Riskante Kindheit: Psychoanalyse und Bildungsprozesse 9783666454141, 9783525454145


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Riskante Kindheit: Psychoanalyse und Bildungsprozesse
 9783666454141, 9783525454145

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Schriften des Sigmund-Freud-Instituts

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 3 Psychoanalytische Sozialpsychologie Herausgegeben von Rolf Haubl und Hans-Joachim Busch Band 4 Rolf Haubl / Frank Dammasch / Heinz Krebs (Hg.) Riskante Kindheit Psychoanalyse und Bildungsprozesse

Rolf Haubl / Frank Dammasch Heinz Krebs (Hg.)

Riskante Kindheit Psychoanalyse und Bildungsprozesse

Mit 5 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45414-5

Umschlagabbildung: Auf Reisen …  Alfons Gellweiler  2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages çffentlich zugnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr Lehrund Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Redaktion: Panja Schweder, Frankfurt/Main Satz: Process Media Consult, GmbH Druck & Bindung: E Hubert & Co, Gçttingen

Inhalt

Rolf Haubl, Frank Dammasch, Heinz Krebs Zur Einfhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Familienleben Rose Ahlheim Elternschaft – Entwicklungsprozess und Konfliktpotential . . .

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Hans-Geert Metzger Der Vater und die frhe Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Frank Dammasch Der Junge ohne vterliche Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heribert Blaß Die Bedeutung des frh entwickelten oder nachtrglich erworbenen Bildes vom Vater fr erwachsene Liebesbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kinder mit Aufmerksamkeitshyperaktivittsstçrung Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel »Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …«. Frhprvention als Strkung der Resilienz gefhrdeter Kinder? Ergebnisse aus der Frankfurter Prventionsstudie . . .

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Rolf Haubl und Katharina Liebsch »Wenn man teufelig und wild ist«. Funktion und Bedeutung von Ritalin in der Sicht von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

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Inhalt

Bildung als Beziehungsarbeit Jrgen Kçrner Psychoanalyse und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Annelinde Eggert-Schmid Noerr Psychoanalytische Pdagogik und Bildung. Anmerkungen zu Jrgen Kçrner: Psychoanalyse und Bildung . . . . . . . . . . . . . . 181 Joachim Bauer Spiegelung: Der Kern der pdagogischen Beziehung . . . . . . . 196 Heinz Krebs Methodische Aspekte professionellen Handelns in Pdagogik und Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Traumatische Persçnlichkeitsbildung Marianne Rauwald Trauma und Persçnlichkeitsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Joachim Heilmann »Ich muss bei meinem Amsel-Patienten bleiben …« . . . . . . . . 240 Christoph Kleemann Wie der »Terrorist« zum Schulkind wurde . . . . . . . . . . . . . . . 252 Ursula Pforr Trauma und Persçnlichkeitsbildung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

Rolf Haubl, Frank Dammasch, Heinz Krebs

Zur Einfhrung

Wenn heute ber das Leben von Kindern im 21. Jahrhundert nachgedacht wird, geschieht dies auf dem Hintergrund von »Kindheit« als eines besonderen Lebensabschnitts, den die brgerliche Gesellschaft zu ihren historischen Errungenschaften zhlt. Besonders wird dieser Lebensabschnitt vor allem dadurch, dass die Generation der Erwachsenen ihrem Nachwuchs einen zeitlich begrenzten Raum zur Verfgung stellt, der von dem gesellschaftlich herrschenden Handlungsdruck befreit ist, unter dem sie selbst stehen. Dieser Schutz- und Schonraum soll der allmhlichen, das Entwicklungstempo von Heranwachsenden achtenden Vorbereitung auf ein sozial integriertes Leben dienen. Kindern ausreichend Zeit zu lassen, um zu einer »Persçnlichkeit« zu »reifen«, geschieht freilich nie uneigenntzig, sondern immer schon in der Erwartung, dass sie in dieser Zeit die brgerlichen Werte verinnerlichen, so dass die brgerliche Gesellschaft ohne großen Aufwand an sozialer Kontrolle auskommt. An diese Nutzenerwartung zu erinnern, ist geboten, weil der Blick zurck in die Geschichte kindlicher Lebensformen gerne »Kindheit« zu einer Zeit unbeschwerten Spiels verklrt. Zwar bringt die brgerliche Gesellschaft tatschlich Spiel und Arbeit in einen scharfen Gegensatz, aber letztlich doch nur, weil sie in der spielerischen Entfaltung von Neigungen und Talenten der Kinder die Erzeugung eines berschusses an sozioçkonomisch verwertbaren Dispositionen erkennt. So gesehen, gibt es keinen Grund, »Kindheit« und mit ihr die brgerliche Familie, die den Schutz- und Schonraum gewhrleisten soll, zu idealisieren. Gleiches gilt fr den Kindergarten, die Schule sowie alle anderen sozialen und pdagogischen Institutionen, die mit

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Rolf Haubl, Frank Dammasch, Heinz Krebs

der Wandlung der brgerlichen Gesellschaft zu einer demokratischen und industriellen Massengesellschaft die familiren Bildungsprozesse flankieren. Auch sie bieten in der Realitt nur bedingt Frei-Rume. Vor allem die Schule, die den bergang von der »Kindheit« zur »Jugend« zu gestalten hat, soll ein Arbeiten lehren, das alles Spielerische hinter sich lsst. Der moderne Zwang zur permanenten Selbstoptimierung, der von den nachindustriellen Arbeitsprozessen und der rasanten technologischen Entwicklung neuerdings sowohl auf die frhkindliche als auch auf die schulische Bildung hinberschwappt, setzt Erzieher, Lehrer und Kinder gleichermaßen unter Erfolgsdruck und verkleinert die Spielrume selbstbestimmter Entfaltung zustzlich. Trotz solcher Ernchterung ist aber letztlich nicht zu bestreiten, dass die brgerliche Gesellschaft historisch den Kindern und Jugendlichen einen bis dato nicht gekannten Eigen-Wert zumisst. Sie werden als unverwechselbar erlebt und verdienen es deshalb, in ihrer Individualitt anerkannt zu werden, wobei die primre Form dieser Anerkennung elterliche Liebe sein soll. Diese Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung ist historisch eine spte Errungenschaft; sie geht weit ber die Bindungen zwischen den Generationen hinaus auf die vormoderne Gesellschaften abstellen. Kindheits- und Jugendforscher sind sich weitgehend einig, dass der skizzierte Schutz- und Schonraum heutzutage bedroht ist, und dies nicht nur in sozioçkonomisch und soziokulturell unterprivilegierten Familien, auch wenn dort, wie es ebenfalls vielfach in Familien mit Migrationshintergrund der Fall ist, die Not am grçßten ist. »Kindheit« verschwindet auf breiter Front, indem sich die Lebenswelt von Kindern immer mehr der Lebenswelt von Erwachsenen angleicht. – Kinder erleben Eltern, die in ihrem Erziehungsauftrag verunsichert sind, weil es ihnen schwerfllt, ihrem Nachwuchs stimmig eine Welt zu erklren, die zunehmend unbersichtlicher wird, und sie wissen, dass ein Rckgriff auf die Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit in Anbetracht eines beschleunigten Gesellschaftswandels nicht weit trgt. – Kinder erleben Eltern, die auf der einen Seite den Anspruch haben, sie an allen relevanten Entscheidungen in der Familie zu beteiligen, auf der anderen Seite mit stndigen Aushandlungsprozessen berfordert sind und bisweilen ihr Pldoyer fr mehr Selbstn-

Zur Einfhrung



















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digkeit der Kinder als Ausrede gebrauchen, sie nicht hinreichend zu untersttzen. Kinder wachsen vielfach ohne Geschwister auf, wodurch jedes einzelne von ihnen in den Mittelpunkt elterlicher Aufmerksamkeit rckt und auch alles daran setzt, sich diese Aufmerksamkeit unbedingt zu sichern. Kinder erleben Eltern, die Schuldgefhle haben, weil sie sich mehr um ihre beruflichen Karrieren als um sie kmmern, was sie dazu einldt, ihnen Schuldgefhle zu machen, um sich Aushandlungen zu entziehen. Kinder erleben beruflich engagierte Eltern, die sich schuldig fhlen und sich kompensatorisch den notwendigen konflikthaften Aushandlungsprozessen entziehen und bermßig gewhrendes Nicht-Erziehungs-Verhalten zeigen. Kinder erleben Eltern, die Freizeit mit Zeit fr Konsum gleichsetzen und ihre Lebensqualitt nach der Menge ihrer Konsumchancen bemessen, weshalb auch sie um demonstrativen Konsum wetteifern. Kinder wachsen unter dem Einfluss von Massenmedien (TV und Internet) auf, die ihnen eine Unmenge von Informationen, aber keine Relevanzkriterien bieten, so dass sie zwar alles wissen kçnnen, was auch Erwachsene wissen, ohne aber in der Lage zu sein, es angemessen zu beurteilen, so dass ihre eigenen Erfahrungen mit ihrer Nah-Welt dadurch stndig relativiert werden. Kinder erleben Eltern, die vorbergehend, wenn nicht dauerhaft arbeitslos sind und darunter leiden, weil gesellschaftliche Anerkennung an beruflichen Erfolg gebunden ist. Kinder erleben, wie sich die Hoffnungen ihrer Eltern auf sozialen Aufstieg oder zumindest Statuswahrung in die Angst vor sozialem Abstieg verwandelt. Kinder stehen zunehmend unter dem Druck einer leistungsorientierten Frherziehung. Sptestens vom Grundschulalter an erleben sie einen scharfen Wettbewerb um knappe Bildungszertifikate, in dem die Leistungsschwachen ohne nachhaltige Fçrderung ausgesondert werden. Sich diesem Wettbewerb zu entziehen, erscheint nur unter Verzicht auf Lebenschancen mçglich. Kinder erleben Eltern, die eher ihre kognitiven als ihre emotionalen und sozialen Anlagen fçrdern.

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Rolf Haubl, Frank Dammasch, Heinz Krebs

– Individuelle Lernprozesse von Kindern finden immer frher nach Maßgabe von kollektiv standardisierten Arbeitsprozessen statt, in denen ergebnisorientierte Belohnungen an die Stelle spielerischer Weltentdeckung tritt. Diese Liste ließe sich leicht verlngern. Sie portrtiert Kindheit und Jugend im 21. Jahrhundert sicher dsterer als sie tatschlich gelebt wird, weil kein reales Kind allen Entwicklungstrends zugleich ausgesetzt ist. Was sie illustrieren soll, sind Lebensbedingungen, die zentral durch riskante Chancen oder chancenreiche Risiken von Kindern und Jugendlichen gekennzeichnet sind. Keine Frage, dass sie gesellschaftlich Chancen fr einen individualisierten Lebensentwurf haben wie nie zuvor. Keine Frage aber auch, dass es hohe Kosten hat, sie zu ergreifen, in vielen Fllen zu hohe. Dafr spricht der enorme Anstieg der gesundheitlichen, kçrperlichen und psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen: Keine Generation vorher erscheint derart beeintrchtigt. Von zunehmenden Allergien bis zu zunehmenden Angststçrungen und Depressionen reicht die alarmierende Bestandsaufnahme heutiger »Kinderkrankheiten«. Es ist sicher berechtigt, die epidemiologisch festgestellten Steigerungsraten nicht als bloßen Sensibilisierungseffekt abzutun, sondern sie als einen validen Indikator dafr zu betrachten, dass die gesellschaftlichen Anpassungsleistungen, die heutigen Kindern und Jugendlichen abverlangt werden, mehr als bloße Herausforderungen sind – nmlich wirkliche berforderungen. Wenn Kinder und Jugendliche – Jungen mehr als Mdchen – auf diese Situation mit einer Steigerung ihrer Gewaltbereitschaft oder einem selbstdestruktiven Gebrauch legaler und illegaler Drogen reagieren, dann zeigt sich darin primr kein moralisierbarer Sittenverfall, sondern vor allem der letztlich ohnmchtige Versuch, sich gegen diese berforderung zu wehren. Aufgrund ihrer hohen Belastungen sind Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert auch von Experten umgeben, die sich arbeitsteilig bemhen, ihnen und ihren Eltern beizustehen, die Risikofaktoren der modernen Lebensbedingungen fr ihr gedeihliches Heranwachsen zu verringern, kurativ, besser noch aber prventiv. So geraten Kinder und Jugendliche heute mehr als jemals zuvor in den Einflussbereich pro-

Zur Einfhrung

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fessionellen Handelns: von mnnlichen und weiblichen Erziehern, Lehrern, Sozialarbeitern, Therapeuten. Wenn es schlecht luft, treten Eltern ihre erzieherische Verantwortung an diese Experten ab. Luft es gut, teilen sie sich die Verantwortung, mit dem Ziel, sich in ihrer Funktion als Hilfs-Ich nach und nach zurckzunehmen. So gesehen, behlt der moderne Grundsatz, so viel Frsorge wie nçtig bei so viel Selbstbestimmung wie mçglich, auch zuknftig seine Gltigkeit. Damit es zu einer geteilten Verantwortungsbernahme kommt, bedarf es geklrter Zustndigkeiten und einer kooperativen Haltung, die das Kindeswohl ber professionellen Ehrgeiz stellt. Die Beitrge, die in diesem Buch versammelt sind, lassen sich auf dem hier skizzierten Hintergrund als multiprofessionelle Momentaufnahmen aus einer Erwachsenenwelt und deren Institutionen lesen, die, soll Kinderfreundlichkeit mehr als ein Lippenbekenntnis sein, immer auch ihre eigenen Selbstverstndlichkeiten in Frage stellen muss.

Familienleben

Rose Ahlheim

Elternschaft – Entwicklungsprozess und Konfliktpotential

»Mutterschaftskonstellation« oder »emotionale Symbiose« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Kind mich liebt«, sagt Frau C. resigniert. »Cindy – warum sollte sie? Sie hat doch gar keinen Grund dazu!« Cindy, 14 Monate alt, lehnt an Mutters Knie und schaut ihr aufmerksam ins Gesicht. Dann lacht sie sie an, ihr Blick wird im nchsten Moment wieder ernst, als nicht gleich ein Lcheln zurckkommt. Sie streckt der Mutter die Arme entgegen und gibt damit zu verstehen, dass sie hochgenommen werden mçchte. Die Mutter reagiert sofort, zieht sie mit liebevoller Geste auf ihren Schoß, bringt sie in eine liegende Position, so als wolle sie das Kind stillen. Cindy wird sehr bald unruhig, gibt unwillige Laute von sich, windet sich und zeigt zum Fenster. Anscheinend wnscht sie sich, die Mutter mçge sie auf dem Arm halten zum gemeinsamen Hinausschauen. »Da, da!«, sagt Cindy. Frau C. lsst sie wieder auf den Boden gleiten, und Cindy beginnt die herumliegenden Spielsachen von sich zu werfen – »Das tut sie am liebsten«, sagt die Mutter, »den ganzen Tag wirft sie Sachen weg.« Frau C. plagt sich mit schweren Zweifeln und Selbstvorwrfen, sie glaubt, ihrem Kind eine schlechte Mutter gewesen zu sein. Sie hat unter einer schweren postpartalen Depression gelitten und konnte, wie sie erzhlt, »berhaupt keine Beziehung« zu ihrem Baby spren. Nur in den Momenten des Stillens habe sie sich ihm verbunden gefhlt und die kleine Cindy deswegen so oft und so lange wie mçglich an die Brust gelegt. Sobald sie ihr aber zustzlich feste Nahrung angeboten habe, habe Cindy die Brust nicht mehr gewollt. Die Mutter wird die qulende berzeugung nicht los, dass Cindy ihr gegenber eine ebensolche Gleichgltigkeit und Leere fhlt, wie sie selbst sie aus

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Rose Ahlheim

ihrer schlimmsten Zeit der Depression kennt. Sie glaubt, dass Cindy das »wenige« Gute, das sie ihr geben konnte, auch noch zurckgewiesen hat, weil es zu wenig und nicht gut genug gewesen sei. In ihrem Unglck kann Frau C. sich nicht vorstellen, wie wichtig und einzig sie fr ihr Kind ist, wie sehr Cindy sich auch ihre Begleitung wnscht, wenn sie die Welt fr sich entdecken will. Fr diese Mutter hat sich das, was Daniel Stern (1998) die »Mutterschaftskonstellation« nennt, in unglcklicher und unguter Weise hergestellt – die erste, frheste und entscheidende Phase von »Elternschaft«, wie sie bereits Therese Benedek vor fast 50 Jahren beschrieben hat. Benedeks Aufsatz »Elternschaft als Entwicklungsphase« (1960), der viele spter aktuell gewordene Diskussionspunkte vorwegnahm, ist mit seiner differenzierten Darstellung der gegenseitigen Projektionen, Introjektionen und Identifikationen zwischen Mutter und Kind einerseits, der inneren Auseinandersetzung der jungen Eltern mit den Mutterreprsentanzen und verinnerlichten Konflikten aus der eigenen Kindheit andererseits immer noch lesenswert. Benedek sieht die Vernderungsprozesse in der Mutter, die mit Schwangerschaft, Geburt und Versorgung des Neugeborenen einhergehen, aus zwei dynamischen Quellen in Gang gesetzt und bestimmt: Zum einen bewirke der hormonell bestimmte, naturwchsige »Fortpflanzungstrieb« eine Wendung der Frau zur Mtterlichkeit; zum anderen sei die Wiederbelebung von infantilen Erinnerungsspuren – von Kçrpersensationen, psychophysischen Erlebniszustnden, von Selbstreprsentanzen und Elternbildern mit allen Begleitemotionen – fr die junge Mutter der unbewusste Pfad, der sie zum einfhlenden Verstehen ihres Kindes wie auch zur Ausbildung ihrer mtterlichen Identitt leite. Heute wrden wir eine solche Trennung zweier unterschiedlicher Dynamiken nicht so ausdrcklich vornehmen, hat sich doch die Meinung durchgesetzt, dass ein »Fortpflanzungstrieb« gar nicht denkbar ist außerhalb der einsozialisierten Erlebnisweisen, Handlungs- und Erwartungsmuster. Die kçrperliche Stimulation durch hormonelle Vernderungen bedarf der zuvor erworbenen inneren Bilder und kçrperlich eingeschriebenen Erlebnisspuren, um sich im Selbstbild der jungen Mutter niederzuschlagen, in ihrer emotionalen Befindlichkeit, in ihrer Fhigkeit, das Kind zu verstehen und angemessen auf seine Signale zu reagieren.

Elternschaft – Entwicklungsprozess und Konfliktpotential

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Die allerfrheste Zeit wechselseitiger Austauschprozesse beschreibt Benedek als eine »emotionale Symbiose«, in der primre Prozesse der Introjektion und Identifizierung im Kind die Basis der psychischen Strukturbildung bereiten und in der Mutter alte (vorsprachliche, an Kçrpererleben gebundene) Erinnerungsspuren wieder aufrufen. Im gelingenden Fall sind es die Empfindungen des Saugens, der Sttigung, Tast-, Geruchs- und kinsthetische Begleitsensationen, die zum globalen Erleben geteilter Befriedigung und Lust fhren. Im Kind fgen sie sich im Verlauf der immer hnlich verlaufenden Interaktionen zur Reprsentanz eines befriedigenden und lustvollen Objekts und – zugleich und noch nicht scharf getrennt – zur Reprsentanz eines befriedigten und lustvollen Selbst zusammen. In der Mutter rufen sie die Sicherheit gebenden Erinnerungen an Genhrt- und Gehaltenwerden wach und fhren zur Identifikation mit der nhrenden und haltenden Mutter der eigenen Kindheit. Gute Mutter – gutes Kind, dieses primre, auf Introjektionen und Identifizierung gegrndete Erleben sichert fr beide, Mutter und Kind, eine hinreichend sichere Basis fr Vertrauen und fr die Fhigkeit, gute Erfahrung als Hoffnung in die Zukunft zu projizieren (Benedek, 1960, S. 38). Im negativen Fall schlagen sich die Erfahrungen von Versagung, von Hunger und Unlust, Schreien und Wut in schmerzvollschlechten Erinnerungsspuren nieder und verdichten sich im Kind zum Bild eines versagenden und wuterregenden Objekts in Verbindung mit einem frustrierten und hasserfllten Selbst. Die Mutter aber identifiziert sich nach zwei Seiten, einerseits mit ihrem Kind, also auch mit sich selbst als dem Kind, das sie einmal war, aber zugleich mit der eigenen Mutter – wenn nun das Schreien des Kindes nicht zu beruhigen ist und der Mutter das Gefhl vermittelt, sie verstehe ihr Kind nicht, so identifiziert sie sich mit einem unzufriedenen Kind, einem Kind, das keine Zuversicht entwickeln kann und das kein verlssliches Gegenber findet, und zugleich mit einer frustrierenden Mutter, die ihr Kind nicht verstehen und zufrieden stellen kann. So wird der »ambivalente Kern« in ihrer seelischen Struktur aktiviert, was zu depressiven Manifestationen fhren kann, und im Kind ein ambivalenter Kern angelegt (S. 42). Die intensive Bearbeitung der Beziehung zur eigenen Mutter, die mit dem eigenen Kind wieder in den Lebensmittelpunkt der jungen Frau gerckt ist, kann zu neuen Orientierungen und Lçsungen fhren

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Rose Ahlheim

und ist nicht mit regressiven Prozessen zu verwechseln. Dennoch ist der Prozess der Neuidentifizierung und Umorientierung oft schwierig und fr Stçrungen anfllig. Daniel Stern (1998, S. 216 ff.) weist mit Recht darauf hin, dass es nicht allein um die phantasmatischen inneren Bilder der jungen Mutter geht, dass vielmehr junge Frauen, im Prozess der Umstellung auf mtterliche Funktionen, Untersttzung im sozialen Umfeld brauchen. Unter traditionellen Bedingungen bildeten die weiblichen und mtterlichen Lebenszusammenhnge eine »untersttzende Matrix«, die der jungen Mutter Halt, Anerkennung und auch Anleitung sichern konnten. Unter den gegenwrtigen Bedingungen der Kleinfamilie – die geforderte berufliche Mobilitt hat oftmals zur Folge, dass die Ursprungsfamilien rumlich weit entfernt wohnen – muss das junge Elternpaar vielfach selbst fr die untersttzenden Strukturen sorgen. Wo die Sicherheit gebenden informellen Strukturen ersatzlos weggebrochen sind, ist fr die junge Frau auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter und die selektive, auf erwachsene Weise kritische Identifikation mit Mtterlichkeit erschwert. Wenn wir nun auf das eingangs skizzierte Bild von Cindy und ihrer Mutter zurckblicken, mssen wir feststellen: Frau C. trgt das Bild einer desinteressierten, nicht erreichbaren Mutter in sich. In ihrem Fall war es, wieder auflebende Kindheitskonflikte verstrkend, eine erst kurz zurckliegende traumatische Verlusterfahrung, eine noch unbewltigte Trauer, die ihr den Zugang zu ihren Ressourcen »guter« Mtterlichkeit versperrte – und weder die eigenen Eltern noch die des Kindesvaters standen zur realen ußeren Absicherung und Untersttzung zur Verfgung. Eindrucksvoll ist, wie intensiv die Erwartung, nicht gesehen und nicht gewollt zu sein, auf das Kind projiziert wird. Frau C. glaubt nicht, dass Cindy sie lieben kann, so wie sie sich auch von der eigenen inneren Mutter (so wie sie sie aus der Kindheit erinnert) nicht geliebt fhlt. Insofern hat Cindy fr sie den Platz der desinteressierten, ablehnenden Mutter eingenommen. Frau C. erlebt aber sich selbst als ebenso »schlechte Mutter«. Sie hat unter der schwer lastenden postpartalen Depression die Erfahrung guten Gedeihens nicht ausreichend verinnerlichen kçnnen – obwohl es im Einvernehmen des Stillens ja viele »gute« Momente zwischen Cindy und ihr gegeben hat – und kann deswegen auch nicht sicher genug eine Zukunft des guten Gedeihens fr Cindy antizipieren. Es fehlt ihr zu

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ihrem eigenen Leid an zuversichtlicher Hoffnung, an einer Perspektive fr sich und ihr Kind in die Zukunft. Deswegen zeigt sie auch wenig Interesse an Cindys Bedrfnis, mit ihrer Untersttzung »die Welt« fr sich zu entdecken.

»Primre Vterlichkeit« Es ist fr uns heute ein vertrauter Gedanke, dass der junge Vater eine vergleichbare Vernderung seiner Identitt und seines Selbstgefhls durchlebt. Auch in ihm werden die Erlebnisspuren mit primrer Mtterlichkeit, frhe Identifikationen mit der versorgenden (oder versagenden) Mutter aktiviert, auch fr ihn wird ein lange nicht mehr zugnglicher oder nicht beachteter Erinnerungskontext aktuell. Therese Benedek musste in diesem Zusammenhang noch eigens auf die naturgegebene Bisexualitt verweisen, die dem Mann auch »weibliche« Eigenschaften und Erlebnisweisen zugnglich mache (S. 43), so dass auch er, identifiziert mit der eigenen Mutter, mit seinem Kind in einen emotionalen Austausch treten kann. Auch wenn es uns heute selbstverstndlich scheint, in den Vtern auch »mtterliche« Seiten zu vermuten (und vice versa): Die Konzepte dessen, was »Vterlichkeit« ausmacht, variieren. In Margaret Mahlers (Mahler et al., 1978) entwicklungspsychologischem Schema spielt der Vater des Kindes erst in der Lçsung der Wiederannherungskrise eine entscheidende Rolle: Er greift als Dritter ein, um das Kind vor der Anziehungsmacht der symbiotischen Mutterimago zu schtzen, die es wieder zu verschlingen droht. Die Zuwendung zu dem »nichtkontaminierten« Objekt ermçglicht dem Kind den Ausweg aus der Ambivalenzkrise, in der gefangen zu bleiben es so sehr (und mit Recht) frchtet. Mahlers Mitarbeiter Abelin (1985) lenkte die Aufmerksamkeit auf die bereits im ersten Lebensjahr beobachtbare lebendige und eingespielte Interaktion zwischen Baby und Vater, die andere Charakteristika zeigte als die Mutter-Kind-Interaktion. Damit war jedoch die innerpsychische Bedeutung des Vaters im Wiederannherungskonflikt in der zweiten Hlfte des zweiten Lebensjahres nicht in Frage gestellt. Fr Daniel Stern ist die Vorstellung einer (sozialen, wie Mahler et al. ausdrcklich vermerken, 1978, S. 64) Symbiose von Mutter und

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Rose Ahlheim

Kind ein fr allemal erledigt, seit die Suglingsforschung gezeigt hat, dass das Baby verschiedene Beziehungspersonen erkennen und unterscheiden kann. Auch viele andere Forscher bevorzugen die Hypothese einer von Beginn an triadisch gestalteten Beziehungswelt des kleinen Kindes, andere vermuten, dass es zugleich zur Mutter und zum Vater jeweils dyadische Beziehungen erlebt (einen berblick ber Vater-Konzepte bietet Heberle, 2006). Aufschlussreich ist eine prospektive Studie, in der Kai von Klitzing und andere (1998, 2002) untersuchten, ob sich die Fhigkeit eines Elternpaares zu triadisch strukturierten Objektvorstellungen auf die Ausbildung der Objektreprsentanzen im Kind auswirke. Um hier Zusammenhnge aufzuzeigen, wurden »werdende« Elternpaare whrend der Schwangerschaft ausfhrlich interviewt, insbesondere nach ihren Gedanken und Phantasien ber das werdende gemeinsame Kind befragt. Dabei zeigte sich vielfach deutlich, ob das Paar Gedanken, Antizipationen und Wertvorstellungen ber das Kind miteinander teilte, ob also ein Leben zu dritt in der Vorstellungswelt von Mann und Frau schon Gestalt annahm, ob ein Austausch darber mçglich war oder ob im Gegenteil schon in der Schwangerschaft Ausschlusstendenzen deutlich wurden und die Partner in dyadischen Beziehungen unter Ausschluss des Dritten dachten – so dass etwa einer der Partner das Kind fr sich haben wollte und in der Phantasie vorweg nahm, wie der jeweils andere vom Kind abgelehnt werden wrde. Nach der Geburt des Kindes wurden weitere Interviews gefhrt, ferner wurden in zwei verschiedenen Testsituationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten die Interaktionen zwischen Eltern und Kind beobachtet, dokumentiert und ausgewertet. Als der wichtigste Teil der Folgeuntersuchungen sollte sich das Geschichten-Erzhlen im Alter von vier Jahren erweisen. Die Kinder wurden aufgefordert, eine standardisierte Auswahl von unvollendeten Geschichten, die ihnen erzhlt und mit Fingerpuppen vorgespielt wurden, zu Ende zu erzhlen und zu spielen. Diese Geschichten kreisten um alterstypische Konfliktstoffe wie Trennung, Rivalitt, Neid, Gier, Streit der Eltern, Ausgeschlossensein etc. Es zeigte sich, dass die Kinder triadisch kompetenter Eltern in der Interaktion zu dritt gewandter waren – was kaum erstaunlich ist – und dass sie auch im Erzhlen und Erfinden von Lçsungsmçglichkeiten kreativer waren, fhiger zu Kompromiss und Versçhnung als diejenigen Kinder, deren Eltern sich als wenig

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triadisch strukturiert gezeigt hatten. Der deutlichste Zusammenhang, den die Studie aufzeigte, war der zwischen der im Interview erkennbaren Vorstellungswelt der werdenden Eltern und der ausgestalteten und differenzierten Vorstellungswelt in diesen Kindererzhlungen. Außerdem gab es einen weiteren klaren Zusammenhang: Kinder, die eine bewegliche Vorstellungswelt mit triangulierten Beziehungsphantasien erkennen ließen, zeigten – einem Fragebogen zufolge, den die Mtter ausfllten – deutlich weniger Tendenzen zu ausagierendem Sozialverhalten. Eigentlich sollten diese Erkenntnisse niemanden wundern: Ein Kind, das sich in andere einfhlen kann, das im Probehandeln der Phantasie Kompromisse und Lçsungswege suchen kann, das mit anderen Worten einen psychischen Binnenraum zur Verfgung hat, braucht nicht gleich um sich zu schlagen, wenn es in Bedrngnis gert. Rcksichtnahme, Kompromissbereitschaft, soziale Phantasie aber setzen triangulierte Beziehungen voraus – offenbar, und das ist das Interessante, schon in den »werdenden« Eltern. Ungnstige Einstellungen der Eltern in der Schwangerschaft – die Neigung etwa, sich gegenseitig herabzusetzen und auszuschließen aus der Beziehung zum Kind – korrelierten mit vermehrt auftretenden funktionellen Symptomen und Stçrungen (von Klitzing, 1998, S. 112 f.). ffentliche Programme der »frhkindlichen Fçrderung«, die solche Art von diffizilen Zusammenhngen schlicht außer Acht lassen oder zum berholten Gedankengut der konservativen Familienideologie rechnen, greifen entschieden zu kurz. Das in Lausanne entwickelte »Spiel zu dritt« (Fivaz-Depeursinge, 1998) ist eine standardisierte Versuchsanordnung, die erlaubt, Interaktionen zwischen Mutter, Vater und Kind in genauesten Details zu dokumentieren und auszuwerten. Die Filmsequenzen, die diese Szenen gemeinsamen Spiels und wechselnden Rckzugs aus der Interaktion festhalten, zeigen, wie differenziert die dreimonatigen Babys im Austausch mit beiden Eltern an den ußerst subtilen Prozessen der sozialen Vergewisserung, der Affektabstimmung und moralischen Bewertung beteiligt sind, wie viel Fingerspitzengefhl aber auch Mutter und Vater brauchen, um jeweils weder den Partner noch das Baby aus dem Auge zu verlieren. Der Beitrag des Vaters zur frhen Entwicklung seiner Kinder unterscheidet sich gleichwohl deutlich von dem eher auf Homçostase

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Rose Ahlheim

ausgerichteten mtterlichen Handeln: Seine Art, mit dem kleinen Kind zu spielen, ist erregender, heftiger, ungestmer, auch von plçtzlichen Abbrchen und rasch gesteigertem Neubeginn gekennzeichnet. Man denke an des Juchzen des Kleinkindes, das vom Papa in die Luft geworfen und wieder aufgefangen wird. Zwar zeigt die Erfahrung, dass Vter eher in »mtterlicher«, ruhig versorgender Haltung handeln kçnnen bzw. Mtter das kçrperlich-lustvolle Bewegungsspiel in ihren Umgangsstil mit einbeziehen, wenn sie bei Abwesenheit des Gegenparts die einzige reale Bezugsperson sein mssen. Aber anscheinend setzt sich eine Art von Arbeitsteilung in der Art der emotionalen Zuwendung durch, wenn das Elternpaar sich die Sorge teilt (Herzog, 1998). Dammasch und Metzger (1999) weisen zu Recht auf die Bedeutung eben dieser Differenz hin. Sie lassen in ihrem ausgewogenen Konzept frher Elternschaft der dyadischen Beziehung zur Mutter (die es, will man etwa Stern oder von Klitzing folgen, eigentlich gar nicht gibt, die demnach hçchstens als Phantasiebildung oder als Illusion in der psychischen Realitt des Kindes eine Rolle spielen mag) ihr Recht: Es entspreche nun einmal den unumstçßlichen biologischen Tatsachen, dass eine spezielle kçrperlich-gemeinsame Geschichte Mutter und Kind verbinde und dass die Urheberschaft des Vaters eine anders geartete sei. Insofern sei es auch das nchstliegende, wenn das Kind Sicherheit und Trost bei der Mutter suche. Die Beziehung zum Vater – von Beginn an ebenfalls nachweisbar und vermutlich auch in exklusiver, dyadischer Weise erlebt – habe anderen Charakter. Zugleich aber gebe es – ebenso sicher nachgewiesen – auch die triadische Beziehung zu Mutter und Vater von Beginn an: ein asymmetrisches Dreieck, weil Mutter und Vater in ungleicher Qualitt erlebt wrden, ein Dreieck aber eben doch, sofern Mutter und Vater sich in ihrer Andersartigkeit anerkennen und gegenseitig innerlich reprsentieren. Fehlt der dreidimensionale Beziehungsraum, weil der innerlich reprsentierte und anerkannte Dritte fehlt, so bleiben Mutter und Kind flchig miteinander verbunden, der Raum fr Phantasie- und Symbolbildung ist eingeschrnkt. Die Fhigkeit zu symbolischer Reprsentation, zum Phantasieren, Spielen, zum Probehandeln in der Phantasie, die Fhigkeit auch, sich vorzustellen, was im Innern des Anderen vor sich geht, wird sich dann voll entfalten kçnnen, wenn das Kind die Erkenntnis verinnerlicht:

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Mutter und Vater sind sich nicht gleich, zwischen ihnen ist eine Differenz und eine Spannung, die neugierig macht und nicht ganz zu ergrnden ist. Das Konzept der Mentalisierung, wie es Peter Fonagy et al. (2004) in Fortfhrung von Bions Theorie des containing entwerfen, bedarf wohl dieser Erweiterung: Nicht nur die Empathie und Feinfhligkeit der Mutter ist entscheidend fr die Entwicklung der symbolisierenden und affektregulierenden Fhigkeiten ihres Kindes. Die homologe Affektabstimmung innerhalb der Dyade fhrt »zu Gleichheitserfahrungen […] es entsteht eine harmonische bereinstimmung, die Regressionen begnstigt. In der Triade dagegen wird Differenz und Heterologie eingefhrt; sie fhrt zur Auseinandersetzung mit dem Fremden und zu progressiven Bewegungen« (Dammasch u. Metzger, 1999, S. 290, vgl. auch von Klitzing, 2002, S. 882 ff.). Es besteht kein zwingender Grund, die Konzepte »emotionale Symbiose« (oder »Dyade«) gegen »triadisches Erleben von Anfang an« alternativ zu verfechten, worauf auch Dammasch und Metzger hinweisen: Im Laufe eines einzigen Tages durchlebt ein Baby die unterschiedlichsten Zustnde des Wachseins und des Bezogenseins, in denen auch die unterschiedlichsten Erlebnis- und Wahrnehmungsweisen sich abwechseln mçgen – Gefhle von symbiotischem Verschmolzensein ebenso wie hellwache differenzierende Wahrnehmung (vgl. Pine, 1990, besonders S. 59).

Zur Bedeutung der Differenz: Ein Fallbeispiel Das Erstgesprch mit Marthas Eltern ist lebhaft und interessant. Die vierjhrige Martha leidet, wie sie erzhlen, an einer psychosomatischen Krankheit, die von beiden Eltern viel Aufmerksamkeit und Pflege verlangt, besonders in der Nacht braucht Martha oftmals Untersttzung und Trost. Es gibt kein gemeinsames Bett mehr fr das Elternpaar, sondern Mutter oder Vater haben abwechselnd »Dienst« am Kinderbett und schlafen dann in Marthas Zimmer. Dieses Arrangement stçrt die Eltern nicht, weil das Bild einer Kleinfamilie »Vater, Mutter, Kind« ohnehin nicht ihrem Lebensentwurf entspricht. Sie haben seit der Studentenzeit miteinander in einer stabilen grçßeren Wohngemeinschaft gelebt und sich auch ihre Zu-

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kunft hnlich vorgestellt. Weil sie beide der Meinung sind, zu einem erfllten Leben gehçrten auch Kinder, ist ihnen die Schwangerschaft willkommen, als sie denn eintritt. Nach Marthas Geburt aber zeigt sich, dass das Zusammenleben mit den brigen Erwachsenen der Wohngemeinschaft nicht tragfhig ist. Es kommt zu Konflikten, man »schaltet auf Frost«, wie die Mutter sagt. Von einer eisigen Atmosphre umgeben, versuchen indessen die jungen Eltern, ihrer kleinen Tochter alles das zu geben, was sie braucht, und gleichzeitig einander »gerecht« zu behandeln: Keiner der beiden, so erzhlten sie, solle »zu wenig« von dem Kind haben, ihr Anteil solle »gleich groß« sein. Sie meinen damit all das Lustvolle und Positive, das die Versorgung eines Babys mit sich bringt, aber unausgesprochen ist damit sicher auch gemeint, dass die Last und der gelegentlich unvermeidliche berdruss gleichmßig verteilt sein sollen. Nachdem sie etwa ein Jahr lang in ihrer Wohngemeinschaft ausgeharrt haben, setzt sich bei beiden die berzeugung durch, dass diese Lebensform, von der sie sich eine so gute Zukunft versprochen haben, fr ihr Kind nicht zutrglich ist. Sie ziehen in eine gemeinsame Wohnung, beide setzen ihre Berufskarriere so fort, dass viel Zeit fr das Kind bleibt, und sorgen im brigen fr eine gute und zuverlssige Betreuung in einer Krabbelstube. Weiterhin planen sie sorgfltig so, dass beide Teile »gleich viel« fr das Kind tun und, vice versa, von ihm haben. Aber Martha – vielseitig und hoch begabt – entwickelt eine hartnckige psychosomatische Stçrung, die sie in ihrem Wohlbefinden stark beeintrchtigt und die die Eltern beunruhigt. Als es zu einer Kindertherapie kommt, nutzten die Eltern die begleitenden Gesprche, um ber ihre Paarbeziehung nachzudenken. Beide entdecken, dass sie keine rechte innere Vorstellung von einem »Elternpaar« mitbringen. Die Mutter war als Einzelkind bei ihrer Mutter aufgewachsen und hat von dieser die berzeugung bernommen, der getrennt von seiner Familie lebende Vater werde nicht gebraucht, man kçnne gut ohne ihn auskommen und selbst eine finanzielle Beteiligung des Vaters sei unnçtig und eher auf unerwnschte Weise verpflichtend. Ihre Mutter – Marthas Großmutter also – hatte ihrerseits ihren Vater kaum gekannt, dieser war im Krieg verschollen, und man vermied in der Familie den Gedanken an ihn. Marthas Mutter meinte, sie sei in einer Dynastie von selbstndigen Frauen aufgewachsen, die Mnner eher am Rande duldeten – viel-

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leicht immer noch von der berzeugung geprgt, auf Paarbeziehungen solle man sich besser nicht verlassen, um nicht einen allzu schmerzhaften Verlust erleben zu mssen. Mit einem gewissen Erstaunen stellt Marthas Vater fest, dass auch seine Lebensgeschichte noch von dem kriegsbedingten Schicksal seiner Großeltern mtterlicherseits geprgt ist. Er erinnert sich an eine Großmutter, die dem Großvater mit Ablehnung und Verachtung begegnete, was dieser aber eher mit Gleichgltigkeit und Resignation hingenommen habe. Von seiner Mutter hatte er gehçrt, dass dieser Großvater spt aus der Kriegsgefangenschaft zurckgekehrt sei und von seiner Frau und den heranwachsenden Kindern, nach dem anfnglichen Jubel ber die unverhoffte Rckkehr, als lstiger Stçrenfried empfunden wurde, der sich in die Familie nicht mehr hineinfinden konnte. Seine eigene Mutter, so Marthas Vater, habe sich von seinem Vater getrennt, als er selbst zwçlf Jahre alt war, er habe dies nach jahrelangem Spannungszustand im Elternhaus eher als entlastend empfunden, zu seinem Vater habe er eine gute Beziehung, »aber ber die Entfernung«, die Mutter erlebe er manchmal als intrusiv und »nervend«, dann wieder ber lange Zeiten als distanziert und emotional wenig erreichbar – so sei es schon immer gewesen. »Ich habe kein Bild von meinen Eltern als einem Paar in mir«, sagt er, »ich kenne sie nur als getrennte Personen, die sich aus dem Weg gingen – obwohl er sicher ein guter Vater war und sie eine gute Mutter.« »Das ist eigenartig«, ergnzt seine Frau, »wir sind schon ein paar Jahre lang Eltern, aber wir mssen erst noch lernen, ein Elternpaar zu sein.« Besonders sie beginnt, die auf Gleichheit und Gerechtigkeit bedachte Einteilung der Elternpflichten als zwanghaft und belastend zu empfinden. »Bei uns ist alles so aufgeteilt!«, sagt sie unglcklich, und sie wnscht sich mehr Spontaneitt sowohl in der Beziehung zu ihrem Mann als auch in der »Dreisamkeit« mit Martha. Nachdem sie in den Jahren der Wohngemeinschaft sich zwar geliebt, aber keine Paarbeziehung untereinander gepflegt htten, so meinen die Eltern, htten sie nach dem Auszug Martha »zwischen sich gezogen«, um sich sicherer miteinander zu fhlen. Martha macht es den Eltern leicht, die »Gleichheit« hinter sich zu lassen und die Differenz in ihrer belebenden Potenz zu entdecken. Martha tritt in ein glhendes çdipales Liebesverhltnis zu ihrem Papa ein und umwirbt ihn mit allem kindlichen Charme, zugleich iden-

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tifiziert sie sich in so niedlicher Weise mit der Weiblichkeit der Mutter, dass auch diese die neue Entwicklung lustvoll erlebt. Das Kind verzichtet nach einigem innerem Ringen auf den Wunsch, »beides« zu sein – nach Belieben mal Junge, mal Mdchen –, und die somatische Symptomatik verschwindet. Freilich taucht ein neues Problem auf: Martha hat in der Nacht Angst, Phantasien von gefhrlichem Feuer stçren ihre Ruhe. Sie ist leicht krnkbar und gelegentlich niedergeschlagen oder traurig. Es ist fr die Eltern nicht einfach, diese seelischen Begleiterscheinungen innerer Konflikte als »normal« und unvermeidlich zu betrachten – zuvor kannten sie ein zwar krankes, aber psychisch scheinbar ausgeglichenes und robustes Kind. Umso willkommener ist ihnen die Erfahrung, dass sie Martha beruhigen und trçsten kçnnen und dennoch ihre eheliche Intimitt nicht dem Kind opfern mssen. Wochenlang hat Martha in ihren Therapiestunden das Puppen-Elternpaar aus dem Puppenhaus geworfen: »Ihr kçnnt woanders Liebe machen!« In ihrer letzten Stunde holt sie sie wieder herein (»Ihr gehçrt ja zu den Kindern«) und richtet ihnen ein Ehepaar-Schlafzimmer ein. Und die Eltern lassen die Therapeutin auf freundliche Weise wissen, dass sie sie nicht mehr brauchen: »Wir wrden diese letzte Stunde gern etwas frher beenden, wenn es Ihnen recht ist, wir mçchten miteinander schçn essen gehen.«

Die Abhngigkeit der Eltern von ihren Kindern In diesem Beispiel einer geglckten Entwicklung gingen wichtige Impulse vom Kind aus: In ihrem Drang nach Fortentwicklung, Differenzierung, Individuation und Separation hatte Martha zu dem beschriebenen Zeitpunkt die Meilensteine der çdipalen Konfliktkonstellation zu passieren und dies war ein guter Einstieg fr die Eltern, die jeweils eigene Geschlechtsidentitt in Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Eltern nochmals zu berarbeiten und die Beziehungs-Reprsentanzen »Vater mit Mutter«, »Mutter mit Vater«, »Mutter und Vater mit Kind« zu modifizieren und auch neu miteinander auszuhandeln.

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Man sollte nicht bersehen, in welchem Ausmaß Eltern auch ihrerseits auf die Impulse ihrer Kinder angewiesen sind. Auch diesen Zusammenhang hat bereits Therese Benedek (1960) betont: »Wenn wir […] den jeweiligen Kummer der Eltern nur in Begriffen der jeweiligen Vergangenheit deuten, dann lassen wir die unendlich vielen kleinen Ereignisse und affektiven Verknpfungen unbercksichtigt, die, indem sie die Spirale des Austauschs in Gang halten, erst zur pathologischen Situation fhren« (S. 49).

Mit anderen Worten: Auch die eigene Art des Kindes macht das ihre mit den Eltern, Tag fr Tag. Eine unsichere Mutter wird ber der Versorgung eines ruhigen, nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringenden Babys Sicherheit gewinnen kçnnen, so dass sie dann auch Krisen mit ihm durchstehen kann. Dieselbe Mutter kçnnte aber im Austausch mit einem unruhigen, leicht stçrbaren Kind oder einem Baby, das sich nicht leicht trçsten lsst, in die negative Spirale geraten. Auch eine besonders gute Begabung, wie Martha sie zeigte und vermutlich zu einem guten Teil auch als Ausstattung mitgebracht hat, kann fr die Eltern eine Schwierigkeit bedeuten. Die Anpassungsfhigkeit des Kindes, seine Bereitschaft, die Erwartungen der Eltern zu erfllen, mag sie ber seine tatschliche Bedrftigkeit und Abhngigkeit hinwegtuschen. Martha spielte zu Beginn ihrer Therapie viele amsante Szenen von einfallsreichen Kindern, die die Erwachsenen der Puppenhaus-Familie an der Nase herumfhrten und dumm dastehen ließen. So lebhaft ihre Phantasie, so sprachgewandt ihre Darstellung auch war – die Therapeutin, die diesen Darbietungen nur zuschauen konnte, begann sich bald zu langweilen und fhlte schließlich Einsamkeit und Traurigkeit in sich aufsteigen. Schließlich griff sie in das Spiel ein und ließ eine der Kinderpuppen sagen: »Immer muss ich so viel kçnnen und so viele Ideen haben. Ich mçchte doch einfach so liebgehabt werden, ohne dass ich super sein muss. Einfach weil ich da bin.« Martha ließ ihre Hnde mit den Spielfiguren sinken und schaute die Therapeutin stumm an. Diese ließ das Puppenkind weitersprechen, dem Gefhl folgend, das sie als Gegenbertragung auffasste: »Manchmal bin ich so traurig, weil ich denke, sie haben mich nur lieb, wenn ich extra etwas Gutes geleistet habe.« »Am besten bringen wir die Kinder jetzt ins Bett, da kçnnen sie

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schlafen«, sagte Martha, »wir spielen jetzt was anderes«, und sie wandte sich einem Funktionsspiel (Pfeile werfen) zu. Am anderen Tag saß sie im Kindergarten stundenlang in einer Kiste und erklrte, sie sei traurig und wisse nicht, warum. Aber nachmittags erklrte sie der Mutter: »Ich will nicht immer groß sein, ich will auch manchmal klein sein. Und dann weiß ich gar nicht, was ich machen soll!« Zum Glck verstanden die Eltern sehr gut, dass ihr begabtes kleines Mdchen nicht nur »fr groß genommen« werden wollte, sondern tatschlich noch klein und bedrftig war, und stellten sich darauf ein.

ber die Konflikte von Vtern und Mttern mit der »elterlichen Position« Anzuerkennen, dass ihre Kinder klein sind und deshalb besondere Bedrfnisse haben, fllt nicht allen Eltern leicht. »Ich kaufe mir ja gar kein Eis mehr«, meint entsagungsvoll die Mutter der zweijhrigen Meike. »Meike schlingt ihres so schnell runter wie nichts, und dann will sie meins haben. Dann macht sie so lange Terror, bis ich es ihr gebe. Lieber kauf ich mir erst gar keins!« Das Eis ist hier nicht das Problem, sondern das Muster der Beziehung. Meike mit ihren zwei Jahren kann noch nicht abwgen, was ihr zusteht und was nicht, man kann von ihr weder Rcksicht noch Gerechtigkeit verlangen. Es liegt bei der Erwachsenen, ihr ein Eis zu verweigern oder nicht. Indem die Mutter sich – ein Opfer der kindlichen Gier – unterwirft, macht sie aus dem kleinen Mdchen ein Monster, dem sie sich unterlegen fhlt. Es ist, als habe sie die Rollen vertauscht, und es kçnnte sein, dass Meike, wenn sich hnliche Szenen oft genug wiederholen, selbst das Monster in sich zu frchten beginnt, das der Mutter Schaden zufgen kçnnte. Als die Mutter zwei Jahre alt war, wurde der Bruder, der ersehnte Junge geboren. Nach ihr fragte man dann nicht mehr groß, sie fhlte sich bergangen und gering geschtzt – dieses wiederbelebte Muster setzt sie jetzt in umgekehrter Richtung in Szene, jetzt ist es das zweijhrige Kind, von dem sie sich berrollt und rcksichtslos ausgenutzt fhlt – so wie sie es vielleicht damals der eigenen Mutter gewnscht htte. Oder: Eine junge Frau folgt lustlos dem dreijhrigen Mdchen, das strahlend und unternehmungslustig (»hierher, Mama!«) einen Lini-

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enbus erklimmt. Kaum hat der Bus sich in Fahrt gesetzt, beginnt das kleine Mdchen aufgeregt zu beobachten und zu kommentieren, was es dort draußen vorbei gleiten sieht. Da beginnt die Mutter zu nçrgeln: »Was musstest du unbedingt mit dem Bus fahren? Als ob ich nichts Wichtigeres zu tun htte! Jetzt sitz ich hier fest mir dir!« und so fort, bis das kleine Mdchen verstummt. Sie gibt sich so, als kçnne sie sich gegen die bermacht ihres Kindes nicht wehren, habe sich fgen mssen und nehme nun heimlich und subtil Rache, indem sie der Kleinen die Lust und Neugier vermiest und das kindliche Expansionsbestreben ohne offene Eingrenzung torpediert. Keiner der beteiligten Erwachsenen wird ohne Not so handeln, neben eigenen lebensgeschichtlichen Erinnerungen tragen sie auch schon die Erfahrungen einiger Jahre mit ihren Kindern mit sich. Beide Mdchen haben vielleicht die Schwachstellen der Mutter bereits entdeckt und bohren dort immer weiter mit der Frage, wann sich doch noch ein Widerstand zeigen wird. Darber kann der Beobachter aus den einzelnen kurzen Szenen nichts Sicheres erfahren, aber deutlich ist: Eine Rollenumkehr hat stattgefunden, Macht und Ohnmacht sind nicht aus dem Eltern-Kind-Verhltnis verschwunden, sondern verdreht in Szene gesetzt. Solche Konstellationen, wenn sie denn dauerhaft die Beziehungen prgen, sind wohl als eine Umkehr des berchtigten autoritren Erziehungsstils zu verstehen. Hatten in autoritr regierten Familien die Kinder Grund, sich vor einer berwltigenden, unberechenbaren, Einfhlung verweigernden elterlichen Gewalt zu frchten, so scheinen hier die Eltern aus Angst vor elterlicher Autoritt – nmlich derjenigen die sie selber verkçrpern kçnnten – ihre elterliche Position freiwillig gerumt zu haben. »Angst vor Autoritt« scheint das durchgehende Merkmal zu sein. Die Aushçhlung dessen, was traditionell als »vterliche Autoritt« gegolten hatte, ist schon in den »Studien ber Autoritt und Familie« des Frankfurter Instituts fr Sozialforschung (Horkheimer et al., 1936/1987) und genauer noch in den berhmten »Studien zum autoritren Charakter« aus den 1940er Jahren (vgl. Adorno, 1973) beschrieben worden. Die Position des Vaters, als des Ernhrers der Familie, hatte sich verndert, seine Arbeit fand außerhalb des Hauses in einer arbeitsteiligen Produktionsweise statt, war mit zunehmender Taylorisierung der Arbeitsvollzge abstrakter geworden und schwer zu beschreiben, sie war stets von weiterer Rationalisierung und Margi-

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nalisierung bedroht. Lohnabhngigkeit bedeutete Existenzunsicherheit und Abhngigkeit von unsichtbaren Gewalten wie den Bçrsenmrkten und internationalen Finanzmrkten. In der Familie, so die berlegung in den genannten Studien, trugen die »autoritr« eingestellten Vter defensiv eine Autoritt vor sich her, die auf tçnernen Fßen stand, ihrer tatschlichen gesellschaftlichen Position nicht entsprach und entsprechend als brchig und unzuverlssig empfunden werden konnte. Dem mag entsprechen, dass der gegenwrtig so viel diskutierte Wandel der familialen Lebensformen – hufige Partnerwechsel, »Patchwork-Familien«, alleinerziehende Elternteile – in der damaligen Arbeiterschaft sehr viel frher stattfand als in der Mittelschicht, wo er erst in jngerer Zeit angekommen ist – ebenso wie die Unsicherheit der beruflichen Perspektiven. Alexander Mitscherlichs Beschreibung seiner Zeit »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« (1963) geht noch einen Schritt weiter und liest sich damit erstaunlich aktuell. Macht- und Abhngigkeitsverhltnisse seien nicht mehr durch Personen reprsentiert, die sinnlich erfahrbar Herrschaft ausben, sondern mit vorangetriebener Spezialisierung und Arbeitsteilung nur noch als abstrakte Systemzwnge. »Wo kein identifizierbarer Einzelner die Macht in Hnden hlt, besteht dem Prinzip nach eine Geschwistergesellschaft« (S. 341), ein »Riesenheer von rivalisierenden, neidischen Geschwistern. Ihr Hauptkonflikt ist nicht durch die çdipale Rivalitt […] bezeichnet, sondern durch den Geschwisterneid auf den Nachbarn, den Konkurrenten, der mehr bekommen hat« (S. 332).

Ebendiese Nivellierung und Fraternisierung der emotionalen Beziehungen wirke zurck auf die Beziehungsstrukturen innerhalb der Familien, nicht nur was die Stellung des Vaters betreffe: Es kçnne so kommen, dass Kinder (innerlich) vater- und mutterlos aufwachsen, und darin liege eine große Herausforderung. Es mag sein, dass die vielfltigen Anzeichen einer Laisser-faire-Erziehungshaltung, die nach wie vor zu beobachten sind, dieser (scheinbaren) Nivellierung in den gesellschaftlichen Beziehungen entsprechen (vgl. Kuchinke, 2002): Es gibt weder fassbare Herrschaft noch die Phantasie einer Rebellion – also keine çdipal strukturierte Erfahrung –, wo ein abstraktes »Markt«geschehen als Schicksalsmacht gilt.

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Abhngigkeit der Eltern von professionellen Erziehern? Gleichwohl stellt die herkçmmliche Kleinfamilie nach wie vor die zentrale Sozialisationsinstanz dar. Die weitaus meisten Kinder leben in Familien mit mehreren Erwachsenen zusammen. Jugendliche haben, nach ihrem Lebensplan befragt, in ihrer deutlichen Mehrheit das Bild einer dauerhaft funktionierenden Familie mit Vater, Mutter und Kindern vor sich. Ein Paar, das sich gemeinsame Kinder wnscht, stellt sich im Normalfall ein Zusammenbleiben der Familie vor. Trennungen sind nach wie vor von schmerzlichen und teils hochaggressiv aufgeladenen Konflikten begleitet. Nimmt man ernst, was wir ber die hochkomplexen frhen Prozesse der Affektregulierung, der emotionalen Abstimmung zwischen Eltern und Kind, der gemeinsamen Bewertung und Interpretation von mitgeteilten Emotionen wissen, nimmt man auch zur Kenntnis, wie wichtig diese Interaktionserfahrungen fr die Herausbildung von Empathie und sozialer Phantasie sind, so gibt es nur eine Konsequenz: Es gilt, die »untersttzende Matrix« herzustellen, die den jungen Mttern und Vtern das Einnehmen einer elterlichen Position erleichtert. Dazu gehçrt auch – weil das Netz familialer Untersttzung nicht ausreicht – das Angebot guter Betreuung der Kinder fr einen Teil des Tages, wobei ber die Frage der nçtigen Qualitt grndlich nachzudenken ist. Die neuerdings vehement vorgetragene Forderung nach »flchendeckender« und womçglich verpflichtender Krippenunterbringung kleiner Kinder indessen wird vielfach mit Argumenten begrndet, die die elterliche Funktion weiterhin zu entwerten und zu schwchen geeignet sind. Nicht um das Erleben einer guten Zeit fr Eltern und Kinder geht es da, auch nicht um Persçnlichkeitsbildung, sondern um die Sicherung des Wirtschaftsstandorts durch effiziente Bildung von Beginn an: »Frhfçrderung« im Interesse spterer Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt. Um die Bereitstellung der weiblichen Arbeitskraft fr den Markt geht es, um die Sicherung der Renten womçglich. Die Geringschtzung versorgender und pflegender Arbeit, die nicht nach marktkonformen Kriterien zu regulieren ist (vgl. Prokop, 2001), zeigt sich deutlich in den hmischen çffentlichen Reaktionen auf den Vorschlag, mtterliche Ttigkeit als produktiv und gesellschaftlich ntzlich anzuerkennen und entsprechend zu entlohnen (vgl. Der Spiegel 31/2007, »Familie macht glcklich«, dazu

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z. B. Jçrg Schindler in der Frankfurter Rundschau vom 1. 8. 2007, S. 3 und Stephan Hebel, ebd., S. 11). Und die Forderung nach »Krippenpflicht«, ausgerechnet von der Vize-Vorsitzenden des DGB vorgetragen (Ingrid Sehrbrock in der Westdeutschen Zeitung, vgl. Frankfurter Rundschau vom 13. 7. 2007, S. 4), impliziert – zumindest auch – das Urteil, dass durchschnittliche Eltern nicht effizient genug erziehen kçnnen. In ihrer polemisch »Eltern als Restrisiko« betitelten Arbeit stellt Katharina Rutschky (1998) fest, dass einer historisch gesehen extrem niedrigen Kinderquote ein Heer von professionellen Erziehern in nie dagewesener Grçße gegenberstehe. Und whrend die Arbeitsteilung von Schule und Elternhaus eingespielt ist, zeigen sich zwischen Erziehern in Hort und Kindergarten einerseits und Elternschaft andererseits deutliche Konkurrenzen. Gibt es einerseits Eltern, die das Personal als Dienstleister betrachten und behandeln, so sehen andererseits Erzieher gelegentlich eine Aufgabe darin, im Sinne der »Frhfçrderung« Entwicklungsdefizite der Kinder aufzuspren und »nachzuweisen«, was die Eltern als Schuldzuweisung und Vorwurf auffassen kçnnen. Es msste mçglich sein, jungen Familien die »untersttzende Matrix« anzubieten, und nichts drfte fçrderlicher fr das psychische Gedeihen der Kinder sein als eine solche Hintergrund-Hilfe, die sich nicht an die Stelle der elterlichen Versorgung setzen will. Die Eltern-Kind-Gruppen zum Beispiel, die hie und da von Kirchengemeinden, kirchlichen Beratungsstellen oder von fachlich ausgerichteten Vereinen, wie dem Kinderschutzbund, angeboten werden, werden durchweg ehrenamtlich organisiert und geleitet und erhalten kaum çffentliche Fçrderung. Dabei ist ein solcher informeller Ort des Austauschs, an dem Eltern ber ngste und Sorgen sprechen und einander strken und ermutigen kçnnten, wahrscheinlich attraktiver, gerade fr verunsicherte Eltern, als eine »Elternschule«, deren Name nach belehrender und kritisierender Institution klingen mag. Vter und Mtter, in deren innerer Vorstellungswelt gerade die verurteilenden, beschmende Einfhlung verweigernden Elternbilder der eigenen Kindheit wieder an Leben gewonnen haben – wie es in den negativ verlaufenden Spiralen einer misslingenden Einstimmung zwischen Eltern und Kind eben geschieht – werden nicht von sich aus »Kurse« oder »Schulen« besuchen. Vielleicht aber kçnnten sie das Angebot annehmen, sich mit anderen

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jungen Erwachsenen in hnlicher Lage zusammenzutun, um sich nicht allzu allein gelassen zu fhlen. Die gemeinsam organisierte Betreuung kleiner Kinder durch Eltern und professionelle Erzieher, wie sie in den Krabbelstuben seit den 1970er Jahren praktiziert wurde, drfte eine ideale Form halbçffentlicher Erziehung darstellen. Whrend festangestellte Erzieher fr die Kontinuitt in der Kindergruppe sorgen, sind die Eltern durch regelmßige »Dienste« in der Kindergruppe oder in der Organisation (Kochen, Ausflge etc.) in den Alltag der Gruppe eingebunden. Dieses Modell stellt (auch im Erleben der beteiligten Eltern) eher eine Erweiterung der traditionellen Familie dar als deren Ersatz durch çffentliche Institutionen. Es setzt freilich voraus, dass entweder Mutter oder Vater im Erwerbsleben reduzierte oder flexible Arbeitszeiten haben – es wre also auch an dieser Stelle ber Erziehungszeiten im Rahmen der Berufskarrieren zu diskutieren. Erfahrungsgemß ist sogar in einer solchen Organisationsform die Eingewçhnung der Kinder nicht immer leicht und die bergabe des eigenen Kindes in die Verantwortung einer professionellen Erzieherin (und in die der mitbeteiligten Eltern) von Konflikten und Rivalitt nicht frei, gleichgltig ob nun ein Hader mit den eigenen inneren Eltern oder eine Geschwisterrivalitt die Verstndigung kontaminiert. Umso sorgfltiger ist da, wo Kinderkrippen einen Teil der Kinderbetreuung bernehmen, auf eine angemessene Eingewçhnungszeit und -strategie fr die Kinder zu achten (Laewen, Andres u. Hdervry-Heller, 2003) und zu bedenken, dass die regelmßige Trennung fr einige Stunden des Tages auch fr die Eltern nicht ohne Konflikte bleibt. Fr das kleine Kind sollte sprbar und erfahrbar sein, dass zwischen Eltern und Tagesbetreuern – so wie zuvor im Idealfall zwischen Vater und Mutter – ein Einverstndnis herrscht, dass sie gemeinsame Sorge um das Kind und Freude an ihm miteinander teilen. Im gelingenden Fall kann die Erfahrung triangulrer Beziehungen hier erweitert (oder auch zum ersten Mal gemacht) werden. Die Qualittsmerkmale einer guten Betreuung – Kontinuitt, Feinfhligkeit und Warmherzigkeit, das richtige Zahlenverhltnis zwischen Kindern und Erziehern – kçnnen hier nicht erçrtert werden. Festzuhalten ist aber: Es darf nicht darum gehen, wer es »besser kann«, es gilt vielmehr, die elterliche Position, gerade verunsicherter Vter und Mtter, solidarisch zu sttzen.

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Hans-Geert Metzger

Der Vater und die frhe Kindheit

Die Krise der Vaterschaft sehe ich im Kontext der vielfach konstatierten Krise der Mnnlichkeit, einer tiefgreifenden Verunsicherung des phallischen Selbstverstndnisses. Im Zusammenhang mit der Auflçsung patriarchalischer Strukturen hat die Verunsicherung bei der Gestaltung der Vaterschaft zu drei auseinanderstrebenden Tendenzen gefhrt: 1. Besonders dramatisch erscheint die Zahl derjenigen Mnner, die kinderlos bleiben wollen. Etwa ein Viertel aller jungen Mnner schließen in Umfragen die Erfahrung der Vaterschaft fr sich aus. Ich zitiere einen jungen Mann: »Die Vorstellung, ein Leben lang fr jemanden sorgen zu mssen, hat bei mir die reine Panik ausgelçst. Warum sollte ich als Mann einer Frau, die ihren Kinderwunsch erfllt sehen will, ein Leben lang das Kind alimentieren?«

Dieser Mann sieht sich einer Frau gegenber nur in einem Ausbeutungs- und Abhngigkeitsverhltnis. Seine Abwehr geht so weit, dass er eine wichtige persçnliche Erfahrung fr sich ausschließt – er will nicht Vater werden. Offenbar verstellen die ngste jeden Wunsch nach einem Kind. 2. Andere Mnner, die Vater geworden sind, negieren die Bedeutung, die die Vaterschaft fr sie hat. Sie verschwinden aus dem Leben ihrer Kinder, manchmal schon vor der Geburt, manchmal in den ersten Lebensjahren des Kindes. Sie verleugnen die Bedeutung, die sie fr das

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Kind haben und die das Kind fr sie haben kçnnte. Dadurch bleiben viele Kinder in einer vorwiegend mtterlichen Umgebung und sie bleiben mit ihren Pantasien ber die Grnde fr die Trennung der Eltern oft alleine. Es bleibt dann der Mutter und hier insbesondere ihrem internalisierten Vaterbild berlassen, welche Form der Mnnlichkeit sie dem Kind vermitteln kann. 3. Es gibt aber auch Mnner, die die Auflçsung der traditionellen Vaterrolle durchaus als eine Chance verstehen, um einen offenen, libidinçs geprgten Kontakt mit ihren Kindern zu entwickeln. Sie sind kooperativer und bezogener geworden, als es noch viele ihrer Vter waren. Es gibt sie durchaus, die Vter, die eine neue Mnnlichkeit leben. In einer sorgfltig angelegten, psychoanalytisch supervidierten Studie machte der Typ des egalitren Vaters, der partnerschaftlich dem Kind zugewandt ist und dabei von der Mutter akzeptiert wird, immerhin fast 30 % der untersuchten Vter aus (vgl. Bambey u. Gumbinger, 2006). Hier zeichnet sich ein neues Selbstverstndnis ab, auf dessen psychodynamische Grundlagen ich nun eingehen will. Das Kind wird in eine triangulre Struktur hineingeboren. Die unbewussten Reprsentanzen, die Wnsche und ngste nicht nur der Mutter, wie manche psychoanalytische Autoren annehmen, sondern auch des Vaters haben es in der Zeit der Zeugung und whrend der Schwangerschaft begleitet. Nun, nach der Geburt, nimmt es an dieser komplexen Dynamik teil und trgt dazu bei, die familire Szene mit seinen Impulsen zu strukturieren. Dabei berwiegt in den ersten Monaten aufgrund der fehlenden Symbolisierungsfhigkeit und der fehlenden kognitiven Reife die konkrete Interaktion. Das Baby lebt zunchst, nach der Schwangerschaft und whrend der intensiven Erfahrung des Stillens, in unmittelbarer Nhe zur Mutter. Aber bereits mit etwa vier Monaten ist es in der Lage, den Vater als eigenstndige Person wahrzunehmen und eine Beziehung zu ihm aufzunehmen. Die triadische Interaktion beginnt. Manche Forscher sehen aufgrund dieser Befunde mittlerweile die Eltern-Kind-Interaktion von Geburt an als triadisch strukturiert, die sich nur gelegentlich in eine dyadische Situation auflçst (vgl. von Klitzing, 2002, S. 880).

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Ich komme zu einem anderen Konzept: Von Geburt an und ber die gesamte Entwicklung gestaltet sich ein Wechselspiel zwischen dyadischen und triadischen Interaktionen, spter mit zunehmender Reife und Internalisierungsfhigkeit zwischen dyadischen und triangulren Reprsentanzen. Dabei berwiegen in den ersten Monaten unabgegrenzt-symbiotische Wnsche, whrend die Hinwendung zum Dritten eher im Hintergrund bleibt. Im Laufe der weiteren Entwicklung wechseln sich dann dyadische und triangulre Strukturen in einem dynamischen Wechselspiel ab (vgl. Metzger, 2000, 2005). Diese Dynamik prgt die gesamte psychosexuelle Entwicklung, aber sie kulminiert in zwei besonderen Phasen: In der ersten Phase der Lçsung vom primr versorgenden Objekt, der frhen Triangulierung, bekommt der Vater die spezifische Bedeutung des Objekts, das unabhngig von der Mutter eine eigene Realitt verkçrpert. In der çdipalen Dynamik vertritt er die Begrenzung gegenber dem genitalen Begehren und damit einhergehend die generationale Begrenzung. Durch die Triangulierung kommt das Kind in die Lage, in Beziehungen verschiedene Perspektiven einzunehmen: Es kann Koalitionen eingehen oder aber sich, ausgeschlossen vom elterlichen Paar, auf sich selbst beziehen. Die Fhigkeit zum Alleinsein fhrt schließlich zur reflexiven Position und zur Entwicklung der Selbstreflexion, die seit Sigmund Freud mit der Bewltigung des çdipalen Konflikts verbunden ist. Allgemein gesehen bietet es sich an, alle Entwicklungsprozesse, die mit dem Neuen, dem Fremden verknpft sind, im Zusammenhang mit der Triangulierung zu verstehen. Die Triade schafft ein Ungleichgewicht und damit einen Entwicklungsanreiz, der Gewohntes und Bekanntes infrage stellt, whrend die Dyade mit der Vorstellung von bereinstimmung und Harmonie verbunden ist. Ich mçchte diese strukturellen berlegungen nun veranschaulichen: Eltern von Babys und kleinen Kindern leben in einer Ausnahmesituation, denn ein Kind bringt die innere Ordnung des Erwachsenen durcheinander. Das Gleichgewicht von erwachsener Befriedigung, das die Eltern gefunden haben, wird partiell außer Kraft gesetzt. Die Toleranz und die Belastbarkeit des Paares werden auf die Probe gestellt.

