »Zähmung des Feuers« und dem »Bau von Wohnstätten« nennt1131. Problematischer hingegen sind seine diesbezüglichen Überlegungen aus Warum Krieg?, wo er den Werkzeuggebrauch einseitig als Ersatz für die der zwischenmenschlichen Gewalt zugrundeliegende Muskelkraft und Werkzeuge folglich hauptsächlich als Mittel der Gewaltanwendung unter Artgenossen inKulträume der großen Muttergottheiten und die patriarchal geprägten Tempel bis hin zu den christlichen Kirchenräumen« (Janus 1990, 200). 1129 Auf die kulturelle Bedingtheit des Kastrationskomplexes beispielsweise weist Freud in Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds hin (GW XIV, 21). In derselben Schrift nennt er »reine Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische Konstruktionen« (ebd. 30). Die »Identifizierung mit dem Vater« und das Begehren der Mutter existieren beim Knaben überdies eine Zeitlang ungestört »nebeneinander« (GW XIII, 115) – die Störung könnte also theoretisch auch kulturell bedingt sein. (Über die Zusammenhänge von Menschwerdung und infantiler Sexualentwicklung äußert sich Freud im Essay über Mose (GW XVI, 179 f.): »Die Theorie lautet, daß im Gegensatz zur populären Meinung das Geschlechtsleben der Menschen […] eine Frühblüte zeigt, die mit etwa 5 Jahren zu Ende ist […]. Diese Lehre wird durch anatomische Untersuchung des Wachstums der inneren Genitalien bestätigt; sie führt zur Vermutung, daß der Mensch von einer Tierart abstammt, die mit 5 Jahren geschlechtsreif wurde, und weckt den Verdacht, daß der Aufschub und zweizeitige Ansatz des Sexuallebens aufs innigste mit der Geschichte der Menschwerdung zusammenhängt. Der Mensch scheint das einzige Tierwesen mit solcher Latenz und Sexualverspätung zu sein.«) 1130 Müller-Beck 2008, 37. Angesichts eines »technisch derart vielfältigen Ökosystem[s], wie es das der Oldowan-Menschen bereits gewesen sein muß«, wird vermutet, daß »auch die sozialen Kontakte innerhalb der Gruppen« sich zunehmend »intensivierten« – einhergehend mit den Anfängen der Arbeitsteilung und differenzierterer Kommunikation (ebd. 40 f.). Vor 1,5 Millionen Jahren wurden die ersten Faustkeile geschaffen (ebd. 44), die ältesten erhaltenen hölzernen Jagdwaffen sind immerhin 400000 Jahre alt (ebd. 46 bzw. 50). 1131 GW XIV, 449. Der Gebrauch des Feuers war vermutlich von nicht unerheblicher Bedeutung bei dem Vordringen des Acheul-Menschen »in Zonen kälterer kontinentaler nördlicher Winter« vor über 600000 Jahren (Müller-Beck 2008, 48 f.). Zum Gebrauch des Begriffes »Kultur« im Gegensatz zur römischen Tradition auch für prähistorische, nicht Ackerbau betreibende Epochen Müller-Beck 2008, 18 f.
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terpretiert1132. Tendenziell plausibler erscheinen seine oben1133 bereits thematisierten Spekulationen über die Gewinnung des Feuers, wobei der von Freud angenommene Groll über den Triebverzicht sich möglicherweise dadurch relativiert, daß historisch betrachtet sicher kein gesellschaftlicher Zwang im Sinne eines Verbotes, Feuer durch den Harnstrahl zu löschen, bestanden hat. Überdies lernte der prähistorische Mensch im Laufe seiner Entwicklung, Feuer selbst zu entfachen, so daß die Notwendigkeit eines solchen Verbots ohnehin entfiel. Daß die Außenwelt bzw. die Natur trotz allem Bedrohungspotential im übrigen von vorgeschichtlichen Wildbeutergesellschaften nicht als zu unterwerfende Feindin, sondern vermutlich eher als Lebensspenderin verstanden wurde, daß sie also auch dem »natürlichen Narzißmus« im Gegensatz zu Freuds in Die Zukunft einer Illusion geäußerten Theorie anfänglich keine schweren Kränkungen beigebracht hat, wurde schon erwähnt1134. Freilich sind derartige Aussagen über die Prähistorie immer spekulativ : Schriftlose Kulturen lassen sich nur im Sinne der Wahrscheinlichkeit, nicht endgültiger Sicherheit rekonstruieren1135. Im Falle der Urgeschichtsforschung können Erkenntnisse zum einen aus der Archäologie gewonnen werden – die es aber auch nur, um es mit Droysen zu sagen, mit einer Gegenwart von Materialien zu tun hat, die überdies stumm sind; zum anderen aus der historisch orientierten Kulturanthropologie, die es ebenfalls mit einer Gegenwart von zudem sehr unterschiedlichen Völkern in sehr unterschiedlichen geographischen und klimatischen Regionen zu tun hat1136, so daß für die ohnehin wenigen überlebenden, einer paläolithischen Lebensweise noch irgend am nächsten kommenden heutigen Wildbeutergesellschaften in besonderer Weise gilt, was Freud 1132 GW XVI, 14. 1133 Vgl. das Kapitel über Freuds kurzen Aufsatz Zur Gewinnung des Feuers. 1134 Vgl. das besagtem Aufsatz gewidmete Kapitel. Es erscheint aus genanntem Grund auch überaus fraglich, ob die schon im Altpaläolithikum beginnende, spezifisch menschliche Umweltnutzung tatsächlich – wie von der modernen Zivilisationstheorie in wenig differenzierender Weise behauptet – als Natur»beherrschung« im engeren Sinne des Begriffes bezeichnet werden kann. Frühestens für das Neolithikum mag das zutreffen, vorher dürften die Wahrung des natürlichen Gleichgewichts und der Einklang mit der lebensspendenden Natur im Vordergrund gestanden haben. Die besonders für Freud so wichtige Figur der Naturbeherrschung spielte übrigens in der Antike keine Rolle und ist eigentlich erst ein Produkt neuzeitlichen Denkens (Rapp, Friedrich, 1981a: Einleitung. In: Ders. (Hg.), 1981: Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext. (Kritische Information, 102). München, 7 – 9 (hier : 7 f.)). Zu einem nicht von Aggressivität und Machtwillen getragenen Erkenntnisinteresse ferner Jaspers 1949, 119 f.: »Sicheinfügen in die Natur ist gerade ein Ethos des Naturforschers gewesen. Aber er will wissen, was sie tut und was geschieht. Denn etwas ganz anderes als Aggressivität und Machtwille ist dieser Wille zum Wissen […]«. 1135 Vgl. das Rousseau-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1136 Die Vielfalt der menschlichen Lebensräume bedingte freilich schon in der Altsteinzeit eine große kulturelle Diversität (u. a. Müller-Beck 2008, 129).
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bereits über »die primitivsten und konservativsten Völker« zu sagen wußte, daß sie nämlich »in gewissem Sinne alte Völker sind und eine lange Zeit hinter sich haben, in welcher das Ursprüngliche bei ihnen viel Entwicklung und Entstellung erfahren hat«1137. Zu den heute noch lebenden Jäger- und Sammler-Kulturen zählen u. a. die Eskimo, die Hadza in Tansania, die Mbuti im Kongo sowie die San im südlichen Afrika, in denen Teile der Forschung die genetische Urform des modernen Menschen und aller heutigen Rassen erkennen möchten. Jürg Helbling hat mittels einer komparatistischen Untersuchung genannter und anderer Stämme eine Theorie der Wildbeutergesellschaft formuliert, die besagt, daß diese Völker »keine asymmetrischen Machtbeziehungen, weder zwischen Geschlechtern noch zwischen Generationen,« kennen, »dass die politischen Beziehungen zwischen lokalen Gruppen vorwiegend friedlicher Natur sind«, etwaige Streitigkeiten »konsensuell gelöst« und soziale Gruppen hauptsächlich über das Alter definiert werden1138. Freud irrt also, wenn er behauptet, »Interessenkonflikte unter den Menschen« würden grundsätzlich »durch die Anwendung von Gewalt entschieden«1139. Die Größe der Verbände variiert, meist sind es 20 bis über 100 Menschen, oftmals aber weniger als 50, die in einer Horde leben1140. Das entspricht relativ genau der geschätzten Gruppengröße von Homo erectus, Neandertaler und dem frühen Homo sapiens1141. Die sozialen Beziehungen innerhalb der Horde bauen in der Regel auf schon in der Kindheit erworbenem persönlichen Vertrauen auf; mit einer gewissen Berechtigung kann man sicher behaupten, daß der Hordenmensch im Vergleich zum an Anonymität gewöhnten Zivilisationsmenschen prinzipiell von ›Freunden‹ umgeben ist1142. 1137 GW IX, 8 Anm. 2. Zu dieser Problematik auch Wesel 1980, 78: »Die meisten von ihnen leben in ökologisch ungünstiger Umgebung, in die sie von ständig vordringenden Ackerbau- und Industriegesellschaften abgedrängt worden sind. Will man sich ein Bild machen von den historischen Sammlern und Jägern der Altsteinzeit, dann ist das nur möglich, wenn man die wenigen betrachtet, die heute noch in günstiger Umgebung leben, wie zum Beispiel die Mbuti-Pygmäen im Urwald des Ituri, eines Nebenflusses des Kongo«. 1138 Helbling, Jürg, 1987: Theorie der Wildbeutergesellschaft. Eine ethnosoziologische Studie. (Campus: Forschung, 521). Frankfurt/M./New York, 290 – 295. Ähnlich auch Luig 1990, 137 f. 1139 GW XVI, 14. Siehe auch das Rousseau-Kapitel im ersten Teil der vorliegenden Arbeit. 1140 Wesel 1980, 80 sowie das Rousseau-Kapitel. 1141 Mithen, Steven, 1996: The prehistory of the mind. A search for the origins of art, religion and science. London, 133: »Using estimates for the brain size of Early Humans, and extrapolating from this relationship, Leslie Aiello and Robin Dunbar predict that H. erectus would have lived in groups with a mean size of 111, archaic H. sapiens in groups of 131, and Neanderthals in groups of 144, not significantly different from the group size for Modern Humans of about 150«. Bei dem zitierten Aufsatz handelt es sich um den bereits im Rousseau-Kapitel der vorliegenden Arbeit erwähnten (Aiello/Dunbar 1993). 1142 Es ist ein signifikanter und soziologisch ebenso wie (sozial)psychologisch wohl ganz zentraler Unterschied, ob eine Gesellschaft nicht mehr als 150 oder aber Millionen, seit dem 20. Jahrhundert gar Milliarden Individuen umfaßt. Ich verweise hier auf die Über-
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Sowohl die neuere Entwicklungs- als auch die Selbstpsychologie gehen überdies davon aus, daß »[d]as vielberufene und verkannte Tier im Menschen […] erst dann zum Vorschein [kommt], wenn die menschliche Umgebung dadurch versagte, daß sie unmenschlich war«1143. Die Vorstellung einer auf Machtkämpfe gegründeten Urhorde als Zusammenschluß von Bestien in Menschengestalt, die ihre Konflikte durch physische Gewalt und Kannibalismus lösen, hat ergo wenig für sich. Faßt man alle genannten Charakteristika der Wildbeutergesellschaften zusammen, ergeben sich folgenschwere Schlüsse für die Zivilisationstheorie: Die Problematiken im Zusammenhang mit den Phänomenen der Masse, der Herrschaft und zugehöriger Institutionen, der Naturbeherrschung, der zweckrationalen ›Vernunft‹ und der Verdinglichung, der verwilderten Selbsterhaltung, nicht zuletzt auch der Selbstentfremdung usf., mit denen sich Philosophie, Soziologie, Psychologie und viele andere Disziplinen seit Generationen abmühen, besitzen für die frühen Jäger- und Sammler-Kulturen allem Anschein nach so gut wie überhaupt keine Relevanz. Sie beziehen sich auf spätere Kulturstufen, welche hinsichtlich ihrer historischen Dauer im Vergleich zu den paläolithischen Ewigkeiten rein zeitlich kaum eine Rolle spielen. Bei aller im Rahmen der Beurteilung vorgeschichtlicher Zustände gebotenen Vorsicht läßt sich immerhin vermuten, daß der Mensch nicht von Natur aus zum Darben bestimmt ist, daß er im Gegenteil für die größte Dauer seiner Geschichte in einer gewiß nicht völlig leidfreien Welt, aber in einem Status der Nicht-Selbstentfremdung, des Sicheinfügens in die Natur, des relativen Gleichgewichts und der Harmonie von innen und außen, von libidinösen und aggressiven Trieben, von männlich und weiblich, von jung und alt gelebt hat1144. Dies wäre dann gewissermaßen ein legungen zur Ultrasozialität im Rousseau-Kapitel. Janus (1990, 247 f.) schlägt eine psychohistorische Interpretation der für dieses Problem gefundenen Lösungen vor: »Alle größeren Gruppenbildungen, wie sie durch die Entwicklung der Technik in der historischen Frühzeit möglich wurden, benötigen, um die gegenseitige Anonymität zu überwinden, gemeinsame, kollektive Inhalte. […] Mein Grundgedanke ist nun der, daß die Sicherheit des instinktiven Gruppenzusammenhaltes in den Kleingruppen der Jäger- und Sammlerzeit in den hochkulturellen Großgruppen durch gemeinsam geteilte Projektionen fötaler Sicherheit ersetzt wird.« 1143 Köhler, Lotte, 2000: Die von Heinz Kohut begründete Selbstpsychologie – umstrittenes Neuland der Psychoanalyse. In: Kutter, Peter (Hg.), 2000: Psychoanalytische Selbstpsychologie. Theorie, Methode, Anwendungen. (Psychoanalytische Blätter, 15). Göttingen, 5 – 27 (hier: 19). 1144 »Die Verheißungen« des biblischen »Paradieses können«, wie Müller-Beck (2008, 20) schreibt, »jägerische Kulturen sich nicht ausdenken, da ihnen die gegensätzlichen Erfahrungen von willkürlicher Herrschaft und mordendem Krieg fehlen.« (Eine psychoanalytische Deutung des Mythos von biblischem Paradies und Sündenfall unternimmt Freud übrigens explizit in einem bei Jones abgedruckten Brief: Jones, Ernest, 1962a: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. 2: Jahre der Reife 1901 – 1919. Übersetzt von Gertrud Meili-Dworetzki unter Mitarbeit von Katherine Jones. Bern/Stuttgart, 528.) Auch
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›relatives Paradies‹ oder auch das ›goldene Zeitalter‹, der Sündenfall hingegen eine Störung des althergebrachten Gleichgewichts, psychologisch betrachtet möglicherweise ein neuartiges Ungleichgewicht zugunsten der aggressiven Triebe. Auch wenn Hesiod in seinem Gedicht Werke und Tage keine Menschheitsgeschichte im Sinne eines historischen Kontinuums schreibt1145, so trägt seine Charakterisierung des goldenen Zeitalters, in welchem allgemein Frieden herrscht und »der nahrungspendende Boden« seinen Ertrag »[w]illig von selbst«1146 – d. h. ohne menschliches Zutun im Sinne von Ackerbau und Bewirtschaftung – hervorbringt, deutlich Züge jener ersten Überflußgesellschaft, als die Sahlins die Jäger- und Sammler-Kulturen definiert1147. Spätere Zeitalter hingegen – und vor allem die eigene Gegenwart Hesiods, das eiserne Zeitalter – zeichnen sich durch ein ungleich höheres Gewaltniveau aus; die althergebrachte friedvolle Ordnung ist aus den Fugen geraten1148. Daß die Einteilung Hesiods überdies selbst im 19. Jahrhundert noch Pate stand für die Gliederung der ar-
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viele physische Erkrankungen sind dem Verlust der jagend-sammelnden Lebensweise geschuldet, sind also ›Zivilisationskrankheiten‹ im eigentlichen Sinne (Mithen 1996, 219). Überdies erscheint es fraglich, ob der »grundlegende[…] Konflikt zwischen Funktionen der Selbsterhaltung […] unter dem Zwang der äußeren Natur […] und dem überschießenden Potential der inneren Natur, den libidinösen und aggressiven Bedürfnissen« (Habermas 1968, 334, Hervorhebung im Original), den Menschen tatsächlich von Beginn seiner Geschichte an begleitet hat – oder ob der Triebüberschuß nicht vielmehr ein Produkt eines historisch erworbenen Ungleichgewichts zwischen besagten libidinösen und aggressiven »Bedürfnissen« darstellt. Flaig 2005, 216 f. Erga, 117 f. (in der Übersetzung Walter Margs). Vgl. oben. Siehe auch Müller-Beck 2008, 21. Die ausführlichste Beschreibung des goldenen Zeitalters verfaßte mehr als ein halbes Jahrtausend nach Hesiod übrigens Ovid in seinen Metamorphosen; auch diese – freilich gleichsam literarische, nicht historiographische – Darstellung weist z. T. erstaunlich realistische Beschreibungen von Zuständen auf, die man mit einigem Recht für die Altsteinzeit annehmen darf: »Erstes Alter ward das Goldene. Ohne Gesetz und / Sühner wahrte aus eigenem Trieb es die Treu und das Rechte. / Fern war Strafe und Furcht, man las nicht in eherne Tafeln / Drohende Worte gereiht, es fürchtete nicht ihres Richters / Mund die flehende Schar, kein Fürsprech mußte sie schützen. / Noch war die Föhre, gefällt, um den fremden Erdkreis zu schauen, / Nicht von der Höh ihrer Berge hinab in die Fluten gestiegen; / Außer dem eigenen kannten die Sterblichen keine Gestade. / Noch umschloß da nicht ein steiler Graben die Städte, / Tuba und Hörner, gestreckt aus Erz und gebogen, und Helme, / Schwerter waren da nicht; und keiner Krieger bedürfend, / Lebten die Völker dahin in sanfter, sicherer Ruhe. / Unverletzt durch den Karst, von keiner Pflugschar verwundet, / Nicht im Frondienst gab von sich aus alles die Erde; / Und mit der Nahrung begnügt, die keinem Zwange erwachsen, / Las man Hagäpfel da und Bergerdbeeren, des Waldes / Kirschen und, was als Frucht an dem derben Dornengerank hing, / Las die von Juppiters lichtem Baum gefallenen Eicheln. / Ewiger Frühling war, mit lauen Lüften umspielte / Sanfter West die Blumen, die keinem Samen entblühten. / Ungepflügt trug bald auch des Bodens Früchte die Erde, / Ohne Brachen gilbte das Feld von hängenden Ähren. / Bald von Milch und bald von Nectar gingen die Flüsse, / Gelber Honig tropfte aus grünender Eiche hernieder.« (Ovid, Metamorphosen, 1. Buch, 89 – 112, in der Übersetzung von Erich Rösch) So schildert es im Prinzip schon Hesiod: Erga, 174 – 201.
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chäologischen Epochen in eine dem goldenen Zeitalter entsprechende ›Steinzeit‹ sowie die schon bei Hesiod erwähnten Epochen Bronze- und Eisenzeit1149, mag man als Ironie des Schicksals deuten, hinter der sich aber eventuell eine unbewußte gedankliche Tradierung verbirgt. Die angesprochene lange Dauer der prähistorischen Epochen ohne große kulturelle Veränderungen ist ihrerseits selbst ein Hinweis, der die oben vertretene These eines relativen Paradieses indirekt bestätigen könnte: Geringe Veränderungen der Lebensweise über große Zeiträume hinweg lassen im Sinne des Toynbee’schen Konzeptes von »Herausforderung und Antwort« auf eine ebenso geringe äußere (und innere) Not schließen: Wo keine Notwendigkeit zur Änderung besteht, dort besteht ergo auch keine nennenswerte Not. Möglich, daß die Menschen des Paläolithikums also jene »Tuwasduwillste«1150 waren, von denen Toynbee spricht. Es sei allerdings hier erneut daran erinnert, daß halbwegs gesicherte Aussagen freilich nur für die Zeit seit Erfindung der Schrift möglich sind, also nur über weniger als ein Prozent der menschlichen Geschichte; nördlich der Alpen und in anderen spät ins Licht der Schriftlichkeit getretenen Regionen ist der zu rekonstruierende Zeitraum noch wesentlich kürzer. Dies bedeutet umgekehrt allerdings auch, daß unser Bewußtsein von der Vergangenheit notwendig ein verzerrtes ist1151. Vergegenwärtigt man sich die abgelaufene Geschichte anhand der Allegorie der Zeitleiste, so wird deutlich, daß eine perspektivische Verkürzung stattfinden muß, wenn der die Historie betrachtende Mensch selbst innerhalb der Zeitleiste steht und gewissermaßen wie Benjamins Engel aus der Gegenwart zurückschaut. Durch die Nähe des unmittelbar Vergangenen erscheint das dahinter Liegende im Lichte des ersteren, die Steinschleuder zum Beispiel als unmittelbarer Vorläufer der Megabombe1152. Erst außerhalb der Zeitleiste werden die tatsächlichen Dimensionen deutlich. Diese sind für die Altsteinzeit so gewaltig, daß selbst für die Maßeinheit der Generation fünfstellige Zahlen nötig sind, um die Zeiträume adäquat zu beschreiben. Die gerade einmal 60 bis 80 Generation, die seit der griechischrömischen Antike und die 200 Generationen, die seit der Entstehung der ersten Hochkulturen vergangen sind, erscheinen als verschwindend geringe Zeit angesichts von Zehntausenden von Generationen, in denen der Mensch als Jäger 1149 Müller-Beck 2008, 27. 1150 Toynbee 1950, 87 f. Die arktischen Wildbeuterkulturen beweisen überdies, daß selbst in extrem feindlicher Umgebung ein glückliches Leben durch Anpassung möglich ist. 1151 Ähnlich auch Lübbe 1993, 22 f. Ferner Jaspers 1949, Vorwort: »Zwischen der hundertfach längeren Vorgeschichte und der Unermeßlichkeit der Zukunft liegen die fünftausend Jahre der uns sichtbaren Geschichte, eine winzige Teilstrecke innerhalb des unabsehbar währenden menschlichen Daseins.« 1152 Frei nach der berühmt-berüchtigten Engführung Adornos, die in der Ausgabe der Negativen Dialektik von 1970 auf Seite 312, im 1973 erschienenen sechsten Band der Gesammelten Schriften jedoch auf Seite 314 zu finden ist.
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und Sammler und hypothetischer Weise im Einklang mit sich selbst und der Natur gelebt hat. Die Frage, was den Menschen aus diesem Zustand vertrieben hat, ist prinzipiell identisch mit der Frage nach dem Inhalt der Schuld oder Erbsünde bzw. den Gründen für das gesellschaftliche Schuldgefühl. Freuds Theorie vom Urvatermord ist letztlich nur einer der mannigfaltigen Versuche religiöser, philosophischer und psychologischer Provenienz, auf diese alte Schuldfrage eine Antwort zu finden. Oben wurde die Vermutung geäußert, der Sündenfall entspreche einer Störung des Gleichgewichts auch in psychologischem Sinne – da das Schuldgefühl strukturell nichts anderes ist als eine nach innen gerichtete Aggression, wäre es immerhin denkbar, daß ein Gefühl der Schuld dort entsteht, wo aggressive Triebe zunehmen. Dies wäre beispielsweise in kriegerischer werdenden Zeiten der Fall, wo die verstärkte Mobilisierung aggressiver Potentiale die Antwort ist auf die Herausforderung neuartiger dauerhafter Bedrohung. Wenn Freud davon ausgeht, daß »das Schuldgefühl […] das wichtigste Problem der Kulturentwicklung«1153 ist, so könnten die enormen Zeitspannen des Paläolithikums mit einer sehr langsam verlaufenden Kulturentwicklung eventuell auch auf ein wenig entwickeltes Schuldgefühl hindeuten1154. Es ist jedoch das Schuldgefühl, das das kulturelle Unbehagen hervorruft – und dieses Unbehagen mag ebenfalls erst in vergleichsweise später Zeit entstanden sein. Leider können wir uns für derartige Schlußfolgerungen nicht auf die Selbstauskünfte der in den betreffenden Epochen gelebt habenden Menschen berufen. Dennoch sollte die Integration alles nur irgend über die lange Vorgeschichte des Menschen Wißbaren idealerweise das Fundament einer jeden
1153 GW XIV, 493 f. Wenn Freud an anderer Stelle schreibt, »Hauptmotor der Kulturentwicklung des Menschen ist die äußere reale Not gewesen« (Freud 1971, 219), so verleiht er der in der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach thematisierten Verknüpfung äußerer und innerer Faktoren bei der kulturellen Entwicklung implizit Ausdruck, die auch für das geschichtsphilosophische Konzept Toynbees von entscheidender Bedeutung ist. Der Dialektik von Umwelt und Psyche, von Außen und Innen nachzugehen, müßte zentrales Anliegen einer psychoanalytisch orientierten Philosophie der Geschichte sein. Nach Müller-Karpe (2005, 16) war das »Ursprungsstadium des menschlichen Bewusstseins« übigens »eine letztvorstellbare Undifferenziertheit«, die durch »begrifflich-sprachliche Artikulierung« und »Kommunikation« in »Geistesentfaltung« und Bewußtwerdung mündete. Hegels Modell von Ansich und Fürsich hätte demnach ein historisches Pendant in der menschlichen Bewußtseinsentwicklung. Freud schreibt zur Entstehung des Ichs: »Das Es ist das ältere, das Ich hat sich aus ihm wie eine Rindenschicht durch den Einfluß der Außenwelt entwickelt.« (GW XVI, 203) Das Bewußtsein hafte »ursprünglich an der Wahrnehmung« von Sinnesreizen; »Denkvorgänge« seien »an sich unbewußt und erwerben sich den Zugang zum Bewußtsein durch Verknüpfung mit Erinnerungsresten von Wahrnehmungen des Gesichts und Gehörs auf dem Wege der Sprachfunktion« (ebd. 204). 1154 Das für pristine Gesellschaften kennzeichnende Prinzip der Reversibilität (vgl. das Kapitel Geschichte und Geschichtskultur im ersten Teil der vorliegenden Arbeit) wäre so möglicherweise eine soziale Praxis zur Wahrung des erwähnten natürlichen Gleichgewichts.
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philosophischen Betrachtung sein, die sich das ›Ganze‹ der Geschichte zum Gegenstand wählt1155.
3.2
pueritia: Das Jungpaläolithikum
»Unsere erste Aufstellung würde also behaupten, daß die Menschheit unter dem Einfluß der Entbehrungen, welche ihr die hereinbrechende Eiszeit auferlegte, allgemein ängstlich geworden ist. Die bisher vorwiegend freundliche, jede Befriedigung spendende Außenwelt verwandelte sich in eine Häufung von drohenden Gefahren. Es war aller Grund zur Realangst vor allem Neuen gegeben. Die sexuelle Libido verlor allerdings zunächst ihre Objekte, die ja menschliche sind, nicht, aber es läßt sich denken, daß das in seiner Existenz bedrohte Ich von der Objektbesetzung einigermaßen absah, die Libido im Ich erhielt und so in Realangst verwandelte, was vorher Objektlibido gewesen war.«1156
In dem schon zwischen 1914 und 1915 entstandenen, aber erst Jahrzehnte nach seinem Tod wiederentdeckten Manuskript Übersicht der Übertragungsneurosen differenziert Freud seine Vorstellung der menschlichen Urgeschichte dahingehend aus, daß er auf Anregung Wittels’ und Ferenczis zwischen einer früheren Periode, in der »das Urmenschentier seine Existenz in einem überaus reichen, alle Bedürfnisse befriedigenden Milieu hingebracht«1157 habe, und einer späteren, in welcher äußere Not den Menschen neurotisch werden ließ, unterscheidet. Diese letztere Phase der Prähistorie, mit deren schwierigen äußeren Bedingungen Freud auch das brutale Wesen des Urvaters erklären möchte1158, identifiziert er mit der »Eiszeit«. In der Tat führt die moderne Urgeschichtsforschung viele der genetischen und kulturellen Veränderungen nicht nur der Hominiden auf die seit 500000 Jahren zyklisch augenfälliger werdenden Folgen klimatischer Abkühlungen zurück, wobei ›Anpassung‹ nicht im Sinne eines passiven Reagierens, sondern einer konstruktiven Entfaltung neuer Eigenschaften verstanden wird; für den Menschen bedeutet dies vor allem die »Schaffung von adäquaten Techniken für die Nutzung nicht-tropischer Zonen als Lebensräume« sowie die »Tradierung« des neuen Wissens »an nachfolgende Generationen«1159. Allerdings ist es fraglich, ob auch die Herausbildung der Neurose zu den besagten Neuerungen gehört. Außerdem gab es in der langen menschlichen Vor1155 Daß das umfangreiche Quellenmaterial für die steinzeitlichen Epochen bislang ungenügend aufgearbeitet ist, beklagt Müller-Beck (2008, 15). 1156 Freud 1985, 74 (Hervorhebung im Original). 1157 Freud 1985, 73. 1158 Freud 1985, 76. 1159 Müller-Beck 2008, 47 f. Auch die Kleidungs- und Behausungsproduktion, die Nutzung des Feuers sowie eine verstärkte Arbeitsteilung gehören in diesen Bereich (ebd. 49 bzw. 40).