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Wenn sich Eltern von dem kindlichen Erleben emotional berhren lassen, tauchen sie in eine andere Welt ein. So wrde sich ein Vater zunchst ganz real auf dem Boden wiederfinden. Vom Boden aus gesehen sieht die Welt anders aus. Er gibt eine Position auf, die er eben auch erst im Laufe seiner eigenen Kindheit erworben hat. Im Zusammensein mit seinem Kind ist er groß und klein zugleich. In Ein- oder Zweiwortstzen beginnt eine noch rudimentre Kommunikation, bei der der Vater darauf angewiesen ist, vieles zu erraten, was sein Kind ihm mitteilen will. Die vorsprachliche Kommunikation berwiegt. Das Zeitmaß gert durcheinander. Die Zeit reprsentiert in der Regel die ußere Realitt. Das Zusammensein mit einem Kind dagegen hat ein Zeitmaß, das nicht durch ußere Strukturen geprgt wird. Es gilt der unmittelbare Augenblick. Die im Erwachsenendialog gebte und eingespielte Diskursivitt verliert ihre Bedeutung. Abstrahierende Prozesse sind außer Kraft gesetzt, symbolische Bedeutungen sind weitgehend zurckgedrngt. Der ber-Ich-Bereich mit seinen Kontrollen, Normen und Orientierungen ist noch nicht in Kraft gesetzt. Insgesamt gesehen treten primrprozesshafte Vorgnge und archaische Affekte in den Vordergrund, die die Kompensationen der Eltern infrage stellen. Am Beispiel der Sexualitt und der Aggressivitt mçchte ich dies kurz erlutern. In der Regel mentalisieren Eltern die Affekte ihrer Kleinkinder, indem sie einen Affekt durch einen passenden Gesichtsausdruck aufnehmen und ihn durch entsprechende Worte in einer angemessenen Form zurckgeben. So kçnnte die Mutter ein trauriges Gesicht machen und dem Kind damit sagen: Ach, du bist sooo traurig. Oder sie macht ein leicht verzerrtes Gesicht und vermittelt damit: Oje mein Schatz, hast du dir wehgetan. Aber die Affektabstimmung auf die ußerung sexueller Triebimpulse ist schwieriger. Sie finden fr die Erektion ihres kleinen Jungen oder die Masturbation ihrer kleinen Tochter oft nicht den angemessenen Gesichtsausdruck. Zu unmittelbar scheinen Mutter oder Vater durch die Sexualitt ihres Kindes tangiert. Dabei werden Mutter und Vater stndig durch das Kind auch sexuell angeregt, sei es durch das Stillen, durch Streicheln und Kssen, durch den engen Hautkontakt oder durch die Lust, die entstehen kann, wenn das Kind auf den Knien der Eltern herumrutscht.

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Auch die eingespielte Kompensation aggressiver Impulse wird in der Beziehung zum Kleinkind infrage gestellt: Winnicott (1976) hat immerhin 16 Grnde aufgefhrt, weshalb Eltern ihr Kind hassen kçnnten. Der Hass kann aus den Erwartungen entstehen, die die Eltern vor der Geburt aufgrund ihrer inneren Bilder an das Baby haben, und der Enttuschung, wenn das reale Kind diesen Erwartungen nicht entspricht. Er kann auch aus dem Umgang mit dem Baby, seiner Selbstbezogenheit und seinem Angewiesensein auf Versorgung entstehen. Das Baby nimmt viel, ohne es in einer fr Erwachsene adquaten Weise zurckzugeben. »Eine Mutter muß fhig sein, ihren Haß auf ihr Baby zu ertragen, ohne ihn in ihre Handlungen einfließen zu lassen […] Das Bemerkenswerteste an einer Mutter ist ihre Fhigkeit, sich von ihrem Baby so sehr verletzen zu lassen und so sehr zu hassen, ohne es das Kind zu spren zu geben« (S. 86).

Sexualitt und Aggression kçnnen Eltern an eigene innere Grenzen fhren, die sie im Umgang mit dem Baby selbst berraschen und dementsprechend zu Abwehrbewegungen fhren kçnnen. Denn im Umgang mit dem Kind kommen Eltern mit ihrer eigenen inneren Welt in Kontakt. Es tauchen Erinnerungen, Gefhle und Bilder der eigenen Kindheit auf, die oft lange verdrngt waren. Wenn es den Eltern gelingt, am Erleben ihres Kindes teilzuhaben, an der Lust, die Welt zu erfahren und sie sich spielerisch anzueignen, finden sie auch Kontakt zu eigenen frhkindlichen Anteilen: Im Zusammensein mit dem Kind begegnen sie sich selbst, ihrer eigenen Geschichte, ihrer Erfahrung mit den eigenen Eltern. Ein Vater schreibt: »Dinosaurier, Vulkane, Legoburgen, Mrchen und Riesen wurden mir zur lustvollen Beschftigung, so, als sei es das erste Mal in meinem Leben.« Der Erwachsene kommt in Situationen, in die er ohne ein Kind vermutlich kaum kommen wrde und in denen er sich selbst anders erlebt. Er erlebt diese Selbsterfahrung in der Regel als eine Bereicherung seines Lebens, die in dieser Form in keinem anderen gesellschaftlichen oder persçnlichen Bereich, in keiner anderen narzisstischen Gratifikation zu finden ist.

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Wenn Mnner auf der sicheren Grundlage einer mnnlichen Identitt dazu in der Lage sind, sogenannte weibliche Anteile in sich zuzulassen, kçnnen sie auch mit einem kleinen Baby umgehen. Sie kçnnen wickeln und fttern, versorgen und pflegen, whrend Mtter berufsttig sind oder lustvoll aktiv mit ihren Kindern spielen. Es ist daher sinnvoll, von einem relativ großen Bereich sozialisatorischer Erfahrung auszugehen, der sowohl vom Vater als auch von der Mutter vermittelt werden kann. Die Beitrge von Mutter und Vater sind zumindest in der prçdipalen Zeit nicht so dichotom voneinander abgegrenzt, wie es die klassische psychoanalytische Theorie nahelegt, sondern sie kçnnen sich berlagern (vgl. auch Target u. Fonagy, 2003, S. 81). Wenn Vter tagsber zu Hause bleiben und ihr Kind versorgen, werden sie das zwar anders als die Mutter tun, aber sie kçnnen dem Kind dabei trotzdem eine hnlich tragende und sichere Umwelt wie die Mutter vermitteln. Aber es kommt darauf an, ob und unter welchen Umstnden sie diese Bereiche in sich zulassen kçnnen. Freud schrieb 1937 skeptisch ber die Abwehr der Mnner gegen ihre »passive oder feminine Einstellung«, die ihm wie ein »gewachsener Fels«, also unvernderbar vorkam (1937, S. 96 ff ). Sicher haben sich viele Mnner seither verndert. Andere dagegen verharren in ihrer Abwehr. Denn im Umgang mit einem Kind kommen die Eltern eben nicht nur mit beglckenden Momenten der eigenen Kindheit in Kontakt, sondern auch mit ungelçsten Konflikten, die zu einer inneren Belastung fhren kçnnen. So werden z. B. unerfllte Wnsche an den eigenen Vater wach. Schmerzliche Enttuschungen oder Beziehungskonflikte mit der Mutter tauchen auf, die zu Unsicherheiten ber die Fhigkeit zur eigenen Vaterschaft fhren kçnnen. Man wird mit sich und seinen inneren Beziehungsmustern konfrontiert. In Belastungssituationen werden unreife, kindliche Muster reaktiviert. Dabei verstricken sich Eltern oft in infantil anmutende Machtkmpfe, die weniger durch das Kind als durch die eigenen unbewussten Grenzen ausgelçst werden. Dazu mçchte ich ein Fallbeispiel schildern: Bereits im Erstgesprch war mir aufgefallen, wie sehr der Vater, ein Patient von mir mit seinem 13-jhrigen Sohn konkurrierte. Wenn er den Sohn, der seit der Trennung der Eltern bei der Mutter lebte, sonntags traf, ging er mit ihm oft Fahrrad fahren oder wandern. Dabei

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war es ihm so wichtig, seine eigenen kçrperlichen Fhigkeiten unter Beweis zu stellen, dass der Sohn sich aufgrund seiner Unterlegenheit zunehmend zurckzog und anfing, dem Kontakt mit dem Vater aus dem Weg zu gehen. Schon bald konnte der Vater auf meine Deutungen hin anerkennen, dass er den Sohn berforderte. Es wurde zunehmend deutlich, wie sehr er sich durch seine kçrperliche Fitness selbst besttigen musste, und so wandte er sich auch in der Therapie bald von dem Sohn ab und seinen Problemen mit Frauen zu. Er tendierte dazu, eine exklusive Zweierbeziehung herzustellen, in der er vorwiegend nach Versorgung und Anerkennung suchte. Frauen schienen ihm konstitutionell berlegen. Daher sehnte er sich nach ihnen und zugleich ngstigten sie ihn. Mnner dagegen schienen ihm eher komisch zu sein. Immerhin konnte er die therapeutische Beziehung mit mir zunchst dazu nutzen, der unausweichlichen Enttuschung durch seine derzeitige Partnerin nicht sofort die Trennung folgen zu lassen, sondern an der Desillusionierung zu arbeiten und dadurch die Beziehung lnger aufrechtzuerhalten, als ihm dies bisher mçglich gewesen war. Untergrndig jedoch hielt er an seinem Wunsch, besser: an seinem Anspruch auf Versorgung fest und daraus resultierte auch innerhalb seiner Beziehungen der sofortige gekrnkte Rckzug vom Objekt, wenn dieses ein eigenes Bedrfnis artikulierte, das nicht dem seinen entsprach. In allen Beziehungen fhrte dieser Anspruch zu heftigen Krnkungen, die er insbesondere seine Partnerin, den Sohn und mich spren ließ. Dabei trat die Beziehung zu dem Sohn mehr und mehr in den Hintergrund. Er traf ihn zwar sonntags, aber er schien kaum eine innere Reprsentanz von ihm zu haben. Sagte der Sohn ein Treffen ab, wendete sich der Vater verrgert ab. Aus seiner Krnkung heraus konnte er kaum wahrnehmen, dass sich der Sohn sehr wohl auf seinen Vater bezog, indem er sich z. B. fr dessen Beruf interessierte, sich mit Fragen aus seinem Fachgebiet an ihn wendete und anfing, entsprechende Bcher zu lesen. Als der Sohn geboren wurde, hatte der Patient beste Absichten gehabt. Er beteiligte sich an der frhen Versorgung und reduzierte sogar seine Berufsttigkeit, um Zeit mit dem Kind verbringen zu kçnnen. Als

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seine Frau sich von ihm trennte – das Kind war drei Jahre alt –, versuchte er noch einige Zeit lang, den intensiven Kontakt zu seinem Sohn zu halten. Dann zog er sich zunehmend enttuscht zurck. Der Patient selbst hatte seinen Vater unter tragischen Umstnden verloren, als er fnf Jahre alt war. Er blieb mit der Mutter und einer lteren Schwester in schwierigen, rmlichen Verhltnissen zurck. Die Mutter wurde depressiv und der Patient blieb in dieser Stimmung eng an sie gebunden. Alle ußeren Trennungsschritte gelangen ihm nur mit großer Mhe. Innerlich aber blieb er der Mutter bis heute verbunden und so versuchte er seine Beziehungen zu Frauen nach dem Wunschbild einer frh versorgenden Muter zu gestalten, hinter dem zwar der idealisierende Wunsch nach einem starken Vater auftauchte, aber immer wieder in dem Trauma des Verlusts verloren ging. Als ich ihm nach lngerer Zeit deutete, wie er auch mit mir einen mtterlich-versorgenden Kosmos aufrechtzuerhalten suchte, geriet er zunehmend in eine Verlassenheitskrise, die zu einer ausgeprgt negativen Reaktion einem entwertenden Vater gegenber und zu einem heftigen Agieren in der psychoanalytischen Situation fhrte. Jede Bewegung, die ihn von dem Klammern an die Mutter wegzufhren drohte, brachte ihn in die Nhe des Traumas und fhrte zu Angst- und Abwehrreaktionen. So war der Patient in einer infantilen Szene fixiert geblieben, in der die Identifikation mit der Grçße des Vaters und die Trauer um seinen Verlust von der Sorge um die erstarrte Mutter und die Abwehr der çdipalen Mutter berdeckt worden war. Mit dieser Haltung konnte er nur schwer selbst ein Vater werden. Er hatte sich zwar anfnglich in der frhen Versorgung des Sohnes engagiert, also in der Zeit, in der er selbst eine vollstndige Familie erlebt hatte. Die Trennung seiner Frau aber aktualisierte das eigene Trennungstrauma und fhrte zu einem inneren Rckzug auch aus der Beziehung zu seinem Sohn. Die Vater-Sohn-Beziehung wurde dann von den Konflikten des Vaters berlagert. Er war wohl auch neidisch auf den Sohn, der einen Vater htte haben kçnnen. Zwar hielt er, anders als in seinem eigenen Schicksal, die Beziehung aufrecht, aber er ließ den Sohn doch auch partiell, und zwar gerade in vterlichen Funktionen, alleine. Er konnte dem Sohn nicht anders begegnen, weil er den eigenen Vater nicht sterben lassen und die Mutter nicht alleine lassen konnte.

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Das Beispiel zeigt den inneren Konflikt eines Mannes, sich auf die Vaterschaft einzulassen, weil er von der traumatischen Erschtterung seiner Familie auf den Wunsch nach einer frh versorgenden Mutter ausgewichen ist. In dieser Fixierung ist es ihm nicht mçglich, eine triangulierende Vaterrolle insbesondere innerhalb der çdipalen Dynamik einzunehmen. Ich komme zu allgemeineren berlegungen zurck. Die Angst, sich auf den Prozess mit einem kleinen Kind einzulassen, scheint bei Mnnern grçßer zu sein. Jungen haben eine andere psychische Entwicklung als Mdchen. Sie haben zwar in der frhkindlichen Zeit, wie die Mdchen, die Mutter als erstes Liebesobjekt. Whrend sich das Mdchen aber dann auf den Vater als heterosexuelles Objekt bezieht, also einen Objektwechsel vornimmt und sich in diesem Prozess mit der Mutter identifizieren kann, verluft die Entwicklung beim Jungen anders. Die neuere Forschung zur mnnlichen Identittsentwicklung betont, dass der Junge einen doppelten Verlust in der frhen Beziehung zur Mutter hinnehmen muss (vgl. Diamond, 2004). Trotz der frhen triadischen Interaktionen hat sich der Junge bis zum zweiten Lebensjahr noch nicht mit der Geschlechtsdifferenz auseinandergesetzt. Nun muss er auf die frhe, umfassende Versorgung verzichten und er muss anerkennen, dass die Mutter einen anderen Kçrper, ein anderes Geschlecht als er selbst hat. Er muss das omnipotente Verbundenheitsgefhl mit der Mutter aufgeben und sich zugleich mit dem eigenen Kçrper auseinandersetzen. Die von verschiedenen Autoren beschriebene Entwicklungskrise im zweiten Lebensjahr ist auch gekennzeichnet durch die ambivalenten Wnsche, sich mit der Mutter wiedervereinigen zu wollen und zugleich sich von ihr zu distanzieren, um eine eigene Geschlechtsidentitt zu entwickeln. Diese Krise innerhalb eines vorwiegend dyadischen Erlebens wird erleichtert, wenn sich der Junge dem Vater zuwenden kann, der ihm auf dem Weg in die symbolisch vermittelte ußere Realitt hilft. »Die Identifikation mit dem Vater ermçglicht dem Jungen die Nhe zur liebenswerten und begehrenswerten Mutter. Dies fhrt zur Integration der Beziehung zur Mutter und ermçglicht die Formung einer mnnlichen Geschlechtsidentitt, wozu auch das geschlechtliche Anderssein gehçrt« (Teising, 2007, S. 372).

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Gelingt die Distanzierung von der Mutter nicht oder nur unzureichend, so wird die Position der çdipalen Mutter stndig von dem inneren Bild der frhen versorgenden, mchtigen oder verschlingenden Mutter bedroht. Der Junge kann kein Mann – und kein Vater! – werden, wenn ihn eine »magische Zauberin« in Form der frhen bermchtigen Mutter daran hindert (vgl. Ogden, 1995, S. 169). Er muss die Abgrenzung berbetonen. Dabei greift er zu betont mnnlichen Eigenschaften, um seine Kleinheitsgefhle und seine Vereinigungswnsche abzuwehren. Weibliche Eigenschaften werden dagegen entwertet. Ein bermßig phallisches Verhalten soll dabei helfen, die eigene Bedrftigkeit zu verdecken und mnnliche berlegenheit zu demonstrieren. Ich mçchte nun zwei von Mnnern hufig gewhlte Fluchtbewegungen beschreiben, mit denen sie sich als Vater der Spannung und dem Konflikt zwischen erwachsener Identitt und infantiler Welt zu entziehen versuchen. Einer meiner Patienten erwartete gemeinsam mit seiner Partnerin ein Kind. Er tat sich schwer mit der Vorstellung, Vater zu werden, und wehrte sich heftig gegen seine neue Rolle. Seine Abwehr ging so weit, dass er sich whrend der Schwangerschaft weg von seiner Partnerin und auf eine Insel wnschte. »Fr wie lange«, fragte ich. Er antwortete: »Bis das Kind so groß ist, dass man halbwegs vernnftig mit ihm sprechen kann.« Er wollte der frhen Kindheit aus dem Weg gehen. Auf der Insel suchte er einen Platz fr seine eigene regressive Seite. Er frchtete, sie nicht mehr wie bisher ausleben zu kçnnen, wenn ein Baby mit seinen Bedrfnissen ihm diesen Platz streitig machen wrde. Er sorgte sich um seine mhsam aufgebaute Identitt. Er war noch zu sehr an eine klammernde Beziehung zur eigenen Mutter gebunden. Den Vater als den Dritten im familiren Dreieck hatte er nicht ausreichend besetzen kçnnen. Vter, die einseitig in die kindliche Welt regredieren, werden oft als sogenannte »Mappie« zu einer Kopie der Mutter. Kinderanalytiker berichten von ihren Erfahrungen mit Vtern, die ihre Rolle nicht einnehmen kçnnen. In Elterngesprchen scheint es, als gerieten die Vter mit den Babys in eine Rivalitt um die Versorgung durch die Mutter. Sie halten an einem Versorgungsanspruch ihrer Frau gegenber fest und werden eiferschtig auf das Baby, weil sie im Zusam-

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menleben mit ihrer Partnerin vor allem eigene frhe mtterliche Versorgungswnsche untergebracht haben, die jetzt nicht mehr wie bisher erfllt werden. Der zweite Fluchtweg neben der einseitigen Identifikation mit dem Baby ist die betont phallische Haltung und das aktive Vermeiden des prgenitalen Erlebens. Kaum sind solche Mnner Vater geworden, suchen sie Distanz. Oft lassen sie ihre Frau mit dem Baby alleine und engagieren sich z. B. bermßig in ihrem Beruf. Zustzlich suchen sie andere, betont mnnliche Kompensationen wie ein schnelleres und sportlicheres Auto. Durch die Flucht in die ußere Realitt, in den beruflichen Alltag und in eine narzisstische Haltung muss ein Sicherheitsabstand zum kindlichen Erleben hergestellt werden. Die Erfahrungen eines Kindes werden als »Kinderkram« abgetan und belchelt. Nur der mnnliche Auftritt und die damit verbundene Vorstellung von Unabhngigkeit zhlt. Diese Fluchttendenz ist die sozial hufiger gewhlte Haltung. Dabei soll die Nhe zur frhen, versorgenden Mutter abgewehrt werden. Die Abgrenzung wird betont, weil die Autonomie nur mhsam abgesichert ist und die Angst vor deren Verlust als zu groß erscheint. Diese Angst kann sich auch im Umgang mit einem Baby zeigen. Die eigenen Kinder werden oft erst dann interessant, wenn sie grçßer geworden sind, wenn mit ihnen jungenhafte Spiele und sportliche Aktivitten mçglich werden. Dann kçnnen eigene jungenhafte Seiten aktiviert werden und die Abwehr gegenber der Weiblichkeit bleibt stabilisiert. Solche Vter versuchen, die Rolle des distanziert-traditionellen Vaters aufrechtzuerhalten und verlieren sich dabei oft in einer Unsicherheit, die nur mhsam berdeckt ist. Wnschenswert wre es dagegen, wenn Vter flexibel und situationsangemessen reagieren kçnnten, indem sie z. B. im Umgang mit einem Baby in der Gewissheit einer mnnlichen Identitt auch spielerische, weiche Seiten zulassen kçnnten, ohne sich gleich gefhrdet zu fhlen. Situationsangemessene Antworten kçnnen genauso gut gewhrend, wertschtzend oder untersttzend sein, wie sie in anderen Situationen begrenzend und strukturierend sein werden. Eine mnnlich-vterliche Haltung ist auch nach der Auflçsung traditioneller Rollenschemata vorstellbar. Sie wird nicht nostalgisch in einer Wiederkehr bermchtig starker Vaterfiguren bestehen, son-

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dern in der Vermittlung einer glaubwrdigen, vom Selbstgefhl getragenen Haltung. Auch heute kçnnen Vter ihren Kindern das Gefhl einer realistischen Strke vermitteln, wenn sie es selbst in sich verspren. Fr Vater und Kind ergibt sich dadurch von Geburt an eine Bereicherung. In der prçdipalen Zeit wird eine Grundlage entwickelt, bei der die Eltern nicht mehr so dichotom auftreten mssen, wie dies bisher oft der Fall war. Der Kontakt kann von einer positiven Grundstimmung geprgt sein, die auch die çdipalen Konflikte trgt. In der psychoanalytischen Arbeit helfen solche Modelle, um die Bedeutung des Vaters in seiner Bandbreite beachten zu kçnnen. Eine meiner Patientinnen hatte den Vater zu Beginn ihrer çdipalen Zeit verloren, als dieser sich aufgrund wiederholender Gewaltszenen von der Familie trennen musste. Seither hatte sie ihn nie wieder gesehen. In der Familie, bei der Mutter und den lteren Geschwistern, wurde ber den Vater nicht mehr oder nur negativ gesprochen. Ihrer Sehnsucht und ihrer Trauer ber den geliebten Vater durfte meine Patientin aus Rcksicht auf die Mutter keinen Raum geben. In einer ersten Analyse, so die Patientin, sei kaum ber den Vater gesprochen worden. Im Vordergrund habe ganz die Abgrenzung von der narzisstisch-mißbrauchenden Mutter gestanden. Erst in der zweiten Analyse fand sie Platz fr ihre wenigen, aber hoch besetzten Bilder des Vaters. Die familire Ablehnung hatte die Liebe berlagert und die Patientin auch noch lange in der Analyse gebunden. Der Wunsch der Patientin, die zweite Analyse bei einem Mann machen zu wollen, zeigte schon ihren Wunsch nach einer Befreiung des inneren Vaterbildes an. Den Vater lediglich in der çdipalen Begrenzung suchen zu wollen, wie es die klassische psychoanalytische Theorie nahegelegt hat, wre, so notwendig diese Begrenzung auch heute ist, sicher eine Verkrzung, die dem vterlichen Beitrag in der kindlichen Entwicklung nicht gerecht wird.

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Literatur Bambey, A., Gumbinger, H.W. (2006). Der randstndige Vater. Sozialwissenschaftliche Erkundung einer prekren Familiensituation. In F. Dammasch, H.-G. Metzger (Hrsg.), Die Bedeutung des Vaters – Psychoanalytische Perspektiven. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Diamond, M. (2004). The shaping of masculinity: Revisioning boys turning away from their mothers to construct male gender identity. International Journal of Psychoanalysis, 85, 359 – 380. Freud, S. (1937/1950). Die endliche und die unendliche Analyse, GW XVI. Frankfurt a. M.: Fischer. Klitzing, K. von(2002). Frhe Entwicklung im Lngsschnitt: Von der Beziehungswelt der Eltern zur Vorstellungswelt der Kinder. Psyche – Z. Psychoanal., 56, 863 – 887. Metzger, H.-G. (2000). Zwischen Dyade und Triade. Psychoanalytische Familienbeobachtungen zur Bedeutung des Vaters im Triangulierungsprozeß. Tbingen: edition diskord. Metzger, H.-G. (2005). ber die Angst der Vter vor der frhen Kindheit – psychoanalytische berlegungen. Psyche – Z. Psychoanal., 59, 611 – 628. Ogden, T. (1995). Frhe Formen des Erlebens. Wien u. New York: Springer. Target, M., Fonagy, P. (2003). Vter in der modernen Psychoanalyse. In M. Target, P. Fonagy (Hrsg.), Frhe Bindung und psychische Entwicklung. Beitrge zu Psychoanalyse und Bindungsforschung. Gießen: Psychosozial. Teising, M. (2007). Die narzisstische Problematik alternder Mnner. Hessisches rzteblatt, 6. Winnicott, D. W. (1976). Haß in der Gegenbertragung. In D. W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Mnchen: Kindler.

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Der Junge ohne vterliche Struktur

In einem mehrjhrigen Forschungsprojekt (von Freyberg u. Wolff, 2005, 2006) haben wir als eine psychoanalytische Forschungsgruppe des Instituts fr analytische Kinder- und JugendlichenPsychotherapie in Frankfurt gemeinsam mit einer soziologischen Forschungsgruppe des Instituts fr Sozialforschung die psychosozialen und institutionellen Konfliktgeschichten von nicht beschulbaren Jugendlichen in detaillierten Einzelfallstudien untersucht. Bis auf eine Ausnahme waren alle Schler mnnlichen Geschlechts, und bei fast allen zeigte sich, dass sowohl in der Familie wie in der Grundschule ihre dominierenden Bezugspersonen weiblichen Geschlechts waren. Obwohl beinahe alle Kinder und Jugendlichen aus vollstndigen Familien stammten, spielten die Vter eine eigenartig randstndige Rolle. Auf der Basis unserer qualitativen Studie kann man die These aufstellen : Jungen mit dominierenden Mttern und emotional abwesenden Vtern stçren in einer von Frauen dominierten Grundschule. Die Bedeutung des fehlenden Vaters fr die Jungenentwicklung gilt es genauer zu beleuchten. Im ersten Teil meines Beitrags mçchte ich theoretisch die Rolle des Vaters und die Bedeutung der Triangulierung darstellen und im zweiten Teil anhand des Falls eines achtjhrigen Schulstçrers die Schul- und Lernunfhigkeit im Kontext einer gestçrten Triangulierungskompetenz konzeptualisieren.

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Das vterliche Prinzip Fr die klassische Psychoanalyse ist die Auseinandersetzung des kleinen Jungen mit seinem Vater die zentrale Achse psychischer Strukturbildung. Sigmund Freud erkannte an seinen Patienten und an sich selbst, wie wesentlich die Liebe zur Mutter und die Eifersucht gegen den Vater die soziale und psychische Entwicklung des Jungen bestimmen. Die durch das sexuelle Begehren und den Hass aufgeladene Dreiecksbeziehung zwischen Kind, Mutter und Vater nennt er dipuskonflikt. Der Vater stellt als Vertreter gesellschaftlicher Realitt der çdipal begehrten Vereinigung des Jungen mit der Mutter ein machtvolles Nein entgegen. Dieses vterliche Nein zum Inzestwunsch, zum kindlichen Machtanspruch, Herr ber die alle Bedrfnisse befriedigende Mutter zu sein, lçst in dem Jungen große Wut aus. Der Wunsch, den Vater seinerseits zu kastrieren oder zu tçten, ihn jedenfalls seiner begrenzenden Macht zu berauben, wird sodann zu einer wesentlichen Triebkraft des Jungen und zur Quelle heftiger Familienkonflikte. Sie wird nur gebndigt, wenn der Vater vormals auch eine haltgebende und geliebte Bezugsperson war, die den Jungen schließlich dazu bringt, sich mit dem Vater zu identifizieren. ber die Identifizierung, die anknpft an die »erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums, die mit dem Vater der persçnlichen Vorzeit« (Freud, 1923, S. 259), berwindet der Sohn den dipuskonflikt. Intrapsychisch identifiziert er sich mit dem Nein des Vaters und mit dessen kulturellen Werten und Normen. Dies bildet die Grundlage eines stabil entfalteten ber-Ich, das inneren Halt gibt und die Ich-Struktur festigt. Der franzçsische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1975) betont die strukturale Funktion des vterlichen Gesetzes beim bergang des Kindes von der phantasmatischen Beziehung zur Mutter in die symbolische Ordnung der Kultur. Im Gegensatz zu Freud betont Lacan die zentrale Funktion der Mutter bei der Errichtung des vterlichen Gesetzes. Die symbolische Dimension des Vterlichen, die sich im doppeldeutigen »Nom/Non du p re« manifestiert, basiert auf dem inneren Vater der Mutter, genauer: auf dem inneren Begehren gegenber dem Vater. Lacan betont, dass es darum gehe, »welchen Wert sie seinem Wort beimisst, seiner, sprechen wir das Wort aus,

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Autoritt, anders gesagt, welchen Platz sie dem Namen-des-Vaters bei der Errichtung des Gesetzes einrumt« (S. 112). Dem Freud’schen çdipal begrenzenden und dem Lacan’schen symbolischen Vater als Gesetz wird von E. L. Abelin (1971, 1975), einem Mitarbeiter von Margaret Mahler, der reale frhe Vater zur Seite gestellt, der die Aufgabe hat, das Kind aus der Symbiose mit der Mutter zu befreien. In der Wiederannherungsphase hilft der real anwesende Vater bei der Loslçsung von der Mutter. Mit etwa 18 Lebensmonaten beginnt die kindliche Fhigkeit, eine Dreierbeziehung wahrzunehmen und sein Selbst im Spannungsfeld zur Mutter und zum Vater als einzelne Bezugspersonen und beiden gemeinsam als elterliches Paar zu definieren. Was Freud in der çdipalen Phase lokalisiert, sieht Abelin in Form einer »frhen Triangulierung« schon mit dem 18. Lebensmonat fr gegeben an. Das Kind erlebt sich im Spiegel von Mutter und Vater als Paar. Es nimmt sich erstmals als ausgeschlossen aus der elterlichen Paarbeziehung wahr. Zur berwindung des unertrglichen Ausgeschlossenheitsgefhls aus der Urszene ist das Selbst des Kindes gezwungen, sich mit dem Dritten zu identifizieren. In der Identifizierung mit dem Dritten kann es sich wieder mit der Mutter vereint fhlen und das Ausgeschlossenheitsgefhl berwinden. Dadurch lernt es die Perspektive eines anderen einzunehmen und gleichzeitig es selbst zu bleiben. Auch der amerikanische Vaterforscher James Herzog (1998) betont die Bedeutung eines real anwesenden, spielend interagierenden Vaters fr die Subjektentwicklung. Er fungiere als autonomiefçrdernder Stçrenfried der mtterlichen Dyade und fçrdere die Modulation und Organisation der intensiven Affekte. Herzog fasst das Ergebnis seiner Beobachtungsstudien mit acht »intakten« Mittelschichtfamilien in den USA zusammen: »Die frhe triadische Erfahrung hngt von der Anwesenheit des Vaters ab. Seine An- und Abwesenheit beeinflußt die Fhigkeit zu differenzieren, sich zu individuieren, Affekte zu organisieren und zu modulieren, zu reprsentieren und sich der Realitt anzupassen« (S. 177).

Brgin und von Klitzing (2001) fhrten auf der Basis ihrer Grundthese, dass der Sugling von Beginn an zu triadischen Interaktionen mit Mutter und Vater fhig ist, Lngsschnittstudien mit 118 Familien

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durch, mit dem Ziel, die Faktoren zu bestimmen, die die innere Triangulierung des Kindes beeinflussen. Es wurden bereits whrend der Schwangerschaft Tiefeninterviews mit dem zuknftigen Elternpaar (Triadeninterviews) durchgefhrt, um die triadische Kompetenz zu erfassen. Unter triadischer Kompetenz der werdenden Eltern wird »die Fhigkeit von Vtern und Mttern, ihre zuknftigen familialen Beziehungen zu antizipieren und zu konzeptualisieren [verstanden] – d. h. das Kind als Drittes bereits auf der Ebene der Vorstellungen in die eigene Beziehungswelt zu integrieren – ohne sich selbst oder den Partner aus der Beziehung zum Kind auszuschließen« (S. 869). Im Alter von vier Monaten wurden die dialogischen und trilogischen Interaktionen im Lausanner »Spiel zu Dritt« untersucht, im Alter von einem Jahr eine modifizierte Ainsworth-Fremden-Situation durchgefhrt und im Alter von vier Jahren wurden noch einmal mit projektiven Testverfahren psychodynamische Untersuchungen mit dem Kind gemacht. Ich fasse die Ergebnisse fr unseren Zusammenhang zusammen: 1. Es zeigte sich eine hohe Korrelation zwischen der triadischen Kompetenz der werdenden Eltern und der Fhigkeit des Kindes zum Trilog mit vier Monaten. Bei Jungen war dieser Zusammenhang noch ausgeprgter als bei Mdchen (von Klitzing, 2001, S. 528). 2. Die Fhigkeit des vier Monate alten Kindes korrelierte insbesondere mit der triadischen Kompetenz der Vter: »Je mehr die Vter sich in ihren Phantasien bereits als einen aktiven Beziehungspartner fr das kommende Kind erlebten, ohne dabei die Mutter auszuschließen, desto aktiver waren die Suglinge spter in den Dreierinteraktionen und desto mehr waren sie auch fhig, mit beiden Eltern in einen ausgeglichenen Beziehungskontakt zu kommen« (von Klitzing, 2002, S. 878).

3. Je hçher die elterliche Beziehungskompetenz prnatal eingeschtzt wurde, desto eher waren die Kinder am Ende des vierten Lebensjahres in den projektiven Erzhltests in der Lage, die dargebotenen Konflikte mittels positiver Erzhlinhalte zu lçsen, und desto kohrenter waren ihre Geschichten. Je hçher die triadische Kompetenz desto weniger aggressive Verhaltensprobleme wiesen die Kinder am Ende des vierten Lebensjahres aus.

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Es zeigte sich insgesamt, dass die Triangulierungskompetenz von Mutter und Vater wesentlich die Triangulierungs- und die Affektregulierungsfhigkeit der Kinder formt und dass dabei der Triangulierungskompetenz des Vaters insbesondere bei Jungen eine herausragende Bedeutung zukommt. Diese Ergebnisse decken sich mit Herzogs und mit meinen klinischen Studien. Ich selbst habe vorgeschlagen, Triangulierung als einen dreistufigen Prozess zu konzeptualisieren, der sich von der potentiellen Triangulierung (Mutter – innerer Vater der Mutter – Selbst) ber die frhe (Mutter – realer Vater – Selbst) hin zur çdipalen Phase entfaltet, in der die inneren Selbst- und Objektreprsentanzen durch triebdynamische Aufladung endgltige triangulre Stabilitt erlangen (Dammasch, 2001). Die Funktion des Vaters besteht wesentlich darin, dem Kind zu ermçglichen, aus einer anderen Perspektive auf die Welt und die Mutter zu schauen und sich probeweise mit dem vterlichen Blick auf eine Beziehung, in der man sich selbst befindet, zu identifizieren. Die Fhigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Reflexion wird durch die Fhigkeit und Lust des Vaters, sich am kindlichen Spiel zu beteiligen, es mitzugestalten und dessen symbolische Funktion zu sichern, konkret gefçrdert. Das Spiel des Kindes und seine aktive Begleitung durch den Vater fçrdert die mentalen Fhigkeiten des Kindes und sein Bewusstsein, etwas bedeutungsvolles im anderen bewirken zu kçnnen. Seine Grenzsetzungen und die Mçglichkeit des Kindes, sich mit ihnen in einer sicheren Beziehung mit einem Mann im Wechsel von Spiel und Ernst auseinandersetzen zu kçnnen, fçrdern insbesondere beim Jungen die Neutralisierung der Wut und helfen bei der Formung produktiv phallischer Zielorientierung. Dabei ist allerdings zu beachten: Der Familienvater kann nur triangulierend wirken und das vterliche Prinzip an das Kind herantragen, wenn er von der Mutter anerkannt wird und sich selbst als Vertreter der Kultur und seiner Norm- und Wertvorstellungen versteht, wenn er sich also als Reprsentant der Kultur versteht und nicht eigenmchtig ein individuelles Gesetz erschafft.

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Das vterliche Prinzip und die Schule Meiner Beobachtung nach haben wir es bei unseren Schulstçrern in der Mehrzahl mit Kindern oder Jugendlichen zu tun, die aus unterschiedlichen Grnden nicht mit dem Dritten und dem »vterlichen Gesetz« identifiziert sind. Schulreife allerdings basiert in ihrer sozialen Anforderung auf einer Fhigkeit zur selbstndigen Affektregulierung, die wiederum auch auf der Verinnerlichung des vterlichen Prinzips und einem gengend gut triangulierten psychischen Innenraum basiert. Die Anerkennung des Fehlenden, des Mangels und die Fhigkeit zum Perspektivenwechsel bilden mit die Grundlage des Lernens. Die Fhigkeit des Abwarten-Kçnnens, des Verzichts auf unmittelbare Triebbefriedigung und Stimulation sind Bedingungen schulischen Lernens in der Gruppe. Die psychologische Basis bildet dabei die Fhigkeit des Kindes, allein zu sein, d. h. mit seinen inneren Objekten im Reinen zu sein. Die Fhigkeit zum Stillsitzen, Zuhçren und Konzentrieren sind Ausprgungen dieser Reife, die sich altersabhngig im Laufe des ersten Schuljahres weiter ausbildet. Bei Familien, in denen das vterliche Gesetz, d. h. eine auf Kultur und ihre Symbole ausgerichtete Triangulierung des familiren Denkens und Handelns nicht vorhanden ist, wird die Grundschule hufig zu dem Ort, an dem der Junge zum ersten Mal konstant mit den kollektiv erwarteten, strukturierenden Zumutungen des individuellen Triebaufschubs konfrontiert wird. Die Schule ist auch der kulturelle Ort, an dem die Selbstverstndlichkeiten der familiren Erklrungsmuster durch die Konfrontation mit gesellschaftlich normierten Anforderungen in Frage gestellt werden. Mit der Einschulung wird unabweisbar der gesellschaftliche Dritte – das Gesetz sozialer Handlungsnormen und kultureller Bildungswerte – eingefhrt. Die Lehrerin ist einerseits selbst diesem Gesetz unterworfen und vertritt es andererseits, ob sie will oder nicht, als Personifizierung von Vater Staat. These: Wenn die psychische Struktur des Kindes nicht auf einem basal triangulierten Innenraum basiert, dann wird die Schule familialisiert und die Lehrerin und der Lehrer erfahren am eigenen Leibe die Entwertung oder Verwerfung des vterlichen Dritten, zu dem sie in der bertragung gemacht werden.

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Der Fall Emil – Der verworfene Vater Fokussiert auf das hier zur Debatte stehende Thema mçchte ich anhand zweier Szenen den Fall Emil rekonstruieren, der in bemerkenswert transparenter Weise die destruktive Kraft eines fehlenden Dritten in einer verklammerten Mutter-Sohn-Zwei-Einheit im Rahmen schulischer Inszenierungen zeigt. Ich gehe aufgrund der Ergebnisse des Forschungsprojekts und meiner eigenen klinischen Erfahrungen als Kinderpsychoanalytiker davon aus, dass strukturell, wenn auch manchmal weniger offensichtlich, allen Fllen von schweren Verhaltensaufflligkeiten in der Schule ein Defizit im Bereich der stabilen Identifizierung mit dem vterlichen Prinzip gemein ist. Die hufig scheiternden aufwendigen Hilfemaßnahmen der Schule und der sozialen Institutionen zeigen in dieser Perspektive dann vor allem, wie schwierig, ja vielleicht unmçglich es fr gesellschaftliche Institutionen ist, ein primr familires Triangulierungsdefizit – eine fehlende Schulreife von Anfang an – sekundr nachzuholen. Emils Fall zeigt darber hinaus auch anschaulich, wie die familire Struktur eines ausgeschlossenen Dritten sich unverstanden machtvoll auf der Ebene der Institutionen wiederholt. In der folgenden Fallbeschreibung sind die in Anfhrungszeichen gesetzten Textteile Auszge aus Erinnerungsprotokollen. Emil ist acht Jahre alt, stçrt massiv den Unterricht, ignoriert sowohl die Worte der Lehrerin als auch die anderer Schler, kann sich ber kleine Erfolge berhaupt nicht freuen. Auch ein hinzugezogenes Helferteam muss feststellen, dass Emils »Unlust bezglich schulischer Dinge besorgniserregend sei« und sie »mit ihren pdagogischen Mitteln keine Verhaltensnderung herbeifhren kçnnen«. Alle Lehrerinnen und Helfer sind beim Umgang mit Emil vor allem mit den außergewçhnlich starken Gefhlen der Hilflosigkeit und der Ohnmacht konfrontiert, was in ihnen bald das Gefhl der Hoffnungslosigkeit wachsen lsst. Zur Abwehr dieser Gefhle und den dadurch wachgerufenen Schuldgefhlen, nicht helfen zu kçnnen, kommt es zu Konflikten innerhalb und zwischen den Helfersystemen. Ich mçchte versuchen, anhand zweier mir signifikant erscheinender Beziehungsszenen den Kern der Probleme Emils und seiner professionellen Beziehungspartner herauszuarbeiten.

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1. Szene – Emil und die Lehrerin Das Protokoll einer am Unterricht teilnehmenden Schulsozialpdagogin veranschaulicht die Konflikte: »Zweite Stunde bei der Referendarin. Die Klasse soll mit dem Lexikon arbeiten. Emil zu mir : ›Ich habe keine Lust‹. Er rennt auf den Flur. Ich zunchst hinter ihm her und versuche ihn, in die Klasse zu ziehen. Emil will mit mir seine Spielchen treiben. Er luft die Treppe herunter und will, dass ich ihm nachlaufe. Ich erklre ihm, dass ich das nicht vorhabe. Emil versteckt sich. Die Referendarin kmmert sich um nichts. Sie ist mit ein paar Kindern beschftigt und hat vielleicht gar nicht mitbekommen, dass Emil rausgelaufen ist. Die Klassenlehrerin sitzt im Flur und schreibt etwas. Emil springt um sie herum. Sie macht nichts. Irgendwann gehe ich zu ihr und sage ihr, dass ich ratlos bin. Sie fordert jetzt Emil auf, sofort zu arbeiten oder er kçnne morgen nicht mitmachen. Emil geht auf seinen Platz, macht aber nichts. Er sitzt da wie ein Hufchen Elend. Ich setze mich zu ihm und frage ihn, was er habe. Er wirkt traurig und sagt nichts.«

Diese Sequenz zeigt anschaulich das Problem von Emil und die Ohnmacht der Lehrerin, ja der Schule insgesamt. Eine Referendarin gibt den Kindern die Aufgabe, mit dem Lexikon zu arbeiten. Das Lexikon kann man als Schrift- und Bildfassung gesammelter kultureller Bildungsinhalte auffassen, sozusagen das gesammelte gesellschaftliche Wissen. Die Arbeit mit dem Lexikon, eigentlich jede Schulaufgabe, fordert die Ausrichtung des Schlers auf einen Lehrinhalt, auf etwas Drittes, was außerhalb einer emotional bedeutsamen Zweierbeziehung (zur Mutter, zur Lehrerin, zur Sozialpdagogin) steht. Um eine Beziehung zum kulturellen Dritten, in diesem Fall der verschriftlichten Form gesellschaftlichen Wissens, eingehen zu kçnnen, muss das Schulkind erstens neugierig sein, d. h. ein eigenes Interesse an einer fremden Perspektive haben, und zweitens muss es in der Lage sein, den Drang zur unmittelbaren Stimulation zu neutralisieren. Es muss alleine sein kçnnen und partiell auch Langeweile – Nicht-Stimulation – ertragen kçnnen. Es muss die in ihm aufkommenden affektiven Strme selbst herunterregulieren kçnnen. Dazu bedarf es eines intrapsychischen Innenraums, eines Spielraums der Phantasie, in dem

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liebevolle Objekte auf die Erregung des Selbst beruhigend Einfluss nehmen kçnnen. Das Schulkind muss sozusagen ein sicherheitsspendendes Objekt in sich tragen, von dessen haltendem Schoß aus es neugierig und lustvoll auf die Welt eingestimmt wird. Bei Emil ist dies beides nicht der Fall. Die Beschftigung mit dem Lexikon, die Schulaufgabe, lçst bei ihm primr Unlust und Unruhe aus. Er gibt seiner Nachbarin gleich zu verstehen, was bei ihm mehr Lust erzeuge. Er wnscht sich, die ihm zugewandte Pdagogin zu einem Spielchen zu zweit zu verfhren. »Er luft die Treppe herunter und will gefangen werden.« Emil verlsst den schulischen Rahmen, zerstçrt den Dritten (den gesetzten Rahmen der Schulaufgabe und des Klassenraums) mit einem Ziel : der Herstellung einer vermeintlich lustvollen Zweisamkeit mit einer erwachsenen Frau. Erregende Stimulation unter Ignorieren des Rahmens, der Generationendifferenz und der Geschlechtsdifferenz. Das unmissverstndliche »Nein« der Frau bringt ihn dazu, zur nchsten Frau zu laufen. »Die Klassenlehrerin sitzt im Flur und schreibt etwas. Emil springt um sie herum.« Die Klassenlehrerin ignoriert zunchst Emils Annherungsversuche, bis die Pdagogin sie auf ihre Hilflosigkeit aufmerksam macht. Die Klassenlehrerin bedroht Emil mit Ausschluss, wenn er nicht sofort anfange zu arbeiten. Emil geht auf seinen Platz und wirkt von da an traurig, »wie ein Hufchen Elend«. Emils Versuche, eine stimulierende, lustvoll aufgeladene Zweierbeziehung mit einer mtterlichen Bezugsperson herzustellen, sind fehlgeschlagen. Die Pdagogin-Mutter und die Lehrerin-Mutter haben sich auf seinen drngenden Spielwunsch nicht eingelassen. Die Klassenlehrerin ist mit etwas anderem beschftigt, hat keine Zeit und Lust, Emils dyadischen Beziehungs- und Stimulationswunsch konkret zu befriedigen. Emil verfllt in Depression, weil sein Wunsch nach Stimulation in einer Dyade mit einer erwachsenen weiblichen Bezugsperson nicht erfllt wurde, und da er den Zugang zum Dritten, zum Lernen nicht findet, fhlt er sich nun ganz allein gelassen und abgeschoben. Emil versteht die Welt und die Mtter nicht mehr. Von der symbolischen Welt des Wissens – dem kulturellen Dritten – will er nichts wissen.

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2. Szene – Emil, der ausgeschlossen Dritte und die Mutter Im Gegensatz zur Lehrerin haben wir im Rahmen des Forschungsprojektes Gelegenheit, der Frage nachzugehen, warum Emil nicht lernen kann und so einen Drang zur Stimulation hat. Welche familiren Interaktionsformen wiederholt er mit der Lehrerin? Es wurden mit Emil zwei Kinderinterviews von einer erfahrenen Kinderanalytikerin durchgefhrt und protokolliert. Immer wieder bemerkt die Kinderanalytikerin dabei, wie schwierig und anstrengend es sei, mit Emil in einen Dialog zu kommen, was ihr Interesse an ihm im Verlauf der Interviews sprbar sinken lsst. Im zweiten Interview, zu dem ihn wie beim ersten Interview seine Mutter begleitet, setzt Emil gleich selbst die Grenzen. Er macht der Interviewerin klar, dass er vorhabe, nur zehn Minuten zu bleiben. Die Analytikerin wird durch das gesetzgeberische Verhalten von Emil in ihrem Impuls, den vterlichen Rahmen selbst zu bestimmen, angespornt. Mir nichts dir nichts in einen Kampf um das Stundenende verwickelt, weil sie sich nicht von einem achtjhrigen Jungen das Zeitlimit vorschreiben lassen will, muss sie schließlich doch resigniert ihre Niederlage einsehen. »Unbehagliches Schweigen, alles scheint gesagt zu sein, ich komme mir dumm und einfallslos vor. Inzwischen hat Emil deutlich die Oberhand gewonnen, hat auch seine Heiterkeit zurckerlangt, denn nun strebt er wirklich mit einem albernen Glucksen zur Tr und ist weg. Ich will es kaum glauben – ich habe ihm nicht mehr als 5 Minuten abgerungen – ich muss mich sehr um professionelle Gelassenheit bemhen, fhle mich abgebgelt und vor der Mutter lcherlich gemacht – nun, so wird es ihr auch gehen.«

Nachvollziehbar wird hier beschrieben, wie es einer Professionellen geht, die etwas Drittes, einen Arbeitsauftrag gemeinsam mit jemandem ausfhren mçchte, der das vterliche Gesetz nicht einfach nur bekmpft, sondern es regelrecht verwirft, ihm keine Bedeutung gibt und sich selbst zum Bestimmer macht. In dieser im Vergleich zur Schule privilegierten Eins-zu-eins-Situation sprt die Analytikerin am eigenen Leibe, wie es einer Lehrerin gehen wrde, wenn sie ihren Lehrauftrag in Bezug auf Emil wirklich ernst nehmen wrde. Sie wrde mit Gefhlen von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Scham konfrontiert werden, die ihre pdagogische Professionalitt sehr schnell

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zerstçren kçnnten. Um diese Gefhle zu vermeiden, hat die Lehrerin vermutlich in der ersten Szene zunchst versucht, Emils Annherungsversuche zu ignorieren. Die Analytikerin fhlt sich von Emil vor der Mutter lcherlich gemacht, beruhigt sich aber durch den Gedanken, dass es dieser wohl auch so mit Emil ginge. Die Szene geht schließlich nach dem Abgang von Emil weiter. Er holt nach einigem Hin und Her seine Mutter aus dem Wartezimmer und drngelt sie auf einen Stuhl bei der Analytikerin im Zimmer. »Er kaspert und hampelt nun noch getriebener als zuvor. Die Mutter streng: ›Also Emil, so geht das nicht!‹ Sie wirkt hilflos und verlegen, als Emil unbeeindruckt weiter hampelt. So gehe es sicher beim AufgabenMachen, sage ich. ›Ja‹, seufzt die Mutter, ›jeden Tag 3 bis 4 Stunden, genau so.‹ Ich wiederhole, eigentlich mehr fr Emil, er fhle sich wohl so leicht kleingemacht und kmpfe darum, der Strkere zu sein, damit er sich nicht ganz allegemacht fhlen msse. Kurz nimmt er daraufhin auf dem dritten Stuhl Platz und sagt leise, er wolle so gern noch mal ganz von vorn anfangen. Aber ganz von vorn.«

Wir sehen hier, dass die Mutter keinesfalls beruhigend auf die Affektregulation von Emil einwirken kann. Im Gegenteil: Er wirkt im Beisein der Mutter noch getriebener. Der Versuch der Mutter, durch einen strengen Satz Emil Einhalt zu gebieten, schlgt fehl. Dann ist es erst eine verstehende Deutung der Analytikerin, die Emil nicht nur beruhigt, sondern ihn sogar kurzzeitig auf dem dritten Stuhl Platz nehmen lsst und ihm eine neue Perspektive erçffnet. Sie ußert Verstndnis fr seinen Kampf, der Strkere sein zu wollen, um sich nicht »allegemacht« zu fhlen. Nach diesem Satz der Analytikerin findet Emil zu sich, kann zeigen, dass er durchaus eigene Vorstellungen hat. Er formuliert sprachlich prgnant: Ich will »so gern noch mal ganz von vorn anfangen«. Ihm und seinen Handlungen wurden von einem verstehenden Dritten eine Bedeutung gegeben, was ihn direkt aus dem motorischen Agieren auf die symbolische Ebene der Sprache bringt. Eine direkt mentalisierend wirkende therapeutische Intervention des affektregulierenden Dritten fhrt dazu, dass Emil den Rahmen anerkennt, die Analytikerin in ihrer Aufgabe anerkennt, ber sich nachzudenken beginnt und seine Gedanken in Wort fassen kann. In den Mikro-

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prozessen der Interaktion verbergen sich die strukturellen Beziehungsmuster des Subjekts. Im weiteren Verlauf der Szene kommt es nun zu einer folgenschweren Dissonanz zwischen dem Verstndnis des verstehenden Dritten und dem Verstndnis der Mutter. Beide beziehen den Satz Emils auf unterschiedliche Zusammenhnge. »Die Analytikerin sagt zu Emil: ›Wieder ganz, ganz klein sein und noch mal wachsen und groß werden?‹. Die Mutter aber sagt: ›Du willst wieder im ersten Schuljahr anfangen.‹ Und spricht von der Schwester, die nun auch eingeschult sei. Verbal lsst sich Emil auf diese Linie ein: Seine Schule sei doof, die der Schwester besser. Aber zugleich setzt er sich auf Mamas Schoß, lsst seine Glieder nach allen Seiten zerfließen und sagt bei der nchsten Gelegenheit zur Mutter: ›Antworte du!‹ Nun entfaltet sich ein Schauspiel, das in seiner Schamlosigkeit etwas Abstoßendes fr mich hat. Emil bemchtigt sich des mtterlichen Kçrpers. Er bringt die Mutter – indem er mit den Hnden an ihrem Mund zerrt – dazu, fr ihn zu sprechen. Er greift nach ihren Fingern, schnipst hçrbar mit ihren Ngeln, kratzt unter ihren Ngeln nach Schmutz, beißt auf ihnen herum. Er wickelt ihre Arme um sich und whlt seine Nase in ihren Busen, dass es fast schmerzhaft sein muss, er rkelt sich auf ihrem Schoß und zieht dabei ihren Rock hoch. Sie schmust mit ihm, whrend sie weiter Worte mit mir wechselt, krault und streichelt ihn.«

Hier wird sinnlich konkret vorgefhrt, was zuvor abstrakt ber den Zusammenhang von vterlichem Gesetz und Inzesttabu konstatiert wurde. Emil hat das vterliche Gesetz, die Perspektive des Dritten, die er nach der Deutung der Analytikerin kurzzeitig zur Selbstfindung nutzen konnte, indem er den dritten Stuhl besetzte und seine Worte fand, vçllig verloren. Er gert in eine Art inzestuçsen Rausch, in dem die Kçrpergrenzen zwischen sich und seiner Mutter aufgehoben werden. Er wird zu seiner Mutter und seine Mutter wird zu ihm. Ihr Mund wird sein Mund, ihr Finger wird sein Finger, ihr Busen wird sein Busen. Umschlungen erregte Zwei-Einheit, die wohl auch der Analytikerin die Sprache verschlgt, denn sie redet im weiteren Verlauf des Interviews mit Mutter und Sohn weiter, als habe sich gar nichts verndert. Obwohl oder gerade weil die erregende Szene so bedrngend ist, ignoriert sie den vor ihr stattfindenden Ganzkçrper-

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Inzest zwischen Mutter und Sohn. Dies tut sie auch deshalb, weil Emil und Mutter nun als verschlungene Einheit mit der Analytikerin reden, ber Fußballspielen, Torwartsein usw. Wie ist es zur sichtbaren Zerstçrung des vterlichen Prinzips gekommen, was hat die kurze Subjektwerdung Emils zerstçrt und das inzestuçse Agieren ausgelçst? Einfach gesagt: Emils Mutter und die Vater-Therapeutin haben nicht an einem Strang gezogen, haben kein verstehendes Paar gebildet. Die Deutung der Analytikerin aus einer beobachtenden und reflektierenden vterlichen Position, Emil mçchte noch mal ganz ganz klein sein und wachsen und groß werden, wurde von der Mutter weder verstanden noch untersttzt. Sie definiert Emils Aussage in ihrem Sinne konkretistisch um, redet von der ersten Schulklasse und bringt die Schwester Emils ins Spiel. So haben in dieser nur Sekunden dauernden Sequenz zwei psychodynamische bedeutungsvolle Bewegungen stattgefunden, die die Ich-Regression Emils ausgelçst haben. Der Satz des Dritten (der Therapeutin) wurde von der Mutter negiert, damit wurde auch das Verstndnis der Therapeutin, das zuvor beziehungsstiftend und triangulierend gewirkt hat, fr nichtig erklrt. Die kurze Episode, in der Emil Zugang zu einem fremden Dritten fand und sich als sprechendes Subjekt erleben konnte, wird schlagartig durch die Aussage der Mutter zerstçrt. Sie untersttzt nicht den Gedankengang des verstehenden Dritten und stellt zudem eine Konkurrenzsituation her, indem sie die Schwester von Emil ins Spiel bringt. Eine triadische Konkurrenzsituation, die, wie jetzt klar wird, keineswegs progressiv aktivierend wirkt, sondern die Regression fçrdert und das sprachfhige Ich tendenziell auflçst. Dieser Doppelschlag fhrt zum regressiven Suchen Emils nach dem Mutterleib. Er kriecht sozusagen in sie hinein, um sich ihrer zu versichern und vor weiteren bedrohlichen Unabhngigkeitswnschen und Beziehungswnschen an Dritte geschtzt zu sein. Eine von außen betrachtete Triade Emil-Mutter-Therapeutin ist entgleist und zu einer Dyade geworden: Mutter/Emil-Therapeutin. Man kçnnte auch sagen, Emils Aussage, er mçge noch mal ganz von vorn anfangen, hat er aufgrund der fehlenden Einfhlungs- und Mentalisierungsfhigkeiten der Mutter konkret umgesetzt: Er ist zum gierigen Sugling an Mamas Brust geworden.

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In dieser Szene sind wir Zeuge geworden, wie eine Mutter unbewusst in Mikro-Interaktionssequenzen das um Verstehen ringende Wort des Dritten, das die Entwicklung einer anderen Perspektive des Kindes ermçglicht htte, verwirft, indem sie es subliminal entwertet und das Kind durch die Erwhnung des Geschwisters akut mit Trennung bedroht, als es sich gerade dem verstehenden Dritten zuwenden wollte. So schafft es die Mutter unbewusst, eine primre Trennungsangst im Kind zu aktivieren, um die Individuation zu verhindern. Dem Kind wird so die Mçglichkeit genommen, sich mit dem Vater und seinem Wort zu identifizieren und eine weitere Perspektive zu finden. Die Loslçsung und die Subjektentwicklung Emils wird so im Keim gestçrt. Die Mutter selbst wird nun zum Sprachrohr Emils, was dieser direkt ausdrckt: »Antworte du!« Emil wird auch zum Sprachrohr der Mutter. Nur in der stimulierenden kçrperlichen Einheit scheinen sich beide vollkommen zu fhlen.

Zusammenfassende Gedanken zu beiden Beziehungsszenen Durch die zweite Szene mit Mutter und Analytikerin ist die erste Szene in der Schule nun besser verstehbar geworden. Die psychodynamische Grundlage von Emils Lern- und Schulstçrung liegt auf der Hand. Emil kann nicht lernen, weil er den Dritten nicht als hilfreich fr die Separation von der Mutter nutzen kann. Und dies kann er auch deshalb nicht, weil die Mutter den Sohn unbewusst an sich bindet und ihm bei Zuwiderhandlung mit Trennung droht. Das vterliche Gesetz, das die alleinige Inbesitznahme der Mutter durch das Kind und, wie wir hier gesehen haben, auch die alleinige Inbesitznahme des Kindes durch die Mutter verhindert, ist in dieser Familie nicht verkndet worden. Es wird aktiv zerstçrt. Emil hat noch nicht erfahren, dass die Trennung von der Mutter ihm neue Mçglichkeiten der Weltwahrnehmung erçffnen kann, zu sehr ist er mit einer tiefliegenden Trennungsangst beschftigt. Er wehrt diese Trennungsangst durch beharrliches Festhalten an der Identifikation mit der Mutter ab. Aufgrund einer massiven Tendenz der Mutter, ihren Sohn zu einem Selbstobjekt – zu ihrem Phallus auf dem Schoß – zu machen, ist sie nicht in der Lage, ihrem Sohn einen eigenen Raum zur Selbstentwicklung zu ermçglichen. Sie behindert seinen Zugang zu fremden

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Objekten und unterminiert damit seine Fhigkeit, eigenstndig zu denken. Denken basiert im Kern auf der Erfahrung des Getrenntseins, der Fhigkeit zur Perspektivenbernahme und der Fhigkeit, Symbole fr das abwesende Objekt zu bilden. Peter Hobson (2003) hat die Bildung des psychischen Gersts des Denkens bei der Subjektwerdung auch aus der Fhigkeit zur Perspektivenbernahme beschrieben: »Denken wird mçglich, weil das Kind die Perspektive eines Menschen von der eines anderen zu trennen beginnt. […] Das Denken entsteht aus wiederholten Erfahrungen, bei denen das Kind eine Bewegung von einem psychischen Standpunkt gegenber Dingen und Ereignissen hin zu einem anderen Standpunkt vollzieht. Es kann diesen Perspektivwechsel aber zunchst nicht selbst ausfhren. Damit es begreift, dass es sich innerlich bewegen und seine Haltung zur Welt verndern kann, mssen die Bewegungen durch einen anderen Menschen geschehen« (S. 112).

Die Lust am Denken und Lernen ist zentral abhngig von der Freude, mit welcher die Mutter die Perspektivenwechsel des Kindes, d. h. dessen eigenstndige Wahrnehmung der Welt und seiner Objekte, begleitet und untersttzt. In der frhen familiren Interaktion ist es in der Regel der Vater, der als drittes Objekt neben das Selbst und die Mutter tritt, der die Mutter-Kind-Dyade beobachtet, der den konkordanten Abstimmungen zwischen Mutter und Kind etwas Fremdes – eine neue Perspektive – zur Seite stellt. Die Fhigkeit des Kindes, die Perspektive des Vaters einzunehmen und zu einer wechselnden Perspektivenbernahme im familiren Dreieck zu kommen, muss von der Mutter anerkannt und lustvoll begleitet werden, damit die beginnende Mentalisierungsfhigkeit des Kleinkindes sich zur aktiven Lernfhigkeit hin erweitert. Bei Emil haben die Pdagoginnen beobachtet, dass er bei schulischen Erfolgserlebnissen berhaupt keine Freude zeige. Dies kçnnen wir nun leicht daraus erklren, dass jeder schulische Erfolg eine Annherung an einen Dritten (das zu lernende Objekt, die Lehrerin) bedeutet. Diese Annherung an den Dritten bedroht aber die als existenziell notwendig erlebte Verschmelzung mit der Mutter. Emil konnte aufgrund der mtterlichen Tendenz, ihren Sohn zum Selbstobjekt zu machen, in seiner Entwicklung die Stufe der Bildung sinnlicher Symbole und bergangsobjekte zur berwindung der

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Trennungsangst nicht gengend gut entwickeln. Zur Vermeidung einer existenziellen Trennungsangst bleibt er an die Mutter und an deren Perspektive gebunden. So ist es dann verstndlich, dass ein zuflliger Lernerfolg eher depressive Gefhle als Freude auslçst. Warum konnte ihm sein Vater in der Familie bei der Separation von der Mutter und der Lust am Perspektivenwechsel nicht helfen?

Der reale Vater von Emil Wie in den theoretischen Gedanken ausgefhrt, muss das vterliche Gesetz das Nein zur Wiedervereinigung mit der Mutter, zunchst im Inneren der Mutter selbst vorhanden sein, damit der wirkliche Familienvater dann auch individuierend wirken kann. Wie zu vermuten war, bestimmt in Emils Familie die Mutter die familiren Interaktionen. Die Mutter selbst blickt auf vorwiegend sadistisch destruktive Erfahrungen mit Mnnern zurck. Im Interview mit den Eltern bekommt die Analytikerin einen Eindruck vom biographischen und familiren Hintergrund. Der eigene Vater der Mutter sei gewaltttig gegen Sachen gewesen. Untersttzt wurde der Vater von ihrem gewaltttigen Zwillingsbruder, der schließlich rechtsradikal wurde. Von beiden offensichtlich gehassten Mnnern trennt sich die Mutter whrend der Schwangerschaft mit Emil, nachdem ihre eigene Mutter gestorben war. Innerlich scheint Emil die Rolle des gehassten Zwillingsbruders eingenommen zu haben. Der leibliche Vater Emils erzhlt im Elterngesprch, dass er sich auf seinen Sohn gefreut habe. Nach dem ersten Lebensjahr scheint es aber zum Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen zu sein, der durch die Geburt des Geschwisters mit drei Jahren noch verstrkt wurde. Im zweiten Elterngesprch erzhlt der Vater selbst, er habe den Umgang mit dem Baby Emil sehr gemocht – aber dann habe das laufende Kleinkind an seine Werkzeuge gewollt, und das sei natrlich nicht gegangen. Nun, wenn es dem Vater nicht mçglich ist, den ein- bis zweijhrigen, altersgemß die Welt erforschenden Jungen in die Welt der vterlichen Werkzeuge hineinzulassen, sondern sie vor ihm schtzen und verschließen muss, so versperrt auch der Vater selbst den libidinçsen Zugang seines Sohnes zu ihm und damit zu einer neuen Per-

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spektive auf die Welt. Die Suche nach dem Vater und der Versuch des spielerischen Umgangs des Sohnes mit Perspektivenwechseln im familiren Dreieck wurden auch durch die verbietende Zwanghaftigkeit des Vaters behindert. In Nebenbemerkungen wird im Elterngesprch deutlich, dass der Vater wohl auch jhzornig, d. h. gewaltttig gegen den Sohn geworden ist. Es entwickelt sich eine maligne Mutter-Sohn-Zweisamkeit, aus der der Vater ausgeschlossen wird und sich ausschließt, weil er nicht mehr ber das richtige Werkzeug verfgt, die Mutter-Sohn-Festung aufzuschließen. Der Vater, auf seine Bedeutung fr die Separation seines Sohnes von der Mutter hingewiesen, sagt hilflos: »Ich kann doch da nicht dreinschlagen!« Sein einziges Repertoire, um die Trennung von Mutter und Sohn zu forcieren, scheint Gewalt zu sein. Da er aber der Gewalt abgeschworen hat, zieht er sich zurck. »Da drehe ich mich um und gehe weg.« Nun wird auch der familiendynamische Hintergrund des Schulstçrers Emil deutlich. Emil ist von seinem Vater nicht nur einfach im Stich gelassen worden. Er wurde auch aggressiv vom Vater selbst aus der Welt der Vter verbannt. Aus dem spielerischen Umgang des Sohnes mit dem vterlichen Werkzeug ist fr den Vater Ernst geworden. Das Spiel zerbricht an der psychischen Unfhigkeit des Vaters, kindliche Spielwnsche von seiner inneren zwanghaften Realitt zu unterscheiden. Die Mutter setzt ihrem Sohn keine Grenzen, fçrdert nicht die Individuation, den Zugang zur Außenwelt, zur Kultur, weil er ein Objekt ihrer Innenwelt bleiben muss. In inzestuçser Verschlungenheit lsst sie ber sich und ihren Kçrper bestimmen, lsst scheinbar schamlos sich und ihren Sohn eins werden. Der Vater als trennender Dritter, das vterliche Prinzip, ist zerstçrt worden und wird – personifiziert in der Lehrerin, der Sozialpdagogin und der Therapeutin – immer von Neuem zerstçrt. Weil er kein verstndnisvoll beruhigendes Mutterobjekt in sich trgt und die Ebene des triangulierenden Perspektivenwechsels mit Hilfe des Vaters nicht erreichen kann, gilt Emils Energie der Aufrechterhaltung einer stimulierenden Dyade zur Abwehr der Angst vor dem bedrohlichen Alleinsein. Die Fhigkeit zum Alleinsein, Grundlage reifer Denk- und Lernfhigkeit, entwickelt sich in einer ausgewogenen internalisierten Dreierbeziehung, die auf der Erfahrung gengend guter Bemutterung fußt (vgl. Winnicott, 1974). Emil hat beides nicht erfahren und

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entsprechend keine Lust auf Lernen, keinen Denkraum fr spielerisches Probehandeln entwickeln kçnnen. Die maligne Verwicklung mit einer Mutter, die das mnnliche Geschlecht unbewusst verwirft bei gleichzeitiger Abwesenheit des Vaters, hat zudem die Bildung einer positiv besetzten phallischen Identitt des Jungen verhindert, wie wir es hufig bei Jungen mit der psychiatrischen Diagnose ADHS finden kçnnen.

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Die Bedeutung des frh entwickelten oder nachtrglich erworbenen Bildes vom Vater fr erwachsene Liebesbeziehungen1

Schon Freud (1937) hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob wir in unseren Psychoanalysen eine Rekonstruktion der persçnlichen Vergangenheit erreichen kçnnen oder ob wir nicht an die Stelle fehlender Erinnerungen oft auch Konstruktionen setzen mssen. Die moderne Psychoanalyse hat sich mehr und mehr in die Auffassung von einer gemeinsamen konstruktivistischen Arbeit von Analysand und Analytiker entwickelt, welche das seelische Erleben eines Menschen entlang einer biographischen Linie verstehen und ggf. neu ordnen kann. Nun nimmt im seelischen Erleben der meisten Erwachsenen das Bemhen um eine tief greifende Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen einen zentralen Platz ein. Als Analytiker sind wir dabei eher mit den individuellen und interpersonalen Krisen beschftigt, welche aus dem partiellen oder vollstndigen Scheitern der anfnglichen Hoffnungen folgen kçnnen. Wir beschftigen uns mit dem Schicksal von Liebe und Hass in vielfltiger Ausprgung, und auch wenn wir dem »furor sanandi« nicht erliegen wollen, geben die meisten von uns doch Eros gegenber Thanatos den Vorzug. Diese Prferenz fhrt auch mich zu der Frage, welche Bedingungen die Dauerhaftigkeit erwachsener Liebesbeziehungen und damit eines wichtigen Teils unseres seelischen Erlebens begnstigen. Ich denke dabei sowohl an die lebensgeschichtlichen Grundlagen eines Menschen als auch an den Inhalt unserer tglichen analytischen Arbeit, 1

Gekrzte und leicht berarbeitete Fassung der bereits 2006 publizierten Arbeit »Erwachsene Liebesbeziehungen und die mentalisierende Rolle des Vaters« in: Dammasch/Metzger (2006). Die Bedeutung des Vaters. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.

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oder anders gesagt: Mich interessieren die seelischen Reprsentanzen sowohl im Rahmen der biographischen Re-Konstruktion als auch der analytischen »Konstruktion«. Die klinische Arbeit zeigt meines Erachtens, dass die Konstanz einer erwachsenen Liebesbeziehung von der Fhigkeit abhngt, sich selbst und den anderen Menschen affektiv zu verstehen. Das kann gleichzeitig, abwechselnd oder manchmal erst nach langem Bemhen geschehen – aber geschehen muss es, um die Balance zwischen Bezug zu sich selbst und Bezogenheit auf den anderen zu halten. Wenn diese Balance dauerhaft aus dem Gleichgewicht gert, ist eine erwachsene Gegenseitigkeit in der Regel nicht mehr mçglich. Wir sind gewohnt, die Fhigkeit zu affektivem Verstehen als Ergebnis einer gut gelungenen Mutter-Kind-Dyade bzw. einer frhen Eltern-Kind-Triade zu betrachten. Unzweifelhaft legen die seelischen Austauschprozesse mit der Mutter und dem sogenannten »frhen« Vater dazu den Grundstein. Mir ist aber aufgefallen, dass Patienten mit einer Stçrung ihrer Liebes- und Beziehungsfhigkeit neben Konflikten mit der Mutter oft auch mangelndes Verstehen im spteren Kontakt mit ihrem Vater beklagen. Umgekehrt kann eine Vernderung der Vaterreprsentanz im Verlauf einer Analyse zu einer Ausweitung des seelischen Verstehens fhren. Ich mçchte daher ergnzen, dass und wie in der weiteren Entwicklung eines Kindes (oder Patienten) auch das innere Bild vom çdipalen Vater die Ausgestaltung spterer Liebesbeziehungen prgt. Der çdipale Vater gewinnt nmlich eine zentrale Bedeutung bei der seelischen Integration von weiter entwickelten Formen sexuellen sowie aggressiven Begehrens. Durch eine Zunahme von emotionaler Auseinandersetzung vermittelt er mehr und mehr einen Umgang mit Fremdheit und Differenz bei Erhalt gleichzeitiger Nhe. Er gewinnt so eine »exzentrische« Position, deren allmhliche Verinnerlichung dem spter Erwachsenen helfen kann, ein tieferes Verstehen fr das seelische Empfinden desjenigen Partners zu entwickeln, auf den er gleichzeitig sein sexuelles oder aggressives Begehren richtet. Zur Entwicklung dieser These mçchte ich kurz einige Auffassungen ber die Rolle des Vaters innerhalb der psychoanalytischen Literatur erwhnen. Zunchst mçchte ich an die maßgebliche Bedeutung erinnern, welche Freud (z. B. 1909a, 1909b) dem çdipalen Vater unter Beto-

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nung der bedrohlichen und verbietenden Eigenschaften zugesprochen hat, wenngleich er auch die zrtliche Bedeutung des Vaters der persçnlichen Urzeit nicht vergaß. Eine andere Position vertreten Autoren in der Nachfolge Melanie Kleins: Sie rcken das Unbewusste der Mutter in den Vordergrund, demzufolge das Kind sein Vaterbild hauptschlich von der Mutter erhalte (z. B. Segal, 1989; Meltzer, 1988; Britton, 1989). Diese Konzeption trifft sich mit Vorstellungen Lacans und seiner Nachfolger (Borens, 1993): Denn selbst fr die berhmte Wendung, dass das Nein des Vaters den Namen des Vaters in die psychische Struktur des Kindes einfhre (»Nom du P re/Non du P re«), gilt der reale Vater als relativ bedeutungslos. Im Gegensatz dazu erhlt der reale Vater im Konzept der frhen Triangulierung nach E. L. Abelin (1971, 1975) eine hohe Bedeutung als Kontrastobjekt zur Mutter. In Weiterfhrung dieses Konzepts haben verschiedene Autoren (Brgin, 1998; Dammasch u. Metzger, 1999; Metzger, 2000, 2005; von Klitzing, 1998, 2002) die Bedeutung triadischer Strukturen herausgearbeitet, an denen der Vater seit Beginn des Lebens unverzichtbar beteiligt ist. Sozusagen »dazwischen« stehen die Arbeiten von Gaddini (1998) und von Ogden (1989). Gaddini spricht von einem »Prozess der Vaterdifferenzierung«, welcher sich fr das Kind bis zum dritten Lebensjahr aus der Beziehung zur Mutter ergebe. Fr ihn ist der Vater das erste Objekt in der kindlichen Entwicklung, denn im Unterschied zur Mutter stelle sich der Vater als von Anfang an »fremd« dar. Ogden fhrt das Konzept der »çdipalen bergangsbeziehung« ein, in der das kleine Mdchen oder der kleine Junge die unbewussten çdipalen Phantasien der Mutter ber ihr eigenen Elternbilder aufnehme. ber das psychische Muster einer »Dreiheit-in-Zweiheit« vermittelt auch hier die Mutter ein erstes Vaterbild. Trotz aller Divergenzen in den dargestellten Auffassungen erscheint mir ein Gedanke gemeinsam: Mit dem Vater wird die Vorstellung vom Anderen verbunden – er ist anders als die Mutter und anders als das Kind selbst. Gerade als der Andere erhlt er Gewicht gegenber dem Paar aus Mutter und Kind, so dass er aus der kindlichen Theorie von Geist und Seele nicht wegzudenken ist. Wenn ich von kindlicher Geist-Seele-Theorie spreche, sttze ich mich im Wesentlichen auf das psychoanalytische Konzept der Mentalisierung, wie es seit Mitte der neunziger Jahre von Fonagy

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und Target (1996, 2001) bzw. in Zusammenarbeit beider mit Gergely und Jurist (2002) entwickelt worden ist. Das ursprnglich fr die Behandlung von Borderline-Kindern entwickelte Konzept kreist um den Erwerb der Fhigkeit, »anderer Leute Gedanken und Gefhle zu ›lesen‹«(S. 233). Kurz gesagt ließe sich Mentalisierung so verstehen, dass im affektiven Austausch und vor allem im affektiven Spiegeln durch die Mutter das Kind allmhlich eine gefhlte Vorstellung sowohl von seinem eigenen Seelenleben entwickelt als auch davon, dass andere Personen ebenfalls ber ein eigenes Seelenleben verfgen. Fonagy, Target et al. haben dieses Konzept allerdings stark auf die Mutter zentriert, und der Vater bleibt eher im Hintergrund. Schon von Klitzing (2002, S. 883) hat hier die Bedeutung der frhen Triade angemahnt. Ich mçchte nun noch weiter gehen und die fundamentale Rolle des Vaters in der çdipalen Situation betonen. Ich beziehe mich dabei auf eine hinreichend gesunde Entwicklung, und in diesem Fall bietet der çdipale Vater dem Kind eine Beziehung an, in der Differenz und Verstehen – angesichts zunehmender Konflikte – zugleich enthalten sind. Mit dieser Zwischenposition modelliert er sozusagen die Fhigkeit zum Verstndnis des Fremdseelischen, welche auch und gerade in erwachsenen Liebesbeziehungen eine zentrale Rolle spielt. Menschen mit relativ gelingenden Liebesbeziehungen berichten positiv von solchen Erfahrungen, whrend viele Patienten hier eine schmerzliche Lcke spren. Wie kann ein entsprechend differenziertes und gengend gutes Vaterbild (vgl. Blaß, 2002) entstehen – entweder aufgrund der Erfahrungen mit dem eigenen Vater oder aufgrund therapeutischer Prozesse ? Hier nun erscheint mir das Konzept der Mentalisierung hilfreich. Obwohl ursprnglich fr frhere Beziehungsformen entwickelt, halte ich dessen Ausweitung auf die çdipale Entwicklung fr sinnvoll. Kçnnen nicht Mentalisierungsprozesse erforderlich sein, in denen der Vater in der çdipalen Situation Gefhle und Gedanken des Kindes in verstehender Weise »liest«, um eine nachhaltigere Symbolbildung von reiferen Objektbeziehungen zu befçrdern ?

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Hier relevante Aspekte des Konzepts der Mentalisierung nach Fonagy, Gergely, Jurist, Target Ehe ich die mentalisierende Aktivitt des Vaters in der çdipalen Situation darstellen kann, mçchte ich kurz einige wesentliche Elemente des Konzepts der Mentalisierung im Sinne Fonagys, Targets et al. benennen. Dazu gehçren: a) Das affektive Spiegeln durch die Mutter: Ein bedeutsamer Bestandteil dieses Spiegelns besteht in der Fhigkeit der Mutter, begleitende Aussagen zur affektiven Verfassung des Kindes zu machen, welche dem Kind immer mehr Auskunft ber sich selbst geben. Diese »mind-minded-comments« – also verstehende Kommentare zu etwas Seelischem, wie z. B.: »Dir macht es Spaß, mit dem Ball zu spielen« – haben einen positiven Einfluss auf affektive Bindung und kognitives Verstehen. b) Die Unterscheidung von seelischem quivalenzmodus und »Als-obModus«: bis sich im Alter von etwa vier bis fnf Jahren zusammenhngende seelische Reprsentanzen bilden, pendelt das Kind zwischen zwei parallel existierenden Modi der Realittserfahrung hin und her: im Modus der »psychischen quivalenz« (»psychic equivalence mode«) setzt es seine inneren Gedanken und berzeugungen mit der ußeren Realitt gleich (Beispiel: Das ußere Batman-Kostm ist gleich mit dem inneren Schrecken). – Der andere Modus ist der »Alsob-Modus« (»pretend mode«). In ihm »weiß das Kind jedoch, whrend es spielt, dass das innere Erleben vielleicht nicht die ußere Realitt widerspiegelt […],aber dann denkt es, der innere Zustand habe keine Beziehung zur Außenwelt und betreffe sie nicht« (2001, S. 235 f., bersetzung H. B.). Die ußere Realitt wird zeitweise suspendiert (Beispiel: Ein Kind spielt solange mit einem Stuhl als Panzer, bis es auf die Frage eines Erwachsenen, ob es sich um einen Stuhl oder Panzer handele, das Spiel unterbricht). Erst im vierten und fnften Lebensjahr kann das Kind diese beiden Modi zusehends integrieren, so dass innere und ußere Realitt als miteinander verknpft erlebt werden kçnnen, aber auch als voneinander unterschieden. c) Die »Markierung von Affekten«: Mit dieser Ttigkeit in der Art eines »Biofeedbacks« spiegeln die Eltern die Affekte des Kindes.

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Indem sie eine gewisse bertriebene Version eines eigenen realistischen emotionalen Ausdrucks wiedergeben, »markieren« sie den gespiegelten Affekt. Eine mtterliche Reaktion auf anhaltendes Schreien kçnnte z. B. ein empathisch bertriebenes und zugleich haltendes »Oohh, du bist aber mde !« sein. Diese Markierung verhindert, dass das Kind die Emotion der Mutter zuschreibt. Vielmehr gehçrt sie kontingent zum eigenen Verhalten des Kindes, und so nimmt das Kind an, dass die Emotion seine eigene ist

Bedeutung des çdipalen Vaters unter dem Aspekt der Mentalisierung Wenn wir nun zur Bedeutung des çdipalen Vaters kommen, machen wir quasi einen Sprung von der frhen kindlichen Entwicklung und der grundlegenden Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst hin zu reiferen, mehr ausgestalteten Affekten und Phantasien, welche die emotionalen Beziehungen eines Kindes prgen. Damit verbunden ist die Entwicklung dauerhafter Symbole. Mentalisierung erfolgt zeitlich vor dem Prozess einer reiferen Symbolbildung. Nach meinem Verstndnis bezieht sich Symbolisierung mehr auf die individuellen, von der unmittelbaren Interaktion unabhngigen intrapsychischen Bilder von Selbst, Affekt und Objekt. Das Symbol reprsentiert die innere Anwesenheit des Objekts bei dessen realer Abwesenheit (vgl. Balzer, 2004, S. 404). Die Symbolbildung strukturiert zunehmend die eigene innere Welt eines Kindes und erlaubt eine wachsende Unabhngigkeit von den real verfgbaren, ußeren Objekten. Eine reife Symbolbildung kann allerdings nur auf dem Boden einer gelingenden Mentalisierung erfolgen. Selbst bei Bercksichtigung »verzerrender« kindlicher Phantasiettigkeit geht die interpersonale Erfahrung auch in die reiferen Formen von Symbolisierung ein. Dies scheint mir nun die Stelle, an der auch das Wirken des çdipalen Vaters Weichen fr die Struktur spterer Liebesbeziehungen stellt. Der allmhliche bergang von der primren Liebe zum Wachstum der genitalen Sexualitt und zu heterosexuellem Begehren verndert die Bedeutung des Vaters in dramatischer Weise. Unabhngig von der Frage, ob er zunchst mehr ber das unbewusste Bild der Mutter vermittelt wurde (vgl. Klein; Lacan; Ogden) oder ob er in einer triadischen Struktur schon immer

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anwesend war (vgl. Brgin; von Klitzing, Metzger; Dammasch u. Metzger): er gert in der çdipal- adoleszenten Entwicklung in das Zentrum der kindlichen Phantasien und Handlungsabsichten. Das gilt fr beide Geschlechter. Sei es, dass eine heranwachsende Tochter ihren Vater begehrt respektive ablehnt, oder sei es, dass ein grçßer werdender Sohn seinen Vater bekmpft respektive ihn zum Vorbild nimmt: Jedes Mal strukturiert die Art der vterlichen emotionalen Prsenz die weitere Symbolisierung von Liebe und Hass, Begehren und Verbot, Verstehen und Nicht-Verstehen – in Verbindung mit der elterlichen Paarbeziehung und der familiren Triade. Die neue Bedeutung des Vaters als Geliebtem oder Rivalen im familiren Dreieck erfordert von ihm eine Fhigkeit, die auf ihn gerichteten Affekte richtig »lesen« zu kçnnen. Dies gilt umso mehr, als er jetzt auch zum Vermittler der çdipalen Verbote und der Inzestgrenze wird (vgl. »Non« und »Nom«). Nach meinem Verstndnis kann eine solche Vermittlung nur gelingen, wenn darin Elemente einfließen, welche bereits bei der Mentalisierung eine wichtige Rolle gespielt haben. Die çdipalen Phantasien kçnnten nmlich als gleichbedeutend mit der ußeren Realitt gesetzt werden. In diesem Fall befnden sie sich im quivalenzmodus. Oder sie kçnnten so wenig mit dem inneren Erleben verbunden sein, dass sie ein bloßes Als-ob bleiben. Umso wichtiger ist es, wie der Vater hier regulativ wirken kann, um eine Integration beider Modi auf reiferer Ebene zu ermçglichen. Seine emotionalen Antworten auf rivalisierende Angriffe oder schwrmerisch sehnschtiges Begehren erfordern ebenfalls die Qualitt markierender Elemente, denn er muss die auf ihn gerichtete Emotionalitt aufnehmen und zugleich in etwas verfremdeter Form an Sohn oder Tochter zurckgeben. Nur so kann das Bild eines emotional krftigen, zu Aggression und Begehren fhigen Objekts entstehen, ohne dass das Bild eines mçrderischen oder inzestuçsen Vaters fixiert wird. Erst dann kçnnen Tçchter und Sçhne ihre aggressiven und erotisch sexuellen Phantasien als zu sich selbst gehçrig erleben und ihre eigenen leidenschaftlichen Affekte annehmen. Ein Vater, der mit seinem Sohn ernsthaft kmpft und zugleich »lesen« kann, dass der Sohn auch seine Zustimmung sucht; und ein Vater, der mit seiner Tochter ernsthaft flirtet und zugleich »lesen« kann, dass sie auch seine Abgegrenztheit sucht, hilft bei der »Mentalisierung« weiterer heterosexueller Entwicklung. Er fçrdert somit die Differenzierung der

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verschiedenen, oft kontradiktorischen Gefhlseinstellungen des sexuell reifenden Kindes. Meine klinische Erfahrung spricht dafr, dass die Existenz eines mit eigenen Phantasien ausgestatteten, aber zugleich von der »markierenden« Erfahrung geprgten Vaterbildes die Angst des heranwachsenden Kindes vor seinen aggressiven und sexuellen Wnschen mildert. Dies gilt ebenfalls fr das seelisch-geistige Erleben eines Erwachsenen: Auch hier verleiht die Reprsentanz eines im Umgang mit Sexualitt und Aggression lesefhigen Vaters ein hçheres Maß an Sicherheit gegenber den eigenen Affekten. Indem der Vater innerhalb der çdipalen Triade eher die Position eines nahen Fremden einnimmt, vermittelt er einen wichtigen Zugang zur gleichzeitigen Erfahrung von eigenem und fremdem Erleben. Eine vom Vater vermittelte, differenzierte Lesart kçnnte zum Beispiel lauten: »Ich kann spren, dass du mich als stçrend empfindest, aber du suchst mich auch zu deinem Schutz und willst, dass ich bleibe« , oder: »Ich freue mich ber deine Zuneigung und erwidere sie, aber du bist auch froh, wenn ich dich nicht mit Gefhlen belaste, welche einer erwachsenen Frau gelten«. Mit einer derartigen Einstellung bleibt auch ein Stck der bereits frher erfolgten, schtzenden Triangulierung erhalten. Im Vergleich zu dieser harmonischeren Zeit kommen aber spezifisch neue, genital sexuelle und aggressive Wnsche des heranwachsenden Kindes hinzu. Aufbauend auf der frhen Triade, fçrdert ein mentalisierendes Verstehen des Vaters auch in çdipal strmischen Zeiten die weitere Unterscheidung von eigenen oder fremden Liebes- bzw. Hassaffekten. Das wird fr die Stabilitt spterer, erwachsener Paarbeziehungen zentrale Bedeutung erlangen. In der beschriebenen vterlichen Haltung stehen psychischer quivalenzmodus und Als-ob-Modus in einem ausgewogenen Verhltnis. Ein vorwiegend vom quivalenzmodus geprgtes Vaterbild wrde hingegen zu sehr die Aggression und das sexuelle Begehren betonen, so dass die Abwehr berwiegen und das Erleben des Kindes bzw. Erwachsenen zu einem angstvollen Stillstand kommen kann. Umgekehrt wrde ein vom Als-ob-Modus geprgtes Vaterbild zur Erfahrung mangelnder Ernsthaftigkeit gegenber der Intensitt der aggressiven und sexuellen Affekte fhren, was ein verzweifeltes Gefhl mangelnder Wirklichkeit fr die eigenen Liebes- bzw. Hassgefhle hervorruft. Dies kann entweder eine tiefe Resignation in Einsamkeit oder ein forciertes Suchen nach Besttigung in immer neuen Bezie-

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hungen sowie eine Einsamkeit in immer neuen Beziehungen bewirken. Das im çdipalen Dreieck entstehende Bild vom Vater schließt natrlich an die frhen Erfahrungen mit dem vterlichen Einfluss an. Es setzt diese Erfahrungen teilweise fort, aber die jeweilige vterliche Lesart von çdipalem Begehren bzw. Aggression des Kindes prgt auch dessen bergang in reifere Liebesbeziehungen. Je nach der Art, wie sehr neben der Mutter auch der Vater ein Verstndnis fr diese Affekte im triadischen Verhltnis zu seinem Kind und zu seiner Frau entwickelt, kann das Kind intensive Gefhlsbeziehungen eingehen und zugleich Erfahrungen interpersoneller Differenz besser aushalten. Whrend die unmittelbare Verliebtheit an frhe Formen dyadischen Glcks anzuknpfen scheint, fçrdert neben der Weiterentwicklung der Mutter-Kind-Beziehung ein solches Vaterbild die Fhigkeit zu erwachsener Liebe. Es stellt affektive Weichen fr die Art, wie ein Mensch einem anderen Menschen mit intensiven Gefhlen begegnen kann und zugleich die Tatsache seiner Fremdheit anerkennend zu bewahren vermag. Der Vater kann umso eher zum Vermittler çdipaler Grenzen und Strukturen werden, je mehr er fr das heranwachsende Kind mit einem gleichzeitigen Hintergrundverstehen seiner intensiven Affekte verbunden bleibt. Dieses Nebeneinander einer emotional prsenten und zugleich exzentrischen Position des Vaters mçchte ich als Mentalisierung in der çdipalen Situation bezeichnen. Ich halte es fr gerechtfertigt, den Begriff der Mentalisierung auf diesen spteren Entwicklungsabschnitt auszudehnen, weil nur auf diesem Boden eine mit Grenzsetzung und Verneinung verbundene Symbolbildung stattfinden kann und nur so die aus der çdipalen Entwicklung hervorgehenden triangulren Beziehungsstrukturen als relativ stabile Symbole seelisch reprsentiert werden kçnnen.

Ein klinisches Beispiel Der dreißigjhrige Herr C. empfindet zu Beginn seiner Analyse zwar eine gefhlsmßige Verbindung zu seiner Ehefrau, aber zugleich erlebt er sich beherrscht von einer emotionalen Starre und Distanziertheit, mit der er seine Frau oft schroff abweist. Mit dieser Haltung, welche ich auch schon bald zu spren bekomme, setzt er eine Unnahbarkeit

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fort, welche zwischen ihm und seinem Vater geherrscht hat. Herrn C. zufolge hat der Vater die um einige Jahre jngere Mutter mit seiner Strenge dominiert. So machte er seiner Frau whrend der Mahlzeiten regelmßig Vorwrfe wegen zu hoher Haushaltsausgaben. Herr C. wre am liebsten unter den Tisch gekrochen, aber er durfte whrend des Streits der Eltern nicht aufstehen. Die Beziehung zu seiner Mutter bezeichnet Herr C. als nah, jedoch von beidseitiger Unsicherheit bestimmt. Im Gegensatz dazu kann er keine Szene von emotionaler Nhe zu seinem Vater wachrufen. Im Gegenteil hlt er folgende Begegnung fr charakteristisch: Als Jugendlicher traf er den Vater berraschend in einem Lokal. Nach einer kurzen Begrßung durch Kopfnicken sprach er kein Wort zu seinem Vater, sondern er ging an das andere Ende des Raums. Beide verließen das Lokal durch verschiedene Tren und jeder ging fr sich allein nach Hause. Erst spter sei ihm bewusst geworden, dass er den Vater wie einen Fremden behandelt habe. Auch beim Tod des Vaters vor einigen Jahren habe er nicht viel empfunden. Erst die Ansprache des Pfarrers habe ihm ein gewisses Verstndnis fr den Vater erçffnet. Als Herr C. diese Situation im Interview schildert, beginnt er still zu weinen. Mit einem Mal wandelt sich seine starre Abkapselung in eine berhrend wirkende Bewegung, welche zugleich seine Sehnsucht nach mehr emotionalem Verstehen und Ausdruck deutlich macht. Es wird auch klar, dass die geschilderte Szene im Lokal nicht nur eine Deckerinnerung an einen çdipalen Kampf darstellt, sondern dass in ihr eine Verzweiflung ber die von Vater und Sohn gemeinsam geteilte Unfhigkeit zum Kontakt enthalten ist. Zwischen ihnen herrschte Sprachlosigkeit, und eine gewisse Sprachlosigkeit herrscht ebenfalls zwischen Herrn C. und seiner Frau. Bemerkenswerterweise enthlt die Beziehung zu seiner Frau eine weitere Analogie zum Muster aus Rivalitt und gegenseitigem Verfehlen, wie Herr C. es fr sich und seinen Vater beschreibt: Regelmßig versucht er mit seiner Frau abends auszugehen, aber fast nie finden beide ein gemeinsam interessierendes Ziel. Mehr und mehr wird deutlich, dass Herr C. sich entgegen seiner bewussten Einschtzung nachhaltig mit seinem Vater identifiziert hat, aber es handelt sich um eine Identifikation mit der Kargheit, dem Streit und der Dominanz. Einerseits von der ngstlichen Unsicherheit mit der Mutter beeinflusst, hat er andererseits kein Bild von einem emotional verstehenden und affektiv modulierenden Vater zur Verfgung. Der

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regelmßige Streit bei Tisch hat auch seine Vorstellung von der sexuellen Intimitt der Eltern geprgt: Hier schien der Vater verantwortlich fr die aggressive Qualitt seiner Urszenenphantasien. Folglich bleibt ihm fr seine Ehe nur die Wahl zwischen einem Gefhl eigener Unsicherheit gegenber seiner Frau oder der Identifikation mit einem bedrohlichen, zugleich unzugnglichen Vater. In diesem Zustand zieht er sich von seiner Frau wiederholt in eine emotionale Indifferenz zurck. Fr das affektiv -mentale Bild von seinem Vater stehen ihm nur zwei Mçglichkeiten zur Verfgung: entweder ist der Vater fr ihn unmittelbar bedrohlich prsent – in der Identifikation mit ihm wirkt er dann selbst sehr erschreckend. Oder er schaltet den Vater emotional einfach aus. Die erste Variante entspricht in ihrer unmodulierten Gleichsetzung von innen und außen dem Modus der psychischen quivalenz, whrend die angebliche Bedeutungslosigkeit des Vaters in der zweiten Variante dem Als-ob-Modus folgt: Mit der Vorstellung, als ob er keinen bedeutungsvollen Vater htte, entsteht in ihm eine Haltung verloren wirkender Omnipotenz. Mit diesem Negativbild von seinem Vater und auch von sich selbst beginnt Herr C. seine vierstndige Analyse. Er verharrt in einer starren »Einhllung«. Unter Rckgriff auf die »preußische Strenge« seines Vaters erlebt er die Couch als einen Ort des Verbots sich zu ußern: so wie er als schreiendes Baby vom Vater in einen schalldichten Nebenraum geschoben oder verprgelt wurde, als sein Schreien den elterlichen Sexualverkehr stçrte. Er erinnert, nachts mit dem Kopf gegen sein Gitterbett geschlagen und noch im Schulalter eingensst zu haben. Die von der Mutter angebotene heimliche Augensprache hatte nur wenig von seiner Angst gemildert. Sie gab aber Anlass zu Schuldgefhlen, in deren Rahmen er auch einen Ausschluss aus einer familiren Urlaubsreise als vterliche Strafe fr seine heimliche Verbindung mit der Mutter erlebte. Erst allmhlich teilt er mir mit, wie qulend es fr ihn war, bei der Pflegefamilie tglich einen ekeligen Brei restlos aufessen zu mssen. In hnlicher Weise frchtet er, dass er auch meine Worte widerspruchslos schlucken msse. Mit seiner Regungslosigkeit vermittelt er also seine Angst, von mir geqult werden zu kçnnen. Zugleich kommuniziert er seine gehemmte Wut gegen mich als eiferschtigen Vater, aber auch als enttuschende, treulose Mutter.

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Beide Affekte, sowohl seine ngstliche Hemmung als auch seine zurckgehaltene, mitunter aufschießende Wut, trben die emotionale Beziehung zu seiner Frau. Nach meiner Auffassung macht es nun keinen weiterfhrenden Sinn, angesichts einer Mischung aus frhem Verlassenheitstrauma und çdipaler Rivalitt das Aufkommen von Angst und Wut bloß zu benennen. Vielmehr erscheint es mir wichtig, innerhalb der Analyse nicht eine bloße Wiederholung bekannter Motive zu reproduzieren. Er soll eine Mçglichkeit zur Neukonfiguration von Vater- und Selbstreprsentanz erhalten, indem er eine vernderte interpersonale Begegnung machen kann. Ich entschließe mich daher, seine im Modus der psychischen quivalenz vorhandene Wut (er ist so wtend wie der Vater war bzw. der Vater war so wtend wie er, und beider Wut scheint zerstçrerisch) mit einer »Markierung« zu versehen, welche sich konstruktiv an ihn selbst wendet. Er gibt mir dazu Gelegenheit, als er teils beschmt, teils triumphierend erinnert, wie er eines Abends bei der Pflegefamilie seinen Kot nicht mehr halten konnte und den Teppich »beschmutzte«. Ich entschließe mich, sowohl seinen Wutaffekt als auch sein eigenes Handlungsmotiv hervorzuheben, indem ich mit einem hçrbaren Ton von Zustimmung besttige: »Ja, da hatten Sie fr sich endlich einen Weg gefunden, Ihre gesamte Angst und Scheißwut zurckzugeben!« So simpel diese Deutung klingen mag, sie verndert den Kontakt von Herrn C. zu mir erheblich. Indem ich seine im Einkoten und Einnssen enthaltenen Affekte von Angst und Wut »lese« und mit einer Anerkenntnis seiner eigenstndigen Handlungsfhigkeit »markiere«, erlaubt er sich erstmals einen offenen analen Stolz anstelle seiner Furcht, von mir »zusammengeschissen« zu werden. Die Erfahrung, affektiv sinnvolle Motive in seinen Handlungen zu finden, ermçglicht nun eine allmhliche ffnung seiner Einhllung auf der Couch. Nach 250 Stunden Analyse teilt er mir seine autoerotischen Rituale mit, welche er whrend seiner frhen Adoleszenz zur Belebung seiner selbst ausgebt hatte: er trug die Reizwsche seiner Mutter und konnte sich so selbst zum Liebesobjekt nehmen. Andererseits hatte er sich eine weibliche »Skulptur« aus Decken und Rçhren gebastelt, mit der er sich sexuell befriedigen konnte. Die transvestitische Identifikation mit der Mutter drckt dabei sowohl seinen Wunsch nach mtterlicher Berhrung als auch seine sexualisierte Sehnsucht nach einem zugewandten Vater aus. Die Tatsache, dass er in bizarr kreativer Weise ein weibliches ber-

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gangsobjekt basteln konnte, zeigt mir andererseits, dass er nicht in einer ausschließlich homosexuellen Unterwerfung unter den Vater verharrt hat. Vielmehr hat er auch einen Versuch zu heterosexueller Objektwahl unternommen, selbst wenn dieser Versuch Elemente einer analen Kontrolle ber ein unbelebtes Objekt behalten hat. Ich verstehe diese masturbatorischen Inszenierungen als Balancieren zwischen autonomer Selbstversorgung und einer unbewussten Suche nach Kontakt. So bezeichne ich die von ihm selbst als pervers befrchteten Praktiken als seine Erfindung gegen Einsamkeit. Er hat eine belebende Beziehung zu beiden Eltern gesucht. Auch wenn er sich in Reizwsche seinem Vater wie eine Frau angeboten hat, so hat er sich mit dem Erschaffen der Stoffskulptur doch dem vterlichen Verbot widersetzt und versucht, sich der Mutter und ihrer Zrtlichkeit zu nhern. Meine Absicht besteht darin, seine frhen Anklammerungswnsche mit seinen triangulren, çdipalen Phantasien zu verknpfen. Umgekehrt ergibt sich so eine Mçglichkeit, seine steckengebliebene Entwicklung innerhalb seiner Ehe zu lokalisieren, denn ich gebe zu bedenken, ob er nicht angesichts seiner frheren Erfindung seine Frau heute zeitweise auch so betrachte, als sei sie eine von ihm erschaffene und beherrschbare Stoffskulptur. Herr C. reagiert mit langem, nachdenklich wirkendem Schweigen. Er scheint die von mir erfahrene Krnkung jedoch annehmen zu kçnnen, weil ich die aktuelle Kontaktstçrung zu seiner Frau zuvor mit einem Verstndnis fr seine frhe Kontaktsuche verbunden habe. In gewisser Weise hat seine Frau eine »Als-ob-Qualitt« fr ihn behalten, so dass er sie in ihrer eigenen Emotionalitt noch nicht vollstndig wahrnehmen kann. Fr die weitere Entwicklung von Herrn C. ist es wichtig, dass er in der Analyse meine Deutungen auch als »mind-minded-comments« aufnehmen kann, denn erst auf der Basis einer wachsenden Kenntnis seiner inneren Verfassung kann er einen emotional direkteren Kontakt zu mir zulassen. Dabei tritt er mehr und mehr in eine offenere çdipale Rivalitt mit mir ein. Er wagt einen freieren Fluss seiner Emotionen und Affekte, indem er in den Stunden zunehmend dranghaft und rivalisierend spricht. Er hllt sich nun nicht mehr schweigsam ein, sondern er lsst mir durch forciertes Sprechen kaum einen eigenen Raum. Außerhalb der Stunden beginnt er Streitereien mit Mnnern, welche sogar handfest werden kçnnen. Gleichzeitig hat er als Ausdruck seiner Kastrationsangst zu verstehende Trume von

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ausfallenden Zhnen. Dazu passt seine Furcht, unfruchtbar zu sein, da seine Frau nicht schwanger wird. Nachdem ich auf den vielfachen Wechsel von Gefhlen der berlegenheit oder Unterlegenheit hingewiesen habe, verweist Herr C. auf die »rotierende Hubschrauberhand« des Vaters: wenn er nicht aufgepasst habe, htten ihn dessen Schlge getroffen. Er sei dann lieber geduckt gegangen. Natrlich sei er auch wtend gewesen. Jetzt msse er diese Wut endlich nicht mehr zurckhalten. Gleichzeitig habe er immer eine Sehnsucht nach den »drei Z« mit seinem Vater versprt: Zeit, Zrtlichkeit und Zuwendung. Manchmal meine er, diese drei Z hier zu finden. Dann aber erlebe er mich als genauso schneidend scharf wie seinen Vater. Er selbst sei auch scharf im Ton. Er bringe es nicht ber die Lippen, seiner Frau zu sagen, dass er sie liebe. Wie sein Vater! In dieser (346.) Stunde entschließe ich mich zu einer leicht bertreibenden Spiegelung: »Mmhh, wenn Sie sich meines Wohlwollens sicherer sein kçnnten, wren Sie auch freier Ihrer Frau gegenber.« Meine affektive Akzentuierung seines Negativbildes scheint auf ihn wie eine Markierung seiner eigenen projektiven Verzerrung zu wirken, denn er beginnt zu berlegen, ob er mir voreingenommen zugehçrt haben kçnnte. In der Folgezeit weitet er diese Mçglichkeit auf das Verhltnis zu seinem Vater aus: In einem von ihm selbst als Wunsch bezeichneten Traum umarmt er als Erwachsener seinen Vater. Ab der 385. Stunde. setzt er sich mehr mit dessen persçnlicher Geschichte auseinander und ußert die Idee, dass das seelische Gift des Vaters aus einer im 2. Weltkrieg verlorenen Jugend stammen kçnnte. Er beginnt, die Rigiditt des Vaters als mçgliche Abwehr von erlebtem Schrecken sowie als inneres Bollwerk gegen eigene Todesangst neu zu begreifen. Die Entdeckung der verborgenen vterlichen Fragilitt wirkt zum einen befreiend auf ihn, zum anderen sorgt er sich, ob er nicht aufgrund hnlicher Brchigkeit schroff auf seine Frau reagiere. Umso bedeutsamer wird daher die weitere, offenere Auseinandersetzung mit mir. Knapp vor der 400. Stunde teilt er mir stolz und mit einem gewissen Triumph mit, dass er sich in einem Spermiogramm als zeugungsfhig erwiesen habe. Danach erlaubt er sich eine Mischung aus aggressiver und homoerotischer Provokation: z. B. mache es ihm Spaß, wenn er mich durch frhes Klingeln »vom Klo holen« kçnne. In einen Traum trifft er mich zusammen mit seiner Frau auf der Straße. Seine Frau mustert mich und sagt: »Kein Wunder, dass du mit dem nicht vorankommst.« In

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verdichteter Form enthlt dieser Traum seine eigene, durch das frhe Geheimbndnis mit der Mutter genhrte Verachtung fr mich als vterliches Objekt. Ich verstehe den Traum aber auch als Wunsch, dass ich seine Entwertung ohne Vergeltung aushalten mçge. In der 465. Stunde teilt er mir in verhaltener Freude mit, dass seine Frau schwanger ist. Ganz im Gegensatz zu den frheren Attacken fhrt er den Eintritt der Schwangerschaft nun auch auf die positiven Auswirkungen der Psychoanalyse zurck. Die Analyse habe ihm erlaubt, sich von seiner Schroffheit zu entfernen und zugnglicher fr das Empfinden seiner Frau zu werden. Sie vertraue ihm nun mehr, und das habe ihr sicherlich geholfen, schwanger werden zu kçnnen. Es bleibt Herrn C. und seiner Frau allerdings nicht erspart, doch den gefrchteten Verlust des schon mit vielen hoffnungsvollen Vorstellungen verbundenen Kindes zu erleben. In der elften Schwangerschaftswoche erleidet seine Frau eine Fehlgeburt. Herr C. kann seine Trauer ber diesen Verlust in der Analyse zum Ausdruck bringen, wobei ihm beim Sprechen ber den von ihm so erlebten Tod des Kindes, Erinnerungen an den Tod des Vaters einfallen. In stiller, zugleich eindringlicher Weise beginnt er zu weinen. Die Erfahrung der eigenen Trauer ermçglicht ihm, die Traurigkeit seiner Frau anzunehmen und zu begleiten, ohne erneut in Schroffheit zurckkehren zu mssen. Im Gegenteil kann er nun in reiferer Weise nicht nur sich, sondern auch seine Frau trçsten mit dem Gedanken, dass die vergangene Zeit der Schwangerschaft nicht verloren sei. Sie sei eine Vorbereitung fr eine neue Schwangerschaft, an deren Eintreten er jetzt glaube. Diese Fhigkeit zum Aushalten und Halten von Trauer und Verlust ist neu fr ihn, zumal in der Verbindung mit einem hoffnungsvoll konstruktiven Affekt. Wie ich spter erfahre, bekommen er und seine Frau nach dem Abschluss der Analyse doch noch zwei Kinder. Neben inneren Entwicklungen in seiner Frau scheint das Wachstum eines mentalisierend verstehenden Vaterbilds in ihm zu einer liebevolleren Haltung gegenber der eigenen Frau gefhrt zu haben. Erst jetzt scheint er eine psychisch reife, genitale Entwicklungsstufe erreicht zu haben, welche ihm eine gemeinsame elterliche Kreativitt mit ihr ermçglicht. Dazu passt seine ußerung aus der letzten Stunde seiner Analyse. Herr C. kommt noch einmal auf seinen Vater zu sprechen. Er ußert das Gefhl, jetzt gleichwertig neben ihm stehen zu kçnnen. Er hat mehr von seinem Vater und mehr von sich

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selbst verstanden, und die Verinnerlichung der um sein Vaterbild kreisenden, mentalisierenden bertragungsprozesse tragen zum nachtrglichen Symbol einer objektfreundlicheren vterlich – mnnlichen Prsenz bei, welche er zunehmend in die Beziehung zu seiner Frau einfließen lassen kann.

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Die Bedeutung des Bildes vom Vater

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Kinder mit Aufmerksamkeitshyperaktivittsstçrung

Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel

»Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …« Frhprvention als Strkung der Resilienz gefhrdeter Kinder? Ergebnisse aus der Frankfurter Prventionsstudie1

Kinder ohne Kindheit: Einfhrende Bemerkungen zu Anliegen und Intentionen der Frankfurter Prventionsstudie Eine Erzieherin erzhlt wtend in einer Supervisionsstunde (Supervisorin: M. L.-B.), dass Max ihr heute ins Gesicht gespuckt habe. »Dies geht zu weit. Ich will ihn nicht mehr in meiner Gruppe haben. Er kann mir nicht auf der Nase herumtanzen – dabei habe ich mir solche Mhe mit ihm gegeben … Hier muss eine Grenze gesetzt werden.« »Sie haben sicher recht, wir wollen ein solches Verhalten nicht tolerieren, aber vielleicht kçnnten wir zuerst versuchen zu ver1

Die reprsentative, kontrollierte und prospektive Frankfurter Prventionsstudie wurde von 2003–2006 durchgefhrt und von der Zinnkan Stiftung (Hauptanteil der Finanzierung), der Hertie Stiftung, der Polytechnischen Gesellschaft und dem Research Advisory Board der (RAB) der International Psychoanalytical Association gefçrdert. Sie wurde von einer großen Gruppe von Forschern und Therapeuten getragen. Leitung: Marianne Leuzinger-Bohleber, Gerald Hther und Angelika Wolff. Verantwortliche fr die Datenerhebung und das Design: Bernhard Rger, Stefan Hau, Tamara Fischmann und Yvonne Brandl. Psychologische und pdagogische Mitarbeiter/innen: Lars Aulbach, Betty Caruso, Katrin-Marleen Einert, Oliver Glindemann, Gerlinde Gçppel, Paula Hermann, Pawel Hesse, Jantje Heumann, Gamze Karaca, Julia Kçnig, Jochen Lendle, Judith Lebiger-Vogel, Alex Schwenk, Adelheid Staufenberg, Sibylle Steuber, Christiane Uhl, Christina Waldung, Lisa Wolff. Zudem engagierten sich Kinder- und Jugendlichentherapeut/innen des Instituts fr Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (IAKJP) als Therapeut/innen und/oder Supervisor/innen in der Studie. Wir danken ihnen allen fr ihr Engagement und ihre Mitarbeit.

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stehen, warum er gerade Sie heute angespuckt hat, und nachher gemeinsam berlegen, was zu tun ist«, schlgt die Supervisorin vor. Eine andere Erzieherin berichtet, dass ihr die Kçchin erzhlte, Max habe ihr am gleichen Morgen gesagt: »Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …«. Wir nehmen diese Mitteilung in der Supervision sehr ernst. Die Leiterin der Kindertagessttte ruft den Vater an und erfhrt, dass dieser soeben wegen einer plçtzlichen Erkrankung arbeitslos geworden ist. Dies bedeutet eine familire Katastrophe, weil der Vater bisher die Familie zusammengehalten hat. Er arbeitete nachts, um tagsber bei den Kindern sein zu kçnnen. Die Mutter ist psychisch schwer krank, verlsst immer wieder die Familie, war mehrere Male psychiatrisch hospitalisiert (auch nach der Geburt von Max). Zwei ltere Geschwister wurden kurz nach ihrer Einschulung in ein Heim eingewiesen. Beide zeigen schwere Verhaltensprobleme und ADHS. In der Supervision verstehen wir schließlich, dass das Spucken einen unbewussten Hilferuf von Max darstellen kçnnte, den er an jene Person richtet, zu der er am meisten Vertrauen hat. Er leidet vermutlich unter der Angst, dass nun zu Hause »alles zusammenbricht« und auch er in ein Heim eingewiesen wird. Wir denken an den bekannten Mechanismus bei Bewltigungsversuchen von Traumatisierungen, passiv Befrchtetes in aktives Handeln umzusetzen: Wenn Max spuckt und unertrgliches Verhalten zeigt, trgt er – so vermutlich seine unbewusste Intention – wenigstens aktiv dazu bei, wenn er aus der Familie genommen wird. Er ist nicht nur passives Opfer. Glcklicherweise kann der Vater psychotherapeutische Hilfe fr seinen Sohn annehmen. Max ist nun schon fast zwei Jahre in Therapie und wurde im letzten Herbst eingeschult. Die Therapeutin arbeitet intensiv mit beiden Eltern. Die Mutter ist in psychiatrischer Behandlung, nimmt aber oft ihre Medikamente nicht. Der Vater ist fast zwanzig Jahre lter als seine Frau. Er hngt sehr an ihr, auch weil er seine erste Frau frh durch eine schwere Krankheit verlor und selbst ohne Vater aufgewachsen ist. Er kmpft um Max: »Ich will nicht auch noch mein letztes Kind verlieren …« Max ist ein intelligenter Junge. Zu Beginn der Therapie stellt sich heraus, dass er eine unbewusste Phantasie entwickelte: »Wenn ich ein Mdchen wre, wre alles gut, meine Mutter wre nicht krank, mein Vater htte seine Arbeit nicht verloren, meine Geschwister wren zu Hause …« Er zeigt in diesem frhen Alter schon Vorlufer eines

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transvestitischen Verhaltens, lehnt Jungenspiele ab und will sich zuweilen als Mdchen verkleiden. Eine andere magisch-omnipotente Phantasie ist, dass er die Ehe der Eltern retten kann: Er schlft zwischen beiden Eltern und hlt ihre Hnde. Nachdem die Bedeutung dieser Phantasien in der Therapie verstanden werden kçnnen, lçsen sich diese Symptome auf. Max schlft nun in seinem eigenen Bett und verhlt sich in der Kindertagessttte wieder wie ein Junge. Auch sein aggressives Verhalten bessert sich auffallend rasch: Er wird in der Peergroup zunehmend akzeptiert und gewinnt Freunde. Eine schwere Krise ereignet sich kurz nach der Einschulung. Die Mutter reagiert auf dieses Ereignis mit einem schweren Zusammenbruch und muss wieder hospitalisiert werden. In der Klinik entwickelt sie die Idee, Max sollte Ritalin bekommen. Glcklicherweise pldiert der hinzugezogene Kinderpsychiater fr eine Fortsetzung der Kindertherapie und verhindert dadurch einen Therapieabbruch. Er verschreibt Max Ritalin, auch um die Mutter in ihrem vulnerablen Zustand nicht zu krnken. Max zeigt viele Nebenwirkungen (Schlaf- und Appetitprobleme, stark verndertes Verhalten), sodass die Eltern selbst nach einigen Monaten beschließen, auf das Medikament zu verzichten. Die Therapie ist noch nicht abgeschlossen, doch scheint sie Max zu ermçglichen, dass er in seiner Schulklasse bleiben kann und sich soweit normal entwickelt. Sogar fr den Fall, dass in Max Familie eine genetische Disposition fr ADHS vorliegen sollte (beide Geschwister erhielten diese Diagnose): Der Therapieverlauf zeigt, dass durch psychotherapeutische Interventionen die Manifestation einer ADHSSymptomatik positiv beeinflusst werden kann. Max gehçrt ohne Zweifel zu den »Kindern ohne Kindheit«. Die Sorgen und Nçte seiner erwachsenen Bezugspersonen legen sich wie dunkle Schatten auf seine Kinderseele, die – wie er es selbst ausdrckt – oft keinen Ausweg mehr sieht und »nicht mehr leben mçchte«. Ihr fehlt vieles von dem, was sie zur Entfaltung bruchte: Sicherheit, liebevolle Zuwendung, Vertrauen in den Anderen und sich selbst sowie innere und ußere Spielrume – eben »Kindheit« – als Voraussetzung fr Kreativitt und Selbstfindung (vgl. dazu u. a. Winnicott, 1971; Bohleber, 1996; Garlichs u. Leuzinger-Bohleber, 1999; Leuzinger-Bohleber, 2000 und in Vorbreitung).

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Dieses kurze Fallbeispiel mag die Hoffnungen illustrieren, die wir mit der Frankfurter Prventionsstudie verbanden. Wir wollten versuchen, Kinder – wie Max –, die am Rande unserer Gesellschaft leben und deren Eltern sich oft resignativ dort eingerichtet haben und kaum noch Phantasien fr eine bessere Zukunft ihrer Kinder hegen, mit unserem Angebot zu erreichen, um ihnen einen Funken Hoffnung und Vertrauen in die Welt der Erwachsenen und ihre eigene Zukunft zu vermitteln. In psychotherapeutischen Fachkreisen wird bekanntlich oft diskutiert, dass gerade jene Kinder, die am dringendsten professionelle Hilfe bençtigen, kaum je den Weg in eine kinder- oder familientherapeutische Praxis finden. Daher war es unser Anliegen, solche Angebote – in Kombination mit pdagogischen, sozialarbeiterischen und z. T. auch finanziellen Hilfestellungen – in den Kindertagessttten selbst anzubieten. Allerdings war es zu Beginn der Studie vçllig offen, ob es uns – mit Hilfe der Erzieherinnen – gelingen wrde, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen und sie zu einer Mitarbeit zu motivieren. Wir denken dabei an jene 3 % der Kinder, die, wie dies jngste Studien aus dem Bereich der Bindungsforschung zeigen, eine schlechte Prognose haben. Sind Kinder schon im Kindergarten hufig und in auffallender Weise gewaltttig und weisen, nach Fonagy (2007) ein »violent attachment pattern« auf, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie auch als Jugendliche und Erwachsene gewaltttig sein werden und sich selbst, ihre Familien, aber auch unsere Gesellschaft ganz allgemein, durch ihr selbst- und fremddestruktives Verhalten gefhrden. Um dies gleich vorwegzunehmen: Bei 17 solcher extrem gefhrdeten Kinder ist es uns gelungen, Psychotherapien einzuleiten. Bei mindestens ebenso vielen therapiebedrftigen Kindern waren jedoch die Eltern nicht bereit, entsprechende Hilfe anzunehmen. Hingegen erreichten wir ihre Kinder, wenn auch weniger intensiv als in den Einzeltherapien, mit den weiteren »Bausteinen« unseres Prventionsangebots, die wir im Folgenden kurz beschreiben.

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Vierzehntgliche, fallzentrierte Supervisionen der Erzieherinnen und Erzieher Um ein weiteres Ergebnis der Studie vorwegzunehmen: Die meisten Erzieherinnen und Erzieher verfgten ber keinerlei Supervisionserfahrungen und reagierten zu Beginn der Studie mit großer Skepsis auf das Angebot. Mit einer Ausnahme wollten aber alle Teams nach dem zweijhrigen Projekt die Supervision fortsetzen. Sie hatten das gemeinsame, professionelle Nachdenken ber einzelne Kinder als hilfreich kennen und schtzen gelernt. Der verstehende Zugang zu den meist unbewussten Ausdrucksweisen von Kindergartenkindern erçffnete – wie bei Max – oft neue Horizonte fr die Einfhlung in das Kind und damit oft auch in das tgliche Handeln. Mit Hilfe der Supervision konnten z. B. Ohnmacht- und berforderungsgefhle wahrgenommen, thematisiert und dadurch zum Teil besser ertragen werden, etwa angesichts von familiren Situationen wie der skizzierten von Max: Die Erzieherinnen konnten weder an der psychischen Erkrankung der Mutter, der Arbeitslosigkeit des Vaters oder am Elend der Ehe etwas ndern. Daher zweifelte das Team verstndlicherweise lange, ob eine Einzeltherapie Max helfen kçnne. Eine Therapie, die bei der inneren Situation des Kindes ansetzt, ohne aber Wesentliches an der ußeren Realitt zu verndern. Max berzeugte seine Erzieherinnen durch sein weniger aggressives Verhalten vom »Sinn« seiner Therapie. Zudem war fr das Team eine entscheidende Erfahrung, dass es sich fr die gesamte Kindergruppe lohnt, sich einzelnen »Problemkindern« zuzuwenden, statt sie aus der Gruppe auszuschließen: Die Atmosphre in der Gruppe entspannte sich durch das vernderte Verhalten von Max sprbar, schon allein dadurch, dass die beiden Erzieherinnen nicht mehr, wie vor Beginn der Therapie, Max stndig im Auge haben mussten, weil er sonst andere Kinder verletzte oder in aggressiv-destruktive Konflikte verwickelte. Doch auch im Umgang mit jenen Familien, die nicht bereit waren, therapeutische Hilfe fr sich und ihre Kinder anzunehmen, erwies sich die Supervision als hilfreich. Oft diente sie als Ort, in dem die Erzieherinnen eigene Enttuschungen und Wut ber die mangelnde Einsicht der Eltern besprechen und damit teilweise verarbeiten konnten. Zudem wurde in diesen Fllen gemeinsam berlegt, welche alternativen Angebote (bis hin zu Freizeitangeboten in Sportvereinen,

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Elterntreffpunkte, Einzelgesprche mit Erzieherinnen etc.) dem Kind und seiner Familie zur Verfgung gestellt werden kçnnten. Angebote, die fr die Eltern eher akzeptierbar waren als Einzel- oder Familientherapien. Diese wenigen Aspekte der Supervision mçgen illustrieren, dass – sobald das Vertrauen in die Supervisorinnen und Supervisoren gewonnen war – dieser Rahmen genutzt werden konnte, um die integrativen Krfte im Team zu strken, ihre Professionalitt zu erhçhen und um mittel- und langfristig zu verhindern, dass berforderung und Lustlosigkeit berhandnehmen – bekanntlich gerade in diesem Beruf keine Seltenheit.

Wçchentliches Angebot von Psychologinnen und Pdagoginnen in den Kindertagessttten Eine analoge Wirkung erzielte das wçchentliche Angebot junger Projektmitarbeiterinnen in den Kindertagessttten. Sie standen den Erzieherinnen in unterschiedlichster Weise zur Verfgung: fr spezifische, pdagogische Angebote an die Kinder, fr systematische Beobachtungen einzelner Kinder »von außen«, Elterngesprche und -beratungen sowie intensive Arbeit mit einzelnen Kindern oder Gruppen von Kindern etc. Dazu ein Beispiel: Judith Lebiger-Vogel arbeitete als Psychologin in einer Kindertagessttte in einem privilegierten Wohngebiet mit hohem Akademikeranteil. Die Erzieherinnen wnschten eine wçchentliche Beobachtung von Nicole, um die innere und ußere Situation dieser Fnfjhrigen vertieft zu verstehen – u. E. eine Voraussetzung fr differenziertes pdagogisches Verhalten. Die fnfjhrige Nicole hat einen jngeren Bruder, der schon als Baby wegen verschiedener Krankheiten mehrfach operiert werden und lange Krankenhausaufenthalte ber sich ergehen lassen musste. Die ganze Familie wurde davon beeintrchtigt und der Familienalltag ist wesentlich dadurch bestimmt. Die Mutter stammt aus einer bildungsfernen Schicht, der Vater ist Akademiker, was zustzlich zu familiren Spannungen beitrgt. Seit der jngere Bruder ebenfalls den Kindergarten besucht, passt Nicole einerseits auf diesen auf und kmmert sich um ihn, ist ande-

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rerseits jedoch teils grob und unwirsch zu ihm. Der Bruder scheint dennoch davon auszugehen, dass die ltere fr ihn zustndig ist, so gibt er ihr beispielsweise bei einem Spaziergang im Park seine Jacke zum Tragen, statt die Erzieherinnen darum zu bitten. Auch kommt er, obwohl die beiden Geschwister im Kindergarten in getrennten Gruppen sind, sehr hufig in Nicoles Gruppe und luft ihr dort hinterher. Es fllt außerdem auf, dass sich Nicole viel um andere, kleinere Kinder kmmert, mit Gleichaltrigen jedoch kaum in Kontakt tritt. Sie hat grçßte Probleme, mit diesen in Kontakt zu kommen, ist oft isoliert und spielt kaum mit anderen Kindern. Hufig nimmt sie die Position einer Zuschauerin ein. Das Spiel der anderen interessiert sie, aber sie ergreift nicht die Initiative. Mit den Erzieherinnen kommuniziert sie ebenfalls wenig. Sie ist ußerst folgsam, aber wendet sich kaum mit eigenen Anliegen an diese. Beschrieben werden kçnnte sie als »auffllig unauffllig«, wie eine Erzieherin einmal bemerkt. Wenn die Erzieherinnen sie ansprechen, reagiert sie hufig mit einem Grinsen oder mit stummem Wegschauen. Zunehmend spielt sie Spiele, in denen man etwas »ordnen« muss, was sie mit großer Ausdauer und Sorgfalt betreibt. Die Mutter sucht hufig Gesprche mit den Erzieherinnen, in denen eine große Unsicherheit im Umgang mit ihren beiden Kindern deutlich wird. Sie wirkt oftmals berfordert, die Abholsituation gert hufig zu einem heillosen Durcheinander. Gemeinsam mit den Erzieherinnen werden diese Beobachtungen reflektiert. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass das Aufwachsen mit einem behinderten oder kranken Kind die normalen aggressiven Impulse gegen ein Geschwister bermßig stimuliert und hufig zu schweren Schuldgefhlen und Reaktionsbildungen fhrt. Bei Nicole scheint die Gefahr zu bestehen, dass ihre Persçnlichkeitsentwicklung stark durch diese familire Konstellation eingeschrnkt ist. Diese Gefahr soll im Elterngesprch thematisiert werden. Darauf angesprochen, dass es fr ltere Geschwister, wie Nicole, ein Problem darstellen kann, wenn das jngere Geschwister so hufig krank ist, und dass die Erzieherinnen in Sorge um Nicoles soziale Integration und ihre emotionale Verfassung sind, reagieren die Eltern jedoch mit starker Abwehr. Dass Nicole mçglicherweise mehr Zuwendung und Hilfe (beispielsweise therapeutische) bençtigen kçnnte, kommt fr sie nicht in Frage. Probleme gebe es nicht. Auch eine sptere Einschulung, damit die kognitiv sehr aufgeweckte, aber sozial

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so wenig integrierte Nicole noch etwas mehr Zeit fr diesen Entwicklungsbereich haben kçnnte, steht fr die Eltern nicht zur Diskussion. Alles sei in Ordnung, das Kind funktioniere doch und man wolle keine Zeit verlieren. In weiteren Gesprchen mit den Erzieherinnen wurde ihre Enttuschung ber die Reaktion der Eltern thematisiert, eine hufige Erfahrung der Erzieherinnen speziell in dieser Einrichtung, da die soziale Kontrolle unter der Elternschaft hier ausgesprochen hoch war und dazu fhrte, dass es fr die Eltern sehr wichtig war, vor den Miteltern zeigen zu kçnnen, »dass bei ihrem Kind alles in Ordnung ist«. Oft wurden aus diesem Grund Empfehlungen der Erzieherinnen zurckgewiesen. Viele Eltern lehnten, wie jene von Nicole, zuerst einmal ein professionelles, besonders ein therapeutisches Angebot ab, suchten aber zuweilen – unerkannt von den anderen Eltern in den Einrichtungen – eine entsprechende Beratungsstelle auf.

Elternarbeit Eine weitere Untersttzung fr die Erzieherinnen war die Elternarbeit, vor allem durch die Projektmitarbeiter/innen (Elternabende zu Themen wie »Grenzen setzen«, Umgang mit Konfliktsituationen, Medien etc., Bedeutung des Spiels fr die kindliche Entwicklung, frhe Fçrderung oder frher Drill? etc.). Das Angebot wurde den spezifischen Wnschen der Elternschaft angepasst und unterschied sich je nach Einzugsgebiet der Kindertagessttten sehr. So wnschten sich z. B. die Eltern der eben erwhnten Kindertageseinrichtungen Elternabende zum Thema »Frher Spracherwerb«, »Entwicklung der kindlichen Sexualitt«, aber schließlich auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Sendung »Die Super Nanny«. In manchen Einrichtungen erwiesen sich allerdings Elternabende als nicht sinnvoll, da die vorwiegend auslndischen Eltern hufig kaum deutsch sprachen und daher fast nie Elternabende besuchten. In diesen Einrichtungen erwies sich eine individuelle Elternarbeit als funktionaler. Oft gelang es den Projektmitarbeiterinnen durch informelle Kontakte das Vertrauen der Eltern zu gewinnen, sodass diese schließlich gezielt um Rat oder Informationen fragten.

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»Faustlos« Gewaltprvention Im zweiten Jahr des Projekts wurden die Erzieherinnen im Gewaltprventionsprojekt »Faustlos« (Cierpka, 2007) geschult. Die systematische Sensibilisierung der Wahrnehmung von Gefhlen, sozialen Situationen und das Einben von nichtgewaltttigen Konfliktlçsungen durch Rollenspiele etc. wurde allen Kindern in den Einrichtungen angeboten und ohne Ausnahme sowohl von den Kindern und den Teams als auch den Eltern gut angenommen.

In Einzelfllen: Psychotherapeutisches Angebot in den Einrichtungen selbst Wie eben schon erwhnt, boten wir Kindern in großer seelischer Not Einzel- oder Familientherapien in den Einrichtungen selbst an und erzielten bei jenen Kindern und Familien, die dieses Angebot annehmen konnten, wie bei Max, erstaunlich positive Ergebnisse. Oft war es mçglich, falsch gestellte Weichen in der seelischen und psychosozialen Entwicklung umzustellen und den Kindern trotz ungnstiger Ausgangsbedingungen soweit wie mçglich normale Entwicklungsperspektiven zu erçffnen. Trotz der beraus erfreulichen Ergebnisse der Studie sei angemerkt, dass wir als Psychoanalytiker selbstverstndlich nicht davon ausgehen, dass wir mit einem Frhprventionsangebot (oder Kinderpsychotherapien) die oft traumatischen Frherfahrungen dieser Kinder »lçschen« oder unwirksam machen kçnnten. Dennoch zeigen unsere klinischen Erfahrungen, dass es oft relativ isolierte Erlebnisse mit empathischen, akzeptierenden »guten Objekten« sind, die Kinder in chronischen pathogenen Beziehungsstrukturen daran hindern, psychisch aufzugeben und zu resignieren. Oft erzhlen uns erwachsene Patientinnen und Patienten, wie sie sich als Kinder jahrelang innerlich an Erfahrungen mit »einfhlsamen Ersatzpersonen« klammerten: sie implementierten so etwas wie ein »Prinzip Hoffnung« in der kindlichen Seele – trotz aller Unertrglichkeiten ihres Alltags. Bei Max ist es uns wahrscheinlich gelungen, ihm trotz seiner extrem belastenden familiren Situation ein Stck Hoffnung, und damit ein Stck Kindheit zurckzugeben. Glcklicherweise arbeite-

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ten – trotz aller Krisen – Eltern, Erzieherinnen, Familienhelferin und Therapeutin sowie spter auch die Lehrerin mit unserem kinderpsychiatrischen Kollegen und unserem Forscherteam produktiv zusammen. Falls sich die Einschtzung der positiven Entwicklung von Max langfristig besttigen sollte, hat sich unserer Ansicht nach schon dafr die ganze Studie gelohnt.

Privilegierte Kindheiten versus Kinder ohne Kindheit: ein gesellschaftliches Problem Allerdings mçchten wir mit solchen Aussagen die Bedeutung unserer Studie nicht berschtzen. Zu genau wissen wir, dass wissenschaftliche Untersuchungen kaum jemals Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen, vor allem wenn diese so komplexe Phnomene betreffen wie das Aufwachsen von Kindern in heutigen Großstdten. Die Zahlen sind bekannt und beunruhigend: Die Schere zwischen Armen und Reichen klafft hier in Deutschland immer weiter auseinander und trennt Kinder der gleichen Stadt, denen die Zukunft »zu Fßen liegt«, von solchen, deren Schicksal schon bei der Einschulung besiegelt scheint. Karl Lauterbach schreibt in seinem 2007 erschienenen Buch: »In keinem Land in ganz Europa hngen die Bildungsergebnisse […] so sehr vom Einkommen der Eltern ab wie in Deutschland. […] Der Hauptunterschied zu den Vereinigten Staaten besteht darin, dass wir dies bestreiten, weil wir es eigentlich falsch finden, whrend die Amerikaner solche Unterschiede in großen Teilen fr richtig halten. Wir whnen uns in einer Gesellschaft, die die Ideale der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit verwirklicht hat, und der Staat hilft, diese Fiktion zu erhalten. Es ist eine Schande: Statt fr einen gerechten Ausgleich zu sorgen, vergrçßert der deutsche Staat die Kluft zwischen Arm und Reich. Intelligente Kinder aus armen und bildungsfernen Familien haben – bei gleicher Leistung – eine vielfach geringere Chance, aufs Gymnasium zu kommen und zu studieren. […] Deutschland ist nicht nur ungerechter, als wir wahrhaben wollen, sondern auch schutzlos den Herausforderungen des demographischen Wandels und der Globalisierung ausgesetzt. Es ist ein kinderarmes Land, das bei der Integration versagt, seine Talente zum großen Teil verschwendet und seine Sozialsysteme bald nicht mehr bezahlen kann« (S. 5).

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Daher fokussieren Integrationsbemhungen in Frhprventionsprogrammen nicht nur deutsche Kinder aus Randgruppen, sondern auch die große Gruppe von Migranten bzw. Menschen mit Migrationshintergrund. Ihre Integration in unsere Gemeinschaft wird, nicht nur wenn wir an das Rentenproblem denken, wesentlich ber unserer aller Zukunft mitentscheiden. Im Gegensatz zu vielen anderen europischen Lndern und den USA scheinen viele hier in Deutschland nach wie vor zu verleugnen, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist und die Integration der auslndischen Kinder zu einer der vordringlichsten gesellschaftlichen Aufgaben geworden ist. Dazu nur einige Zahlen aus »Migration und Bevçlkerung« (Rger, unverçff. Manuskript), beruhend auf Daten des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden: »In Deutschland leben 15.3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund (18.6 % der Bevçlkerung), darunter 7.3 Millionen Auslnder und 8.0 Millionen Deutsche. Unter den 15.3 Millionen gibt es 10.4 Millionen Personen mit eigener Migrationserfahrung (5.6 Mill. Auslnder und 4.8 Mill. Deutsche). In vielen Großstdten liegt der Anteil der Bevçlkerung mit Migrationshintergrund bei 30 % bis 40 %. Darber hinaus ist die Bevçlkerung mit Migrationshintergrund deutlich jnger als die Gesamtbevçlkerung. In der fr uns besonders wichtigen Altersgruppe der unter Fnfjhrigen gehçrt ein Anteil von 33.3 % zu Kindern mit Migrationshintergrund, in vielen Großstdten liegt dieser Anteil sogar deutlich ber 50 %, in sechs Großstdten sogar ber 60 % (z. B in Nrnberg: 67 %, Frankfurt/Main: 65 %, Dsseldorf: 64 %). Wichtige Ursache dafr ist (neben dem Ehegatten- und Familiennachzug) die in den letzten Jahrzehnten anhaltend und deutlich niedrigere Geburtenrate der Deutschen ohne Migrationshintergrund im Vergleich zur Population mit Migrationshintergrund.«

Es ist bekannt, dass sogenannte »Migrantenkinder« in unseren Bildungsinstitutionen besonders benachteiligt sind. Mittlerweile erhlt nur noch jeder Vierte von ihnen einen Ausbildungsplatz – mit abnehmender Tendenz. »Sie kommen aus Familien, in denen sich die Nachteile bndeln: Die Eltern sind an Bildung und auch an der Bildung ihrer eigenen Kinder nicht interessiert, sie sind arm, haben große soziale Probleme und zustzlich Sprachschwierigkeiten« (Lauterbach, 2007, S. 34).

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Daher haben wir in der Frankfurter Prventionsstudie versucht, Kinder aus Migranten- und anderen sozial benachteiligten Familien in den ersten Bildungsinstitutionen zu erreichen, die von den meisten hier in Deutschland in Anspruch genommen werden: in den Kindertagessttten. Erst durch die systematischen Beobachtungen der tagtglichen Arbeit in den Kindertagessttten wurde fr uns plastisch erlebbar, was »multikulturelles Zusammenleben« wirklich bedeutet. So waren in einer Einrichtung mit 108 Kindern 24 Nationen vertreten – nur vier Kinder waren Deutsche und in Deutschland aufgewachsen. Wir brauchten drei arabische Dolmetscherinnen, als wir unsere Studie am Elternabend vorstellten. In einer anderen Einrichtung stammen 80 % der Kinder aus muslimischen Familien. Erstaunlich viele ihrer Mtter sind zum Islam bergetreten und verfolgen die Regeln dieser ihnen ursprnglich fremden Religion, so die Leiterin der Kindertagessttte, hufig rigider als die Frauen, die in einer muslimischen Kultur aufgewachsen sind. Sie besuchen die Moscheen – werden aber dort oft als Fremde wahrgenommen und behandelt. Wie uns die Erzieherinnern erzhlten, suchten viele dieser Frauen in der Religionsgemeinschaft Schutz und Zugehçrigkeit, ohne sie wirklich zu finden. Sie leben in vielen Fllen sozial sehr isoliert und getrennt von ihren Ursprungsfamilien. Der Kontakt mit den Erzieherinnen der Kindertagessttte scheint fr manche der vermutlich hufig auch depressiven Frauen fast der einzige soziale Austausch zu sein. Ihre Kinder werden zur Brcke zur Außenwelt, wie wir an vielen Einzelfllen gesehen haben. Fr die Kinder stellt dies meist ein enorme berforderung dar und kann als eine der Formen der Parentifizierung in unserer multikulturellen Gesellschaft betrachtet werden. Ein weiterer Grund fr ein Entschwinden von Kindheiten. Daher leisten die Kindertagessttten – oft im Stillen – einen enormen Beitrag zur sozialen Integration von Kindern aus sogenannten Risikomilieus. Darauf hinzuweisen und sie bei dieser Aufgabe zu untersttzen, gehçrte zu den weiteren Zielen der Frankfurter Prventionsstudie.