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geschichte nicht nur eine, sondern viele Eiszeiten, und die während dieser Perioden statthabenden kulturellen Veränderungen sind im Vergleich zu beispielsweise jenen der nachneolithischen Epochen ausgesprochen geringe. Nach der Aufrichtung des Körpers, dem erstmaligen Gebrauch von Werkzeugen und der Zähmung des Feuers dauert es wiederum Jahrzehntausende, bis erste Zeichen religiöser und künstlerischer Praxis faßbar werden: Mittelpaläolithische Bestattungs- und Opferfunde werden von dem Prähistoriker Hermann MüllerKarpe in Verbindung gebracht mit dem Erwachen der Religion, des Bewußtseins und einem »sich selbst erkennende[n] Ich«. Diese Urform der Religion sei der Mystik zu vergleichen1160. Freud gibt am Beginn von Das Unbehagen in der Kultur eine Definition seines Briefpartners Romain Rolland wieder, die recht genau zu diesem Befund paßt: Die »Quelle der Religiosität« sei eine Emotion, die Rolland »die Empfindung der ›Ewigkeit‹ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ›Ozeanischem‹. Dies Gefühl sei eine rein subjektive Tatsache, kein Glaubenssatz«1161. Freud äußert demgegenüber sein Unbehagen; er könne dieses ozeanische Gefühl bei sich nicht ausmachen, führt es aber gleichzeitig psychologisch zurück auf die scheinbare Auflösung der Grenzen zwischen Ich und Außenwelt und erinnert an die prinzipielle Offenheit des Ich gegenüber dem Es1162. Auch wenn Freud selbst dieser romantischen Versuchung zu widerstehen für richtig hält, so muß doch konstatiert werden, daß Mystik im Sinne einer Introspektion und zeitweiligen Überschreitung festgefügter Ich-Grenzen, wie sie auch im Falle der Verliebtheit auftritt1163, nicht zwingend dämonische Züge trägt. Jan Assmann weist darauf hin, daß die Mystik »sich selbst als eine hochrationale Angelegenheit« definiert1164. Zweifellos läßt sich aber mit den ersten planmäßigen Bestattungen im Mousterian auch eine erste halbwegs rekonstruierbare Beschäftigung der Menschen mit dem Tod erkennen1165. Möglich, daß sich nun das Ich aus dem Es entwickelte1166 und den Tod als eine Rückkehr ins Es begriff1167. Letzteres mag 1160 Müller-Karpe 2005, 15 f. Zur Aktualität der psychoanalytischen Theorie des Opfers vgl. das Kapitel über Totem und Tabu sowie Haas 2002. 1161 GW XIV, 421 f. 1162 GW XIV, 422 – 424. 1163 Diese Analogie nennt Freud übrigens selbst (GW XIV, 423). 1164 Assmann 2003, 142. 1165 Müller-Beck 2008, 61. 1166 Vgl. oben (Kapitel infantia). Freuds Überlegungen über den emotionalen Konflikt des Urmenschen am Leichnam eines Angehörigen aus Zeitgemäßes über Krieg und Tod folgen weitgehend seiner eher fragwürdigen Beurteilung des angeblich von Natur grausamen Wesens des Menschen: »Der Tod des anderen war ihm recht, galt ihm als Vernichtung des Verhaßten, und der Urmensch kannte kein Bedenken, ihn herbeizuführen. Er war gewiß ein sehr leidenschaftliches Wesen, grausamer und bösartiger als andere Tiere. Er mordete gern und wie selbstverständlich.« (GW X, 345) 1167 Die australischen Ureinwohner verstehen »die Urzeit als Traumzeit […], in die auch
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sowohl mit einer nicht weiter differenzierten »Gottesewigkeit«1168 ebenso wie mit der Natur als Lebensspenderin selbst identifiziert worden sein. »[D]ie Anerkennung eines höchsten Wesens als einziger Inhalt« der Religion der Primitiven muß im Gegensatz zu Freuds diesbezüglicher Annahme durchaus nicht »als Verkümmerung der Religionsentwicklung« interpretiert werden1169. In herrschaftsfreien Gesellschaften ohne organisiertes Machtgefüge benötigen die Menschen nämlich zur Erklärung der Welt keine Götter1170. Im Jungpaläolithikum, d. h. im Zeitraum von ca. 40000 bis 10000 Jahren vor heute, schließlich entstanden mit Elfenbeinskulpturen, Höhlenmalereien und Keramiken die ersten Kunstwerke1171. Die kognitive Archäologie nimmt unter Bezugnahme auf neuere Erkenntnisse von Hirnforschung und Entwicklungspsychologie als Voraussetzung für diesen »big bang« menschlicher Kulturentfaltung die Koordinierung verschiedener Intelligenzen an, die den anatomisch modernen Menschen im Gegensatz zu seinen modular denkenden Vorfahren zum Generalisten machten1172. Komplexeres, ja metaphorisches Denken wurde dadurch möglich1173. Die psychischen Mechanismen von Verschiebung und Verdichtung haben eventuell hier ihre Ursache: Das mindestens 30000 Jahre alte, aus Mammut-Elfenbein gefertigte Löwe-Mensch-Mischwesen aus dem Hohlenstein-Stadel in der Schwäbischen Alb verbindet tierische mit menschlichen Attributen – und darf somit sicher als ›Verdichtung‹ im Sinne einer Vereinigung von Charakteristika unterschiedlicher Individuen bzw. wie in diesem Fall unterschiedlicher biologischer Spezies gelten1174. Wenn Freud überdies die Funktion künstlerischer Betätigung als »Ersatzbefriedigungen für die ältesten […] Kulturverzichte« definiert1175, so bezeichnet er damit eine bestimmte Form der Verschiebung. Die »Bewusstseinsintensivierung des jungpaläolithischen (gegenüber dem mittelpaläolithischen) Menschen«, die figürliche Darstellungen
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1173 1174 1175
lebende Menschen im Schlaf zurückkehren können« (Müller-Beck 2008, 20). Die Unterscheidung Ich/Es und die Überwindung der dazwischen liegenden Grenzen ist somit auch in ihrer Religion von einiger Bedeutung. Müller-Karpe 2005, 16. Zum ungeschichtlichen Charakter des Es: GW XV, 80. GW XVI, 199. Zu Freuds Interpretation der Entstehung und Entwicklung der Religion und zur entsprechenden Kritik vgl. das Kapitel über Die Zukunft einer Illusion. Müller-Beck 2008, 19. Beabsichtigter »Kultempfänger« der paläolithischen Sachopfer war somit vermutlich auch »keine spezielle Gottheit […], sondern die undifferenzierte Gottesuniversalität« (Müller-Karpe 2005, 19). Müller-Beck 2008, 72 – 75. Mithen 1996, besonders 153 f. sowie 215. Ferner Klein 1984, 31 – 35 sowie Gamble, Clive, 2006: The palaeolithic societies of Europe. Cambridge u. a., 425 f. Auch die »semantische Universalität« als »spezifische Eigentümlichkeit und Leistungsfähigkeit menschlicher Sprache« (Harris 1989, 41) würde sich aus dieser kognitiven Fluidität (Mithen 1996) erklären. Mithen 1996, 164. Dies gilt auch für den Fall, daß hier lediglich ein Mensch im Tierfell dargestellt ist. GW XIV, 335.
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ermöglicht1176, mag ihrerseits die Antwort gewesen sein auf neuartige Herausforderungen seitens der Umwelt: Ein Teil der Forschung nimmt an, daß etwa zeitgleich mit dem Übergang von der mittleren zur jüngeren Altsteinzeit der Cro-Magnon-Mensch nach Europa eingewandert ist. Hier traf er auf verhältnismäßig ungünstige klimatische Bedingungen in Gestalt massiver Temperaturwechsel zwischen Tag und Nacht einer- und zwischen durchaus heißem Sommer und »bitterkaltem Winter« andererseits1177. Die Dialektik des eiszeitlichen Klimas mag im Vergleich zum Klima in den tropischen Ursprungsgebieten des modernen Menschen tatsächlich – und zwar unabhängig davon, ob die Existenz des modernen Menschen in Europa sich einer Einwanderung oder aber einer fortschreitenden »Sapientisierung«1178 der dort bereits ansässigen Hominiden verdankt – als relative Entbehrung erfahren worden sein, so daß Freuds Annahmen über die Beziehungen zwischen Klima und Kulturentwicklung zumindest in Teilen eine gewisse Plausibilität besäßen. Das in der letzten Eiszeit mit ihren dialektischen klimatischen Bedingungen religiös ins Bewußtsein Getretene beinhaltete schließlich auch die Zeit als gegliedertes Kontinuum, worauf ein ebenfalls aus der Schwäbischen Alb stammender Fund einer vermutlich als archaischer Kalender zu deutenden Elfenbeinplatte hinweist1179. Grundsätzlich aber gilt auch für das Jungpaläolithikum, was sich schon für das Alt- und Mittelpaläolithikum sagen läßt: Der kulturelle Wandel vollzieht sich über unendlich lange Zeiträume hinweg, außerdem bekunden die paläolithischen Überreste grundsätzlich ein »Sicheinfügen in die Naturgegebenheiten«1180, so daß die Theorien einer von den damaligen Menschen hauptsächlich als feindlich empfundenen Natur, einer unter dem Eindruck dieser Entbehrungen entstandenen kollektiven Ängstlichkeit von neurotischer Qualität nach dem Vorbild der modernen Nervosität sowie eines Triebverzichts in Analogie zur repressiven viktorianischen Sexualmoral wenig für sich haben. Im Gegenteil kennen Jäger- und Sammler-Kulturen, wie Uwe Wesel schreibt, kaum Sexualtabus, sondern leben vielmehr eine vergleichsweise »große sexuelle Freiheit«1181.
1176 1177 1178 1179 1180 1181
Müller-Karpe 2005, 19. Bosinski 1987, 5. Hierzu Müller-Beck 2008, 69 sowie 86. Müller-Karpe 2005, 20. Müller-Karpe 2005, 21. Wesel 1980, 83.
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3.3
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adolescentia: Das Neolithikum
»Mit immer größerer Deutlichkeit tritt das Bestreben des Sohnes hervor, sich an die Stelle des Vatergottes zu setzen. Mit der Einführung des Ackerbaues hebt sich die Bedeutung des Sohnes in der patriarchalischen Familie. Er getraut sich neuer Äußerungen seiner inzestuösen Libido, die in der Bearbeitung der Mutter Erde eine symbolische Befriedigung findet.«1182
Während des neunten vorchristlichen Jahrtausends fand die letzte Eiszeit in einer rapiden Erderwärmung ihr Ende, der bereits eine Serie von bedeutenden und vergleichsweise kurzfristigen Klimaschwankungen vorangegangen war1183. Dies stellte die Wildbeutergesellschaften vor ungeahnte und in ihrer Konsequenz kaum zu überschätzende Herausforderungen: Die althergebrachten Vorratsstrategien mußten dahingehend weiterentwickelt werden, daß die vermutlich schon im Mittelpaläolithikum verbreitete »pflegerische Haltung von Tieren und Pflanzen« sich nun in eine aktiv produzierende Wirtschaftsweise verwandelte, Ackerbau und Viehzucht eingeführt wurden1184. Erste Dörfer deuten auf saisonale, bald dauerhafte Seßhaftigeit, in der Folge letztlich auch territoriales Verhalten hin1185. Im Vergleich zur Lebensweise der Jäger und Sammler, die kaum arbeiten1186, sind Feldbau und Domestikation von Tieren mit einem höheren Arbeitsaufwand verbunden; doch diese neuartige Form der Arbeit ist periodisch leichter planbar und gewährt »psychisch größere Sicherheit«1187. Dem genannten neuen Bedürfnis ist also höchstwahrscheinlich eine psychische Verunsicherung vorausgegangen; mit Freud wäre die von Voltaire empfohlene Bearbeitung des Gartens im übrigen eine Ablenkung von der Schwere des Lebens1188. Die Natur mag dem Menschen also jetzt erstmalig unter dem Aspekt von Bedrohung, wenigstens aber von Unsicherheit und Versagung erschienen sein, so daß Arbeit auch als ein Mittel zur Kontrolle des Unbe1182 GW IX, 183. Vgl. das Kapitel über Totem und Tabu. 1183 Schätzungen zufolge betrug die damalige Erderwärmung bemerkenswerte sieben Grad Celsius innerhalb weniger Jahrzehnte (Mithen 1996, 219). 1184 Müller-Beck 2008, 101 f. Siehe zur äußeren Not, die die Klimaerwärmung mit sich brachte, auch Wesel 1980, 91: »Die Überflußgesellschaft der Sammler und Jäger kam in Schwierigkeiten. Es war die erste große Wirtschaftskrise der Menschen, die zur Entstehung der Landwirtschaft führte […]«. 1185 »Archäologisch deutet sich der Beginn territorialen Verhaltens durch den Brauch an, verstorbene Dorfbewohner unter den Häusern zu begraben, in denen sie zu Lebzeiten wohnten« (Harris 1989, 216). Solche Hausbestattungen lassen sich schon für die früheste Siedlungsschicht von Jericho um 9000 v. Chr. nachweisen (so Müller-Beck 2008, 98). Auch »[d]er früheste archäologische Fund, der das Führen von Kriegen belegt, stammt aus dem neolithischen Jericho« (Harris 1989, 214). 1186 Wesel 1980, 84. 1187 Müller-Beck 2008, 102. 1188 Vgl. das Voltaire-Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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herrschbaren fungierte. Der Mensch, der Sohn der Natur, versucht verstärkt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen; die Sohnesrolle erhält psychologisch größeres Gewicht. Zugleich ist Arbeit, wie oben1189 bereits erwähnt, auch Freud zufolge eine potentielle Quelle der Entfremdung – nicht nur wird die mütterliche Natur mit ihrer Hilfe unterworfen, sie ist ebenso ein Mittel kultureller Weiterentwicklung und damit des Übertreffens der ›Väter‹, welches seinerseits mit der Entstehung von Schuldgefühlen verbunden sein kann1190. Die für die Arbeit nötigen Energien müssen überdies ihr Ziel verschieben, »[d]ie zu lösende Aufgabe ist, die Triebziele solcherart zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können«. Folge sind Sublimierung der Triebe und schließlich Triebverzicht1191. Eine soziopsychologische Erklärung oder zumindest Entsprechung findet das gewandelte Beziehungsverhältnis von Vater, Mutter und vor allem Sohn in der sich allmählich unter dem Einfluß der neuen Wirtschaftsweise verändernden Sozialstruktur : Die gegenüber Jägergesellschaften ungleich größere Bedeutung von Arbeit und Arbeitsteilung erhöht indirekt auch den familiären Druck in Ackerbaukulturen; Frauen stehen zunehmend unter dem »gesellschaftliche[n] Zwang, Kinder zu produzieren, die die ökonomische Weiterexistenz der Gruppe garantieren«. Die familiäre Beziehung zwischen Mann und Frau ist fester als in Wildbeutergesellschaften, ebenso die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern1192. Die spezifische Relevanz heiratsfähiger Frauen läßt sie mehr und mehr zu einer Art Statussymbol werden1193. Die Stellung der Frauen verschlechtert sich. In den anfänglich noch egalitären Pflanzergesellschaften verfestigen sich zusehends die bei Wildbeutern
1189 Vgl. das Marx-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1190 Vorausgesetzt eine entsprechende soziale Prädisposition (so etwa die historische Verschärfung der patri-ödipalen Konfliktsituation, s. u.). Eine interessante Parallele findet sich bei Nietzsche, demzufolge die Schuld der Lebenden gegenüber ihren Ahnen mit jedem Erfolg zunimmt (Zur Genealogie der Moral, Nietzsche 1988e, 327 f. sowie White 1991, 474). 1191 GW XIV, 437 f. Zur sozialen Bedeutung von Arbeit und Triebverzicht vgl. auch das Beispiel der Siuai auf Bougainville: »Ein ›Großer Mann‹ heißt bei den Siuai mumi. Höchstes Ziel eines jeden jungen Mannes ist es, das Ansehen eines mumi zu erreichen. Seine Befähigung zum mumi beweist ein junger Mann durch harte Arbeit und die Einschränkung seines Fleisch- und Kokosnußkonsums.« (Harris 1989, 227, Hervorhebung im Original) 1192 Wesel 1980, 94. Durch die Landwirtschaft kommt es zu »ein[em] zeitlich gestreckte[n] Tausch von Lebensmitteln, zwischen Alten und Jungen«, die letztlich die Versorgung der Älteren übernehmen sollen (ebd. 146). 1193 Wesel 1980, 96. Im Brautpreis sieht Hans-Dieter Klein bereits eine »Tendenz […], den Menschen zur Ware bzw. zum bloßen Produktionsmittel zu entfremden, ihn auf seine ökonomische Funktion herabzubestimmen« (Klein 1984, 97). Die sich ankündigende »Ökonomisierung der sexuellen und erotischen Beziehungen« (ebd.) erwähnt auch Freud schon in Die Zukunft einer Illusion (GW XIV, 326 sowie das entsprechende Kapitel der vorliegenden Arbeit).
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noch relativ lockeren, offenen Strukturen1194. Der Grundstein wird gelegt zur Patriarchalisierung der Verhältnisse, die ihrerseits wiederum erhebliche psychologische Konsequenzen nach sich zieht, zumal die Ausformung auch der Familienbeziehungen in besonderer Weise auf gesellschaftlich bedingten Aufgaben- und Rollenverteilungen beruht1195. Neben und infolge der von HansDieter Klein vermuteten Verschärfung der Mutter-Kind-Symbiose und daraus resultierenden »Erziehung der Knaben zu deren innerer Unselbständigkeit«, die selbige »zur Einordnung in die Herrschaft der Männer über die Männer prädestiniert«1196, muß die Patriarchalisierung auch allgemein zu einer Verschärfung der ödipalen Konfliktsituation führen, vor allem dann, wenn die vom Knaben als störend empfundene erotische Beziehung zwischen Vater und Mutter oder auch die in manchen Kulturen verbreitete Bindung von Mutterbruder und Mutter den Charakter einer tatsächlichen Verfügungsgewalt des ersteren über letztere beinhaltet. Für den Knaben mag dies die erstmalige Erfahrung des Zwangs bedeuten. Zur tatsächlichen ›Herrschaft‹1197 allerdings dürfte die männliche Dominanz 1194 Wesel 1980, 92. 1195 Gamm 2001c, 108. 1196 Klein 1984, 97. Uwe Wesel nennt zusätzlich den im Vergleich zum Mädchen wesentlich komplizierteren Prozeß der Identitätsfindung beim Jungen, der häufig mit einer »Negation alles Weiblichen in sich und um sich herum« und folglich einer »Abwertung von Frauen in der frühkindlichen Entwicklung« einhergehe (Wesel 1980, 120 f.). 1197 Eine einheitliche Definition von ›Herrschaft‹ ist nach wie vor nicht gegeben. Hartmut Aden betont aber, daß Max Webers »begriffliches Instrumentarium« (Weber 1922, 28 f., 122 – 176 sowie das Massenpsychologie und Ich-Analyse gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit) »bis heute zur differenzierten Analyse auch von komplexen Abhängigkeitsstrukturen geeignet ist«, da sich seine »Herrschaftssoziologie weder auf Staaten noch auf Beziehungen zwischen Personen beschränkt« (Aden, Hartmut, 2004a: Herrschaftstheorien und Herrschaftsphänomene – Governance und Herrschaftskritik. In: Ders. (Hg.), 2004: Herrschaftstheorien und Herrschaftsphänomene. Wiesbaden, 9 – 22 (hier : 10 f.)). Ähnlich auch Maurer, Andrea, 2004: Herrschaftssoziologie. Eine Einführung. Frankfurt/M., 25 f. Weit umstrittener dürfte hingegen die Weber’sche Definition von ›Macht‹ sein – so kritisiert Ilse Lenz beispielsweise die bei Weber gegebene Wesensverwandtschaft von Macht und Herrschaft, die zu einer Vernachlässigung von Aspekten des Machtbegriffs führe, die eigentlich »›herrschaftsfremd‹« seien: »vor allem die Fragen, ob Macht nur ein einseitiges Dominanz-Verhältnis darstellt oder ob nicht etwa die Untergeordneten, die Frauen, die Sklaven über eigene Machtmittel verfügen.« (Lenz, Ilse, 1990: Geschlechtssymmetrische Gesellschaften. Neue Ansätze nach der Matriarchatsdebatte. In: Dies./Luig, Ute (Hgg.), 1990: Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften. Berlin, 17 – 74 (hier : 44 f.)) Lenz setzt dem Weber’schen Machtbegriff unter Bezugnahme auf Leacocks »Theorie der geschlechtsegalitären Gesellschaften« ein Verständnis von Macht entgegen, das Macht »als Bestimmung von einzelnen oder Gruppen über Prozesse und Ressourcen« begreift. ›Macht‹ bedeutet demzufolge nicht Macht über untergeordnete Personen, sondern Entscheidungsautonomie in den jeweiligen Verantwortungsbereichen; sie ist ferner »multifokal« und »polyzentrisch« (ebd., 46 f., Hervorhebung im Original).
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erst mit der Entstehung politischer Herrschaft geworden sein, welche sich in einem generellen Dreischritt1198 von der Jäger- und Sammler-Gesellschaft als »Prototyp einer egalitären Gesellschaft«1199 über die gleichfalls akephale segmentäre Ordnung der Ackerbauern zur Kephalität der Häuptlingstümer und frühen Königreiche vollzog1200. Laut Uwe Wesel spielte die »politische[…] Ökonomie der Sexualität« bei diesem Prozeß eine maßgebliche Rolle; denn nicht nur der Zugang zu den natürlichen Ressourcen, sondern auch das Heiratsgut kann prinzipiell »zur Erlangung politischer Macht« instrumentalisiert werden1201. Während die Oberhäupter einzelner Horden oder Dörfer – die »Big Men«, die hauptsächlich die Funktion des großen Versorgers innehaben – ihre keinerlei Befehlsgewalt umfassende Autorität noch regelmäßig durch Taten beglaubigen müssen und arm an materiellen Gütern sind, so gründen die mehreren assoziierten Dörfern vorstehenden Häuptlinge ihre Redistributorenrolle und ihr Prestige bereits auf einen erblichen Status. Überdies ist ihr Lebensstandard besser als der ihrer Untergebenen, ihre Macht allerdings aufgrund eines fehlenden Polizeiapparats wie bei den Oberhäuptern ebenfalls noch beschränkt1202. Dies ändert sich, wenn aus mächtigen Häuptlingstümern unter speziellen Bedingungen Staaten werden: Bevölkerungswachstum, ausgiebige Landwirtschaft mit Produktionsüberschuß sowie beschränkter Lebensraum sind die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Staatenbildung. Eine gesellschaftliche Schichtung entsteht aufgrund zunehmender Bevölkerungsdichte in limitierten Siedlungsräumen, so daß ein unzufriedener Teil der Bevölkerung nicht mehr, wie früher noch üblich, emigrieren kann. Bauernstände bilden sich aus, die Führungsschichten hingegen vermögen sich mittels großer Ernteüberschüsse allmählich Fachhandwerker, Leibgarden und eine Berufsarmee zu leisten1203 ; die Errichtung »von Recht und Ordnung« kann alsbald mit Hilfe physischer Zwangsmittel, aber nicht zuletzt auch psychologischer Mechanismen 1198 Wesel 1980, 77. 1199 Kohl, Karl-Heinz, 1993: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München, 54. 1200 Wesel 1980, 77. »Die segmentäre Dynamik stellt das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Gruppen [des Stammesverbandes, M.K.] immer wieder her« und »macht insofern eine politische Zentralinstanz überflüssig«, sorgt überdies dafür, daß keine verwandtschaftliche Gruppe »eine dominante politische Stellung für sich beanspruchen« kann. Zuweilen können sogar »aus mehreren hunderttausend Personen bestehende Stammesverbände ohne politische Zentralinstanzen und formale politische Führerrollen auskommen« (Kohl 1993, 54 – 56). 1201 Wesel 1980, 142 f. 1202 Harris 1989, 248 f. Siehe auch ebd. 210: »Oberhaupt zu sein ist eine ziemlich frustrierende und lästige Angelegenheit. Aus Beschreibungen politischer Führerschaft bei brasilianischen Indianergruppen gewinnt man den Eindruck, daß das Oberhaupt einem übereifrigen Jugendgruppenleiter in einem Zeltlager vergleichbar ist.« 1203 Harris 1989, 234 sowie 249.
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wie »Gedankenkontrolle« durch »magisch-religiöse Institutionen«1204 erfolgen. Aus Häuptlingen werden Könige. Die elaborierteste Staatsform schließlich ist »das Reich« mit einem Gottkönig oder einem Kaiser an seiner Spitze1205. Die ursprüngliche Zwanglosigkeit der wildbeuterischen Lebensweise weicht – in einem freilich seinerseits mehrere Jahrtausende währenden Prozeß – gesellschaftlichem Zwang, der nicht ohne Rückwirkungen auf familiäre Strukturen und letztlich auf die Einzelpsyche bleibt. Die Störung des ursprünglichen Gleichgewichts muß auch und vor allem als eine psychische begriffen werden. Die religiösen Vorstellungen der Jungsteinzeit, soweit rekonstruierbar, mögen vielleicht am ehesten Aufschluß geben über die seelischen Konsequenzen der zeitgenössischen sozialen Veränderungen und der »tiefe[n], folgenschwere[n] Krise«, welche die altsteinzeitliche Geisteswelt im Zuge der Neolithisierung erfuhr. Dem bereits zitierten Müller-Karpe zufolge wich die »ungetrübt-harmonische Einfügung in die naturhafte Daseinsordnung« der Altsteinzeit nun dem »beginnenden Streben nach Selbständigkeit im Sinn von Autonomie« und Emanzipation, überdies wurde die »Existenzabhängigkeit von der Gottheit« allem Anschein nach »zum Problem«1206 – was den oben thematisierten Bedeutungszuwachs der psychologischen Sohnesrolle und eventuell die damit in Verbindung stehende kulturelle Wirksamkeit des Vaterkomplexes indirekt bestätigen würde. Das Beispiel einer im Irak gefundenen Schale mit einer Abbildung von Menschen in Adorationshaltung, die überdimensionierten Skorpionen ausgesetzt sind, deutet außerdem darauf hin, daß die Lebenswelt nunmehr als gefahrvoll empfunden wurde1207; das Verhältnis von Menschlichem und Über-Menschlichem entfaltete eine neue, bisher unbekannte Dynamik. Freuds vor allem in Die Zukunft einer Illusion1208 geäußerte Überlegungen zu den Zusammenhängen von unbezwungener Natur und narzißtischer Kränkung der menschlichen Psyche sowie zur Gestaltung der Götter nach dem Vorbild der Eltern haben für die früheste menschheitsgeschichtliche Phase vielleicht wenig Überzeugungskraft – um so einleuchtender erscheinen sie allerdings, wenn man sie auf die aus den Fugen geratene Ordnung der Jungsteinzeit bezieht1209. Auch 1204 1205 1206 1207 1208 1209
Harris 1989, 240 f. Harris 1989, 249. Müller-Karpe 2005, 22. Müller-Karpe 2005, 23. Vgl. das diesem Essay gewidmete Kapitel der vorliegenden Arbeit. Nicht nur Vatergottheiten, auch den orientalischen Muttergottheiten attestiert Freud übrigens eine grundlegende »Ambivalenz« als Schöpferinnen und Zerstörerinnen (Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, 34). Die Schwäche der beispielsweise auf Kreta angebeteten Muttergottheit, ihre Anhänger nicht »gegen die Angriffe einer stärkeren Macht« – so gegen Vulkanausbrüche – verteidigen zu können, führt Freud als Grund an, weshalb »sie einer männlichen Gottheit den Platz räumen mußte«; »der Vulkangott« habe folglich »das erste Anrecht darauf, sie zu ersetzen« (GW XVI, 147 Anm. 1). Plausibler erscheint freilich,
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die von Freud an unterschiedlichen Stellen seines Werks explizit behandelte Magie entwickelte sich nach Müller-Karpe erst in neolithischer Zeit als »Pervertierung von Religion, indem Riten, mit denen der Mensch sich ursprünglich demütig-bittend an Gott wandte, von ihm Erfüllung hoffend, nun verselbständigt wurden«, wobei die »Erfüllung des Gewünschten […] allein von dem korrekten Ritenvollzug abhängig gesehen [wurde]«1210. Müller-Karpe interpretiert ferner den Sündenfall der Genesis, der dort mit »werden wollen wie Gott« umrissen werde, als Spiegelung des menschlichen Autonomiestrebens gegenüber der Gottheit und der Bewußtwerdung des Antagonismus »von Gut und Böse«1211. Diese neuartige Polarisierung, die eine ähnliche Ausformung erfährt in der erstmaligen »Unterscheidung von sakral und profan«1212, könnte ein Hinweis sein auf die Errichtung eines Über-Ichs und die Entstehung eines gesellschaftlichen Schuldgefühls. Oben wurde bereits die Hypothese formuliert, daß ein Schuldgefühl Ausdruck eines Ungleichgewichts libidinöser und aggressiver Triebe zugunsten der letzteren ist, welches sich in Zeiten vermehrter gewaltsamer Auseinandersetzungen ausbildet; und tatsächlich geht die kulturanthropologische Forschung davon aus, daß derartige Konflikte im Neolithikum häufiger und intensiver ausgetragen wurden1213. Während Wildbeuter noch in vergleichsweise großer Sicherheit lebten1214, mußte nun verstärkt auch mit Gewalt von Artgenossen gerechnet werden; diese Entwicklung erfuhr eine Steigerung mit der Entstehung von Staaten, die die Tendenz zur Expansion und damit auch zur Absorbierung kleinerer Völker besitzen1215. Das Anwachsen äußerer Aggressivität führte vermutlich längerfristig zur Vergrößerung auch der inner
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als Ursache für die Zurückdrängung der Mutter- durch die Vatergottheiten eine über die Jahrtausende sich verstärkende Patriarchalisierung der Gesellschaft aufgrund ebenfalls zunehmender kriegerischer Konflikte anzunehmen. Müller-Karpe 2005, 27. Müller-Karpe 2005, 26. »Werden wollen wie Gott« ist nur ein anderer Ausdruck für die von Freud als »Bestreben des Sohnes […], sich an die Stelle des Vatergottes zu setzen« bezeichnete ödipale Intention (vgl. das entsprechende Zitat aus Totem und Tabu, das diesem Kapitel vorangestellt wurde). Religion durchdringt zugleich im Gegensatz zur paläolithischen Geisteswelt nicht mehr alles (Müller-Karpe 2005, 25). Zur Trennung von sakral und profan aus ethnopsychoanalytischer Sicht auch Erdheim 1998, 188. Harris 1989, 214 sowie 225. Die Art der Kriegführung veränderte sich u. a. dahingehend, daß es nunmehr um Gewinn oder Verlust an wertvollem Territorium ging, während der in paläolithischer Zeit ohnehin selten und in »eher individualistische[r] Form« ausgetragene Konflikt auf Vergeltung erlittener Verletzung, nicht aber auf Gebietsgewinne zielte (214). Harris 1989, 201. Harris 1989, 236. Im Sinne einer »positive[n] Rückkopplung« führt dies letztlich auch dazu, daß egalitäre Gesellschaftsstrukturen in Nachbarschaft zu Staaten nur schwerlich aufrechterhalten werden können, die Expansion der Staaten und damit auch die Patriarchalisierung immer weiter voranschreitet (Harris 1989, 235, Hervorhebung im Original). Daß übrigens selbst bei Primaten angesichts äußerer Bedrohung Dominanzverhalten innerhalb der Gruppe zunimmt, erwähnt Wesel (1980, 88).