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Frhprvention und Resilienz: Konzeptuelle berlegungen zu Zielsetzungen der Frankfurter Prventionsstudie In bisherigen Zusammenfassungen unserer Studie haben wir vor allem die interdisziplinre Konzeptualisierung der Studie, basierend auf dem aktuellen Dialog zwischen Psychoanalytikern, Sozial- und Neurowissenschaftlern, geschildert (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, Staufenberg u. Fischmann, 2007; LeuzingerBohleber, Goeppel u. Hau, im Druck). Im Rahmen dieses Beitrages mçchten wir einige andere berlegungen skizzieren, die, wie schon kurz erwhnt, ebenfalls zentral fr die Planung unserer Studie waren. Sie betreffen Fragen wie : »Wie kçnnen wir mit einem Frhprventionsprogramm jene Kinder in unserer Stadt erreichen, die – wie Max – ohne Kindheit aufwachsen ? Und welche Chancen haben wir, die determinierende Wirkung der bereits in den ersten drei Lebensjahren erlittenen Traumatisierungen durch Gewalt, emotionale Vernachlssigung und andere Formen der Verwahrlosung zu lindern oder im besten Fall sogar zu durchbrechen ?« Bei diesen berlegungen sttzen wir uns auf aktuelle Diskussionen sowohl im Bereich der Resilienzforschung als auch zur Neuroplastizitt des Gehirns aufgrund neuerer Studien, die belegen, dass u. U. frhe Fehlentwicklungen durch intensive, alternative Erfahrungen (wie etwa intensive Psychotherapien) »korrigiert« werden kçnnen. In diesem Rahmen mssen wir uns auf den ersten Aspekt beschrnken (berlegungen zu Neuroplastizitt und Frhprvention, vgl. Leuzinger-Bohleber, in Vorbereitung ; Leuzinger-Bohleber, Staufenberg u. Fischmann, 2007). Die Resilienzforschung ist in den letzten Jahren zu einem viel beachteten Gebiet der Psychiatrie und der Sozialwissenschaften geworden. Hinshaw (2002) definiert Resilienz wie folgt: »For individuals to be resilient, there must, by definition, be exposure to adverse circumstances or extremely difficult life events, coupled with positive adaptation in the face of such risk. The scientific and clinical task is to discover those factors within the individual, within the family, and within the larger social context that facilitate such unexpected positive outcome« (S. 186).

100 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel Die Entdeckung der Faktoren, die trotz einer schwer belasteten Primr- und Sekundrsozialisation eine relativ positive Entwicklung von Kindern begnstigen, ist selbstverstndlich fr alle Anstze der Frhprvention entscheidend. Im entwicklungspsychopathologischen Modell nach Resch (1999) »fhren […] soziale Entwicklungseinflsse zu einer spezifischen Fragilitt der kindlichen Persçnlichkeit. Durch wiederholte Traumata und das Fehlen von protektiven Faktoren und sozialer Untersttzung erlebt das Kind Symptome einer posttraumatischen Stressverarbeitung. […] Anhaltende Konflikte und Traumata fhren schließlich zur Ausbildung einer vulnerablen Persçnlichkeit« (S. 75). So beginne »der Weg in die dissoziative Stçrung […] mit pathologischen Interaktionen, die dann zu einem berdauernden desorganisierten Bindungsverhalten fhren« ( S. 77). Die Langzeitstudie von Ogawa et al. (1997) mit Kindern und Jugendlichen von 1 – 19 Jahren legt nahe, dass ein vermeidender und desorganisierter Bindungsstil und frhkindliche Traumata fr pathologische Symptome in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter besonders determinierend sind. hnliche Befunde ergaben Studien von Liotti (1992) und Carlson (1998). Dagegen scheint eine sichere Bindung eine »zentrale risikomildernde Bedingung« (Wustmann, 2004, S. 99) darzustellen. Emotionale Belastungen im spteren Leben kçnnen bei guter Bindungsfhigkeit kompetenter bewltigt werden (vgl. Resch u. Brunner, 2004; Wustmann, 2004). Allerdings diskutieren z. B. Fingerle et al. (1997), dass Resilienz auch bei Kindern mit einem unsicher vermeidenden Bindungstyp gefunden werden kann. Daher wird die Frage aufgeworfen, ob es mçglicherweise verschiedene Typen von Resilienz gibt. In einer Vorschulalterstudie (Macfie et al., 2001) ergaben sich Hinweise auf sensitive Perioden in der Identittsentwicklung, wobei dem Vorschulalter vermutlich eine besondere Bedeutung zukommt. So zeigten misshandelte Kinder ein generalisiertes desorganisiertes Verhalten. Handlungsintentionen, eigene wie fremde, konnten von den Kindern hufig nicht richtig eingeschtzt oder gar nicht wahrgenommen werden. Sie fhlten sich hufig flschlicherweise durch das Verhalten nichttraumatisierter Kinder und Erwachsener bedroht, was wiederum zu interpersonellen Schwierigkeiten und aggressivem Verhalten fhren kann (Pollack et al., 1998). Wichtig scheint uns im

»Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …«

101

Kontext der Frhprvention eine Sensibilisierung der Erzieherinnen fr diesen Sachverhalt. Resch und Brunner (2004) betonen: »Die Modulation affektiver Verhaltenszustnde […] [ist] nicht nur ein wesentlicher Entwicklungsfaktor der Emotionsregulierung, sondern gleichzeitig eine Voraussetzung sozialen Verhaltens« (S. 82). »Nach [einem] Befund von Davidson und Sutter (1995) [scheint es] erfahrungsabhngige Perioden der Plastizitt zu geben, in denen aus der Konfrontation des Kindes mit bestimmten affektiven Interaktionen […] strukturelle nderungen des Gehirns resultieren – mit bedeutsamen Konsequenzen fr das sptere Affekterleben und Verhalten. Die Entwicklung der Selbstregulation von Affekten und Aufmerksamkeitssteuerung scheint deutlich abhngig von Bindungserfahrungen, die wiederum mit sensitiven Perioden der Hirnreifung im Zusammenhang stehen.« (S. 86).

Wustmann (2004) betont, dass Resilienz keine lebenslange Fhigkeit darstellt, sondern eine situationsabhngige »elastische Widerstandsfhigkeit« (S. 31) bedeutet. So legen beispielsweise Befunde von Farber und Egeland (1987) nahe, dass zunchst als resilient eingeschtzte Kinder, eine frhkindliche Widerstandsfhigkeit ber einen Entwicklungsverlauf mehrerer Jahre auch wieder verlieren kçnnen. Gerade in den erwhnten Phasen »erhçhter Vulnerabilitt« (Wustmann, 2004, S. 30) sind prventive und untersttzende Maßnahmen zentral. So kçnnen neben Risikofaktoren ebenso das Risiko moderierende Schutzfaktoren identifiziert werden. Diese werden u. a. dem außerfamiliren sozialen Umfeld zugeordnet (Garmezy, 1985; Luthar u. Cicchetti, 2000; Masten et al. 1990; Masten u. Coatsworth, 1998; Werner u. Smith, 1982, 1992). So wurden in der Kauai-Lngsschnittstudie (Werner u. Smith, 1982, 1992, 2001) hufig Lehrer als untersttzende Personen außerhalb der Familie genannt. Neben einer Vorbildfunktion fr soziale Verhaltensweisen, wurde die Schule zu einem Ort, an dem die Kinder sich in »einem Heim fern von daheim, einem Zufluchtsort vor einer konfusen Familiensituation« (Gçppel, 1999, S.178) fhlen und diese als einen Zufluchtsort nutzen konnten. Nach Wustmann (2004, S. 113) sind vor allem solche schulischen Einrichtungen hilfreich, in denen ein »wertschtzendes Schulklima« vorherrscht, die eine »enge Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und

102 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel anderen sozialen Einrichtungen« verfolgen und den Kindern »Basiskompetenzen« im Umgang mit anderen vermitteln (vgl. in diesem Zusammenhang die Zielsetzungen vom Projekt »Faustlos«). Obschon die Rolle frhkindlicher Einrichtungen in diesem Kontext noch nicht ausreichend untersucht ist, kçnnten nach Wustmann (2004) viele Befunde ohne Probleme auf diesen Bereich bertragen werden. So ist sie der Auffassung, dass Kindertageseinrichtungen einen zentralen Beitrag dazu leisten kçnnen, »Kinder frhzeitig an effektive Bewltigungsformen« (S. 143) heranzufhren. Auf diesem Weg werden Hochrisikokinder erreicht (Opp, 1999). Zudem fungieren diese Institutionen in besonderer Weise an der Schnittstelle zwischen Eltern und Kind als »Ausgangspunkt fr niedrigschwellige Angebote« (Wustmann, 2004, S. 143). Dank der untersuchten Langzeitperspektive war vor allem die Studie von Hauser, Allen und Golden (2006) bei der Planung der Frankfurter Prventionsstudie interessant. Diese Autoren fhrten eine aufwndige Nachuntersuchung von 150 Adoleszenten durch, die wegen Drogen, Gewalt und Suizidalitt in einer Psychiatrischen Klinik hospitalisiert gewesen waren. Im Rahmen der sogenannten »High Valley Resilence Study« hatte Stuart Hauser zwischen 1978 – 1983 jhrliche Interviews mit 150 Teenagern durchgefhrt. Die Hlfte davon waren in der psychiatrischen Institution, dem Childrens Center of High Valley Hospital, behandelt worden. Dort waren jeweils etwa 24 Kinder zwischen fnf und 17 Jahren aus verschiedensten Milieus aus verschiedensten Teilen der USA untergebracht. Einige der Kinder litten unter einer Psychose oder autistischen Stçrungen, viele unter Depressionen. Einige wiesen neurologische Probleme auf (Tourette Syndrom). Doch hatten, so die Autoren, alle eine Gemeinsamkeit: sie trugen eine unkontrollierbare Wut in sich und waren gewaltttig. Fr die Autoren war das erstaunlichste Ergebnis der Nachuntersuchungen, dass sich einige dieser Kinder trotz der schlechten Prognose zu »normalen Erwachsenen« entwickelt hatten. Um die Ursachen fr diese unerwarteten Entwicklungen genauer zu verstehen, wurden 16 der Adoleszenten nochmals sehr genau nachuntersucht. Neun von ihnen hatten sich von ihren schweren Adoleszenzkrisen weitgehend erholt. ber vier der ehemaligen Patienten berichten die Autoren in ausfhrlichen Falldarstellungen.

»Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …«

103

Lange erklrten Fachleute solche erstaunlich positiven Entwicklungen damit, dass es sich bei diesen Kindern um besonders starke Persçnlichkeiten handle, die – vermutlich dank ihrer genetischen Anlage – trotz widriger Umstnde die Kraft aufbrchten, sich den Anforderungen spterer Realitten anzupassen. Hauser, Allen und Golden bezeichnen diese Auffassung als eine Idealisierung. Sie sei einer adquateren Definition von Resilienz gewichen: »For children of adversity are wounded, often severely. To imply otherwise is to deny the acuteness of suffering in children, who don’t ›come‹ resilient but become resilient – after they have been hurt. There is no shield that keeps them safe from all harms, no intrinsic toughness such as the older terms imply. It is not the illusionary toughness such as the older terms imply. It is not the illusionary vulnerability of resilient children that should command attention and respect, but their powers of self-healing. And these are powers that vary with circumstances people’s styles of adaption change and evolve over their lifetimes« (2006, S. 4).

Um von Resilienz zu sprechen, mssen nach Auffassung von Hauser et al. – zusammenfassend – zwei Bedingungen erfllt sein: Erstens eine Person entwickelt sich weitestgehend normal und zweitens diese Person ist einem hohen Risiko ausgesetzt, erlittenes schweres Unglck und eigenes Leid nicht aus eigener Kraft berwinden zu kçnnen. In der Studie wurden nach objektiven Testkriterien 13 % der Jugendlichen als »resilient« diagnostiziert. Die Autoren analysierten die Interviews mit den Jugendlichen und stellten auffallende Unterschiede zwischen den Narrativen der resilienten verglichen mit denen der nicht resilienten Jugendlichen fest. Die Geschichten der Resilienten sind komplexer, lebhafter und klarer und enthalten Passagen, in denen differenziert ber den eigenen Anteil an frheren Krisen nachgedacht wird. In den Narrativen Nicht-Resilienter fllt auf, dass kaum von anderen Personen gesprochen wird, schon gar nicht ber eine Entwicklung in eigenen Beziehungen zu anderen Menschen. Die Geschichten sind strukturell einfach, flach und »desorganisiert«. Die Autoren sehen – bezugnehmend auf Studien zum Adult Attachment Interview (AAI) – in diesen narrativen Besonderheiten Hinweise, dass resiliente Kinder trotz aller erlebten Traumatisierungen ansatzweise ber eine innere Bezogenheit zu anderen Menschen verfgen. Sie schließen daraus u. a., dass sich Resilienz nicht allein aufgrund von

104 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel inneren Krften der Kinder entwickeln kann, sondern dazu mindestens einige »gengend gute« Objektbeziehungserfahrungen notwendig sind. Diese Hypothese prften die Autoren nun durch detaillierte Analysen von Lebensgeschichten. Sie entdeckten, dass resiliente Kinder – im Gegensatz zu jenen, deren Laufbahn in Kriminalitt, Drogensucht oder psychischer Krankheit mndeten – mindestens eine verlssliche, gute Beziehungserfahrung (zu einer Oma, einer Nachbarin, einer befreundeten Familie) machen konnten. Diese positiven Beziehungserfahrungen erlebten diese Kinder als eine Quelle der Hoffnung, die sie innerlich schtzte vor psychischer Resignation und Kapitulation. Sie bildeten ein Gegengewicht zu den vorherrschenden Gewalterfahrungen und den schweren Traumatisierungen, denen sie jahrelang ausgeliefert gewesen waren. Bei den meisten von Hauser et al. beschriebenen Fllen waren es außerfamilire, z. T. auch professionelle Bezugspersonen, die zum psychischen berleben dieser Kinder beitrugen. Uns schienen diese Ergebnisse die schon kurz erwhnten klinisch-psychoanalytischen Erfahrungen zu sttzen, dass besonders fr Kinder aus Problemfamilien positive Beziehungserfahrungen, auch wenn sie noch so rudimentr erscheinen, nicht zu unterschtzen sind. Im besten Fall kçnnen sie, meist unbemerkt, das psychische berleben dieser Kinder sichern. Daher verbanden wir mit der Frankfurter Prventionsstudie die Hoffnung, dass es uns, auch in dem beschrnkten Rahmen einer Studie, gelingen kçnnte, einigen Kindern – aufgrund »realer« Erfahrungen mit einfhlsamen, zuverlssigen Erwachsenen – ein hoffnungsvolles Fenster in ihrem dsteren kindlichen Alltag zu çffnen. Allerdings ist dieser Versuch, wie wir dies in vielen Einzelfllen in der Frankfurter Prventionsstudie gesehen haben, meist mit enormen Insuffizienzgefhlen fr die Erzieherinnen verbunden, da die Angebote scheinbar die Kinder kaum erreichen. Oft sind erst Jahre spter die positiven Langzeitwirkungen beobachtbar. So war uns – als Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern – gleichzeitig immer bewusst, dass wir Kindern bestenfalls helfen kçnnten, den Mut nicht zu verlieren, sich der Welt der Erwachsenen zuzuwenden und fr sich selbst eine lebenswerte Zukunft zu erhoffen. Das Leiden an ihren fehlenden Kindheiten und den teilweise unertrglichen Realitten ihres kindlichen Alltags sollte dadurch nicht

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105

verleugnet oder bagatellisiert werden. Dies ist in der Tat eine gewisse Gefahr bei der Verwendung des Begriffs »Resilienz«. So zeigten z. B. Henry Massie und Nathan Szajnberg (2006) in ihrer eindrcklichen Studie auf, dass sich Spuren von psychischem und physischem Missbrauch und Gewalterfahrungen auch bei jenen Erwachsenen finden ließen, die sich – nach den Kriterien der Resilienzforschung – erstaunlich positiv entwickelt hatten. Die beiden Autoren fhrten nach dreißig Jahren eine Nachuntersuchung jener ehemaligen Suglinge durch, die Sylvia Brody und Sidney Axelrad in den 1960er Jahren untersucht hatten. Sie schreiben zusammenfassend: »Resilience, however, may be a superficial concept, for, in this series of cases, seemingly adequate coping in formerly mistreated children always came at the price of emotional vulneralibity and compromised potential« (1978, S. 471).

Frankfurter Prventionsstudie – Ergebnisse der quantitativen Untersuchungen Zusammenfassende Anmerkungen zum methodischen Vorgehen und ausgewhlte Ergebnisse der Frankfurter Prventionsstudie Neben dem Versuch, die Resilienz gefhrdeter Kinder durch unser Prventions- und Interventionsangebot zu strken, verfolgten wir, wie oben schon kurz erwhnt, weitere Ziele: Das wichtigste Ziel der Studie war es, empirisch nachzuweisen, dass das nichtmedikamentçse, psychoanalytisch begrndete, integrative Prventionsprogramm im Kindergarten zu einem statistisch nachweisbaren Rckgang von psychosozialen Anpassungsstçrungen (insbesondere von ADHS) bei Kindern im ersten Schuljahr fhren. Wir denken dabei auch an das Problem der komorbiden Stçrungen bei Kindern und Jugendlichen mit hyperkinetischen Stçrungen (Dçpfner et al., 2000; Biederman et al., 1991; Richters et al., 1995; Jensen et al., 1993, 1997; Piacentini et al., 1993; Schwab-Stone et al., 1993): – 50 % oppositionelle Stçrungen des Sozialverhaltens, – 30 – 50 % Stçrung des Sozialverhaltens,

106 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel – – – –

10 – 40 % affektive, vor allem depressive Stçrungen, 20 – 25 % Angststçrungen, 10 – 25 % Lernstçrungen, bis 30 % Tic-Symptomatik.

Damit wollten wir wissenschaftlich nachweisen, dass sich Prvention lohnt, auch wenn oft viele der pathogenen Faktoren in Familie, Institution und Gesellschaft nicht (sogleich) verndert werden kçnnen. Selbstverstndlich mçchten wir dadurch nicht von der Notwendigkeit politischen Handelns ablenken – im Gegenteil: Wir hoffen, durch die konkreten Beobachtungen und Ergebnisse der Studie auf die akut drohende Desintegration und Gewaltentwicklung vor allem in deutschen Großstdten wie Frankfurt hinzuweisen und auch einige der politischen Verantwortlichen, etwa durch Schilderungen konkreter Fallbeispiele wie Max, zu erreichen. Wir hoffen, sie in der Einsicht zu bestrken, wie wichtig Frhprvention ist und wie sehr sich Anstrengungen zur Verbesserung von Bildungsinstitutionen vor allem fr Kinder in den ersten Lebensjahren lohnt. Dazu in knapper Zusammenfassung das methodische Vorgehen und erste Ergebnisse der Studie. Um eine reprsentative Stichprobe von insgesamt 1000 Kindern (N = 500 Kindern fr eine Interventionsgruppe und eine ebenso große Vergleichsstichprobe von N = 500 Kindern) aus je 14 Stdtischen Kindertagessttten ziehen zu kçnnen, wurde im Herbst 2003 eine Basiserhebung in allen Stdtischen Kindertagessttten Frankfurts durchgefhrt (insgesamt 4500 Kinder, 114 Einrichtungen). Die Basiserhebung bezog sich auf Kindergartenkinder, die als Drei- bis Vierjhrige im Herbst 2003 neu aufgenommen wurden (ca. 2700 Kinder). Als Zeitfenster wurde das Intervall 08. 1998 bis 07. 2000 festgelegt. Die zentrale Hypothese der Studie war, dass ein zweijhriges, psychoanalytisches (nicht medikamentçses) Prventions- und Interventionsprogramm die Anzahl der Kinder mit psychosozialen Integrationsstçrungen (insbesondere mit ADHS) im ersten Schuljahr statistisch signifikant senken kann. Zur Bildung vergleichbarer Gruppen wurden die Kindergrten gemß ihrer Sozialstruktur und Anzahl aufflliger Kinder Clustern (Gruppen), entsprechend den uns vorliegenden Erhebungen aus den Kindergrten, zufllig zugeordnet.

»Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …«

107

Je zwei Kindergrten bildeten dann ein Paar (1 Interventions- und 1 Vergleichskindergarten), die vergleichbaren Clustern entstammten. Im Frhling 2004 begannen wir mit der Durchfhrung des Prventions- und Interventionsprogramms in den 14 zufllig ausgewhlten Kindertagessttten. Es bestand aus verschiedenen, oben bereits erwhnten Bausteinen: vierzehntglichen Supervisionen durch erfahrene Supervisorinnen und Supervisoren, wçchentlichen psychoanalytisch-pdagogischen Angeboten durch Mitarbeiter/innen der Studie, intensiver Elternarbeit sowie psychoanalytischen Einzeltherapien fr besonders bedrftige Kinder in den Einrichtungen selbst. Falls notwendig wurde mit dem Sozial- und Jugendamt sowie der Waisenhausstiftung zusammengearbeitet. Nach einer Anlaufzeit wurde das Projekt in allen Einrichtungen gut angenommen und etabliert. Alle Einrichtungen sprachen sich nach dem offiziellen Abschluss der Studie im August 2006 fr eine Fortfhrung der Supervisionen aus. In manchen Kindertagessttten wurde auch die Fortsetzung der wçchentlichen psychoanalytischpdagogischen Arbeit gewnscht. Eine offene Frage unseres Projektes war, ob es uns gelingen wird, Kindergartenkinder aus bildungsfernen Schichten, die dringend psychotherapeutische Hilfe bençtigen, aber kaum die Schwelle zu einem niedergelassenen Therapeuten oder einer Ambulanz berwinden, durch unser Angebot zu erreichen. Inzwischen ist es, wie eingangs angefhrt, gelungen, bei 17 solcher Kinder eine Therapie einzuleiten. Bei acht weiteren Kindern waren die Eltern nicht bereit, therapeutische Hilfe anzunehmen. Nach den Werten des Dçpfner Fragebogens fr Erzieher und Eltern, des Conners-Wells-Fragebogens fr Eltern und Lehrer und den beiden Child Behaviour Check Lists (CBCL) fr Eltern und Lehrer sowie dem Urteil von zwei weiteren unabhngigen Beobachtern zeigen die meisten dieser Kinder hyperaktive Stçrungen nach ICD-10. Die Therapien werden nach einem Manual psychoanalytischer Behandlungen fr Kinder mit hyperaktiven Stçrungen durchgefhrt, das 2004 von einer Gruppe kinderanalytischer Kolleginnen erarbeitet wurde. Die Entwicklung und berprfung des Manuals basierte auf den Ergebnissen der Katamnesestudie psychoanalytischer Behandlungen hyperaktiver Kinder (federfhrend: Adelheid Staufenberg, untersttzt von der VAKJP).

108 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel

Einige wichtige Ergebnisse der quantitativen Datenauswertungen Wie einleitend erwhnt, liegt der Schwerpunkt dieser Ausfhrungen nicht auf der Darstellung und Diskussion der quantitativen Ergebnisse der Studie, sondern auf dem Pldoyer fr psychoanalytische Behandlungen von ADHS Kindern. Dennoch mçchten wir kurz auf das wichtigste Ergebnis bezglich der Haupthypothese der Studie eingehen. Unser Design erlaubt uns sowohl Gruppenvergleiche (Ergebnisse der Interventions- verglichen mit der Kontrollgruppe) sowie Vergleiche von sogenannten »matched pair«-Kindern aus Kindertagessttten mit analogen Strukturen in der Interventions- bzw. Kontrollgruppe (vgl. oben). Wie die folgenden Abbildungen 1 und 2 zeigen, kçnnen wir unsere Haupthypothese durch einen Gruppenvergleich belegen. Als Hauptkriterium diente der postulierte Rckgang von Aggressivitt auf der Dçpfner Skala (VBV, vgl. Dçpfner, 1993). Aggression (Abb. 1) ist die wichtigste Variable, wenn wir soziale Anpassungsfhigkeit betrachten. Lebhafte (»hyperaktive«) Kinder kçnnen sowohl in einer Gruppe von Kindergartenkindern als auch in der Grundschule belebende Elemente darstellen und die Gruppe mit ihrer Phantasie und Lebendigkeit befruchten, falls sie sich nicht gleichzeitig bermßig in aggressive Auseinandersetzungen mit anderen Kindern oder den Erwachsenen verwickeln. Ebenfalls statistisch signifikante Ergebnisse erzielen wir auf der Unterskala »ngstlichkeit« (Abb. 2). Bekanntlich steht gerade bei Jungen Aggressivitt oft in Zusammenhang mit einer Abwehr von Angst. N/Prventionsgruppe= 177, N/ Kontrollgruppe= 185 Zeit* Gruppe: F= 5.90; p.03*

Interessanterweise stellen wir einen statistisch signifikanten Rckgang auf der Unterskala »Hyperaktivitt« sowohl in der Prventions- als auch in der Kontrollgruppe fest. Allerdings ist der Unterschied zwi-

109

»Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …«

Geschätztes Randmittel von Aggressivität Zugehörigkeit im Untersuchungsdesign

11,00

Präventionsgruppe Kontrollgruppe

Geschätztes Randmittel

10,00

9,00

8,00

7,00

6,00 1

2

Zeit

Abb. 1: Vergleich Prventions- und Kontrollgruppe: Unterskala Aggressivitt

Geschätztes Randmittel von Ängstlichkeit

Zugehörigkeit im Untersuchungsdesign Präventionsgruppe Kontrollgruppe

Geschätztes Randmittel

14,00

12,00

10,00

8,00

1

2

Zeit

Abb. 2: Vergleich Prventions- und Kontrollgruppe: Unterskala ngstlichkeit

110 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel schen Prventions- und Kontrollgruppe nicht statistisch signifikant (Abb. 3).

Geschätztes Randmittel von Hyperaktivität Zugehörigkeit im Untersuchungsdesign

17,00

Präventionsgruppe Kontrollgruppe

Geschätztes Randmittel

16,00

15,00

14,00

13,00

12,00

11,00 1

2

Zeit

Abb. 3: Vergleich Prventions- und Kontrollgruppe: Unterskala Hyperaktivitt

n/Prventionsgruppe= 178; N/Kontrollgruppe= 184 Zeit: F= 72.95; p = .00** Zeit*Gruppe: F= 1.31; p= .25 (n.s.)

Die Unterskala 2 »Hyperaktivitt« der VBV umfasst einerseits Fragen zur motorischen Impulsivitt (wie z. B. Frage 34: »Ist stndig auf Achse und bleibt nur fr kurze Zeit an seinem Platz«). Andererseits sind auch Fragen zur Konzentrationsfhigkeit darin enthalten (wie z. B. Frage 19: »Kann sich nur fr kurze Zeit auf ein Spiel oder eine Beschftigung konzentrieren«). Aus vielen Studien ist bekannt, dass das motorische Unruheverhalten im Alter unserer Stichprobe (4- bis 6-jhrige Kindergartenkinder) abnimmt. Daher erwarteten wir einen Rckgang des motorischen Unruheverhaltens sowohl in der Interventions- als auch in der Kontrollgruppe. Entscheidend wird sein, ob unser Interventionsprogramm dazu beitragen konnte, dass sich die Konzentrationsfhigkeit der Kinder – verglichen mit jener der Kontrollgruppe – verbessert. Die Konzentrationsfhigkeit wird sich aber vor allem im Schulunterricht bemerkbar machen. Daher kçnnen wir einen evtl. Unterschied in der Konzentrationsfhigkeit beider Grup-

111

»Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …«

pen erst in der geplanten Messung nach dem ersten Schuljahr berprfen. Allerdings ergibt sich schon zum jetzigen Zeitpunkt ein statistisch signifikanter Unterschied, falls wir die Daten geschlechtsspezifisch auswerten. Doch sind es – entgegen unserer Erwartung – die Mdchen, die vom Prventionsprogramm profitieren.

Geschätztes Randmittel von Hyperaktivität wenn Geschlecht = weiblich Zugehörigkeit im Untersuchungsdesign

16,00

Geschätztes Randmittel

Präventionsgruppe Kontrollgruppe 14,00

12,00

10,00

8,00 1

2

Zeit

Abb. 4: Vergleich Prventions- und Kontrollgruppe: Unterskala Hyperaktivitt, Mdchen

N/Prventionsgruppe= 70; N/Kontrollgruppe= 62 Zeit: F= 32.41; p=.00** Zeit*Gruppe: F = 7.74; p< .01**

Weist dieses berraschende Ergebnis darauf hin, dass – wie so oft – Mdchen von einem pdagogisch/psychoanalytischen Angebot eher profitieren als Jungen? Oder hat dies mit der Entwicklung geschlechtsspezifischer Rollen in diesem Alter zu tun? Ist es ein Hinweis, dass Jungen in einer vorwiegend von Frauen dominierten Bildungsinstitution eine Gegenbesetzung zu »weiblich-ruhigem« Verhalten entwickeln? Oder hat sich dank der Supervision die Wahrnehmung

112 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel der Erzieherinnen gendert, sodass sie vermehrt zwischen »lebendighyperaktivem« und »hyperaktiv-aggressivem« Verhalten bei den Jungen differenzieren kçnnen? Wir fhren noch weitere Detailauswertungen durch, um diese Interpretationsmçglichkeiten abzusttzen bzw. zu verwerfen. Zusammenfassend: Unsere Haupthypothese konnte durch einen Gruppenvergleich besttigt werden. Die Aggressivitt (gemessen mit der Unterskala: Aggressivitt des VBV) nimmt bei den Kindern der Interventionsgruppe statistisch signifikant ab. Auch bei der Unterskala »ngstlichkeit« beobachten wir einen statistisch signifikanten Rckgang in der Prventionsgruppe. Diese Ergebnisse sind insofern erstaunlich, als es sich bei unserer Prventionsstudie um eine Feldstudie und nicht um eine »Laborstudie« handelt, d. h. eine Studie, bei der mit vielen intervenierenden Variablen zu rechnen ist. Dass sich dennoch statistisch nachweisen lsst, dass sich die Kinder der Interventionsgruppe bezglich ihres aggressiven Verhaltens signifikant von jenen der Kontrollgruppe unterscheiden, zeigt, dass das nicht medikamentçse, psychoanalytisch-pdagogische Prventionsprogramm die soziale Integration verbessern kann. Bezogen auf die Unterskala »Hyperaktivitt« finden wir einen statistisch signifikanten Unterschied zwischen Prventions- und Kontrollgruppe erstaunlicherweise nur bei den Mdchen. Ein Ergebnis, dessen Interpretation wir noch durch weitere Datenanalysen statistisch abzusttzen versuchen.

»Verlorene Kindheiten« und der Versuch, sie wiederzugewinnen … Beobachtungen aus den qualitativen Teilen der Studie Nach den eben zusammengefassten Ergebnissen der quantitativen Untersuchungsteile schließen wir mit einem weiteren Einblick in die umfangreichen Beobachtungen und Eindrcke der Studie, die wir mit Hilfe qualitativer Methoden gewonnen haben. Sie stehen in Zusammenhang mit dem Thema »Kinder ohne Kindheit« dieses Bandes. Die Beobachtungen betrafen, wie oben erwhnt, die Auswirkungen der Supervisionen auf das professionelle Handeln der Erzieherinnen, die

»Weißt du, manchmal mçchte ich nicht mehr leben …«

113

wçchentlichen Angebote der Mitarbeiterinnen in den Einrichtungen, die Elternarbeit etc. Da wir in diesem Rahmen auf die theoretischen berlegungen (z. B. zu Winnicotts Konzept des potential space, Bions Analysen kreativer Denkprozesse, das Mentalisierungskonzept von Fonagy und Target etc.) und die Diskurse dazu in der heutigen Psychoanalyse nicht eingehen kçnnen (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, in Vorbereitung), skizzieren wir einige unserer Beobachtungen in Form von kurzen narrativen Zusammenfassungen und hoffen, dass diese vorwiegend fr sich selbst sprechen werden.

Einblicke in unterschiedlichste Lebenswelten von Kindern in der Stadt Frankfurt Die aktiv an der Frankfurter Prventionsstudie Beteiligten erlebten hautnah, wie unterschiedlich die Lebenswelten von Kindern in der Stadt Frankfurt konkret aussehen. Der abstrakte, einleitend zitierte Satz von der immer krasser werdenden Schere zwischen »Armen« und »Reichen« fllte sich mit detaillierten Beobachtungen, Bildern, und Eindrcken. Als kurze Illustration dazu zwei Skizzen der Lebenswelten zweier (deutscher) Kinder aus unserer Studie: Marion ist die fnfjhrige Tochter eines Lehrerehepaars, die beide arbeiten. Die Großeltern mtterlicherseits leben in der Nhe und bernahmen vormittags die Kinderbetreuung bis zum Eintritt in die Kindertagessttte, als die Mutter nach dem Jahr Mutterschutz ihre Ttigkeit als Grundschullehrerin wieder aufnahm. Marion hat einen um zwei Jahre lteren Bruder. Sie wirkt auf die Erzieherinnen und die Projektmitarbeiterin wie ein Kind, das »auf der Sonnenseite dieser Welt geboren wurde«, voll von Lebensfreude, Zuversicht, Phantasie, Kreativitt und Neugier. Sie hat viele Freundinnen und Freunde, mit denen sie ihre Zeit in der Kita teilt. Sie ist eine begabte Zeichnerin, erzhlt gerne Geschichten und Witze – und turnt gerne. Den Erzieherinnen fllt sie durch ihre Heiterkeit, ihre große Einfhlung und ihre sozialen Fhigkeiten auf. In Konflikten kann sie sich gut durchsetzen und ihre Gefhle, auch rger und Enttuschung, direkt ausdrcken.

114 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel Marion hat, aus psychoanalytischer Sicht, aufgrund tragfhiger, einfhlsamer frher Objektbeziehungen eine sichere Bindung entwickeln kçnnen – ein zentraler protektiver Faktor fr die weitere Entwicklung, wie wir aus vielen Studien wissen. Marion gehçrt zu den Kindern, die es wahrscheinlich – historisch gesehen gerade in einem Land wie Deutschland – so gut haben wie kaum Kinder je zuvor. Sie wachsen mit Eltern auf, die sich – dank ihrer Persçnlichkeit und aufgrund ihrer Bildung – sowohl durch Einfhlung in kindliche Bedrfnisse, durch Wissen um Merkmale und Charakteristika der frhkindlichen Entwicklung und ihrer Manifestationen sowie – dank ihrer eigenen inneren und ußeren Situation – durch die Fhigkeit zur »reifen Elternschaft« ausweisen. Diese Eltern kçnnen den Kindern eine Kindheit im besten Sinne bieten: Die Kinder erleben innere und ußere Spielrume, um ihre Phantasien, ihre Kreativitt zu entfalten und – gehalten von warmen, sicheren Beziehungen – das Fundament eines eigenen Selbst zu entwickeln (vgl. Winnicott, 1971; Bohleber, 1992; Garlichs u. Leuzinger-Bohleber, 1999). Lisa (4,5 Jahre) lebt in der gleichen Stadt – doch ihre Kindheit sieht ganz anders aus. Sie hat eine ltere und eine jngere Schwester. Alle Kinder haben unterschiedliche Vter. Derzeit lebt ein neuer Freund der Mutter in der Familie. Zum leiblichen Vater besteht wenig Kontakt, obwohl das Kind ihn hufig erwhnt und ihn in der Phantasie idealisiert. Die Mutter ist Sozialhilfeempfngerin und hat immer wieder verschiedene Jobs. Die Herkunftsfamilie der Mutter ist zudem lange beim Jugendamt bekannt. Es gab in der Vergangenheit schon die Drohung des Kindesentzuges (fr den Bruder der Mutter) aufgrund eines Verdachts auf sexuellen Missbrauch. Die Mutter ußert daher, sie habe schlechte Erfahrungen mit mtern. Lisa fllt durch große Distanzlosigkeit auf. Sie nimmt sofort kçrperlichen Kontakt auf, umarmt und herzt Erwachsene. Nach Aussagen der Mutter verhlt sie sich außerhalb der Kita genau gegenteilig. Sie hat große ngste, schon bei kleineren Ereignissen (z. B. im Einkaufszentrum, bei wenigen Metern Entfernung von der Mutter beginnt sie zu weinen und vçllig hilflos zu wirken). In der Kita fllt auf, dass sie inzwischen keine Freundinnen mehr hat. Sie stçrt meist andere Kinder beim Spiel und versucht, nur mit den Erwachsenen zu spielen. Sie ist dabei schnell frustriert und reagiert aggressiv, vor allem Schwcheren gegenber. Beim Spiel selbst fllt es ihr schwer, sich lnger auf etwas zu konzentrieren, sie ist auch motorisch sehr unruhig und wird von den

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Erzieherinnen als »hyperaktiv« bezeichnet. Am meisten erschreckt die Erzieherinnen, dass sie entdeckt haben, dass sich Lisa zuweilen mit einem Messer in den Arm schneidet, das Blut aufleckt und ußert, es schmecke ihr gut… Lisa ist eines der Kinder unserer Studie, das dringend sozialpdagogische und psychotherapeutische Hilfe braucht. Wie wir aufgrund von Studien zum Einfluss des Geschlechts auf psychopathologische Symptombildungen wissen, ist es nicht zufllig, dass sie – ein Mdchen – schon im frhen Alter den Weg in psychische und psychosomatische Symptome whlt, whrend Jungs hufiger aggressiv und sozial destruktiv werden. Fr Lisa gibt es kaum eine Kindheit; der reale und psychische berlebenskampf ihrer Mutter bestimmt ihren Alltag – sie hat buchstblich nicht mal ein eigenes Bett, in dem sie sicher – als Kind – zur Ruhe kommen kann. Gewalterfahrungen, emotionale Verwahrlosung und – wahrscheinlich – sexuelle bergriffe ließen ihre psychische und kçrperliche Gesundheit und Entwicklung zusammenbrechen. Die Kindertagessttte scheint zurzeit ihr einziger Zufluchtsort als stabile soziale Umwelt zu sein.

Verlorene Kindheiten Im Schatten von Armut und sozialem Elend Das einleitend aufgefhrte ausfhrliche Beispiel Max steht fr die vielen Kinder, die, wie der Armutsbericht der Bundesregierung krzlich gezeigt hat, am Rande unserer Gesellschaft leben. Einige der Kita-Leiterinnen unserer Studie erzhlten, dass zunehmend mehr Kinder hungrig in die Einrichtungen kommen und auf die warmen Mahlzeiten angewiesen sind. Beitrge fr Ausflge oder Veranstaltungen werden zu Anlssen fr Scham, weil die Erzieherinnen Einblick in das oft gehtete Familiengeheimnis der »Neuen Armut« gewinnen.

Zerstçrte Spielrume durch gestiegenen Leistungsdruck und elterliche Zukunftsangst Der vierjhrige Simon wirkt einerseits fast frhreif fr sein Alter. Er kann sich sehr gewhlt ausdrcken, verfgt ber einen enormen Sprachschatz und ist sehr bemht, diesen korrekt anzuwenden. An-

116 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel dererseits ist er manchmal sehr schlechter Stimmung, quengelt herum, findet keine eigenstndige Beschftigung und weiß nichts mit sich anzufangen. Bei kreativen Aufgaben fllt ihm nichts ein. Er wird hilflos, wenn er sich einer solchen Aufgabe widmen soll, und fragt stndig nach, was er jetzt denn machen soll. Die Erzieherinnen sind gegen Simons Einschulung mit fnf Jahren, sie wrden ihn, seiner emotionalen Entwicklung wegen, gerne noch ein Jahr in der Kita behalten. Die Eltern sind dagegen, das komme nicht in Frage, schließlich sei Simon kognitiv sehr weit und habe den Schuleingangstest bestanden. Simon ist eines der Kinder, die schon im dritten Lebensjahr gezielt eine Zweitsprache erlernen, Kurse in Frhmathematik und Musik besuchen und in vielerlei Aktivitten eingespannt werden, um sie mçglichst optimal zu fçrdern und – oft nur halb bewusst aufseiten der Eltern – auf den hrter werdenden sozialdarwinistischen Kampf um Karriere und Aufstieg im spteren Leben vorzubereiten. Solche Kinder haben schon in diesen ersten Lebensjahren einen vçllig durchstrukturierten Tages- und Wochenplan. Oft fehlen weitgehend die Feirume zum Spielen, Phantasieren und »die Seele baumeln und sich entwickeln lassen«. Sowohl aufgrund psychoanalytischer als auch anderer Kreativittstheorien ist dies, wie bei Simon, eher kontraproduktiv. So wies z. B. der Mathematikdidaktiker Krummheuer krzlich darauf hin, dass die beste Fçrderung einer mathematischen Begabung im Vorschulalter darin bestehe, die Kinder bei ihrer lustvollen, ganzheitlichen Erfahrung zur (kçrperlich-seelischen) Erkundung ihrer Umwelt zu untersttzen. Nur auf diese Weise kçnnten sie ein rumliches Denken entwickeln, das die Basis fr mathematisches Problemlçsen in der Schulzeit und spter bilde. Auf diesem Hintergrund ist die Beobachtung, dass Simon bei kreativen Aufgaben »nichts einfllt« ein Alarmzeichen. Ebenso alarmierend ist aus psychoanalytischer Sicht, dass Simon »nichts mit sich anzufangen weiß«. Er hat offenbar kaum eine sichere innere Objektwelt und eine eigene, lustvolle Phantasiettigkeit im intermediren Raum nach Winnicott ausbilden kçnnen, die ihm die zentrale Erfahrung ermçglicht, »allein zu sein, ohne sich einsam und verlassen zu fhlen« (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber u. Garlichs, 1999). Diese Erfahrung erweist sich, aufgrund vielfltiger klinisch-psychoanalytischer Beobachtungen, als zentral sowohl fr eine kreative Entfaltung im beruflichen als auch im

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Beziehungsbereich und ist zudem ein charakteristisches Merkmal psychischer Gesundheit (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, Rger, Stuhr u. Beutel, 2003).

Extrembelastungen – ein Verlust von Kindheit (Krankheit, Verlust eines Elternteils etc.) Oft tauchte in unserem Forschungsteam angesichts von Kinderschicksalen wie die nachfolgend beschriebenen von Daniel oder Rachel die Vermutung auf, dass schwere Krankheit, bei Kindern und ihren Eltern, Behinderung und Tod heute gesellschaftlich weitgehend tabuisiert sind. In »Zeiten der medizinischen Machbarkeit« scheinen sie kaum zu den Selbstverstndlichkeiten heutiger Kindheiten zu gehçren. Trifft eine Familie – meist wenig vorbreitet – dennoch das Schicksal einer schweren Krankheit ihres Kindes oder eines Elternteils, erschwert die kollektive Abwehr zustzlich den Umgang mit der belastenden Situation. Zudem sind bekanntlich meist die Großfamilienstrukturen, Nachbarschaftshilfen etc. zusammengebrochen, die als soziale Hilfssysteme den Familien zur Verfgung stehen kçnnten. Stattdessen muss oft erst ein Netz an Untersttzung aufgebaut werden, fr manche Familien eine enorme zustzliche berforderung, wie wir dies von den Eltern von Daniel erfahren haben. Daniel ist ein sechs Jahre alter Junge. Er besucht seit drei Jahren den Kindergarten. Daniel leidet seit seiner Geburt unter einer seltenen Stoffwechselkrankheit. Schon als Baby konnte er nicht selbstndig Nahrung aufnehmen, erbrach sich und musste schließlich knstlich ber eine Nasensonde ernhrt werden. Hinzukommend musste er von klein auf lngere Krankenhausaufenthalte bewltigen. Auch heute wird er ergnzend ber eine Magensonde ernhrt, nimmt jedoch kleine Mengen Nahrung auf natrlichem Wege ein. Die bereits von den Eltern vorbereitete Nahrung wird dem Jungen auch in der Kindertageseinrichtungen von Erzieherinnen verabreicht. In der Einrichtung selbst fiel Daniel schon immer durch sein sehr aggressives und impulsives Verhalten, wie Schlagen, Treten und Schreien, und durch seine Ruhe- und Orientierungslosigkeit auf. Innerhalb der ersten anderthalb Jahre verbesserte sich sein Zustand in der Kindertagessttte. Er wurde ruhiger und baute vor allem zu den Erzieherinnen eine gute Beziehung auf. Im letzten Jahr eskalierte die familire Situation und die Mutter verließ die Familie. Dies strzte

118 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel Daniel und seinen Vater in eine starke Krise, was sich natrlich auch in Verhaltensrckschritten in der Einrichtung bemerkbar machte. Der Junge ist in der Gruppe nahezu nicht zu bndigen, die Erzieherinnen sind, trotz ihrer enormen Bemhungen, berfordert. In der durch das Projekt realisierten Supervision der Kindertageseinrichtung fand das Team die Mçglichkeit, den Fall intensiv zu besprechen. Natrlich gab es sowohl von Seiten der Projektmitarbeiterin als auch von Seiten der Erzieherinnen den Vorschlag, Daniel durch eine Einzeltherapie zu untersttzen, dieser wurde aber vorerst aufgrund der akuten Krisensituation innerhalb der Familie verschoben. Da sich die Familie seit Geburt des Kindes in stndiger Begleitung von Krankenhusern, rzten und Therapeuten befindet, wurde als erstes versucht, den Jungen durch eine intensive, tragfhige Beziehung zu einer Erzieherin seiner Gruppe zu sttzen. Eine Einzeloder Familientherapie kann in diesem Fall erst in einem zweiten Schritt ins Auge gefasst werden. Analoge Extrembelastungen hatten jene vier Familien zu bewltigen, deren Mtter whrend unserer zweijhrigen Studie alle an Krebs starben. Rahel, ein fnfjhriges Mdchen, fllt den Erzieherinnen durch die Unfhigkeit auf, sich zu konzentrieren. Sie scheint oft in einer anderen Welt zu sein und sitzt dann verloren irgendwo in einer Ecke ihrer Einrichtung. Allerdings kann diese Zurckgezogenheit plçtzlich umschlagen in aggressives und hyperaktives Verhalten. Sie wirkt dann ruhelos, gespannt, in stndiger Bewegung und »scheint absichtlich Streit und Unfrieden mit andern Kindern zu suchen« (Erzieherin C.). Rahel hat ihre Mutter verloren. Die Mutter erkrankte vor sechs Monaten an Lungenkrebs. Sie unterzog sich mehreren Bestrahlungen und Chemotherapien, ohne Erfolg. Seit ihrer Erkrankung entwickelte Rahel die eben beschriebenen Symptome, die offensichtlich im Zusammenhang mit dem traumatischen Verlust der Mutter stehen. Die lebensbedrohliche Erkrankung ihrer Mutter hat der unbeschwerten Kindheit ihrer ersten vier Lebensjahre ein abruptes Ende gesetzt. Tragischerweise hatte der Vater von Rahel auch seine erste Frau an Krebs verloren und seine zwei ersten Kinder, damals in Rahels Alter, allein groß gezogen, bis er vor sechs Jahren seine zweite Frau kennenlernte. Er wirkt sehr tapfer und weist das Angebot zurck, Rahel

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(und damit vielleicht auch ihm) professionell bei der Trauer zur Seite zu stehen.

Verlorene Kindheit durch das Aufwachsen mit (seelisch) kranken oder (kriegs-)traumatisierten Eltern Wir schtzen, dass etwa 30 % der Eltern, die wir in unserer Studie gesehen haben, aufgrund persçnlicher oder gesellschaftlicher Ereignisse nur bedingt in der Lage sind, ihre elterlichen Funktionen fr ihre Kinder zu bernehmen, bekanntlich die wichtigste Voraussetzung fr das Erleben einer »Kindheit« fr ihre Kinder. Robert ist der uneheliche Sohn einer alkoholkranken, arbeitslosen, nun 21 Jahre jungen Frau. Der Vater von Robert verließ die Mutter nach einer kurzen, dramatischen Beziehung. Die Mutter hat große Vorbehalte gegen Psychologen, weil sie offenbar von einem Psychiater die Diagnose »manisch-depressiv« erhalten hatte und einige Monate in einer Klinik hospitalisiert gewesen war. Sie erzhlt, dass sie den Kontakt mit ihren geschiedenen Eltern abgebrochen hat, weil »beide Alkoholiker sind und mich als Kind oft furchtbar verprgelten …«. Von Robert sagt sie: »Er ist mein Ein und Alles, der Sinn meines Lebens«. Frau X. lebt von Sozialhilfe, am Rande der Gesellschaft und akut bedroht von Sucht und Verwahrlosung. Nach mehreren Gesprchen ist sie schließlich bereit, professionelle Hilfe anzunehmen. Doch nach den Sommerferien erscheint sie nicht mehr in der Kindestagessttte: Sie ist mit Robert weggezogen. Robert zeigte in der Kita schon schwere Verhaltensprobleme: Er schwankte zwischen depressiv-zurckgezogenem und aggressiv-destruktivem Verhalten. Als »Ein und Alles« seiner Mutter wird ihm kaum ein geschtzter Raum fr die Entfaltung und Befriedigung seiner kindlichen Wnsche und Phantasien zur Verfgung stehen. Hufiger, als wir dies erwartet hatten, begegneten wir Kindern von traumatisierten Flchtlingen aus Kriegsgebieten. Sie finden in Deutschland oft ußere Sicherheit und eine Basisversorgung ihrer existentiellen Bedrfnisse. Doch, wie wir aus der transgenerationellen Traumaforschung wissen, bestimmen die erlittenen Traumatisierungen der Eltern die psychische Befindlichkeit ihrer Kinder oft noch Jahre nach der Flucht aus der akuten Bedrohung (vgl. dazu u. a. Lennertz, 2006; Mçller, 2007).

120 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel Johi, »der kleine Professor«, konnte nach glaubhaften Angaben mehrer Erzieherinnen schon lesen, als er mit dreieinhalb Jahren in die Einrichtung kam. Seine Eltern, offenbar Angehçrige einer intellektuellen Oberschicht, flchteten mit ihm aus einem afrikanischen Krisengebiet. Sie sind von der Hochbegabung ihres Sohnes berzeugt und berlegten, ihn in eine Einrichtung zur Fçrderung hochbegabter Kinder zu geben. Als die Erzieherinnen auf die sozialen Probleme von Johi sowie seine extremen Konzentrationsprobleme hinwiesen, kamen sie von ihren Plnen ab und willigten ein, Johi psychologisch abklren zu lassen. In der Testabklrung entsteht der Eindruck, dass Johi intellektuell gut begabt ist. Johi scheint aber seine frhe Fhigkeit zu lesen auch kompensatorisch im Sinne einer transgenerativen Traumabewltigung zu nutzen. Seine Tagtrumereien kreisen vermutlich oft um die fr ihn rtselhaften Traumatisierungen der Eltern (Folter, politische Verfolgung, Emigration), wie dies Ergebnisse psychoanalytischer Studien zur transgenerativen Weitergabe von Extremtraumatisierungen in berlebendenfamilien des Holocaust nahe legen.

Verlorene Kindheit durch Aufwachsen in einer fremden Welt: Schattenseiten von Migration Wenigstens kurz erwhnen mçchten wir die Schattenseiten von Migration und das Aufwachsen in einer fremden Welt, die wir in vielen Variationen bei Kindern unserer Studie beobachtet hatten. Ahib stammt aus einem fr die Erzieherinnen weitgehend fremden çstlichen Kulturkreis. Laut Erzhlungen der Mutter wachsen die Kinder in ihrem angestammten Dorf weitgehend auf der Straße auf, in Kindergruppen, in denen sich vor allem die Jungs aggressiv durchsetzen und behaupten mssen. »Alle drei Brder schienen nur eines zu verstehen: ihr Revier durch Schlgereien zu behaupten … Ist dies ihrer kulturellen Herkunft, einer mangelnden Begabung oder beidem zuzuschreiben? Alle drei sprechen jetzt noch kaum deutsch«, so eine Erzieherin. Alle Kinder scheinen psychisch noch kaum hier in Deutschland angekommen zu sein, einer Kultur, die neue Anforderungen an sie stellt, denen sie sich kaum gewachsen fhlen. Mohammed, fnf Jahre, hat seine ersten drei Jahre in der Trkei gelebt. Seine Mutter ist alleinerziehend. Der Vater war whrend der ersten vier Lebensjahre des Kindes in Haft. Inzwischen sind die Eltern

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getrennt, doch hlt der Vater den Kontakt zu Mohammed. Die Mutter (23 Jahre alt) scheint mit dem Kind berfordert zu sein, mçchte aber keine fremde Hilfe in Anspruch nehmen. In der Kindertagessttte beobachten die Erzieherinnen mehrere Krampfanflle und vermuten eine epileptische Erkrankung, da das Kind minutenlang abwesend ist und danach aufschreckt und nur schwer zur Realitt zurckfindet. Die Mutter reagiert auf die Fragen und die Besorgtheit der Erzieherinnen unwirsch und versichert (allerdings kaum glaubwrdig), das Kind sei vor geraumer Zeit untersucht worden. Es gebe keinen Hinweis auf Epilepsie. Der Junge ist in der Kita schlecht integriert, auch weil er oft fehlt oder nur sehr kurz in der Einrichtung anwesend ist, »da die Mutter es nicht geschafft hat pnktlich zu kommen« (Erzieherin A). Mohammed scheint der ganze Stolz der Mutter zu sein und wirkt auf die Erzieherinnen oft wie ein kleiner Prinz. Ebenfalls auffallend ist seine – verglichen mit gleichaltrigen Kindern – langsame Auffassungsgabe und seine motorische Ungeschicklichkeit, oft Grnde fr Konflikte und Frustrationen, die meist in aggressive Auseinandersetzungen mit anderen Kindern mnden. Mohammed kann sich schlecht konzentrieren und »wenig bei der Sache bleiben«. Meist versucht er »der Grçßte« oder »der Strkste« zu sein. Viele Erzieherinnen ußerten in den Supervisionen, wie wenig sie in vielen Fllen von der Herkunftskultur der Kinder, ihrer Religion, den Normen und Werten, dem Rollenverstndnis, Erziehungsvorstellungen etc. wissen, und daher hufig viele Verhaltensweisen der Kinder nur ungengend verstehen kçnnen. Zudem hatten wir bei einigen Kindern mit enormen Integrationsproblemen den Verdacht, dass sie ein Zuwenden zur fremden Kultur unbewusst als einen Verrat an ihren oft depressiven Mttern erleben. Erst wenn dieser Loyalittskonflikt zusammen mit den Eltern bearbeitet werden konnte, fingen die Kinder an, sich in die Kindergruppe einzugliedern und Kontakt zu finden. Auch diese Beispiele verweisen auf die enorme Bedeutung der integrativen Arbeit vieler Erzieherinnen vor allem in Stadtgebieten mit einem hohen Anteil an Migranten.

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Zusammenfassung und Ausblick In dieser Zusammenfassung von Ergebnissen und Beobachtungen aus der Frankfurter Prventionsstudie stellten wir die Frage ins Zentrum, ob und in welcher Weise die Studie dazu beitragen konnte, die Resilienz von Kindern aus »Multi-Problemfamilien« zu strken. Mindestens in den 17 Einzelfllen, in denen Eltern psychotherapeutische Hilfe fr ihre Kindergartenkinder annehmen konnten, scheint es gelungen, im Sinne der Resilienzforschung intensive, alternative Beziehungserfahrungen im therapeutischen Setting anzubieten. Diese dienen den Kindern oft als Gegengewicht zu erlittenen Frhtraumatisierungen, zu Verwahrlosung und Gewalterfahrung und helfen ihnen, nicht zu resignieren und psychisch aufzugeben, sondern ein Vertrauen in andere und sich selbst bzw. eine eigene persçnliche Zukunft wiederzugewinnen. Fr diesen therapeutischen Prozess ist das Verstehen der erlittenen Traumatisierungen, der je eigenen ganz persçnlichen Lebensgeschichte und Lebenswelt auch schon in diesem frhen Lebensalter unverzichtbar. Nur wenn das Kind seine eigene Geschichte als zu ihm gehçrig anerkennen und trotz aller Verzweiflung und des Leidens daran akzeptieren kann, ist die Basis einer Selbstentwicklung gegeben. Entwicklungsspezifische Phantasien kçnnen dann von kindlichen Realitten unterschieden werden, wie wir anhand der transvestitischen Symptombildung von Max kurz erwhnt haben. Der individuelle, verstehende und empathische Blick auf das individuelle Schicksal jedes einzelnen Kindes ist aus psychoanalytischer Sicht die Voraussetzung, dass es zwischen dem oft tragischen Schicksal seiner Eltern und sich selbst als Kind unterscheiden und sich dadurch aus der hufigen Parentifizierung ansatzweise befreien und seine eigene Kindheit zurckgewinnen kann. Diese Sichtweise fhrt uns, wie wir dies in anderen Zusammenfassungen der Frankfurter Prventionsstudie ausfhrlich diskutiert haben (vgl. u. a. Leuzinger-Bohleber, Fischmann u. Staufenberg, 2007), zu einer skeptischen Einstellung sowohl gegenber modische Einheitsdiagnosen wie AD/HS als auch gegenber einer medikamentçsen Behandlung durch Ritalin und andere Amphetamine. Zwar kann eine medikamentçse Behandlung (wie auch bei Max) nach sorgfltiger fachrztliche Abklrung in Einzelfllen durchaus indiziert sein, vor allem um eine eskalierende psychosoziale Situation zu be-

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ruhigen. Doch ist als Nachteil zu bedenken, dass das hoch wirksame Medikament die individuellen psychosozialen Ursachen der aktuellen Anpassungsstçrung des Kindes verdunkelt und dem verstehenden Zugang verschließt. So wird kaum mehr festzustellen sein, ob ein bestimmtes Kind mit seinem unaufmerksamen, hyperaktiven Verhalten auf eine akute oder erlittene Traumatisierung reagiert, manisch einen Verlust einer wichtigen Bezugsperson abwehrt, das Aufwachsen mit einer depressiven Mutter zu bewltigen versucht, als Hochbegabtes Langeweile berspielt, gegen eine ihm fremde Pdagogik protestiert oder wirklich ein hirnorganisches Problem zum Ausdruck bringt. Ritalin hat bei all diesen verschiedenen Kindern den erwnschten Effekt: Es wird sozial nicht mehr auffallen, es gliedert sich »stçrungsfrei« ein. Zudem, und dies konnten wir in diesem Rahmen nicht diskutieren, scheint uns eine langfristige Medikamentenvergabe sowohl psychisch als auch hirnphysiologisch eine der wichtigsten Entwicklungschancen zu vergeben, nmlich die Erfahrung, dass ein Kind – aus eigener Kraft bzw. mit Untersttzung ihm zugewandter Bezugspersonen – lernt, mit seinen vorhandenen (psychischen und hirnphysiologischen) Problemen kompensatorisch umzugehen. Dadurch wird weder die (seelische) Resilienz noch die Neoplastizitt des Gehirns fr eine kompensatorische, produktive Entwicklung des Kindes genutzt. Stattdessen wird es in sein Selbstbild einbauen, dass es fr sich und seine Umwelt nur ertrglich ist, »wenn es das Medikament geschluckt hat«. Sobald die Wirkung des Medikaments nachlsst, kommt die eigene Unfhigkeit, Affekte, Sinneseindrcke und Phantasien produktiv zu steuern und zu kontrollieren, wieder zum Vorschein. Zugespitzt formuliert nehmen wir dadurch dem Aufwachsenden die Mçglichkeit, sukzessiv zum Herrn oder zur Frau seines eigenen Hauses zu werden. Solche kompensatorischen seelischen und hirnphysiologischen Vernderungen kçnnen, so der bisherige Stand des Wissens, allerdings nur durch intensive, emotionale Erfahrungen, z. B. im Rahmen einer (therapeutischen) Einzelbetreuung oder eines intensiven Trainings erreicht werden (vgl. dazu u. a. Doidge, 2007). Doch haben wir versucht zu diskutieren, dass auch die weniger intensiven »Bausteine« unseres Prventionsprogramms sinnvolle Angebote darstellten. Sie erreichten die Gesamtheit aller Kinder und nicht nur die ca. 3 % ex-

124 Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Judith Lebiger-Vogel trem gefhrdeter Kinder mit einem »violent attachment pattern« (Fonagy, 2007). Alle Kinder, aus allen verschiedenen familiren und kulturellen Milieus brauchen empathische Zuwendung, Verstndnis, Fçrderung ihrer je individuellen Begabung und psychosoziales Lernen. Die Supervisionen, die wçchentliche Arbeit der Psychologinnen und Pdagoginnen in den Kindertagessttten, die Elternarbeit und das Gewaltprventionsprogramm »Faustlos« – sowie die Einzeltherapien bei den besonders bedrftigen Kindern – fhrten dazu, dass – statistisch gesehen – sowohl die ngstlichkeit als auch die Aggression sowie die Hyperaktivitt (allerdings nur bei Mdchen) in den Interventionsgruppen verglichen mit den Kontrollgruppen abnahmen und das soziale Klima in diesen Kindergruppen insgesamt verbessert werden konnte. Dies ist ein wichtiges Gesamtergebnis der Studie: Frhprvention lohnt sich! Angesichts der stndig auseinanderklaffenden Schere zwischen Kindern mit Kindheiten, die ihnen alle Tore fr ihre Zukunft zu çffnen scheinen und solchen, die kaum eine Kindheit erleben und schon bei der Einschulung als »Verlierer« dastehen, scheint uns dies ein wichtiges politisches Signal. Daher sind wird der Polytechnischen Gesellschaft, der Crespo Foundation und der Zinkann Stiftung dankbar, dass sie uns ermçglichen, die ermutigenden Ergebnisse der Frankfurter Prventionsstudie im Folgeprojekt »Start-Hilfe« dauerhaft zu implementieren, d. h. auch anderen Frankfurter Kindertagessttten anzubieten.

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Rolf Haubl und Katharina Liebsch

»Wenn man teufelig und wild ist« Funktion und Bedeutung von Ritalin in der Sicht von Kindern

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivittsstçrung (ADHS) ist gegenwrtig eine der am hufigsten gestellten Diagnosen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Leitsymptome – Mangel an ausdauernder Konzentration, Impulsivitt und Hyperaktivitt – haben gravierende Auswirkungen auf das Leben der Symptomtrger und ihrer Mitmenschen. Da ist auf der einen Seite der unmittelbare Leidensdruck von Kindern und Jugendlichen, die sich nur eingeschrnkt selbst kontrollieren kçnnen und dadurch in der Verfolgung eigener Ziele behindert sind. Auf der anderen Seite stehen ihre PeerGruppen und vor allem die Erwachsenenwelt samt ihrer Institutionen, die Druck machen, damit sich die »gestçrten Stçrer« den geltenden Normen sozialer und institutioneller Integration anpassen. Auch wenn die betroffenen Kinder und Jugendlichen bereits in frhen Jahren auffllig geworden sind, so ist es der bergang von der Familie in den Kindergarten und mehr noch in die Grundschule, der zum Konfliktfeld wird. In der Wahrnehmung der Eltern und des außerfamiliren Erziehungs- und Lehrpersonals werden in dieser Zeit erste Weichen fr die gesellschaftliche Verteilung von Lebenschancen gestellt, was Hoffnungen auf sozialen Aufstieg, aber auch Angst vor sozialem Abstieg in der Generationenfolge mobilisiert (Haubl, 2007, S. 169 – 180). Obwohl die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst an ihren Symptomen leiden, heißt dies nicht, dass eine »natrliche« Konvergenz zwischen ihren Zielen und den Zielen der Erwachsenen bestehen wrde. Deshalb ist die Behandlung einer diagnostizierten AD[H]S unauflçsbar in die Erziehung des minderjhrigen Nachwuchses eingebettet. Die Legitimation, es handele sich um medizinisch notwendige Interventionen, verdeckt, dass die gewhlten Interventionen

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zugleich Erziehungspraktiken sind. Im Extremfall setzen die Erziehungsberechtigten und ihre Stellvertreter ihre eigenen Vorstellungen von einem Erfolg versprechenden Leben mit Hilfe der Diagnose und der aus ihr abgeleiteten therapeutischen Interventionen bei ihren Kindern durch, ohne diese an den relevanten Entscheidungen zu beteiligen. Dies ist besonders problematisch, wenn die Therapie einzig in einer Behandlung mit Psychopharmaka besteht, weil Medikamente dazu verleiten, auf eine Sinn verstehende Auseinandersetzung mit den aufflligen Verhaltensweisen zu verzichten (Haubl u. Liebsch, 2008).

Die Konstruktion von Diagnosen Die Prvalenz der AD[H]S betrgt 5 – 10 % (Biederman, 2005), wobei unterschiedliche Schtzungen zum Teil auf den Gebrauch unterschiedlicher Kriterienlisten zurckgehen. In der Regel werden die Diagnosesysteme ICD-10 oder DSM-IV-TR angewendet, aber selbst die gewichten die beobachteten Symptome unterschiedlich. Da die AD[H]S somit ausschließlich »klinisch« diagnostiziert wird, ist grçßte Sorgfalt bei der Abklrung erforderlich, wenn ein entsprechender Verdacht besteht. Als Diagnosen kçnnen primr »einfache Aktivitts- und Aufmerksamkeitsstçrung« oder »Aufmerksamkeitsstçrung ohne Hyperaktivitt« vergeben werden. Ihre Vergabe soll nach strengen Leitlinien erfolgen, die inzwischen vorliegen. Diese Leitlinien verlangen ein diagnostisches Gesprch mit dem Kind und seinen Eltern ber die aktuelle Symptombelastung sowie ber deren Entwicklung seit dem ersten Auftreten der Symptome. Hinzuzunehmen sind die Ergebnisse testpsychologischer Untersuchungen sowie Beobachtungen aus verschiedenen außerfamiliren sozialen Situationen, allen voran die Schule. Zu einem sorgfltigen Diagnoseprozess gehçren weiterhin die Ausschließung mçglicher Differentialdiagnosen sowie die Feststellung von Komorbiditten (Biederman et al., 1991, 1992). So wird bei nahezu drei Vierteln aller AD[H]S-Kinder und -Jugendlicher eine weitere Stçrung diagnostiziert, was das Problem des Kausalnexus aufwirft: Bestehen die komorbiden Stçrungen unabhngig vonein-

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ander oder bedingen sie einander, falls ja, welche der Stçrungen bedingt welche? Am hufigsten sind Depressionen und Angststçrungen. Am meisten Furore machen aber Kinder und Jugendliche mit der Diagnose einer »Hyperkinetischen Stçrung des Sozialverhaltens« (AD[H]S mit einer zustzlichen »Oppositionellen Stçrung«). Denn es sind Kinder und Jugendliche, vor allem Jungen, mit einer enormen Aggressivitt und Gewaltbereitschaft, die sich einer reibungslosen sozialen Integration widersetzen. Je mehr Untersuchungen zur Komorbiditt durchgefhrt werden, desto mehr verschwindet die AD[H]S als eine eigenstndige nosologische Einheit (Barkley, 2003). Die Diagnose einer Krankheit ist der diagnostizierten Krankheit nicht ußerlich (Hacking, 1999). Krankheiten – verstanden als Erkenntnisgegenstand – werden im Prozess der Erkenntnis nicht weniger »erfunden« als »entdeckt«, weshalb die beanspruchte Objektivitt faktisch die reliable Anwendung eines intersubjektiven Kategoriensystems ist. Ein solches System markiert bestimmte Verhaltensweisen als auffllig, wobei dies nur gelingt, wenn fr diese Verhaltensweisen eine bestimmte Verteilungsnorm angelegt wird, die durchaus strittig sein kann, weil deskriptive Normen nicht ohne Rekurs auf wertbezogene Normen zu haben sind, mithin stets die Frage nach einem gesellschaftlich bevorzugten Lebensstil aufwerfen. Ein Blick in die Geschichte der Psychiatrie gengt, um zu sehen, dass und wie sich die Kategoriensysteme im Laufe der Zeit verndern, und das nicht nur aufgrund wissenschaftlichen Fortschritts, sondern – ihm eingeschrieben – als Folge einer Vernderung der gesellschaftlichen Verhltnisse. So gesehen sind psychiatrische Diagnosen das kontingente Ergebnis eines psychiatrischen Diskurses, der im Moment der Akkreditierung einer Diagnose dazu tendiert, den – kontroversen – Konstruktionsprozess still zu stellen und in Folge dessen sein Ergebnis zu verdinglichen, um es gegen Kritik zu immunisieren (vgl. fr das ICD10: Schneider et al., 1993). Damit geht eine Enthistorisierung der beobachteten psychosozialen Aufflligkeiten einher, die dann nicht lnger als »Antworten« auf spezifische Lebensumstnde erscheinen. Insbesondere trifft dies zu, wenn neuropathologische Ursachen angefhrt werden, um die Aufflligkeiten zu erklren. Ohne Frage haben genetische Faktoren eine disponierende Wirkung auf symptomatisches Verhalten. Bei der AD[H]S ist das nicht

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anders (Tannock, 1998; Faraone u. Doyle, 2001). Daraus folgt aber keine monokausale Verursachung. Vielmehr sind komplexe und variable Wechselwirkungen mit exogenen Faktoren, vor allem mit psychosozialen Belastungen, wahrscheinlich. Es gibt keinen sachlichen Grund, anzunehmen, dass solche Faktoren lediglich den Ausprgungsgrad der AD[H]S beeinflussen wrden. Um einem biomedizinisch-psychiatrischen Reduktionismus vorzubeugen, bedarf es deshalb einer Diagnostik, die sich um eine (lebens- wie sozialgeschichtliche) Rehistorisierung der diagnostizierten Stçrung bemht (Jantzen u. Lanwer-Koppelin, 1996) und fr unterschiedliche Pathogenesen offen hlt.