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(psychisch)en Aggressivität. Wenn Recht in kephalen Kulturen eine Reaktion auf Verletzungen unterschiedlicher Art ist1216, so bildet die psychische Verletzung – die auch eine Art von ›Grenzverletzung‹ sowie des weiteren eine Verletzung eines ursprünglichen seelischen Gleichgewichts darstellt – möglicherweise einen der Ursprünge einer expliziten gesellschaftlichen Moral1217. Seßhaftigkeit und das Größerwerden der menschlichen Gemeinschaften scheinen Dreh- und Angelpunkt der im Kapitel infantia genannten Problematiken im Zusammenhang mit dem Komplex der Zivilisation zu sein. Rousseaus berühmtes Diktum, wonach »[d]er erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte« und Besitzansprüche daran anmeldete, der tatsächliche Begründer des Zivilisationsprozesses und so auch Urheber der damit verbundenen »Schrecken« gewesen sei1218, enthält vermutlich einen durchaus wahren Kern. Der eigentliche Untersuchungszeitraum der traditionellen Zivilisationstheorie begänne so genau besehen erst mit dem Neolithikum, in welchem der Menschheit sich völlig neuartige Herausforderungen der Vergesellschaftung stellten. Schuldgefühl und daraus resultierendes Unbehagen führen seitdem immer wieder zur Unzufriedenheit mit der jeweiligen Kultur und sind der Nährboden für Illusionen. Geschichte ist nicht zuletzt die Geschichte eines Kampfes zwischen Illusion und Realitätsanpassung. Die Kulturen müssen in der Konsequenz Antworten finden nicht nur auf die Bedingungen der äußeren Realität, sondern auch auf innere Wirklichkeiten und Bedürfnisse, beispielsweise die Unzufriedenheit über die nicht mehr vorhandene Reziprozität und Egalität, das verlorene Gleichgewicht, den Verlust alter Legitimationen. Wo außerdem gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht mehr auf persönliches Vertrauen gegründet ist, wird schließlich auch Anerkennung zunehmend zum Problem – sowohl im Bereich zwischenmenschlicher Interaktion, wo die Gefahr des instrumentellen Gebrauchs eines anderen Individuums gegeben ist1219, als auch in allgemein-abstrakterem Sinne 1216 Wesel 1980, 76. 1217 Gesellschaftliche Moral dient daneben sicher auch der Aufrechterhaltung des Gemeinwesens, nicht zuletzt der politischen Ordnung und erfährt im Laufe ihrer Entwicklungen Verzerrungen von zum Teil irrationaler Art. 1218 »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: ›Das ist mein‹ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben, hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen: ›Hört ja nicht auf den Betrüger. Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde keinem!‹« (Rousseau 1995, 191/193) Rousseau bezieht sich hier im übrigen explizit auf territorialen Besitz, nicht auf Privateigentum per se. Letzteres hat es im Unterschied zu ersterem immer, auch bei Wildbeutern schon gegeben (so Harris 1989, 203 bzw. 224). 1219 Karl Jaspers sah in der Nicht-Anerkennung der prinzipiellen »Verwandtschaft« aller Menschen ungeachtet ihrer »Rasse« die entscheidende Ursache der Pathologien des menschlichen Miteinanders: »Unsere ungeheuren Verschiedenheiten, Charakterunter-
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der Verleugnung gesellschaftlicher Mißstände. Freud verband die Ausweitung der sozialen Gemeinschaft übrigens mit der Idee einer Verschärfung des ödipalen Konflikts und »eine[r] weitere[n] Steigerung des Schuldgefühls«, wobei er aber weder historisch noch soziologisch, sondern triebtheoretisch argumentiert1220. Die große Bedeutung der Neolithisierung wurde von Freud bis auf die diesem Kapitel vorangestellte Textstelle aus Totem und Tabu freilich kaum reflektiert. Das Schlagwort von der »neolithischen Revolution«, das sehr zur Popularisierung der Idee eines in seiner Bedeutung der Industriellen Revolution vergleichbaren historischen Umbruchs am Übergang von der Alt- zur Jungsteinzeit beitrug, wurde allerdings auch erst drei Jahre vor Freuds Tod durch Gordon Childe geprägt1221. Die in diesem Kapitel ebenfalls gerafft dargestellten Entwicklungen der Neolithisierung bedeuten zwar gegenüber der langen Dauer des Paläolithikums eine historische Beschleunigung der kulturellen Veränderung, dauerten in Wahrheit aber ebenfalls Jahrtausende, was die Vorstellung eines »revolutionären« Umschwungs relativiert; man neigt daher heutzutage dazu, nicht mehr von der »neolithischen Revolution«, sondern vom »neolithischen Übergang« zu sprechen1222. Jedoch ist, um es mit Kant zu sagen, »[e]in kleiner Anfang, der aber Epoche macht, indem er der Denkungsart eine ganz neue Richtung gibt, […] wichtiger, als die ganze unabsehliche Reihe von darauf folgenden Erweiterungen der Kultur.«1223
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iuventus: Die Bronzezeit
»Diesem folgte als drittes Geschlecht das Eherne Alter, Wilderen Geistes, bereiter zum Griff nach der schrecklichen Waffe, Doch verbrecherisch nicht.«1224
Mit diesen knappen Worten beschreibt Ovid das eherne oder bronzene Zeitalter, das als drittes auf das goldene und das silberne – die man cum grano salis mit Alt- und Jungsteinzeit gleichsetzen könnte – folgt und das im 19. Jahrhundert
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schiede, unsere Ferne bis zum Nichtverstehen, unser Abbrechen in Todfeindschaft, unser entsetzlich stilles Auseinanderfallen bei Geisteskrankheit oder bei der Realität nationalsozialistischer Konzentrationslager, – alles ist doch die Qual der eigentlichen Verwandtschaft, die vergessen wurde oder keinen Weg mehr fand, sich zu verwirklichen.« (Jaspers 1949, 65 f.) Er führt diese Erweiterung nämlich zurück auf die Tasache, daß »die Kultur einem inneren erotischen Antrieb gehorcht, der sie die Menschen zu einer innig verbundenen Masse vereinigen heißt« (GW XIV, 492). Childe, V. Gordon, 1936: Man makes himself. (The Library of science and culture, 5). London. Freilich ist fraglich, ob Freud davon Kenntnis hatte. Müller-Beck spricht von »Überschreitungen der ›Neolithisierungsschwellen‹« (MüllerBeck 2008, 30). Kant 1964c, 90. Ovid, Metamorphosen, 1. Buch, 125 – 127.
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das literarische Vorbild abgab für die Benennung einer menschheitsgeschichtlichen Epoche, die allgemein mit der Verarbeitung und Verbreitung der Bronze, einer Kupfer-Zinn-Legierung, in Verbindung gebracht wird1225. Die Bronzezeit ist grosso modo auch die Zeit der ersten Hochkulturen und der Erfindung der Schrift, für die die Entstehung »eines staatlich organisierten Gemeinwesens« mit zentraler Administration Bedingung war1226. Die im vorigen Kapitel beschriebene Herausbildung von Staaten vollzog sich wahrscheinlich erstmalig im unteren Mesopotamien noch während des späteren Neolithikums, das bereits die Verarbeitung von Kupfer kannte und daher auch als Kupfersteinzeit oder Chalkolithikum bezeichnet wird1227. Außerhalb der für Wildgetreide nötigen Niederschlagsbereiche wurde der bewässerte Feldbau mit ungleich höherem Organisationsaufwand notwendig; die erfolgreiche Meisterung dieser neuartigen Herausforderung stand nach Toynbee am Beginn der Genese der Hochkulturen in Sumer, Ägypten und China1228. Karl Wittfogel entwickelte am Beispiel besagter Zivilisationen seine Theorie der ›hydraulischen Gesellschaft‹ und der ›orientalischen Despotie‹1229. Aus Dörfern wurden alsbald Städte und Stadtstaaten. Wie das Beispiel Eridus im südlichen Irak belegt, setzte diese Entwicklung bereits um 5400 v. Chr. ein1230. Ungefähr eineinhalb Jahrtausende später führte der vermehrte Raubbau an den natürlichen Ressourcen dann zur Expansion der Staaten, die Eroberungen und große ethnische Verschiebungen und auf geistiger Ebene schließlich nach Klaus E. Müller die Entstehung eines linearen Geschichtsbewußtseins zur Folge hatte1231. Die Schilderung einer aus den Fugen geratenen Welt zwischen Sündenfall und Sintflut in der Bibel mag eine Spiegelung dieser Zustände sein. Während in Mesopotamien die militärischen Stadtkommandanten zu Stadtkönigen werden, führt im demographisch relativ früh verdichteten Ägypten die Vereinigung der Gaufürstentümer zur »religiös begründeten Totalorganisation des ersten« echten Reiches der Geschichte1232. Im Unterschied zu kleinen »face-to-face-Gesellschaften«, wo 1225 Der Siegeszug der Bronze nimmt im Orient gegen 3000 v. Chr. seinen Anfang und hat um 2000 v. Chr. bereits Europa erreicht (Müller-Beck 2008, 116 bzw. 118). 1226 Kohl 1993, 70. 1227 Müller-Beck 2008, 114. 1228 Vgl. das Toynbee-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1229 Wittfogel, Karl A., 1931: Wirtschaft und Gesellschaft Chinas. Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer großen asiatischen Agrargesellschaft. Leipzig bzw. Ders., 1957: Oriental despotism. A comparative study of total power. New Haven. Harris (1989, 97 f.) führt die hohe Bevölkerungsdichte in vielen Teilen Chinas und anderer Bewässerungsfeldbau betreibender Gesellschaften auf das günstige »Output-Input-Verhältnis« dieser Wirtschaftsweise zurück. Überdies hätten die Chinesen diesbezüglich alle anderen Bewässerungsfeldbauern jahrtausendelang übertroffen. 1230 Müller-Beck 2008, 114. 1231 Vgl. das Kapitel Geschichte und Geschichtskultur im ersten Teil der vorliegenden Arbeit. 1232 Müller-Beck 2008, 119 (zur frühen Verdichtung Ägyptens ebd., 104, zur Entwicklung von
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Schriftkommunikation schlechterdings überflüssig ist, verlangt die Verwaltung von Staaten bald »ein universales Kommunikationsmedium«, das »von Raum und Zeit tendenziell unabhängig[…]« ist. Zunächst zur Fixierung von »Abgaben- und Tributleistungen« entwickelt, ist die Schrift letzten Endes auch eine Grundlage der Unterdrückung1233. Auf die psychologischen Zusammenhänge von linearem Geschichtsverständnis, Erfindung der Schrift und kultureller Bewußtseinsintensivierung infolge historischer Traumatisierungen wurde in den Zusammenfassenden Überlegungen am Ende des ersten Teils der vorliegenden Arbeit bereits eingegangen. Freud hat sich zwar nicht zum historischen Akt der Erfindung der Schrift, wohl aber zur Schrift selbst verschiedentlich geäußert. So bezeichnet er sie als »Ausdruck seelischer Tätigkeit«1234 sowie als »Sprache des Abwesenden«1235 und weist darauf hin, daß der Vorgang, »aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen, die symbolische Bedeutung des Koitus« erhalten könne1236. Auch wenn zumindest in Mesopotamien zunächst nicht auf Papier geschrieben, sondern in Ton geritzt wurde, so mag die symbolische Nähe des Schreibens zum Geschlechtsakt dennoch ein Anhaltspunkt sein für die hier stattfindende Sublimierung libidinöser Energien. MüllerKarpe setzt die »menschheitsgeschichtliche Neuerung« der Schrift, »Bilder zur Fixierung nicht – wie bisher – eines Angeschauten, sondern eines Lautes bzw. eines Begriffes« zu gebrauchen, in Beziehung zur »bildliche[n] Darstellung von Gottheiten in Menschengestalt«, die er zusammen mit der ohnehin erstmaligen »gedankliche[n] Herausstellung von unterscheidbaren Göttern und Göttinnen«, der Mythologie, speziellen »Vorstellungen vom Jenseitsdasein Verstorbener« und dem Sakralkönigtum zu den geistig-religiösen Neuerungen der Hochkulturen rechnet. Der Polytheismus wäre demnach also genau wie die Schrift, die Mythologie, die anthropomorphe Gottesdarstellung und ein durch Religion legitimiertes Herrschertum erst mit den Hochkulturen entstanden1237. Die kunsthistorisch ältesten Portraits zeigen übrigens Gottkönige, namentlich die
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Kommandaten zu Königen 115). »Reich« hier in dem im vorigen Kapitel beschriebenen Sinne der »entwickeltste[n] und am stärksten hierarchisch gegliederte[n] Staatsform« mit einem Gottkönig an der Spitze (Harris 1989, 249). Kohl 1993, 70 f. Schriftlosigkeit und Herrschaftsfreiheit stehen demnach in enger Beziehung zueinander (ebd. 68). Die »Zeichen- und Bildersysteme« schriftloser Kulturen haben dagegen lediglich »die Funktion von Erinnerungsstützen«, die ohne ergänzende mündliche Kommunikation zumeist nicht zu verstehen sind (69 f.). GW VIII, 403 (Das Interesse an der Psychoanalyse). GW XIV, 450. GW XIV, 116. Müller-Karpe 2005, 28 f. »Die polytheistischen Religionen überwanden den Ethnozentrismus der Stammesreligionen« (Assmann 1998, 19), was bei der Entstehung eines Reiches von Vorteil gewesen sein dürfte. Die von Freud angenommene Entwicklung der Religion vom zum Gott erhobenen Totem über den Polytheismus der tiergestaltigen Götter und schließlich die Vermenschlichung der Götterwelt hin zum Monotheismus (Köhler 2006, 237 f.) kann in dieser Form also nicht aufrechterhalten werden.
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ägyptischen Herrscher Chasechemui und Djoser, den Erbauer der berühmten Stufenpyramide von Sakkara1238. In der Verbindung von vermenschlichtem Gott und vergöttlichtem Menschen darf man vermutlich den Ausdruck des seit dem Neolithikum spürbaren, mit der Entstehung der Hochkulturen noch vergrößerten menschlichen Autonomiestrebens und einer damit einhergehenden Selbstüberhöhung des Menschen erkennen, die realiter seiner schrittweisen Entfremdung von der Natur entspricht. Dies stimmt prinzipiell zu Freuds Überlegung, wonach die Reaktion auf die Angst vor der unbezwingbaren Natur die Gestaltung der Götter nach dem Vorbild der Eltern, vor allem des Vaters und das Verhältnis zu letzterem ein ambivalentes gewesen sei1239, denn die sich zusehends verschärfende Störung des natürlichen Gleichgewichts dürfte in Wahrheit als Ohnmacht erfahren worden sein, die nach Kompensation verlangte. Dem Ohnmachtsgefühl des ›Sohnes‹ entspricht die »Machtfülle«, die der Vater in seiner Phantasie besitzt, wobei »Hochschätzung« und »Mißtrauen« dem Vater gegenüber »innig verknüpft« sind. Schon in Totem und Tabu sah Freud sowohl in frühen Göttern als auch Herrschern »Vaterersatzbildungen« und nahm an, daß »der Verehrung«, die ihnen entgegengebracht werde, in Wahrheit »im Unbewußten eine intensive feindselige Strömung entgegensteht«; vieles in der Beziehung zum Herrscher resultiere »aus der infantilen Einstellung des Kindes zum Vater«1240. Wenn auch bei den Ägyptern mit einer solchen unbewußten Feindseligkeit ihren Göttern und Herrschern gegenüber – die eventuell identisch ist mit dem Groll über den Verlust der ursprünglichen Lebensweise – gerechnet werden kann, so muß doch gleichsam konstatiert werden, daß die ägyptische Religion und Kultur schon in Anbetracht ihrer langen Dauer offenbar (und zwar im Gegensatz zu den vergleichsweise kurzlebigen, einander abwechselnden Zivilisationen des Zweistromlands) Antworten auf besagte Herausforderung gefunden hat, die eine übermäßige Abneigung der Bevölkerung gegen ihre Könige und Götter verhinderten. Freud selbst erwähnt in Der Mann Moses und die monotheistische Religion das auffällige Fehlen des Tyrannenmords in Ägypten1241. Zusammen mit der chinesischen wird man die altägyptische sicher zu den erfolgreichsten Kulturen überhaupt zu zählen haben; wahrscheinlich ist es ihr gelungen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein inneres Gleichgewicht herzustellen, das den Verlust an natürlicher Seinsordnung zu kompensieren imstande war1242. Jan Assmann verweist auf den im alten Ägypten 1238 Hamann führt sogar eine aus der 1. Dynastie stammende Elfenbeinstatuette aus Abydos als Portrait eines Königs an (Hamann, Richard, 1952a: Geschichte der Kunst. Bd. 1: Von der Vorgeschichte bis zur Spätantike. München, 71). 1239 GW XIV, 346 sowie das Kapitel über Die Zukunft einer Illusion. 1240 GW IX, 63 f. Von »Vaterersatzbildungen« spricht Freud ebd., 182. 1241 GW XVI, 149 Anm. 1. 1242 Hierzu u. a. Janus (1990, 249): »Man kann also eine Grundbestrebung der ägyptischen
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vorherrschenden »Gedanken der ›Vertikalen Solidarität‹ als einer den Gesellschaftsaufbau durchwirkenden Kraft, die zwar die Ungleichheit, die ›Schichtung‹ der Menschen in Arm und Reich, nicht aufzuheben, aber doch zu durchkreuzen vermag und in den vertikalen Bindungen des Schutzes (von oben nach unten) und des Gehorsams (von unten nach oben) die Welt zur Ordnungsstruktur der Gerechtigkeit formt«1243. Überdies herrschte in Ägypten, für patriarchale antike Kulturen nicht unbedingt typisch, eine weitgehende Gleichstellung von Männern und Frauen1244. Dies alles mag zu einer zumindest relativen Zufriedenheit der Ägypter mit ihrer Kultur beigetragen haben. Die in den antiken Zivilisationen regelmäßig anzutreffende Gleichzeitigkeit von politischer Stabilität und kultureller Blüte steht übrigens im Widerspruch zu Nietzsches These einer Unvereinbarkeit beider Faktoren1245. Die vielen Gottheiten mit ihren individuellen Zügen galten in den alten Hochkulturen als unterschiedliche »Aspekte einer universalen Gottesganzheit«, die, obwohl eigentlich bildlich nicht darstellbar, häufig mit der Sonne assoziiert wurde. Hierauf griff im 14. Jahrhundert v. Chr. auch Echnaton mit seiner AtonVerehrung zurück1246. Daß entgegen Freuds Annahmen kaum Parallelen bestehen zwischen ägyptischem Amarna-Kult und mosaischem Monotheismus, wurde schon erwähnt1247. Unabhängig davon aber mögen die Gründe für die Entstehung monotheistischer Religionen sowohl in Ägypten wie im Vorderen Orient auf ähnlichen Voraussetzungen beruhen: Signifikanter als in früheren Epochen zeigte sich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend »ein Sünden-
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Kultur darin sehen, den mit der hochkulturellen Entwicklung verbundenen Verlust des Ursprungs immer wieder aufzuheben. Diese Wiederanbindung erfolgt in den Bildern der pränatalen Regression.« Hallpike nennt als besondere Errungenschaft der alten chinesischen Kultur u. a. »a highly moralistic, paternal conception of the ideal relationship between government and people« (Hallpike, Christopher R., 1988: The principles of social evolution. Oxford, 295). Assmann, Jan, 2006: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. (Carl-Friedrichvon-Siemens-Stiftung, Themen, 52). München. 3., erw. Aufl., 4 (kursiv im Original, von mir nicht-kursiv wiedergegeben). Wesel 1980, 46. Nietzsche 1988 f, 106 sowie 1988b, 300. Nicht nur für die Antike allerdings lassen sich Gegenbeispiele anführen: Neben den Blütephasen der ägyptischen oder auch der römischen Kultur (so geht beispielsweise die Befriedung des Reiches unter Augustus einher mit der sog. ›Goldenen Latinität‹) darf man sicher auch die Epoche Karls des Großen oder das Elisabethanische Zeitalter zu den Phasen zählen, in denen politische Stabilität mit kultureller Blüte korrespondierte. Entscheidend für letztere scheint nicht so sehr das Schicksal des Staates, als vielmehr der jeweilige Zeitgeist zu sein. Freilich ist umgekehrt auch der krisenhafte Zeitgeist in besonderer Weise imstande, kreative Potentiale zu entfesseln, wie u. a. der Fall der Weimarer Republik zeigt. Müller-Karpe 2005, 35 f. Thomas Mann veranschaulicht übrigens die Einheit von Polytheismus und Monotheismus auf literarische Weise am Beispiel des Dreiecks im Kapitel Das lehrhafte On des dritten Bands der Joseph-Tetralogie. Vgl. das Kapitel über Freuds Mose-Essay.
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bewußtsein«, das mit der Vorstellung der Strafe für eine dem Willen der Götter zuwiderlaufende Lebensführung verbunden war1248. Man wird also auch schon für die Bronzezeit mit einem gegenüber früher verstärkten Schuldgefühl rechnen dürfen, das u. a. wohl mit den zunehmenden »ethnischen Umwälzungen und Verheerungen« in Zusammenhang steht, die nach Müller in der Bronzezeit einen ersten Zenit erreichten1249. Je größer das Erleben äußerer Bedrohung, persönlicher Ohnmacht und letztlich Schuld, desto mächtiger muß die schützende Gottheit werden. Psychologisch betrachtet ist der Monotheismus nichts anderes als eine Verdichtung vieler Gottheiten in einem einzigen Gott mit zumeist väterlichen Zügen1250. Das vergrößerte Schuldgefühl mag das Bedürfnis nach klaren Vorgaben, was in den Augen des Vatergottes als schuldhaft anzusehen ist und was nicht, geweckt haben. Die Eigenschaft der monotheistischen Religionen, nicht »übersetzen«, sondern trennen zu wollen »zwischen wahr und unwahr«1251, also eine Polarisierung eigentlich zwischen Schuld und Unschuld vorzunehmen, hätte demnach auch hier ihren Ursprung. Seine volle Geltung entfaltet der Monotheismus allerdings erst nach dem Untergang der bronzezeitlichen Welt, nach der traumatischen Erfahrung antiker Völkerwanderungen und vergleichsweise dunkler Jahrhunderte, auf die die Achsenzeit folgen wird. Während der Polytheismus sich vermutlich im Zuge der historischen Verwerfungen vor der Entstehung der Hochkulturen herausbildete, wird der Monotheismus seinen Siegeszug nach einem erneuten Transformationsprozeß, nach erneuten politischen und sozialen Verwerfungen am Übergang von der Bronzezur Eisenzeit antreten. An die Ausdifferenzierung der Gottesuniversalität im Polytheismus und die Verdichtung dieser Ausdifferenzierung im Monotheismus allerdings schließt sich bald darauf im wissenschaftlichen Rationalismus eine 1248 Müller-Karpe 2005, 38 f. 1249 Müller 2005, 73. Von nicht unerheblicher Bedeutung dürften hierbei auch klimatische Veränderungen gewesen sein, wie u. a. der erste »Kollaps von Hochkulturen um das Jahr 2150 v. Chr.« zeigt, der »mit einem der Höhepunkte des Subboreals in Verbindung gebracht« wird (Behringer, Wolfgang, 2007: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung. München, 74, Hervorhebung im Original). 1250 GW XIV, 341. Den »fremde[n] Übermächte[n]« gibt der Mensch nach Freud »die Züge der Vatergestalt, er schafft sich die Götter, vor denen er sich fürchtet, die er zu gewinnen sucht und denen er doch seinen Schutz überträgt« (GW XIV, 346). Diese fremden Übermächte aber sind nicht zwingend die von Freud hier gemeinten natürlichen Übermächte – es können ebenso gut menschliche ›Fremde‹, also äußere Feinde sein, was besser zur angesprochenen politischen Situation der Bronzezeit passen würde. Wenn man davon ausgeht, daß der erste ›Fremde‹ im Leben des Individuums der Vater ist, könnte hier, ganz im Sinne der oben zitierten Beschreibung Freuds, eine Übertragung der bedrohlichen Eigenschaft des ›Fremden‹ auf den Vatergott stattgefunden haben. Andererseits präsentiert sich durch ein anwachsendes Schuldgefühl auch das innere ›Fremde‹ – das Nicht-Ich, das Unbewußte – zunehmend als Bedrohung; die Verehrung eines obersten Vatergottes würde demnach Schutz sowohl vor äußerem als auch vor innerem ›Fremden‹ bedeuten. 1251 Assmann 1998, 17 f.
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Rücknahme der väterlichen Allmacht an, die letztlich in Gottesmord und Entzauberung der Welt münden wird1252.