Der psychosoziale Gebrauch von Diagnosen Diagnosen sind weit mehr als medizinische Handlungsanweisungen fr Erfolg versprechende therapeutische Handlungen. Wird eine Diagnose gestellt, so hat alleine dieser Sachverhalt sprbare Auswirkungen auf den Symptomtrger und seine Mitmenschen. Diagnosen, vor allem solche, hinter denen eine biomedizinisch-psychiatrische Erklrung steht, haben zumeist eine psychisch entlastende Funktion. Oftmals wirkt bereits die Benennung, weil damit Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen, die ihren Eltern rtselhaft sind, sozial kategorisiert werden (Klasen, 2000): Sie erhalten von Experten einen Namen, der suggeriert, dass die aufflligen Verhaltensweisen bekannt sind und hufiger vorkommen. Die Diagnose besttigt die Wahrnehmung der Eltern: Irgendetwas stimmt mit ihren Kindern nicht. Sie mssen sich nicht schmen, wenn sie so ber sie denken, und sie brauchen auch keine Schuldgefhle zu haben, wenn sie nicht mit ihnen zurechtkommen. Dass die Kinder und Jugendlichen kaum zu bndigen sind, erleben andere Eltern genauso. So kçnnen die Eltern mit der Diagnose selbstbewusster all denen entgegentreten, die ihnen bisher Vorwrfe gemacht haben, sie htten ihren Nachwuchs nicht im Griff. Zudem erweckt die Diagnose den Anschein, jetzt, wo die Experten wissen, woran die Kinder und Jugendlichen erkrankt sind, wissen sie auch, was therapeutisch zu tun ist. Diagnosen erzeugen eine Kontrollillusion, die Gefhle der Ohnmacht dmpft. Dadurch gewinnen die Eltern an Spielraum zurck: Sie rgern sich weniger ber

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ihr Kind, weil es ja nichts dafr kann, wenn es sich keine Grenzen setzen lsst. Ob die Diagnose den Eltern eine psychische Entlastung bringt, hngt nicht zuletzt davon ab, wie die Experten zu der Diagnose stehen. Lassen sie durchblicken, dass sie selbst ob deren Brauchbarkeit skeptisch sind und das biomedizinisch-psychiatrische Erklrungsprinzip verwerfen, oder fllen sie ihr diagnostisches Urteil mit großer Selbstverstndlichkeit und Gewissheit? Und wie steht die ffentlichkeit dazu: Ist die Diagnose breit anerkannt oder gibt es eine Kontroverse? Wenn ja, kçnnen Eltern verunsichert werden. Dann verliert die Diagnose ihre entlastende Funktion. Oder aber die Eltern berspielen ihre Verunsicherung, indem sie sich an die umstrittene Diagnose als eine geheime Wahrheit klammern. Viele von ihnen bleiben im Zwiespalt. Sie frchten, dass die Stigmatisierung ihres Kindes aufgrund seines stçrenden Verhaltens von einer stigmatisierenden Diagnose abgelçst wird. Wenn eine Krankheitsdiagnose die Funktion einer psychischen Entlastung erfllt, ist damit zu rechnen, dass ein Bedrfnis entsteht, diese Diagnose zu erhalten. Fr die AD[H]S lsst sich ein solches Bedrfnis annehmen. Vermutlich ist die Zahl der schweren AD[H]SFlle ber die Jahre gleich geblieben, whrend die Zahl der diagnostizierten Kinder zugenommen hat, die vergleichsweise nur wenige und schwach ausgeprgte Symptome zeigen. Da es keine objektive Grenze zwischen »krank« und »gesund« gibt, weist jeder Diagnoseprozess eine Grauzone auf, in der die Beliebigkeit der Kategorisierung zunimmt.

Ausweitung der Diagnose AD[H]S und ihrer Medikation Knapp die Hlfte der Kinder mit einer AD[H]S-Diagnose erhalten Psychostimulanzien. Bezogen auf den Lebenslauf erfolgen die meisten Verordnungen fr das Alter zwischen neun und zwçlf Jahren. Insgesamt liegt die Zahl der medikamentçs behandelten Kinder weltweit ber zehn Millionen. Sowohl bei der Hufigkeit, mit der die AD[H]S-Diagnose gestellt wird, als auch bei der Hufigkeit, mit der bei entsprechend gestellter Diagnose eine psychopharmakologische Behandlung erste Wahl ist, gibt es international große Unterschiede. An der Spitze stehen neben

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den USA, in denen am schnellsten zu den Medikamenten gegriffen wird, Lnder wie Kanada, Australien und Norwegen. Whrend die Medikamente 1993 lediglich in 13 Lndern eingesetzt wurden, sind es inzwischen weit mehr als fnfzig Lnder. Deutschland gehçrte bisher zu den gemßigten Lndern. Dem neuesten Bericht des Bundesinstituts fr Arzneimittel und Medizinprodukte sind jedoch unglaubliche Steigerungsraten zu entnehmen: So hat der Verbrauch zwischen 1993 und 2006 um 3591 Prozent (zit.nach Spiegle-online 22/2007), von 34 Kilogramm auf 1221 Kilogramm zugenommen. Kommentatoren der Gesundheitspolitik warnen dann auch vor einer Verordnung berhçhter Dosen und vor einer laxen Indikationsstellung. Die Sorgen sind nicht unbegrndet. Da Psychostimulanzien auch das Leistungsvermçgen von »gesunden« Kindern steigern hilft (Diller, 1998), ist zu befrchten, dass in (unbekannt) vielen Fllen die Prparate gar nicht als Medikamente gebraucht werden, sondern einer psychopharmakologischen Verstrkung »normaler« (kognitiver) Funktionen dienen. Fr eine medikamentçse Intervention steht inzwischen eine ganze Reihe von Psychostimulanzien in verschiedenen Verabreichungsformen zur Verfgung. Am hufigsten werden Psychostimulanzien mit dem Wirkstoff Methylphenidat – Ritalin oder das Retardprparat Concerta – eingesetzt. Deren Wirksamkeit steht außer Frage. Mehr noch: Die »Multimodal Treatment Study of ADHS« (MTA Cooperative Group, 2004a, 2004b) hat an einer Stichprobe von 597 Kindern in sechs Zentren, die 14 Monate behandelt und 24 Monate begleitet worden sind, belegt, dass die Verabreichung von Psychostimulanzien im Vergleich mit Placebos sowie verschiedenen psychologischen Interventionen berlegen ist. Bei 68 bis 80 Prozent der Kinder verringern sich die Symptome so weit, dass sie nicht mehr die Stçrungskriterien der Diagnosemanuale erfllen. Bei einem nicht unerheblichen Teil der Kinder verlieren sich diese Besserungen allerdings nach Beendigung der Medikation! Je nachdem, mit welchen Interessen man diesen Befund interpretiert, kann er entweder als Beleg dafr dienen, dass medikamentçse Interventionen die Mittel der Wahl sind, um eine chronische Erkrankung wie die AD[H]S erfolgreich zu behandeln – auch Zuckerkranke nehmen ein Leben lang Insulin; oder er belegt, dass es zustzlicher psychologischer Interventionen bedarf, um eine nachhaltig Verringerung der Symptome

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zu erreichen, die es den Betroffenen mit der Zeit erspart, weiterhin Medikamente einzunehmen, ber deren Langzeit-Nebenwirkungen bis heute kein sicheres Wissen vorliegt. Aufgrund solcher Unsicherheiten empfehlen gemßigte Psychopharmakologen fr alle psychischen Stçrungen des Kindes- und Jugendalters nicht nur medikamentçse Interventionen, sondern kombinierte Behandlungsplne (Remschmidt, 2001): Erscheint das Aufmerksamkeitsdefizit als das hauptschliche Problem, so sollte zunchst eine psychosoziale Intervention (Lernfçrderung, Psychoedukation, Psychotherapie) erprobt werden. Wenn dagegen bei einem – mindestens sechsjhrigen – Kind eine stark ausgeprgte, in verschiedenen sozialen Situationen auftretende Hyperaktivitt mit einer massiven Beeintrchtigung seiner altersspezifischen sozialen Integration hinzukommt, ist eine (zustzliche) medikamentçse Intervention zu erwgen. Der Gebrauch von Psychostimulanzien, die bei Vorliegen bestimmter Komorbiditten durch weitere Medikamente ergnzt werden kçnnen (Wiesegger et al., 2007), sollte vorsichtig geschehen: Unbedingt geboten sind eine schrittweise Aufdosierung bis zu der Tagesdosis und deren Verteilung ber den Tag, die das Alltagsleben am wenigsten beeintrchtigt, sowie grçßtmçgliche Wachsamkeit bezglich aller mçglichen Nebenwirkungen. Wenn es sozial – und das heißt meist: mit Blick auf die Schule – vertretbar ist, werden Medikamentenpausen (am Nachmittag, am Wochenende, in den Ferien) ausdrcklich empfohlen. Desgleichen sollte zweimal im Jahr der Versuch unternommen werden, das Medikament unter rztlicher Begleitung abzusetzen, um den bisherigen Behandlungsplan samt der Diagnose wiederholt zu berprfen. Dazu ist es notwendig, dass alle an der Behandlung beteiligten Erwachsenen – Eltern, Lehrer, Therapeuten – ihre Beobachtungen austauschen und mit den Selbstbeobachtungen des Kindes abgleichen. Wie weit diesen Empfehlungen in der Praxis gefolgt wird, bleibt unklar.

AD[H]S – eine neurobiologische Ich-Schwche? Was die neurobiologischen Ursachen der AD[H]S betrifft, so ist bis heute vor allem im Laiendiskurs die These weit verbreitet, die Symptome seien die Folge eines Mangels an Dopamin. Diese These besitzt

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den Charme einer einfachen Vorstellung: Mangel lsst sich dadurch beseitigen, dass der Stoff zugefgt wird, an dem es mangelt, und zwar genau in der ermangelten Menge. Psychostimulanzien wirken deshalb, weil sie Dopamin freisetzen. Es ist diese Mangelvorstellung, welche zu der immer wieder gehçrten Analogie mit Diabetes fhrt: Insulingaben kompensieren Insulinmangel und beseitigen so die Symptome der Diabetes. Die aktuellen neurobiologischen Modelle sind lngst ber diese These hinaus (Hther, 2008). Ihnen zufolge dient das dopaminerge System der Verarbeitung von neuen Reizen, ußeren und inneren. Wird Dopamin ausgeschttet, befçrdert dies die neuronale Vernetzung. Dabei ist vor allem die neuronale Vernetzung im Frontalhirn wichtig, weil sie eine Erregungskontrolle durch die Bildung von Erregungsmustern bzw. intrapsychischen Reprsentanzen ermçglicht. Ist zu viel Dopamin vorhanden, wird die neuronale Vernetzung forciert, ohne dass es zu einer Stabilisierung der angebahnten Erregungsmuster kommt. Auf Verhaltensebene zeigt sich dies in fortlaufenden Sequenzen angefangener und wieder abgebrochener explorierender Aktivitten, wie sie bei Kindern und Jugendlichen mit einer AD[H]S zu beobachten sind. Da das dopaminerge System bei neuen Reizen anspringt, fhrt eine anhaltende berflutung des sich entwickelnden Gehirns mit neuen Reizen zu einer ansteigenden Dopaminausschttung, die eine Strukturierung des Frontalhirns verhindert, wodurch die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht fhig sind, sich selbst zu kontrollieren. Es entsteht eine konstitutionelle Ich-Schwche. Da die Frontalhirnentwicklung nicht vor dem zwçlften Lebensjahr abgeschlossen ist, haben Reizberflutungen lange Zeit massive Auswirkungen auf die neurobiologische Konstitution des Subjekts. Die Ich-Strke von Kindern und Jugendlichen ist kein genetisches Schicksal. Auch wenn es genetische Unterschiede in der DopaminBasisrate gibt, so wird die Ausschttung von Dopamin doch durch den verfgbaren Reizschutz bestimmt, wobei der Schutz in einer Dosierung neuer Reize besteht, die auf den Entwicklungsstand der Erregungskontrolle abgestimmt ist: Eine entsprechende Abstimmung macht es den Kindern und Jugendlichen mçglich, sich einer steigenden Dichte und Intensitt neuer Reize auszusetzen, ohne dass es zu einer Destabilisierung der gebildeten Erregungsmuster und damit

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zu einem Zusammenbruch der intrapsychischen Reprsentanzen kommt. Sieht man von Bedingungen einer angeborenen Reizbarkeit ab, so ist der notwendige Reizschutz eine soziale Leistung, die in den frhen Lebensphasen berwiegend von den Eltern und anderen signifikanten Bezugspersonen erbracht werden muss (Fonagy et al., 2004). Streng genommen reicht die zu erbringende soziale Leistung weit in die vorgeburtliche Zeit zurck. Versagt der Reizschutz, bleibt das (im Frontalhirn materialisierte) Ich schwach. Dass die Frontalhirnentwicklung bis zum zwçlften Lebensjahr nicht abgeschlossen ist, hat auch eine gute Seite: Denn so lange besteht die Chance, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Oral eingenommene niedrig dosierte Psychostimulanzien bieten einen Reizschutz, indem sie die Dopaminausschttung auf neue Reize hemmen. Dadurch bringen sie das symptomatische Verhalten der betroffenen Kinder und Jugendlichen zum Verschwinden, zumindest solange, wie die Medikation erfolgt. Der Verweis auf die genetische Disposition des dopaminergen Systems wird vor allem in seiner populrwissenschaftlichen Erklrungsvariante im Rahmen einer strikten Entgegensetzung von Natur und Kultur verstanden: Das Genom eines Menschen ist seine Natur, die in keiner Wechselwirkung mit der Kultur steht, in der er lebt. Diese Dichotomie gilt zwar in der neurobiologischen Grundlagenforschung, die das Modell eines »gebrauchsabhngigen Gehirns« (Perry et al., 1998) favorisiert, lngst als berholt. Dennoch wird an ihr gerne festgehalten, weil sie es zum einen erschwert, handelnde Menschen bzw. die Handlungen von Menschen wie etwa Eltern fr die Aktivierung des dopaminergen Systems ihrer Kinder verantwortlich zu machen; zum anderen, weil sie alle Bemhungen als nutzlos, aber kostspielig delegitimiert, die darauf gerichtet sind, durch die bewusste Gestaltung einer die psychische Gesundheit fçrdernden Mit- und Umwelt, der Entstehung von Symptomen vorzubeugen.

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Mçgliche psychosoziale Nebenwirkungen der Medikation Uns sind keine Untersuchungen bekannt, denen zu entnehmen wre, von welchen Faktoren in konkreten Einzelfllen die Entscheidung fr eine psychopharmakologische Behandlung abhngt. Auf Seiten der Eltern sind neben einer generellen wertrationalen Ablehnung von Psychopharmaka vor allem die befrchteten Nebenwirkungen der Faktor, der zu Vorbehalten fhrt, die nicht selten auch dann weiter bestehen, wenn sie einer psychopharmakologischen Intervention zugestimmt haben, um die familire und vor allem die schulische Situation zu entspannen. Dabei geben zunchst nur diejenigen Nebenwirkungen zu denken, die auf dem Beipackzettel stehen. Zu bedenken sind aber weit mehr Nebenwirkungen. Auch alle nicht intendierten psychosozialen Auswirkungen der Medikation gehçren dazu. Angenommen, die Einnahme des Medikaments fhrt bei einem Kind zu einer Steigerung seiner kognitiven Leistungen, es schreibt sich diese Steigerung aber nicht selbst zu, sondern dem Medikament; oder angenommen, die tgliche Einnahme des Medikaments wird zu einem Kampf der Eltern mit ihrem Kind, der allen Beteiligten an die Nerven geht; oder angenommen ein Kind schmt sich vor seinen Freunden dafr, dass es das Medikament nehmen muss, und hat stndig Angst, die anderen erfahren davon: Solche Belastungen gehen in die Risikokalkulation eines Medikaments (Breggin, 1999) erst gar nicht ein. Jede medikamentçse Behandlung ist ethisch verpflichtet, dem Patienten zu ntzen und ihm nicht zu schaden – oder verhltnismßiger: ihm mehr zu ntzen, als ihm zu schaden. An welchem Kriterium aber sollen Nutzen und Schaden gemessen werden? Symptomfreiheit reicht nicht aus. Ein anspruchsvoller Kandidat fr dieses Kriterium ist die Lebensqualitt des Kindes, die freilich nicht ohne Rckgriff auf Wertvorstellungen eines gelingenden Lebens bestimmt werden kann. Damit Lebensqualitt keine abstrakte Grçße bleibt, muss sie auf den Alltag der Betroffenen bezogen sein. Auch dazu wird bislang nicht systematisch geforscht (Whalen, 1985). Wir wissen kaum etwas darber, wie Familien mit AD[H]S-Kindern ihr tagtgliches Medikamenten-Monitoring praktizieren. Dabei hat bereits die Wir-

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kungsweise des jeweils eingenommenen Prparates bestimmte Auswirkungen auf die Gestaltung des familiren Lebens, weil Kinder und Eltern lernen mssen, ihre aktuellen Handlungsplne mit dieser Wirkungsweise abzugleichen: Da Ritalin als Kurzzeitprparat mehrmals am Tag eingenommen werden muss, ergibt sich auch mehrmals am Tag in der Familie eine Situation, die an die Behandlungsbedrftigkeit des Kindes erinnert. Wenn empfohlen wird, die Verabreichung zu ritualisieren, dann vorderhand, um das Risiko zu senken, die Einnahme des Medikaments zu vergessen. Gleichzeitig sorgt eine Ritualisierung aber dafr, dass die Einnahme selbstverstndlich und damit dem Bewusstsein entzogen wird. Vor allem in Familien, in denen keine Einigkeit ber die Notwendigkeit einer medikamentçsen Behandlung besteht, ist jede Einnahme ein kritisches Ereignis, an dem bestehende Ambivalenzen offen sichtbar werden kçnnen. Wenn die Pharmaindustrie an der Erfindung von Langzeitprparaten arbeitet, deren Ultima Ratio ein Depot mit einer zeitlich nicht begrenzten Abgabe des Wirkstoffes ist, arbeitet sie auch an der Beseitigung der Mçglichkeit, die einmal getroffene Entscheidung tglich zu berprfen. Dass die Medikation aus einer Entscheidung resultiert, die prinzipiell anders ausfallen kann, wird auf diese Weise unsichtbar. So sind denn unter den – gut 10 % – Kindern, die in einer Untersuchung (Bowen et al., 1991) das Medikament am liebsten absetzen wrden, ausschließlich solche, die ein Kurzzeit- und kein Langzeitprparat erhalten.

Familires Medikamenten-Monitoring Eine strikte Realisierung rztlicher Verordnungen ist eher die Ausnahme. Selbstmedikation gehçrt zu den ubiquitren Ereignissen in der Arzt-Patient-Beziehung. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Compliance fr eine medikamentçse Behandlung der AD[H]S insgesamt recht gering ist, aber eine große interfamilire Variation aufweist (Swanson, 2003). Deren Grnde sind bislang nicht systematisch erforscht. Zu diesen Grnden gehçrt das Wissen der Eltern, zumindest ihre Ahnung, dass sich ihre Wahrnehmung der Situation nicht zwangslufig mit der Wahrnehmung ihrer Kinder deckt (Efron

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et al., 1998; McNeal et al., 2000; Klassen et al., 2006). Meist schtzen die Eltern den Nutzen des Medikaments hçher ein als ihre Kinder. Viele Eltern befinden sich in einem ethischen Dilemma, was psychoparmakologische Interventionen betrifft (Hansen u. Hansen, 2006), wobei es genau genommen in der Regel nicht die Eltern, sondern die Mtter sind, die sich dem Dilemma stellen. Sie wrden ihren Kindern gerne zu einer Befreiung ihres »wahren Selbst« verhelfen, sind sich aber unsicher, ob sie nicht das Gegenteil bewirken, heißt: zu deren Selbstentfremdung beitragen (Singh, 2004, 2005). Denn Untersuchungen lassen vermuten, dass das MedikamentenMonitoring in der Familie hauptschlich in ihre Zustndigkeit fllt. Es sind die Mtter, die fr eine regelmßige Einnahme sorgen und gegebenenfalls die Entscheidung treffen, die Dosierung zu verndern. Vter beteiligen sich anscheinend nicht nur weniger an der praktischen Umsetzung der rztlichen Verordnung, sie tolerieren auch eher das symptomatische Verhalten ihrer Sçhne als typisches Verhalten von »richtigen« Jungen. Und das nicht nur, weil sie sehr viel weniger und berdies hauptschlich freie Zeit mit ihnen verbringen, so dass sie sehr viel weniger elterlichen Disziplinierungsstress erleben; nein, manche von ihnen verteidigen dabei eine idealisierte – auf ihre Sçhne projizierte – Vorstellung von Mnnlichkeit, die sie durch eine psychopharmakologische Behandlung bedroht sehen (Singh, 2003).

Medikamente als Bedeutungstrger – Medikation als Kommunikation Entgegen einer objektivistischen Betrachtung, die Medikamente lediglich als chemische Substanzen betrachten, die kontextfrei wirken, ist die Verordnung und Einnahme von Psychopharmaka tatschlich immer ein kommunikativer Akt. Sie wirken eben nicht nur als chemische Substanzen, sondern auch als Bedeutungstrger, sonst gbe es keine Placebowirkung (vgl. Harrington, 1997). Joachim Kchenhoff (2005) pldiert deshalb zu Recht fr eine beziehungsdynamisch reflektierte Psychopharmakologie, die sich besonders fr die Gedanken, Vorstellungen, Phantasien und Gefhle interessiert, die eine psychopharmakologische Behandlung hervorruft. Denn sie beeinflussen die Handhabung des Medikaments, vielleicht sogar seine Wirkung.

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Wird Ritalin als Bedeutungstrger verstanden, dann kommt es darauf an, welche Bedeutung das Medikament im Einzelfall hat, wobei damit zu rechnen ist, dass nicht alle Bedeutungen offen zu Tage liegen, sondern auch mit bewusstseinsferneren Bedeutungen zu rechnen ist. So kann einem Kind seine psychopharmakologische Behandlung nicht nur bedeuten, dass ihm die Erwachsenen helfen wollen, sich besser zu fhlen. Unter Umstnden erlebt es den Gang zum Arzt, nachdem es zum wiederholten Male seinen Eltern großen rger gemacht hat, als Bestrafung. Oder es erlebt das Medikament von vornherein als Instrument zur Erreichung ußerer Ziele, wenn es die schlechten Noten sind, die bei der Begrndung der Einnahme im Vordergrund stehen. Die Chance, solche Bedeutungen zu erfassen, haben die Erwachsenen, seien es rzte oder Eltern, freilich nur dann, wenn sie die Kinder von vornherein zu Wort kommen lassen, ihnen zuhçren und sie ernst nehmen. Es ist geboten, ein betroffenes Kind ber seine Diagnose und Therapie aufzuklren – es soll wissen, warum es die Erwachsenen fr behandlungsbedrftig halten, warum die Behandlung medikamentçs erfolgt, wie die Medikamente wirken und wie sie verantwortungsbewusst zu handhaben sind. Eine solche Aufklrung bençtigt Zeit, um sie kindgerecht durchzufhren, weil sie den Bedeutungen folgen muss, die das Kind all dem zuschreibt, wie phantastisch sie den Erwachsenen auch vorkommen mçgen. Nun ist eine Beteiligung der Kinder an allen Entscheidungen, die sie betreffen, wie sie die UN-Kinderrechtskonvention vorsieht (Vereinte Nationen, 1994), freilich leichter gefordert als angemessen realisiert. Denn sofort stellt sich die Frage, ob Kinder denn berhaupt in der Lage sind, zu beurteilen, was ihnen gegenwrtig und fr ihre weitere Entwicklung gut tut und was nicht. Oder modifiziert: Ab welchem Alter und ab welchem Informationstand sind sie es? Solange Erwachsene, rzte und Eltern, es besser wissen, gebietet es ihnen ihre professionelle oder persçnliche Frsorgepflicht, stellvertretende Entscheidungen fr die Kinder zu treffen, um Schaden von ihnen abzuwenden, auch wenn die Kinder selbst diese Entscheidungen nur widerwillig oder gar nicht akzeptieren. Kinder an den Entscheidungen zu beteiligen, heißt nicht, sie ihnen zu berlassen, solange sie damit berfordert sind. Nur darf das Argument der berforderung den Erwachsenen nicht dazu dienen, sich von vornherein einen zeit-

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aufwndigen Verstndigungsprozess zu ersparen. Gelegenheitsbeobachtungen aber lassen vermuten, dass dies oft geschieht – nicht zuletzt deshalb, weil eine Verstndigung die Erwachsenen berfordert. Besonders Eltern sind schnell berfordert, weil sie wissen oder zumindest ahnen, dass hinter vermeintlich pragmatischen Entscheidungen moralische Dilemmata lauern.

Ritalin im Alltag: Projektbeschreibung Im Folgenden stellen wir erste Ergebnisse aus einem laufenden Projekt qualitativer Kindheitsforschung vor, das von der Kçhler-Stiftung finanziert wird. Leiter des Projekts, das am Sigmund-Freud-Institut angesiedelt ist, sind der Autor und die Autorin dieses Aufsatzes. Getragen wird es von einer interdisziplinren Arbeitsgruppe (studentischer) wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.1 Das Projekt verfolgt sozialwissenschaftliche Interessen. Im Unterschied zu pdagogischen und psychotherapeutischen Perspektiven geht es weniger darum, Empfehlungen fr Betroffene zu erarbeiten, das Zusammenwirken von physiologischer und psychologischer Wirkung eines Medikaments zu erfassen oder die Medikation der AD[H]S allgemein zu kritisieren oder zu befrworten. Was uns interessiert, sind subjektive Vorstellungen und soziale Reprsentationen (Flick, 1994, 1998): Wie deuten Jungen, die – aufgrund einer AD[H]S-Diagnose – tglich Psychostimulanzien einnehmen, ihr Leben mit dem Medikament? Wie setzen sie diese Deutungen aus dem, was sie von ihren Eltern und anderen Erwachsenen hçren, und ihren eigenen berlegungen zusammen? Was sagen die Erfahrungen dieser speziellen Gruppe von Kindern ber Sozialisation und Erziehung in einer modernen Gesellschaft aus?

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Das sind Simon Dechert, Sebastian Jentsch, Armin Nikodemus, Daniela Otto, Elke Salmen, Eva Snger, Inge Schubert und Benjamin Vogt.

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Stichprobe Es sind bislang sechzig Interviews mit Jungen zwischen sieben und 14 Jahren durchgefhrt worden, die alle Psychostimulanzien einnehmen. Die Kontakte mit den Jungen kamen ber verschiedene Aufrufe und ber Hçrensagen zustande, wobei geregelt war, dass sich die Eltern bei uns melden mussten, wenn sie an der Untersuchung teilnehmen wollten. Wir sind nicht offensiv an sie herangetreten, um so viel Freiwilligkeit wie mçglich zu gewhrleisten. Die teilnehmenden Eltern, bis auf wenige Ausnahmen die Mtter, haben wir gebeten, uns nur zuzusagen, wenn sie das Einverstndnis ihre Kinder erhalten, sich interviewen zu lassen. Vor Ort ist das Einverstndnis der Jungen dann noch einmal eingeholt worden. Htten sie es nicht gegeben, wren die Interviewerinnen und Interviewer wieder gegangen. Um die Kinder nicht unnçtig zu verunsichern, haben fast alle Interviews in vertrauten Umgebungen stattgefunden: die meisten im Elternhaus, manche auch in der Schule. Als erkennbare Motivation der Mtter, das Projekt zu untersttzen, ergab sich, mehr wissenschaftliches Wissen ber die AD[H]S und deren medikamentçse Behandlung zu erlangen, nicht selten verbunden mit der Hoffnung, Wege fr zuknftige Generationen zu finden, um auf Psychopharmaka verzichten zu kçnnen. Und spezieller: die einen, um sich von uns besttigen zu lassen, dass sie richtig handeln, wenn sie ihren Kindern Tabletten geben, und dass sie gar keine andere Wahl haben, wollen sie den Familienfrieden und die Zukunftschancen ihres Nachwuchses retten; die anderen, um ihre Ambivalenzen darzustellen. In allen Fllen war es den Mttern sehr wichtig, das sichere Gefhl zu haben, dass wir sie wegen der Medikation ihrer Jungen nicht vorverurteilen. Eine Bedingung fr das Interview war, mit den Kindern alleine zu sprechen und auch nachher die Eltern nicht darber zu informieren, was gesprochen worden ist. Manche Eltern haben damit Schwierigkeiten gehabt. Lieber wre es ihnen gewesen, bei dem Interview dabei zu sein, einige aus der Befrchtung heraus, ihre Kinder kçnnten etwas Falsches sagen, wobei »falsch« gelegentlich als »kritisch gegenber den Eltern« konnotiert war. Auch gab es Eltern, die sich sorgten, ob nicht whrend des Interviews die Wirkung des Medikaments nachlassen

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kçnnte und dann kein Gesprch mehr mçglich sei. In einem Fall bot die Mutter sogar eine Nachdosierung an.

Interviewfhrung Die Interviews sind als themenzentrierte Interviews durchgefhrt worden. Themenzentriert heißt: Es wird eine Liste von Themen aufgestellt, die alle angesprochen werden, aber in variabler Reihenfolge, die sich an der Relevanzstruktur der interviewten Jungen orientiert. – Wie erleben sie selbst ihr symptomatisches Verhalten? – Halten sie sich fr krank? – Auf welche Ursachen fhren sie selbst ihr symptomatisches Verhalten zurck? – Von wem erhalten sie welche Informationen ber die AD[H]S? – Wie verarbeiten sie diese Informationen? – Was versprechen sie sich selbst von der Einnahme des Medikaments? – Wie erleben sie seine Wirkung und Nebenwirkungen? – Wie integrieren sie ihre Medikation in ihren Alltag? – Was bedeutet es fr ihr Selbstverstndnis, auf das Medikament angewiesen zu sein? Die Interviewdauer war sehr unterschiedlich: von zwanzig Minuten bis ber eine Stunde. Viele der Jungen haben sich viel lnger konzentrieren kçnnen als erwartet. Bei wenigen haben wir im Nachhinein den Eindruck, dass sie berfordert gewesen sind. Die Mehrheit hat das Interview nicht nur pflichtschuldig absolviert, sondern es erkennbar genossen, so viel Aufmerksamkeit von einem Erwachsenen fr ihre Gedanken und Gefhle zu erhalten. Das Vorhaben, qualitative Interviews mit Kindern durchzufhren, gestaltet sich schwieriger als bei Jugendlichen und Erwachsenen (Heinzel, 1997; Fuhs, 2000). Insbesondere das Alter der Kinder, genauer: die an das Alter gebundene Kompetenz, einem Fremden eigene Erfahrungen zu berichten, stellt eine wichtige Einschrnkung eines solchen methodischen Vorgehens dar. Wir haben uns in der For-

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schungsgruppe darauf vorbereitet: zum einen durch eine Aufarbeitung der Forschungsergebnisse ber die kognitive Entwicklung von Kindern, insbesondere was ihre Krankheitskonzepte betrifft (Johnson u. Wellman, 1982; Lohaus, 1993; Dreher u. Dreher, 1999), zum anderen durch den Einsatz von Interviewerinnen und Interviewern, die im Umgang mit Kindern gebt sind. Aufgrund der großen Variationsbreite des kognitiven Entwicklungsstands bei gleichem Alter der Kinder ist das Wissen um eine altersgemße Kompetenz nur annherungsweise hilfreich. Als sehr viel wichtiger hat sich die Fhigkeit der Interviewerinnen und Interviewer erwiesen, ihre Interviewfhrung flexibel den situativen Verstndigungsmçglichkeiten anzupassen. Die Erwachsenen haben eine freundliche und besttigende Haltung gegenber den Kindern eingenommen: Die befragten Jungen werden als Experten ihrer selbst und ihrer Lebenswelt angesprochen. Deshalb erklren ihnen die Interviewerinnen und Interviewer, dass die Erwachsenen noch viel zu wenig wissen, was die Kinder darber denken, dass sie die Medikamente einnehmen. Sie, die Erwachsenen, mssen deshalb viele Fragen stellen und die Kinder bekommen Gelegenheit, ihnen alles zu sagen, was sie ihnen sagen wollen. Eine wichtige Voraussetzung fr ein erfolgreiches Interview ist die Bereitschaft des erwachsenen Interviewers, die Statusumkehr zu akzeptieren: Whrend es blicherweise die Erwachsenen sind, die Kindern die Welt erklren, verlangt es die gewnschte Interviewfhrung, eine Atmosphre herzustellen, welche die Kinder davon berzeugt, dass sie die Wissenden sind. Es zeigt sich, dass es alles andere als selbstverstndlich ist, dass dies gelingt (Fuhs, 1999). So sollen sich die Fragen der Interviewerinnen und Interviewer an die Sprache der Kinder (Hausendorg, 2001) anpassen, ohne Kindlichkeit zu imitieren, und vor allem kurz und przise gestellt werden. Auch wenn sich die Interviewerinnen und Interviewer daran halten, antworten viele Kinder erst einmal mit »Ich weiß nicht«. Damit kann ganz Unterschiedliches angezeigt werden: von einer momentanen Unlust, Antwort zu geben, ber die Angst, eine falsche Antwort zu liefern, weil die Fragen als Prfungsfragen erlebt werden, bis hin zu einer tatschlichen kognitiven berforderung. Anfangs haben sich die Interviewerinnen und Interviewer durch diese Formel sehr unter Druck gesetzt gefhlt, was zu ausfhrlichen Erklrungen der eigenen

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Frage und dadurch zu einer weiteren Verkomplizierung gefhrt hat. Verlangt ist die Kunst, solches »Nicht-Wissen« gelassen hinzunehmen und den Kindern zu signalisieren, dass es sein darf. Dazu gehçrt auch, nicht zu lange Pausen entstehen zu lassen, da Kinder dieses Schweigen der Erwachsenen nicht als Gewhrung eines Denk-Raums, sondern eher als Bestrafung erleben. Wichtig ist zudem, sich als Interviewerin oder Interviewer klar zu machen, dass Kinder, je jnger sie sind, krzere Antworten geben, als es Jugendliche und Erwachsene tun, auch dann, wenn die Kinder gebeten werden, ihre Erfahrungen zu erzhlen. Mit zunehmendem Alter und zunehmender narrativer Kompetenz ndert sich das, so dass die Interviewer weniger zu strukturieren brauchen (Bouke et al., 1995). Da es fr Kinder generell nicht so leicht ist, handlungsentlastet zu sprechen, bedarf es auf Seiten der Interviewerinnen und Interviewer einer großen Toleranz fr assoziierte kçrperliche Bewegungen. Sie drfen sie nicht als stçrend behandeln, sondern mssen sie als notwendige Bedingung des Gesprchsverhaltens der Kinder akzeptieren. Hilfreich ist eine mçglichst variationsreiche Interviewfhrung, die spielerische Ablenkungen und Pausen erlaubt. Auch der Einsatz von Zeichnungen, deren Anfertigung die Kinder durch lautes Denken begleiten, hat sich bewhrt. Alles in allem haben die Interviewerinnen und Interviewer viel Haltearbeit zu leisten gehabt.

Auswertung Die Auswertung der Interviews erfolgt fallrekonstruktiv. Sie werden transkribiert und anschließend sowohl vertikal als auch horizontal interpretiert. Whrend sich die vertikale Interpretation jedes Interviewtranskript unter zustzlicher Bercksichtigung der szenischen Beobachtungen, die eine Interviewerin oder ein Interviewer vor, whrend und nach der Durchfhrung des Interviews gemacht und protokolliert hat, einzeln Sinn verstehend vornimmt, vergleicht die horizontale Interpretation die Interviewtranskripte miteinander. Vergleichsgrundlage sind verschiedene fallrekonstruktive Perspektiven, die sich anhand der Probeinterviews ergeben haben. Die ußerungen der Jungen werden wie folgt gebndelt: – Vorstellungen ber die eigene Person (Selbstbild),

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– Vorstellungen ber die eigene Familie und die familiren Beziehungen (Familienbild), – Vorstellungen ber die Schule (Schulbild), – Geschlechtsrollenvorstellungen (Mnner- und Frauenbild), – Normalitt und Devianz (Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen), – Emotionsregulation, – (Phantasmatische) Bedeutung des Medikaments, – Zentrale Kategorien des jeweiligen individuellen Denksystems (Leit- und Verdichtungsbegriffe), – Erzhlmuster (lebensgeschichtliche Transformation: vor der Medikation, seit der Medikation und in Zukunft). Nachdem die ersten Interviews von der ganzen Forschungsgruppe durchgearbeitet worden sind, um ein gemeinsames Verstndnis der einzelnen fallrekonstruktiven Perspektiven zu entwickeln, wird fr alle weiteren Interviews ein sparsameres Verfahren angewendet: Jedes Mitglied der Forschungsgruppe arbeitet alleine eine Reihe der Interviews durch, die es selbst nicht gefhrt hat, und erstellt eine Gesamtinterpretation, rubriziert nach den verschiedenen fallrekonstruktiven Perspektiven. Jede dieser Gesamtinterpretationen wird von einem anderen Mitglied der Forschungsgruppe, das das Interview ebenfalls nicht gefhrt hat und auch das Interviewtranskript nicht kennt, auf interpretatorische Evidenz hin gegengelesen. Interpretationspassagen, die nicht als evident erscheinen, werden markiert und mit Verstndnisfragen versehen. Diese Verstndnisfragen versucht der Interpret dann in einem zweiten Durchgang durch das Interviewtranskript zu beantworten, was dazu fhrt, dass er seine Interpretation berarbeitet. Nur diejenigen Flle, bei denen Interpreten und Gegenleser den Eindruck gewinnen, dass eine Verstndigung nicht mçglich ist, werden der ganzen Forschungsgruppe bergeben, die in besonderen Sitzungen differente Lesarten zu klren versuchen. Auf diese Weise entsteht im Laufe der Zeit ein Korpus von sechzig als gltig anerkannten Einzelinterpretationen, die dann vergleichend weiter interpretiert werden kçnnen. Eines der Ziele dabei ist eine typologische Reduzierung des Korpus. Im Folgenden werden die Umrisse von drei Typen vorgestellt, die sich beim derzeitigen Stand

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der Auswertung abzeichnen. Zwar kommen alle Themen in allen Interviews vor, aber doch mit so unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, dass eine Typologisierung erlaubt sein drfte.

Das Medikament als gutes Objekt – drei Formen positiver Reprsentation Ritalin als Bedeutungstrger zu verstehen heißt zum einen, in Erfahrung zu bringen, welche Bedeutung das Medikament fr das jeweilige Kind, seine Eltern, seine Geschwister und Freunde hat. Zum zweiten gilt es, die psychosozialen Auswirkungen der Medikation samt eventuellen Schuld- und Schamgefhlen oder auch Verunsicherungen, die im Zusammenhang mit dem Medikamenten-Monitoring auftreten, in den Blick zu nehmen. Drittens schließlich ist jede Medikation mit der Erwartung von Nutzen, Erleichterung und Verbesserung der Lebensqualitt verbunden. Welche konkreten Vorstellungen dabei wirksam werden, hngt nicht zuletzt von gesellschaftlichen Werten und Normen wie auch von deren Chancen auf Realisierung im spezifischen Alltag der Betroffenen ab. Um die variierenden Bedeutungsmçglichkeiten der Medikation zu veranschaulichen, werden im Folgenden drei Typen einer positiven Objektreprsentation des Medikaments vorgestellt und beschrieben.2 Positiv sind sie aus der Sicht der befragten Kinder, gleich, wie diese Sicht zustande gekommen ist. Die folgende Darstellung will dabei als eine erste, textnahe Auswertung verstanden werden, in der noch keine systematische und voraussetzungsvolle Interpretation der Interviews vorgenommen wird. Vielmehr geht es uns hier zunchst darum, die Bandbreite der ußerungen und Erzhlweisen in strukturierter Form vorzustellen. Der berwiegende Teil der interviewten Jungen nimmt morgens eine Tablette ein, die bei einigen nach Bedarf durch die Einnahme einer weiteren Tablette am frhen Nachmittag ergnzt wird. Dabei besttigt sich die in der oben diskutierten Literatur formulierte Ver2

Darber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe von negativen Objektreprsentationen, die hier jedoch nicht zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden sollen.

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mutung, dass das Medikamenten-Monitoring in der Familie berwiegend in die Zustndigkeit der Mtter fllt. Sie sorgen fr eine regelmßige Einnahme und treffen gegebenenfalls die Entscheidung, die Dosierung zu verndern. In den Erzhlungen der von uns Befragten beteiligen sich Vter kaum an der praktischen Umsetzung der rztlichen Verordnung. Auch sind sie, so wird von vielen Jungen berichtet, dem symptomatischen Verhalten ihrer Sçhne gegenber toleranter als die Mtter. Sie sehen, so berichten die Befragten, ihre Sçhne als »richtige« Jungen und schtzen sie auch als genau diese. »Papa«, sagt ein Interviewter, »mag mich auch, wenn ich wild bin«; oder umgekehrt: Zwei andere Jungen schtzen an ihrem Vater, dass »er nicht darber [ber die Symptomatik und/oder die Medikation] spricht« und stattdessen viel mit ihnen »macht«. Zumeist sind auch die Klassenlehrerinnen ber die Medikamenteneinnahme informiert und untersttzen sie, z. B. durch Nachfragen auf Klassenfahrten, und mahnen bei Bedarf auch gelegentlich eine zustzliche Dosierung an. Den Mitschlerinnen und Mitschlern hingegen ist die Medikation nicht durchgngig bekannt. Ihnen gegenber ist sie teilweise ein gut gehtetes Geheimnis, wird in anderen Fllen jedoch auch offensiv vertreten und von den Klassenkameraden akzeptiert. Viele der Befragten haben Geschwister, die auch Ritalin oder ein vergleichbares Prparat einnehmen und auch diese Familienhnlichkeit wird von den interviewten Jungen unterschiedlich gesehen: Fr einige etabliert sich ber diese Gemeinsamkeit Normalitt und Alltglichkeit, andere betonen die Unterschiede zwischen den Geschwistern trotz der gemeinsamen Diagnose und Medikation, wiederum andere fhlen sich deshalb stigmatisiert. Alle befragten Kinder berichten, dass die regelmßige Einnahme von Tabletten sie zu etwas Besonderem macht. Drei positiv akzentuierte Formen der Funktion, Bedeutung und Wirkung medikamentçser Interventionen, die sich in den Interviews zeigen, sollen im Folgenden veranschaulicht werden.

1. Die Tablette als Mittel sozialer Befriedung (Peacemaker) Ein erster Typus der kindlichen Reprsentation der Funktion und Bedeutung des verabreichten Medikaments hebt dessen soziale Relevanz und Wirkungsweise hervor. So spielt bei einem Großteil der

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befragten Jungen die Vorstellung eine wichtige Rolle, dass die Tabletten dabei helfen, familiren Frieden herzustellen und Konflikte mit anderen Personen – Erziehungsberechtigten und Gleichaltrigen – zu vermeiden. Der siebenjhrige Sylvester bringt diese Bedeutung auf den Punkt, indem er das ihm verabreichte Ritalin durchweg als »Liebtablette« bezeichnet. Ohne Tabletten, so erzhlt er, sei er »bçse«. Dies zeige sich vor allem darin, dass er hufig Auseinandersetzungen mit seiner Mutter hat: »Ja, ich rgere-, hier, manchmal schimpfe ich mit meiner Mama, schimpfe und schimpfe manchmal. Manchmal streite ich mit meiner Mama mich, manchmal streiten wir uns.« Wenn Sylvester bçse ist, fhlt er sich »nicht toll«. Nachdem er die Tabletten genommen hat, wird er »noch ein bisschen bçse«, aber dies lege sich dann allmhlich. Wenn sein Kçrper, wie er sagt, »richtig reagiert«, wird er durch die Tabletten »lieber«. Dabei ist der Akt der Medikamenteneinnahme selbst ein Kampf, bei dem die Mutter ihm die Nase zuhlt und »den Lçffel rein steckt«. »Bçse« ist Sylvester auch, wenn er schlgt. Er berichtet von seiner »Bande«, vom Prgeln und von blauen Flecken. Relativierend merkt er an, dass er sich aber nicht hufig schlage. Vielmehr beschreibt er sich als einen »Ballerjungen« und einen »Kampfjungen«, der gerne Kriegsspiele, »Baller- und Kampfspiele« auf seiner Playstation spielt, eine Aktivitt, die ihm seine Mutter oft verbietet. Er teilt die Playstation-Spiele in »liebe« und »bçse« Spiele ein: »Manche Jungen sind lieb, die spielen liebe Playstation-Spiele, und manche Jungen, die spielen bçse Playstation-Spiele«. Mdchen werden von Sylvester als »lieb« attribuiert: »die Mdchen sind ja auch am liebsten«, deshalb, so meint er, mssten sie auch keine Tabletten nehmen. Auch die elterliche Anerkennung wird mit diesem Begriffsdualismus erfasst und so sagt Sylvester ber sein Verhltnis zu den Eltern: »Wenn ich lieb bin, dann finden die mich gut, wenn ich bçse bin, nicht. Wenn ich bçse bin, finden die mich so ein bisschen gut.« Hier zeigt sich, dass die medizinische Diagnose, die Sylvester brigens nicht zu benennen weiß, von ihm in den Kontext von sozialen und familiren Beziehungskonstellationen gestellt wird, also auf Phnomene bezogen ist, die in der Regel nicht in einer medizinischen Begrifflichkeit gefasst und wahrgenommen werden. Bei ihm gert das familire Konfliktpotential zur »Stçrung« und wird zur »Krankheit«.

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So gesehen, lsst sich das Medikamenten-Verstndnis von Sylvester als »Medikalisierung« (vgl. Zola, 1972; Conrad, 1981, 1992, 2005) fassen: als Wahrnehmung sozialer Probleme in medizinischen Termini. Dazu passt auch, dass die US-amerikanische interaktionstheoretische Medizinsoziologie, die sich fr Prozesse des »Labeling« von Verhaltensformen in medizinischen Begrifflichkeiten interessiert, schon 1980 eine Verschiebung »von der Bçsartigkeit zur Krankheit« (Conrad u. Schneider, 1980) beschrieb, was der kindlichen Ausdrucksweise von Sylvester einen theoretischen Rahmen gibt. Diese kritische Perspektive betont, dass die medizinalisierte Darstellung bestimmter sozialer Probleme nur eine Realittsdeutung unter mehreren ist und darber hinaus neue Formen sozialer Kontrolle mit sich bringt; eine Erfahrung, die Sylvester in dem tglichen Procedere der Medikamenteneinnahme nur allzu genau zu beschreiben weiß. Eine zweite, etwas anders ausgerichtete Form der Konfliktregulierung und sozialen Anpassung zeigt das Beispiel des zehnjhrigen Michael. In der Erzhlung von Michael geht es nicht wie bei Sylvester um die befriedende Wirkung des Medikaments im Umgang zwischen Mutter und Kind, sondern er thematisiert die Rolle des Medikaments bei der Regulierung und der Vermeidung von Streit mit seinen Peers, vor allem mit seinen Brdern und Mitschlern. Michael nimmt das Medikament drei Mal tglich: Nach dem Aufstehen, dann »so gegen elf« und nachmittags, wenn die Mutter ihn »daran erinnert«. Er nimmt es whrend des Tages selbst, bekommt von den Eltern die Tabletten mitgegeben und »drckt es sich dann selbst raus«. Den Namen des Medikaments kennt er nicht, und er weiß auch nicht sicher, seit wann er es nimmt und wer es ihm verschrieben hat. Gelegentlich vergisst er die Einnahme des Medikaments und wird durch Bezugspersonen, die ihn fragen, ob er sein Medikament genommen habe, daran erinnert, es zu nehmen. ber die Wirkung des Medikaments berichtet Michael in sachlich-distanzierter Form, indem er die Aufgaben und Funktionen der Medikation benennt: »Wie ich schon gesagt habe, sie soll beruhigen, ein bisschen wacher machen. Was noch? Ach ja, dass ich mich mehr konzentrieren kann. Und dann, dass ich nicht so wegen Kleinigkeiten so ausraste.« »Aber ich spr eigentlich nur, wenn ich zu Hause bin, wenn ich grad meine dritte Tablette nicht genommen haben, dass ich irgendwie von alles abgelenkt werde. Sonst eigentlich nichts.« Des Weiteren berichtet

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Michael, dass die Einnahme des Medikaments ihm dabei helfen soll, weniger aggressiv zu werden: »Ich weiß nur, dass es dafr da ist, dass ich mich ein bisschen mehr beruhige. Zum Beispiel we-, wenn die, wenn manchmal, wenn jemand beleidigt wird. Wenn man die Tablette zum Beispiel nicht nimmt und man hat so ne Art Problem, man wird beleidigt, kçnnte man ganz leicht einfach abgelenkt werden. Oder, oder man kçnnt, man kçnnte, wenn man wirklich beleidigt wird und man so was hat, dann kçnnte man eigentlich einen, auf ich, sozusagen, angreifen. Und wenn man die Tablette nimmt, kann man sozusagen sagen, ›he, das interessiert mich nicht‹. Lass doch das sagen ber mich, sozusagen. Er stimmt, kann, stimmt doch nicht.« Das Zitat zeigt, dass das Medikament bei der Regulierung von Konflikten (»wenn man wirklich beleidigt wird«) hilft und normgerechtes Verhalten untersttzt (man lsst sich nicht ablenken, »greift« nicht »an«). Es hilft dabei, Distanziertheit und Gelassenheit zu praktizieren (»kann man sozusagen sagen, ›he, das interessiert mich nicht‹«). Zudem sind es die anderen Kinder in seiner Umgebung, die ihn daran erinnern, dass er seine Tabletten nehmen soll. Sein Bruder »sprt irgendwie, dass sich etwas verndert«, wenn Michael vergessen hat, seine Tabletten zu nehmen. Auch sind es seine Freunde und Mitschler, die ihn darauf aufmerksam machen, dass die Tabletten eine Wirkung haben. Er sagt: »Die bemerken eigentlich, wenn ich die Tablette nehme oder nicht. Aber ich weiß nicht, ob die bemerken, we-, we-, wenn ich, we-, ob sich bei mir was verndert. Keine Ahnung, wie sie das bemerken. Sie, ich weiß nur, dass sie das bemerken, wenn ich sie nicht nehme. Das weiß ich daher, wo ich, wo ich einmal die Tablette nicht mehr genommen habe. Da haben sie wiederholend daran erinnert, dass ich die Tablette nehmen soll.« Der letzte Satz ist im Unterschied zu den sonstigen, eher suchenden und unvollstndigen Stzen und Formulierungen von Michael sprachlich auffallend przise und prsentiert das soziale Regulativ, das die Tablette darstellt: die soziale Erwartung, den Druck und die Aufforderung der anderen. Auch bei Michael zeigt sich, was in der Literatur als »Medikalisierung« sozialer Probleme beschrieben wird: »eine Art von Wissen und Wahrnehmung, die menschliche Phnomene in medizinischen Termini fasst, und so das Handeln von In-

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dividuen und die Organisation sozialer Institutionen leitet« (Council of Bioethics, 2003, S. 303).

2. Die Tablette als Mittel der Selbstkontrolle In der zweiten Variante positiver kindlicher Reprsentation der Medikation wird die Tabletteneinnahme als Mittel einer erforderlichen und erlernbaren Anpassung an die sozialen Erwartungen und Erfordernisse beschrieben. Die Tablette ist Bestandteil eines Sozialisierungs- bzw. Zivilisierungsprozesses, den die Beteiligten als mhsam, aber dennoch als unabdingbar und notwendig verstehen. Dabei lassen sich auch hier wieder zwei Arten von Ausprgungen ausmachen: eine, in der die Tablette als Medium der Selbstkontrolle fungiert, eine weitere, bei der die Tablette als Behelfsmittel und als von außen initiierte Fremdkontrolle verstanden wird. Das Beispiel des achtjhrigen Justus illustriert, wie die Medikation zu einem Mittel der Selbstkontrolle wird. Justus nimmt das Medikament seit drei Jahren regelmßig. Seiner Mutter war es wichtig, ihn vor dem Schuleintritt »einzustellen«, und Justus hat sich dieses Ansinnen zu eigen gemacht und nimmt, wie er mehrmals im Interview sagt, die Medikamente aufgrund seines eigenen Willens. Er erzhlt: »Ja, die Mutter hat gefragt, ›Willst du die nehmen?‹ Ich hab ›Ja‹ gesagt, ich will es erst mal ausprobieren, und dann hat es halt geklappt.« Zuvor, so berichtet Justus, sei er im Kindergarten dauernd aufgestanden und habe »rumgezappelt«. Dieses nicht regulierte Verhalten bewertet er selbst im Nachhinein als problematisch und er beschreibt, wie er zunchst die Einschtzung seiner Mutter bernommen hat: »Und dann hat die Mama gesagt, jetzt mssen wir mal was machen, und dann bin ich auch so, dann hat die Mama gesagt, jetzt mssen wir etwas machen, und dann hat die es probiert erst mal mit den Pillen und dann hat es geklappt.« Das erstmalig von der Mutter formulierte Ansinnen (»wir mssen mal was machen«, »dann hat die es probiert erst mal mit den Pillen«) wird von Justus bald zu einem eigenen Anliegen. Er fgt sich in die postulierte Notwendigkeit und erklrt sich bereit, es mit den Tabletten zumindest zu probieren. Die Probephase verluft nicht ganz unproblematisch, da Justus mit starker belkeit auf die Tabletten reagiert, die Pillen

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jedoch immer wieder einnimmt, so dass es dann irgendwann »halt geklappt« hat. Er hat seine kçrperlichen Widerstnde berwunden und kann nun die Tabletten bei sich behalten. Seitdem er die Tabletten nimmt, kann er sich besser bei den Hausaufgaben konzentrieren und muss nicht mehr »dauernd aufstehen und wegrennen«, wenn er sich mit einer Sache beschftigen mçchte. Er berichtet weiter, dass er, seitdem er die Tabletten nimmt, ruhiger sitzen und schreiben kann und berdies bessere Noten bekommt. Da er bereits im Kindergarten mit der Medikamenteneinnahme begonnen hat, gibt es bezglich der Auswirkung der Medikation auf seine Schulnoten fr ihn keinen Vergleichsmaßstab. So geht er wie selbstverstndlich davon aus, dass seine guten Schulleistungen mit dem Medikament zusammenhngen. Dies bestrkt ihn in der berzeugung von der »Richtigkeit« der Medikamenteneinnahme und verunsichert ihn zugleich in der Einschtzung seiner eigenen Fhigkeiten. Da er die Erfahrung macht, dass er ohne das Medikament alles »falsch schreibt« und anfngt »rumzuzappeln«, hat er die Vorstellung, dass ihm das Medikament dabei hilft, seine eigenen Ansprche zu verwirklichen. Justus hat seine Diagnose und seine Medikation akzeptiert und hlt es fr seine Aufgabe, sein Selbstbild daran anzupassen. Als er davon erzhlt, wie es zu der Einnahme der Tabletten gekommen ist, beschreibt er, dass sein ltester Bruder das Medikament bereits vor ihm genommen habe und er dann »irgendwie auch noch so geworden (ist), und dann habe ich die auch genommen«. Auf Nachfragen der Interviewerin, was er denn mit »geworden« meine, fhrt er weiter aus, dass seine Mutter festgestellt habe, dass er »irgendwie auch so« wie sein Bruder sei. Indem Justus zunchst davon spricht »so geworden zu sein« und zur Erluterung dieser Aussage die Fremdzuschreibung seiner Mutter benutzt (er sei »auch irgendwie so wie sein Bruder«), wird die Verinnerlichung und bernahme der Diagnose sichtbar. Aus einer anfnglichen Fremdzuschreibung wird eine Zustandsvernderung, die Justus an sich selbst erfhrt. Indem er von einem Werden und nicht von einem Sein spricht, artikuliert er die Mçglichkeit, sich weiter zu verndern, sich aufgrund eigener Steuerung seiner Verhaltensweisen zu entwickeln. Ein Entwicklungsfortschritt wird von Justus auch darin gesehen, dass er seine Probleme zu Beginn der Behandlung, die Tabletten

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»herunterzukriegen«, allmhlich zu kontrollieren lernt. Anfangs, so erzhlt er, war das zunchst schwierig: »Manchmal habe ich noch so ein Krubbeln im Bauch und es ist mir auch schon mal passiert, ich musste mehrmals davon kotzen, das war also noch in der ersten Klasse, und es krubbelt auch manchmal immer noch im Bauch, aber jetzt geht es wieder ein bisschen.« Auf die Frage, was er denn heutzutage mache, wenn ihm die Tablette hochkommt, sagt er lachend: »Da mach ich den Mund zu« und betont, wie wichtig es ihm ist, »normal« zu sein: »Ich bin auch ein Mensch, nicht anders als andere.« Justus erzhlt die Geschichte einer allmhlichen Selbstkontrolle, die er auf eine ihm eigene Art und Weise realisiert und darauf hinweist, dass es mehrere Wege und Mçglichkeiten gibt, »ein Mensch, nicht anders als andere« zu werden. Seine Zivilisierung vollzieht sich, so wie in der Zivilisationstheorie von Norbert Elias (1994, S. 342) beschrieben, im Rahmen einer »Verringerung der Kontraste, Vergrçßerung der Spielarten« – er erfhrt die Notwendigkeit, sich anzupassen und dass Unterschiede und Kontraste weniger sozial akzeptiert sind (»Verringerung der Kontraste«) und zugleich, dass die Wege und Mçglichkeiten, soziale Erwnschtheit zu erreichen, sich erweitern (»Vergrçßerung der Spielarten«). Auch ist seine Zivilisierung im Elias’schen Sinne geleitet von der Verschiebung von Fremdzu Selbstzwngen, einer Zunahme der Affektkontrolle, einem Anstieg der Scham- und Peinlichkeitsschwellen (Wenn ihm schlecht wird: »Da mach’ ich den Mund zu.«). Oder, um es mit Elias (1995, S. 383) zu sagen: durch eine »Vernderung des sozialen Habitus der Menschen in Richtung auf ebenmßigere, allseitigere und stabilere Selbstkontrollmuster«. Dabei spielt die Selbstkontrolle der kçrperlichen Regungen und Befindlichkeiten eine zentrale Rolle. Der Kçrper, auch das zeigt die Erzhlung von Justus, wird durch soziale Prozesse, wie zum Beispiel Medikalisierung oder Therapeutisierung, bestimmt. Kçrperlichkeit und Kçrperwahrnehmung reprsentieren, so gesehen, den fr einen bestimmten zivilisatorischen Teilprozess charakteristischen Schub (Klein u. Liebsch, 1997, S. 29). Zivilisierung kann jedoch, wie am Beispiel des achtjhrigen Harry veranschaulicht werden soll, auch auferlegt und durch systematische und anhaltende Fremdkontrolle erzielt werden.

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Harry bekommt seit einem Jahr unter der Woche morgens Medikinet verabreicht. Am Wochenende nimmt er die Tabletten nicht, was er als Freiheit, aber auch als Risiko begreift. Er hat ein bisschen Angst davor, die Tabletteneinnahme zu vergessen, weil er annimmt, dass er ohne das Medikament in der Schulpause »jeden schlagen« wrde. Die Tabletten bekommt er von seiner Mutter, die sie ihm auf einem Lçffel berreicht. Sie schmecken ihm nicht und er empfindet sie als bitter. Um den Geschmack zu verbessern, trinkt er immer Eistee vor und nach der Einnahme und lutscht Bonbons, »TicTac, 4 Stck«. Harry sagt, er habe »HDAS«, ein »Problem« bei dem man »teufelig und wild« ist. »Wild sein« bedeutet fr ihn, sein Spielzeug aus den Kisten zu reißen, weil ein »bisschen zu viel Aufregung« war und er sich dann mit anderen Kindern »prgelt und schubst«. Nach Harrys Verstndnis beginnt die Tablette zu wirken, wenn sein Magen anfngt zu knurren und er zur Toilette gegangen ist. Wenn er in der Schule angekommen ist, hat sich die Tablette in seinem Kçrper aufgelçst und bekmpft die »Bçsen«, die, so Harry, dafr verantwortlich seien, dass er »ausrastet«. Die Tablette bildet eine Mauer, welche die »bçsen Bakterien blockiert« und dafr sorgt, dass Harry »nicht ausrastet«. Die Bakterien lçsen sich nach und nach auf und verschwinden schließlich ganz. Wenn das Medikament aufhçrt zu wirken, bilden sich nach Harrys Vorstellung die Bakterien erneut. Sie bekommen Nahrung durch die Luft, die er einatmet und vermehren sich dann wieder. Ohne das Medikament, so seine Vorstellung, wrden die bçsen Bakterien die Mauer durchbrechen und zum »Ausrasterzentrum« gelangen und Harry wrde sofort aggressiv. Er wrde dann seine Klassenkameraden verprgeln, was er selber nicht mçchte. Zudem helfen ihm die Tabletten beim Rechnen und Schreiben. Aber auch Harry glaubt, dass er eines Tages, wenn er es schafft, einen Tag ohne Tablette zu berstehen, die Tabletten nicht mehr nehmen msste und er »selbst sein« zu kçnnen. Harrys Vorstellung seines Kçrpers, der kçrperlichen Ablufe und der Wirkungsweise des Medikaments illustrieren eine Anforderung, derzufolge die Kçrpernatur sozial reguliert werden muss und durch gesellschaftliche Kontrollinstanzen zivilisiert wird. Diese Kontrollinstanzen werden von ihm als ußere Mchte begriffen, die in den Kçrper eindringen und ihn ordnen. Erst wenn diese Fremdkontrolle

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berflssig wird, kann sich Individualitt, »selbst sein« etablieren, etwas, was auch Harry als ein Ziel und eine erstrebenswerte Fhigkeit beschreibt.

3. Die Tablette als Mittel der (schulischen) Leistungssteigerung (Enhancer) Der zehnjhrige Noel nimmt seit drei Jahren Medikinet und versteht die Einnahme der Tabletten als ein Mittel, um besser in der Schule zu werden. Er berichtet, dass er bei einem Intelligenztest in der Schule zwar sehr gut abgeschlossen habe – »Es ist festgestellt worden, dass ich ein Schlauer bin« –, er aber ohne Medikamente sein Schlau-Sein in der Schule nicht zur Wirkung zu bringen vermag. Ohne Medikament, sagt er, »geht es halt nicht bei mir, ich versuche es, aber es geht halt nicht. Ja, aber es geht halt nicht. Anstrengen, das geht auch nicht so gut, aber mit den Tabletten, da geht es halt besser«. Fr Noel hat die Tablette eine eindeutige Funktion: Sie ist »frs Konzentrieren«. Sie bewirkt, dass er besser aufpasst und besser mitbekommt, was die Lehrerin sagt. Er formuliert: »Ja, das ist halt ein Gefhl, das halt gut ist, weil ich merke, dass das Medikament hilft und dass ich nicht mehr soviel Quatsch mache. So wirkt das halt.« »Ich arbeite mit, verstehe mehr, ich werde ruhiger, denke nicht an andere Sachen.« »Und wenn ich die halt nicht nehme, dann beschweren sich auch die Lehrer, also ohne die geht fast gar nix.« Gleichzeitig nimmt Noel an, dass die Medikation ihm dabei hilft, sich fr das Gymnasium zu qualifizieren. Er kennt die Dosierung, spricht von den Unterschieden zwischen den »Dreißigern« und den »Vierzigern«. In den Schulferien nimmt er nur die »Dreißiger«. Diese hat er zur Sicherheit auch whrend der Schulzeit als Vorrat bei sich: »Davon haben wir noch welche brig und jetzt habe ich welche im Ranzen, falls ich die mal vergesse, kann ich die in der Schule nachnehmen.« Dass dieser zielgerichtete Mitteleinsatz einen Preis hat, weiß Noel zumindest als monetre Dimension zu benennen. Er erzhlt, dass die Tabletten »ja auch nicht grade billig« seien und fgt an: »zum Glck bezahlt es ja die Krankenkasse«. Fr Noel sind die Tabletten ein Behelf, um eine allgemeine Verbesserung seiner Schulleistungen zu erzielen. Untersttzt durch seine

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Mutter, die froh darber ist, dass sich Noels Aufmerksamkeit und seine Schulleistungen auf einem konstanten Niveau eingependelt haben, stellt sich fr Noel die Wirkung der Tablette vor allem so dar, dass er mit ihrer Hilfe sein Verhalten in der Schule zu kontrollieren und so eine Stabilisierung von Leistung und Verhalten zu erreichen vermag. Bei Noel verschwimmt die fr moderne Gesellschaften in den Bereichen Medizin, Psychotherapie und Pdagogik lange Zeit grundlegende und damit handlungsorientierende Unterscheidung zwischen Heilung (»therapy«) und Verbesserung (»enhancement«). Noel geht es sowohl um Heilung eines Leidens, das er als »Quatsch machen« und »An-andere-Sachen-denken-Mssen« beschreibt, als auch darum, einem kulturellen Erwartungshorizont (»Mitarbeiten«, »Aufpassen«) durch die Medikation besser als zuvor entsprechen zu kçnnen. Eine auf Heilung und Wiederherstellung zielende medikamentçse Therapie wird bei ihm berlagert von dem Ansinnen auf Verbesserung und Optimierung der mangelnden Fhigkeiten, die ursprnglich Anlass fr Diagnose und Medikation waren. So wie die Krankenkasse die Kosten des therapeutischen Ansinnens bernimmt, so weiß Noel die Wirkung der Medikation zu optimieren. Die »teuren« Medikamente werden aufbewahrt, um sie bei Bedarf »nachzunehmen«, also um jenseits von Arzt und Therapeut das eigene Verhalten in den Griff zu bekommen. Whrend sich bei Noel eine berlagerung von Therapie und Verbesserung in Richtung einer allgemeinen Stabilisierung seiner Leistung und seines situativ angemessenen Verhaltens zeigt, versteht der elfjhrige Andreas die Medikamenteneinnahme auch als Mçglichkeit, eine gezielte Leistungssteigerung zu erwirken. Andreas besucht ein humanistisches Gymnasium und nimmt die Tabletten gern, weil es ihm »damit gut geht«. Sein Wohlbefinden macht er an zwei Dingen fest: Zum einen verluft sein Aufenthalt in der Schule erfolgreich und reibungslos; er meldet sich, er hat noch nie eine schlechte Klassenarbeit geschrieben, er stçrt nicht, er passt gut auf und kann seinen Mitschlern den Unterrichtsstoff erklren. Ein Absetzen der Medikation ist fr ihn erst in drei bis vier Jahren vorstellbar, »weil ich muss noch wichtige Klassen machen«. Zum anderen schreibt er der Medikation auch seinen Erfolg als Fußballspieler zu. Spaß und Erfolg beim Fußballspiel ist ihm außerordentlich wichtig, er geht

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jeden Tag zum Training und verbringt die Sonntage zumeist mit einem Fußballturnier. Er befrchtet ein Absinken seiner fußballerischen Leistung, wenn er das Medikament nicht mehr nehmen wrde. Dies will er auf jeden Fall vermeiden, denn ihm gefllt sein Leben »gerade ziemlich gut«. Auf die Frage, wie er gern sein mçchte, wenn er groß ist, sagt er: »So wie ich bin. Besser geht es nicht.« Hier zeigen sich eine Wahrnehmung und Umgangsweise mit der Medikation, die eine unmittelbare Verbesserung des Kçrpers, seiner Funktionen und Leistungen unterstellt. Entgegen den berwiegend kritischen Stimmen im biopolitischen Diskurs zum Thema »Enhancement« (vgl. z. B. Council of Bioethics, 2003; Lenk, 2006) kann Andreas die (angenommene) optimierende Wirkung des Medikaments in sein Selbstbild integrieren und sie als einen legitimen, weil wirkungsvollen Bestandteil seiner selbst ansehen. Die Entgrenzung von »Therapie« und »Verbesserung« und das Verschwimmen der Unterscheidung von »Krankheit« und »Gesundheit« in Richtung einer auf Optimierung zielenden Medikation findet also, so zeigt das Beispiel, im Kontext einer medizinisch-therapeutischen Verabreichung und durch individuelle Verfgbarkeit gesteuert durchaus Akzeptanz.