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gravitas: Die Eisenzeit
»…Von Eisen hart ist das letzte. Da ergoß sich sogleich in die Zeit aus der schlimmeren Ader Aller Frevel. Es floh die Scham, die Treue, die Wahrheit; Und der Betrug, die List, die rohe Gewalt und die Tücke Rückten an deren Platz und die böse Begier zu besitzen.«1253
Die bronzezeitliche Welt erlebte ihre Apokalypse in kriegerischen Migrationsbewegungen, deren Auslöser vermutlich eine Dürreperiode gefolgt von Hungersnöten war. Diese Entwicklung ging mit einem allgemeinen Kulturwandel einher, zu dem neben dem Untergang zahlreicher Zivilisationen wie der mykenischen oder der hethitischen auch ein Wechsel des bevorzugt genutzen und verarbeiteten Metalls gehörte: Wahrscheinlich bedingt durch eine allgemeine Ausweitung gewaltsamer Konflikte begann der Triumph des Eisens, zunächst im Vorderen Orient, später auch in Europa1254. Wenn Ovid und vor ihm schon Hesiod das eiserne Zeitalter als ein von größerer Gewalt und Unrechttun geprägtes charakterisieren, steckt dahinter also möglicherweise mehr als der literarische Topos, die eigene Gegenwart besonders negativ darzustellen1255. Vielmehr läßt sich ein gegenüber der Bronzezeit wiederum erhöhtes Aggressionsniveau und in der Folge ein erneut angewachsenes Schuldgefühl, letztlich eine Unzufriedenheit mit der Kultur im weitesten Sinne vermuten. Wie im Falle des orientalischen Monotheismus darf man sicher auch für Griechenland und Rom von einer Verschärfung der patri-ödipalen Konfliktsituation ausgehen; Hesiods Klage über mangelnde Achtung der Kinder vor den Eltern1256 und mehr noch Ovids Schilderung des Vatermords1257 zeugen zumindest von einer bewußten Verarbeitung des Generationenkonflikts als Eigenschaft des eisernen 1252 Siehe hierzu auch Weber 1920a, 564: »Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin.« (Hervorhebung im Original) 1253 Ovid, Metamorphosen, 1. Buch, 127 – 131. 1254 Behringer 2007, 79 – 81. 1255 Vgl. das diesem Kapitel vorangestellte Zitat sowie Erga 174 – 201. 1256 Erga 185 – 188: »Bald mißachten sie dann ihre altersgebeugten Erzeuger, / Mäkeln an ihnen und fahren sie an mit häßlichen Worten / Rücksichtslos und scheun nicht die Götter ; geben dann auch nicht / Ihren greisen Erzeugern zurück den Entgelt für die Aufzucht.« 1257 Ovid, Metamorphosen, 1. Buch, 145 ff., besonders 148: »Vor der Zeit schon forscht nach dem Ende des Vaters der Sohn…«
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Zeitalters im Gegensatz zu früheren im literarischen Medium. Namentlich Hesiod bezog die Vorstellung vom Mangel an Gerechtigkeit in der eigenen Epoche und des »Tun-Ergehen-Zusammenhangs«, nach welchem soziale und politische Katastrophen eine Art der Strafe für menschliche Verfehlungen und begangenes Unrecht sind, aus »orientalischen Weisheitslehren«. So ist, ähnlich wie beispielsweise »in der israelitischen Unheilsprophetie«, auch in Hesiods Geschichtsbild die Historie »ein Reservoir von wirksamen Verschuldungen«, die »sich auf die Widerfährnisse der Gegenwart und sogar auf die Chancen in der Zukunft auswirkt«1258. In Israel selbst wird Mose zur »Symbolfigur einer menschheitsgeschichtlichen Wende«, von Exodus, Separation und Abgrenzung1259 ; der Durchbruch des Monotheismus als Verdichtung von Heilserwartungen1260, unter starker Betonung der richtenden Eigenschaften des Vatergottes, legt Zeugnis ab von dem gesteigerten psychischen Bedürfnis nach Erlösung von intensiv erlebter Schuld. Verbunden sind diese Prozesse mit einem erneut wachsenden Geschichtsbewußtsein, nicht nur in Israel und Griechenland, sondern auch in Mesopotamien und Ägypten1261. Freud bringt die zeitgenössische griechische Epik etwa eines Homer treffend in Zusammenhang mit der Wiederanknüpfung an eine glorreichere Vergangenheit nach dunklen Jahrhunderten1262. In die Eisenzeit fällt gleichsam jener menschheitsgeschichtlich so bedeutende Abschnitt, den Jaspers als ›Achsenzeit‹ bezeichnet und in dem »der Mensch [entstand], mit dem wir bis heute leben«1263. Strenggenommen dauert auch die Eisenzeit bis heute an – seinen wahren Triumph feierte das Eisen, vor allem in der weiterentwickelten Form des Stahls, erst seit der Industriellen Revolution mit dem Bau von Eisenbahnlinien und der zunehmenden Verwendung von Stahl und Eisen als Material zur Errichtung nicht nur von Bahnhöfen und Industriebauten, sondern sogar von Wohn- und Bürogebäuden. Die seit dem ersten vorchristlichen Jahrtausend sich verstärkende Nutzung dieses Metalls geht also gewissermaßen parallel zur nach Weber »mit der altjüdischen Prophetie« und »dem hellenischen wissenschaftlichen Denken« einsetzenden »Entzauberung 1258 1259 1260 1261
Flaig 2005, 217 – 219. Assmann 2000, 137. Vgl. die Zusammenfassenden Überlegungen des ersten Teils der vorliegenden Arbeit. Siehe Assmann 2000, 122: »Es läßt sich ja nicht bestreiten, daß der Untergang der bronzezeitlichen Welt eine intensive Erinnerungsdynamik ausgelöst hat, die in vielen Bereichen der damaligen Welt über die dunklen Jahrhunderte hinweg zu Wiederanknüpfungen führte wie etwa die homerischen Epen an Mykene, die neusassyrischen [!] Königsinschriften an die Sargonidenzeit im 23. Jh. v. Chr., die Saitenzeit in Ägypten an das Alte, Mittlere und Neue Reich und zuletzt noch die Aeneis an Troja.« (Vgl. auch das Kapitel Geschichte und Geschichtskultur). 1262 GW XVI, 174 f. 1263 Jaspers 1949, 19. Vgl. auch das Jaspers-Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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der Welt«1264, die im Industriezeitalter ihren Abschluß fand; die »stahlharten Gehäuse« der Kathedralen des Kapitals bilden den sozusagen sinnfälligen Ausdruck dieser Vorgänge. Magische Formen der Heilssuche sind es nach Weber, die sowohl die hebräische als auch die griechische Manifestation des neuartigen Rationalismus der Eisenzeit gemeinsam negieren – ergo die irrational-neurotischen Verzerrungen von Religion, die Müller-Karpe zufolge nicht vor der Jungsteinzeit erstmals auftraten. Der eigentliche Impuls für die rationalistische Entzauberung der Welt wäre demnach also das Bedürfnis, neurotische Entstellungen, ›Symptome‹ aufzulösen und folgte strukturell dem gleichen Prinzip wie der Wunsch nach Heilung beim zur Analyse entschlossenen Neurotiker. Die oben wiederholt formulierte These eines sich über die Epochen kultureller Entwicklung schrittweise erhöhenden Aggressionsniveaus und Schuldgefühls beinhaltet letztlich auch die Theorie einer damit parallel laufenden Schwächung des kulturellen Ichs durch Es und Über-Ich. Der Rationalismus – in anderer Diktion die ›Aufklärung‹ oder auch der ›Fortschritt in der Geistigkeit‹ – hätte entsprechend eine Ich-Erweiterung zum Ziel1265 und richtete sich gegen die das Ich bedrängenden Ansprüche sowohl des Es als auch des ÜberIchs, wie Freud sie im Abriß der Psychoanalyse beschreibt1266. Wenn also auch der Monotheismus in letzter Konsequenz auf dem Bestreben einer Entmachtung nicht nur des Es, sondern ebenso des das Ich drangsalierenden Über-Ichs beruht, könnte dies – neben der Gefühlsambivalenz des Sohnes dem Vater gegenüber – die ihm inhärente »theoklastische[…] Gewalt« erklären helfen, die sich am Ende gegen Gott selber wendet; denn »[n]icht nur die negative Theologie, sondern sogar der Gottesmord liegen in der Konsequenz eines Fortschritts in der Geistigkeit«1267. Es mag an der im Vergleich zu Israel relativen geographischen Isoliertheit Griechenlands liegen, daß sich der Rationalismus hier in anderer Gestalt äußert; denn eine Kultur, die sich nicht dauerhaft den Bedrängungen durch angrenzende Hochkulturen ausgesetzt sieht, benötigt möglicherweise keinen allmächtigen 1264 Weber 1920a, 94 f. (Hervorhebung im Original) sowie das Weber-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1265 Vgl. das Schelling-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1266 GW XVII, 103. Vgl. außerdem das Hegel-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1267 Assmann 2003, 134. Dieser Gottesmord hat wiederum Traumatisierungen zur Folge. Nach Assmann fußt »[d]as Trauma des Monotheismus« nicht, wie von Freud (GW XVI, 196 f.) angenommen, »auf einem zweifachen Vatermord, zuerst am Urvater, dann an Mose, sondern an [sic!] einem zweifachen Gottesmord, zuerst an den ›heidnischen‹ Göttern und dann an dem Gott des Monotheismus selbst« (ebd.). »Die patri-ödipale Verschärfung der jüdischen Vaterreligion ist die psychische Bedingung für den Fortschritt in der Geistigkeit« (Assmann 2003, 124), welcher seinerseits eine »Weltentfremdung« beinhaltet, die sich im Bilderverbot manifestiert (Assmann 2003, 137). »Mit dem Bilderverbot kommt zum ersten Mal die Unterscheidung von wahr und falsch in die Götterwelt und damit auch die Unterscheidung von Vernunft und Wahnsinn in die Religion.« (ebd. 142)
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Schutzgott und bildet folglich auch keinen Monotheismus aus. Auch Jaspers betrachtet die Achsenzeit zwar als globales Phänomen, sieht aber dennoch qualitative Unterschiede zwischen den Entwicklungen in Asien auf der einen und dem Abendland auf der anderen Seite. Der Westen habe im Gegensatz zu China und Indien »die Entschiedenheit der Gliederung« seiner Historie und »die Klarheit der Gegensätze in sich«, u. a. »die Polarität von Orient und Okzident nicht nur in Unterscheidung seiner selbst von dem Anderen, das außerhalb steht, sondern trägt die Polarität in sich selbst«; er habe »Bruch und Sprung nicht gescheut« und »die Radikalität in die Welt gebracht, wie es in diesem Umfang weder in China noch in Indien geschehen ist«1268. Jaspers nennt als Gründe für die spezifischen Eigenheiten der abendländischen Kultur u. a. die geographischklimatische »Mannigfaltigkeit« des Kontinents mit seiner ausgeprägten Unterteilung in Halbinseln und Inseln, mit dem Mittelmeerklima und dem sich davon unterscheidenden Klima der nordalpinen Gebiete; »die Idee der politischen Freiheit«, wie sie zuerst, in dieser Form weltweit einzigartig, in Griechenland entstand; die »Rationalität«, die ebenfalls schon in griechischer Zeit eine weit größere »Konsequenz« besaß als die des Orients und zugleich in dieser Radikalität auch ihre Grenzen deutlicher vor Augen führt usf. »Die bewegenden Kräfte der unabsehbaren abendländischen Dynamik« entspringen nach Jaspers aus »den ›Ausnahmen‹, die im Abendland das Allgemeine durchbrechen«, das somit nie zu dogmatischer Härte erstarre. Dies sei die Ursache schließlich für »die ständige Unruhe des Abendlandes« und »seine Unfähigkeit, in einer Vollendung zufrieden zu sein«1269. Christopher Hallpike seinerseits führt zentrale spezifische Charakteristika der europäischen Kultur zurück auf ihre indoeuropäischen Wurzeln, zu denen er u. a. die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft in Priester, Krieger und Bauern, die besondere Bedeutung der Versammlung für die politische Entscheidungsfindung und protofeudale Strukturen zwischen Anführern und Gefolgsleuten zählt1270. Spätestens seit der Bronzezeit wurde Europa kulturell zunehmend indoeuropäisiert, es erscheint daher durchaus 1268 Jaspers 1949, 83. Siehe hierzu auch Nietzsche, der von sich in der dritten Person behauptet, die »Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele« sei »eines der großen Räthsel, von dem N sich […] angezogen fühlte. Nietzsche bemühte sich im Grunde um nichts als um zu errathen, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte: der dionysische Grieche nöthig hatte, apollinisch zu werden, das heißt: seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maaß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, sowenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg…« (Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888, Nietzsche 1988 m, 225). 1269 Jaspers 1949, 87 – 92 (Hervorhebungen im Original). 1270 Hallpike 1988, 329 f.
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plausibel, die Ursachen für die Eigenheiten der abendländischen Kultur zumindest teilweise bei den Indoeuropäern zu suchen, wenngleich – wie das Beispiel des ebenfalls unter indoeuropäischem Kultureinfluß stehende Indien zeigt – auch noch andere, vor allem die von Jaspers genannten, Faktoren ausschlaggebend gewesen sein müssen. Die von Jaspers angesprochene historische Dynamik des Abendlandes, die klare Gliederung des Kontinuums, tritt besonders deutlich hervor in den aufeinanderfolgenden künstlerischen Stilepochen. Der Kunsthistoriker und Dilthey-Schüler Richard Hamann interpretierte den Dreischritt von griechischer Archaik, Klassik und Hellenismus als prototypische Ausformung eines dialektischen Entwicklungsmusters, das der abendländischen Stilentfaltung auch in späteren Zeiten noch zugrunde liegt1271. Diese auffällige, im ersten vorchristlichen Jahrtausend entstehende Eigenheit europäischer Stilkunde mag im Zusammenhang stehen mit dem sich zeitgleich herausbildenden abendländischen Rationalismus, als dessen Ziel oben eine Ich-Erweiterung angenommen wurde. Der Vorgang der Ich-Erweiterung unterliegt in der Analyse einer immanenten Dialektik, die Freud als eine abwechselnde Gegnerschaft von Unbewußtem und Ich gegen den vom Analytiker unterstützten Drang zur Aufklärung schildert1272. Zunächst ist es ein realitätszugewandter Ich-Anteil, der ein Interesse an der Zurückdrängung ich-fremder Mächte und an der Ich-Stärkung bekundet. Im Laufe der Aufklärungsarbeit aber reagiert das Ich auf die Veränderung des seelischen Zustands mit einem Widerstand, der auf zum Schutz vor dem Eindringen aus dem Es stammender unwillkommener Elemente aufgerichteten »Gegenbesetzungen« beruht. An diesem Punkt drehe sich, so Freud, »die Parteibildung gewissermaßen [um], denn das Ich sträubt sich gegen unsere Anregung, das Unbewusste aber, sonst unser Gegner, leistet uns Hilfe, denn es hat einen natürlichen ›Auftrieb‹, es verlangt nichts so sehr, als über die ihm gesetzten Grenzen ins Ich und bis zum Bewusstsein vorzudringen«1273. Weder Ich noch Unbewußtes können aus diesem Konflikt »ohne qualitative Veränderung […] hervorgehen«; zu dem Widerstand des Ichs treten noch die vom Über-Ich und vom Es herrührenden Widerstände: »Verlängerung des Leidens aus Schuldgefühl und Verkehrung des Triebs zur Selbsterhaltung in einen zur Selbstzerstörung«1274. Die Überwindung all dieser Widerstände ist schließlich aber der Unterpfand des therapeutischen Erfolgs, id est der Stärkung und ›Er1271 Hamann 1952. 1272 GW XVII, 103 – 105. Den »dialektische[n] Zug in der psychoanalytischen Veränderungskonzeption« hat vor allem Gottfried Fischer herausgearbeitet (Fischer 1989, zur Interpretation von Freuds hier zitierter idealtypischer Beschreibung des psychoanalytischen Prozesses besonders 20 – 30). 1273 GW XVII, 104 f. 1274 Fischer 1989, 23 (unter Bezugnahme auf GW XVII, 105 f.).
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weiterung‹ des Ichs. Wenn die Vermutung richtig ist, daß der jeweilige ›Zeitgeist‹ einer Epoche nichts anderes als die Summe aus dem jeweils in einer bestimmten Zeit Verdrängten und Wiederbewußtgemachten darstellt, so bestünde Anlaß zu der schon im Kapitel über Hegel formulierten Annahme, daß kultureller Wandel strukturell den gleichen Prinzipien unterworfen wäre, wie Freud sie für den Prozeß der psychischen Veränderung beschreibt1275. Die Dialektik seelischer Veränderung könnte für das Verständnis der Dialektik historischer Veränderung folglich von entscheidendem Nutzen sein. Der für die abendländische Kulturgeschichte einigermaßen kennzeichnende Wechsel zwischen klassizistischen, eher ›weltzugewandten‹ und nicht-klassizistischen, eher weltabgewandt-›mystischen‹ Zeitaltern spiegelt somit vielleicht den genannten dynamischen psychischen Prozeß mit seinem Kampf zwischen Ich und Es wider ; die Dialektik der Veränderung vollzöge sich dann nach einem bestimmten idealtypischen, sich jeweils auf einer anderen Ebene wiederholenden Schema, das im griechischen Altertum mit dem Dreischritt aus Archaik, Klassik und Hellenismus seine prototypische Gestalt gefunden hat1276. Auf geistig-literarischem Gebiet schließlich manifestiert sich in den griechischen Tragödien Gottfried Fischer zufolge eine Auseinandersetzung mit »transgenerationaler Weitergabe von Traumatisierung«. Die die Menschen für ihre innerfamiliären Morde und Normverletzungen und ihre Hybris strafenden Götter repräsentieren dabei »ein archaisch rächendes Über-Ich«. In der Sage von Orestes aber, der »den schwersten Tabubruch der Antike, Muttermord, begangen hat«, kündigt sich eine Veränderung an, welche »den Zwang zur transgenerationalen Fortsetzung von Verbrechen und Trauma unterbricht:« Orestes wird freigesprochen, heiratet und zeugt einen Sohn, »dessen Name soviel bedeutet wie ›der die Schuld bezahlt hat‹«. Endlich Sophokles’ Drama über Ödipus, in welchem die transgenerationalen Konflikte in einer Person zusammengefaßt und somit zu einem »intrapersonalen Konflikt« verdichtet sind, bedeutet den eigentlichen Paradigmawechsel: In der sich selbst erforschenden und bestrafenden Figur des Ödipus steigt das erwachende Bewußtsein »der tragischen, transgenerationalen Verstrickung gleichsam aus einem Meer unbewusster Weitergabe von Normverletzung und Trauma auf«, Ödipus wird so zur »Symbolfigur der griechischen Aufklärung« und nicht zuletzt des »Übergang[s] vom patriarchalen Feudalismus zur in Athen verwirklichten ersten europäischen Demokratie«1277. Freuds Vermutung, »daß ein wachsendes Schuldbewußtsein« 1275 Freud selbst nimmt solche Analogien für die Geschichte des Monotheismus im antiken Israel an (u. a. GW XVI, 201 f.). 1276 Der Trennung des logos vom Mythos, die in der Frühzeit der griechischen Geschichte erfolgt, entspricht dabei möglicherweise die von Freud als erster Schritt der Ich-Stärkung genannte »Erweiterung seiner Selbsterkenntnis« (GW XVII, 103). 1277 Fischer 2005, 151 – 154. Freud identifiziert den Helden des griechischen Dramas grund-
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sich nicht nur der Israeliten, sondern »der ganzen damaligen Kulturwelt bemächtigt hatte«1278, wird nicht zuletzt durch den beschriebenen Bewußtseinssprung bestätigt1279. Sittengeschichtlich ablesbar wird das gesteigerte Schuldbewußtsein aber auch an dem nachweislich stärker werdenden Triebverzicht, der besonders augenfällig wird im Umgang der altjüdischen, der griechischen und der römischen Kultur mit dem Phänomen der Homosexualität1280. Nach Ödipus ist es der aus »einer Tradition des hellenistischen Judentums« sätzlich mit dem sich gegen den Vater erhebenden und ihn schließlich tötenden Heroen; die Passionsspiele des Mittelalters deutet er als Wiederaufnahme dieses antiken Heldendramas (GW XVI, 193). 1278 GW XVI, 192. »Schuldbewußtsein« hier explizit verstanden als Bewußtsein von Schuld, nicht als »unbewußtes Schuldgefühl« (zu den Unterschieden GW XIV, 494). 1279 Freuds Vermutung zustimmend auch Assmann 2000, 138. 1280 Während das (in seiner ersten vollständig überlieferten Version) ungefähr um 1700 v. Chr. aufgezeichnete Gilgamesch-Epos noch als frühes vorderorientalisches Beispiel für die Schilderung einer gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehung zwischen dem Titelhelden und dem »wilden Mann« Enkidu gelten kann, findet ein Jahrtausend später im Judentum bereits eine Verdammung homosexueller Handlungen statt (Aldrich, Robert, 2007a: Die Geschichte der Homosexualität. In: Ders. (Hg.), 2007: Gleich und anders. Eine globale Geschichte der Homosexualität. Übersetzt von Benjamin Schwarz. Hamburg, 7 – 27 (hier : 7)). Die zeitgleiche griechische Kultur aber akzeptierte Kenneth Dover zufolge – und dies, wie er betont, in deutlichem Gegensatz zu der heutigen, durch Christen- und letztlich Judentum geprägten –, »daß ein und dieselbe Person homo- und heterosexuelle Neigungen verspüren kann« und verneinte die Möglichkeit, »daß eine Harmonisierung dieser gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten auftretenden Strebungen dem Individuum selbst oder der Gesellschaft zum Problem werden könnte« (Dover, Kenneth J., 1983: Homosexualität in der griechischen Antike. Übersetzt von Susan Worcester. München, 11). Für die abendländische Antike muß daher von einer grundlegenden Bisexualität als kulturellem Paradigma ausgegangen werden, wenngleich es schon bei den Römern zu deutlichen Einschränkungen kam: Galten sexuelle Beziehungen zwischen freigeborenen Bürgern in Griechenland als legitim, so war selbiges »in Roman terms […] stuprum; it was a disgraceful, illicit behavior« (Williams, Craig A., 1999: Roman homosexuality. Ideologies of masculinity in classical antiquity. New York/Oxford, 62). Meyer-Zwiffelhoffer deutet die römischen Moralvorstellungen als Ergebnis einer ideologischen Verknüpfung von »Machtpositionen« des täglichen Lebens mit jenen beim Geschlechtsakt: »Für einen römischen Mann ist die sexuelle Beziehung eine Herrschaftsbeziehung gegenüber Sklaven […], gegenüber Freigelassenen und der Ehefrau eine Machtbeziehung […]. Die zentrale Differenz, die das gesamte Geschlechtsleben bestimmt […], ist deshalb die zwischen Herrschaft und Unterwerfung, Macht und Ohnmacht, Aktivität und Passivität. Diese Differenz ist für die römische Mentalität bedeutsamer als die Geschlechterdifferenz« (Meyer-Zwiffelhoffer, Eckhard, 1995: Im Zeichen des Phallus. Die Ordnung des Geschlechtslebens im antiken Rom. (Historische Studien, 15). Frankfurt/M./New York, 71, ähnlich auch Hupperts, Charles, 2007: Homosexualität in der Antike. In: Aldrich 2007, 29 – 55 (hier : 49)). Ein Dekret der Doppelkaiser Constantius II. und Constans I. aus dem Jahre 342 schließlich stellte passive Homosexualität unter Strafe; zwei Jahrhunderte später führte Justinian die Todesstrafe für jegliche Form gleichgeschlechtlicher Handlungen ein (Hupperts 2007, 55). Ein weiteres Beispiel für einen zunehmenden, gesetzlich festgeschriebenen Triebverzicht unabhängig von Fragen der Homosexualität bildet im übrigen die augusteische Ehegesetzgebung.
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stammende1281 und damit gewissermaßen beide Kulturen miteinander synthetisierende Christus, in dem sich dieses Bewußtsein der Schuld zur Überzeugung von der Notwendigkeit der Selbstopferung steigert. Die damit beabsichtigte »Versöhnung des Vatergottes« mündete, wie Freud schreibt, in Wahrheit »in dessen Entthronung und Beseitigung«; »das Christentum wurde eine Sohnesreligion«1282. Dieses Ereignis wurde für das Verständnis des Okzidents in den Worten Jaspers’ zur »Achse der Geschichte«1283. Man könnte die abendländische folglich analog auch als Sohneskultur bezeichnen. Daß das Christentum entgegen Freuds Annahme von einer Regression gegenüber dem Judentum in geistigen Dingen gerade durch das Prinzip des Fortschritts in der Geistigkeit geprägt war, da der Glaube hier noch über dem Buchstaben stand und die »religiöse[…] Spiritualisierung« des Christentums eine Radikalisierung des Geistprinzips bedeutete, betont im übrigen Jan Assmann1284. Abgesehen von den hier geschilderten historischen Entwicklungen, zu denen neben der Durchsetzung des Monotheismus in Israel ebenfalls noch die Entstehung der ersten, vom Abendland ausgehenden Weltreiche zu zählen wäre, bezeichnet die Eisenzeit auch im nordalpinen Europa einen kulturellen Bruch1285 : Archäologisch faßbar als Übergang von der Urnenfelder- zur Hallstattkultur1286, nimmt man für diese Epoche auch die Herausbildung der keltischen und später der germanischen Kultur an1287. Eine massive Klimaverände1281 Winkler 2009, 29 (Hervorhebung im Original). 1282 GW XVI, 194. Wenn mittelalterliche Geschichtstheologen wie Joachim von Fiore die Zeit seit dem Erscheinen Jesu im Unterschied zum vorchristlichen Zeitalter des Vaters nun als Zeitalter des Sohnes interpretieren, steckt darin psychohistorisch gesehen also eine gewisse Wahrheit. Zementiert wird der Sieg des Sohnes auf dem Ersten Konzil von Nicäa im Jahre 325 n. Chr., wo von den Gegnern des Arianismus das nicänische Glaubenbekenntnis formuliert und damit die Gottgleichheit anstelle der bloßen Gottähnlichkeit Christi postuliert wird. 1283 Jaspers 1949, 84. 1284 Assmann 2003, 139 – 143 (ferner ebd., 142: »In der Spätantike war die gesamte Mittelmeerwelt von dieser Sehnsucht nach Vergeistigung erfaßt und viele dieser Strömungen setzen sich auf das wirkungsvollste in die Geistesgeschichte des Abendlandes hinein fort.«). 1285 Zum »religionsgeschichtlichen Bruch« Müller-Karpe 2005, 48. Müller-Karpe nimmt ferner sowohl für die Bronze- als auch für die Eisenzeit Kulturkontakte zwischen dem nördlichen Europa und den mediterranen Hochkulturen an, die auch in religiöser Hinsicht wichtige Einflüsse gezeitigt hätten (ebd. 46 sowie 56). 1286 Behringer 2007, 82. 1287 Zu den Kelten Demandt, Alexander, 2007: Die Kelten. (Beck’sche Reihe, 2101). München. 6. Aufl., 12 – 16, zu den Germanen Wolfram, Herwig, 2005: Die Germanen. (Beck’sche Reihe, 2004). München. 8., akt. Aufl., 54. Mit der Ausbreitung der keltischen und später auch der germanischen Kultur dürfte es schließlich zur endgültigen Indogermanisierung Europas bis hin nach Britannien gekommen sein (zu den Indogermanisierungsschüben und der möglichen Herkunft der Ur-Indogermanen Gimbutas, Marija, 1994: Das Ende Alteuropas. Der Einfall der Steppennomaden aus Südrußland und die
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rung um 800 v. Chr. führte höchstwahrscheinlich zu bedeutenden Wanderungsbewegungen und einer Zunahme kriegerischer Auseinandersetzungen1288. Der germanische Mythos vom Wanenkampf mag ein Reflex dieser historischen Veränderungen am Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit sein1289. Die germanische Kultur, um 500 v. Chr. vermutlich noch auf das Gebiet der archäologischen Jastorfkultur im heutigen Norddeutschland beschränkt, breitete sich in den folgenden Jahrhunderten bis zur Rheinmündung im Westen und zur Weichsel im Osten, im Norden nach Mittelskandinavien und im Süden in die ehemals keltischen Siedlungsbereiche aus1290, so daß bei der Ankunft der Römer kurz vor der Zeitenwende die rechtsrheinischen Territorien weitgehend germanisiert waren. Der Sieg des Arminius über die römischen Legionen verhinderte eine Romanisierung der besagten Gebiete und trug so entscheidend zur späteren Entstehung der westgermanischen Völker bei; die enorme weltgeschichtliche Bedeutung dieses Ereignisses wird u. a. daraus ersichtlich, daß es ohne selbiges wohl auch keine angelsächsische Kultur gegeben hätte, die vor allem im 19. und 20. Jahrhundert die Geschicke der Welt bestimmt hat1291. Der Sieg des Arminius erfolgte übrigens ausgerechnet nur wenige Jahre, nachdem Augustus den Beginn eines neuen goldenen Zeitalters gefeiert hatte – und wirkt damit wie ein Fanal für die Entwicklungen der folgenden Jahrhunderte. Die seit Origenes für die christliche Geschichtstheologie maßgeblich gewordene Erkenntnis der pax romana »als Voraussetzung der weltweiten Verkündigung«1292,
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1290 1291 1292
Indogermanisierung Mitteleuropas. (Innsbrucker Beiträge zu Kulturwissenschaft, Sonderheft 90). Innsbruck). Die »hervorragende Bedeutung« der »indogermanisch begründeten Kulturen« »[f]ür die Achsenzeit und für die folgenden Jahrtausende« hebt Jaspers hervor (1949, 82): »Diese […] haben ein Gemeinsames: Sie haben Heldensage und Epos hervorgebracht, das Tragische entdeckt, gestaltet und gedacht.« Und zu den »nordischen Völkern«: »Mit Entschiedenheit wird jede Spannung zum äußersten getrieben, wird in der Spannung erst eigentlich erfahren, was es mit dem Menschen, mit dem Dasein in der Welt, mit dem Sein selbst auf sich hat, wird die Transzendenz gewiß.« Behringer 2007, 82 – 84. Dieser Mythos kann natürlich auch schon viel älter sein. Grundsätzlich vielversprechend wäre eine Interpretation (indo)germanischer Mythologie aus ethnologischer Sicht. Müller schreibt über das Schicksal des Mythos nach Eroberungen: »Da die Angehörigen der Gründersippe als die Ältestansässigen die Verantwortung für die Fruchtbarkeit der Erde trugen, die Eroberer also auf sie angewiesen waren, wurde der Mythos dahin ergänzt, daß ihr Urahn der Erde entstiegen oder aus ihr erschaffen worden war, der Ahnherr der führenden Schicht dagegen unmittelbar dem Himmel entstammte, das heißt ein Sohn des Himmelsgottes war und seine Nachfahren daher über den ›befruchtenden‹ Regen geboten« (Müller 2005, 74, Hervorhebungen im Original). Dieser Befund ließe sich auf den bei Tacitus erwähnten Gott Tuisto (Tac. Germ. 2) bzw. auf die Göttergeschlechter der Wanen und der Asen anwenden. Wolfram 2005, 54 – 56. Zur welthistorischen Bedeutung der Varusschlacht u. a. auch Demandt, Alexander, 2005: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn …? (Kleine Reihe V& R, 4022). Göttingen. 4., erw. Aufl., 98 – 101. Funkenstein 1965, 31.