Fazit Die drei vorgestellten Reprsentationen der Tablette illustrieren Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien kindlicher Verhaltensformen, die sich an naturalisierten, medizinalisierten Anforderungen ausrichten, gleichermaßen jedoch an gegenwrtig relevanten sozialen Erwartungen und Standards sowie an Merkmalen von Distinktion und sozialer Klassifizierung orientiert sind: Geistige und kçrperliche Leistungsfhigkeit, Unaufflligkeit des Verhaltens und Kontrolle der eigenen Kçrperlichkeit spielen eine zentrale Rolle. Die kindlichen Reprsentationen beziehen sich dabei zum einen auf existierende, feste und gewissermaßen substanzielle Normen und Kçrperbilder, zum anderen sind sie aber auch fließend, in einen Prozess des Entstehens und der Vernderung eingebunden und von dem bestndigen und anhaltenden Bemhen um Verbesserung, Anpassung und Kontrolle sowie von deutlichen Handlungsunsicherheiten und Verhal-

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tens- und Entscheidungszwngen begleitet. Eine Mischung aus dem Bestreben der Verbesserung des Gesundheitszustands, des individuellen Wohlbefindens, der sozialen Anerkennung und der Orientierung an Leistung sorgt dafr, dass schon die betroffenen Kinder Verantwortlichkeiten fr Gesundheitsrisiken bernehmen und sich fr die Regulierung wie auch die Prvention sozial angepassten Verhaltens zustndig machen lassen.

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Bildung als Beziehungsarbeit

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Sigmund Freud (1925) nannte in seinem Vorwort zu Aichhorns »Verwahrloste Jugend« drei »unmçgliche« Berufe: »Erziehen, Kurieren, Regieren« (S. 565). Was ist das Unmçgliche im Erziehen und im Kurieren? Ist es die Unerreichbarkeit diffuser, aber hochgesteckter Ziele? Die Unerfllbarkeit der Erwartungen? Die Widersetzlichkeit der Subjekte, denen Erzieher und Therapeut begegnen? All dies lsst sich behaupten, aber es kommt wohl noch hinzu, dass beide, Erzieher und Therapeut, nicht genau zu beschreiben wissen, was sie eigentlich tun, schon deswegen, weil sie selbst die Werkzeuge sein mssen, die zum Einsatz zu bringen sind, so dass sie, wenn sie ber ihre Arbeit nachdenken, sogleich auch ber sich selbst ins Grbeln geraten und niemals das Glck genießen drfen, ganz von außen auf ihre Profession und ihre Instrumente schauen zu drfen, wie dies die Juristen und die Steuerberater in Seelenruhe zu tun pflegen. So kommt es, dass wohl kein Berufsstand so ausgiebig und intensiv ber sich selbst nachdenkt wie Psychoanalytiker und Pdagogen. Geradezu unablssig veranstalten Psychoanalytiker Fachtagungen und Weiterbildungen, in denen sie ber die Frage nachdenken, wie es ist, ein Psychoanalytiker zu sein, und wie sie damit zurechtkommen, dass sie sich in das Schicksal ihres Patienten so sehr verstricken, dass sie oft Mhe haben, wieder herauszufinden aus der unbewussten Allianz mit ihm. Hat man je einen Juristen fragen hçren, wie es ist, ein Jurist zu sein? Wohl kaum, und ihn kmmert seine Beziehung zum Mandanten nur in seltenen Grenzfllen. Weil diese beiden unmçglichen Berufe, die des Pdagogen und die des Psychoanalytikers, nur ber wenig Handwerkszeug verfgen, das man definieren, vorzeigen und dessen Qualitt man prfen kann,

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endet die Ausbildung zum Psychoanalytiker auch nicht mit dem Erreichen klar definierter oder gar operationalisierter Lernziele, jedenfalls in der Hauptsache nicht, sondern in der Vergewisserung darber, dass der zu examinierende Kandidat neben seinem Wissen ber eine angemessene psychoanalytische Haltung verfgt, die ihn vermutlich in den Stand versetzen wird, mit einem Patienten psychoanalytisch zu arbeiten. »Er wird jemanden analysieren kçnnen«, so hofft sein Ausbildungsinstitut. Das ist im Akkusativ gesprochen, aber bei Lichte betrachtet nicht ganz korrekt. Denn wenn wir sagen, wir analysieren unseren Patienten, dann meinen wir doch eher, dass wir ihm eine Beziehung und unsere Deutungen anbieten, um ihm zu helfen, sich selbst besser zu verstehen. Denn so einflussreich unsere Mitwirkung in der Arbeit mit ihm ist, so entschieden verlangen wir von unserem Patienten, dass er seine Analyse selbst unternimmt. Ganz hnlich verlaufen Bildungsprozesse. Ebenso wenig, wie wir streng genommen sagen kçnnen, dass wir einen Menschen analysieren, ebenso wenig kçnnen wir davon sprechen, dass wir einen »Zçgling« »bilden«. Wir kçnnen ihn ausbilden, oder wir kçnnen ihn erziehen – es zumindest versuchen. Aber »Bildung« bezeichnet einen inneren Prozess der Reifung und des Lernens ohne vorgegebene Ziele (und unterscheidet sich damit von der Erziehung – darber spter mehr). Bildung ist Selbstttigkeit, Selbstentwicklung, die der andere anregend begleiten, aber nicht herbeifhren kann. Es finden sich also Gemeinsamkeiten zwischen dem »Bilden« und dem »Psychoanalysieren«, beide sind von außen nicht absichtsvoll steuerbar, nicht zielgerichtet, sondern wohlwollend begleitete Selbstentwicklung.

Bildung Mit Stolz drfen wir darauf hinweisen, dass der Begriff der »Bildung« nicht leicht in andere Sprachen bersetzt werden kann, und wenn wir in diesen Tagen nicht gerade selbst dabei wren, in der aktuellen Hochschulreform, in der Einfhrung »moderner« Studiengnge, den Gegenstand und die Ziele der Bildung bei uns abzuschaffen, dann

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kçnnten wir berheblich fragen, wie andere ohne diesen Begriff aus dem »Alten Europa« eigentlich auskommen kçnnen. Tatschlich grndet der Begriff der »Bildung« in der Deutschen Idealistischen Tradition. Zwar reichen seine Wurzeln mindestens bis ins Mittelalter zurck, dort war er theologisch geprgt, Bildung als Nachbildung des Menschen zur Gottesebenbildlichkeit. Naumann (2006, S. 24) weist darauf hin, dass »bildunge« im Wortschatz deutscher Mystiker im 14. Jahrhundert als Symbol der Gottesebenbildlichkeit des Menschen erschien. Im allgemeinen Sprachgebrauch aber tauchte der Bildungsbegriff erst Ende des 18. Jahrhunderts auf (Naumann, 2006, S. 17), da erschien »Bildung« als Vervollkommnung des Menschen, und im Deutschen Idealismus (Fichte) machte sich das Individuum selbst zum Gegenstand der Bildung, das Ich wurde zum eigenen Werk des Subjektes: Ich bilde mich! Ziel der Bildung wurde also das sich selbst bestimmende Individuum und seine vollkommene Persçnlichkeit. Als Meilenstein gilt die 1810 von Humboldt gegrndete Universitt im Geiste Fichtes, Schleiermachers und Schellings. Diese erste moderne Bildungsanstalt zog gegenber der alten Universitt des 17. und 18. Jahrhunderts zweierlei Grenzen: (1) In berwindung der mittelalterlichen Vorstellung von einer Universitt, die vor allem das bestehende (theologische) Wissen zu archivieren und zu besttigen hatte, sollte die moderne Universitt zur Reflexion anregen, wissenschaftliche Erkenntnis hatte sich im Zweifel an der Wahrheit und in der Begrndungspflicht der Behauptungen zu erweisen. Deswegen wurde die Philosophie auch zur Kçnigsdisziplin und Grundlage fr Juristen, Mediziner und natrlich auch Theologen. (2) Diese modernen Bildungsziele (Zweifel an der Wahrheit statt Affirmation des immer schon Verkndeten, Begrndungspflicht wissenschaftlicher Behauptungen) ermçglichten zunchst einen gewaltigen Aufschwung der Wissenschaften im »Alten Europa«, gerieten dann aber zunehmend in Vergessenheit. Demgegenber wirkt eine zweite Abgrenzung sehr nachhaltig bis in die Moderne: Bildung unterscheidet sich fundamental von Ausbildung, also von fachlicher Qualifikation mit einem unmittelbar verknpften Verwertungsinteresse. Dieses Spannungsverhltnis prgt die Bildungsdiskussion bis heute. Schon Schiller (1790) unterschied – ausdrcklich polemisch formuliert – zwischen einem »philosophischen Kopf« und einem »Brodge-

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lehrten«. Whrend jener seine Bemhungen auf die »Vollendung des Wissens« richte, sammle dieser, der Brodgelehrte, »im Blick auf vermutete Forderungen seines Berufs« seine Kenntnisse mit »kmmerlicher Genauigkeit« und dem Ziel, »seine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen«, bis er »in ewigem Geistesstillstande das unfruchtbare Einerlei seiner Schulbegriffe htet.« Schillers Vorstellung von einer Bildung meinte vor allem eine sthetische Erziehung, wie Naumann (2006) schreibt, und sie stand damals schon durchaus im Gegensatz zu den staatlichen Erziehungsaufgaben etwa an den Hochschulen. Fr ihn, fr Friedrich Schiller war Bildung ein Hort der individuellen, v. a. der knstlerischen Freiheit, jenseits der materiellen Interessen, eine »Freiheit des Herzens, des Wissens, der sthetischen Empfindsamkeit« (S. 23). Diese Bildung galt als eine Voraussetzung politischer Freiheit, sie war nicht mit ihr verschrnkt und hielt sich auf Distanz zu ihr. Bei Hegel dann tauchte der gebildete Brger als Subjekt des modernen Staates auf, Bildung hatte nun eine kulturelle Integrationsleistung zu vollbringen, das war eine »Politisierung« des Bildungsbegriffs. Im Bildungsbrgertum des spten 19. Jahrhunderts verschrnkte sich dann Gebildetheit, politisches Interesse und wirtschaftliches Vermçgen. Diese Synthese – so die Meinung Naumanns – zerbrach Anfang des 20. Jahrhunderts. Bildung wurde wieder zur sthetischen, musischen und knstlerischen – vielleicht auch historischen – Bildung, aber sie trennte sich von konomie und der Technik. Der Anspruch der konomie und der Technik aber zielte und zielt nicht auf Bildung, sondern auf Erziehung. Es scheint, als habe die aktuelle Hochschulreform mit Bachelorund Master-Studiengngen diese Debatte vorerst beendet – zuungunsten der Humboldt’schen Bildungsidee von der Selbstentfaltung, und die Entwicklung drngt weiter in Richtung auf Erziehung, die berdies sehr strikt unter Kostengesichtspunkten zu organisieren sein wird. Unter dem Diktat eines Interesses nach einem effektiven und effizienten Bildungssystem (wir kçnnen uns noch nicht angewçhnen, von »Erziehungssystem« zu sprechen, obgleich das angemessen wre), musste die idealistische Idee einer Bildung dem Primat der ntzlichen, also beruflich verwertbaren Qualifikation weichen. Die Effizienzerwartung durchfhrt die Universitten und sie wird die »drittmittelschwachen« Geistes- und Sozialwissenschaften schon noch auskmmen.

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brig blieb eine romantische Erinnerung an einen idealistischen Bildungsbegriff, der – ausschließlich in Deutschland – immer noch in unseren Bildungsdebatten herumgeistert. Selbst an den Universitten haben sich Reste erhalten: Das »studium generale«, das den reflexiven, selbstndig denkenden, in gewissem Sinne vollkommenen Menschen hervorbringen kçnnte, leuchtet immer noch im Campus, illuminiert aber nicht gerade die neuen Studien- und Prfungsordnungen. Denn die Wirklichkeit ist die einer zielbezogenen, intentionalen, rationalen Gestaltung von Erziehung an den Hochschulen.

Die Psychoanalyse Zunchst drngt sich eine Parallele auf zwischen dem (deutschen) Bildungsbegriff und unserem Ideal von einer psychoanalytischen Kur, in welcher der Patient sich entfalten, seine eigenen Ziele bilden und selbst die Wege finden soll, die er beschreiten mçchte. Der Analytiker arbeitet eigentmlich »ziellos«, er fhlt sich verpflichtet, seinem Analysanden wahrhaftig zu begegnen, aber er selbst soll »ohne Wunsch sein« will sagen: den Analysanden nicht verwenden zur Befriedigung eigener Bedrfnisse. Das ist schwierig, denken wir nur an unsere Lehranalysen und an unseren Wunsch, der Lehranalysand mçge sich zu einem guten Analytiker entwickeln. In der Doppelaufgabe von psychoanalytischer Ausbildung und Selbsterfahrung treffen in der Lehranalyse pdagogische Absichten und psychoanalytische Ziellosigkeit aufeinander, hier haben wir eine harte Probe auf unsere Abstinenz zu bestehen, und wir haben uns starke Regeln – wie das non reporting system – einfallen lassen, um Psychoanalyse, also Bildung, und Erziehung auseinanderzuhalten. Das ist und war in der Geschichte der Psychoanalyse nicht immer einfach. Immer wieder gab es einflussreiche Autoren, die – wie z. B. Harald Schultz-Hencke – eine psychoanalytische Methode mit erzieherischen Zielsetzungen entwarfen. Und auch in der Frhzeit der psychoanalytischen Bewegung musste die Konzentration auf den Bildungsprozess in der psychoanalytischen Behandlung und die Abwendung von erzieherischen Zielen und Methoden in mhsamen Schritten errungen werden.

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Dies lsst sich in der Geschichte der »technischen« Begriffe der Psychoanalyse verfolgen. Der Abstinenzbegriff z. B. wurde in der Not bedrngender Beziehungswnsche geboren, als sich die ersten Analytiker um Freud den intensiven bertragungen ihrer Patientinnen hilflos ausgesetzt sahen und Schutz suchten hinter einer eisernen Regel, da sie sprten, wie verfhrbar und gefhrdet sie waren – und nicht wenige erlagen ihrer eigenen Verfhrbarkeit, wie wir heute wissen. Die Abstinenzregel war also zunchst rein defensiv ausgerichtet, eine Sammlung von Verhaltensvorschriften, wie das »berhmt-mißverstndliche Wort von der analytischen Spiegelhaltung« (Kçrner u. Rosin, 1985, S. 30), und sie wurde erst spter zu einer wesentlichen Bedingung fr die Freiheit des Analytikers (Frank, 1986). Zeitweilig erfuhr diese Abstinenzregel eine ideologische Verkehrung in die Vorschrift, der Analytiker mçge geradezu unsichtbar und mçglichst unsprbar fr den bedauernswerten Analysanden sein, bevor sie erst Mitte des zurckliegenden Jahrhunderts ihre »klassische« Form erhielt, nmlich als jenes »ohne Wunsch sein« (Bion), das dem Analytiker erlaubt, auf jede »Einmischung« zu verzichten, welche die psychoanalytische Situation »sowohl in der Zielstellung, als auch im Modus ihrer Durchfhrung zerstçren« wrde (S. 32). Auch die Regel der freien Assoziation war anfangs einer schlichten Zielsetzung geschuldet, nmlich dem Wunsch, alles mçglichst unzensiert sagen zu kçnnen, um so auch das Unbewusste zur Sprache zu bringen. hnlich wie die Abstinenzregel und die Forderung nach gleichschwebender Aufmerksamkeit verwandelte sich auch die freie Assoziation in eine utopische Forderung, die niemals wirklich eingelçst werden kann. Denn niemand ist vollkommen abstinent, und niemand kann perfekt frei assoziieren, aber indem wir beides versuchen und darin immer wieder »scheitern«, begegnen wir dem Unbewussten im Gesprch mit unserem Patienten. Die »technischen« Begriffe der Psychoanalyse wie Abstinenz, freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit waren also zunchst nicht ganz frei von erzieherischen Absichten, und erst nach ihrer Verwandlung in utopische Prinzipien çffneten sie den analytischen Raum fr das Unbewusste, weil der Analytiker endlich gelernt hatte, sich zurckzunehmen und seinem Patienten die Gestaltung dieses Raumes weitgehend zu berlassen. Damit wurde die Psycho-

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analyse zu einem Bildungsprozess. Das war vor mehr als einem halben Jahrhundert. Seither ist viel geschehen. hnlich wie sich an den Hochschulen die Ideale einer umfassenden Bildung lngst in die praktischen Ziele und Methoden einer Erziehung verwandelt haben, geriet auch die Vorstellung von der »reinen, tendenzlosen« Psychoanalyse unter mchtige Einflsse, welche die Psychoanalyse vielfach in eine psychoanalytische Psychotherapie verwandelt haben, bei der es darauf ankommt, operationalisierbare Ziele mit effizienten Mitteln zu erreichen. Ist es also den Psychoanalytikern nicht hnlich ergangen wie den Humboldt’schen Bildungsschwrmern, die sich doch lngst daran gemacht haben, Bildung in Erziehung zu verwandeln? Halten wir nicht auch am »reinen Gold« der Psychoanalyse fest, auch wenn wir es als psychoanalytische Psychotherapeuten lngst zum »Kupfer der direkten Suggestion« (Freud, 1919, S. 193), also in wohlfeiles Trompetenblech legiert haben? Haben sich nicht auch die Berufsbilder gleichsinnig verndert: Wie aus dem »philosophischen Kopf« im Zitat von Friedrich Schiller ein »Brodgelehrter« wurde, so verwandelte sich der Psychoanalytiker vielleicht auch in einen Brot-und-Butter-Therapeuten mit der scheußlichen Berufsbezeichnung des »psychologischen Psychotherapeuten«. Dass wir bis dahin gekommen sind, dass wir in der Praxis so hufig doch nur mit dem Kupfer der analytischen Psychotherapie arbeiten, hat natrlich zahlreiche Grnde. Wir stehen – wie alle sozialen Berufe – im Windkanal einer Effizienzerwartung, in dem auch wir Psychoanalytiker die Ohren anlegen und heftig schwanken zwischen Anpassung und Widerstand. Außerdem passen wir uns – vielleicht widerwillig – den Erwartungen eines finanzierbaren Gesundheitssystems an, und die Psychologen wnschten ja so dringlich ein Psychotherapeutengesetz, welches unter anderem dazu beitrgt, die Laienanalytiker und damit auch Bildungsinhalte der Geistes- und Sozialwissenschaften aus der Psychoanalyse zu vertreiben. Angesichts dieser Anpassungsbewegung kçnnte die Redeweise von einer »reinen, tendenzlosen«, also einer nicht vom Diktat der Effizienzerwartung geprgten Psychoanalyse hnlich schwrmerisch erscheinen wie der romantisierende Blick zurck auf das Humboldt’sche Bildungsideal an den Deutschen Universitten, die sich lngst in Erziehungsanstalten verwandelt haben. hnelt nicht die

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puristische Debatte um die drei- oder vierstndige Analyse oder analytische Psychotherapie den nicht enden wollenden Diskussionen ber die Ermçglichung umfassender Bildung innerhalb eines verschulten universitren Erziehungssystems? Und sind beides nicht »typisch deutsche« Debatten, die in anderen Lndern des »alten Europa« so gar nicht gefhrt werden? Ist nicht vielleicht sogar die Idee von einer »tendenzlosen« Psychoanalyse eine idealistische Konzeption, die an die Bildungsideale des Deutschen Idealismus erinnert, an Selbstverwirklichung und den Raum der individuellen Freiheit? Das kann offen bleiben. Das bisher vorgebrachte ber die Parallelen von Bildung/Erziehung einerseits und Psychoanalyse/Psychotherapie andererseits soll nun auf eine Kurzformel gebracht werden: Psychoanalyse verhlt sich zu (analytischer) Psychotherapie wie Bildung zu Erziehung. So betrachtet, sind also Bildung und Psychoanalyse zwei Geschwister, und auch Erziehung und Psychotherapie sind miteinander verwandt, aber ber Kreuz geht es nicht: Psychotherapeutisches Handeln vertrgt sich nicht mit Bildungsabsichten, und erzieherisches Handeln nicht mit Psychoanalyse. Und wie ist es mit der Psychoanalytischen Pdagogik? Hat sie nicht doch eine Synthese zwischen den ungleichen Geschwistern erreicht? Nein, das ist ihr nicht gelungen. Die Psychoanalytische Pdagogik hatte ihre Bltezeiten, als die Pdagogen in den 1920er und 1930er Jahren eine Verbindung suchten zu einer psychoanalytischen Psychotherapie, die ihre Arbeit als »Nacherziehung« verstand. Diese Verknpfung schien zu gelingen, bis der Nationalsozialismus die meisten Psychoanalytiker vertrieb und damit auch das Projekt einer Psychoanalytischen Pdagogik zerstçrte. Was aber nicht gelingen konnte und auch nicht gelingen kann, ist eine Brcke gleichsam ber Kreuz zu schlagen, also eine Verknpfung zwischen einer Erziehung einerseits und einer Psychoanalyse andererseits herzustellen, wie dies z. B. in der Kinderladen-Bewegung versucht wurde. Denn Erziehung und Psychoanalyse lassen sich nicht miteinander legieren, dieses Amalgam verbindet sich nicht, es muss in seine Teile zerfallen. Darber im Folgenden etwas mehr. Eine gravierende Differenz zwischen psychoanalytischer und erzieherischer Arbeit liegt zunchst in der zeitlichen Richtung, in der diese beiden Professionen arbeiten: Die psychoanalytische Behand-

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lung arbeitet »regredient«, wie Freud (1914, S. 47) sagte, sie beginnt in der Begegnung mit unserem Patienten heute und erforscht im Hier und Jetzt die Psychogenese seiner Konflikte; insofern arbeitet sie also rckwrtsgerichtet. Die Erziehung setzt ebenfalls im Hier und Jetzt ein, aber sie richtet ihren Blick nach vorn, auf das noch nicht Verwirklichte, aber doch schon als Mçglichkeit Erscheinende. Selbst wenn sie keine expliziten Ziele anstrebt, trachtet sie doch danach, noch nicht Erreichtes zu suchen und Mçgliches Wirklichkeit werden zu lassen. Wann immer sich Psychoanalytiker anschickten, ihre »regrediente« Forschungsrichtung zu verlassen, um ihre Wissenschaft in den Dienst einer zielbezogenen Pdagogik zu stellen, mussten sie scheitern. Sie erlebten, dass es sehr viel einfacher ist, in der Arbeit mit einem Patienten zurckzublicken, um zu verstehen, wie es geschehen konnte, dass er so krank wurde (obwohl auch das schon schwierig genug ist), als in einer psychoanalytisch-pdagogischen Arbeit dafr zu sorgen, dass sich ein Kind mit großer Gewissheit zu einem glcklichen und leistungsfhigen Erwachsenen entwickelt. Es ist nmlich, anders gesagt, viel einfacher, die hinreichenden Bedingungen fr eine Fehlentwicklung regredient zu finden, als all die notwendigen Bedingungen herzustellen, die fr eine positive Entwicklung in der Zukunft gebraucht werden. Freilich ist der Gegensatz zwischen der regredient arbeitenden Psychoanalyse und der zielbezogenen, in die Zukunft gerichteten Erziehung so scharf nicht. Denn tatschlich reicht es den Analytikern ja nicht, die Vergangenheit der Triebschicksale ihres Patienten zu verstehen, und selbstverstndlich wnscht er sich, dass er mit seiner Hilfe aus seiner aktuellen Misere herausfindet, dass er arbeits- und liebesfhig wird. Aber es gehçrt zu den Eigentmlichkeiten der psychoanalytischen Methode, dass sie derartige Ziele nur indirekt erreicht, ja geradezu dadurch erreicht, dass sie sie eben nicht anstrebt (Dreyer, 2006, S. 1083). Umgekehrt arbeitet der Erzieher nicht geschichtslos, denn er entwickelt ein Verstndnis fr seinen Zçgling vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte. Aber seine erzieherischen Ziele erreicht er eben nicht durch die analytische Betrachtung der Vergangenheit seines Zçglings, sondern dadurch, dass er ihn ermutigt und strkt, die

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neuen Aufgaben anzunehmen und mit ihrem Gelingen die Last der alten Beschwernisse abzulegen. Man kann die Unterschiede zwischen Bildung und Psychoanalyse einerseits sowie Erziehung und Psychotherapie andererseits auch im Hinblick auf die Verschiedenheit der jeweils ausgestalteten Situationen erlutern. Erzieher und Psychotherapeut richten zu ihrem Zçgling/Patienten eine triangulre Situation ein, in der sich die beiden auf etwas Drittes, einen gemeinsamen Gegenstand und auch auf ein Ziel ausrichten. Dieses Dritte verleiht der therapeutischen und der erzieherischen Beziehung ihren Sinn und den Kontext, in dem ihre Dialoge gesprochen und verstanden werden. Ginge das Dritte in diesem Dreieck verloren, verwandelte sich die erzieherische und auch die therapeutische Beziehung in einer ziellosen, letztlich destruktiven Selbsterfahrung. Diese Triade ist in einem Bildungsprozess und einer psychoanalytischen Situation weniger ausgeprgt. Zwar sind auch diese Beziehungen triangulr, aber der »Gegenstand« einer psychoanalytischen Behandlung ist – im Gegensatz zu den Zielen einer Psychotherapie – nicht gut erkennbar, und vielleicht zeigt sich die Triangularitt einer psychoanalytischen Situation allein darin, dass sich die beiden Beteiligten aus ihre unmittelbaren Bezogenheit immer wieder herauslçsen, einen »exzentrischen« Standpunkt einnehmen, also auf sich und ihre gemeinsame Beziehung schauen und ber sich nachdenken. Diese berlegungen zur Zeitgestalt und zur Triangularitt sollten die Unterschiede zwischen Bildung und Psychoanalyse einerseits und Erziehung und Psychotherapie andererseits zwar noch einmal herausstellen, aber es schien doch so, als handelte es sich weniger um kategoriale Gegenstze, sondern um graduell gestufte Differenzen, die berbrckbar sein kçnnten. Vielleicht lohnt es sich heute auch gar nicht mehr, darber zu streiten, ob eine Bildung ohne Erziehung denkbar wre und wieso auch die reine, tendenzlose Psychoanalyse sich selbst verlçre, wenn sie nicht innerhalb der Rahmenbedingungen konkretisiert wrde, in denen sie heute stattfinden muss. Heute liegt es wohl nher, die Betrachtung umzukehren und aus der Notwendigkeit, in allen Bildungsprozessen auch erziehen zu mssen, und aus der Verpflichtung, Psychoanalyse innerhalb eines Versorgungs- oder Ausbildungssystems betreiben zu sollen, umgekehrt die Maxime abzuleiten, in jedem Erziehungsprozess die Idee der Bildung und in

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jedem Psychotherapieprozess die Idee der Psychoanalyse zu verwirklichen.

Erziehung und Bildung in der Arbeit mit delinquenten Jugendlichen Den Umgang mit dieser Verpflichtung soll eine Fallgeschichte illustrieren, die der zweiten Hlfte des Themas, dem der Bildung entstammt. Es ist eine Geschichte, die sehr viel mit Erziehung, aber sehr wenig mit Bildung zu tun zu haben scheint. Die Rede ist von der erzieherischen Arbeit mit hoch belasteten, delinquenten Jugendlichen, die wir ihm Rahmen unserer Praxisprojekte an der Freien Universitt Berlin betreuen. Wir arbeiten dort mit Jugendlichen, die mehrfach straffllig geworden waren, in einem sozialkognitiven Einzeltraining »Denkzeit«, in dem sie in 40 Sitzungen soziale Kompetenzen wie Perspektivenbernahme, moralisches Urteilsvermçgen, Affektkontrolle und Entscheidungsfhigkeit erlernen. Es ist sehr schwierig, mit diesen Jugendlichen zu arbeiten, sie reden dem Pdagogen gekonnt nach dem Munde, sie lassen sich emotional nicht gleich erreichen, aber unsere »Denkzeit«-Trainer, die wir sorgfltig auswhlen und ausbilden, bieten ber eine lange Zeit (3/4 Jahr) eine emotional verlssliche, aber auch abgegrenzte Beziehung an. Der Jugendliche findet ein Gegenber, dessen Haltung und dessen Wertvorstellungen er erkennen kann, und in den glcklichen Fllen wendet er sich seinem Pdagogen emotional zu – nicht um ihn zu kopieren, sondern um im Blick auf ihn einen eigenen Weg zu suchen. Das gelingt recht gut, aber wie das gelingen kann, ist eigentlich rtselhaft. Wir stehen hier vor dem Paradoxon jeder Erziehung: Wie man einem Zçgling durch eine intensive Bindung hindurch Selbstbestimmung ermçglichen kann. Tatschlich ist dieses Rtsel von der Pdagogik selbst nicht zu lçsen, oder doch nur dann, wenn wir das erzieherische Handeln als Verwirklichung einer Bildungsidee betrachten, welche die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des »Zçglings« immer schon gegen den erzieherischen Anspruch der Pdagogik behauptet hat – das freilich setzt eine Abstinenz des Pdagogen voraus, die der psychoanalytischen Abstinenz an Bedeutung nicht nachsteht.

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Und weiter: Zu den Zielen unseres »Denkzeit«-Trainings gehçrt auch die Fhigkeit des delinquenten Jugendlichen, in emotional sehr spannungsreichen Situationen einen kurzen Augenblick innezuhalten (daher »Denkzeit«), Handlungsalternativen zu berdenken und sich dann autonom-verantwortlich zu entscheiden. Wir ben das mit unseren Jugendlichen sehr intensiv an Beispielen, die der Jugendliche aus seiner Lebenswelt mitbringt. Lange Zeit waren wir im Zweifel, ob wir dieses Ziel der Entscheidungsfhigkeit nach Abwgung von Handlungsalternativen wirklich anstreben wollten: Verfolgten wir bei der Idee vom handlungsfhigen Subjekt, das sich frei entscheiden kann, nicht ein typisches Mittelschicht-Ideal, das delinquenten Jugendlichen ganz fremd bleiben muss? Weit gefehlt. Viele dissoziale Jugendliche empfinden es als eine große Bereicherung, in kritischen sozialen Situationen nicht so handeln zu mssen, wie sie immer schon gehandelt haben, sondern wirklich auswhlen zu kçnnen – wohlgemerkt, es kommt nicht darauf an, dass die Jugendlichen lernen, sich immer fr die moralisch einwandfreie Handlungsalternative zu entscheiden. Wichtig ist fr uns die Mçglichkeit der Handlungsfreiheit, die man nur besitzt, wenn man ber die Fhigkeiten zur Vorausschau und zur Generierung von Alternativen verfgt. Auch an dieser Stelle berschreiten wir die Grenzen eines Erziehungsprozesses, der gewiss darauf abzielen muss, die Jugendlichen zu einem sozial konformen Verhalten zu bewegen. Wir setzen auf das Bildungsziel der Handlungsfreiheit, und es ist fr uns hçchst erfreulich, das diese Handlungsfreiheit dazu fhrt, dass ein Jugendlicher lernt, in seinen Handlungsentscheidungen die Interessen der anderen zu bercksichtigen. Das Geheimnis dieses Erfolges liegt darin, dass eine wachsende Selbstreflexivitt – hier als Fhigkeit, ber die eigenen Handlungsziele nachzudenken – die Kompetenz einschließt, auch ber andere nachzudenken und sie in sich selbst zu reprsentieren. Schließlich zu einem dritten Aspekt unserer Erziehungsarbeit, in der wir auch Bildung verwirklichen wollen: Die Jugendlichen haben in ihrem Leben schon frh gelernt, dass Erwachsene sie allzu oft willkrlich und egoistisch behandeln, und sie denken gar nicht daran, die Regeln der gemeinsamen pdagogischen Arbeit als Teil eines fçrderlichen Rahmens anzuerkennen. Der »Denkzeit«-Trainer aber hat gelernt, wie wichtig der Rahmen mit dem Setting, den Verabredungen und auch den gemeinsamen Zielen ist, und er verpflichtet sich

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und den Jugendlichen, diesen Rahmen zu achten. Zu den Verabredungen gehçrt z. B., dass der Jugendliche nur eine begrenzte Zahl, nmlich drei von insgesamt 40 Sitzungen unentschuldigt versumen darf; berschreitet er diese Zahl, beenden wir das Training, und der Jugendliche kommt erneut vor den Jugendrichter, der ihm im Gerichtsverfahren die Weisung zum »Denkzeit«-Training erteilt hatte. Auch bezglich des Rahmens versuchen wir also, einen engen Erziehungsprozess weiter zu fassen, indem wir dem Jugendlichen ein hohes Maß an Verantwortlichkeit fr sich selbst zumuten. Das ist oft genug tatschlich eine Zumutung, denn viele Jugendliche sehen sich selbst eher als Opfer ihrer sozialen und materiellen Verhltnisse, und sie haben es immer wieder erlebt, dass ihnen die Verantwortung fr sich selbst von wohlmeinenden Pdagogen abgenommen wird – sei es, dass ber sie hinweg pdagogische Maßnahmen angeordnet werden, sei es, dass ein destruktives Verhalten, wie unentschuldigtes Fehlen oder die Weigerung, aktiv mitzuarbeiten, ignoriert, wenn nicht gar entschuldigt wird. Wir muten dem Jugendlichen Verantwortlichkeit fr sich selbst zu, und wir meinen es sehr ernst damit. Wir mçchten, dass er sich fr die gemeinsame Arbeit entscheidet, aber weil wir ihn wirklich ernst nehmen, darf er sich auch entscheiden zu scheitern. Denn die Freiheit, die wir dem Jugendlichen in seinem Bildungsprozess anbieten, ist unteilbar: Er darf sich nach seinem Willen fortentwickeln, sei es, dass er soziale Verantwortung bernimmt und zu moralischem Urteil fhig wird, sei es, dass er sich entschließt, das Angebot des »Denkzeit«-Trainings abzulehnen.

Literatur Dreyer, K.-A. (2006). Niederfrequente Psychoanalyse. Die Behandlung einer thrombotisch thrombozytopenischen Purpura. Psyche – Z. Psychoanal. 60, 1077 – 1104. Frank, K. (1986). Abstinenz und die Freiheit des Psychoanalytikers. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 21, 181 – 193. Freud, S. (1914/1983). Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW X (S. 43 – 113). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1919/1986). Wege der psychoanalytischen Therapie. GW XII (S. 184 – 194.) Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Freud, S. (1925/1976). Geleitwort zu »Verwahrloste Jugend« von August Aichhorn. GW XIV (S. 565 – 567). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kçrner, J., Rosin, U. (1985) Das Problem der Abstinenz in der Psychoanalyse. Forum der Psychoanalyse, 1, 25 – 47. Naumann, M. (2006). »Bildung« – eine deutsche Utopie. In R. Fatke, H. Merkens (Hrsg.), Bildung ber die Lebenszeit (S. 15 – 28). Wiesbaden: Verlag fr Sozialwissenschaften. Schiller, F. (1790). Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Jena: Akademische Buchhandlung.

Annelinde Eggert-Schmid Noerr

Psychoanalytische Pdagogik und Bildung Anmerkungen zu Jrgen Kçrner: Psychoanalyse und Bildung

Das Verhltnis zwischen Psychoanalyse und Pdagogik war stets ein produktives. Die psychoanalytische Theorie unbewusster Prozesse, ihre Erkenntnismethode, ihre Praxis als Therapie psychischer Fehlentwicklungen erschlossen neue Sichtweisen fr die pdagogische Theorie und Praxis der Erweiterung von Wissen und Kçnnen. Durch die psychoanalytische Perspektive auf die subjektive Erlebnis- und Phantasiewelt hat sich die Pdagogik Mçglichkeiten erschlossen, innere Spielrume besser zu verstehen und pdagogische Situationen entsprechend zu gestalten. Dies gilt seit den Anfngen der Psychoanalytischen Pdagogik in der Zwischenkriegszeit und in der nachfolgenden Epoche, als – bis in die 1970er Jahre hinein – klassische Lesarten psychoanalytischer Grundannahmen wie die der Triebtheorie, der zentralen Stellung des çdipalen Konflikts oder der Abwehrvorgnge im Vordergrund standen. Es gilt auch fr methodologische berlegungen zur Handhabung von bertragung und Gegenbertragung, die eine große Anwendungsrelevanz fr die Pdagogik haben. Es gilt umso mehr noch fr die Hinwendung des psychoanalytischen Diskurses auf intersubjektive Prozesse und Erfahrungen, die sich in der Theorie der Objektbeziehungen, der strkeren Einbeziehung der Selbst- und Selbstwertentwicklung und der Bedeutung der Bindungstheorie niederschlugen, weil hier der fr die Pdagogik bedeutsame Beziehungsaspekt verstrkt in den Mittelpunkt gert. Und es gilt ebenso fr die aktuellen interdisziplinren Diskurse zwischen Psychoanalyse, empirischer Suglingsforschung und Neurobiologie, die fr den pdagogischen Grundgedanken der Prvention ußerst fruchtbar sind. Psychoanalytisches Wissen ber innere Welten und ihr Niederschlag auf Beziehungsgestaltungen war als Folie der Reflexion intrapsychischer Motive fr die Pdagogik

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immer von hohem Wert und wirkte in Vorgehen und Zielbestimmungen pdagogischer Interventionen hinein. Gleichwohl war das Verhltnis von Psychoanalyse und Pdagogik stets auch spannungsreich. Exemplarisch hierfr war eine Debatte der 1990er Jahre. Damals wurde aus der Perspektive der Erziehungswissenschaften heraus die Ansicht vertreten, dass es eine rein psychoanalytische Pdagogik nicht geben kçnne. Es ging dabei um die Wahrung der Besonderheit der Pdagogik, ihrer Denktraditionen, ihrer zentralen Diskurse und Gegenstnde und damit um die Exklusion anderer Zugnge. Die psychoanalytische Theorie kçnne (wie auch andere, soziologische, systemtheoretische usw.) im Rahmen der Erziehungswissenschaften, so wurde argumentiert, nur als Hilfswissenschaft mit begrenztem Geltungsanspruch fungieren. Es gebe grundstzliche Unterschiede zwischen pdagogischem und psychoanalytischem Handeln, die Pdagogik arbeite zielorientiert und thematisch festgelegt, die Psychoanalyse prozessorientiert und thematisch offen und kçnne wesentliche pdagogische Fragen (etwa in der Curriculumsentwicklung) nicht beantworten. Der Beitrag der Psychoanalyse sei zu beschrnken auf den Bereich des Verstehens und damit der pdagogischen Kasuistik, die Sensibilisierung der Pdagoginnen fr die eigene Beteiligung am pdagogischen Geschehen. Dem entspreche ein verstrkter Einsatz qualitativer Methoden bei der Erforschung der pdagogischen Prozesse. In einer anderen Diktion wurde von einer unverkrzten Psychoanalyse her und gegen ihre Verengung auf die psychotherapeutische Praxis argumentiert. (Diese Diskussion ist recht gut dokumentiert in den ersten Jahrbchern fr Psychoanalytische Pdagogik aus den Jahren 1989, 1990 und 1991.) Dabei ging es eher um Inklusionswnsche: Die Psychoanalyse solle die Psychoanalytische Pdagogik als ihr zugehçrig ansehen. In dieser Konzeption wurde Psychoanalyse als Verfahren angesehen, das systematisch Selbstreflexion und Metakommunikation in Anspruch nimmt. Psychoanalytische Therapie und Psychoanalytische Pdagogik seien nur zwei unterschiedliche Handhabungsformen, insbesondere von bertragungs- und Gegenbertragungsprozessen. Pdagogische Praxis lasse sich als »Arbeit an Objektbeziehungen« verstehen. Der Streit drehte sich dabei wesentlich um die unterschiedliche Bedeutung der Zielorientierung: Whrend die Pdagogik immer auf besondere Ziele hin ausgerichtet sei,

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gebe die Psychoanalyse keine bestimmten Ziele vor. Diese Argumentation wirkte allerdings schon damals etwas akademisch berzogen. Denn whrend die Pdagogik einerseits große Spielrume bei der Frage hat, wie sie ihre Ziele erreichen kçnne, kann andererseits keine ernst zu nehmende psychoanalytische Kur ihre vçllige Absichtsfreiheit reklamieren. Es ging also eher um die Frage der Manifestheit oder Latentheit, Besonderheit oder Allgemeinheit von Zielsetzungen. Aus der Distanz wird deutlich, wie sehr der Streit um Gemeinsamkeit und Differenz von Psychoanalyse und Pdagogik von Abgrenzungsbestrebungen der jeweiligen Disziplinen bestimmt ist. Dabei spielten neben Macht- und Vorherrschaftswnschen vielleicht auch soziale Ungleichheiten eine große Rolle: Psychoanalytiker gehçrten von ihrem Werdegang her eher etablierten gesellschaftlichen Gruppierungen an. Ihre Grundberufe (Medizin, Psychologie) beanspruchen Verfgungen ber statuszuweisende Deutungsmacht. Diese Situation hat sich mit dem Psychotherapeutengesetz noch verstrkt. Pdagoginnen hingegen kommen, vor allem auch außerhalb der Schulpdagogik, berwiegend aus bildungsfernen Schichten. Das Fach der Pdagogik bietet, trotz oder wegen seiner Disparatheit, den Anreiz, den Bildungsaufstieg zu ermçglichen. Erhalten bleibt dabei oft ein Mangel an Selbstbewusstsein. Jrgen Kçrner (in diesem Band), der damals wie heute die These vertritt, dass Psychoanalyse und Erziehung eigentlich unvereinbar seien, relativiert zugleich in seinem Beitrag den Schulenstreit – dies zu Recht. Die Integrationsverweigerung seitens der Pdagogik grndet zu weiten Teilen auf einem mittlerweile veralteten Verstndnis von Psychoanalyse. So wenig wie Psychoanalyse heute auf die klassische Therapie und Theorie reduziert werden kann, so wenig sind andererseits aber auch die aktuellen Diskurse der Pdagogik mit einem verengten, traditionellen Begriff der Erziehung zureichend erfassbar. Mittlerweile hat sich das Verstndnis von Pdagogik verndert und die Disziplin insgesamt hat zunehmend eine Aufwertung erfahren. Das hat auch Folgen fr das zuvor etwas einseitig gelagerte Zusammenwirken von Psychoanalyse und Pdagogik. Nicht nur kann die Pdagogik von der Psychoanalyse profitieren, sondern, so wird jetzt deutlich, auch umgekehrt kann die Psychoanalyse pdagogisches Wissen ber die alltgliche Manifestation von psychischen Problemen

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wie etwa ADHS, ber die Vielfalt der Ausgestaltung familialer Beziehungen oder ber den Umgang mit bertragung- und Gegenbertragung in unterschiedlichen Settings fr sich fruchtbar machen. Von daher sind die Mçglichkeiten der Kooperation zwischen Psychoanalyse und Pdagogik neu zu bestimmen. In diesem Sinne verstehe ich auch Jrgen Kçrners Beitrag, in dem verdeutlicht wird, dass der strikte Gegensatz von Bildung und Erziehung – und in Analogie dazu der Gegensatz von Psychoanalyse und Psychotherapie – heute nicht mehr haltbar sei. In Anbetracht der gesellschaftlichen Realitt sei keine Hierarchisierung von Erziehung und Bildung, sondern vielmehr eine Integration anzustreben. Es gehe um die Verpflichtung, in »jedem Erziehungsprozess die Idee der Bildung und in jedem psychoanalytischen Psychotherapieprozess die Idee der Psychoanalyse zu verwirklichen«. Ich untersttze die These vom Wandel der Bildungsidee, der auch noch die klassische Psychoanalyse verpflichtet ist, mçchte ihr aber einen etwas anderen Akzent geben. Statt vom »reinen Gold« der Psychoanalyse zu reden, gegenber dem andere Formen der Arbeit am Menschen als billigeres Amalgam abfallen, bevorzuge ich den Blick auf verschiedenartige Zwischenbereiche zwischen Intentionalitt und Intentionslosigkeit, zwischen Arbeit am Bewusstsein und am Unbewussten, die jeweils ihr eigenes (Daseins-)Recht beanspruchen und nicht als mindere, vom Ideal der freien Persçnlichkeitsbildung und entwickelten Humanitt abweichende Mangelformen anzusehen sind. Zu ihnen gehçrt auch die Psychoanalytische Pdagogik. Im Folgenden richte ich den Blick (1) auf das Verhltnis von Bildung und Erziehung und (2) auf die Rolle dieser beiden Begriffe in der Sozialpdagogik. Abschließend frage ich (3) nach der Bedeutung des Bildungsbegriffs fr die Psychoanalytische (Sozial-)Pdagogik.

Bildung als Subjektorientierung und Gesellschaftsbezug Seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnet »Bildung« die Entwicklung der eigenen Person zur Selbstbestimmung, die damit auch zur Humanisierung der Gesellschaft beitragen soll. Bildung enthlt demnach die beiden Aspekte des Subjektbezugs und Gesellschaftsbezugs. Fr Wilhelm von Humboldt ist sie der Weg des Individuums zu sich selbst

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als stndige Aufgabe, so dass Bildung ein ganzes Leben hindurch whrt. Der Gebildete sucht »soviel Welt als mçglich zu ergreifen und so eng als er nur kann mit sich zu verbinden« (Humboldt, 1980, S. 237). Die Bedeutungen, die der Begriff der Bildung in der Geschichte eingenommen hat, sind weit gespannt, aber sein Subjektbezug, die Sicht auf den Menschen als denkendes und handelndes Subjekt, bleibt stets wesentlich. Bis heute wird unter Bildung etwas verstanden, das sich zwar anregen und untersttzen lsst, aber letztlich in der Aktivitt der einzelnen Menschen begrndet liegt und sich nicht oktroyieren lsst. Bildung ist demnach vor allem Selbst-Bildung. Damit eng verbunden sind die Begriffe »Emanzipation«, das heißt Aufhebung von Benachteiligung und Ausweitung von Handlungsspielrumen, und »Mndigkeit«, das heißt Erweiterung der eigenen Urteilsfhigkeit und Verantwortungsbernahme. Modernere Versionen des Begriffs der Mndigkeit sind »Selbstbestimmung«, das heißt Mçglichkeit einer eigenstndigen Lebensfhrung in potentiell allen Lebensbereichen, und »Selbstbewusstsein« beziehungsweise »Ich-Identitt«, das heißt Erleben einer Einheit in der Entwicklung des persçnlichen Ich, das sich und seine Beziehungen zur Außenwelt reflektieren und planen kann. So ist Bildung auch eine Potenzialitt, ein orientierendes Ideal, das niemals vollstndig einlçsbar ist. Weil »die Idee der Bildung, damit die der Mndigkeit und Bildung aller, noch immer unabgegolten ist, so ergibt sich daraus die Aufgabe, die Wirklichkeit immer neu darzustellen und damit zu kritisieren« (Snker, 2002, S. 234). Bildung verweist demnach neben dem Subjektbezug stets auch auf den Gesellschaftsbezug. Dieser Gesellschaftsbezug ist, wie immer verdeckt, auch in der durch den sogenannten »PISASchock« ausgelçsten lngst berflligen intensiven Bildungsdebatte enthalten. Bei aller berechtigter Kritik an der empirischen Bildungsforschung haben die Ergebnisse der PISA-Studien deutlich gezeigt, dass die Zugnge zu Bildung und der Erwerb von Kompetenzen durch soziale Ungleichheiten beeintrchtigt werden. Die Kluft zwischen den oberen und den unteren Leistungsgruppen war extrem groß, in keinem anderen OECD-Staat erwies sich der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Kompe-

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tenzerwerb als so eng. Auch PISA 2003 ermittelte fr Deutschland einen berdurchschnittlich hohen Zusammenhang zwischen sozioçkonomischen und sozialkulturellen Bedingungen des Elternhauses und den erworbenen Kompetenzen von Jugendlichen, so dass die Studie zu dem Schluss kam : »[…] die Wahrscheinlichkeit, zur so genannten Risikogruppe von Schlerinnen und Schlern zu gehçren, deren Kompetenzen als gering fr eine erfolgreiche Teilhabe in modernen Wissensgesellschaften angesehen werden, hngt von Merkmalen der sozialen Herkunft ab« (Deutsches PISA-Konsortium, 2004, S. 253).

Zwar bezog sich die çffentliche und fachbezogene Debatte zunchst vor allem auf die bildungsvermittelnden Institutionen. Bei den meisten Argumentationen standen die Schulstrukturen und ihre Organisationsformen und Ausstattungen sowie die Vernderung der Leistungsanforderungen im Vordergrund. Dies ist ein Mangel der Debatte, zugleich aber auch eine Aufwertung der Pdagogik. Kçrner weist zu Recht darauf hin, dass die klassische Bildungsidee heute vor allem seitens eines allmchtig auftretenden, çkonomisch orientierten Effizienz- und Effektivittsdenkens zurckgedrngt wird. Die ußerlich absichtslose Bildung kann sich gegenber dem Nachweis von Wirksamkeit und Kompetenzerwerb kaum noch behaupten. Das gilt entsprechend auch fr die, der umfassenden und tiefgehenden Selbstreflexion gewidmeten, Psychoanalyse. Jedoch war und ist Bildung keineswegs so voraussetzungslos und als allgemeinmenschliche Mçglichkeit immer schon gegeben, wie dies angenommen wurde. Vielmehr setzt sie die Verinnerlichung von Naturbeherrschung, die Fhigkeit zum langfristigen Triebaufschub, ja geradezu einen Willen zur Askese voraus. Es liegt auf der Hand, dass die heute blichen Sozialisationsbedingungen mit ihren Suggestionen des Konsums und der Kulturindustrie fr die Wirksamkeit jener Bildungsidee ußerst abtrglich sind. In der neuen Bildungsdebatte wird die innere Dimensionen des Aneignungsprozesses eher vernachlssigt. Auf der Strecke bleiben die emotional-affektiven Dimensionen des Geschehens. Dies sind die Fragen, die auf die Persçnlichkeitsstruktur abheben, auf Subjektivitt in einem umfassenden Sinne; es sind Fragen, in welchen es um in-

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trapsychischen Prozesse der Abwehr oder Aneignung der Umwelt geht.

Erziehung als Beziehungsgeschehen in der Generationendifferenz Der dem Bildungsbegriff zur Seite und entgegen gestellte Begriff der Erziehung bezeichnet im Kern die geplante Einwirkung auf Kinder und Jugendliche im Sinn ihrer Anpassung an kulturelle Anforderungen. Damit impliziert der Erziehungsbegriff eine Subjekt-ObjektTrennung, eine hierarchische Aufspaltung in Erzieher (educator) und Zu-Erziehenden (educandus). »Erziehung ist das uralte Geschft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Gesellschaft fr ihn bestimmt hat, fensterloser Gang. […] Mit der Erziehung geht der Mensch seinen Weg durch das Zuchthaus der Geschichte. Er kann ihm nicht erlassen werden« (Heydorn, 1994; zit. nach Snker, 2002, S. 234).

Erziehung ist ihrem Begriff nach von Zwang nicht abzulçsen, auch wenn sie ihn zu vermeiden sucht, sofern sie sich der ungewollten Folgen von Zwang bewusst wird. Noch jede Erziehungskonzeption braucht »Grenzziehungen« und muss sich von daher zumindest mit der Mçglichkeit der Strafe auseinandersetzen, auch wenn sie diese verwirft und mit Schleiermacher meint, Strafe sei keine pdagogische Handlung, sondern kçnne »nur entschuldigt« werden. Indem Erziehung ihre eigenen Anteile, Hierarchie und Zwang, auf lngere Sicht hin berflssig zu machen sucht, setzt sie um so mehr auf die Herstellung einer lebendigen »Beziehung«, auf den »pdagogischen Bezug«, wie Hermann Nohl ihn nannte. Da der Mensch nur als erzogener die Mçglichkeit der (Selbst-)Bildung hat, ist Erziehung zwar eine Antithese von Bildung, zugleich auch ihre Voraussetzung. Auch wenn Bildung de facto zumeist ebenfalls als intersubjektiver Prozess organisiert ist, ist die Hierarchisierung der Idee der Bildung fremd. Whrend »Erziehung« einen eher technischen Prozess der Einwirkung auf das Verhalten zum Zweck sozialer Anpassung bezeichnet, bezieht sich »Bildung« teils auf

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den Erwerb spezifischer Fertigkeiten, teils auf die ganzheitliche Entwicklung der Persçnlichkeit. In einem entschieden hçheren Maße als Erziehung setzt Bildung die Selbstverfgung des Subjekts schon voraus. Eben deshalb richten sich ihre eigenen Sanktionen (Bescheinigungen, Zeugnisse, Abschlsse) nicht, wie die Strafen in der Erziehung, auf die Formung des Subjekts, sondern fungieren gesellschaftlich als Zeichen der Zulassung zu beziehungsweise des Ausschlusses von beruflichen Werdegngen. Gemessen am pdagogischen Fachdiskurs kçnnte meine bisherige Beschreibung allerdings paradox anmuten. Denn die Erziehungswissenschaft misstraut heute zunehmend dem Erziehungsbegriff, hat sie doch Grnde genug daran zu zweifeln, dass der im Prinzip zielbezogene, intentionale Prozess der Erziehung sich tatschlich auch als planbarer konstruieren lsst. Deshalb mçchte sie sich am liebsten in »Bildungswissenschaft« umbenennen. Demgegenber habe ich die Betonung darauf gelegt, dass sich der Begriff der Bildung heute zu einem realittsfernen Ideal zu verflchtigen droht, whrend umgekehrt fr die Permanenz der Erziehungsidee dreierlei spricht: 1. Er beinhaltet den Bezug auf die Generationendifferenz, das Besondere der Kindheit und das zeitlich begrenzte Lernen. Dies droht der zeitgençssischen Pdagogik aus dem Blick zu geraten, die sich lieber mit dem lebenslangen Lernen im Subjekt-SubjektVerhltnis beschftigt, dabei aber bersieht, dass sich die als Zumutung empfundene Erziehung nicht einfach erbrigt, sondern vielmehr eine Voraussetzung der Bildung darstellt. 2. Weiterhin hat der Erziehungsbegriff eine Dimension, die ebenfalls vom Bildungsbegriff kaum erfasst wird, nmlich der Moralisierung im Sinn der moralischen Enkulturation. »Wissen und Kçnnen drfen […] bestenfalls Diener unseres Wollens sein, so dass die richtige Erziehung sich auf das Wollen […] zu richten hat« (Prange, 2002). Sozialisation beinhaltet notwendig Grenzsetzungen und dem entsprechend ist Erziehung immer auch Erziehung zur Moralitt, das heißt zur Einbeziehung der berechtigten Interessen anderer. 3. Schließlich enthlt der Erziehungsbegriff auch betont den pdagogischen Bezug. Nach Hermann Nohl besteht der pdagogische Bezug in einer doppelten Erwartung und Pflicht: bei den zu Erziehenden in Liebe und Gehorsam, bei den Erziehern in der

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Einstellung auf die aktuelle Lebenssituation des Kindes und der Liebe zu der »idealen« Bildung dieses Kindes. Wenn man sich von Nohls veralteter idealistischer Redeweise nicht schrecken lsst, kann man sich dies bersetzen als die intersubjektive beziehungsweise emotional-identifikatorische Dimension des Lernens. Tatschlich bedingen sich Bildung und Erziehung wechselseitig, sie stehen in einem dialektischen Verhltnis zueinander. Bildung hat erzieherische Voraussetzungen und Effekte, andererseits wre Erziehung ohne fortschreitende Anteile der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung allenfalls Dressur. Heute stehen Eltern unter einem hohen gesellschaftlichen Druck, den Anforderungen der Erziehung zu entsprechen. Die moderne Erziehungsform ist zeitaufwendig, da die Kinder ber einen grçßeren Freiraum verfgen und die Eltern in hohem Maße prsent sein mssen, um den Anforderungen zu gengen. Vor allem aber ist sie, wie keine je zuvor, zum Gegenstand der Didaktik und der Beratung geworden. Kommunikationspsychologische und psychotherapeutische Theorien sind in Gestalt alltagspraktischer Ratschlge allgegenwrtig geworden. All die Zielvereinbarungen, Feedbackregeln, Aufforderungen zu aktivem Zuhçren, Ich-Botschaften, Techniken der Konfliktlçsung und hnlichen Anleitungen, von denen dort die Rede ist, verdecken doch auch die Ahnung, dass es Grnde genug gibt daran zu zweifeln, dass der im Prinzip zielbezogene, intentionale Prozess der Erziehung sich tatschlich auch als planbarer konstruieren lsst. Und auch hier macht sich wieder die Schere der sozialen Ungleichheit bemerkbar. Whrend bei den einen die Kindererziehung eine zunehmend dominierende Stellung einnimmt und die Eltern unter Zugzwang geraten, um Chancen nicht zu verpassen und falsche Entscheidungen zu verhindern, sind bei den anderen die Defizite im Bereich der familialen Grundlagen offenkundig. Hier heißt es in § 27 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), dass ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung besteht, wenn »eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewhrleistet ist […].« Dies sind die Felder, mit denen es die professionelle Sozialpdagogik zu tun hat. Der Gedanke der Planbarkeit und Effektivittsausrichtung ruft hier oft entweder Bewunderung oder Abwehr hervor.

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Welche Bedeutung haben nun Bildung und Erziehung im Rahmen der Sozialen Arbeit, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe? Ist sie Bildungs- oder Erziehungsarbeit? Um sich von immer noch bermchtigen Leitbild der Humboldt’schen Bildungsidee zu lçsen, ist die Unterscheidung zwischen formaler, nonformaler und informeller Bildung wichtig. Die Schule wird als Ort der formalen Bildung angesehen, die qualifizierende Abschlsse vergibt und damit auch den weiteren Lebensverlauf entscheidend beeinflusst. Demgegenber ist die Kinder und Jugendhilfe ein Ort nonformaler Bildung. Diese hat fr benachteiligte Gruppen eine wichtige Einstiegs- und Ergnzungsfunktion zur formalen Bildung. Trger der außerschulischen Grundbildung sind in der Regel private nichtstaatliche oder kirchliche Organisationen. Schließlich sind Familie, Peers und Medien Orte der informellen Bildung, die zufllig, ungeplant, nebenbei und spontan erfolgt. Neu an dieser Sichtweise ist vor allem die Bedeutung, die den beiden Bereichen der nonformalen und informellen Bildung zugemessen wird. Denn die drei Bildungsbereiche kçnnen, bei allen Unterschieden, nicht getrennt voneinander betrachtet werden, vielmehr muss Bildung im Blick auf den Wandel der Sozialisationsbedingungen und sozialen Milieus diskutiert werden. Nur von hier aus lassen sich die Ziele und Mittel von Bildungsprozessen bestimmen. Die Debatte um einen emanzipatorischen Bildungsbegriff wurde am differenziertesten im Bereich der Jugendarbeit gefhrt. In Beitrgen von Mollenhauer, Giesecke, Mller, Bçhnisch, Scherr oder Sturzenhecker spielen Konzepte der Selbstachtung, des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung eine zentrale Rolle. Die Kernfrage der subjektorientierten Jugendarbeit, so Scherr (2003), »lautet […] nicht, was die Gesellschaft an Erziehung und Qualifikationen bençtigt, sondern wie Jugendliche befhigt werden kçnnen, sich zu selbstverantwortlichen und selbstbestimmungsfhigen Subjekten ihrer Lebenspraxis zu bilden« (S. 148). So verstandene Jugendarbeit setzt bei Konflikten, Wnschen, Interessen und Bedrfnissen der Zielgruppe an, um davon ausgehend einen selbstttigen Emanzipationsprozess anzustoßen, der die Jugendlichen zur selbstbestimmten Handlungsfhigkeit als Subjekte ihrer Lebenspraxis befhigen soll. Sturzenhecker (2003) betont auf dem Hintergrund des Begriffs der Bildung den Gegensatz zu dem der Erziehung:

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»Jugendarbeit ist keine erzieherische Institution. Mit §11 KJHG wird Jugendarbeit als ein Freiraumangebot an Kinder und Jugendliche entworfen, das ihnen Mçglichkeiten der Selbstorganisation und Partizipation erçffnet. Emanzipatorische Bildung kann nicht curricular und didaktisch eingepaukt werden, sondern es kçnnen nur Entfaltungsmçglichkeiten in einem offenen Feld angeboten werden. […] Da keine inhaltlichen Themen und Erziehungsziele vorgegeben sind, kann durch die jugendlichen Adressaten bestimmt werden, um was es gehen soll« (S. 28).

Mit Blick auf die aktuelle Praxis der offenen Kinder- und Jugendarbeit kommt Sturzenhecker allerdings zu dem Schluss, dass ein solches Bildungsideal, das den traditionellen humanistischen Bildungsbegriff in Leitlinien einer von formalisierten Bedingungen freien Jugendarbeit heute umsetzt, in der Praxis kaum eingelçst wird. Tatschlich, so registriert er, erfllt diese Jugendarbeit in erster Linie Betreuungsaufgaben, die sie allzu oft mit rein konsumorientierten Angeboten ausfllt. Um sich darber hinaus zu legitimieren, eignet sie sich zunehmend Prventionskonzepte gegenber den Risiken der heutigen Adoleszenz (Drogen, Gewalt, Kriminalitt) an, die aber der Idee der subjektiven Bildung ebenso wenig gerecht werden. Also auch hier wieder ein Rckverweis von der Bildung hin auf Erziehung. Fr die erzieherischen Hilfen lsst sich zusammenfassen, dass sie sich prinzipiell als Bildungsauftrag formulieren lassen, dass der Bildungsgedanke hier aber an Grenzen stçßt, jenseits derer die Soziale Arbeit erzieherisch und auch kontrollierend ttig sein muss. Soziale Arbeit geht nicht in Sozialpdagogik auf und kann sich nicht allein auf Subjektorientierung und letztgltige Achtung des »Eigensinns« der Betroffenen verpflichten lassen.

Psychoanalytische Pdagogik Die Unterschiede zwischen klassischer Psychoanalyse, Psychotherapie, Sozialpdagogik und Sozialarbeit sind zweifellos tiefgreifend, und ich mçchte sie keineswegs verwischen. Diese Unterschiede betreffen ebenso die unterschiedlichen institutionellen Rahmungen wie die Methoden und Ziele. Nun betont auch Kçrner die Differenz zwischen

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intentionsloser Psychoanalyse und intentional steuerbarer Pdagogik, aber gerade an diesem Bild von Pdagogik lassen sich viele Fragezeichen anbringen, die der Auffassung vom pdagogischen Prozess als einem Beziehungsprozess entstammen und ihn damit doch wieder in die Nhe zum psychoanalytischen Prozess rcken. So beschreibt beispielsweise Burkhard Mller (2006) den eigentlich pdagogischen Anteil der Sozialen Arbeit als Sich-Einlassen auf eine prinzipiell unkalkulierbare Ungewissheit: »Erstens ist [sozialpdagogische] Arbeit […] prinzipiell ›Bewltigung von Ungewissheit‹ […] Denn das, was Grundlage und Gegenstand der Zusammenarbeit sein kann […], kann nicht im voraus festgestellt sein, sondern muss gemeinsam entdeckt werden. […] Zweitens hat pdagogisches Handeln […] grundstzlich den Charakter eines (mindestens) ›bisubjektiven Handelns‹ […] Was immer Sozialpdagogen im Hinblick auf die Dimension ›Fall mit‹ tun, es bleibt bloßer Versuch, bloßes Angebot, ja bloße Geste, solange es nicht vom Gegenber aufgegriffen und durch dessen Mithandeln zu einem ganzen wird. […] Drittens muss pdagogische Arbeit diese Abhngigkeit nicht nur als Faktum akzeptieren, sondern selbst wollen. […] Die Abhngigkeit des pdagogischen Handelns vom Handeln seiner Adressaten [muss] mehr sein als ein bedauerliches Technologiedefizit; dann muss der Umgang mit ihr gewollt und Ausdruck fachlichen Kçnnens sein« (S. 48 f.).

Hier, an dieser Auffassung von Sozialpdagogik als Beziehungsarbeit, lsst sich auch der Einsatzpunkt der psychoanalytischen Orientierung und eines dadurch akzentuierten Bildungsbegriffs bezeichnen. Im Rahmen der Sozialen Arbeit stehen Bildung und Erziehung fr das Ziel der (Wieder-)Herstellung, Erweiterung oder zumindest den Erhalt von Chancen zur Teilhabe an Gesellschaft und Kultur. Das setzt, in psychoanalytischen Begriffen formuliert, eine Strkung des psychischen Realittsprinzips, das heißt Ich- und ber-Ich-Bildung voraus. Aber trotz dieses relativ klaren Zielumrisses ist der pdagogische Prozess zunchst gekennzeichnet durch die auch die Psychoanalyse bestimmende grundstzliche Abhngigkeit von der Mitarbeit der Klienten. Der Bildungsprozess ist intersubjektiv strukturiert, insofern bei besonders konflikthaften Interaktionsverlufen – wenn auch nicht im pdagogischen Alltagsgeschft (vgl. Trescher, 1993, S. 193) –

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die Irritationen und Konfliktlagen der Klienten das Thema und die Richtung der gemeinsamen, wenn auch professionell-methodisch geleiteten Problembearbeitung vorgeben. Die Pdagogin lsst sich affektiv in die Beziehung hineinziehen und hat zugleich gengend Distanz, um dies zu reflektieren. Das Psychoanalytische dieser pdagogischen Arbeit, die praktische Dekonstruktion der unbewussten Verhaltensmotive, ist nun der Einsatz des – mit Alfred Lorenzer gesprochen – »szenischen Verstehens«. Mit »Szene« ist dabei zunchst die jeweils aktuelle Beziehungsfigur von Helferin und Klientin gemeint, deren Struktur, bedingt durch die Ubiquitt wirksamer bertragungsmechanismen, als Wiederholung anderer lebensgeschichtlich signifikanter Beziehungsfiguren verstanden wird und so eine Kontur erhlt. Damit ist »Szene« zugleich mehr als die aktuelle Interaktionsfigur, nmlich die psychisch verankerte Interaktionsform, die die analogen Beziehungsfiguren strukturiert. Der psychoanalytisch orientierte Bildungsbegriff enthlt die Zielbestimmung des pdagogischen Prozesses: Es geht, auf Klientenseite, um eine Verflssigung unbewusst motivierter Erlebens- und Handlungsklischees und damit um die Erweiterung von Handlungsmçglichkeiten. Dafr ein Beispiel, das ich einem Aufsatz von Hans-Georg Trescher (1993) entnehme: »Sogenannte ›typische Heimkarrieren‹ z. B. zeigen eindrcklich, wie ein ursprngliches Trennungstrauma bestndig und zwanghaft unter unbewusster Beteiligung der Pdagoginnen sich wiederholt beziehungsweise reinszeniert wird. […] Dabei versucht der Klient den Pdagogen zu einer Rollenbernahme zu drngen, sie seinen unbewussten Bedrfnissen entspricht. Das beeinflusst natrlich Erleben und Verhalten des Pdagogen zwangslufig erheblich. Wird er z. B. in der bertragungsreaktion wie ein strafender, gewaltttiger Vater erlebt, dann wird das Kind oder der Jugendliche ihn auch so behandeln, als ob er dieser wre. […] Dann wird der Pdagoge zunehmend den Impuls verspren, das Kind zu strafen und vielleicht auch die Phantasie entwickeln, es schlagen zu wollen. […] Ist [der Pdagoge] nun nicht in der Lage, seinen gewaltttigen Impuls als Ausdruck einer unbewussten Rollenbernahme […] zu reflektieren und zu verstehen, dann wird er sich entweder erschrocken zurckziehen, seinen Impuls abwehren, oder aber ihn pdagogisch rationalisiert und maskiert durchsetzen, indem er zu der berzeugung kommt, dieses Kind msse strenger ›angefasst‹ werden und es msse die Konsequenzen seiner Handlungen deutlicher zu spren bekommen« (S. 175).

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Hier geht es, unter pdagogischem Aspekt, darum, ein Scheitern der pdagogischen Beziehung zu verhindern, indem sich der Pdagoge durch Selbstreflexion und Metakommunikation dem Reinszenierungsdruck des Klienten entzieht. Das bedeutet zugleich, diese Beziehung produktiv zu gestalten, indem er seine containing function zugleich aufrechterhlt und im Sinn der pdagogischen Zielvorstellung umfunktioniert. In dieser Hinsicht kommt der pdagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen heute vielfach eine Kompensationsfunktion gegenber dem fortschreitenden Mangel an familialen Sozialisationsleistungen zu (vgl. Trescher, 1993, S. 185 f.). ffentliche Erziehung tritt vermehrt an die Stelle der primren Sozialisation. Sie muss die Herstellung stabiler und belastbarer psychischer Strukturen mit bernehmen – eine Aufgabe, die die traditionell strukturierten und ausgestatteten pdagogischen Institutionen wie Kindergarten und Schule in weiten Bereichen berfordert. Die gegenwrtigen berlegungen zur Neustrukturierung pdagogischer Einrichtungen (z. B. zur Offenen Ganztagsschule und zur Zusammenarbeit von schulischer und sozialer Pdagogik) zeigen deutlich die Verschrnkung von kompensatorischer Erziehung und Bildung bezglich der drei von mir erwhnten Merkmale, nmlich (a) der Verlagerung der intergenerativen Auseinandersetzung auf çffentliche pdagogische Bereiche, (b) der nachholenden Verinnerlichung von moralischen Werten und Normen zur Stabilisierung zwischenmenschlichen Verhaltens und (c) der Ausgestaltung einer emotional-positiv eingefrbten pdagogischen Beziehung als Bedingung jeder erfolgreichen Bildungsarbeit. Die psychoanalytische Haltung in der Pdagogik kann zum Gelingen aller drei Ziele Entscheidendes beitragen.

Literatur Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2003). PISA 2000: ein differenzierter Blick auf die Lnder der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + Budrich. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2004). PISA 2003: der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Mnster: Waxmann.