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der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Gleichzeitigkeit von augusteischer Friedensepoche und Geburt Christi, enthält zugleich zwei wesentliche Elemente der nun entstehenden christlich-abendländischen Kultur ; eigentlich aber müßte sie um ein drittes Element ergänzt werden: Nicht allein römischer Zivilisation und jüdisch-christlicher Religion verdankt die abendländische Kultur ihre spezifische Eigenart – Hegel läßt der römischen Welt vielmehr die germanische folgen. Diese aber tritt durch das ebenfalls zur Zeit des Augustus stattfindende welthistorische Ereignis ihres Sieges über die Römer erstmals folgenschwer in das Bewußtsein der alten Welt.
3.6
senectus: Die germanische Welt
»Der germanische Geist ist der Geist der neuen Welt, deren Zweck die Realisierung der absoluten Wahrheit als der unendlichen Selbstbestimmung der Freiheit ist…«1293
Eine solche Einschätzung der Germanen, wie sie Hegel hier vornimmt, wird heute, insbesondere nach den nationalsozialistischen Instrumentalisierungen des Germanenmythos, in ihrem Enthusiasmus wohl kaum noch jemand teilen; und dennoch ist auffällig, daß der weitaus größte Teil jener Länder, die bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs »das normative Projekt des Westens« in der Form repräsentativer Demokratien mit mehr oder weniger bedeutenden Einschränkungen erfolgreich verwirklicht hatten, dem germanischen Kulturkreis angehörte1294. Auch der Protestantismus, in dem Max Weber die letzte Stufe und Vollendung des okzidentalen Rationalismus erblickte, ist ein religions- und kulturgeschichtliches Phänomen, das weitgehend auf die germanischen Länder beschränkt blieb. Freud nennt die Reformation den bemerkenswertesten Fall einer Wiederbelebung früherer Spaltung, »als sie die Grenzlinie zwischen dem einst römisch gewesenen und dem unabhängig gebliebenen Germanien nach einem Intervall von mehr als einem Jahrtausend wieder zum Vorschein brach1293 Hegel 1986, 413. Dort auch die hier wiederaufgegriffene Kapitelüberschrift Die germanische Welt. 1294 Winkler nennt die USA, Großbritannien, die skandinavischen Staaten, die Schweiz, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, die britischen Dominions Kanada, Australien und Neuseeland sowie Frankreich, Spanien und Italien. Lediglich die drei letztgenannten sind (zusammen mit dem wallonischen Teil Belgiens und den nicht-deutschsprachigen Gebieten der Schweiz) nicht dem germanischen Kulturkreis im engeren Sinne zuzurechnen (allerdings fanden im Frühmittelalter auch auf ihrem Boden germanische Reichsbildungen statt). Im Deutschen Reich übrigens war zwar das allgemeine gleiche Männerwahlrecht schon sehr viel früher als beispielsweise in Großbritannien oder den Niederlanden eingeführt worden. »Eine repräsentative Demokratie aber war das kaiserliche Deutschland nicht: Die Reichsleitung war nicht dem Reichstag, sondern dem Kaiser verantwortlich.« (Winkler 2009, 1189 f.)
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te«1295. Es ist nicht auszuschließen, daß das kulturelle Gedächtnis tatsächlich entscheidenden Einfluß auf derartige historische Entwicklungen ausgeübt hat; spätestens die seit dem 15. Jahrhundert durch die Humanisten wiederbelebte Erinnerungsspur der römischen Germanensicht, die vor allem mit der Entdeckung und Rezeption der entsprechenden Schriften des Tacitus einherging, diente sowohl südlich als auch insbesondere nördlich der Alpen zur Konstruktion von Identitäten1296. Wie die Beispiele der Hutten’schen Arminius1295 GW XVI, 137 f. 1296 Kloft, Hans, 2003: Die Idee einer deutschen Nation zu Beginn der frühen Neuzeit. Überlegungen zur Germania des Tacitus und zum Arminius Ulrichs von Hutten. In: Wiegels, Rainer/Woesler, Winfried (Hgg.), 2003: Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur. Paderborn u. a. 3., aktualisierte und erw. Aufl., 197 – 210; Roloff, HansGert, 2003: Der Arminius des Ulrich von Hutten. In: Wiegels/Woesler 2003, 211 – 238; Rid¦, Jacques, 2003: Arminius in der Sicht der deutschen Reformatoren. In: Wiegels/ Woesler 2003, 239 – 248. Die neuzeitliche Tacitus-Rezeption markiert durch die weitgehende Gleichsetzung von ›germanisch‹ und ›deutsch‹ den Beginn eines neuen nationalen Selbstverständnisses; kein Text hat das sich entwickelnde deutsche Nationalgefühl so maßgeblich beeinflußt wie seine Germania (Münkler, Herfried, 2009: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin, 150 unter Bezugnahme auf Manfred Fuhrmann). Die durch die moderne Forschung (exemplarisch vor allem Wenskus, Reinhard, 1961: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes. Köln/Graz) widerlegte Einschätzung des römischen Autors, die Germanen seien in ihren Gebieten Ureinwohner und ein überdies unvermischtes Ethnos (Tac. Germ. 2), begründete nach der Adaption durch die »Rassetheorien des 19. und 20. Jahrhunderts« einen »Fluch, an dessen Folgen Deutschland bis heute leidet« (Münkler 2009, 153; weitere problematische Identitätskonstruktionen unter dem Eindruck der taciteischen Schrift sind nach Münkler die Konfrontation von deutscher Treue auf der einen mit welscher ›Tücke‹ auf der anderen Seite sowie die Rechtfertigung des deutschen Militarismus durch den Verweis auf die von Tacitus geschilderte Tatsache, daß schon der junge Germane durch die Initiation nicht wie der Römer zum Bürger, sondern zum Krieger wurde. Ebd. 155 – 157). Das Interesse an ethnischer Unvermischtheit und der Reinheit des Blutes darf man psychologisch sicher als Kompensationsstrategie interpretieren: Die Identität des Blutes kann einem schlechterdings niemand nehmen, sie ist also – scheinbar – der gesuchte unverbrüchliche Ausweis von Eigenem; wie beim Individuum aber ist freilich nicht das Blut, sondern kulturelle Prägung – oder, anders ausgedrückt, die Erinnerungen – für die Identitätsbildung (bzw. für die Ausbildung einer Ipseität im Sinne Ricœurs, vgl. das Ricœur-Kapitel der vorliegenden Arbeit) von sehr viel entscheidenderer Bedeutung. Auch die Nation wäre somit eigentlich als Erinnerungs-, nicht als Abstammungsgemeinschaft zu begreifen. Die große Bedeutung der Germania für das deutsche nationale Selbstverständnis ist m. E. aus psychologischer Sicht daher ihrerseits bereits ein Problem: Da schreibt ein – wenngleich in vielem wohlwollender – Vertreter der Feinde über die Germanen, der Blick ist notgedrungen der des Fremden. Wer den Blick des Fremden auf sich adaptiert für die versuchte Konstruktion eigener Identität, wird mit diesem Versuch notgedrungen scheitern, wird nie das erreichen, was Ricœur narrative Identität bzw. Ipseität nannte. Und diese Problematik ist um so virulenter in jener geographischen Zone, die über Jahrhunderte der Kontaktbereich zwischen hochstehender mediterraner Zivilisation und den sogenannten ›Barbaren‹ gewesen ist (in weiter entlegenen Gebieten wie etwa Skandinavien ist die Problematik ungleich weniger ausgeprägt). Hier also treffen ein mindestens latent immer vorhanden gewesenes Gefühl massiver kultureller Unterlegenheit und, wenn man so möchte,
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›Minderwertigkeit‹, sowie das Nichtvorhandensein eigener Erzählungen über die eigenen kulturellen Ursprünge aufeinander – und verbinden sich zu einer schwierigen und schicksalsvollen Mischung. Notwendig wurde oben genannte Kompensationsstrategie also vermutlich durch eine zu Beginn der Neuzeit wieder verstärkt empfundene Problematik, die das Finden einer deutschen Identität seit jeher in erheblichem Maße erschwert haben dürfte: Zu den beschriebenen Faktoren treten zusätzlich der relative Mangel an natürlichen Grenzen, die große landschaftliche und nicht zuletzt kulturelle Diversität sowie die hieraus resultierende Schwierigkeit der Integration von Einheiten, die eigenem Selbstverständnis zufolge gar nicht zusammengehören (so beispielsweise Friesen und Bayern, Sachsen und Schwaben etc. Zu Freuds Konzept vom »Narzißmus der kleinen Differenzen« GW XIV, 474 sowie GW XIII, 111. Zur Schwierigkeit der Identität und Integration, der Ausbildung der Nation in Deutschland auch Elias 1969b, 24 f., 129 – 131, 137 f.). Bis weit ins 11. Jahrhundert hinein war die deutsche Historiographie so auch stammesgeschichtlich orientiert, und erst anderthalb Jahrhunderte nach dem Ende der Karolingerherrschaft »wurde ›deutsche‹ Geschichte ein jederzeit darstellbarer Gegenstand« (Schmale 1993, 135). Es steht zu vermuten, daß die sich hier abzeichnende Ausbildung einer ›deutschen‹ Identität sich unter dem maßgeblichen Einfluß der integrierenden Kraft der Zentralgewalt, des Kaisertums, vollzog (vgl. Freuds Ausführungen zur identitätsstiftenden Wirkung von Führerpersönlichkeiten in Massenpsychologie und IchAnalyse. Ein besonders prominentes Beispiel der psychologischen Wirkung der Zentralgewalt auf die Geschichtsschreibung bilden im übrigen Weltchronik und Gesta Frederici des Otto von Freising). Nach der Schwächung der Zentralgewalt im Spätmittelalter entstanden jedoch neue Herausforderungen der Identitätsbildung, auf die u. a. der Humanismus mit der geschilderten Tacitus-Rezeption reagierte. Der Verlust der politischen Einheit, der psychologisch mit dem Machtverlust des Kaisers identifiziert worden sein mag, hat sicher zu jener Lesart der deutschen Geschichte beigetragen, die letztere als eine solche des Verfalls kennzeichnet – im Grunde der Verfall einer (Herrscher)Familie, wie sie später die Mann’schen Buddenbrooks prototypisch ausformulieren: Immer wieder auftretende Zeiten des Glanzes und der Prosperität können den Fels der Danielvision nicht aufhalten; auf den Verfall folgt im 20. Jahrhundert die Apokalypse. Die mit dem Kaisertum verbundene gewaltige ideengeschichtliche Hypothek, bestehen zu müssen, damit nicht Antichrist und Letzte Dinge erscheinen (Winkler 2009, 47), ist dabei eine fast unlösbare Aufgabe, ungleich schwieriger als die entsprechende Aufgabe anderer Nationen. Das deutsch-römische Kaisertum besitzt deswegen – obwohl der westliche Kaisertitel nie mehr war als »eine protokollarische Würde« (Winkler 2009, 43) – seit jeher eine hohe ideelle Bedeutung, im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern, wo dem Herrscher eine sehr viel pragmatischer wahrgenommene Aufgabe zukommt (es ist auffällig, daß in diesen westlichen Ländern die Semantik des jeweiligen Wortes für ›Kaiser‹ aufgrund der Ableitung vom lateinischen ›imperator‹ eine transparente ist, während sich das deutsche Wort ebenso wie das russische ›Zar‹ dem Cognomen ›Caesar‹ verdankt, dessen Etymologie und Bedeutung nicht geklärt sind). Überdies ist das Kaisertum aber als zumindest nominell universale Macht nicht eigentlich ›deutsch‹, was der Herausbildung einer den westeuropäischen Nationen vergleichbaren Identität nicht förderlich gewesen ist – sondern wohl eher jener Eigenschaft, die Thomas Mann in seiner 1945 gehaltenen Rede Deutschland und die Deutschen als Dünkel charakterisiert (Mann, Thomas, 1992: Deutschland und die Deutschen (1945). Mit einem Essay von Hans Mayer. (EVA Reden, 1). Hamburg, 9. Siehe auch Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete, 1967: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München, 16: »Diese deutsche Art, das schier Unerreichbare kompromißlos so zu lieben, daß das Erreichbare darüber verlorengeht, wiederholt sich in der deutschen Geschichte seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.«). Dies und die Anfälligkeit für politisches ›Führer‹tum wären demnach mit der
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Dichtung und der emotionalen Würdigung des Arminius durch Luther in seinen Tischreden zeigen, wurde dabei besonders dem germanischen Freiheitshelden Beachtung zuteil; ihm kam gewissermaßen die Bedeutung einer »Symbolfigur« des germanisch-deutschen »Antiromanismus« zu1297. Der Gegensatz von Germanien bzw. Deutschland auf der einen und Rom – als Sitz zunächst des Kaisers, dann des Papstes – auf der anderen Seite erhielt also am Beginn der Neuzeit in einer Epoche der verstärkten Ausbildung von ›nationaler‹ Identität Gewicht, und dieser Abgrenzung ging schließlich auch die von Freud genannte Wiederbelebung einer früheren Trennung in geographisch-konfessioneller Hinsicht parallel. Allerdings unterschied schon das Mittelalter die linksrheinischen Gebiete des Deutschen Reiches von denjenigen rechts des Rheins, indem es erstere im Gegensatz zu letzteren als ›Gallia‹ bezeichnete und damit Caesars im Grunde willkürliche Grenzziehung wiederholte, so daß das Bewußtsein kultureller Trennung hier möglicherweise schon vor Humanismus und Reformation vorhanden war. Zweifellos gewinnt die abendländische Dialektik seit dem ersten nachchristlichen Jahrtausend einen wesentlichen Teil ihrer Dynamik nicht zuletzt aus dem Gegen- und Miteinander von unter dem gemeinsamen Dach des Christentums zusammengefaßter germanischer und romanischer Welt1298. Der exemplarische Konflikt zwischen Luther und Rom – in dem Luther wohl selbst eine psychologischen Bedeutung des Kaisers in Zusammenhang zu bringen, das sogenannte ›Leiden an Deutschland‹ als Summe eines multikausalen Unbehagens scheint außerdem schon hier vorgezeichnet. Das Problem der »verspätete[n] Nation« (Plessner, Helmuth, 1959: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart. 2, erw. Aufl.) wäre nicht Ursache, sondern ein weiteres Symptom des beschriebenen deutschen Dilemmas, das seine eigentliche Ursache in der unvollständigen Bewältigung der Herausforderung der Ausbildung von Ipseität besitzt. Der Deutsche leidet demnach – wie der Neurotiker – an Erinnerungen (zur Verbindung Identität und Geschichte u. a. Lübbe 1993, 26). 1297 Rid¦ 2003, 239. Luther äußert in seinen Tischreden über Arminius: »Wenn ich ein poet wer, so wolt ich den celebriren. Ich hab in von hertzen lib.« Zit. ebd. 1298 Hierzu auch Jaspers 1949, 83. Jaspers zufolge tut sich erst in der Spätantike ein »Abgrund« zwischen den Kulturen auf, nach einer Epoche »vergleichsweise freien Verkehrs der Kulturen im Altertum« (ebd. 85). Die zentralen Unterschiede zwischen romanischer und germanischer Welt ließen sich vermutlich am ehesten – jedenfalls für die Gegenwart – mit ethnopsychoanalytischen Mitteln analysieren; Anne Parsons hat selbiges für »süditalienische Kulturkomplexe« im Vergleich zur protestantischen Welt geleistet (Parsons 1974, besonders 250 f.). Das Hegel’sche germanische Zeitalter, das vor dem Investiturstreit einen ersten Gipfel erlebte in der Gleichzeitigkeit zweier germanischer Großreiche – das Konrads II. bzw. Heinrichs III. und das nordische Großreich Knuts des Großen – läßt sich im übrigen zusätzlich unterteilen in eine ungefähr vom Investiturstreit bis zur Vernichtung der Armada 1588 dauernde und die Renaissance umfassende romanische Epoche, bevor die germanisch-protestantische Welt einen erneuten Aufschwung erfuhr ; der Sieg der Engländer über die Armada ist in puncto Planung und Durchführung überdies selbst ein Paradebeispiel für den siegreichen protestantischen Rationalismus.
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Parallele sah zum Kampf des Arminius gegen Rom1299 – erneuert das Prinzip »Individualität versus Institution«, das laut Winkler als »Grundthema des Westens […] eine Geschichte [hat], die bis weit ins Mittelalter zurückreicht«1300. Psychoanalytisch ließe sich dieses Prinzip am ehesten als ödipales interpretieren; der in Rom residierende ›Heilige Vater‹ repräsentierte dabei zumindest für die Epoche der Reformation das väterliche Prinzip, so wie die römische Kultur für die Germanen grundsätzlich in einer Art von väterlichem Verhältnis gestanden haben mag1301. Den ›Vater‹ zu beerben und sich gleichzeitig von ihm zu emanzipieren wäre jedenfalls eine Formel, durch die sich nicht nur die Beziehung der germanischen zur romanischen Welt, sondern auch des Sohnes zum Vater charakterisieren ließe. Der ›Protestantismus‹ im weitesten Sinne hätte damit eventuell schon im Aufeinandertreffen beider Kulturen seine Wurzel1302. 1299 Rid¦ 2003, 239. 1300 Winkler 2009, 76. 1301 Der ›Heilige Vater‹ ist bemerkenswerterweise der Stellvertreter des Sohnes auf Erden. Die Vater-Sohn-Wechselbeziehung in der patriarchalischen Gesellschaft beschreibt vielleicht am treffendsten Thomas Mann im Kapitel Der Rote des ersten Bandes der Joseph-Tetralogie: »Was aber ebenfalls schwingt, das ist das Wechselverhältnis von Vater und Sohn, so daß nicht immer der Sohn es ist, der den Vater schlachtet, sondern jeden Augenblick die Rolle des Opfers auch dem Sohn zufallen kann, welcher dann umgekehrt durch den Vater geschlachtet wird.« Gott verwehrt es bekanntlich Abraham, seinen Sohn schlachten zu müssen. 1302 Es sei an dieser Stelle die Vermutung ausgesprochen, daß die Germanen die Römer bei deren Ankunft in den germanischen Siedlungsgebieten für Götter oder zumindest übermenschliche Wesen gehalten haben könnten. Klaus E. Müller (2005, 272 Anm. 294) weist darauf hin, daß Eroberer in der Wahrnehmung primordialer Kulturen den »Ahnen« entsprechen, »die auf die Erde zurückkehren, um die verfallende Ordnung wiederherzustellen – eine Erwartung, die dort, wo die Weißen über das Meer kamen, zu den bekannten verhängnisvollen Mißverständnissen führte«. Daß ähnlich wie James Cook von den Bewohnern Hawaiis oder Hernn Cort¦s von den Azteken auch Tiberius von den Elbgermanen für eine Art Gottheit gehalten worden sein könnte, macht übrigens folgender Bericht des Velleius Paterculus deutlich: »Ich kann es mir nicht versagen, so bedeutenden Vorgängen folgendes hinzuzufügen, was man auch immer davon halten mag: Als wir das diesseitige (d. h. westliche) Ufer des genannten Flusses durch ein Lager besetzt hatten und das jenseitige Ufer von den Waffen der feindlichen Jungmannschaft glänzte, die allerdings bei der geringsten Bewegung und beim kleinsten Versuch unserer Schiffe rasch floh, bestieg ein älterer Eingeborener von hohem Wuchs und – wie sein Äußeres zeigte – hoher Würde einen Kahn, der, wie dies bei ihnen üblich ist, aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestand. Er fuhr, dieses Gefährt allein steuernd, bis zur Flußmitte. Dort bat er, man möge ihn ohne Gefahr an das Ufer kommen lassen, das wir besetzt hielten, um den Caesar [ = Tiberius, M.K.] zu sehen. Sein Wunsch wurde ihm erfüllt. Nachdem er mit seinem Kahn angelegt und den Caesar lange schweigend betrachtet hatte, sagte er : ›Unsere jungen Leute sind von Sinnen, daß sie eure Göttlichkeit verehren, wenn ihr abwesend seid, daß sie aber eher eure Waffen fürchten, wenn ihr hier seid, als sich in euren Schutz zu begeben. Ich aber habe heute durch deine wohlwollende Erlaubnis, Caesar, Götter gesehen, von denen ich früher nur gehört hatte. Einen glücklicheren Tag habe ich in meinem Leben weder gewünscht noch erlebt.‹ Ihm wurde erlaubt, die Hand des Caesars zu berühren. Dann bestieg
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Namentlich Franz Borkenau begriff die protestantische Mentalität als neuere Erscheinungsform einer Mentalität, die sich nicht erst in der Neuzeit, sondern bereits in der Völkerwanderung bei den seefahrenden Germanen (und Kelten) gebildet habe. Die »Ich-Form« der germanischen Rede, die sich Borkenau zufolge deutlich vom lateinischen und griechischen Sprachgebrauch abhebe1303, sei der Hinweis auf einen »Individualismus«, der beim Wechsel »von der Landwanderung zur Seewanderung« entstanden sei, da »der Ozean die Bande von Stamm, Sippe und Familie zerreißt« und so bei den Seefahrern zur allgemeinen Aufwertung des seiner Ansicht nach im Stammesleben sonst eine nur zweitrangige Rolle spielenden Gefolgschaftswesens geführt, in der Konsequenz sogar »ein neues stolzes Ich-Bewußtsein« geschaffen habe. Nicht nur die Freiheitsliebe vor allem der Angelsachsen, Iren und Westskandinavier, sondern auch ihre »Tendenz, dem Festland resolut den Rücken zu kehren und ausschließlich nach Westen zu schauen«, lasse sich auf diese Weise erklären. Über den kulturellen Einfluß, den die irische und die angelsächsische Kultur im Frühmittelalter auf die abendländischen Festlandkulturen geübt hätten, sei diese Mentalität auch ins Frankenreich eingedrungen1304 ; »die ›Seele‹, als ständiger Schauplatz der inneren Erfahrung,« stelle für diese Geisteshaltung nunmehr »den Mittelpunkt der Welt« dar, worin auch die Wesensverwandtschaft zum Christentum gründe1305. Borkenau ist nicht der einzige, der zwischen der Gesellschaftsverfassung und dem Ursprung der Freiheit des Individuums eine entscheidende Verbindung sah. »Wenn Rousseau der englischen Repräsentativverfassung nachsagte, sie entstamme dem Feudalsystem, traf er etwas Richtiges:« Vor allem in England ist laut Winkler der stetige Übergang vom Ständewesen zum Repräsentativsystem unverkennbar1306. Marvin Harris nimmt eine (dem von ihm exemplarisch beschriebenen Bunyoro-Königtum ähnelnde) feudale Sozialstruktur schon für die nord- und westeuropäischen Gesellschaften vor der Römerherrschaft an1307. Das römische Imperium allerdings war ein straff organisiertes Reich mit einer gegenüber feudalen Strukturen wesentlich entwickelteren Staatsform. Wenn der mittelalterliche Feudalismus1308, der in bezug auf die römische Reichsverfassung
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er sein Schiffchen wieder und fuhr, sich ständig nach dem Caesar umsehend, ans Ufer zu seinen Leuten zurück.« (Vell. 2, 107. Die hier zitierte Übersetzung stammt aus: Herrmann, Joachim (Hg.), 1988: Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z. Bd. 1: Von Homer bis Plutarch (8. Jh. v. u. Z. bis 1. Jh. u. Z.). (Schriften und Quellen der Alten Welt, 37). Berlin, 271 f.) Borkenau 1984, 167. Borkenau 1984, 223 – 225 (Hervorhebungen im Original). Borkenau 1984, 228. Winkler 2009, 222. Harris 1989, 238. Der spezifische mittelalterlich-okzidentale Feudalismus ist Winkler zufolge hauptsächlich aus der karolingischen Wehrverfassung hervorgegangen (Winkler 2009, 65) – die freilich
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im Prinzip einen Rückschritt bedeutet, auf dem germanischen Feudalismus der vorrömischen Periode aufbaut, besäße Montesquieus Einschätzung, wonach die von ihm in England so bewunderte Gewaltenteilung »in den Wäldern« Germaniens »erfunden« worden sei1309, demnach einen durchaus wahren Kern. Edward Gibbon sprach im selben Jahrhundert sogar davon, daß aus ebenjenen Wäldern »[d]ie zivilisiertesten Nationen des heutigen Europa […] hervorgegangen« seien1310. Auch der eingangs zitierte Hegel stand letztlich in dieser die Beziehungen zwischen dem germanischen Element und gesellschaftlicher Freiheit betonenden Tradition, die in ihrem Kern auf die neuzeitliche Rezeption der Germania des Tacitus zurückgeht. Letzterer, der mit seiner Schrift vor allem der als dekadent empfundenen eigenen Gesellschaft den Spiegel und mit den Germanen ein Ideal ursprünglicher Unverderbtheit vorhalten wollte, stellt nicht nur einen antiken Vorläufer Rousseaus, sondern darüber hinaus möglicherweise auch ein Beispiel für die von Freud angenommene »Unzufriedenheit mit dem jeweiligen Kulturzustand« dar, die später entscheidend »beim Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen […] beteiligt gewesen sein« müsse1311. Schon bei Hesiod und Ovid freilich ließ sich oben die negative Charakterisierung der eigenen Zeit feststellen. Das Christentum »bekennt sich« schließlich »am unverhülltesten« zur Schuld und entdeckt »im Opfertod des einen Sohnes die ausgiebigste Sühne für sie«1312 – in dieser verdichteten Form des Umgangs mit der Schuldproblematik dürfte seine nachhaltige Attraktivität begründet sein. Das aus der Erfahrung einer allenfalls »gebrochenen Kontinuität«1313 zur Antike hervorgegangene und für Europa nach R¦mi Brague grundlegende »Gefühl der Entfremdung und der Minderwertigkeit«1314 mag überdies zu einer Verschärfung des gesellschaftlichen Schuldgefühls beigetragen haben. Vor besondere Herausforderungen stellte die Christianisierung die Germanen, der oben erwähnten Borkenau’schen Analyse der inneren Wesensver-
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ihre Wurzeln zu einem nicht unbedeutenden Teil im germanischen Gefolgschaftswesen gehabt haben dürfte. Montesquieu, Charles Louis de Secondat de, 1994: Vom Geist der Gesetze. Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Kurt Weigand. (Reclams Universal-Bibliothek, 8953). Stuttgart. 2., durchges. Aufl., 229: »Wollte man sich bequemen, das bewundernswerte Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen zu lesen, so würde man daraus ersehen, daß die Engländer die Idee ihrer Staatsregierung von diesen Germanen bezogen haben. Dies herrliche System wurde in den Wäldern erfunden.« (Esprit des lois, 11,6) Gibbon, Edward, 2003: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Übersetzt von Michael Walter und Walter Kumpmann. Bd. 1. München, 271. GW XIV, 445 sowie das Rousseau-Kapitel der vorliegenden Arbeit. GW IX, 185. Auch wenn Freud sich hier auf den Urvatermord bezieht, so ist seine Beschreibung des Christentums in bezug auf ein gesellschaftliches Schuldgefühl dennoch treffend. Winkler 2009, 40 (meine Hervorhebung). Zit. nach Winkler 2009, 41.