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Eggert-Schmid Noerr, A. (Hrsg.) (2005). Lernen, Lernstçrungen und die pdagogische Beziehung, Gießen: Psychosozial-Verlag. Humboldt, W. von (1980). Schriften zur Anthropologie und Geschichte (Werke in 5 Bnden, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd.1). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Mller, B. (2006). Sozialpdagogisches Kçnnen. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit (4. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Lambertus. Prange, K. (2000). Pldoyer fr Erziehung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Scherr, A. (2003). Subjektorientierung – eine Antwort auf die Identittdiffusion der Jugendarbeit? In T. Rauschenbach, u. a. (Hrsg.), Kinder- und Jugendarbeit – Wege in die Zukunft. Gesellschaftliche Entwicklungen und fachliche Herausforderungen. Weinheim: Leske + Budrich. Sturzenhecker, B. (2002). Bildung. Wiederentdeckung einer Grundkategorie der Kinder- und Jugendarbeit. In T. Rauschenbach u. a. (Hrsg.), Jugendarbeit im Aufbruch. Selbstvergewisserungen, Impulse, Perspektiven. Mnster: Votum. Snker, H. (2002). Soziale Arbeit und Bildung. In W. Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit. Ein einfhrendes Handbuch. Opladen: Leske + Budrich. Trescher, H.G. (1993) Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pdagogik. In M. Muck, H. G. Trescher (Hrsg.), Grundlagen der Psychoanalytischen Pdagogik. Mainz: Grnewald.

Joachim Bauer

Spiegelung: Der Kern der pdagogischen Beziehung Menachem Amitai gewidmet

Der Kern der Probleme, denen sich Pdagogen bzw. Lehrkrfte in der Begegnung mit ihren Kindern bzw. Schlern gegenbersehen, betrifft – auf Seiten der Schler – Motivation und Destruktivitt und – auf der eigenen Seite – die Fhigkeit eines wirksamen, die Beziehung zum Gegenber gestaltenden Umgangs. Beide Phnomene hngen, wie gezeigt werden wird, eng zusammen, und beide Phnomene (Motivation/Destruktivitt und Beziehungsgestaltung) haben eine neurobiologische Grundlage – allerdings nicht in dem Sinne, dass unser Verhalten durch primr biologische Vorgnge determiniert wre, sondern im Sinne einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen Erlebnissphre (Psyche) und ihrem biologischen Unterbau. Denn wir sind keine Sklaven unserer Biologie oder unserer Gene (siehe Bauer, 2004), sondern das Gehirn verwandelt – dies ist eine der Botschaften der modernen Neurobiologie – psychische Erlebniseindrcke in biologische Signale, es macht aus Psychologie sozusagen Biologie. Alles was wir erleben, nimmt daher immer auch Einfluss auf die Aktivitt unserer Gene und damit auf unsere biologische Verfassung, aus der heraus wir dann wiederum psychisch agieren.

Abhngig von zwischenmenschlicher Beziehung: Die Motivationssysteme des Gehirns Die Motivationssysteme des Gehirns sind im Bereich des sogenannten Mittelhirns, also an zentraler Stelle gelegene Nervenzell-Netzwerke. Ihre Spezialitt ist die Herstellung und Ausschttung eines Botenstoff-Cocktails, der uns das fhlen lsst, was fr die Erledigung unserer tglichen Arbeit unerlsslich ist: Vitalitt und Motivation, also

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die Lust, etwas zu tun. Die »Genialitt« des Botenstoff-Cocktails liegt in der sich gegenseitig ergnzenden Wirkung seiner drei Komponenten: Dopamin hat die Wirkung einer Leistungsdroge, endogene Opioide als zweite Komponente verbinden das Prinzip der Kraft mit dem des Wohlbefindens, whrend das »Freundschaftshormon« Oxytocin – als dritter Bestandteil des Cocktails – die Motivation an die Qualitt der Beziehung koppelt, die wir mit unserem jeweiligen Gegenber haben, was bedeutet, dass wir besonders dort motiviert sind, wo wir fr bzw. mit solchen Menschen etwas tun kçnnen, mit denen wir uns zwischenmenschlich verbunden fhlen. Die Motivationssysteme – man kçnnte sie ebenso gut als »Vitalittssysteme« bezeichnen – werden nicht von alleine aktiv. Die Ausschttung des motivierenden Botenstoff-Cocktails erfordert eine vorherige Aktivierung. Erst in jngerer Zeit gelang es, die Stimuli zu identifizieren, welche die menschlichen Motivationssysteme hochfahren kçnnen. Das Ergebnis war recht verblffend: Was die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns aktiviert, ist die Beachtung, das Interesse, die Zuwendung und die Sympathie anderer Menschen, was sie inaktiviert, ist soziale Ausgrenzung und Isolation. Das Gehirn macht aus Psychologie Biologie, oder anders ausgedrckt: Die strkste Motivationsdroge fr den Menschen ist der andere Mensch. Dies bedeutet: Es gibt keine Motivation ohne zwischenmenschliche Beziehung. Menschen sind in ihren zentralen Motivationen auf soziale Akzeptanz hin orientierte Wesen, ein Umstand, der in der neurobiologischen Szene der USA den Begriff des »social brain« entstehen ließ (ausfhrlich siehe Bauer, 2006a). Sehr interessant und fr den pdagogischen Alltag bedeutsam sind die neurobiologischen Effekte von sozialer Ausgrenzung und Demtigung: Sie beschrnken sich nicht auf eine biologische Lhmung des Motivationssystems. Neuere Untersuchungen zeigen, dass Ausgrenzung aus der Sicht des Gehirns hnlich wahrgenommen wird wie absichtsvoll zugefgter kçrperlicher Schmerz. Da zugefgter kçrperlicher Schmerz ein potenter Auslçser von Aggression ist, wird verstndlich, warum auch soziale Ausgrenzung bzw. Bindungslosigkeit aggressives Verhalten begnstigt: Das Gehirn macht keine bzw. kaum eine Unterscheidung zwischen kçrperlichem und psychischem Schmerz und beantwortet daher beides mit Aggression (siehe Bauer, 2006a). Dies bedeutet: berall dort, wo wir aggressivem Verhalten

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von Schlern entgegentreten mssen, sollten wir dies mit Entschiedenheit tun. Wir sollten dabei aber die Betroffenen nicht demtigen, sondern etwas gegen ihre soziale Ausgrenzung oder Bindungslosigkeit tun, die den Hintergrund aggressiven Verhaltens bildet.

Neurobiologische Aspekte von »Beziehung«: Das System der Spiegelnervenzellen Die Quelle dessen was Motivation erzeugt, ist also Beachtung, Interesse und Zuwendung. Letzteres wiederum hat als Quelle die zwischenmenschliche Beziehung. »Beziehung« wird uns Menschen nicht auf dem silbernen Tablett serviert, wir mssen sie selbst gestalten. Wenn Erwachsene auf gleicher Augenhçhe miteinander zu tun haben, ist die Beziehungsgestaltung ein wechselseitiges, von beiden Partnern in gleichen Anteilen abhngiges Geschehen, hnlich einer Situation, bei der zwei Waldarbeiter mit einer großen Handsge arbeiten, die sich von beiden Seiten fassen und wechselseitig hin- und herfhren lsst. Beziehung gestaltet wird auch zwischen Pdagogen und Kindern bzw. Jugendlichen. Allerdings haben wir hier – vor allem bei der Beziehung mit Kindern – eine asymmetrische Situation. Je grçßer die Macht, desto weitergehend ist das einseitig mçgliche Gestaltungspotential. Obwohl wir tglich, ja fast fortwhrend in Beziehungen leben, wird selten reflektiert, was eine »Beziehung« eigentlich ausmacht, d. h., was in den jeweils Beteiligten dabei eigentlich vor sich geht und welche »Stellschrauben« uns zur Verfgung stehen, um das Beziehungsgeschehen zu beeinflussen. Beziehung grndet – soweit es die asymmetrische Begegnung zwischen Pdagogen und Kind, aber auch die zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern betrifft – auf drei Komponenten: 1. Sehen und Gesehen-Werden, 2. Perspektivenwechsel und Verstehen und 3. Fhrung. Natrlich ließen sich noch weitere wichtige Komponenten des Beziehungsgeschehens nennen (z. B. die sogenannte »gemeinsame Aufmerksamkeit« oder die emotionale Resonanz), die drei genannten Elemente bilden jedoch die Grundlage dessen, was fr die Beziehungsablufe in der Schule entscheidend ist. Fr alle drei genannten Komponenten ist das System der Spiegel-

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nervenzellen, dessen Existenz erst Mitte der 1990er Jahre entdeckt wurde, von entscheidender Bedeutung. Spiegelnervenzellen sind ein neurobiologisches Resonanzsystem. Eine Spiegelzelle (bzw. ein Spiegelzell-Netzwerk) verhlt sich wie die in Ruhe befindliche Saite einer Gitarre, die jedoch plçtzlich in Schwingung gert, wenn eine auf den gleichen Ton gestimmte andere Saite angezupft und zum Klingen gebracht wurde. Spiegelzellen sind Nervenzellen, die im eigenen Kçrper eine bestimmte Handlung steuern kçnnen, zugleich aber – auf eine stille, unmerkliche Weise – auch dann in Aktion treten, wenn die von ihnen kodierte Handlung bei einem anderen Menschen beobachtet wird. Spiegelneurone sind Zellen, die im eigenen Kçrper bei einem bestimmten Gefhl (Freude, Trauer, Schmerz) ttig werden wrden, die aber auch dann »klingen«, wenn wir das jeweilige Gefhl bei einem anderen Menschen erleben. Der Spiegelvorgang unterliegt keiner bewussten Kontrolle, er luft »prreflexiv« ab, d. h., ohne dass wir gedankliche oder sonstige intellektuelle Willensakte vollfhren mssten. Spiegelzellen vermitteln zweierlei: 1. Indem sie in uns in Resonanz gehen, informieren sie uns mit einem in uns ausgelçsten Gefhl (mit einer Intuition) ber das, was sich im anderen Menschen abspielt; 2. Zustzlich haben Spiegelzellen aber auch die Tendenz, uns »anzustecken«: Sie kçnnen uns mit der Stimmung eines Anderen »infizieren« (z. B. mit Lachen, guter Laune oder mit Ghnen) (ausfhrlich siehe Bauer, 2006b). Spiegelnervenzellen sind die neurobiologische Grundlage fr das »Lernen am Modell«, welches bereits vor ber drei Jahrzehnten vom kanadischen Psychologen Albert Bandura formuliert wurde. Studien konnten zeigen: Sehen wir einen anderen Menschen etwas tun, fhrt dies zur stillen Aktivierung von Nervenzellen, die wir bentzen mssten, wenn wir die beobachtete Handlung selbst ausfhren wrden. Beobachten wir dieselbe Handlung jedoch mit dem Auftrag, sie spter auch imitieren zu sollen, kommt es whrend des Moments der Beobachtung – ohne unser weiteres willentliches Zutun – zu einer deutlich verstrkten Spiegelreaktion. Das meiste, was Kinder – aber auch Erwachsene – lernen, unterliegt nicht den Mechanismen der Konditionierung (welche mit den Mitteln der Belohnung oder Bestrafung arbeitet), sondern geht ber das »Lernen am Modell«, d. h., Kinder lernen das meiste, indem sie sich abschauen, was sie sehen. Spiegelzellen sind verantwortlich dafr, dass alles, was Kinder – als

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gute oder als schlechte Modelle (z. B. in den Medien) – sehen, Folgen hat. Dies lsst sich aber fr die pdagogische Beziehung auch nutzbar machen, und zwar in einem weit grçßeren Umfang, als Pdagogen sich dessen bewusst sind.

Der Kern der pdagogischen Beziehung: Spiegelung Erstes Element der pdagogischen Beziehung ist, wie bereits erwhnt, »Sehen und Gesehen-Werden«. Um »gesehen« zu werden und als Vorbild Ausstrahlung zu bewirken, mssen sich Lehrkrfte sehen lassen, d. h., sie mssen »auftreten«. Dies bedeutet nicht, sich in pathologischer Weise narzisstisch zu gebrden. Es beinhaltet jedoch die Notwendigkeit, mit den vielfltigen Mitteln der Kçrpersprache (Art des Stehens und Gehens, Stimme, Blickverhalten, Mimik und – last not least – durch professionelle Kleidung) deutlich zu machen, dass man voll prsent ist, spontan-zugewandt und gewillt, zu sich zu stehen, fr die eigenen Vorstellungen einzutreten und diesen Gehçr zu verschaffen. Schler seien wie »heatseeking missiles«, ußerte krzlich der New Yorker Lehrer und Buchautor Frank McCourt: Schler sehen bereits am Auftreten des Lehrers bzw. der Lehrerin, ob eine Lehrkraft Selbstvertrauen oder Angst hat, ob sie selbstbewusst ist oder sich am liebsten verdrcken wrde, und wo sich dem entsprechend die Chance zur Attacke bietet. Die Bereitschaft, als Mensch erkennbar zu sein und sich »sehen« zu lassen, spielt jedoch nicht nur beim Auftreten im Klassenzimmer und auf den Fluren eine Rolle, sondern auch beim Elternabend. Das Gleiche gilt fr das Auftreten der Schulleitung gegenber dem Kollegium. Wenn Pdagogen sich als Menschen erkennbar machen und Ausstrahlung entfalten, hinterlassen sie im Spiegelsystem des Kindes – Lernen am Modell! – ein Skript. Auch dann, wenn Kinder mit den »Ansagen« des Pdagogen immer wieder in Konflikt geraten, wenn sie Opposition zeigen, die Standfestigkeit des Pdagogen testen und ihre Krfte an ihm erproben, wird dieses Skript unmerklich zu einem Teil der Identitt des Kindes. Spiegelung ist jedoch keine Einbahnstraße und nicht darauf beschrnkt, dass Erzieher im Spiegelsystem des Kindes unmerklich ihre Kopien hinterlassen. Umgekehrt bildet sich jedes Kind – via Spiegelneurone – auch in der Wahrnehmung seiner

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Pdagogen ab. Kinder achten unbewusst darauf und erkennen am Alltagsverhalten ihrer Pdagogen, wie sie von diesen wahrgenommen werden, d. h., welches Spiegelbild sie in diesen hervorrufen. Der Grund: Kinder und Jugendliche suchen in diesem Spiegelbild nach einer Auskunft ber sich selbst. »Being mirrored involves a message about oneself« (Von einem anderen Menschen wahrgenommen/gespiegelt zu werden, beinhaltet eine Botschaft darber, wer/wie ich selbst bin), so Andrew Meltzoff, ein amerikanischer Kinderforscher, der heute im Bereich der Spiegelzell-Forschung ttig ist. Die Anfragen, die Kinder und Jugendliche an ihre Pdagogen unbewusst adressieren, lauten: 1. Zeige mir, dass ich da bin, lass mich spren dass es mich gibt! 2. Zeige mir, wer ich bin, beschreibe meine starken und schwachen Seiten! Lobe mich, aber kritisiere mich auch! 3. Zeige mir, was meine Entwicklungsmçglichkeiten sind, was aus mir werden kann! Zeige mir was du mir zutraust! Die Antworten auf diese Fragen entnehmen Kinder und Jugendliche nicht den (expliziten) Sonntagsreden, die wir an sie richten, sondern der (impliziten) Art und Weise, wie wir Erwachsene im ganz normalen Alltag mit ihnen umgehen. Das Geheimnis, ja die Magie guter Pdagogik ist: Kinder, die sich wahrgenommen und einfhlsam verstanden fhlen (Anfrage Nr. 1) und die spren, dass man leidenschaftlich an ihre Zukunft glaubt (Anfrage Nr. 3), vertragen es, dass man – neben dem Lob, das ihnen zusteht – auch ihre Schwchen klar benennt (Anfrage Nr. 2) und sie bei Bedarf durchaus auch deutlich kritisiert! (vgl. Bauer, 2007).

Wenn dienende Tugenden Kardinaltugenden ersetzen sollen: Bernhard Buebs »Lob der Disziplin« Die oben dargelegten Ausfhrungen machen deutlich, dass – aus neurobiologischer Sicht – die dienenden Tugenden der Disziplin und Ordnung nur dort Sinn machen bzw. erfolgreich vermittelt werden kçnnen, wo wir die Kardinaltugend der Beachtung und liebenden Zuwendung zum Kind bzw. zum Jugendlichen wirksam werden las-

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sen.1 Rezepte wie sie in Bernhard Buebs (2006) »Lob der Disziplin« empfohlen werden, sind ein verstndlicher Ausdruck der allgemeinen großen Not, stellen aber keinen Weg dar, auf dem sich unter den Verhltnissen, wie sie an staatlichen Schulen heute herrschen, wirklich etwas erreichen ließe. Buebs Buch ist geprgt von der Sehnsucht nach der Rckkehr zur autoritren Erziehung. Bernhard Buebs »Streitschrift« enthlt drei Aspekte, die problematisch erscheinen. 1. Buebs Buch liegt ein Menschenbild zugrunde, vor dessen Hintergrund Kinder und Jugendliche als primr antisoziale und egoistische Wesen erscheinen (»Jede Generation von Babys gleicht einem Einfall von Barbaren«). Die jedem Kind eigenen primren Liebes-, Bindungs- und Gemeinschaftsbedrfnisse, die ein zentraler Ansatzpunkt jeder Pdagogik sein sollten, werden nicht oder nur am Rande thematisiert. 2. Dem entsprechend reduziert Buebs »Lob der Disziplin« die Pdagogik auf jene dienenden Tugenden und Erziehungsmittel, ohne die Pdagogik zwar nicht auskommen kann, die jedoch nicht im Zentrum stehen (sollten): Disziplin, Gehorsam, Autoritt und Strafe (»Disziplin ist das Fundament aller Erziehung«, »Ordnung bildet den Anfang und das Ende der Erziehung«). 3. Besonders problematisch erscheint Buebs Ansatz, die Moral eines Menschen nicht auf die sogenannten Kardinaltugenden zu beziehen, sondern aus den sekundren, dienenden Tugenden abzuleiten (»Die innerliche Aneignung von Ordnungen erzeugt die Moral eines Menschen«). Wer die Motivation (bzw. die Motivationssysteme) von Kindern und Jugendlichen aktivieren will, muss die Primrtugend der Beachtung und verstndnisvollen Zuwendung zum Kind in den Mittelpunkt stellen, bevor die Notwendigkeit von Disziplin, Ordnung, Autoritt

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Zu den sieben Kardinaltugenden zhlen Liebe/Zuwendung, Gerechtigkeit, Mßigung, Weisheit, Tapferkeit, Glaube und Hoffnung. Als dienende Tugenden werden Disziplin, Ordnung, Sauberkeit, Pnktlichkeit, Effizienz, Sparsamkeit etc. bezeichnet.

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und Strafe ins Spiel gebracht wird. In Buebs Buch »Lob der Disziplin« ist diese Rangordnung auf den Kopf gestellt.

Schlussbemerkung Motivation ist ein neurobiologisch fundiertes Geschehen. Motivation kann ein Kind nur aufbauen, wenn es persçnliche Beachtung und Interesse an seiner Person sprt. Wahrgenommen und »gesehen« zu werden, setzt verbindliche zwischenmenschliche Beziehungen des Kindes bzw. des Jugendlichen zu seinen Eltern und Lehrern/Lehrerinnen voraus. Wesentliche Komponenten von »Beziehung« sind Spiegelungsakte: Kinder nehmen zum einen in sich das (Spiegel-)Bild dessen auf, das ihnen durch (gute oder schlechte) Vorbilder zufließt. Zum anderen achten Kinder darauf, welches Bild sie ihrerseits in der Wahrnehmung ihrer Pdagogen erzeugen. Dieses Bild gibt dem Kind bzw. dem Jugendlichen nicht nur eine Auskunft darber, wer er/sie ist, sondern vor allem auch darber, welche Entwicklungspotentiale sich ihm/ihr erçffnen, also darber, was es sich selbst zutrauen darf und welche Potentiale es entwickeln kann. Was wir dem Kind bzw. dem Jugendlichen zutrauen, beschreibt eine Art »Zukunftskorridor«, in den es/er sich hineinentwickeln kann. Wo das Kind bzw. der Jugendliche einen solchen »Korridor« – im Rahmen der pdagogischen Beziehung – nicht zurckgespiegelt bekommt, kann es auch keine Entwicklung geben.

Literatur Bauer, J. (2004). Das Gedchtnis des Kçrpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Mnchen: Piper. Bauer, J. (2006a). Warum ich fhle was du fhlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Mnchen: Heyne. Bauer, J. (2006b). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: Hoffmann und Campe. Bauer, J. (2007). Lob der Schule. Sieben Perspektiven fr Schler, Lehrer und Eltern. Hamburg: Hoffmann und Campe. Bueb, B. (2006). Lob der Disziplin. Eine Streitschrift. Berlin: List.

Heinz Krebs

Methodische Aspekte professionellen Handelns in Pdagogik und Sozialer Arbeit

Das Verhltnis von Subjekt und Ort. Ungewissheit als methodisches Problem professionellen Handelns Pdagogik und Soziale Arbeit sind gerade in den letzten Jahren ins Zentrum çffentlicher Diskussionen gerckt. »Bildung, Erziehung und Betreuung« (BMFSJ, 2005) sind zu einem voraussetzungsvollen Geschft geworden. Eltern fhlen sich in der Erziehung verunsichert, weil sie nicht mehr auf ein solides Fundament verbindlicher Normen und Werte zurckgreifen kçnnen (Ahrbeck, 2004). Das Bildungssystem ist vom PISA-Schock erfasst und sieht sich dem Verdikt ausgesetzt, soziale Ungleichheit und Selektion herzustellen, anstatt Chancengleichheit und eine gute Bildung fr alle Heranwachsenden zu gewhrleisten (Deutsches PISA-Konsortium, 2001; Kerstan, 2004). Die Fachleute stehen oft ratlos vor diesen Krisenerscheinungen, die sich – um noch zwei weitere Beispiele zu nennen – im Niedergang der Hauptschule (Klemm, 2004) oder in den spektakulren Fllen dissozialer Entwicklungen von Heranwachsenden oder der Misshandlung von Kindern niederschlagen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass professionelles Handeln in den Feldern der Sozialen Arbeit und Pdagogik komplexer und in seinen Wirkungen unkalkulierbarer geworden ist. Fachkrfte bençtigen methodische Instrumentarien und Zugnge, um diese Ungewissheiten bewltigen zu kçnnen. Bei diesen Zugngen handelt sich um Formen, Stile und Routinen des Umgangs mit sozialen und psychischen Problemen. In einigen Fllen handelt es sich dabei auch um Eingriffe in das Leben Anderer, wie z. B. bei In-Obhutnahmen von Kindern. Allgemein gesehen ist es jedoch fr diese Problembe-

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reiche charakteristisch, dass zwischen den methodischen Zugngen einerseits und dem tatschlichen pdagogisch-professionellen Handeln andererseits kein eindeutiges Mittel-Zweck-Verhltnis besteht. Fachkrfte kçnnen ihre Handlungen in der Regel nicht in einer vollkommen kontrollierbaren Weise umsetzen. Methodische Zugnge kçnnen insofern nur kritische Korrektive einer nur begrenzt methodisierbaren Praxis sein. Diese kann nicht aus Methoden und Theorien abgeleitet werden, sondern folgt einer Eigenlogik, die sich aus alltglichen Lebenszusammenhngen, persçnlichen Motiven und sozialen sowie institutionellen Zwngen speist. Diese Sicht auf pdagogisches Handeln bricht mit der Vorstellung der Mçglichkeit einer direkten Anwendung von Wissensbestnden und Methoden auf die Praxis und unterstellt infolgedessen, dass die eigentlich professionelle Leistung in der reflexiven Verstndigung ber die individuellen Sinnzusammenhnge und Bedeutungsmuster in Kontexten von Bildung, Erziehung und Betreuung besteht (Mller, 2001; Hçrster, 2002a). Professionelles Handeln kann in der Moderne nicht mehr von seiner Ungewissheit befreit werden (Helsper, Hçrster u. Kade, 2003). Es bedarf methodischer Zugnge und Reflexionshilfen, weil es folgende soziale, institutionelle und subjektbezogene Bedingungen bewltigen muss: – Professionelles Handeln ist immer den existentiellen Bedingungen und dem konkreten Leben seiner Adressaten ausgesetzt, unabhngig davon, ob es in der Schule, in der Erziehungsberatung oder in der Jugendarbeit stattfindet. Methoden haben es in diesem Problemkreis mit der Aufgabe zu tun, Dialogbereitschaft herzustellen, soziale Nhe zu den Adressaten zu ermçglichen, d. h. Zugangsprobleme zu bewltigen, aber auch reflexive Distanz herzustellen (Mller, 1994, S. 11 ff.). – Professionelle sind unvermeidlich mit der Gebrochenheit der eigenen Intentionen konfrontiert, da professionelles Handeln auf die selbstttige Ausgestaltung von Zukunft und die Standortvergewisserung auf der Seite der Adressaten ausgerichtet ist. Besonders deutlich wird dies bei Heranwachsenden und damit beim Umgang mit dem Generationenverhltnis. Das heißt, die ltere Generation muss die Jngere in das gegenwrtige Leben einfhren, ohne Zukunft zu verschließen. Pdagogik und soziale Arbeit sind insofern

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mit der Entwicklungstatsache konfrontiert. Im Rahmen des Generationenverhltnisses stellt sich dieser Umstand radikaler als beim Umgang mit erwachsenen Adressaten, dennoch kann zusammenfassend festgehalten werden, dass professionelles Handeln immer intersubjektives Handeln ist, das heißt abhngig vom Handeln einer oder mehrerer Personen. Methoden haben es insofern in diesem Problemkreis mit dem Umgang mit Ohnmacht, aber auch mit Macht bzw. bewusstem Machtverzicht zu tun (Mller, 2001). – Aus dem Umstand der prinzipiellen Intersubjektivitt erwchst die Forderung, dass Fachkrfte und Adressaten zusammenwirken mssen, ansonsten geschieht in Bildung, Erziehung und Betreuung gar nichts. Dabei muss aber bedacht werden, dass die Beteiligten nicht direkt zusammenwirken, sondern sich auf einen »dritten Faktor« (Winkler, 2002) beziehen mssen, in dem sich die soziokulturellen Bedingungen des gegenwrtigen Lebens niederschlagen, der aber auch die rechtlichen und institutionellen Regelungen einschließt, unter denen beispielsweise die Schule mit ihren Lehrplnen oder die Kinder- und Jugendhilfe mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII, 2005) arbeiten. Mller (2001) spricht an diesem Punkt von den »auferlegten Relevanzen«, die unabhngig von den beteiligten Personen gelten und denen sich diese – zumindest teilweise – anpassen mssen. Hier kommen methodische Anstze zum Tragen, die es erlauben, sich in den sozialen, rechtlichen und institutionellen Abhngigkeiten zurechtzufinden. Diese Grundbedingungen, die in Wechselwirkung zueinander stehen, markieren einen Kernpunkt professionellen Handelns in Pdagogik und Sozialer Arbeit, nmlich das Verhltnis von Subjekt und Ort. »Es handelt sich einerseits um die Frage, wie Subjektivitt als Eigenleistung des Subjekts her- und sichergestellt werden kann, wo sie noch nicht gegeben oder durch die menschlich geschaffenen Umstnde selbst verloren ist« (Winkler, 1988, S. 255); andererseits um die Frage, und dies als methodische Prioritt, »wie ein Ort beschaffen sein muss, damit ein Subjekt als Subjekt an ihm leben und sich entwickeln kann« (S. 278 f.).

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Dieser Zusammenhang von Subjekt und Ort verweist darauf, dass es eine wichtige professionelle Aufgabe ist, einerseits institutionelle Rume zu schaffen, die den Prinzipien der Prvention, der Integration und der Partizipation verpflichtet sind (BMSFJ 1990, S. 85 ff.); andererseits Rume, in denen die individuellen Verfasstheiten der Individuen bercksichtigt werden, sei es, dass sie als Behinderungen, als entwicklungsbedingte Blockaden, als sozio-kulturelle Verschiedenheiten oder Hochbegabungen in Erscheinung treten. Zum Ansatzpunkt von Bildung, Erziehung und Betreuung werden somit die sozialen, affektiven und kognitiven Potentiale der Individuen, die Wahrnehmung ihrer Differenz vor der Maßgabe ihrer prinzipiellen Gleichheit (Winkler, 2002, S. 66). Dies verweist auch darauf, dass es Subjektivitt nur in Kontexten gegenseitiger Anerkennung geben kann (Katzenbach, 2004a).

Triangulierung und Virtualisierung in institutionellen und intersubjektiven Kontexten Die Topoi von Subjekt und Ort sollen noch etwas weiter vertieft werden. Ich beginne mit dem Ort. In Sozialer Arbeit und Pdagogik wird der Ort unter anderem durch die der fachlichen Arbeit mit den Adressaten vorgelagerten sozialen, kulturellen, finanziellen, gesetzlichen und konzeptionellen Bedingungen, die nur begrenzt durch die Fachkrfte beeinflusst werden kçnnen, bestimmt (Krebs u. Mller, 1998). Diese Bedingungen sind Aspekte des Rahmens der konkreten Situationen mit den Adressaten. Sie reprsentieren das, was Winkler (2002) den »dritten Faktor« im Verhltnis zwischen den Fachkrften und den Adressaten nennt. Auf einer Ebene institutioneller Triangulierung bezeichnet dieser Faktor »das strukturelle Dritte« (Tietel, 2005), auf das sich die beteiligten Akteure mehr oder weniger bejahend, ablehnend oder in kritischer Haltung beziehen. Das strukturelle Dritte der Institutionen, ihre Aufgaben, Regeln und Werte, das auch als Reprsentant der geltenden sozio-kulturellen Ordnung gelten kann, hat eine wichtige Funktion, wenn es auf die Bewltigung der institutionellen Aufgaben ankommt. Es gibt den professionellen Beziehungen einerseits eine spezifische Form und Ausrichtung, muss andererseits aber auch immer wieder erst in der Arbeit mit den

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Adressaten durch die Professionellen zur Geltung gebracht werden. Das strukturelle Dritte wird dadurch auch modifiziert. Diese Form der Triade zwischen institutioneller Aufgabe, Fachkraft und Nutzer in einer kritisch-konstruktiven Weise auszubalancieren, erfordert eine triadische Kompetenz in institutionellen Verhltnissen. Hierbei geht es darum, den Interaktionsraum zwischen den Akteuren der professionellen Situation relativ offen zu halten, so dass einerseits auf der Ebene der Institution und ihrer Regeln sowie andererseits auf der Ebene des interpersonalen Geschehens Bewegungsfreiheit mçglich wird. Damit ist die Freiheit zum problemadquaten Handeln in kritischer Auseinandersetzung mit der Institution und ihren Nutzern gemeint (Tietel, 2005, S. 31 ff.). Das strukturelle Dritte ist der ußere Bezugspunkt professioneller Arbeit, der den Fachkrften Orientierungen bietet, um die Konflikte mit ihren Zielgruppen bewltigen zu kçnnen. Die Fachkrfte reprsentieren diese institutionellen Bezugspunkte, sinnvollerweise aber in kritischer Distanz (Kçrner, 2004, S. 136 ff.). Diese Form einer institutionellen Reflexivitt geht noch mit einer anderen Ebene einher, die als nach innen gerichtete, exzentrische Perspektivitt auf das interund intrapersonelle Geschehen gekennzeichnet werden kann. Damit sind die Beziehungen interagierender Personen gemeint, die mehr oder weniger trianguliert sein kçnnen. Diese Form der Triangulierung reprsentiert einerseits eine internalisierte Struktur im Binnenraum der Personen als auch andererseits einen Modus der Interaktion zwischen den an der professionellen Situation beteiligten Personen. Hier geht es wesentlich um das Erkennen und Auflçsen der intra- und intersubjektiven Verstrickungen der Subjekte (Tietel, 2005, S. 31). Gemeinsamer Nenner dieser Bemhungen ist, die Erzeugung und methodische Sicherung eines Spannungsverhltnisses, das heißt eines »zeitweiligen Schwebezustandes zwischen realer und imaginierter Interaktion im pdagogischen Bezug, um darin dem Klienten andere, bessere Handlungsoptionen zu erçffnen« (Kçrner u. Mller, 2004, S. 133). In diesem Schwebezustand wird es mçglich, soziale, institutionelle und individuelle Interaktionsmuster bzw. Bedeutungszuweisungen infrage zu stellen. Die Professionellen erfahren so, wie ihre Klienten oder Schler ihre Welt deuten, welche Vorannahmen sie dafr einsetzen, welche Gefhle und Konflikte fr sie bedeutsam sind,

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ohne dass deswegen die soziale und institutionelle Realitt missachtet wird. Kçrner und Mller (2004) bezeichnen diese Vorgnge auch als »Virtualisierung«, die ermçglichen soll, dass die an der professionellen Interaktion Beteiligten erkennen kçnnen, inwieweit die vorgefundene Realitt inszeniert und mit welchen Bedeutungen sie aufgeladen wird. Diese Konstruktionen sind Anlass fr Verstndigungsprozesse zwischen den Adressaten und den Professionellen, da unweigerlich unterschiedliche Interpretationen dieser Situationen aufeinandertreffen und zu vielfltigen Konflikten fhren. Die Professionellen als Trger der institutionellen Auftrge und in ihren Funktionen beispielsweise als Lehrer oder als Erziehungsberater instrumentalisieren sich zwecks Erfllung ihrer beruflichen Aufgaben. Sie stellen in ihrer Person Wissen, sozio-kulturelle und persçnliche Lebensentwrfe zur Aneignung zur Verfgung, die Auseinandersetzungen in der unmittelbaren Erziehungs-, Beratungs- und Unterrichtssituation auslçsen und die letztlich Konflikte ber die gegenwrtigen gesellschaftlichen Umstnde darstellen. Diese Konflikte, und dies zeigt die heutige Bildungs- und Erziehungslandschaft sehr deutlich, kçnnen nur bedingt durch Macht entschieden werden (Winkler, 2002, S. 65). Es ist daher plausibel, dass die Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsrealitt durch vielfltige Anerkennungskmpfe gekennzeichnet ist, die auch auf die normative Grundlage professionellen Handelns verweisen.

Reziproke Anerkennung und die Dreiheit von Bildung, Erziehung und Betreuung Borst (2004) rckt die Konfliktfhigkeit von Individuen in den Mittelpunkt von Anerkennungskmpfen, denen sie einen Bildungssinn zuweist. In ihrem Verstndnis bezieht sich Bildung auf zweierlei: Erstens ist sie eine unhintergehbare Voraussetzung fr eine andere Wahrnehmung gesellschaftlicher Sinnkonstituierungen und Deutungsmuster und beinhaltet eine Praxis der Kritik (S. 259), und zweitens ist Bildung nie nur auf die berlieferung und Aneignung kultureller Sachinhalte reduzierbar, hat nie nur einen psychologisch auf das Individuum bezogenen Sinn, sondern zielt immer auch auf die

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Entwicklung und Vernderung der Menschen und ihrer Identittsbildung in sozialen Kontexten (S. 263). Dieser Bildungsbegriff bezieht sich auf Erfahrungen bzw. akkumulierte Erfahrungen und ihrer reflexiven Bearbeitung, in der sich die beteiligten Personen selbst verndernd bedenken (Hçrster, 2002b, S. 45). Dies ist allerdings nicht nur ein kognitiver Prozess, denn Reflexion und Kooperation in sozialen Zusammenhngen lassen sich nicht trennen von Emotionen und moralischen Gefhlen wie Schuld, Scham, Wut und Krnkung (Gçppel, 2003), die besonders im Fall misslingender Anerkennung Triebfedern intersubjektiver Anerkennungskmpfe sind (Honneth, 1990, S. 1052 ff.). Fr Anerkennung ist daher charakteristisch, dass sich das Subjekt – und hier liegt eine Koinzidenz zu Bildungsprozessen vor – selbst fremd wird. Damit einher geht eine Erfahrung des Verlusts persçnlicher Sicherheiten. Das Wiedererkennen des Eigenen im Fremden ist nur ein Teil von Anerkennung, der andere Teil bezieht sich darauf, dass Anerkennung ihr humanitres Potential und ihren Bildungssinn nur dort entfalten kann, wo fr die Individuen Unbekanntes mit in den Anerkennungsprozess eingeht. Das Risiko des Verlustes persçnlicher Sicherheit kçnnen Individuen aber nur eingehen, wenn sie wissen, dass ihre elementaren physiologischen und psychologischen Bedrfnisse befriedigt sind und daraus keine existentielle Bedrohungen erwachsen (Winkler, 2006, S. 22; Borst, 2004, S. 264). Anerkennung ist durch ein labiles Gleichgewicht gekennzeichnet. Wer Anerkennung sucht, ist seinerseits auch immer damit konfrontiert, Anerkennung gewhren zu mssen, um die eigene Anerkennung sicherzustellen. Wechselseitige Anerkennungsprozesse verweisen somit auf eine Austarierung gelingender und misslingender Anerkennung, was sich auch in einem Zusammen- bzw. Auseinanderlaufen von Selbstbehauptung und Abhngigkeit ausdrckt. In diesem Zusammenspiel findet Subjektwerdung statt, jedoch nicht losgelçst von gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten und Anpassungszwngen. Da es in diesem Beitrag nicht um Aspekte der Anerkennung und Anpassung des Subjekts im Allgemeinen geht, mçchte ich Prozesse reziproker Anerkennung in institutionellen Kontexten am Beispiel der Schule, hier der Grundschule, und Aspekten der Lehrerinnen-Schler-Beziehung erlutern.

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Vor dem Hintergrund einer Diskussion ber Anerkennung ist die Grundschule deswegen interessant, weil sie eine grundlegende Rolle in der Bildung und Erziehung von Kindern spielt. Zudem ist sie die einzige Schulform in Deutschland, die alle Kinder besuchen und in der sich der gemeinsame Unterricht der Kinder eines Wohngebietes einschließlich der Aufflligen und Behinderten am meisten durchgesetzt hat. Prengel (2005) analysiert das Generationenverhltnis und extrahiert aus diesem drei bestimmende Anerkennungsformen: Egalitt, Heterogenitt (Differenz) und Hierarchie (S. 18 ff.). Sie transponiert diese Analyse in den institutionellen Kontext der Grundschule und legt fr die einzelnen Anerkennungsformen Folgendes dar: Grundlage eines gelingenden und konstruktiven Unterrichts ist erstens die »egalitre Anerkennung«, die auf einer symmetrischen Beziehung zwischen den Kindern und ihren Lehrerinnen fußt. Dies gilt fr zwei Aspekte: a) Alle Beteiligten spiegeln sich als Menschen in ihren Bedrfnissen nach Autonomie, Bindung und Frsorge (Dçrr, 2006, S. 63 ff.); und b) nehmen die Kinder ihr gleiches Recht auf Bildung in Anspruch, das Schule bzw. die Lehrerinnen gewhrleisten mssen. Zweitens geht es um die differenzierende Anerkennung, das heißt, die Kinder und Lehrerinnen mssen sich als Personen erst kennenlernen, sie sind sich unbekannt, und dazu gehçrt auch die Sozialisation in die Schlerrolle bzw. die Anpassung der Lehrerrolle an die jeweilige Schlergruppe. Schulspezifisch kommen noch die unterschiedlichen Sachinteressen, die Lerngeschwindigkeiten und das Lernvermçgen der Kinder in Auseinandersetzung mit dem Lehrplan zum Tragen. Anzustreben wren in diesem Kontext zielgleiche Bildungsprozesse, wobei jedoch klar sein muss, dass manche Kinder bestimmte Kompetenzstufen nie erreichen werden. Egalitt, Differenzierung und Heterogenitt kçnnen jedoch im schulischen Kontext nicht darber hinwegtuschen, dass Schule im gesellschaftlichen Auftrag Kinder auch miteinander vergleichen muss. Drittens kommt daher die Hierarchie ins Spiel, die verschiedenes beinhaltet: Es geht um Bewertung und damit auch um Selektion, es geht auf der professionellen Beziehungsebene aber auch um Respekt und Frsorge. Gerade letztgenannte Aspekte sind fr Bildungs- und Lernprozesse sehr bedeutsam. Konstruktives Lernen gelingt besser, wenn sich die Schler von einer Person sicher gehalten fhlen, der sie einerseits mehr Wissen und Erfahrung zubilligen, die

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sie andererseits aber auch in ihrer relativen Unwissenheit respektiert, ohne sie zu beschmen (Prengel, 2005; Krebs, 2002). Fr das Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungswesen und damit auch fr das Schulsystem ist es eine Frage der Zukunftsfhigkeit (Bauer in diesem Band), wie diese Anerkennungsformen gewichtet und in institutionelle Strukturen umgesetzt werden. Das heißt, die Funktion der Schule ist keineswegs gefhrdet, wenn egalitre Formen der Anerkennung und die Anerkennung von Heterogenitt vor der Anerkennung der Hierarchie Prioritt genießen (Borst, 2003; Trescher, 1991). Im Zwçlften Kinder- und Jugendbericht (BMFSJ, 2005) werden solche berlegungen aufgegriffen und ein Bildungs- und Erziehungswesen gefordert, dass der Gleichheit und Differenz der Individuen auch auf institutioneller Ebene Ausdruck verleiht (S. 40 f.). Diesem Bericht wird ein erweitertes Bildungsverstndnis zugrunde gelegt, »demzufolge aus biographischer Sicht von Kindern alle Lernund Bildungsprozesse ins Blickfeld zu rcken sind, ungeachtet dessen, ob sie als Ergebnis einschlgiger Bildungsinstanzen mit Angebotscharakter oder als Elemente offizieller Lehrplne des Bildungssystems vorgesehen waren« (S. 26). In diesem Bericht wird dieser Lern- und Bildungsbegriff in der »Trias von Bildung, Erziehung und Betreuung« zusammengefasst, wobei die Verfasser Bildung als eine Art Oberbegriff sehen, in den Erziehung und Betreuung eingelagert sind (S. 26; Datler, 1995, S. 239 ff.). Bildung wird in diesem Bericht nicht allein auf den Erwerb von kognitiven und instrumentellen Kompetenzen reduziert, wobei diesen großes Gewicht beigemessen wird, sondern zielt wesentlich darauf ab, die Subjekte zu befhigen, »sich Zumutungen und Ansprchen der Gesellschaft, die der individuellen Entfaltung entgegenstehen, zu widersetzen« (S. 31; Klafki, 1996).

Psychoanalytisch-pdagogische Reflexion Psychoanalytisch-pdagogisches Handeln und seine Reflexion basiert auf einem breit gefassten integrativen Bildungs- und Entwicklungsverstndnis (Trescher, 1988, 1991; Eggert-Schmid Noerr, 2006; Deppe, 2002). Dieses richtet sein Augenmerk nicht nur auf die Heranwachsenden und Erwachsenen, die von sozialer Marginalisie-

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rung, Behinderungen und anderen individuellen Aufflligkeiten betroffen sind, sondern sieht die Notwendigkeit der Herstellung und Untersttzung von Bildsamkeit als eine allgemeine Aufgabe an: Diese impliziert die Fçrderung instrumenteller und kultureller Kompetenzen, zielt aber gleichermaßen auf soziale und personale Kompetenzen und damit auf intersubjektiv-kommunikative, sthetisch-expressive, auf Kçrperlichkeit und die emotionale Innenwelt bezogene Fhigkeiten (Winkler, 2006, S. 32; BMFSJ, 2005, S. 31 ff.). Innerhalb dieses großen Spektrums richtet psychoanalytisch-pdagogische Reflexion ihr Augenmerk auf besondere Fragen. Der Blick auf das eigene Leben und die Brche in der Welt- und Existenzerfahrung stehen dabei im Vordergrund: »Mit anderen Worten: In bisher im Dunklen gebliebene soziale Zusammenhnge soll Licht gebracht werden, und Licht gilt traditionell als Metaphorik von Wahrheit und Einsicht« (Dçrr, 2006, S. 68). Dieses Sehen ist an die Erfahrungen von intersubjektiver Anerkennung gebunden, das heißt Erfahrungen mit Anderen, die die Vorstrukturen des eigenen expliziten und impliziten Verstndnisses sozialer Situationen und persçnlicher Fragen infrage stellen. Das psychoanalytische Verstehen von Interaktionsprozessen knpft an diese paradoxe intersubjektive Grunderfahrung an und forscht nach der individuell-besonderen Bedeutung von Erleben, Verhalten und Denken (Trescher, 1993, S. 169 ff.). Das Spannungsverhltnis zwischen bildender Hilfe zur Lebensbewltigung und Aufarbeitung lebensgeschichtlicher Konfliktlinien ist somit Angelpunkt des professionellen Selbstverstndnisses psychoanalytisch-pdagogischer Reflexion. Dieses berhrt die Selbstauffassungen der beteiligten Personen einschließlich ihrer belastenden Konflikte und den damit einhergehenden unbewussten Bedeutungen (Gerspach, 2002, S. 147 ff.). Damit diese Konflikte und die sich daraus ergebenden Verstrickungen, die im brigen in allen zwischenmenschlichen Begegnungen auftreten, professionell bearbeitet werden kçnnen, bedrfen Fachkrfte spezifisch psychoanalytischpdagogischen Wissens und entsprechender Kompetenzen (Mller, Krebs, Finger-Trescher, 2002). Ein Baustein dieses Konzeptes ist der psychoanalytische Topos, dass das Sich-einbeziehen-Lassen in die professionellen Interaktionen Ausgangspunkt und Weg der Konfliktbewltigung darstellt, der

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»methodisch fr den Erkenntnisgewinn unerlsslich ist« (Trescher, 1993, S. 168). Die Erkenntnis und das Verstehen wird durch die schrittweise Triangulierung der professionellen Interaktionen gesichert und basiert auf der Virtualisierung festgefahrener Konfliktmodi, die unter anderem auf unerkannten bertragungen und Gegenbertragungen beruhen. Unter bertragung wird ein ungelçster, innerer lebensgeschichtlicher Konflikt verstanden, der sich innerhalb der professionellen Beziehung in einen intersubjektiven Konflikt verwandelt. Die andere Person, hier der Professionelle, wird sozusagen als Stellvertreter frherer Beziehungspartner gesehen. Die Szenen kçnnen sich so aufgliedern, dass entweder Erfahrungen mit einem Anderen, beispielsweise Vater oder Mutter, bertragen werden, oder Aspekte und Erlebnisweisen, die mehr die eigene Person, die eigenen Selbsterfahrungen betreffen. In der Regel sind beide Anteile gleichzeitig virulent, jedoch unterschiedlich gewichtet (Altmeyer u. Thom, 2006; Herold u. Weiß, 2002). »Diese unbewussten bertragungsreaktionen ußern sich in konkreten, wenn auch verschlsselten Interaktionsformen und Beziehungsangeboten« (Finger-Trescher, 2001, S. 1457), denen unabgegoltene sexuelle und aggressive Regungen, Gefhle und Affekte wie beispielsweise Trauer, Schuld, Scham und Krnkungen zugrunde liegen. Diese Angebote, Wnsche und Bedrfnisse signalisieren dem professionell Beteiligten, wie der bertragende die Beziehung zu ihm gestalten mçchte, und es werden entsprechende Gegenbertragungsreaktionen ausgelçst. Diese kçnnen auch als »bertragungsidentifizierungen« bezeichnet werden. Sie entstehen in dynamischen Prozessen zwischen zwei oder mehreren Personen, die sich im Kontext pdagogischer und sozialer Felder – aus dem Zusammenspiel von bertragung und Gegenbertragung – zu »belastungstypischen Konflikten und Szenen« (Trescher, 1993) verdichten. Hier kommt dann eine spezifische psychoanalytische Wahrnehmungshaltung zum Tragen, die allerdings angesichts gelingendem professionellen Handeln in den Hintergrund tritt. In einer Pendelbewegung zwischen Letztgenanntem und den irritierenden, belastenden und sich wiederholenden Konflikten werden durch die Analyse der Gegenbertragungsreaktionen und ber Probeidentifizierungen durch Hypothesenbildungen die Grenzen des Verstehens schrittweise ausgedehnt (S. 193).

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Diesem Unterfangen stellen sich aber in der Regel erhebliche emotionale und kognitive Widerstnde entgegen. Um damit umgehen zu kçnnen, schlgt Kçrner (1996) vor, die professionellen Beziehungen in den Feldern der Pdagogik und Sozialen Arbeit als eine Art Probebhne anzusehen. Wirksame Vernderungen im Hinblick auf interpersonelle Verstrickungen und Entwicklungsblockaden beruhen weniger auf lebensgeschichtlichen Rekonstruktionen, sondern darauf, dass die professionell Beteiligten den Adressaten ihr eigenes Verstndnis der gemeinsamen Situationen anbieten. Dies muss sich innerhalb eines Dialoges zwischen Personen ereignen, die freinander bedeutungsvoll geworden sind. Das heißt, aus einem Geschehen, das vielleicht zu Beginn einer professionellen Beziehung noch als AktionReaktion von Einzelpersonen gesehen werden kann, muss etwas reziprok Gemeinsames entstanden sein. Die Einigung auf dieses Gemeinsame, das in Teilen auch differente Interpretationen einschließt, ist deswegen wirksam, weil innere Konflikte durch Empathie und Identifizierung erfahrbar und reflexiv nachvollziehbar werden. Sie kçnnen in der Einigung – auf der Basis eines dialogischen Verhltnisses – integriert werden. Allerdings hngt diese modifizierende Integration einerseits von der Intensitt der mit diesen Konflikten verbundenen ngste der Adressaten ab und basiert andererseits auf der Fhigkeit der Professionellen, gengend unbefangen mit diesen Konfliktanteilen umgehen zu kçnnen (Trescher, 1993, S. 173 ff.; Krebs, 2006; Katzenbach, 2004b). An dieser Stelle kommt aber noch ein weiteres kritisches Korrektiv zur Wirkung. Die Professionellen mssen unbedingt darauf achten, dass sie weder ihren eigenen bertragungsbereitschaften noch denen ihrer Gegenber erliegen, obwohl diese im professionellen Prozess immer auch ein Stck weit ausagiert werden. Trescher (1993) formuliert diesen Sachverhalt wie folgt: »Sich verwenden lassen, den anderen nicht verwenden. Dies impliziert zuallererst den Verzicht auf die Befriedigung eigener Wnsche durch die Klienten, aber auch die Verweigerung der Befriedigung bestimmter Wnsche der Klienten« (S. 182).

Der wechselseitigen Manipulation wre andernfalls Tr und Tor geçffnet. Das heißt, diese intersubjektiv-kommunikative Konzeption

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der professionellen Beziehungen basiert auf einem spezifischen Begriff reflexiver Abstinenz. Dieser schließt aktives Handeln und auf die Adressaten zugehendes Verhalten nicht aus. Abstinenz ist vielmehr als prinzipielle Haltung so zu verstehen, dass Reflexion und Metakommunikation immer wieder neu erarbeitet werden mssen. Aus egozentrischen, durch unbewltigte Konflikte eingeengten Beziehungsformen (Gerspach, 2006, S. 12 ff.) kçnnen so triangulierte Beziehungsformen entstehen, in denen alle am professionellen Geschehen Beteiligten, ihre Rollen, ihre Beziehungen, ihre Lebenserfahrungen und Wnsche angemessener erfahren und erkennen kçnnen. So soll das bisher Unabgegoltene vergangener und gegenwrtiger bewusster, aber auch unbewusster Konflikte mit einer Zukunftsperspektive zum Tragen kommen kçnnen. Diese grundlegende Reziprozitt der professionellen Beziehungen setzt nicht die Vorgabe außer Kraft, dass die Fachkrfte aufgrund ihrer Aufgabenprofile fr die Bildungs- und Entwicklungsinteressen der Adressaten eintreten. Die damit verbundene Parteilichkeit und Asymmetrie ist aber nur dann Garant fr einen Freiheitsspielraum im Hinblick auf selbstbestimmtere und weniger durch Zwnge geprgte Umgangformen im Bildungs-, Sozial- und Erziehungswesen, wenn sie mit dem Konzept einer Grenze der Verfgbarkeit der Subjekte verkoppelt werden. Diese wird im Begriff der intersubjektiven Anerkennung thematisch, der eine normative Grundlage fr professionelles Handeln zur Verfgung stellt (Katzenbach, 2004a; Honneth, 1997). Menschen werden nur aus der Perspektive eines zustimmenden Anderen zu handlungsfhigen Subjekten, die sich selbst achten und vertrauen (Honneth, 1990, S. 1048). Bleiben solche zustimmenden Reaktionen dauerhaft aus, werden sie durch soziale Marginalisierung und andere sozialisationsbedingte Nachteile chronisch, dann reißt dies Lcken in die Persçnlichkeiten der Betroffenen und unterluft gelingende Bildungs- und Entwicklungsprozesse. Gleichwohl enthalten diese Missachtungserfahrungen allerdings auch das Potential, dass die betroffenen Subjekte sich gegen die ihnen zugefgten Benachteiligungen zur Wehr setzen. Es wre dann die Aufgabe von Professionellen, sie hierin zu untersttzen und darauf abgestimmte Bildungs- und Entwicklungsangebote zu machen (Borst, 2003, S. 179 ff.; Dçrr, 2006, S. 70 f.). Mit der Einnahme dieses normativen Standpunktes sollen die intersubjektiven Bedingungen

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gesichert werden, die es menschlichen Subjekten erlauben, ihre Integritt zu wahren.

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Heinz Krebs

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Traumatische Persçnlichkeitsbildung

Marianne Rauwald

Trauma und Persçnlichkeitsbildung »Ein Trauma ist ein Ereignis im Leben eines Subjekts, das definiert wird durch seine Intensitt, die Unfhigkeit des Subjekts, adquat darauf zu antworten, die Erschtterung und die dauerhaften pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Organisation hervorruft. Das Trauma ist gekennzeichnet durch ein Anfluten von Reizen, die im Vergleich mit der Toleranz des Subjekts und seiner Fhigkeit, diese Reize psychisch zu meistern und zu bearbeiten, exzessiv sind« (Laplanche u. Pontalis, 1972).

Bereits diese frhe Definition aus dem Wçrterbuch der Psychoanalyse, in der der ußere Ereignischarakter des Traumas, die berschwemmung und çkonomische Unverarbeitbarkeit einer Situation im Vordergrund stehen, verweist auf die bleibenden Vernderungen, den bleibenden Schaden, den ein solches Ereignis fr das Individuum bedeutet. Auch im Erwachsenenalter kçnnen so extrem traumatisierende Erfahrungen zu einer dauerhaften Vernderung in der Persçnlichkeit eines Menschen fhren, wenn z. B. eine Frau in einem Brgerkrieg ber Monate von Soldaten missbraucht und vergewaltigt wurde, in permanenter Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder, so kann dies weit ber eine behandelbare und damit noch reversible posttraumatische Belastungsstçrung hinaus eine bleibende Beschdigung der Persçnlichkeit dieser Frau bedeuten, deren Leben fortan von sozialem Rckzug, Misstrauen und ngsten gekennzeichnet sein wird. Aber nicht nur Erwachsene sind solchen traumatisierenden Situationen ausgesetzt: Naturkatastrophen wie Erdbeben oder die vor wenigen Jahren uns alle erschtternde Tsunami-Katastrophe, Unflle oder unerwartete Todesflle sind Erfahrungen, denen Kinder in aller Welt ausgesetzt sind. Immer hufiger mssen wir uns damit auseinandersetzen, dass auch Kinder, die hier mitten und zwischen uns leben, Opfer von Kriegs- und Brgerkriegsverbrechen geworden sind oder als Zeugen miterleben mussten, wie nahe und von ihnen geliebte Menschen wie Eltern, Geschwister oder Großeltern gefoltert oder getçtet wurden. In unserer Arbeit treffen wir auf Kinder, die sexuellen Missbrauch oder schwere Vernachlssigung erleben mssen.

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Marianne Rauwald

Wenn schon eine reife erwachsene Persçnlichkeit durch solche traumatischen Erfahrungen dauerhaft erschttert und beschdigt werden kann, wie viel mehr wird das fr Kinder zutreffen, die, noch mitten in ihrer Entwicklung begriffen, wesentlich vulnerabler und in ihrer Persçnlichkeitsbildung ungefestigter sind und damit dem Einfluss solcher gravierender Ereignisse ungeschtzter ausgeliefert sind. Doch standen Kinder und ihre Erfahrungen lange im Schatten der Traumaforschung (einen berblick findet man bei Bohleber, 2000). Pynoos, Steinberg und Wraith (1995) heben in ihrer Arbeit die lange tradierte positive Bewertung einschneidender, traumatischer Erfahrungen fr die Persçnlichkeitsentwicklung von Kindern hervor. Das Leid und die pathologischen Folgen solcher Ereignisse wurden hufig bersehen, zumindest vernachlssigt, mçglicherweise, weil die erste Phase nach einer Traumatisierung stumm verluft (Lorenzer, 1965; Lorenzer u. Thom, 1965) und es war eine gngige berzeugung, dass persçnliche Kreativitt und Charakterstrke oft aus frhen Tragçdien entstehen (Pynoos et al., 1995). In der Literatur finden sich dafr zahlreiche Beispiele, wie etwa die Darstellungen eines Jugendlichen zur Zeit des Ausbruchs des Vesuvs in den Briefen von Plinius dem Jngeren (1998) oder die autobiographischen Erzhlungen von Maxim Gorki (1965). Dagegen hat insbesondere die psychoanalytische Entwicklungsforschung z. B. von Anna Freud (1963), Melanie Klein (1962), Ren Spitz (1967), Erik Erikson (1950) oder John Bowlby (1976) schon frh die spezifischen Entwicklungsaufgaben von Kindern untersucht und begonnen, einen Zusammenhang pathologischer Entwicklungen mit traumatischen Einwirkungen zu formulieren, wie es z. B. kriegs- oder auch krankheitsbedingte Trennungen von den Eltern darstellen. Dass dennoch ber Jahrzehnte entgegen der eindrcklichen Ergebnisse dieser Forschung Kinder in traumatisierenden Situationen wie z. B. whrend langer Krankenhausaufenthalte, nach schwerwiegenden kçrperlichen Eingriffen oder unter Bedingungen familirer Gewalt oder sexuellen Missbrauchs allein gelassen wurden, ist »ein wenig rhmliches Kapitel der dafr zustndigen Fachdisziplinen« (Fischer u. Riedesser, 2003, S. 248), die erst in den letzten Jahren ihr Augenmerk auf die so leicht verletzbare innere Welt des Kindes gerichtet haben und das Ausmaß der zerstçrerischen Folgen fr die weitere Entwicklung der Persçnlichkeit betroffener Kinder und Jugendlicher erkennen.

Trauma und Persçnlichkeitsbildung

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Da Kinder in diesen Situationen hufig sich selbst berlassen bleiben und eine adquate Untersttzung fehlt, beginnt die Auseinandersetzung mit dem Kindheitstrauma und seinen Folgen oft erst lange Zeit spter, im Erwachsenenleben, wenn die Betroffenen hufig aufgrund vielfltiger Symptome und oft schweren psychischen Leidens therapeutische Hilfe suchen und erkennen, dass die Wurzeln dieses Leids in ihren frhen unverarbeiteten Erfahrungen liegen.

Frau D.: Die Geschichte einer Vergewaltigung im frhen Jugendalter Frau D. ist zwanzig Jahre alt und studiert im dritten Semester Jura, als sie auf Anraten der studentischen Beratungsstelle der Universitt, die sie wegen plçtzlich aufgetretener Prfungsngste aufgesucht hat, in meine Praxis kommt. Recht unwirsch, ein wenig herablassend beginnt sie das Gesprch, indem sie mir mitteilt, dass sie eigentlich keinen Anlass she, eine Psychotherapie zu machen, sie leide nur aktuell unter Examensangst, mçglicherweise kçnne ich ihr ein paar Tipps geben, zu mehr gben ihr ihre zahlreichen Verpflichtungen ohnehin keine Zeit. Whrend ich mich von ihrer Erçffnung innerlich etwas abgestoßen fhle und sie unmittelbar am liebsten wieder wegschicken mçchte, wird meine Aufmerksamkeit auf ihre auffllige ußere Erscheinung und ihr zu ihrem ersten Auftreten so gar nicht passenden Verhalten gelenkt. Sie ist mit ihren ber 1,85 m Kçrpergrçße fr eine Frau sehr groß, ihre Bewegungen wirken etwas ungelenk, beinahe tollpatschig und ihre ungnstige, zu kurze und knappe Kleidung, insbesondere ein glockenfçrmiger Minirock, betont eher ihre etwas unproportionale Figur. Ihr Gesichtsausdruck ist noch kindlich, Mimik und Gestik drcken Angst und Unsicherheit aus, all dies steht im deutlichen Widerspruch zu ihrem verbal so anmaßenden und entwertenden Verhalten mir gegenber. Auf dem Hintergrund meines Gefhls, dass sie das verletzte Kind in sich verstecken muss, um es zu schtzen, spreche ich behutsam ihre ambivalenten Gefhle mir gegenber an. Vorsichtig, immer bereit, mit Rckzug oder schneidenden, verletzenden Kommentaren zu reagieren, lsst sie mich in den kommenden Wochen einen Blick auf

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Marianne Rauwald

ihr immenses Leiden werfen: Hinter den Prfungsngsten, die sie als eine berdurchschnittlich begabte, brillante Studentin eigentlich im Griff hat und die quasi nur das Entree fr ihren angstbesetzten Versuch, Hilfe zu suchen, darstellen, wird zunchst eine Flle gravierender (psycho-)somatischer Beschwerden aus dem Bereich der Autoimmunerkrankungen sichtbar, die es der Patientin beinahe unmçglich machen, ihren Alltag aufrechtzuerhalten. Zu Beginn unserer Arbeit kommt es zu einer lebensbedrohlichen Zuspitzung ihres Gesundheitszustands und die Patientin muss fr einige Tage in die Klinik. Erst als wir ein tragfhiges Arbeitsbndnis aufgebaut haben, zeigt sie mir ansatzweise ihre immense Einsamkeit, ihre Unfhigkeit, dauerhafte vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, die immer wieder von ihrem maßlosen Misstrauen attackiert werden. Immer wieder schlgt sie mit ihrer Arroganz, die leicht in offene Feindseligkeit umschlagen kann, Menschen, die ihr nahe kommen, in die Flucht. In der Gegenbertragung fhle ich mich berhrt von dem kleinen Mdchen, dass sich so sehr Nhe und Wrme wnscht, aber in Angst und Schrecken erstarrt, wenn sich jemand tatschlich nhert und die dann plçtzlich, als ob sie einen Schalter umgelegt htte, mit eisiger berheblichkeit und verletzendem Verhalten reagiert. ber ihre Kindheit und Jugend berichtet sie nur sehr zçgerlich, ihre Familie deutlich idealisierend. Fotos von ihr aus der ersten Kindergarten- und Grundschulzeit zeigen sie als frçhliches, kontaktfreudiges Mdchen im Kreise ihrer Freundinnen. Glcklich erinnert sie sich an die vielen langen Sommertage, die sie mit ihren Freundinnen endlos spielend im Garten ihrer Großeltern verbracht hat. In krassem Widerspruch dazu stehen die konkreten Erinnerungen an Szenen, die durchgehend die Verlassenheit des kleinen Mdchens spiegeln, das sich insbesondere vom Vater und vom lteren Bruder abgelehnt und entwertet gefhlt hat. Ihre Mutter, die whrend ihrer Kindheit eine frçhliche und lebenslustige Frau war, ist, als die Klientin zehn Jahre ist, an rasch fortschreitendem Muskelschwund erkrankt, heute ist sie an den Rollstuhl gebunden und auf permanente Hilfe angewiesen. Ihr Vater, ein arroganter und frauenfeindlicher Mann, reagiert mit Verrgerung und Ablehnung auf die Krankheit der Mutter, seine zahlreichen außerehelichen Affren sind fr alle Familienmitglieder kein Geheimnis. Sie selbst hat den Wunsch, die Mutter zu

Trauma und Persçnlichkeitsbildung

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schtzen, und versucht, ihr so viel wie mçglich abzunehmen, das Verhalten des Vaters vor ihr zu verstecken. Mit 13 Jahren wird sie von einem 19-jhrigen Bekannten ihres Bruders mehrfach vergewaltigt. Sie weiß nicht, wie sie sich vor seinen bergriffen schtzen kann, erst als er zum Wehrdienst muss, ist sie befreit. Aus Angst und Scham, und auch, um die kranke Mutter nicht weiter zu belasten, vertraut sie sich niemandem an, spricht heute zum ersten Mal ber diese Geschichte. Sie zittert, friert, wird von Weinkrmpfen geschttelt, als sie mir von dieser Zeit erzhlt, die fr sie einen so gravierenden Einschnitt in ihrem Leben bedeutet. Sie hasst sich und ihren Kçrper, zieht sich aus allen Freundschaften zurck, auch die Schule besucht sie nur noch unregelmßig, was sie dort mit der Krankheit der Mutter erklrt, fraglos akzeptieren dies die Lehrer. Immer mehr fhlt sie sich von ihrer Klasse gemobbt. In der Oberstufe flchtet sie sich in die Beziehung zu einem wiederum einige Jahre lteren Mann, bis sich herausstellt, dass er sie stndig belgt und betrgt. Als sie ihn konfrontiert, schlgt er sie. Das ist der Zeitpunkt, von dem an sie sich ganz in sich zurckzieht. Obwohl sie kaum noch am Unterricht teilnimmt, macht sie ein brillantes Abitur mit einem Durchschnitt von 1,3 und nimmt umgehend das Jurastudium in einer benachbarten Großstadt auf. Sie findet eine nette Arbeitsgruppe, die sich ganz offensichtlich um sie bemht. Da treten erstmalig die Panikattacken auf, die sie dann in meine Praxis gebracht haben. Im Erleben von Frau D. ist es die Vergewaltigung (und ihre spteren Wiederholungen), die wie ein Blitz eingeschlagen hat in ein von ihr als glcklich erinnertes »Vorher« ihrer Lebensgeschichte und so ihre gewohnte Lebenskontinuitt zerrissen hat. Sie erlebte Panik, Entsetzen, Ohnmacht und Hilflosigkeit, angesichts einer Situation, die objektiv wie subjektiv alle ihr sonst zur Verfgung stehenden Bewltigungsmaßnahmen vollstndig berfordert hatte, ohne dass es einen vertrauten Menschen gegeben htte, der sie begleitet und ihr untersttzend zur Seite gestanden htte: Der Vater wie auch der Bruder sind ihr in ihrem Erleben schon immer kalt und entwertend begegnet, die Mutter musste aufgrund ihrer Krankheit geschtzt werden.