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wandtschaft von germanischer und christlicher Geisteshaltung zum Trotz. Die Verchristlichung1315 in den Jahrhunderten vor dem Investiturstreit bedeutete auch die Verdrängung der überlieferten germanischen Identität und möglicherweise eine ähnliche Art von Traumatisierung, wie Assmann sie für die Ägypter durch Echnaton annimmt1316. Die Reliquienverehrung im nordalpinen Raum – der im Gegensatz beispielsweise zu Italien, wo die Apostel an ihren Grabstellen verehrt werden, keinerlei direkten räumlichen Bezug zur christlichen Religion besitzt – könnte man dabei als Kompensationsbildung für die nicht mehr vorhandene Verbindung von Kulturraum und Religion begreifen1317. Der wütende Gott des Alten Testaments hingegen wurde von den Germanen eventuell mit ihrem Hauptgott Wotan identifiziert, dessen Name »etymologisch mit […] Wut […] verwandt« ist1318. Sollte diese Vermutung stimmen, hätte man also auch bei den Germanen im Zuge der Annahme des Christusglaubens mit einer Emanzipation des Sohn-Gottes vom Vater zu rechnen, wobei das zunächst unter germanischen Stämmen verbreitete arianische Bekenntnis eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Herrschaft des Sohnes darstellte. Die geistige Focussierung auf die Schuldthematik aber dürfte nach der Verchristlichung zusammen mit der vermuteten, durch die Verdrängung der heidnisch-germanischen Identität bedingten Traumatisierung jenen Rationalismus begünstigt haben, der seit dem 11. Jahrhundert u. a. zur Liaison von Theologie und Philosophie und zur allmählichen »›geistige[n] Selbst-Säkularisierung des Christentums‹« führte1319. Die »Aufwertung der ratio« in der Scholastik1320 kann man 1315 Hierzu vor allem die Forschungen Gerd Tellenbachs (u. a. Tellenbach, Gerd, 1988: Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert. (Die Kirche in ihrer Geschichte, Lfg. F,1: 2). Göttingen). 1316 Vgl. das Kapitel über Freuds Mose-Essay sowie Assmann 2000, 126 f. Es sei daran erinnert, daß Norddeutschland – das Stammesgebiet der Sachsen – nicht vor dem Ende des 8. Jahrhunderts christianisiert wurde. Allerdings wurden die Nachfahren der spät getauften Sachsen, das Geschlecht der Ottonen, nur hundert Jahre später zu Schutzherren der Kirche. Für Toynbee war die »Standardwellenlänge« sozialer Veränderung ein Zeitraum von drei Generationen (vgl. das entsprechende Kapitel der vorliegenden Arbeit) – dies mag auch für den Vorgang gelten, bei dem aus Heiden gläubige Christen werden. Im Gegensatz zu Deutschland gab es in den noch später christianisierten Ländern Skandinaviens keine (so gut wie) vollständige Verdrängung germanischer religiöser Identität, sondern vielerorts einen Synkretismus. Eine Schwundstufe der verdrängten nordischen Mythologie bildet in der Gegenwart u. a. die Fantasy-Literatur (den Einflüssen der germanischen Mythologie auf den Herrn der Ringe spürt beispielsweise Rudolf Simek nach: Simek, Rudolf, 2005: Mittelerde. Tolkien und die germanische Mythologie. (Beck’sche Reihe, 1663). München). 1317 Zur Bedeutung dieser Verbindung in der Ethnologie Müller 2005, 48 – 71, besonders 58. 1318 Simek, Rudolf, 1995: Lexikon der germanischen Mythologie. (Kröners Taschenausgabe, 368). Stuttgart. 2., erw. Aufl., 308. 1319 Winkler 2009, 76 unter Bezugnahme auf einen Begriff Oswald Schwemmers. Winkler sieht in der »Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt« im 11. Jahrhundert die Voraus-
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möglicherweise als einen jener Prozesse mit dem Ziel der Erweiterung des Ichs gegenüber dem Über-Ich ansprechen, wie sie sich in der abendländischen Geistesgeschichte seit dem späteren 11. Jahrhundert in mehreren ›Schüben‹ vollziehen: Die bedeutendsten wären demnach der den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markierende, begrifflich mit Renaissance und Reformation in Verbindung gebrachte im 15. und 16. Jahrhundert sowie der als ›Aufklärung‹ im engeren Sinne bezeichnete im 18. Jahrhundert mit seinem endgültigen Gottesmord1321. Zu den Folgen der Gottesentthronung allerdings zählt auch der Schwund an »gottgegebene[r] Selbstverständlichkeit«, die bis dahin der Seinsordnung im allgemeinen und der Ordnung der Gesellschaft im besonderen zugrundelag – dieser Verlust ist eines der Motive der modernen Sozialphilosophie1322. Der zunehmend thematisierte »Kampf[…] um Selbsterhaltung« steht dabei im Widerspruch zur traditionellen Lehre des Menschen als zoon politikon1323. Zugleich »vergrößert« sich Koselleck zufolge »die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung«1324. Einen Hinweis auf die erfolgreiche Ich-Erweiterung der Neuzeit liefert die Tatsache, daß seit dem 17. Jahrhundert »das ›Ich‹
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setzung für die zunehmende Rationalisierung (ebd. 61). Wolf bezeichnet das folgende 12. Jahrhundert gar »als Geburtsstunde der Moderne«: Wolf, Gunther, 1974: Das 12. Jahrhundert als Geburtsstunde der Moderne und die Frage nach der Krise der Geschichtswissenschaft. In: Zimmermann, Albert (Hg.), 1974: Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter. (Miscellanea Mediaevalia, 9). Berlin/New York, 80 – 84. Heinzmann, Richard, 1992: Philosophie des Mittelalters. (Grundkurs Philosophie, 7). Stuttgart u. a., 143. Wenn das Ich über das Über-Ich »triumphiert«, kann dies einen »seligen Rauschzustand« des Ichs hervorrufen, und das »freigewordene, manische Ich gestattet sich wirklich hemmungslos die Befriedigung aller seiner Gelüste« (GW XV, 67). Den zuweilen blutrünstigen Sinnenrausch der Renaissance könnte man also auf einen solchen Triumph des Ichs über das Über-Ich zurückführen, ebenso den unverbesserlichen Fortschrittsoptimismus der Aufklärung. Die innere Verwandtschaft von 17. und 19. Jahrhundert bestünde dann in der Ernüchterung nach dem Ende des durch den Gottesmord bedingten Rauschzustandes. Lilienthal, Markus, 2001a: Êmile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1893). In: Gamm, Gerhard/Hetzel, Andreas/Lilienthal, Markus, 2001: Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie. (Reclams Universal-Bibliothek, 18114). Stuttgart, 57 – 71 (hier : 57). Der Begriff ›absoluter‹ Herrschaft impliziert im übrigen auch eine ›Loslösung‹ von Gott. Honneth 1992, 13. Kittsteiner entwickelt übrigens ein Stufenmodell der Moderne, das er im 17. Jahrhundert mit der »Stabilisierungsmoderne« beginnen läßt, deren »›Grundaufgabe‹« in der »Stabilisierung einer als krisenhaft erfahrenen Zeit« bestanden habe; die bedeutenden Konzeptionen zur Staatstheorie von Hobbes und Spinoza ringen demzufolge »um eine Entschärfung und Neutralisierung der Differenzen der kämpfenden religiösen und Bürgerkriegsparteien« (Kittsteiner 2006, 34). Koselleck 1995, 359 sowie die Zusammenfassenden Überlegungen des ersten Teils der vorliegenden Arbeit.
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seine Karriere begann«, wie Kittsteiner schreibt1325. Der cartesische Zweifel ließe sich letztlich in Verbindung bringen mit einer Ich-Funktion, das Ich behauptet seine Autonomie gegenüber einem vermehrt als unzuverlässig erlebten ÜberIch. Die neuartige Monodie in der Musik bringt ebenfalls ein neues Ich-Bewußtsein zum Ausdruck, wobei der Polarisierung von Melodie und Baß im 18. Jahrhundert die Alleinherrschaft der Melodie folgen wird. Zur gleichen Zeit wird der Teufel abgeschafft1326, das moderne Gewissen entsteht1327. Das gesellschaftliche Androgynitätsideal, die Dominanz der Kastraten auf der Opernbühne und der Narzißmus absoluter Herrschaft, deren Repräsentationsformen im Grunde ein Selbstverständnis nach dem Modell »His Majesty the Baby«1328 erkennen lassen, deuten seit dem 17. Jahrhundert auf einen verstärkten Wunsch nach Kindlichkeit, nach Reproduktion der mit ersten Satisfaktionserfahrungen verbundenen Zeichen1329 hin; die »›Annahme der Kastration‹« fungiert dabei »als Negation des grenzenlosen Triebwunsches«1330. Nach allen vermuteten historischen Bewußtseinsintensivierungen – des Jungpaläolithikums, des Neolithikums, der frühen Hochkulturen, der Achsenzeit, des Investiturstreits und der Renaissance – bedeutet diejenige der Aufklärung des 18. Jahrhunderts nun aber einen qualitativen Wandel in bezug auf die Stellung des (abendländischen) Menschen im Verhältnis zum Nicht- und Übermenschlichen: Während Freud der Religion, wie Karsten Fischer es ausdrückt, »gerne den Totenschein ausstellen möchte«, ist Weber erfüllt von der »Nietzscheanische[n] Ahnung […], daß der von Freud kaum mit dem Religionszerfall zusammengedachte Triebverzicht nach dem Tod Gottes wesentlich schwerer zu reproduzieren sein dürfte«1331. Die Schwächung des Über-Ichs und 1325 Kittsteiner 2004, 59 unter Bezugnahme auf Marcel Mauss. Zur Entstehung der Vorstellung vom ›Ich‹ und den Beziehungen zur Affektkontrolle siehe auch Elias 1969a, LXI – LXIII. 1326 Kittsteiner 2004, 61 Anm. 24. 1327 Kittsteiner 2004, 71 Anm. 65 sowie Kittsteiner 1991. Daß es der Aufklärung des 18. Jahrhunderts trotz allen Säkularisierungstendenzen immer noch und vor allem um die Kategorie der Schuld zu tun ist, verdeutlicht anschaulich Koselleck (1959, 6): »Der hohe Gerichtshof der Vernunft […] verwickelte in verschiedenen Etappen alle Bereiche des Lebens in seine Prozeßführung. Die Theologie, die Kunst, die Geschichte, das Recht, der Staat und die Politik, schließlich die Vernunft selber, werden früher oder später vor seine Schranken zitiert und haben sich zu verantworten. Die bürgerliche Geistigkeit fungierte in diesem Rechtshandel als Ankläger, als oberste Urteilsinstanz und – was für die Geschichtsphilosophie von entscheidender Bedeutung werden sollte – als Partei zugleich.« 1328 GW X, 157 (Hervorhebung im Original). 1329 So bekanntlich die Freud’sche Definition der Wunscherfüllung (Laplanche-Pontalis 1972, 635 sowie GW II/III, 571 f.). 1330 Fischer 2005, 154 unter Bezugnahme auf Lacan. 1331 Fischer 1999, 95 (Hervorhebung im Original). Was Fischer in diesem Zusammenhang freilich nicht bedenkt: Es gibt m. E. kaum einen größeren Irrtum Nietzsches als seine Annahme, »aus dem unaufhaltsamen Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott ableiten [zu dürfen], dass es jetzt bereits auch schon einen erheblichen Niedergang des
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die von Elias beschriebene Affektkontrolle haben durchaus nicht zu einer Zurückdrängung des Es oder zu einer Wiederherstellung ursprünglichen Triebgleichgewichts geführt; vielmehr tritt das Es nach dem Triumph des Ich über das Über-Ich um so stärker hervor, das Ich wird im 19. Jahrhundert nach dem kurzen selbstverliebten (und im Prinzip schon durch das Scheitern der Französischen Revolution beendeten) Höhenflug in der Aufklärung an seine Determiniertheit durch die Triebe erinnert, deren Existenz vorher durch ein starkes Über-Ich verschleiert wurde. Das Ich spürt die dunkel drohenden Triebe wieder deutlicher, die aber zugleich rationalisiert werden (und im 20. Jahrhundert im Bündnis mit ebendieser ratio durchbrechen). Mit dem endgültigen Gottesmord hat der Sohn sich gänzlich an die Stelle des Vatergottes gesetzt, es beginnt das Zeitalter des triumphierenden Ödipus; wie die Schwächung des Über-Ichs die Macht der Triebe klarer erkennen läßt, so ruft der Tod des liebenden neutestamentarischen Gottes aber gleichzeitig jene Wiederkehr des verdrängten Heidnischen in dämonisierter Form hervor, die Heinrich Heine so treffend beschrieben hat1332. Die Verbindung, die das wiedergekehrte ›Barbarische‹ bemenschlichen Schuldbewusstseins gäbe; ja die Aussicht ist nicht abzuweisen, dass der vollkommne und endgültige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte.« (Nietzsche 1988e, 330) Mit dieser Kritik möchte ich durchaus keinem Anti-Atheismus das Wort reden, als vielmehr die Vermutung aussprechen, daß Nietzsche hier die Wirkung mit der Ursache vertauscht: daß der Wunsch nach Befreiung von den Schulden gegenüber Gott vielleicht eines der zentralen Motive für den modernen Gottesmord gewesen sein mag, ganz sicher aber nicht die gewünschten Folgen gezeitigt hat. Viel eher ist anzunehmen, daß dieser konsequenteste aller Gottesmorde eigentlich zu einer Verstärkung des gesellschaftlichen Schuldgefühls geführt und, das sei im Sinne einer vorsichtigen Hypothese formuliert, viele der spezifischen Pathologien des modernen Zeitalters überhaupt erst provoziert hat. 1332 Heine, Heinrich, 1966: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Harich. (Sammlung Insel, 17). Frankfurt/M., 179: »In der Tat, unsere ersten Romantiker handelten aus einem pantheistischen Instinkt, den sie selbst nicht begriffen. Das Gefühl, das sie für Heimweh nach der katholischen Mutterkirche hielten, war tieferen Ursprungs als sie selbst ahnten […]. Hier muß ich erinnern an das erste Buch, wo ich gezeigt habe, wie das Christentum die Elemente der altgermanischen Religion in sich aufgenommen, wo diese nach schmählichster Umwandlung sich im Volksglauben des Mittelalters erhalten haben, so daß der alte Naturdienst als lauter böse Zauberei, die alten Götter als lauter häßliche Teufel und ihre keuschen Priesterinnen als lauter ruchlose Hexen betrachtet wurden. Sie wollten das katholische Wesen des Mittelalters restaurieren, weil sie fühlten, daß von den Heiligtümern ihrer ältesten Väter, von den Herrlichkeiten ihrer frühesten Nationalität, sich noch manches darin erhalten hat«. Laut Chasseguet-Smirgel (1988, 167 Anm. 1) ist dies der Ursprung »eines von Freud mehrfach wiederholten Satzes […], daß ›die Götter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden‹«. Im Sinne der neueren Gedächtnisforschung besitzen Heines Ausführungen immer noch eine gewisse Aktualität. Ähnlich auch Assmann 2004, 18 f.: »Die Kultur schleppt diese zur Folklore abgesunkene und vom Christentum verteufelte Vorstellungswelt eines vorchristlichen und zu großen Teilen gewiß auch vorgriechischen Schamanismus durch die Jahrtausende bis in unsere Zeiten mit sich, in
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sonders im 20. Jahrhundert mit dem Antisemitismus eingeht, begreift Freud als Ausdruck des »Groll[s]«, den die christianisierten Germanen, die »alle ›schlecht getauft‹« seien, »gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion« empfänden, »[i]hr Judenhaß« sei »im Grunde Christenhaß«1333. Zugleich bedeutet der Gottesmord lediglich eine Ersetzung des traditionellen personalen väterlichen Über-Ichs durch ein unpersönliches; das Schuldgefühl ist zwar nun kein religiös konnotiertes mehr, aber in den Tiefenschichten immer noch vorhanden, ja möglicherweise in seiner apersonalen Fremdheit sogar bedrohlicher als früher1334. Auch eine patri-ödipale Verschärfung findet statt, die sich u. a. in der Formel vom Kampf ums Dasein ausdrückt. Das sogenannte ›viktorianische‹ Zeitalter reagiert auf die Macht der Triebe mit einer Triebunterdrückung, die unbarmherziger ist als jede vorangegangene1335 ; die GeistLeben-Problematik und die Lebensphilosophie der d¦cadence könnte man auch als Auseinandersetzung mit dieser überbordenden Triebunterdrückung verstehen. Vermehrt fordert der Trieb sein ›Recht‹ ein, gleichzeitig wird der Einbruch des Sexuellen in die geordnete bürgerliche Welt gefürchtet, wie dies schon in Thomas Manns Frühwerk Der kleine Herr Friedemann zur Sprache kommt. Krypten und Nischen, die sich dem Unbewußten vergleichen lassen.« Cum grano salis ließe sich das Wüten Wotans, versinnbildlicht im galoppierenden Pferd, als das Unbewußte identifizieren, das nach seiner Wiederkehr in dämonisierter Form im 20. Jahrhundert endgültig mit seinem Reiter, dem Bewußtsein, durchgeht. Diesem Erwachen ›Wotans‹ in der nationalsozialistischen Bewegung widmet sich Carl Gustav Jung in seinem 1936 entstandenen Wotan-Aufsatz – der Faszination durch das Es dabei nicht zum ersten Mal erliegend (Jung, Carl G., 1974a: Wotan. In: Ders. 1974: Gesammelte Werke in 18 Bänden. Herausgegeben von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf. Bd. 10: Zivilisation im Übergang. Olten/Freiburg, 203 – 218). 1333 GW XVI, 198. 1334 Hierin dürfte ein Motiv für Nietzsches unerbittlichen Amoralismus liegen. Auch wenn letzterer sich vordergründig gegen das Christentum richtet, so ist doch das potenzierte Schuldgefühl, dem er wahrscheinlich entspringt, wohl eine Folge des Gottesmordes selbst: »Heute, wo wir in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind, wo wir Immoralisten zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und den Strafbegriff aus der Welt wieder herausnehmen und Psychologie, Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen von ihnen zu reinigen suchen, giebt es in unsern Augen keine radikalere Gegnerschaft als die der Theologen, welche fortfahren, mit dem Begriff der ›sittlichen Weltordnung‹ die Unschuld des Werdens durch ›Strafe‹ und ›Schuld‹ zu durchseuchen. Das Christenthum ist eine Metaphysik des Henkers…« (Nietzsche 1988 f, 96 (Götzen-Dämmerung, Die vier grossen Irrthümer, 7), Hervorhebung im Original) Unter biographischen Gesichtspunkten mag sich der hier zum Ausdruck kommende Affekt gegen den Pastor-Vater wenden; dieser ödipale Impuls aber erfährt entscheidende Unterstützung, ja wird in dieser Form überhaupt erst möglich durch den Zeitgeist. Nietzsche ist ein plastisches Beispiel für die Verschränkung von individueller Erfahrung und überpersönlichen, ›zeittypischen‹ Tendenzen. 1335 Daß die Bedeutung des Sexuellen für die Ätiologie seelischer Erkrankungen gerade in dieser Epoche entdeckt wurde, ist vermutlich mehr als historischer Zufall; es ist sicher auch eine (unbewußte) re-actio auf gesellschaftliche Zustände.
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Als krisenhaft wird die Zeit trotz allem technischen Fortschritt empfunden, zum »Krisenbewußtsein« steigert sich das bereits bei Hegel zu spürende »Abendrot«1336. Der lange unterdrückte Trieb bricht sich schließlich in der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts Bahn, und die große anfängliche Begeisterung für den Ersten Weltkrieg auch in Intellektuellenkreisen mag psychologisch zum Teil auf die diffuse Bejahung einer erhofften Befreiung von der Last des übermächtigen Triebverzichts zurückzuführen sein1337. Nach dem Ersten Weltkrieg tritt dann tatsächlich eine gewisse sexuelle Liberalisierung ein1338. Die nun folgende Epoche – in den Worten Eric Hobsbawms »[d]as Zeitalter der Extreme«1339 – ist in ihrer Ambivalenz aus Liberalismus und Totalitarismus, Demokratie und Diktatur, Menschenrechtserklärung und Staatsterror etc. gewiß auch zu verstehen als Zeitalter der Polarisierung ödipaler Ambivalenz; die schrankenlose Herrschaft des Ödipus gebiert dabei größte Freiheit und größte Unfreiheit zugleich. Ängste, Hoffnungen und Wünsche existieren ihrerseits in Extremform; denn »[j]e geringer die Erfahrung, desto größer« die Verunsicherung und die daraus resultierende »Erwartung«. »Werden […] politische Entwürfe verwirklicht […], so arbeiten sich die alten Erwartungen an den neuen Erfahrungen ab« – Koselleck war dies Anlaß zu der erwartungsvollen Hoffnung, »daß auch eine alte Verhältnisbestimmung wieder in ihr Recht tritt: je größer die Erfahrung, desto vorsichtiger, aber auch desto offener die Erwartung«1340. Den Zusammenhang von jeweiliger Erfahrung und der von ihr provozierten Erwartung zu erhellen aber ist kaum etwas geeigneter als die Lehre Freuds, der die Beziehungen von Erfahrungen, Ängsten und Wünschen an seinen Patienten studieren konnte1341; selbiges für die überindividuellen Ausdrucksformen kollektiver Ängste, Wün-
1336 Jaspers 1949, 288. 1337 Das Konzept der Triebmischung legt diese Vermutung nahe. 1338 Stefan Zweigs Reflexionen über Die Welt von Gestern thematisieren sehr anschaulich diesen Unterschied zwischen der Welt vor 1914 und seiner Gegenwart (1939 – 41). 1339 Hobsbawm, Eric J., 1995: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Übersetzt von Yvonne Badal. München/Wien. 1340 Koselleck 1995, 374. Das geschichtstheoretische Konzept einer Neuen Annalistik von Lucian Hölscher verknüpft gewissermaßen alte Erwartungen und neue Erfahrungen bei der Betrachtung von Geschichte: »Sie kreist um den Zeitpunkt der betrachteten Vergangenheit ebenso wie um den der betrachtenden Gegenwart. In ihr werden vergangene historische Perspektiven auf die damalige Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegenwärtigen Perspektiven auf die Geschichte (wiederum in ihrer dreidimensionalen Erstreckung) so konfrontiert, dass sich aus deren Differenz die spezifische Qualität des historischen Wandels ablesen lässt.« (Hölscher, Lucian, 2003: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte. (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 17). Göttingen, 82) 1341 Den Zusammenhang von Angst und Erwartung charakterisiert Freud wie folgt: »Die Angst hat eine unverkennbare Beziehung zur Erwartung; sie ist Angst vor etwas.« (GW XIV, 197, Hervorhebungen im Original).
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sche und Erwartungen zu leisten, wäre u. a. Aufgabe einer künftigen psychoanalytischen Geschichtsphilosophie. An einem aktualisierten Projekt ›Geschichtsphilosophie‹ sind wie gesagt idealerweise die unterschiedlichsten humanwissenschaftlichen Disziplinen beteiligt, die gemeinsam die »politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen« untersuchen, unter denen ein »Handlungszusammenhang« von Personen »sich in der Zeit« wandelt1342. Daß generell aber nach wie vor ein beachtliches Forschungsdefizit im Hinblick auf die nicht-beabsichtigten, die unbewußten Faktoren historischen Handelns sowie »mentalen Prozeduren des Geschichtsbewußtseins« besteht, wurde bereits erwähnt1343 ; hier wäre also ein Dialog der am besagten Projekt ›Geschichtsphilosophie‹ beteiligten Disziplinen mit der Psychoanalyse wünschenswert. Jürgen Straub nennt verschiedene Möglichkeiten, wie letztere und die Geschichtswissenschaft »miteinander ins Gespräch und womöglich zu Formen konkreter Kooperation in der Forschung zu bringen« sind: So berge gerade die Psychoanalyse das Potential, über die »handlungsbestimmenden Motive historischer Akteure« – und zwar sowohl einzelner als auch als Kollektiv auftretender Akteure – jenseits »kognitive[r] Handlungsbegründungen« aufzuklären, welche »auf ihre im psychoanalytischen Sinne abwehrende, beispielsweise ihre verdrängende« oder »rationalisierende […] Funktion hin« zu untersuchen seien. Da sich eine derartige Analyse nicht auf die Handlungen von durch ihre spezifische Machtposition herausgehobenen geschichtlichen Individuen beschränken müsse, sondern grundsätzlich auf Handlungen »aller Gesellschaftsmitglieder« bezogen werden könne, sei diese Erweiterung der Perspektive problemlos »mit Ansätzen der neueren Alltagsgeschichte« zu verknüpfen1344. Neben den historischen Akteuren gelte die Aufmerksamkeit der Psychoanalyse darüber hinaus allerdings auch denjenigen, »die Geschichte als Widerfahrnis erleben«; so habe die Erforschung der Folgen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, vor allem des Holocaust, in den letzten Jahrzehnten demonstriert, wie sich Traumatisierungen auch in die zweite und dritte Generation hinein fortsetzen. Abgesehen von traumatischen historischen Erfahrungen können freilich auch andere, weniger negative Erlebnisse »die Selbst- und Weltbilder von Menschen, die Welt ihrer Gefühle und Affekte, Wünsche und Ängste, Hoffnungen und Befürchtungen, schließlich ihr Tun und Lassen« unbewußt beeinflussen. Ferner sei ›Geschichte‹ für die Psychoanalyse auch interessant »als spezifischer Modus der […] Konstruktion und Repräsentation von Wirklichkeit«: Die Psychoanalyse könne hier einerseits »als Kultur1342 Vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit sowie Rohbeck 2004, 19. 1343 Vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit sowie Rüsen/Straub 1998a, 10. Hieran dürfte sich seit 1998 nichts Wesentliches geändert haben. 1344 Straub 1998, 25 f. (Hervorhebungen im Original)
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wissenschaft« fungieren, »die sich der Interpretation von historisch interessanten Objektivationen aller Art, von Denkmälern […], von politischen Ritualen und Symbolen« etc. – verschreibe1345, andererseits aber auch »historischnarrative Sinnbildungsleistungen« erforschen und an der Formulierung einer »Theorie historisch-narrativer Kompetenz« mitwirken. Nicht zuletzt »die professionellen Sinnbildungsleistungen der historischen Zunft im Hinblick auf ihre motivationalen Beweggründe und psychologischen Funktionen« könnten so analysiert werden; die Psychoanalyse wäre damit auch eine mögliche »Methode zur reflexiven Kontrolle unbewußter Momente in der professionellen Arbeit von Historikerinnen und Historikern«1346. Während psychoanalytische Potentiale in der Geschichtswissenschaft bis dato nur in Ansätzen genutzt werden, kann die Soziologie auf eine insgesamt fruchtbarere Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Theoremen verweisen1347. All diesen Bemühungen, die vor allem in der Frühphase beider Disziplinen vorangetrieben wurden, zum Trotz konstatiert Johann August Schülein jedoch, daß die Psychoanalyse in der gegenwärtigen Soziologie »weitgehend unbekannt« sei. Es gebe sie dort zur Zeit »nur als Gerücht, um nicht zu sagen: als Gespenst aus vergangenen Zeiten«. Die einzige Ausnahme bilde die Organisationsanalyse. Hier sei man zu der Überzeugung gelangt, daß nicht allein »die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit der wechselseitigen Ergänzung [besteht], weil die Dynamik von Organisationen nur unter Einbezug der Akteure und das Handeln der Akteure wiederum nur unter Einbeziehung ihrer bewußten und unbewußten Impulse verständlich wird«1348. Schülein erwähnt seltsamerweise mit keinem Wort das Werk von Norbert Elias1349. Dabei kommt Elias das kaum zu überschätzende Verdienst zu, das Verhältnis von Soziologie und Psychoanalyse neu bestimmt und dabei Perspektiven der Forschung erschlossen zu haben, die nicht nur nach wie vor relevant sind, sondern ihrerseits in ihren Potentialen noch nicht zur Gänze ausgeschöpft werden. Elias hat ferner einen Weg aufgezeigt, wie einerseits die ahistorische Freud’sche Begrifflichkeit zur Kulturanalyse historisiert und wie andererseits das geschichtsphilosophische Problem der Kontingenz gelöst werden kann; seine Theorie ist sowohl für eine
1345 Straub 1998, 27 – 29 (Hervorhebungen im Original). Zu transgenerationalen Traumatisierungen als Folge des Holocaust auch Grünberg/Straub 2001 sowie Straub 2002; zu den mannigfaltigen kulturwissenschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse ferner Böhme 2006. 1346 Straub 1998, 30 f. Vorstellbar wäre theoretisch auch ein Masterstudiengang ›Psychohistorie‹. 1347 Vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit (sowie Straub 1998, 24). 1348 Schülein 2006, 421. 1349 Vgl. das Elias-Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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psychoanalytisch inspirierte Soziologie als auch für ein reformuliertes Projekt Geschichtsphilosophie von einiger Bedeutung. Auch die Ethnopsychoanalyse hat Entscheidendes zu einer Historisierung und zugleich Universalisierung psychoanalytischer Kategorien beigetragen, indem sie »eine Theorie des Subjekts mit dem bestehenden Wissen um die verschiedenen Kulturen zu einem neuen Wissen vom Menschen und seinen so vielfältigen Lebensformen und –möglichkeiten verbunden« hat1350. Sie besitzt durch ihre Auseinandersetzung mit fremden Kulturen Potential zur Überwindung des europäischen Ethnozentrismus, der lange auch für die Psychoanalyse galt. Johannes Reichmayr stellt für die Gegenwart fest, »daß sich die Forschungsparadigmen in der Ethnologie, den Kultur- und Sozialwissenschaften den wissenschaftstheoretischen und methodischen Positionen der Ethnopsychoanalyse annähern«1351. Diese vielversprechenden Tendenzen nähren – trotz der noch vorhandenen Forschungsdefizite in den einzelnen Disziplinen – die Hoffnung, daß das enthusiastische Elias’sche Postulat, wonach »[d]ie Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte […] unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im Zusammenhang miteinander zu erforschen« seien und »den Gegenstand der einen Menschenwissenschaft« darstellen müßten1352, seiner Erfüllung womöglich nicht mehr allzu lange harrt1353.
1350 Zit. nach Reichmayr, Johannes, 2006: Ethnopsychoanalyse. In: Lohmann, Hans-Martin/ Pfeiffer, Joachim (Hgg.), 2006: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, 412 – 416 (hier : 415). 1351 Reichmayr 2006, 415 f. 1352 Elias 1987, 60. Vgl. das Elias-Kapitel der vorliegenden Arbeit. 1353 Freud selbst war im Rahmen seiner Religionsanalyse so optimistisch anzunehmen, daß »auf die Dauer […] der Vernunft und der Erfahrung nichts widerstehen« könne (GW XIV, 378). Folgerichtig (für den, der diesen Optimismus teilt) wäre also alles letztlich nur eine Frage der Dauer.
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Personenverzeichnis
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Bossuet, Jacques 57 Brague, R¦mi 297 Brauns, Hans-Dieter 19 f. Breasted, James Henry 241 Brentano, Franz 78, 187 – 189, 250 Breuer, Josef 189 – 192, 195 – 197 Brincken, Anna-Dorothee von den 36, 44 f. Brücke, Ernst 68, 156, 163, 188 – 190, 195 Brühl, Carl 185 Brumlik, Micha 24 Burckhardt, Jacob 26, 87 – 91, 93, 95, 99, 110, 128, 144 Caesar 59, 293 – 296 Carus, Carl Gustav 169 f. Cassirer, Ernst 114, 252 Cassirer Bernfeld, Suzanne 27, 87, 90, 176, 178 f. Charcot, Jean Martin 189 – 193 Chasseguet-Smirgel, Janine 170, 174, 184, 250, 301 Childe, Vere Gordon 276 Cicero 39 Claus, Carl 188, 190 Comte, Auguste 57, 132 Condorcet, Marie Jean de 57 Cremerius, Johannes 19, 22, 108 Dahrendorf, Ralf 224 Danto, Arthur Coleman 24, 87, 131 – 135, 138, 197
336 Darwin, Charles 18, 113, 145, 166 f., 178, 185, 201, 212 f. Dehli, Martin 225 Deleuze, Gilles 205 DeMause, Lloyd 22 Derrida, Jacques 11, 244 Descartes, Ren¦ 147, 171, 300 Dilthey, Wilhelm 13, 18, 96 – 100, 108, 124, 144, 156, 193, 286 Döblin, Alfred 190, 202 Dorer, Maria 166 Dornes, Martin 207 Droysen, Johann Gustav 13, 18, 95 – 98, 134, 156, 259 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 189 Duerr, Hans Peter 122 Echnaton 239, 241, 243 f., 248, 280, 298 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 146, 256 Eisenstadt, Shmuel 111 Eissler, Kurt 180, 184 – 186, 195 Elias, Norbert 20, 23, 49, 55, 108, 117 – 123, 152, 156, 161, 183 f., 194, 220, 293, 300 f., 305 f. Elisabeth v. R. (eigentlich Ilona Weiss) 195 – 198, 200 f., 219 Ellenberger, Henri 168 Empedokles 221, 255 Engels, Friedrich 85, 214 Epikur 35 Erdheim, Mario 32, 99 f., 104 f., 207, 211, 213, 251 f., 274 Erikson, Erik Homburger 21 Ermann, Michael 20, 151 Eusebius 44 f. Exner, Franz 183 Ferenczi, Sndor 82, 180, 213, 265 Feuerbach, Ludwig 69, 82, 85, 163, 166 f., 188, 217, 232 Fichte, Johann Gottlieb 45, 58, 68 – 71, 73, 79 Fischer, Gottfried 75, 206, 286 f. Fischer, Karsten 24, 93 f., 108 – 110, 126 f., 216, 234, 300 Flaig, Egon 36, 262, 283
Personenverzeichnis
Foucault, Michel 128 – 130, 160 Foulkes, Sigmund Heinz 121 Frazer, James George 212 Freimüller, Tobias 225 Freud, Amalie 175 f., 180 Freud, Anna 19, 48 Freud, Jakob 174 – 176 Freud, Sigmund 9 – 15, 18 – 25, 27 – 29, 34, 41 – 44, 46 – 49, 51 – 55, 58 f., 63 – 65, 67 – 71, 74 – 78, 80 – 91, 94, 97 – 100, 104, 108 f., 111, 115 – 117, 119, 121 – 127, 129, 137, 142, 147, 149 – 153, 159, 162 – 164, 166 – 206, 208 – 261, 264 – 270, 273 f., 276, 278 – 281, 283 f., 286 – 289, 291, 293 f., 297 f., 300 – 303, 305 f., 335 f. Fromm, Erich 70, 104 f. Fukuyama, Francis 131 Funkenstein, Amos 45, 290 Furth, Peter 161 Gay, Peter 22, 82, 163, 169, 171, 176, 179 – 181, 183 f., 186, 188 – 192, 197, 203 f., 210 f., 224, 232, 240 Gebhardt, Miriam 116, 207, 257 Gehlen, Arnold 46, 69 – 71, 74, 79, 87, 144, 148 – 150, 252 Gibbon, Edward 297 Gimbutas, Marija 289 Gödde, Günter 162 f., 168 – 170, 177, 203 Goethe, Johann Wolfgang 65, 163, 180, 185, 239 Goetz, Hans-Werner 39 f. Goldenweiser, Alexander 215 Goudsblom, Johan 121 Grimm, Gebrüder 40 Grotius, Hugo 41 Grubrich-Simitis, Ilse 27, 75, 90 f., 152, 176, 178, 191, 193 f., 202, 210 Habermas, Jürgen 45 f., 71, 74, 81, 97, 99 f., 108, 110, 134, 145, 147 f., 150 f., 193, 249, 262 Haeckel, Ernst 186, 212 Hallpike, Christopher 280, 285 Hamann, Richard 279, 286 Hamburger, Andreas 175, 211 – 215, 217
Personenverzeichnis
Harris, Marvin 212, 255, 267, 269 f., 272 – 275, 277 f., 296 Hartmann, Eduard von 76, 155, 163, 169 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 30 f., 45, 58, 69, 71 – 80, 83, 86, 88 f., 92, 104, 125 f., 129, 148, 152, 154 f., 157, 166 f., 185, 219, 231, 234, 253, 264, 284, 287, 291, 294, 297, 303, 335 Hegener, Wolfgang 240 Heidegger, Martin 26 Heine, Heinrich 21, 301 Heinz, Rudolf 65 Helbling, Jürg 260 Helmholtz, Hermann von 156, 185, 189 Hemecker, Wilhelm 42 f., 78, 162 f., 166 f., 170, 174, 180, 183, 185 – 188 Hempel, Carl Gustav 97, 132 f., 135, 197 Henke, Winfried 31 Herbart, Johann Friedrich 68, 166 f., 169, 183 Herodot 38 f., 41 Hesiod 34 – 36, 38 f., 232, 262 f., 282 f., 297 Hirschberger, Johannes 41, 46, 165 – 167, 232 Hobbes, Thomas 30, 35, 42, 46 – 51, 53 – 55, 63, 88, 113, 211, 218, 235, 299 Hofmannsthal, Hugo von 200 Hölscher, Lucian 15, 30, 43, 73, 169, 303 Holtorf, Cornelius 32, 37 f. Homer 38, 232, 283, 296 Honneth, Axel 74 f., 77, 148 f., 299 Horkheimer, Max 20, 52, 125 – 129, 153, 217 Hoyer, Timo 225 Hübinger, Paul Egon 36, 45, 102 Hume, David 56 Hundt, Magnus 144 Huntington, Samuel 131 Husserl, Edmund 144, 188 Hutten, Ulrich von 292 Jaspers, Karl 107 f., 110 – 113, 130, 161, 192, 222 – 225, 231, 249, 259, 263, 275 f., 283, 285 f., 289 f., 294, 303 Jensen, Wilhelm 51, 100, 202, 211
337 Joachim von Fiore 153, 157, 289 Joas, Hans 148 f. Jones, Ernest 42, 82, 91, 109, 166, 176, 182 f., 204 f., 211, 235, 239, 261 Joseph (Sohn Jakobs) 238 – 240, 255, 280, 295 Jung, Carl Gustav 116, 120, 211, 213, 250, 302 Kamper, Dietmar 148 f. Kant, Immanuel 35, 57, 60 – 66, 69, 72 f., 88, 98, 145, 154, 161, 170, 211, 220, 245, 254, 276 Keitel, Evelyne 199 Kettner, Matthias 94 f. Kilian, Hans 28 Kirchner, Horst 37 Kittsteiner, Heinz Dieter 26, 28, 42, 67, 76, 85, 114, 136, 154 – 156, 159, 250, 299 f. Klein, Hans-Dieter 26, 69, 80, 255, 267, 270 f. Kohl, Karl-Heinz 272, 277 f. Köhler, Lotte 28, 261 Köhler, Thomas 24, 53, 59, 159, 210, 213, 217 – 219, 221 f., 226, 235, 242, 278 Konfuzius 59, 111 König, Helmut 121 f. Koselleck, Reinhart 17, 22 f., 39 f., 57, 97, 110, 114, 154, 299 f., 303 Kroeber, Alfred 212, 214 Küng, Hans 171, 174 Kunisch, Johannes 21 Lacan, Jacques 11, 23, 108, 142 f., 196, 250, 300 Lang, Hermann 142 f. Lasaulx, Ernst von 110 Leibniz, Gottfried Wilhelm 57, 169 Lenz, Ilse 15, 55, 271 Lepenies, Wolf 46, 149, 151, 221 L¦vi-Strauss, Claude 32, 146 f., 215 f., 237 f. Lindner, Gustav Adolph 182 f., 250 Locke, John 47 Lohmann, Hans-Martin 85, 121, 153, 176, 211, 218, 221, 226, 234, 252, 306
338 Lorenz, Konrad 146, 150 Lorenzer, Alfred 11, 100 – 102, 152, 193 f. Löwith, Karl 26, 36, 43 f., 57, 80, 82, 84, 89, 113, 124, 166, 172, 179, 232 Lübbe, Hermann 25, 154, 157, 263, 294 Lukcs, Georg 201 Lukrez 35 Luther, Martin 21, 294 Lütkehaus, Ludger 168 Lyotard, Jean-FranÅois 87, 128, 130 Mahony, Patrick 196, 198, 200 Malinowski, Bronislaw 20, 204 f. Mann, Thomas 211, 238 – 240, 255, 280, 288, 293, 295, 302 Mannheim, Karl 123, 208 Marcuse, Herbert 70, 151 Marquard, Odo 12, 17 f., 20 f., 25 f., 66 – 68, 77, 80 – 82, 99, 144 f., 147 f., 150, 163 – 165, 167, 170, 186, 192 f., 210, 221 Martin, Jochen 146, 149, 151 Marx, Karl 25, 29, 58, 69, 76, 78 – 85, 107, 124, 126, 149, 154 f., 157, 166 f., 211, 270 Mead, Margaret 20, 146 Meynert, Theodor 68, 166, 195 Middell, Matthias 18 f. Mill, John Stuart 42, 132, 189 Mithen, Steven 260, 262, 267, 269 Mitscherlich, Alexander 11, 225, 293 Moeller van den Bruck, Arthur 157 Mommsen, Wolfgang 224 Montesquieu, Charles Louis de Secondat de 47, 297 Monteverdi, Claudio 49 Mose 23, 34 f., 43, 67, 90, 109, 153, 171, 202, 208, 212, 231 f., 238 – 246, 248, 258, 279 f., 283 f., 298, 336 Müller, Klaus E. 30 – 33, 36 f., 277, 281, 290, 295, 298 Müller-Karpe, Hermann 230 f., 264, 266 – 268, 273 f., 278, 280 f., 284, 289 Münkler, Herfried 35, 47, 292 Muschg, Walter 196 f. Nagl-Docekal, Herta 27, 56, 78, 97, 103, 132 f., 138, 141, 161, 244
Personenverzeichnis
Nietzsche, Friedrich 23 f., 26, 65 f., 91 – 95, 99, 108, 124, 126, 128 f., 155, 158, 162 f., 166, 168 – 170, 187, 203, 211, 224, 234, 247, 252, 270, 280, 285, 300 – 302 Origenes 290 Orosius 26, 44 Ortega y Gasset, Jos¦ 225 Osterhammel, Jürgen 18 Otto von Freising 36, 293 Ovid 35 f., 262, 276, 282, 297 Parsons, Anne 204 – 206, 294 Paul, Jean 169 Paulus (Apostel) 45 Philippson, Ludwig 175, 180, 245 Plato 29, 35, 40 – 43, 111, 151, 186 Plessner, Helmuth 55, 144 f., 147 f., 150, 294 Polybios 110 Pompeius Trogus 36 Popper, Karl 133, 157 Popper-Lynkeus, Josef 59 Portmann, Adolf 150 Radkau, Joachim 21 Reichmayr, Johannes 204, 212 f., 251 f., 306 Reulecke, Jürgen 28 Rickert, Heinrich 132 Ricœur, Paul 13, 24, 71, 74 f., 87, 89, 132 f., 135 – 141, 192 f., 196 – 198, 202, 207, 210, 233 f., 236, 248, 292 Riedel, Manfred 96, 99 Robert, Marthe 171 f., 239 f. Rohbeck, Johannes 24, 26, 28, 30, 46, 49 f., 52 f., 58, 60, 62, 72 f., 78 – 80, 86 – 89, 92 f., 95 – 99, 102 f., 124, 126, 128 – 131, 133 – 136, 140 f., 159, 161, 194, 304 Rolland, Romain 81, 266 Rothacker, Erich 37 Rothe, Hartmut 31 Rousseau, Jean-Jacques 30, 35, 49 – 54, 56 f., 59, 88, 124, 126, 145, 154, 211, 234 f., 259 – 261, 275, 296 f.
339
Personenverzeichnis
Rüsen, Jörn 21 f., 32, 37, 55, 160, 247 f., 304 Sahlins, Marshall 230, 262 Schaeffler, Richard 26 Schafer, Roy 137 Scheler, Max 144, 147, 150 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 17 f., 45, 57, 66 – 69, 71, 76, 154 f., 165 f., 168 – 170, 185 f., 245, 284 Schiffer, Werner 134 f. Schiller, Friedrich 244 Schnädelbach, Herbert 92, 166 Schönau, Walter 198 Schopenhauer, Arthur 76 f., 155, 162 f., 165 f., 169 f., 187, 203, 221 Schwemmer, Oswald 298 Simmel, Georg 82, 249, 252 Sokrates 43, 50, 111, 186 Sophokles 203, 287 Spengler, Oswald 45, 112 f., 116 Spinoza, Baruch 299 Straub, Jürgen 9, 15, 21 – 23, 28, 32, 98, 100 – 102, 135, 140, 193, 209, 304 f. Tacitus 50, 290, 292 f., 297 Thukydides 38, 41 Tiberius 295 Tillich, Paul 171 Tobler, Georg Christoph 185 Toland, John 244 Toynbee, Arnold 112 – 117, 119 f., 124, 130, 140, 149, 156, 161, 228 – 230, 263 f., 277, 298 Troeltsch, Ernst 13, 18 f., 76, 102 – 105, 108, 147, 156, 161, 224 Turgot, Anne Robert Jacques 50, 53 f., 57 f., 62
Velleius Paterculus 295 Vergil 35 Vico, Giovanni Battista 26, 46, 96 Virchow, Rudolf 185, 189 Voltaire, FranÅois-Marie 25, 29, 47, 50, 56 – 59, 138, 154, 269 Waibl, Elmar 42, 47 – 49, 54, 151 Weber, Alfred 112, 123 Weber, Max 19, 21, 23 f., 94, 106 – 110, 117 f., 125 f., 130, 156, 158, 161, 172 f., 193, 215, 219, 224, 231, 244, 248, 252, 271, 282 – 284, 291, 300 Wehler, Hans-Ulrich 13, 18, 21 f., 95, 251 Weiner, Annette 205 Wenskus, Reinhard 292 Wesel, Uwe 54 – 56, 205, 214, 230, 237, 256, 260, 268 – 272, 274 f., 280 White, Hayden 24, 76, 87, 94, 132 f., 136, 138, 140 – 143, 196 f., 270 Wimmer, Franz Martin 101 Windelband, Wilhelm 76, 132 Winkler, Heinrich August 157, 248 f., 289, 291, 293, 295 – 298 Wittfogel, Karl 277 Wolf, Eric Robert 32 Wolff, Christian 169 Wrangham, Richard 237 Wright, Georg von 132 Xenophanes 232 Yerushalmi, Yosef Hayim 212, 243 f. Zˇizˇek, Slavoj 11, 74 Zuckermann, Moshe 22 f., 42, 116 Zweig, Arnold 240 Zweig, Stefan 157, 303 Zwenger, Thomas 26, 30 f., 133
Sachwortverzeichnis
Achsenzeit 107, 110 f., 153, 231, 281, 283, 285, 290, 300 Adoleszenz 32, 180, 207, 210 Affekt 77, 128, 157, 205, 302, 304 Affektkontrolle 118, 300 f. Aggression 28, 83, 150, 220, 234, 254, 264 Aggressionsniveau 262, 282, 284 Ägypten 30, 32, 34, 36, 114 f., 180, 238 f., 243, 277, 279 f., 283 – Ägyptisch 109, 180, 238 f., 241, 243 f., 248 f., 279 f. Ahistorisch 92, 119, 123, 144, 151, 223, 227 f., 251 f., 305 Alltagsgeschichte 149, 304 Altpaläolithikum 254, 259 Anamnese 43, 67 Anerkennung 14, 20 f., 74 f., 116, 149, 267, 275 Angelsächsisch 46, 48, 112 f., 146, 186, 200 f., 290, 296 Angst 85, 128, 153 – 158, 160, 218, 222, 250, 279, 303 Annales-Schule 129, 132 Anpassung 99, 113, 127, 263, 265 – Realitätsanpassung 275 Ansich 72, 104, 148, 264 Anthropologie 28 f., 46, 60, 99, 104, 127, 143 – 152, 161, 177, 188, 191, 193, 203, 206, 232 – Bioanthropologie 146 – Historische Anthropologie 28, 145 f., 149, 151, 206, 251
– Natur des Menschen 47, 75, 84, 88, 90, 99, 144, 257 – Philosophische Anthropologie 144, 147 – 150 Antichrist 65 f., 293 Antike 26, 29 f., 35 f., 39, 43, 47, 50, 73, 79 f., 109, 157, 162, 173, 178, 180 f., 209, 232, 244, 246, 259, 263, 280 f., 287 f., 297 Apollinisch 203, 285 Arbeit 62, 79, 81, 269 f. – am Patienten 190, 202, 252 – am Text 100 – des Gewissens 94 – des Historikers 95, 138, 305 – des Intellekts 219, 223 – des Prähistorikers 257 – im Laboratorium 191 – naturwissenschaftliche 187 – therapeutische 90 – tiefenhermeneutische 250 Archäologie 27, 74, 129, 152, 178 f., 197, 237, 246, 259, 267 Ardipithecus ramidus 255 Asiatismus 285 Atheismus 82, 179, 181, 186, 245, 301 Aufklärung 24, 26, 45 – 47, 50, 57, 71, 80, 86, 95, 101, 106, 125 – 129, 145, 153 f., 157, 159, 174, 176, 206, 208, 232, 248, 284, 286 f., 299 – 301 Aufrichtung 235, 255 f., 258, 266 Außen 149, 152, 182, 201, 218, 220, 225 – Außen und Innen (Innen und Außen) 96 f., 123, 201, 261, 264
342 – Außenwelt 70, 81, 85, 107, 115 f., 125, 167 f., 182 f., 231, 236, 249, 257, 259, 264 – 266, 270 Autonomie 205, 273, 300 Autonomiestreben 274, 279 Azteken 105, 295 Bellum omnium in omnes 47, 49, 53, 55 f. Bewußt(es) 33, 43, 68, 71, 77, 91, 98 f., 103 – 105, 108, 110 f., 117, 124 f., 137, 142, 147, 149, 155, 158, 168 – 171, 184, 196, 200, 203, 208 f., 213, 226 f., 242, 246, 282, 305 Bewußtsein 30 – 32, 36 f., 45 f., 57, 65 – 67, 69, 72, 74 – 76, 85, 88 f., 93 f., 104 f., 111 f., 117, 120, 142, 153 f., 158, 166, 168 f., 171, 193, 209, 228, 263 f., 266, 268, 287 – 289, 291, 294, 296, 300, 302, 351 Bewußtseinsintensivierung 267, 278, 300 Bibel 84, 171 f., 175, 180, 245, 277 Big Men 55, 272 Biographieforschung 21 Biographik 27, 176, 184 Biologie 152, 194, 201, 212, 255 f. – Biologisch 113, 145 – 147, 150 f., 165, 204 f., 212, 246, 267 Biomorph 45, 254 Bisexualität 288 Bronzezeit 153, 276 f., 281 f., 285 Cartesianisch 147, 171, 300 Chalkolithikum 277 China 38, 110 f., 277, 285 – Chinesisch 114 f., 279 f. Christentum 44, 53, 57, 72 f., 126, 158, 179, 214, 216, 232, 240, 242, 245, 289, 294, 296 – 298, 301 f. Christianisierung 297 Cro-Magnon-Mensch 268 Danielvision 36, 38, 293 Darwinismus 185 Demokratie 287, 291, 303 Deutsch 17 – 22, 42, 47, 56 f., 65 f., 69, 74, 85, 98, 112, 115 f., 126, 134, 137, 149,
Sachwortverzeichnis
155, 162, 164, 166, 170 – 172, 174 f., 180, 183, 186 f., 200, 212, 223, 232, 244, 249, 291 – Deutsche Identität 292 – 294 – Deutscher Idealismus 17 f., 20 f., 66 – 70, 74, 126, 155, 164, 166, 172, 183, 249 Dialektik 74 f., 80, 83, 125 – 128, 155, 161, 206, 234 f., 263 f., 268, 286 f., 294 – Dialektisch 25, 69, 74 f., 77, 80, 83, 94, 128, 206, 224, 234, 247, 268, 286 Dionysisch 203, 285 Drittes Reich 157 Durcharbeiten 58, 93, 137 f., 154 Dynamisch – e Kultur 88 – er historischer Prozeß 77 – er Konflikt der Instanzen 75, 78, 251 f. – er psychischer Prozeß 127 f., 287 – Dynamik menschlicher Handlungen und Kontingenz 119 – Dynamik psychoanalytischer Kategorien 205 Eisenzeit 263, 281 – 284, 289 f. Eiszeit 265 f., 268 f., 281 Emanzipation 57, 69, 71, 76, 80, 126 f., 162, 186, 216, 220, 248, 273, 298 – Emanzipatorisch 86, 127, 131, 149, 151, 216 Empirie 102, 110, 166 – Empirisch 27 f., 68, 70, 95, 102, 106, 111, 145, 147 f., 156, 160 f., 165, 183, 192, 194, 206, 238, 250, 282 Empirismus 46 Endzweck 73, 164, 231 Entfremdung 69 f., 79 – 81, 107, 127, 270, 279, 297 Enttäuschung 80, 86, 126, 129 f., 154 f., 157, 159 – 161, 217 f. Entzauberung 13, 18, 67, 165, 167, 170, 186 – Entzauberung der Welt 107, 125, 231, 282, 284 Erbsünde 115, 158, 264 Erfahrungsraum 23, 114, 136 Erkenntnisinteresse 151, 259 Erkenntnistheorie 104, 141
343
Sachwortverzeichnis
– Erkenntnistheoretisch 46, 98, 147, 170, 184, 186, 193 Erklären 96 – 98, 101, 108, 132, 135, 191, 193 f., 197 Eros 40 – 42, 220, 233 f., 255 Ersatzbefriedigung 229, 267 Erwartungshorizont 23, 114, 136 Erzählen 130, 132 f., 135, 137, 197, 199, 237 Erzählung 13, 17 f., 24 f., 31, 33 f., 39 f., 106, 115, 128, 130 – 141, 143, 153, 158 – 161, 181, 202, 247 f., 250, 254, 293 Es 42, 75 f., 78, 85, 120, 151, 168, 206, 222, 228, 234, 252, 264, 266 f., 284, 286 f., 301 f. Eskimo 260 Ethnologie 13, 19 f., 53, 145 – 147, 149, 194, 204, 212, 216, 232, 259, 272, 298, 306 Ethnopsychoanalyse 11, 204, 306 Ethologie 146 Evolutionismus 18, 212 – Evolutionistisch 212, 214, 252 – Evolutionstheorie 212, 230, 254 Fabel 135 – 138, 140, 197 – 199, 250 – Fabelkomposition 135 f., 199 Fallgeschichte 137 f., 142, 195 – 197, 199 – 201 Familie 53, 81 f., 98, 116, 175 f., 178 f., 202, 209, 214 – 216, 251 f., 256 – 258, 269, 293, 296 Feudalsystem 287, 296 f. Feuer 236 – 238, 252, 258 f., 265 f. Figuration 119, 123, 135 f., 198 f. Fortschritt 14, 17, 40, 44, 46, 53, 57 f., 62, 72, 86 f., 124, 130, 146, 154, 178, 186, 189, 209, 217, 237, 239, 253, 303 Fortschritt in der Geistigkeit 43, 67, 128, 231, 245, 248, 284, 289 Frankfurter Schule 20, 22, 110, 118 – Kritische Theorie 77 f., 81 f. Freiheit 45, 47, 54, 58, 60 – 63, 68 – 70, 72 f., 93, 117, 125, 141, 155 f., 159, 202, 211, 235, 249, 268, 285, 291, 296 f., 303, 351
Fürsich 72, 104, 264 Ganzheit 57, 134, 138, 147, 160, 199 Ganzheitlichkeit 159, 191, 194, 202 Gedächtnisgeschichte 23, 246, 248 Gefühlsambivalenz 164, 224, 234, 251, 284 Gegenwart 10, 26, 28, 33 f., 37, 39, 46, 53 f., 69, 73, 77, 82, 86, 88, 92, 96, 98, 102, 106, 110 f., 124, 133, 139, 159, 166, 209, 226, 230, 254, 259, 262 f., 282 f., 294, 298, 303, 306 Geisteswissenschaft 96, 98 f., 190, 192 Gekochtes 237 Genealogie 33, 37, 94, 129, 165, 172, 234, 270 – Genealogisch 33, 74, 93, 160, 165, 167, 172, 178, 185, 193, 252 Generation 33, 81, 84, 116, 119, 157, 182, 207 – 209, 217, 247, 251, 260 f., 263, 265, 298, 304 Generationenbewußtsein 209 Generationendiskurs 207 Generationenkonflikt 175, 209, 282 Generationskonzept 208 Genozid 157, 209 Germanen 50, 240, 289, 291 f., 295 – 298, 302 – Gefolgschaftswesen 296 f. – Germanisch 72, 257, 289 – 292, 294 – 298 Geschichte 10, 12 f., 17 – 19, 21 f., 24 f., 27 – 46, 50, 52 f., 55 – 58, 60, 62 f., 65 f., 68 f., 71 – 80, 84 – 89, 92 – 99, 102 f., 105 f., 110, 112 – 117, 119 f., 123 – 133, 135 – 140, 142 – 145, 148 – 150, 152 – 161, 164, 166, 168, 170 – 172, 175, 177 f., 180, 185 f., 188, 191 – 193, 197 – 199, 202, 204, 208 – 210, 216 f., 223 – 225, 230, 234, 239 f., 245 – 249, 251 – 255, 258, 261 – 265, 275, 277, 279, 283, 287 – 290, 292 – 295, 298, 300 – 304, 306, 351 – Geschichte und Geschehen 31 – Kollektivsingular 29, 40, 56, 87, 154, 208 Geschichtskultur 30, 32, 37 f., 52, 56, 91, 153, 247, 264, 277, 283
344 Geschichtsphilosophie 12 f., 17 – 19, 24 – 29, 33, 38, 40 f., 45, 50, 56 – 58, 60, 66, 68, 73 – 76, 78, 80, 86 – 88, 92, 95, 97, 99, 102 f., 105 f., 126, 128, 130 – 134, 139, 142 – 145, 148, 152, 154 – 165, 167, 172 f., 186, 208, 226, 238 f., 248 f., 253 f., 300, 304, 306, 351 – Formale 87, 103, 133, 197 – Materiale 95, 98, 103, 133, 161 – Substantialistische 131, 133 Geschichtstheologie 25, 30, 40, 45, 176, 231, 290 Geschichtstheorie 92, 99, 124, 134, 136, 139 Geschichtswissenschaft 13, 15, 18 f., 21 f., 27, 30, 73, 86, 96, 98, 102, 131 f., 134 f., 139 – 141, 193 f., 299, 303 – 305 Geschlechtsreife 149 – Pubertät 184, 207 Gesellschaft 9 – 11, 20, 23 f., 27, 32, 42, 46, 48, 53 – 56, 60, 62 – 64, 66, 70, 75, 81, 84, 88, 99, 103 – 105, 109, 118 – 124, 146, 148 f., 157, 161, 181, 191, 202, 207, 212, 214 – 216, 222, 224 f., 227 f., 251, 260, 264, 267, 271 f., 274 f., 277, 285, 288, 295 – 297, 299, 306 – Heiße 32, 207 – Kalte 32, 207 Gesellschaftsgeschichte 21 Gesellschaftsvertrag 35, 54, 88 Gewalt 48, 54 f., 63 f., 84, 88, 118 f., 126, 209, 216, 258, 260 f., 274, 282, 284, 298 Gewaltenteilung 297 Gilgamesch-Epos 288 Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 53 Globalisierung 19, 111 Götter 33, 38, 77, 128, 180, 214, 231 f., 236, 242, 251, 267, 273, 278 f., 281 f., 284, 287, 295, 301 – Göttin 278 Gottesmord 128, 282, 284, 299, 301 f. Griechen 26, 36, 38, 72, 111, 172, 285 – Griechisch 35, 38 – 40, 42, 44 f., 67, 90 f., 144, 162, 236 f., 251, 263, 283 – 288, 296 Grundaufgabe 114, 136, 299
Sachwortverzeichnis
Grundphänomen 149, 151, 206, 251, 257 Gruppenanalyse 121, 123 Hadza 55, 260 Handeln 46, 60, 69, 71, 76, 81, 88, 95, 104 f., 110, 114 f., 135 – 137, 139, 145, 149, 173, 304 f. Handlung 57, 71, 76, 95 – 97, 100, 102 f., 108 f., 119, 135 – 137, 146, 148, 217, 222, 246 f., 288, 304 Handlungsfreiheit 47 Handlungstheorie 135, 139 – Handlungstheoretisch 65, 114 f., 139 f. Handlungszusammenhang 28, 304 Heilung 10, 92, 201, 284 Herausforderung und Antwort 114, 263 Hermeneutik 13, 17, 96, 99 – 101, 246 – Tiefenhermeneutik 11, 99, 101 Herrschaft 41, 54 f., 81, 84, 117, 119, 126 f., 154, 157, 164, 187, 224, 261, 271 f., 288, 298 – 300, 303 Historiker 13, 15, 21 f., 32, 36 f., 95, 97, 103 f., 112, 114, 120, 137 – 139, 143, 154, 198, 202, 209, 225, 248, 252, 266, 305 Historiographie 22, 24, 28, 34, 36, 38 f., 41, 45, 58, 79, 103, 129, 131 f., 134, 138, 140 f., 143, 191, 293 Historische Operation 138 f., 198, 250 Historisierung 22, 38, 98, 119, 123, 306 Historismus 13, 18, 24, 26, 76, 86, 89, 92, 95, 102, 124, 131, 147, 156, 159, 164 Historizismus 157, 159 Hochkultur 33, 36, 110, 114, 141, 153, 209, 231, 263, 277 – 281, 284, 289, 300 Holocaust 22 f., 126, 159, 244, 304 f. Hominiden 265, 268 Hominisation 237 Homosexualität 288 Humanismus 55, 293 f. Ich 20, 23, 42, 65 – 67, 70, 75 – 78, 81, 85, 94, 96, 110, 115, 120, 147, 151, 155, 164, 168, 206, 216, 219 – 222, 224, 228, 234, 250, 252, 264 – 267, 271, 281, 284, 286 f., 293, 296, 299 – 301 Ich-Erweiterung 67, 76, 284, 286, 299
Sachwortverzeichnis
Idealismus 17 f., 20 f., 66 f., 69 f., 74, 126, 155, 164 – 166, 172, 183, 249 Idealtyp 193 Idee 10, 24 f., 50, 53, 57, 60, 63, 66 f., 77, 86 – 88, 106, 110, 119, 121, 126, 128, 139, 147, 152, 155, 158, 170 f., 198, 208, 222, 225, 241, 248 f., 256, 276, 285, 292, 297, 351 Identität 25, 37, 89, 93, 114, 137, 181, 240 f., 244, 246, 248, 292 – 294, 298 – Narrative 89, 137, 248, 292 Ideologiekritik 161 Illusion 34 f., 65, 78, 82 – 84, 139, 159, 167, 215, 218 – 220, 223, 225 f., 230, 232 f., 243, 253 f., 259, 267, 270, 273, 275, 279 Indien 110 f., 285 f. Individualpsyche – Individualpsychisch 21, 23 – Individualpsychologie 10 – 12, 23, 221 – Individualpsychologisch 34, 75 Individuum 12, 23, 35, 47 f., 60, 62, 65, 71, 73, 75, 79 f., 95 – 97, 104, 110, 116, 119, 125, 137, 150, 164, 184 f., 201 f., 206, 218, 222 f., 227, 232, 275, 281, 288, 292, 296 – Individuum und Gesellschaft 23, 119 f., 156, 249 Indoeuropäer 286, 289 – Indoeuropäisch 285 f., 289 f. Initiation 207, 257, 292 – Initiationsritus 257 Institution 10, 12, 46, 52, 63, 70 f., 105, 138, 146, 148, 150, 216, 222, 227, 261, 273, 295, 302 Interdisziplinär 10, 12, 15, 28, 123, 135, 146 Introjektion 65, 94, 119 Introspektion 46, 266 Investiturstreit 294, 298, 300 Ipseität 137, 292, 294 Jäger und Sammler 53 f., 260 – 262, 230, 264, 268 f., 272 – Wildbeutergesellschaft 53, 55, 227, 235, 259 – 261, 269 f.
345 Juden 32, 67, 162, 171 – 175, 184, 204, 240, 244, 247 – Judentum 109, 164, 171, 173 – 175, 181, 213, 240, 243, 288 f. Jungpaläolithikum 231, 258, 265, 267 f., 300 Kaiser 134, 273, 288, 291, 293 f. – Kaisertum 293 Kampf ums Dasein 302 Kastrat 300 Kastration 300 Kastrationskomplex 258 Katharsis 137, 202 Kelten 289, 296 Kephalität 272 Klasse 103, 116, 228 Klassenkampf 117, 157 f. Klassik 39, 89, 146, 167, 186, 286 f. Klima 115, 176, 268, 281, 285 Klimaveränderung 230, 290 Kognitiv 37 f., 55, 169, 247, 267, 304 Kommunikation 81, 116, 150 f., 194, 208, 217, 242, 250 f., 258, 264, 278 – Kommunikationstheoretisch 81, 150 – Kommunikativ 9, 81, 110, 150, 207 Konservativ 151, 221, 225, 260 Kontingenz 103, 119, 154, 217, 251, 305 Konzil von Nicäa 289 Körper 120, 147, 150, 185, 237 f., 256, 266 – Leib 98, 147 Krieg 34, 42, 47, 56, 61, 63 f., 88, 103, 108, 134, 157 – 159, 171, 217 – 223, 229, 235, 254, 258, 261 f., 266, 269, 275, 285, 292 Kultur 10 f., 24, 28, 30 – 32, 36 f., 42, 44, 46, 48, 52, 54 f., 59, 62 f., 71, 78, 82 – 84, 87 – 92, 106, 110 – 117, 119, 122, 130 f., 137 f., 143, 146 f., 149, 151 – 153, 159 – 161, 171, 174, 176 – 181, 186, 191, 202 – 204, 206 – 211, 214 – 216, 218, 220 f., 224, 226 – 231, 233 – 237, 247, 249, 251 – 256, 258 – 262, 266, 268, 271, 275 f., 278 – 280, 282, 284 – 286, 288 – 291, 294 – 296, 301, 306 Kulturell 9, 23 f., 27 f., 35, 37, 53, 56, 60 f., 89, 97, 104 – 106, 108, 111, 114 f., 127 f., 152, 163, 171, 175 – 177, 181, 189, 204 –
346 207, 209, 211 – 213, 217, 219, 226 – 230, 234 f., 237, 245 – 248, 251, 253, 257 – 259, 263 – 266, 268, 270, 272 f., 276, 278, 280, 284 f., 287 – 289, 292 – 294, 296, 304 Kulturideal 229 Kultursoziologie 19 Kulturtheorie 19, 23 f., 46, 75, 78, 94 f., 114, 119, 151, 161, 172, 175, 206, 211, 251 f. Kulturwissenschaft 10, 12, 14, 22, 46, 102 f., 111, 121, 161, 178, 193 f., 257, 290, 305 Kunst 12, 24, 39, 49 f., 63, 87, 91, 99 f., 117, 177, 197, 201, 211, 214, 216, 229, 279, 300 Lamarckismus 212, 244 – Lamarckistisch 212, 214, 242, 246, 252 Latenz 242 f., 246 f., 258 – Latenzphase 23 Lebensalter 45, 254 Lebenskampf 230, 254 Lebensphilosophie 92, 99, 112, 156, 165, 302 Leidenslinderung 95, 101 Libido 41 f., 152, 211, 213, 235, 265, 269 Liebe 43, 61 f., 74, 122, 152, 158, 164, 184, 220, 228, 293 Lineares Geschichtsverständnis 27, 29, 31 – 33, 36, 41, 43, 76, 142, 152 f., 277 f. Linguistic turn 24, 87, 129, 131, 133 Literaturtheorie 141 Lustprinzip 42, 52, 77, 182, 184, 195, 220 f., 235, 249 Macht 18, 33, 37, 57, 63 – 65, 67, 76, 83, 94, 107, 113, 122, 155 f., 201, 203, 215, 218 f., 227, 243, 259 f., 267, 271 – 273, 279, 282, 288, 293, 301 f. Magie 173, 213, 274 – Magisch 107, 273, 284 Maieutik 100 Marxismus 78, 81 – 85, 108, 126, 130, 157 Masse 20, 104, 220 – 225, 227 f., 251, 261, 276
Sachwortverzeichnis
– Massenpsychologie 20, 23, 216, 220 – 223, 225, 242, 271, 293 Materialismus 47, 83, 106, 124, 126, 162, 166 – Historischer Materialismus 83, 106, 124, 126, 166 Mbuti 55, 260 Medizin 27, 123, 167, 178, 184 f., 187, 189 – Medizinisch 18, 145, 163, 194 – 196, 211 Mensch 9 – 11, 23, 25, 28, 30 f., 34 f., 37, 45 – 53, 55 – 58, 60 – 66, 69 – 72, 76 f., 79 f., 83 f., 86 – 88, 90 – 94, 96, 98, 101, 107, 110, 112 – 114, 117 f., 120, 122 – 128, 130, 139 f., 144 – 151, 161, 163, 167, 170, 173, 177, 179 f., 182, 185, 187, 191, 194, 202, 204, 207, 211 f., 217 – 220, 222 f., 226 f., 230 – 235, 237, 246 f., 249, 254 – 256, 258 – 270, 273 – 276, 279 – 281, 283, 287, 290, 299 f., 304, 306 – Gruppenwesen 150 – Instinktschwäche 47, 52, 148 – Kulturwesen von Natur 148, 152 – Mängelwesen 70, 148 Mesopotamien 277 f., 283 Metapher 72, 135, 141 f., 196, 199, 201, 207, 250 f. Metapsychologie 41, 151 f., 163 – Metapsychologisch 137, 162, 210, 220 Metonymie 141 f. Minderwertigkeit 245, 293, 297 Mitleid 49, 51, 53 Mittelalter 26, 29, 36, 39 – 41, 45 f., 118, 144, 169, 209, 288, 294 f., 299, 301 Mittelpaläolithikum 230, 268 f. Moderne 10, 26, 31, 39, 45, 50, 52 f., 59, 61, 89, 93, 97, 106 – 108, 118 f., 125, 129 f., 147, 154, 157 f., 161, 163, 167, 172, 180, 185, 201, 211 f., 215, 219, 227, 230, 238, 249, 251, 259 f., 265, 267 f., 292, 299 – 301 Monodie 300 Monotheismus 34, 43, 67, 128, 153, 231 f., 239, 241 – 243, 245, 248 f., 252, 254, 278, 280 – 285, 287, 289
Sachwortverzeichnis
Moral 44, 65, 68, 70, 93 f., 110, 165, 214, 234, 270, 275 – Entstehung einer gesellschaftlichen 275 Mousterian 266 Mystik 174, 191, 266 – Mystisch 174, 185 f., 242, 287 Mythisch 33, 36, 38, 122, 128, 132, 153, 160, 238 Mythologie 232, 278, 290, 298 Mythos 34 f., 38, 54, 111, 116, 122, 158, 199, 206, 210, 216, 236, 238, 244, 261, 287, 290, 292 Narrativität 136, 138 Narzißmus 150, 222, 224, 230, 259, 293, 300 Nation 56, 58, 72, 219, 229, 292 – 294, 297 Natur 18, 23, 31, 41, 43, 46 – 49, 51 f., 55, 60 – 65, 67, 69, 72, 77, 79, 83 f., 86, 89 f., 94, 96, 98 f., 103, 112 f., 126 f., 135, 143 – 150, 155 f., 161, 164 – 167, 169 – 171, 180, 184 – 186, 188, 192 f., 195 f., 200, 211 f., 215, 225 – 227, 230 – 233, 237, 249 f., 254 f., 257, 259 – 262, 264, 266 – 270, 273, 279, 302 Naturabsicht 72 Naturalismus 49, 155, 167 – Naturalistisch 25, 147 f., 230 Naturbeherrschung 62, 94, 124, 126 f., 259, 261 Naturphilosophie 12, 17 f., 21, 68, 77, 148, 162, 164, 169, 184 – 186 Naturrecht 34 f., 41, 50 f., 145 Naturwissenschaft 18, 67, 86, 95, 97, 100, 107, 109, 132, 144 f., 162 – 165, 167, 178, 184 – 187, 190, 192 – 194 Naturwüchsigkeit 80, 85, 126 – Naturwüchsig 76 Naturzustand 27, 47 – 50, 52 – 54, 63, 218, 227, 230, 235, 251, 254 Neolithikum 27, 29, 259, 269, 273 – 277, 279, 284, 300 – Neolithisch 269, 274, 276 – Neolithisierung 273, 276 Neumarxistisch 157
347 Neurose 11, 71, 109, 189, 203, 206, 233, 243, 245, 251, 265 – Neurotisch 70 f., 97, 212, 214, 233, 243, 265, 268, 284 Neurotiker 201, 211, 213, 223, 242, 284, 294 Neuzeit 30, 35, 45 f., 144, 154, 292 – 294, 296, 299 Not 42, 47, 115, 151, 191, 231, 263 – 265, 269 Notwendigkeit 71, 259, 263, 289, 305 Objektbeziehungstheorie 74, 151 f., 217 Ödipal 127, 204 – 207, 214, 216, 270 f., 274, 276, 282, 284, 295, 302 f. Ödipus 127, 171, 203, 205 f., 215, 251, 287 f., 301, 303 Ödipuskomplex 60, 65, 127, 203 – 207, 210 f., 214, 216, 251, 258 – Invariante 205 – Kernkomplex 203 f., 206, 214, 251 – Universelle Gültigkeit 204 Ökonomie 79 f., 85, 130, 272 Okzident 106 f., 157, 172, 248, 285, 289 – 291, 295 – 297 Ontogenetisch 13, 45, 242 Opfer 98, 124 f., 129, 216, 227, 256, 266, 295, 297, 351 Orale Phase 35 Oral History 21 Organisationsanalyse 305 Paläolithikum 53, 214, 216, 230, 235, 259 f., 262 – 264, 268, 273, 276 – Paläolithisch 37, 55, 256 f., 259, 261, 267 f., 273 f. Paradies 34 f., 60, 66, 84, 124, 201, 261 – 263 Patriarchat 54 – Patriarchalisch 62, 204 f., 269, 295 – Patriarchalisierung 271, 274 Periodisierung 34, 36, 44 f., 209, 254 Pferd 42, 302 Philosophie 11 f., 17, 19, 24 f., 27 – 30, 33, 38, 40 – 43, 45 f., 56, 58, 68 f., 71, 74, 76, 78, 80, 82, 85 – 87, 94, 98, 103, 108, 114,
348 123 f., 126, 131, 133, 135, 144 f., 152, 154 f., 158, 162 – 170, 173, 176, 182 f., 185 – 188, 193, 197, 217, 232, 248, 250, 252 f., 261, 264, 298 f., 301, 351 Phylogenese 75 – Phylogenetisch 13, 45, 242 Physiologie 152, 186, 189 f., 192, 202 – Physiologisch 145, 171, 188 – 191, 195, 197, 250 Polytheismus 278, 280 f. Positivismus 12, 183, 188 – Positivistisch 17, 132, 151, 163, 177 Posthistoire 24, 26, 87, 95, 124, 128 f., 159, 164 Postmoderne 24, 78, 128, 130 Primärvorgang 58, 142 f. Principium individuationis 207 Privateigentum 80, 83, 275 Proletariat 80, 228 Protestantismus 245, 291, 295 Psychoanalyse 9 – 14, 18 – 24, 28 f., 40, 42 f., 47, 52, 62, 65, 68, 70 f., 74 – 77, 82, 85, 87, 93, 95, 98 – 100, 104, 108 f., 111, 115 f., 121, 123, 127 – 130, 137 f., 142 f., 146 f., 150 – 152, 154, 156 f., 160 f., 163 f., 166 – 168, 171 – 173, 177 f., 180 f., 189 – 194, 196, 199, 201 – 206, 210, 213, 216, 225, 238, 240, 248, 250 – 252, 254, 257, 261, 278, 284, 304 – 306, 351 f. – als (bzw. in der) Feldforschung 194, 204 – als historische Wissenschaft 13, 18 – als Humanwissenschaft 129 f., 193 – Doppelcharakter der 193, 257 – Methodologie der 100, 108, 192 – Sonderstellung der 152, 161 – Überbrückung des Gegensatzes von Erklären und Verstehen 194 Psychohistorie 22, 28, 255, 305 Psychologie 9 – 12, 19, 28, 94, 97, 100, 103, 108, 111, 116, 124, 129, 146, 152, 156, 166, 168 f., 181 – 183, 186, 192 f., 202, 221, 250 f., 255, 257, 261, 302 Rationalisierung 22, 107, 109 f., 117 f., 127 f., 219, 249, 299
Sachwortverzeichnis
Rationalismus 89, 106, 171, 281 f., 284, 286, 291, 294, 298 – Rationalistisch 171, 173, 284 Realitätsprinzip 43, 52, 62, 70, 113, 115, 127, 161, 182, 203, 257 Reformation 107, 291, 294 f., 299 Reinheit des Blutes 292 Religion 23 f., 32, 34, 46, 53, 59, 67, 75, 82, 84, 88 – 90, 106, 109 f., 113, 115 f., 149, 153, 163, 171 – 174, 202, 211, 213 – 216, 225 f., 230 – 233, 238 – 241, 243 – 245, 249, 251, 260, 266 f., 274, 278 – 282, 284, 291, 297 f., 300 – 302 – Religiös 12, 25, 34, 44, 73, 80, 107, 110, 113, 115, 140, 158 f., 171, 173, 180, 213, 223 – 226, 229 – 231, 233, 264, 266, 268, 273, 277 f., 289, 298 f., 302, 351 Renaissance 19, 23 f., 89, 111, 208, 294, 299 f. Repräsentativverfassung 296 Reversibilität 32, 264 Revolution 11, 17, 20, 82, 84, 86, 89, 99, 103, 154 f., 165 f., 175, 185, 208, 210, 225, 276, 283, 301 Rhetorik 138, 141, 198 – Rhetorisch 138, 140 f., 198 f. Roman 37, 143, 160, 201 f., 238 – 240, 255, 288 Romantik 50, 167, 170, 184, 186, 301 Römer 72, 240, 288, 290 – 292, 295 – Römisch 19, 35 f., 257 f., 263, 280, 288, 290 – 293, 295 – 297 San 55, 260 Sapientisierung 268 Schrift, Erfindung der 37, 153, 263, 277 f. Schuld 65, 110, 115 f., 124, 126, 139 f., 153, 158 f., 209, 222, 264, 270, 281, 283, 287 – 289, 297, 300 – 302 Schuldbewußtsein 94, 109, 214, 246, 287 f. Schuldgefühl 65, 81, 115 f., 217, 233 – 235, 245, 248, 251, 264, 270, 274 – 276, 281 f., 284, 286, 288, 297, 301 f. Schwundstufe 12, 17 f., 24 – 26, 28, 87, 298 Seele 10, 12 f., 43, 78, 92, 96 f., 117, 119 f.,
Sachwortverzeichnis
138, 156, 169, 185, 190, 201 f., 210, 249, 252, 255, 285, 296 Seelenroman 255 Segmentäre Gesellschaft 54 Sekundärvorgang 58, 104, 154 Selbstentfremdung 50, 52, 55, 158, 261 Selbsterhaltung 24, 51, 126, 173, 261 f., 286, 299 Selbstreflexion 71, 74, 161 Selbst-Säkularisierung 298 Selbstzerstörung 126, 222, 286 Semantisch 73, 135, 267 Sensualismus 166 Sozialisation 67, 86, 116, 162, 164, 174, 177, 186, 194, 204, 207, 249 Sozialismus 50, 85, 351 Sozialphilosophie 19, 23, 50, 70, 106, 161, 299 Sozialpsychologie 21, 23, 221, 225 Sozialwissenschaft 15, 18, 20 – 22, 55, 149, 306 Soziologie 13, 19 f., 28, 106, 108, 121, 123, 146, 152, 221, 251, 261, 305 f. Sprache 9, 12, 30, 39, 46, 51, 58, 73, 97, 104, 109, 115, 129 f., 133, 137 f., 140, 142 f., 165, 174, 194 – 196, 200 – 202, 237 f., 249 f., 267, 278, 302 Staat 10, 41 f., 47, 63, 72 f., 78 f., 86, 88 f., 103, 107, 117, 175, 218, 252, 271 f., 274, 277 f., 280, 291, 300 Staatenbildung 272 Stoa 47 Störung des Gleichgewichts 158, 264 Strukturalismus 146 f. Studentenbewegung 20, 70 Sublimierung 59, 61, 77, 107, 147, 151, 173, 270, 278 Sumer 114 f., 277 Sündenbewußtsein 281 Sündenfall 35, 60 f., 63, 66, 115, 158, 261 f., 264, 274, 277 Szientismus 179, 186 Teleologie 62, 74, 105, 126 f., 161 Territoriales Verhalten 269 Theismus 179, 188
349 Theologie 19, 34, 39, 172, 188, 232, 243, 280, 284, 298, 300 – Theologisch 26, 32, 44 – 46, 50, 57, 172, 177, 181, 230, 232 Therapie 11, 13, 18, 20, 22, 74, 168, 196, 198 f. Topik 75, 234 Totemismus 213 – 216 Transgenerationale Kommunikation 208, 217, 242 Traumatisierung 23, 128, 206, 209, 246, 278, 284, 287, 298, 304 f. – Transgenerationale 23, 206, 209, 287, 305 Trieb 46 – 48, 51, 61, 68, 75 f., 120, 122, 147, 150 – 152, 155, 173, 193, 205, 221, 238, 255, 261 f., 264, 270, 274, 286, 301 – 303 Triebmischung 221, 303 – Triebentmischung 233 Triebnatur 25, 67, 122, 147, 150 f., 164 f., 170, 219, 249 f. Triebtheorie 151, 205, 207, 220 f., 233 Triebüberschuß 148, 262 Triebverzicht 52, 61, 67, 122, 151, 228, 234, 236, 245, 252, 256, 259, 268, 270, 288, 300, 303 Trobriander 204 f.
Überflußgesellschaft 230, 262, 269 Über-Ich 48, 65, 75 f., 78, 94, 110, 115, 119, 152, 159, 216, 220, 228, 234, 252, 274, 284, 286 f., 299 – 302 Übertragung 23, 45 f., 52, 75 – 77, 100, 103, 167, 201, 209, 234, 281 Ultrasozialität 55, 261 Unbewußt(es) 18, 22, 42 f., 51, 59, 68 – 70, 74 – 76, 85, 91, 98 f., 102 – 105, 108, 110 – 112, 116 f., 119 f., 129 f., 137, 142 f., 146, 151, 155 – 158, 162 f., 167 – 171, 184 f., 188, 192 f., 203 f., 208 f., 213, 217, 219, 222, 232, 242, 246 – 248, 250 f., 263 f., 279, 281, 286, 288, 302, 304 f. – Gesellschaftliches 85, 104 f., 156, 248 – Kognitives 169 – Kulturelles 208, 246 – 248
350 – Triebhaft-Irrationales 169 f. – Vitales 169 f. Ungleichheit 49 – 51, 54, 88, 215, 280 Universalgeschichtsschreibung 18 f. Untold story 139, 197 Unzufriedenheit mit der Kultur 227, 282 Urhorde 175, 213, 216, 256, 261 Urvatermord 94, 158, 214 – 216, 223, 234, 241, 243 f., 246, 248, 251, 254, 264, 297 Vaterersatzbildung 279 Vaterkomplex 216, 273 Veränderung 33 f., 75, 80, 84, 101, 104 f., 116, 118 f., 144, 175, 209, 220, 263, 265 f., 273, 276, 281, 286 f., 290, 298 Verdichtung 142 f., 153 f., 196, 207, 267, 277, 281, 283 Verdinglichung 55, 227, 261 Verdrängung 22, 30, 68, 77, 104 f., 160, 186, 198, 203, 219, 222, 233, 242 f., 248, 256, 298 Vergangenheit 12, 21 f., 32 – 34, 37, 54, 73, 91, 93, 95 – 98, 124, 133, 135, 139 – 141, 179, 199, 209, 226, 248, 263, 283, 303 Vergesellschaftung 41, 48 f., 51 f., 62 – 64, 207, 215, 234 f., 252, 275 Vergessen 23, 30, 92 f., 130, 143, 186, 248, 276 Verhaltensbiologie 194, 256 Verletzung 116, 274 f. Vernunft 17 f., 45 – 47, 50, 52, 57 f., 60 – 62, 65 – 69, 71 f., 77 f., 86, 98, 106, 125, 127, 129, 141, 150 f., 155 f., 158, 167, 171, 219, 252, 261, 284, 300, 306 – Gerichtshof der 300 – List der 77, 125 Verschiebung 33, 142 f., 152 – 154, 156, 158 f., 185, 212, 267, 277 – Libidoverschiebung 81 – Verschiebbarkeit der Triebe 61, 150, 205, 270
Sachwortverzeichnis
Verstehen 28, 74, 93, 95 – 99, 101, 108, 132, 139, 193 f. – Verstehensbegriff 18, 95 Vorbewußt(es) 104, 169 f., 180 Wahnidee 34 Wahrscheinlichkeitstheorie 132 Was wäre, wenn 179, 290 351 Weltgeist 18, 72, 76, 155 Weltkrieg 48, 112, 126, 157, 159, 217, 221, 291, 303 Werkzeuggebrauch 255, 258 Westgermanisch 290 Willensphilosophie 76, 166 Wotan 298, 302 Wunsch 74, 85, 130, 157 – 159, 161, 206 f., 217, 223, 226, 231, 284, 295, 300 f. Wunscherfüllung 232, 300 Zeitalter 33 – 36, 41, 50, 56 f., 68 f., 86, 103, 131, 152, 157, 165 – 167, 185, 223, 256, 262 f., 276, 280, 282 f., 287, 289 f., 294, 301 – 303 Zeitgeist 176, 180, 183, 186, 280, 287, 302 Zivilisation 20, 23, 50, 55 f., 106, 113 f., 117 – 119, 121 f., 126, 186, 211, 227, 275, 277, 279 f., 282, 291 f., 302 Zivilisationskrankheiten 262 Zivilisationstheorie 23, 118, 122, 127, 156, 234, 252, 259, 261, 275 Zukunft 11, 22, 24, 34, 37, 60, 63, 73, 82, 84, 88, 95, 109, 113, 124, 133, 148, 157 f., 167, 179, 181, 188, 208, 217, 220, 225 f., 230, 233, 254, 259, 263, 267, 270, 273, 279, 283, 303 Zwang 69, 84, 93, 148, 183, 228, 254, 259, 262, 270 f., 273, 287 – Gewissenszwang 48 – Selbstzwang 119, 183 Zweckrationalität 261 Zyklisches Geschichtsverständnis 31 f., 36, 41, 43 f., 142, 152
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Das vom Verfasser selbst erstellte Titelbild erinnert nicht zufällig an das von Ludwig Engelhardt gestaltete Berliner Marx-Engels-Denkmal, welches aber in dieser Umgestaltung nicht die Häupter der Namensgeber, sondern statt dessen diejenigen von Freud und Hegel trägt; auch sonst erlaubt sich die vorliegende Version einige Freiheiten. Selbige geht übrigens nicht auf einen bei vollem Bewußtsein entwickelten Entwurf mit klar umrissener, eindeutiger Aussageabsicht zurück, als vielmehr auf eine Art von Wachtraum, der den Verfasser kurz vor dem Einschlafen ereilte und der somit der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes »Idee« als »Erscheinung« durchaus nahekommt. Und wie es mit Traumbildern oder allgemein mit Bildern so ist, entzieht sich auch das vorliegende einer festgelegten, einzig Geltung beanspruchenden Interpretation. Demjenigen, der seine Zeit dafür opfern möchte, ist also der Raum für mannigfaltige Deutungen eröffnet: Das Denkmal als solches illustriert zunächst die Bedeutung der Geschichtsphilosophie für die Geschichte, ist es doch den hier ursprünglich aufs Podest erhobenen Geschichtsphilosophen in der Tat gelungen, die Welt nachhaltig zu verändern und für ein Viertel der Menschheit (wenigstens offiziell) die religiösen Propheten zu ersetzen. Das Irreale eines Denkmals freilich, das statt der Idole des staatlichen Sozialismus Freud und Hegel zelebriert, könnte überleiten zu der geschichtsphilosophisch relevanten Frage »was wäre, wenn (Freud und Hegel und nicht Marx und Engels jene schicksalhafte politische Bedeutung erlangt hätten)?« In diesem Zusammenhang sei auch auf die möglichen Verknüpfungen zwischen Hegels Philosophie und Freuds Psychoanalyse und damit auf das entsprechende Kapitel dieser Arbeit verwiesen. Die Ausstattung der beiden Denker-Figuren mit den Symbolen ihrer allzumenschlichen Laster (Freud mit der Zigarre, Hegel mit dem Weinglas), über die von beiden jeweils tiefgründige Zitate überliefert sind, verfolgt neben der aus urheberrechtlichen Überlegungen resultierenden Absicht, die benutzte Vorlage noch weiter zu verfremden, überdies den Zweck, den hier anklingenden Personenkult ein wenig zu relativieren – darüber hinausgehende Interpretationen dabei nicht ausschließend.
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Abbildungsnachweis
Freud war bei seiner Deutung des Michelangelo’schen Moses übrigens zuversichtlich, daß die Psychoanalyse die eigentliche Absicht eines Bildwerks durchaus erraten könne – das hinge freilich davon ab, ob sich jemand findet, der hierfür die Muße besitzt, was im vorliegenden Falle (der ›Künstler‹ heißt ja nicht Michelangelo, sondern Klüners) fraglich bleiben mag. Martin Klüners