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Klassifizierung von Kindheitstraumata Fr das Verstndnis, welche Wirkung ein Traumaerleben fr Kinder und Jugendliche hat, die ohnehin, durch ihre noch in Entwicklung begriffene unreife Persçnlichkeit, vulnerabler und verletzlicher sind, ist die Art des erlebten Traumas von großer Bedeutung. Eine gngige Systematisierung von Traumata ist die Einteilung nach Terr (1995) in Traumata nach Typ I beziehungsweise Typ II. Ein Typ-I-Trauma wird auch als Schocktrauma bezeichnet und ist in aller Regel ein einmaliges traumatisches Ereignis wie ein schwerer Autounfall oder ein plçtzlicher Wohnungsbrand. Kinder kçnnen sich meist gut und detailliert an diesen Vorfall erinnern. Zunchst kçnnen Kinder mçglicherweise ngste entwickelt, die sich dann zumeist direkt auf das Erlebte beziehen, wie Angst im Verkehr nach einem Autounfall, andere Kinder zeigen spontan Verhaltensnderungen wie sozialen Rckzug oder regressive Tendenzen, wie zum Beispiel anklammerndes Verhalten. Eine ausreichend gute allgemeine Versorgung des Kindes, insbesondere im nahen familiren und sozialen Umfeld, ist in diesen Fllen jedoch eine gute Voraussetzung dafr, dass keine langzeitig beeintrchtigenden Folgen fr das Kind entstehen und bisweilen tatschlich eine positive Entwicklung des Kindes beobachtet werden kann, wie das fr alle positiv gemeisterten Entwicklungskrisen zutrifft. Von einem Typ-II-Trauma dagegen spricht man, wenn die traumatische Erfahrung komplex ist und ber eine lange Zeit wiederholt stattfindet. Oft langjhrige Erfahrungen von sexuellem Missbrauch oder Misshandlung, aber auch Verfolgung und Folter in Kriegen und Brgerkriegen zhlen zu diesen schweren Traumatisierungen, denen Kinder ausgesetzt sein kçnnen. Auch die Traumatisierung von Frau D., die ber Monate sich hinziehende Missbrauchsbeziehung, die sich in ihren spteren Beziehungen wiederholen sollte, gehçrt hierher. Die immer wiederkehrende Erfahrung dieser Situationen hat einen dauerhaften Einfluss auf die weitere Persçnlichkeitsentwicklung von Frau D. genommen. Bei Kindern oder Jugendlichen, die solche Erfahrungen machen mussten, wird das unter solchen Bedingungen sich ausbildende Selbstbild durch die permanent gegenwrtigen Gefhle von Hilflosigkeit, Angst, Ausgeliefertsein, aber auch Wut und Hass, durch ein mangelndes Selbstvertrauen und fehlenden Selbstwert gekennzeichnet sein, ohne vertrauensvolle Erwartung, von nahen

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Menschen Hilfe und Untersttzung zu erfahren, so dass die Beziehung zu anderen Menschen durch Misstrauen geprgt sein wird und eine nur negative Erwartung an die eigene Zukunft ausgebildet wird. Dabei werden die traumatischen Erfahrungen von den betroffenen Kindern und Jugendlichen hufig verleugnet, die Abspaltung von Gefhlen und Erinnerungen fhrt zu einem Zustand emotionaler Ansthesie, ein Versuch, sich selbst zu schtzen, der jedoch ein hilfreiches Verstehen der Kinder oft erschwert. Dass Kinder bisweilen massiven Traumatisierungen ausgesetzt waren, lsst sich dann anfangs zunchst nur ber die schwierige Beziehungsgestaltung und das Verstndnis einer Reihe oft gravierender Symptome annehmen: – ngste und Phobien, – Depression, – Sozialer Rckzug, – Dissoziation, – Schuleschwnzen, Weglaufen, – somatische Beschwerden, – aggressives Verhalten, geringe Frustrationstoleranz, – Verratsdynamik an Dritte, – sexualisiertes Verhalten – Aversion, – Promiskuitt, Prostitution, – Delinquenz, – Drogen- und Alkoholmissbrauch, – Essstçrungen, – selbstschdigendes Verhalten (Selbstverletzungen, Suizidalitt), – pseudoprogressives Verhalten. Die Klassifizierung von Traumata nach Terr berschneidet sich hufig mit der Einteilung von Kindheitstraumata hinsichtlich der Frage, inwieweit die Traumatisierung innerhalb beziehungsweise außerhalb der Familie stattgefunden hat: Typ-I-Traumata, wie Naturkatastrophen oder Unflle, finden oft außerfamilir statt oder zumindest liegt die Verursachung des Geschehens nicht im Handlungsbereich der nahen und wichtigen Bezugspersonen des Kindes. Daher kçnnen die Elternfiguren als hilfreiche Figuren im Erleben der Kinder bestehen bleiben. So kçnnen sich diese Kinder von ihnen trotz des traumatischen Erlebens weiterhin beschtzt und bei ihnen aufgehoben fhlen,

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Marianne Rauwald

ihr Gefhl von Sicherheit und Geborgenheit wird nicht fundamental erschttert. Findet das traumatische Geschehen dagegen in der Familie statt, wie dies fr viele Traumata des Typ II gilt, so in Fllen familirer Gewalt oder Missbrauch, sind die familiren Bindungs- und Schutzfiguren zum Aggressor geworden, das Gefhl von Sicherheit und Aufgehobensein in der Welt sind dadurch dauerhaft beschdigt worden. Dennoch sind hufig auch in diesen schweren Fllen einer kindlichen Traumatisierung die Folgen nicht unmittelbar fr die Umgebung sichtbar. Denn gerade, wenn das Trauma in der Familie stattgefunden hat, an dem Ort, in dem das Kind so existentiell und berlebensnotwendig auf Hilfe und Untersttzung angewiesen ist, wird das Kind als Schutz vor befrchtetem noch grçßerem Schaden unbewusst und auch bewusst alles tun, um die Umgebung fr sich als eine mçglichst gute zu erhalten, oft um den Preis eigener psychischer Unversehrtheit. Dies gilt auch fr eine weitere besondere Form der kindlichen Traumatisierung, die Masud Khan (1964) in den 1960er Jahren insbesondere auf dem Hintergrund seiner Arbeit mit Kindern der zweiten Generation des Holocaust beschrieben hat und bei der er von einer spezifischen Form der Traumatisierung spricht, die er kumulatives Trauma nennt. Khan geht bei seinen berlegungen von einem çkonomischen Modell der Traumatisierung aus: Erfahrungen erhalten traumatische Qualitt, wenn sie das Kind mit Reizen berschwemmen, deren Quantitt die Verarbeitungsmçglichkeiten des Kindes berfordern. Gerade in der frhen Entwicklung, wenn Schutzmechanismen gegen eine solche berreizung vom Kind noch nicht gengend ausgebildet sind, ist das Kind auf die Mutter angewiesen, die fr das Kind sorgt, indem sie es vor dem ungeschtzten Einfluss ußerer berreizungen zum Beispiel durch Lrm, Hitze, Klte oder auch einem inadquaten Umgang mit dem Kind bewahrt, wie sie es auch vor einer berwltigung durch innere Reize, zum Beispiel Hunger oder Frustration, schtzt. Mit fortschreitender Entwicklung kann das Kind diese Aufgabe zunehmend selbst bernehmen. Ein kumulatives Trauma aber kann dann entstehen, wenn die Mutter ihre Rolle als Reizschutz des Kindes in den Bereichen, in denen das Kind fr die Verarbeitung von Erlebnissen die Mutter als Hilfs-Ich zur Untersttzung seiner noch unreifen und instabilen Ich-

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Funktionen braucht, nur mangelhaft erfllt, so dass sich in diesen fr die Umgebung oft unaufflligen Situationen die Durchbrechungen des Reizschutzes ansammeln, ohne dass sich die Kumulation durch Verhaltensaufflligkeiten des Kindes oder andere Symptome deutlich bemerkbar zu machen braucht. Dieser frhe Mangel erhlt oft erst nachtrglich traumatische Qualitt, und zwar dadurch, dass er sich anhuft. Betroffene Kinder leiden dann erst im Erwachsenenleben unter Einschrnkungen und Symptomen, deren urschlicher Zusammenhang mit der traumatisierenden Mangelsituation in der frhen Kindheit oft verborgen bleibt, insbesondere wenn die Beziehung zur Mutter ansonsten eine liebevolle und behtende gewesen sein mag. Denn oft hngt der spezifische Mangel im mtterlichen Verhalten mit ernsten Konflikten, oft eigenen Traumatisierungen der Mutter zusammen, die es ihr unmçglich machen, an diesen Stellen ihren Aufgaben dem Kind gegenber ausreichend gut nachzukommen. Sehr oft wird dies zum Beispiel fr Mtter zutreffen, die unter schwierigsten Bedingungen und hufig nach schweren eigenen Traumatisierungen durch Verfolgung, Folter oder Vergewaltigung aus ihrer Heimat fliehen mussten. Diese Mtter, die oft eine sehr innige Beziehung zu ihren Kindern haben, die sie auf der einen Seite vor hnlichen Erlebnissen schtzen wollen, deren Schutz sie auf der anderen Seite unbewusst oft selbst suchen, sind kaum in der Lage, ihren Kindern die fr deren Entwicklung notwendigen elterlichen Schutz und Sicherheit zu bieten. Und die Kinder reagieren unbewusst mit einer pseudoprogressiven bernahme elterlicher Aufgaben der Mutter gegenber, entwickeln sich scheinbar besonders gut, sind sehr gut integriert, zeigen bisweilen berragende schulische Leistungen, ohne dass der Mangel und die kindliche berforderung sichtbar werden. Inwieweit diese positiven Entwicklungen tragend genug fr die Anforderungen des Erwachsenenlebens sein werden, wird von vielen unwgbaren Faktoren abhngen. Ein hnliches Phnomen beschrieb, ebenfalls in den 1960er Jahren, Alfred Lorenzer (1965) in seinen Arbeiten zum zweiphasigen Verlauf von Traumatisierungen. Viele Holocaustopfer, aber auch im Krieg schwer versehrte Kinder oder Soldaten, schienen in den folgenden Jahren scheinbar ohne jede Ausbildung einer gravierenden Symptomatik das Geschehene gut verarbeitet zu haben. Dann aber konnte ein oft kleiner, eher unscheinbarer Vorfall eine lrmende

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Symptomatik und gravierende Beeintrchtigungen bei den Betroffenen hervorrufen, wenn dieser neuerliche Vorfall die bis dahin latente, wie schlafende Traumatisierung wachgerufen hatte, die zuvor in einem bei genauerem Hinsehen »ganz normalen« Leben in Schach gehalten worden war, die dafr notwendigen Krfte dann aber berfordert waren.

Das Trauma im Prozess Sowohl die Arbeiten Khans als auch die von Lorenzer verweisen dabei auf die Notwendigkeit, ein traumatisches Geschehen nicht nur als ein punktuelles Geschehen, sondern eingebettet in die Lebensgeschichte des betroffenen Individuums zu betrachten. So wird die Frage, wie ein Kind eine traumatische Situation verarbeitet, sicherlich zum einen von den spezifischen Umstnden der Situation wie etwa der Schwere der Traumatisierung, der Anwesenheit untersttzender Menschen sowie der aktuellen gesundheitlichen Verfassung des Kindes abhngen, aber in besonderem Maße auch davon, welche subjektiven Mçglichkeiten das Kind entwickeln konnte, auf solche extrem bedrohlichen Situationen zu reagieren. Bei Kindern und Jugendlichen ist dabei ganz besonders der jeweilige Stand der Entwicklung zu bercksichtigen. Die Frage, mit welchen kognitiven, affektiven oder kçrperlichen Entwicklungsaufgaben das Kind zum Zeitpunkt der Traumatisierung beschftigt war, welche Entwicklungsthemen fr das Kind gerade im Vordergrund standen, und inwieweit diese spezifischen Themen mit der traumatisierenden Situation tangiert wurden, wird fr die weitere Verarbeitung von wesentlicher Bedeutung sein. Kritische Entwicklungsschritte kçnnen auf dem Hintergrund einer erlebten Traumatisierung dabei sowohl verzçgert, in anderen Fllen aber auch pseudoprogressiv beschleunigt verlaufen (van der Kolk et al., 2000). Zu bercksichtigen ist weiter, ob die kçrperliche, psychosexuelle und soziale Entwicklung des Kindes sich im Vorfeld der Traumatisierung altersgemß entwickeln konnte, welche Abweichungen es mçglicherweise schon zuvor gegeben hat und – damit im Zusammenhang – welche Abwehrmechanismen und Copingstrategien dem Kind in der traumatischen Situation zur Verfgung standen.

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Trauma und Persçnlichkeitsbildung

In ihrem Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung (Abb. 1) akzentuieren Fischer u. Riedesser (2003) die Bedeutung, die die prtraumatischen Lebenserfahrungen fr das Erleben und Verarbeiten traumatischer Erfahrungen haben.

Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung (nach Fischer 2003) Antezedente Komponenten langfristig

Bewältigungsversuche, Auswirkungen

Situative Komp.

kurzfristig

kurz- und mittelfristig

Zusätzliche Belastungen

Objektive Sit.faktoren Schock Aufschrei

Traumat. Situation

Unmittelbare Vorgeschichte

Traumat. Reaktion

Traumat. Prozess

Subj. Bedeutungszuschreibung

Zusätzliche schützende (protektive) Faktoren

Subj. Bewältigungsmöglichkeiten

Erholung

Symptomatische Belastung

Lebensgeschichte

langfristig

Zeit

Abb. 1: Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung

Ob ein psychisches Trauma langfristig zu einer bleibenden Vernderung, Einengung oder Beschdigung der kindlichen Persçnlichkeit fhren wird, hngt sowohl von der prtraumatischen Entwicklung des Kindes als auch von den Bedingungen ab, auf die das Kind in der traumatischen Situation und danach trifft und die in einem guten Sinn das unerwartete und zunchst unverarbeitbare Ereignis abfedern kçnnen, aber Panik und Grauen und die erlebte Hilflosigkeit auch weiter verzerren und steigern kçnnen, wenn die bisherigen Lebenserfahrungen bereits von Mangel oder frheren Traumata bestimmt waren beziehungsweise dem traumatisierten Kind keine adquate Hilfe angeboten wird, es mçglicherweise den traumatisierenden Umstnden weiter schutzlos ausgeliefert bleibt. Egle et al. (1996) listen in ihrer Arbeit ber pathogene und protektive Entwicklungsfaktoren in Kindheit und Jugend Bedingungen auf, die einerseits als biographische Schutzfaktoren das Erleben und Verarbeiten trauma-

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tischer Erfahrungen von Kindern gnstig beeinflussen kçnnen, andererseits beschreiben sie Risikofaktoren, die zur Ausbildung dauerhafter pathogener Folgen einer Traumatisierung beitragen kçnnen: Biographische Schutzfaktoren: – dauerhafte gute Beziehungen zu mindestens einer primren Bezugsperson, – Großfamilie, kompensatorische Elternbeziehungen, Entlastung der Mutter, – gutes Ersatzmilieu nach frhem Mutterverlust, – berdurchschnittliche Intelligenz, – robustes, aktives, und kontaktfreudiges Temperament, – sicheres Bindungsverhalten, – soziale Fçrderung (Jugendgruppen, Schule, Kirche), – geringe Risikogesamtbelastung. Risikofaktoren fr die Entstehung psychischer Krankheiten: – niedriger sozioçkonomischer Status, – mtterliche Berufsttigkeit im ersten Lebensjahr, – schlechte Schulbildung der Eltern, – große Familien und sehr kleiner Wohnraum, – Kontakte mit Einrichtungen der »sozialen Kontrolle«, – chronische Disharmonie, – unsicheres Bindungsverhalten nach 12./18. Monaten, – psychische Stçrungen der Mutter/des Vaters, – schwere kçrperliche Erkrankungen der Mutter/des Vaters, – Verlust der Mutter, – hohe Risikogesamtbelastung. Wie sehr nachfolgende Erfahrungen den weiteren Verlauf der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen bestimmen und beeinflussen kçnnen, hat Keilson (1979) in seiner beeindruckenden Arbeit gezeigt, die eine Langzeituntersuchung zur Entwicklung jdischer Kriegswaisen in den Niederlanden beschreibt. Keilson entwickelt hier sein Modell der sequentiellen Traumatisierung. Die erste Sequenz der Traumatisierung der jdischen Kinder umfasst die Zeit vor der eigentlichen traumatischen Verfolgung. Es ist die Zeit des wachsenden Nationalsozialismus, die Zeit der Besetzung der Niederlande und des

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beginnenden Terrors. Es ist eine Zeit der Sensibilisierung der Kinder fr Gefahr, fr Sorgen ihrer Umgebung, erste Erfahrungen mit der beginnenden Stigmatisierung. Erst die zweite Sequenz ist die Zeit der permanenten existentiellen Bedrohung, der Traumatisierung der Kinder: dem Leben im Versteck, der Trennung von nahen und vertrauten Menschen, dem Verlust der Eltern. Die dritte Sequenz der Traumatisierung, die Keilson beschreibt, beginnt nach dem Krieg. Die Kinder haben Furchtbares durchlebt, haben ihre Eltern verloren, sind Waisen, aber Grauen und Schrecken, die allgegenwrtige Todesangst sind vorbei. Die Kinder werden in Waisenheimen oder in Pflegefamilien untergebracht, wo Keilson sie begleitet und untersucht und feststellt, dass die Erfahrungen der Nachkriegszeit von entscheidender Bedeutung fr den Verlauf des traumatischen Prozesses sind. Kinder, die in einer sicheren, warmen, Anteil nehmenden Umgebung aufgenommen werden, zeigen eine wesentlich gnstigere Entwicklung als Kinder, die weniger gnstige Umstnde in der Zeit nach dem Ende des Holocaust fanden. Dies galt unabhngig von dem Ausmaß an traumatischen Erfahrungen, die diese Kinder erleben mussten. Keilson konnte feststellen, dass Kinder, die ein wesentlich schwierigeres Schicksal whrend der Zeit der Verfolgung zu ertragen hatte, dennoch eine positivere Entwicklung nahmen als Kinder, die eine vergleichsweise leichtere Kriegszeit hatten, wenn die Umstnde nach dem Krieg besser waren. Um das Ausmaß einer Traumatisierung beurteilen und eine Prognose hinsichtlich der weiteren Entwicklung von Kindern und Jugendlichen erstellen zu kçnnen, mssen also alle pr-, peri- und posttraumatischen Verlaufsfaktoren Bercksichtigung finden.

Fazit und Ausblick Fr Frau D., die junge Jurastudentin, hat die prtraumatische Belastung durch die schwere Erkrankung der Mutter, der zentralen positiven Beziehungsfigur in ihrem Leben, und insbesondere die durch Entwertung und Ablehnung gekennzeichnete Beziehung zum Vater, die sich in der Beziehung zum Bruder widerspiegelt, zu einer Situation gefhrt, in der Frau D. die traumatische und wiederholte Vergewaltigung und Missbrauchsbeziehung zu dem wesentlich lte-

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ren Bekannten ihres Bruders quasi wie eine alptraumhafte Wiederholung und Besttigung ihres negativen Selbstbildes wie der unbewussten Phantasien ber ihre Objektbeziehungen erlebt hat. Zunchst stolz ber das Interesse des lteren Mannes an ihr als bislang so unbeachtetem jungen Mdchen, war sie der plçtzlich aggressiven und zynischen Behandlung hilflos ausgeliefert, versuchte, die gewaltttig geforderte Sexualitt, den Zynismus und die entwertenden Kommentare innerlich zu verleugnen, abzuspalten, durch Fokussierung auf winzige positive Details, wie einem freundlichen Blick, einer positiven ußerung hinsichtlich ihres Aussehens und durch das Eingehen weiterer Verabredungen, von denen sie hoffte, dass sie anders verlaufen wrden, ungeschehen zu machen. Der einzige vertraute Mensch, ihre Mutter, war selbst sehr abhngig und bedrftig. In einer Umkehrung der Generationenrolle fhlte sie sich verantwortlich fr das Wohlergehen ihrer so zerbrechlichen und angegriffenen Mutter, die auf dem Hintergrund ihrer schweren Krankheit ihre Rolle als schtzendes mtterliches Objekt nicht mehr erfllen konnte. Bruder und Vater, deren Bilder sich fr sie spter unbewusst mit denen des Vergewaltigers mischten, standen kompensatorisch als hilfreiche Menschen auch nicht zur Verfgung. Ihren Problemen und ngsten fhlte sie sich ohnmchtig und einsam der Situation ausgeliefert. In einer fr Missbrauchsopfer so typischen Introjektion der Schuldgefhle und Identifikation mit dem Aggressor erlebte sie sich selbst verantwortlich und schuldig fr das Geschehen. Sie verurteilte sich dafr, das Erlebte aktiv provoziert zu haben, und war berzeugt, dass sie alles htte vorhersehen und sich anders verhalten mssen. Ihre Gutglubigkeit, ihr anfnglicher Stolz auf die Freundschaft und ihre Phantasien, endlich das geliebte und bewunderte junge Mdchen ihrer alten Trume zu sein, erfllten sie mit unertrglicher Scham. Ihr ohnehin sehr negatives Selbstwertgefhl nahm weiteren Schaden und fhrte zu einer fortschreitenden Entfremdung von ihrer Umgebung, von ihren Freundinnen und Schulkameraden. Diese Schuldbernahme fhrte dann auch zu dem Gefhl, stigmatisiert zu sein, anders zu sein als die anderen. Sie glaubte, dass alle anderen ihre Beschdigung spren und mit weiterer Ablehnung darauf reagieren wrden. In ihrem gesteigerten Misstrauen, dass immer çfter in Gefhle von Feindseligkeit umschlug, projizierte sie ihren Selbsthass nach außen,

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nahm ihre innere Selbstverachtung als Gelchter der Schulkameraden wahr, jedes kleine Missgeschick, wie das Auslaufen einer Saftflasche ber ihren Heften, erlebte sie als bewusste Aggression der anderen und immer strker wurde ihr Eindruck, in der Schule von allen gemobbt zu werden. Gleichzeitig stellte dies fr sie eine unbewusste Bestrafung fr das Vorgefallene dar. Ihr unbewusster Versuch, mit der erlebten traumatischen Verletzung fertig zu werden, indem sie selbst die Verantwortung und Schuld bernahm und indem sie Verstndnis fr das von ihr so erlebte entwertende und ablehnende Verhalten der anderen aufbrachte, fhrte zusammen mit dem Wunsch, durch eine bessere Erfahrung das Gewesene auslçschen zu kçnnen, in der Folge zu einer erhçhten Vulnerabilitt fr weitere Missbrauchserfahrungen, wie sich dies zum Beispiel in der zweiten missbruchlichen Beziehung zu einem lteren Freund in ihrer Oberstufenzeit niedergeschlagen hatte. Die traumatische Erfahrung, auf dem Hintergrund ihrer schwierigen Lebensgeschichte, hatte zur Ausbildung eines sich immer wieder repetierenden Musters von missbruchlichen Objektbeziehungen beigetragen, denen sie nur durch Rckzug begegnen konnte. Ihre hohe Intelligenz und ihre außerordentlichen schulischen Leistungen beeindruckten ihre Lehrer, die sie darin untersttzten, trotz ihres immer hufigeren Fehlens den Schulabschluss zu erlangen. Sie erwartete nicht, dass die Lehrer ihre Situation verstehen wrden, und fhrte als Grund fr die massiven Fehlzeiten nicht ihre Außenseiterstellung und das von ihr als Mobbing erlebte Verhalten ihrer Mitschler an, sondern familire Probleme. Tatschlich wurden ihre Entschuldigungen, die Krankheit der Mutter verursache ihre Fehlzeiten, sehr bereitwillig und unhinterfragt akzeptiert, und dennoch gelang ihr ein berdurchschnittlicher Abschluss. Ihre intellektuelle berlegenheit ließ sie erkennen, dass ihr – auf dem Hintergrund einer Identifikation mit dem Aggressor entwickelter – Zynismus einen sicheren Abwehrmechanismus darstellte, um neuen Enttuschungen in Beziehungen zu anderen Menschen etwas zu entgegenzusetzen. Mit Hilfe ihrer aggressiven, verletzenden Art hatte sie bald einen sicheren Abstand zu allen Menschen ihrer Umgebung geschaffen, sie galt als unnahbarer Mensch, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Dass die traumatischen Erfahrungen trotz ihres prgenden Einflusses auf die Persçnlichkeitsbildung dieses jungen Mdchens den-

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noch die Mçglichkeit zu neuen, positiveren Entwicklungen offen lsst, zeigt sich in ihrer weiteren Entwicklung: Die neue Umgebung am Studienort, die einfhlsame Lerngruppe, der sie sich angeschlossen hatte, die tatschlich, wie wir mit der Zeit gemeinsam sehen konnten, mit einiger Beharrlichkeit ihr Interesse an ihr aufrechterhalten hatte, stellte eine neue Situation dar, auf die sie mit großer Angst und zunehmenden Panikattacken reagierte, die sie dann aber auch schließlich in meine Praxis brachten und die es so ermçglichte, die bislang eingeschliffenen Muster noch einmal in Frage zu stellen.

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»Ich muss bei meinem Amsel-Patienten bleiben …«

Steve sitzt unter einem Baum vor seinem Wohnhaus. Ich rufe ihm zu, er solle zu mir kommen. Er antwortet: »Kommen Sie bitte zu mir, ich kann nicht!« Dann fgt er noch hinzu: »Ich muss bei meinem AmselPatienten bleiben!« Ich gehe zu ihm hin und sehe, dass Steve eine Amsel vor sich liegen hat. Er streicht ihr zrtlich und behutsam ber den Kçrper. »Die hat sich bestimmt was Schlimmes getan …« Ich erfahre, dass er den verletzten Vogel gefunden hat, als er mit seinem Lehrer unterwegs war. Er legt den Vogel in den Schatten und stellt ihm noch etwas zu trinken in einem Schlchen hin, bevor wir fahren. Als ich Steve einige Tage spter nach dem weiteren Schicksal der Amsel befrage, sagt er, dass sie gestorben sei. Er wirkt dabei scheinbar vçllig unberhrt. Eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Ereignis ist ihm nicht mçglich. Er spricht nie mehr ber den Vogel. Die Heilpdagogische Ambulanz ist eine psychoanalytisch-pdagogische Jugendhilfeeinrichtung in Groß-Umstadt (Hessen), die seit 1999 in Form einer intensiven heilpdagogischen Einzelbetreuung mit Kindern und Jugendlichen im Alter von ca. vier bis 18 Jahren arbeitet. Trger der Einrichtung ist der Verein »Heilpdagogische Initiativen e. V.«. Der Auftrag- und Kostentrger der Maßnahmen ist das jeweilige Jugendamt. Die Jugendhilfemaßnahmen werden auf der Grundlage der §§ 27; 35 und 35 a SGB VIII durchgefhrt und erstrecken sich durchschnittlich ber zwei bis drei Jahre. Die Zielgruppen sind: – Kinder und Jugendliche, die sich aufgrund tiefgreifender Entwicklungs- und Persçnlichkeitsstçrungen in ihren jeweiligen so-

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ziokulturellen Verhltnissen nicht altersgemß entwickeln konnten. Ursachen hierfr sind z. B. pr- und perinatale Schdigungen, frhkindliche Traumatisierungen, massive Bindungsstçrungen und auch organische Beeintrchtigungen. Kinder und Jugendliche, die von einer seelischen Behinderung bedroht oder betroffen sind. Dazu gehçren z. B. Kinder und Jugendliche mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung sowie autistischen Verhaltensweisen. Kinder und Jugendliche mit geistiger und/oder kçrperlicher Behinderung, die von einer seelischen Behinderung betroffen oder bedroht sind. Kinder und Jugendliche, deren »Stçrungsbild« bisher noch nicht diagnostisch zugeordnet werden konnte, die jedoch massive Entwicklungs- und Verhaltensaufflligkeiten zeigen und deren Reifungsprozesse in erheblichem Maße beeintrchtigt verlaufen. Kinder und Jugendliche, die aufgrund unterschiedlichster Ursachen im weitesten Sinne Ich-strukturell gestçrt sind.

Eine intensive und regelmßige Elternarbeit ist ein wichtiger Bestandteil der Maßnahmen. In der Regel finden die Elterngesprche 14-tglich statt. Die Gesprche werden stets von einem Beraterpaar gefhrt. Am Anfang der Elternarbeit steht eine ausfhrliche Anamnese. Die kontinuierliche und intensive Kooperation mit anderen Institutionen wie Kindertagessttten, Schulen etc. wird angestrebt. Ein hufiger fachlicher Austausch findet in Form von interdisziplinren Gesprchen mit anderen pdagogisch-therapeutischen Fachkrften statt, die ebenfalls mit dem jeweiligen Kind oder Jugendlichen arbeiten. Die heilpdagogische Ambulanz kann maximal zwçlf bis 15 Kindern und Jugendlichen einen Platz anbieten. Die bliche Frequenz der Maßnahme betrgt zwei Einzeltermine pro Woche. Variationen des Settings kçnnen jedoch unter Bercksichtigung der Mçglichkeiten bzw. Bedrfnisse des Kindes/Jugendlichen angeboten werden. Die pdagogisch-therapeutische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen wird berwiegend in den Rumen der Heilpdagogischen Ambulanz durchgefhrt. Die Ambulanz verfgt ber mehrere speziell

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eingerichtete Spiel- und Therapiezimmer sowie Gesprchs- und Beratungsrume.

Fallvignette Steve Die Fallvignette handelt von einem mehrfach traumatisierten Jungen, der von mir im Rahmen der oben beschriebenen psychoanalytischheilpdagogischen Einzelmaßnahme betreut wurde. Die Vorgeschichte von Steve zeigt eine Reihe von Merkmalen, wie sie fr viele unserer Klienten typisch sind: – fehlende Erfahrungen einer verlsslichen Versorgung und Betreuung durch kontinuierliche Bezugspersonen von Geburt an; – Verlust eines Elternteils (z. B. durch Krankheit oder Tod); – mehrfache außerfamilire Unterbringung in Pflegefamilien, Heimen und Kinder- u. Jugendpsychiatrischen Einrichtungen; – auch damit verbundener hufiger Schulwechsel; – damit einhergehende immer wiederkehrende Beziehungsabbrche und Milieuwechsel; – Erfahrungen von massiver Vernachlssigung, kçrperlicher und seelischer Gewalt sowie auch sexueller Gewalt (aktiv und passiv). Mit einem Satz: Sein Leben ist dominiert von Ohnmachtserfahrungen und Entbehrungen. Die pdagogisch-therapeutische Arbeit mit Steve beginnt, als er neun Jahre alt ist. Er wohnt erstmals nach lngerer Unterbrechung wieder bei seiner Mutter. Sein Vater begeht Selbstmord als Steve zwei Jahre alt ist. Einige Monate vor seinem Tod verlsst er bereits die Familie. Whrend eines mehrmonatigen Aufenthaltes in der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden bei Steve »ngstlich-depressive sowie dissozial-aggressive Verhaltensweisen« diagnostiziert. »Aufgrund mehrfacher Regelverstçße, die eine Weiterbehandlung unmçglich machen«, wird er auch dort schließlich entlassen und wohnt seitdem wieder bei seiner Mutter. Er ist zwar in einer Schule fr Lernhilfe angemeldet, nimmt aber nicht an einem regulren Unterricht teil, sondern wird extern in Einzelbetreuung als Schler mit huslichem

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Sonderunterricht am Ort von einem erfahrenen Sonderschullehrer unterrichtet.

Meine erste Begegnung mit Steve Zum ersten Termin kommt Steve in Begleitung seiner Mutter, Frau M. Er macht einen stark verwahrlosten und ungepflegten Eindruck. Seine Hose und seine Turnschuhe sind lçchrig und seine Hnde und Fße sehr schmutzig. Wie zuvor vereinbart, leite ich den ersten Termin mit einem kurzen bergabegesprch ein. Steve wirkt whrend des Gesprchs unkonzentriert, fahrig und ghnt mehrmals mit weit aufgerissenem Mund. Darauf angesprochen, erklrt seine Muter dies mit dem Umstand, dass Steve am Abend zuvor bis ca. 22.00 Uhr »verschollen« gewesen sei. Er sei am Nachmittag mit einem Freund im Schwimmbad gewesen. Sie selbst habe etwas in einer anderen Stadt erledigen mssen. Steve sollte deswegen eigentlich mit dem Zug zu seiner Oma vterlicherseits fahren. Er habe allerdings den Zug verpasst und deswegen erst zwei Stunden spter mit dem nchsten Zug fahren kçnnen. Ich bin ziemlich verwundert darber, dass Frau M. Steve sich selbst berlassen hat, sage aber nichts dazu. Es wird jedoch deutlich, dass sie ihren Sohn fr etwas verantwortlich macht, womit er vçllig berfordert ist. Ein Auszug aus meinem damaligen Stundenprotokoll: Mir steigt recht bald der ksige Geruch seiner Fße in die Nase. Ich spreche Steve darauf an, worauf er sofort einen Turnschuh auszieht, um mir die »weggetzten Sohlen«, wie er es nennt, zu zeigen. Er hat keine Strmpfe an und seine Fße sind sehr ungepflegt und ungewaschen. Ich frage mich, warum seine Mutter sich nicht mehr um ihn gekmmert hat. Schließlich geht es doch auch um den ersten Eindruck in unserer Einrichtung! Steve beginnt sofort den Raum zu explorieren. Einmal nimmt er sich ein Legoauto und sagt dazu: »Ich liebe Elektrosachen!« Whrend er die Spielmaterialien erkundet, sprechen wir weiter. Plçtzlich fragt er mich: »Gefllt Ihnen Ihre Arbeit?« Er spricht von seiner Schule. Ich frage erstaunt nach: »Ich dachte, du gehst auf keine Schule?« Darauf er: »Ja ich mein das JUZ [Jugendzentrum; J. H.].« Dort bekomme er

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die Einzelbeschulung von Herrn T. Beilufig erzhlt er mir dann: »Ich hab einmal einen Lehrer zeugungsunfhig gemacht!« Diese Bemerkung erlebe ich als versteckte Drohung oder Warnung an mich. Mir fllt die Diskrepanz der Brutalitt seiner Worte einerseits und die Arglosigkeit, in der er es ausgesprochen hat, andererseits auf. Ich frage nach, wie er das gemacht habe. »Ich hab ihm in die Eier geboxt.« Dann sagt er: »Der Albert Einstein war sicher sehr intelligent.« Ich: »Ja, aber der ist auch ein paar mal sitzengeblieben.« Darauf Steve: »Viele … die meisten Kinder langweilen sich in der Schule.« Ich: »So?« Er: »Ja, weil die Lehrer so dumm sind.« Er hat inzwischen begonnen, ein Eisenbahngleis aufzubauen. Parallel dazu unterhalten wir uns weiter. Steve: »Manchmal wnscht man sich, man wrde sterben. Manche Leute wnschen sich das.« Ich muss sofort an den Suizid seines Vaters denken. Ich frage ihn: »Kennst du jemanden, der gestorben ist?« Er: »Nein.« Dann gibt er allerdings als einen potentiellen Grund fr Selbstmordgedanken »Kopfschmerzen« an. Ich spreche darber, dass ein Suizid nicht mehr rckgngig gemacht werden kann. Darauf er: »Wenn man tot ist, ist man tot, da gibt’s kein Zurck mehr!« Whrend er spricht, baut er weiter an seinem Gleissystem. Halb an mich gewandt, spricht er weiter: »Ich frag mich, wie viele Kinder hier pro Tag her kommen.« Und wieder etwas spter: »Viel besser ist es hier als in der Klinik. Da wurde ich immer von anderen Kindern getriezt, das mag ich berhaupt nicht.« Ich komme nun noch einmal darauf zurck, dass er einen seiner Lehrer zeugungsunfhig gemacht habe, und frage Steve, warum er ihn ausgerechnet »in die Eier« geboxt habe. Darauf er: »Weil das die empfindlichste Stelle vom Mann ist, das wertvollste Stck vom Mann.« Dann relativiert er seine Aussage aber sofort: »Ich finde das nicht. Ist einfach nur ein Organ. Ein billiges Organ.« Ich: »Ohne das es dich nicht gbe.« Er reagiert darauf mit einer Bemerkung, die ich nicht ganz verstehen kann. Es hat aber offensichtlich mit seinem Vater zu tun, denn er spricht davon, dass »es« (das Organ) vielleicht auch schon »verwest« sei. Dann erfahre ich, dass er noch zwei Halbbrder hat. Er wiederholt mehrmals in affektierter Weise: »Die stammen aus der ersten Ehe meines Vaters.« Sie heißen »Peter« und »Paul« und sind 16 und 18 Jahre alt. Seine Schwester ist ebenfalls 16 Jahre alt und eigentlich

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auch nur seine »Halbschwester«. Die habe seine Mutter von einem anderen Mann bekommen, der sei an »irgendeiner Herzkrankheit« gestorben. »Der ist ein Blçdmann, da hab ich auch meine Grnde. Dieser Mann war ein Blçdmann. Ich kenne ihn zwar net, aber ich kann ihn net leiden.« Ich frage nach, ob der vielleicht gefhrlich gewesen sei. Darauf Steve: »Ich habe vor niemand Angst!« Ich erfahre nicht nur einige wichtige Details ber die Familienverhltnisse von Steve und seiner Mutter, sondern ich erhalte auch einen persçnlichen Eindruck von der Art, wie sie miteinander kommunizieren. Ob gewollt oder nicht, liefert Frau M. mir zudem Hinweise, die ber ihre verbalen ußerungen hinausgehen. In entwaffnender Offenheit prsentiert sie mir ihre begrenzten Mçglichkeiten, in adquater Weise fr ihren Sohn sorgen zu kçnnen. Steve bringt in dieser ersten Begegnung mit mir unaufgefordert bereits eine Reihe der fr ihn brisanten Themen ein, die auch danach immer wieder in den folgenden Stunden eine Rolle spielen. Stichwortartig handelt es sich dabei um die Themen Schule, Vater, Tod (des Vaters), seine ngste und negativen Erfahrungen, die er mit dem realen Vater, aber auch mit spteren Vaterfiguren gemacht hat. Deutlich wird auch, wie er versucht, seine ngste in den Griff zu bekommen und zu kontrollieren, indem er mit Hinweisen auf seine Gefhrlichkeit, auf die Bedrohung, die von ihm ausgehen kann, und mit pseudoreifen Verhaltensweisen Eindruck machen will. Er zeigt aber auch bereits in dieser Anfangsbegegnung seine Offenheit und Bereitschaft, sich auf das an ihn gerichtete Beziehungsangebot einzulassen.

Der weitere Verlauf Im Verlauf der Maßnahme zeigt sich immer wieder auf ganz unterschiedliche Art, dass Steve tatschlich das Beziehungsangebot in sehr intensiver Weise annehmen und nutzen kann. Besonders in der Anfangsphase spielt die Auseinandersetzung mit den strukturellen Vorgaben eine wichtige Rolle. Die Einhaltung des ußeren Handlungsrahmens bezglich der Einhaltung von Raum, Zeit und bestimmten Grundregeln, der von mir vorgegeben wird, fllt ihm jedoch nicht immer leicht. Oft geht er an die Grenzen – nie jedoch darber hinaus

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– und wir mssen die Einhaltung immer wieder neu verhandeln. Es wird auch immer deutlicher, dass er ein massiv traumatisierter Junge ist, fr den es von existenzieller Bedeutung zu sein scheint, dass er das Gefhl und die Sicherheit hat, die jeweilige Situation kontrollieren zu kçnnen. Auch deshalb gestatte ich ihm bezglich der inhaltlichen Gestaltung soviel Freiheiten wie mçglich. Je mehr er die Erfahrung macht, dass ich ihm einen verlsslichen und sicheren Raum fr seine inneren Nçte zur Verfgung stelle, in desto grçßere Loyalittskonflikte mit seiner Mutter scheint er zu kommen, weil ihm dadurch die Diskrepanz zu seiner familiren Situation immer strker bewusst gemacht wird. Wie bewusst und klar von Steve sowohl die Notwendigkeit einer Intervention von außen als auch die damit verbundene Bedrohung und Gefahr hinsichtlich des weiteren Zusammenlebenkçnnens mit seiner Mutter wahrgenommen werden, zeigt sich u. a. in folgender ußerung von ihm: »Meine Mutter muss wirklich dringend mal ins Krankenhaus! Sie mssten mal bei uns reingucken! Alles zugemllt! Wenn sie nicht ins Krankenhaus geht, kommt irgendwann das Ordnungsamt!« In dieser Mitteilung von Steve wird deutlich, dass es sich nicht nur um eine besonders krasse Form von Vernachlssigung handelt, sondern dass Frau M. durch ihre eigene psychische Krankheit so sehr mit sich selbst beschftigt ist, dass sie mit ihren Aufgaben als versorgende Mutter vçllig berfordert ist. Frau M. ist schon mehrfach wegen Depressionen, psychosomatischen Beschwerden sowie dem Verdacht auf eine Borderline-Erkrankung in psychiatrischer Behandlung gewesen. Welche Konsequenzen eine Intervention des Jugendamtes fr ihn haben wrde, sieht Steve sehr realistisch. »Dann gehe ich erst mal ins Heim. In ein Heim, wo es mir gut geht. Fr die nchste Zeit gehçre ich dann Papa Staat!«

Die Selbstverletzungen hufen sich In der Zeit vor und nach den nchsten Sommerferien hufen sich die Ereignisse, die sich alle unter dem Begriff selbstverletzendes Verhalten zusammenfassen lassen. Steve zieht sich fast im Wochenrhythmus Verletzungen zu oder er ist in Unflle verwickelt. Dabei werden Art und Ausmaß seiner Verletzungen immer bedenklicher und gefhrli-

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cher. Es beginnt damit, dass er mir gegenber gesteht, dass er zu rauchen angefangen habe. Er begrndet sein Rauchen damit, dass er rauche, um krank zu werden, damit dann seine Mutter mit dem Rauchen aufhçre! Seinen Worten kann ich entnehmen, dass er in einem Anflug von magischem Denken glaubt, mit der Gefhrdung seiner eigenen Gesundheit, die seiner Mutter retten zu kçnnen! In der Folge bricht er sich nacheinander einen Schneidezahn ab, dann kugelt er sich einen Finger aus. Dann wird er von einem Mann zusammengeschlagen und erheblich im Gesicht verletzt, nachdem er zuvor dessen Auto mit Wasserbomben beworfen hat. In diese Reihe passt auch, dass er mehrmals fr viele Stunden (zum Teil bis in die spten Abendstunden) verschwunden bleibt und zum wiederholten Male bei versuchten Ladendiebsthlen erwischt wird. Steve berichtet zudem mehrfach davon, dass er Kontakte zum Drogenmilieu in seinem Wohnort habe. Er prahlt zum Beispiel damit, dass er als Gehilfe von Dealern Zugang zu jeder Art von Droge habe. Sein delinquentes Verhalten zeigt, dass Steve nur ber ein unzureichend ausgebildetes Gewissen verfgt. Schließlich muss er einmal nach einem Sturz vom Fahrrad sogar in eine Klinik eingeliefert werden. Im Anschluss daran produziert Steve erstmals auch Phantasien, die eindeutig im Grenzbereich zu Wahnvorstellungen liegen. So berichtet er zum Beispiel ernsthaft ber seine Kontakte zu Dealern in aller Welt und speziellen Kontakten zu japanischen Drogenhndlern, mit denen er ber Computer in Kontakt stehe. Des Weiteren protzt er damit, dass er nachts durch eine Klinik gezogen sei und dabei zwei Leichen auf der Erde liegend vorgefunden habe. Letztere Phantasie kann auf eine reale Erfahrung von Steve zurckzufhren sein. Schließlich ist er es gewesen, der im Alter von ca. zweieinhalb Jahren seinen Vater als Erster tot vorgefunden hat. Die Palette der selbstverletzenden und selbstgefhrdenden Verhaltensweisen kçnnen als missglckte Problemlçsungsversuche angesehen werden; aus seiner subjektiven Sicht kçnnen sie jedoch auch als bestmçgliche Selbsthilfeversuche verstanden werden. Sie sind gleichzeitig auch Ausdruck seiner Ohnmacht, Hilflosigkeit und berforderung. Seine auffllige Symptomatik verdeutlicht zudem den Zusammenhang von dissozialen und kriminellen Aktivitten und psychischer Erkrankung (vgl. Ahrbeck, 2004).

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Die Inszenierung seiner Ohnmacht kann als sein Versuch verstanden werden, auf seine Nçte aufmerksam machen zu wollen. Gleichzeitig wehrt er jedoch jedes Gefhl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein heftig ab und versucht dem mit Grçßenphantasien zu begegnen.

Steves Prognose Steves innere Haltung der Einrichtung und mir als Person gegenber bleibt hochgradig ambivalent. Er erlebt das an ihn und an seine Mutter gerichtete Beziehungsangebot sowohl als einen gefrchteten ußeren Angriff als auch als ersehnte Befreiung aus einer kaum noch ertrglichen, ihn permanent berfordernden Lebenssituation. Die massiv schdigenden Bedingungen seiner Familiensituation erweisen sich jedoch als nicht vernderbar. Frau M. ist es nicht mçglich, sich auf einen kontinuierlichen Beratungsprozess einzulassen. Hufig sagt sie Gesprchstermine kurzfristig ab oder bleibt unentschuldigt fern. Ihre Absagen begrndet sie mit dem Hinweis auf eigene Erkrankungen. Durch den Umzug in ein anderes Bundesland inszeniert sie schließlich den Abbruch der Maßnahme. Fr Steve fhrt dies gleichzeitig zum Beziehungsabbruch von zwei wichtigen mnnlichen Bezugspersonen, dem Lehrer und mir. Wie feinfhlig er diese Entwicklung vorausgeahnt hat, hat er in einer Bemerkung vor dem letzten Hilfeplangesprch mir gegenber artikuliert: »Dann wird ber mein Leben entschieden!« In der eingangs beschriebenen Szene mit der verletzten Amsel, lsst sich die tçdliche Dimension erahnen, um die es fr Steve geht: Trotz intensiver Bemhungen ist es ihm nicht gelungen, den Vogel zu retten – so wie es mir nicht gelingt, ihn »zu retten«. Sein Verhalten kann als Ausdruck seiner Identifikation mit dem Vogel und als Selbstheilungsversuch verstanden werden. Es ist ihm nicht mçglich, ber sein Scheitern zu sprechen. hnlich gefasst und verleugnend reagiert er spter auch auf die Mitteilung, dass er nicht weiter zu mir kommen kann. Steves Erleben der eigenen Ohnmacht ist schmerzhaft, kaum auszuhalten und muss deshalb vehement von ihm abgewehrt und

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verdrngt werden. Die Parallelen zu seinen frheren Erfahrungen sind unbersehbar. Der inszenierte Abbruch der Maßnahme durch Steves Mutter zeigt die Grenzen des Machbaren der Arbeit der Heilpdagogischen Ambulanz ebenso wie der Institution Jugendamt auf – und hinterlsst auch in mir fr lngere Zeit ein beraus schmerzhaftes Gefhl der Ohnmacht. Die zuknftige Entwicklung von Steve hngt wesentlich davon ab, ob neben Korrekturen der ußeren Realitt auch seine psychische Problematik verstanden wird und in pdagogischen und/oder therapeutischen Settings bearbeitet werden kann. Er braucht weiterhin wohlwollende, verstndnisvolle und zugleich abgegrenzte Bezugspersonen, die sich ihm im Rahmen eines Beziehungsangebots zur Verfgung stellen. Dies gilt vor allem auch fr seine weitere Beschulung. Steves psychische Situation ist vor dem Hintergrund seines Mangels an ausreichend positiven und verlsslichen Beziehungs- und Erziehungserfahrungen, von erlebter Gewalt und narzisstischen Krnkungen zu sehen, die zusammengenommen fr seine ungelçsten psychischen Konflikte, seine strukturellen Beeintrchtigungen und seine Entwicklungsstçrungen verantwortlich sind. Idealtypisch msste daher fr ihn ein Ort gefunden werden, der eine Versorgung mit hoher Verbindlichkeit und personalintensiven Betreuungsangeboten mit klarer und berschaubarer Anwendung von Regeln, Vereinbarungen und Erziehungsgrundstzen garantieren kann (vgl. Ahrbeck, 2004). Eine Unterbringung in einem therapeutischen Heim wre sinnvoll und notwendig. Derart geeignete Einrichtungen lassen sich jedoch in Deutschland an einer Hand abzhlen. Andernfalls wird es immer wieder zu Situationen und Konstellationen kommen, die nicht nur Steve, sondern auch sein psychosoziales Umfeld berfordern. Steve gehçrt nach meiner Erfahrung zu der Gruppe von Kindern, die sehr wohl von einem derartigen institutionell abgesicherten Angebot profitieren kçnnen. Er hat gezeigt, dass er die Maßnahme fr sich beraus gut und kreativ nutzen konnte. Es bleibt zu hoffen, dass er auch zuknftig vergleichbare Hilfen annehmen kann, trotz des Abbruchs durch die Mutter, die sich und ihren Sohn durch den Umzug in ein anderes Bundesland auch dem Einflussbereich des hiesigen Jugendamtes zunchst einmal entzogen hat.

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Joachim Heilmann

Die sich abzeichnende Lçsung, dass Steve erneut in eine Pflegefamilie kommen kçnnte, stellt m. E. eine Gefahr insofern dar, als er auch weiterhin mit einer fr ihn potentiell nicht zu bewltigenden Lebenssituation konfrontiert sein wrde und es dadurch zwangslufig zu Wiederholungen seiner frhen traumatischen Erfahrungen kommen wrde.

Die Bedeutung des institutionell-konzeptionellen Rahmens fr die heilpdagogisch-psychoanalytische Arbeit In der heilpdagogischen Arbeit mit traumatisierten Kindern stoßen wir zwangslufig immer auch an unsere persçnlichen und institutionellen Grenzen, wenn wir uns, wie in der Fallvignette Steve beschrieben, auf die Inszenierungen des Kindes, auf die damit verbundenen Verstrickungen einlassen. Besserwisserei im Sinne von vorschnellen, vermeintlich diagnostisch abgesicherten Lçsungsmçglichkeiten sollte dabei vermieden werden. Vielmehr sollten wir bemht sein, Experten im Nicht-Wissen zu sein. Die Position eines Nicht-Wissenden einzunehmen, ist nicht als Flucht in professionelle Pseudo-Debilitt misszuverstehen. Vielmehr ist die Haltung der Unvoreingenommenheit eine Voraussetzung dafr, dem Kind als jemandem zur Verfgung zu stehen, bei dem nicht die alten, potentiell traumatisierenden Erfahrungen reproduziert werden. Ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit besteht in der Reflexion von bertragungs- und Gegenbertragungsprozessen insbesondere mit Hilfe des Konzepts des Szenischen Verstehens. In der heilpdagogisch-psychoanalytischen Praxis stellt sich die Aufgabe, die Gestaltung des spezifischen Settings soweit wie mçglich an die Schwierigkeiten und Mçglichkeiten der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Hauptbezugspersonen anzupassen und gleichzeitig dafr zu sorgen, dass der Pdagoge die ihm zugefgten Zumutungen aushalten kann. Es muss ein Ort zur Verfgung gestellt werden, an dem sich die Symptomatik entfalten kann. Es geht also nicht um die Unterdrckung bzw. Untersagung der Symptome, weil unserem psychoanalytisch-pdagogischen Verstndnis nach traumatische Erfahrungen nicht bewusst erlebt, sondern nur wiederholt werden kçnnen (vgl. Finger-Trescher, 1987). Aber dennoch kann in der

»Ich muss bei meinem Amsel-Patientenbleiben …«

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Wiederholung, der Reinszenierung frher Traumata der Versuch einer psychischen Verarbeitung (Finger-Trescher) gesehen werden. Einzig das Erleben der gefrchteten Situation in Begleitung eines professionellen Erwachsenen, der sich empathisch und verstehend zur Verfgung stellt, kann die Bearbeitung traumatischer Erfahrungen ermçglichen. »Wir mssen uns in solchen Fllen verstricken lassen, manchmal bis zum Scheitern unserer Fhigkeiten. Die Fhigkeit, sich de-potenzieren zu lassen, unwissend zu sein, Fehler zu machen und zuzugestehen, ist es, was das traumatisierte Kind von uns fordert. Das Erkennen und Ertragen der eigenen Grenzen, der eigenen Ohnmacht und auch des eigenen Scheiterns, das Bewahren und Verarbeiten der eigenen Angst, der eigenen Wut, ohne daran zu zerbrechen […] ist nmlich die ›Antwort‹ (Reprojection), die das Kind braucht. Sie ist das, was das Kind selbst bisher nicht leisten konnte und dient ihm als Modell, mit dem es sich identifizieren und das es strukturbildend verinnerlichen kann« (Finger-Trescher, 2000, S. 136).

Wir verstehen unseren Arbeitsansatz als einen der »Sonderflle der Anwendung der psychoanalytischen Methode im Feld allgemeiner pdagogischer Praxis« (Trescher, 1985, S. 153), bei der die Spaltung von Pdagogik auf der einen und Therapie auf der anderen Seite aufzuheben versucht wird.

Literatur Ahrbeck, B. (2004). Kinder brauchen Erziehung. Die vergessene pdagogische Verantwortung. Stuttgart: Kohlhammer. Finger-Trescher, U. (1987). Trauma, Wiederholungszwang und projektive Identifizierung. Was wirkt heilend in der Psychoanalytischen Pdagogik? In H. Reiser, H. G. Trescher (Hrsg.), Wer braucht Erziehung? Impulse der Psychoanalytischen Pdagogik. Mainz: Grnewald. Finger-Trescher, U. (2000). Trauma und Re-Inszenierung in professionellen Erziehungsverhltnissen. In U. Finger-Trescher, H. Krebs (Hrsg.), Mißhandlung, Vernachlssigung und Sexuelle Gewalt in Erziehungsverhltnissen. Gießen: Psychosozial-Verlag. Trescher, H.-G. (1985). Theorie und Praxis der Psychoanalytischen Pdagogik. Frankfurt a. M. u. New York: Campus.

Christoph Kleemann

Wie der »Terrorist« zum Schulkind wurde

Kann einem hochaggressiven Kind, das sich wenig auf schulische Arbeit konzentrieren kann, das in ungnstigen Verhltnissen lebt und das bereits viele Institutionswechsel erlebt hat, im Gruppenunterricht der Schule Bildung vermittelt werden? In der folgenden Fallgeschichte berichte ich von einem Versuch, einen traumatisierten Jungen in einer Gruppe zu beschulen, obwohl sein Verhalten Mitschler und Lehrerin sehr belastet und die Lebensbedingungen des Kindes ungnstig bleiben. Das Ziel der Bemhungen ist seine regelmßige Teilnahme am schulischen Lernen. Es ist nicht der Versuch, eine Heilung zu bewirken.

Ein Vorstellungsgesprch Ich bin als ambulant arbeitender Lehrer einer Abteilung Erziehungshilfe an einer Fçrderschule zu einem Gesprch in eine Schule gebeten worden. Eine Mutter (Frau K.) bittet um die Aufnahme ihres zehnjhrigen Sohnes Cem in die dortige Grundstufe. Der Junge mit trkischer Abstammung ist mir bereits aus der Zeit meiner Ttigkeit als ambulanter Beratungslehrer an einer anderen çrtlichen Grundschule bekannt. Ich weiß, dass er sich in der Zwischenzeit in einer Psychiatrischen Klinik aufgehalten hat und anschließend in einem Kinder- und Jugendheim lebte. Vor dem Gesprch erfhrt die Schulleiterin der Schule, dass Frau K. krzlich diese Hilfe zur Erziehung entgegen dem Rat mehrere Fachleute beendet und Cem wieder zu sich nach Hause geholt hat. Mehrere Hilfen des Jugendamts sind bereits in den Jahren zuvor durch sie abgebrochen worden. Der Schule

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liegen zu dieser Zeit nur Auszge aus der Schlerakte vor. Fr Ausknfte vom Jugendamt fehlt die Schweigepflichtentbindung. Frau K. bringt einen Bericht der Klinik mit zu dem Gesprch. Fr Cem ist der sonderpdagogische Fçrderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung vom Staatlichen Schulamt festgestellt worden. Eine çffentliche Schule fr Erziehungshilfe steht am Ort nicht zur Verfgung. Der Junge kann nur ambulant durch meine Abteilung sonderpdagogisch in einer Allgemeinbildenden Schule gefçrdert werden. Ich beschrnke meine Rolle bei diesem Vorstellungsgesprch weitgehend auf eine teilnehmende Beobachtung, obwohl ich ber einige Vorinformationen verfge, worber ich die Mutter informiere. Durch diese »Abstinenz« habe ich Gelegenheit, den Verlauf des Gesprchs zu beobachten, die Geschehnisse auf mich wirken zu lassen und meine eigenen Reaktionen dabei wahrzunehmen. Zu dem Gesprch, an dem neben Cem seine Mutter, die Schulleiterin und eine Lehrerin der aufnehmenden Schule teilnehmen, ist der Junge in einem Kampfanzug in Tarnfarben erschienen. Seine Mutter hat um dieses Gesprch gebeten, weil sie die Aufnahme ihres Sohnes in diese Schule wnscht. Whrend des Gesprchs grinst Cem fast durchweg. Auf die Fragen der Schulleiterin nach den Grnden fr seine Probleme in der Schule zhlt er bertretungen diverser Regeln auf und berichtet von ttlichen bergriffen auf Mitschler und Bedrohungen durch ihn. Er erzhlt dies wie Heldentaten. Er habe immer »Scheiße gemacht«. Schließlich schrnkt Cem ein, es sei eigentlich immer nur »Spaß« gewesen. Die Frage, ob er gerne wieder eine Schule besuchen wolle, bejaht er sofort und begrndet dies damit, dass er hier Freunde finden kçnne. Cem betont spter, dass er gerne wieder in die Schule ginge. Dies klingt auch nach eigenem Wunsch. Er sagt dies meiner Meinung nach nicht nur, weil er weiß, dass die anwesenden Erwachsenen diese Antwort hçren wollen. Frau K. tritt in dem Vorstellungsgesprch recht forsch auf. Sie macht von Anfang an deutlich, dass sie ihren Sohn unbedingt auf diese Schule schicken will. Als die Schulleitung anfangs zurckhaltend reagiert, wird Frau K. ungehalten und scharf im Ton. Es entsteht ein heftiger Disput ber das weitere Vorgehen. Fr kurze Zeit befrchte ich den Abbruch des Gesprches durch die Schulleiterin. Frau K.

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formuliert wiederholt ihren rechtlichen Anspruch auf eine Beschulung ihres Sohnes. Auf die Frage nach den Grnden fr die Beendigung der Heimunterbringung gibt Frau K. an, sie habe nicht mehr mit ansehen kçnnen, wie ihr Sohn dort unter Medikamenten gestanden habe. Frau K. lsst erkennen, dass sie keinen Zweifel an ihrer Entscheidung hat, auch nachdem ihr von der Schulleiterin vermittelt wird, dass dieser Schritt schwer nachvollziehbar sei. Frau K. selbst beunruhigt offensichtlich in diesem Moment lediglich, dass sie das Problem der Beschulung noch nicht in ihrem Sinn lçsen konnte. Frau K. berichtet, sie versorge Cem und seine ltere Schwester alleine. Mit dem Vater der Kinder lebe sie nicht mehr zusammen. Die Grnde fr die Trennung will sie nicht nennen, macht aber deutlich, dass sie nicht mehr viel von ihrem Exmann hlt. Frau K. erzhlt, dass Cem zu Hause oft mache, was er wolle. Sie kçnne ihn nur wenig eingrenzen. Die Beispiele, die sie schildert, verdeutlichen, dass sie zeitweise nur geringe Initiative Cem gegenber besitzt und kaum in der Lage ist, ihm etwas entgegenzusetzen. Dies betrifft Fernsehkonsum, Computerspiele, Auftreten gegenber der Mutter, Freizeit außerhalb des Hauses u. a. Der Junge kann nach Schilderungen der Mutter sehr viel ber sich selbst bestimmen und verfgt schon ber eine beachtliche Straßensozialisation. Frau K. rumt ein, dass er schon Kontakt mit der Polizei gehabt habe. Ich interpretiere Cems Dauergrinsen als Ausdruck großer Verunsicherung. Die beteiligten Lehrerinnen empfinden sein Verhalten unangenehm und unangebracht. Die Kombination von Kampfanzug, Heldenprahlerei und »zynischem Grinsen« kam bei ihnen nicht gut an. Nach meiner Einschtzung schtzt sich Cem durch die Rolle des »Mackers« im Kampfanzug vor der ihm ußerst unangenehmen Prfungssituation, in die er sich begeben musste. Ich stelle mir angesichts der Vorgeschichte vor, wie er in den Monaten zuvor mehrere hnliche Situationen durchlaufen hat: Er musste sicherlich einige Gesprche mit ihm unbekannten Erwachsenen beim Jugendamt, in der Psychiatrie, in einem Kinder- und Jugendheim und in Fçrderschulen fhren. Ich vermute zudem, dass er einen Teil des aggressiven Auftretens von seiner Mutter bernommen hat. Da ich ihn schon ein bisschen kenne, meine ich in Cems Mimik auch einen Zug von Verzweiflung und Wunsch nach Kontakt ausgemacht zu haben. Seine

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einschrnkende Bemerkung, es sei ja alles nur Spaß gewesen, zeigt zwar einerseits einen Mangel an Einfhlungsvermçgen den Opfern gegenber, einen geringen Realittsbezug und ein fehlendes Unrechtsbewusstsein, andererseits sehe ich aber in der Verharmlosung seiner Verfehlungen auch den Versuch, die Hinwendung der Zuhçrer nicht zu verlieren, mit der er vielleicht eine gewisse Hoffnung verbindet. Im Verlauf des Gesprchs verndern sich meine spontanen Gefhlsreaktionen gegenber Frau K. mehrfach. Whrend ich mich anfangs sehr konzentrieren muss, um ihr gegenber eine offene Haltung einzunehmen, und dabei meine ersten Vorbehalte in den Hintergrund treten, entwickelt sich im Laufe des Gesprchs eine gewisse Achtung gegenber ihrer Entschlossenheit und Beharrlichkeit und ihr Kampfgeist erweckt eine Neugier, mehr ber die Familie zu erfahren. Im zweiten Teil des Gesprchs gerate ich in eine eher besorgte Stimmung. Frau K. wirkt plçtzlich sehr hilflos und passiv, vor allem als die Sprache auf husliche Konflikte mit Cem kommt und ber konsequentes Erziehungsverhalten gesprochen wird. Ich meine zwei Seiten von Frau K. zu sehen. Zum einen eine alleinerziehende Mutter, die gegenber der Außenwelt kmpferisch und zielstrebig die Interessen der Familie vertritt, sich zum anderen innerfamilir berfordert, ratlos und niedergeschlagen fhlt. Ich glaube wahrzunehmen, dass Cem fr sie mehr bedeutet als ein zehnjhriger Sohn. Ich vermute, dass sie ihn u. a. wieder nach Hause geholt hat, weil sie ihn zur eigenen emotionalen Untersttzung bençtigt. Ich bin bei meiner Einschtzung der Problematik nicht allein auf die unmittelbare Begegnung mit Cem und seiner Mutter angewiesen. Durch Begegnungen mit dem Jungen ein Jahr zuvor weiß ich, dass er erhebliche Probleme hat, sich auf Unterricht einzulassen. Er stçrt damals gezielt, um hierdurch das eigene Arbeiten zu vermeiden. Er belstigt und bedrngt andere Kinder und ist stndig in Auseinandersetzungen verwickelt. Cem lßt sich nur von seiner Klassenlehrerin steuern und ist trotz seiner aufflligen Verhaltensweisen weitgehend in die Klasse integriert. Dies hat er seiner Klassenlehrerin zu verdanken, die sehr viel Engagement und Kraft in seine Betreuung investiert. Die Lage eskaliert, als diese fr lange Zeit erkrankt. Cem geht buchstblich die Wnde hoch. Manchmal, wenn ich die Grundschule im Rahmen meiner Beratungsttigkeit aufsuche, finde ich dort eine Ausnahme-

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situation vor. Die Atmosphre in der kleinen Grundschule hnelt einem Belagerungszustand. Mehrere Kolleginnen sind damit beschftigt, Cem zu bndigen. Er springt an manchen Tagen mehrmals aus dem Fenster des Erdgeschosses, luft weg, um dann aber wiederzukommen. Er beleidigt und bedroht Lehrerinnen. Mir gegenber beschreibt er Bilder vçlliger Destruktion. Dabei ußert er u. a. die Phantasie, alle in der Schule mit einem Maschinengewehr »abzuballern« und die ganze Welt mit Atombomben in die Luft zu sprengen. Auf Empfehlung mehrerer mit der Familie befasster Fachleute wird Cem schließlich von einer Fachrztin fr Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie zur diagnostischen Abklrung in eine Klinik berwiesen. Dort diagnostiziert man ein Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivitt und Impulsivitt bei hohem Aggressionspotential und geringer Frustrationstoleranz. Untersuchungen ergeben eine labile, ngstliche und leicht irritierbare Persçnlichkeit. Cem verfge ber keine angemessenen Konfliktlçsungsstrategien. Auf Anraten der Klinik wird Cem anschließend in einem Kinderund Jugendheim untergebracht. Am Ort besucht er eine Fçrderschule fr Erziehungshilfe, in der er in einer kleinen Gruppe beschult wird. Nachdem die Maßnahme nach wenigen Wochen von der Mutter beendet wird, kehrt Cem an den Wohnort der Familie zurck und ist hier schulpflichtig. Cem ist als ein in mehrfacher Hinsicht traumatisiertes Kind zu sehen. Es ist zu vermuten, dass er im Zuge der ehelichen Auseinandersetzungen, punktuell oder auch ber lngere Zeit, Erlebnissen ausgesetzt war, die seine Verarbeitungsmçglichkeiten berfordern. Ausdruckformen ohnmchtiger Wut und ein zur Schau gestelltes großes Schutzbedrfnis geben Hinweise darauf. Cem erhielt mit dem Weggang des Vaters die Rolle des mnnlichen Vertreters der Familie. Er ist mit dieser Rolle nicht nur berfordert; sie untersttzt die Kehrseite der ohnmchtigen Wut, den narzisstischen Grçßenwahn. Frau K. ist sehr um den Erhalt der Restfamilie bemht. Sie zeigt phasenweise großes Engagement. Dies reicht aber nicht aus, um Cem eine kontinuierliche und hinreichende Versorgung zu bieten. Frau K. ist mit seiner Erziehung insgesamt berfordert. Phasen großer Aktivitt, teilweise in aggressiver Form, verstehe ich als Teil ihrer latent depressiven Grundstimmung. Wenn sie ihre depressive Stimmungs-

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lage unterbrechen kann, beendet sie angelaufene Hilfen von Institutionen mit der Vorstellung, die Krisen selbst meistern zu kçnnen.

Die Aufnahme in die neue Schule Mit dem Abbruch der Heimunterbringung und der damit verbundenen Beschulung Cems ist eine schwierige Situation entstanden. Die Schule, in der sich Frau K. jetzt vorgestellt hat, ist zu diesem Zeitpunkt in Bezug auf ihren Sohn die einzige Institution, mit der sie im Kontakt steht. Nachdem Frau K. ihren Antrag auf Hilfe zur Erziehung zurckgezogen hat, findet keine Untersttzung durch das Jugendamt mehr statt. Eine Behandlung durch eine niedergelassene Fachrztin fr Psychiatrie und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters, die durch Cems Heimaufenthalt unterbrochen wurde, strebt Frau K. nicht wieder an. Die von der Klinik verordneten Medikamente fr Cem hat Frau K. mit Beendigung der Heimunterbringung abgesetzt. Auch wenn die Schule sicherlich nicht die Einrichtung ist, die dem Kind und der Familie allumfassend helfen kann, so ist sie zu diesem Zeitpunkt die einzige Stelle, an die sich die Mutter mit dem Wunsch nach Hilfe gewendet hat. Der Anlass ist die bestehende Schulpflicht. Der Schule wre es mçglich, die Aufnahme mit der Begrndung abzulehnen, eine schulische Fçrderung sei angesichts des festgestellten Fçrderbedarfs im Bereich emotionaler und sozialer Entwicklung nicht mçglich. Auch kçnnte sie, wie es vielfach blich ist, der Mutter Bedingungen stellen, z. B. einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung zu stellen oder die Behandlung durch einen Facharzt fr Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie aufzunehmen. Dies geschieht hier nicht. Der Verweis auf andere Stellen verspricht wenig Erfolg. Beim Kollegium der Schule bestehen gleichzeitig große Bedenken gegen eine Aufnahme Cems. Viele Kolleginnen bezweifeln, dass eine Schule geeignet ist, dem Jungen in geeigneter Weise zu helfen. Sie befrchten gleichzeitig die berforderung der Lehrkrfte und eine bermßige Belastung anderer Kinder angesichts Cems massiver Verhaltensaufflligkeiten. Fr eine Aufnahme des Jungen in die Schule spricht, dass Cem bei einer Ablehnung gnzlich ohne Hilfe sein wrde und er wegen seines Leistungsstandes, der weit hinter dem seines Jahrgangs zurckliegt, dringend gefçrdert werden muss. Es ist

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zu befrchten, dass sich bei einer weiteren Abwesenheit von der Schule seine Integrationschancen stark reduzieren. Fr eine Aufnahme spricht auch Cems offensichtlicher Wunsch nach einem Ort, an dem er bleiben kann, und nach Beziehungen zu anderen Kindern. Mit dem Schulbesuch ist auch der Wunsch nach Normalitt verbunden. Die Intention der Mutter zeigt ihre Verankerung in der Realitt. Die Entscheidung fr eine Aufnahme Cems wird begnstigt durch meine Zusage, eine umfassende ambulante Fçrderung durch die Abteilung Erziehungshilfe zu gewhrleisten. Schließlich findet sich eine Lehrerin, die bereit ist, Cem in ihre Klasse zu integrieren und mit mir zu kooperieren. Es liegen jetzt zwei wichtige Voraussetzungen fr die Integration vor: zum einen die Bereitschaft, schwierige Kinder in den Regelbetrieb der Schule aufzunehmen, dabei ein gewisses Risiko, Mehrarbeit und Belastung auf sich zu nehmen, zum zweiten eine zustzliche fachliche Untersttzung. Neben diesen Bedingungen ist es notwendig, ein Fçrdersetting zu schaffen, das geeignet ist, Cem in den Unterrichtsbetrieb der Schule einzugliedern. Cem bençtigt einen stabilen Rahmen, in dem er sich orientieren und mçglichst angstfrei bewegen kann. Dazu gehçren: – Ein regelmßiges Unterrichtsangebot, abgestimmt auf seine Leistungs- und Konzentrationsfhigkeit. Eine ber- oder Unterforderung soll nicht zum Auslçser fr Stçrungen und Konflikte werden. – Eine punktuelle zustzliche Untersttzung beim Lernen innerhalb und außerhalb des Klassenverbandes. Es ist deutlich geworden, dass Cem in der Vergangenheit mit vielen Situationen im Klassenunterricht berfordert war. In Einzelsituationen war er teilweise fr neuen Lernstoff zugnglicher. – Verlssliche und belastbare Beziehungsangebote in der Schule. Die Reihe von Personenwechseln, die Cem bislang erlebt hat, soll unterbrochen werden. Cems Empfindlichkeit diesbezglich ist bekannt. Das Klassenlehrerprinzip, welches in der Schule praktiziert wird, und der Einsatz einer zweiten Erziehungsperson als Gewhrleistung der Kontinuitt bei unvermeidlicher Abwesenheit der Lehrerin (z. B. bei Krankheit oder im Fachunterricht) sollen Cem die nçtige Sicherheit bieten. Zudem drfen die Beziehungen nicht durch die destruktiven Strategien des Kindes gefhrdet werden.

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– Gelegenheiten fr Auszeiten und Gesprche zur Aufarbeitung von Cems Erlebnissen in der Schule. Es ist zu erwarten, dass es eine Vielzahl von Konflikten rund um Cem geben wird, deren angemessene Aufarbeitung einen normalen Schulalltag berfordern. Zudem ist es wichtig, dem Kind, aber auch anderen Beteiligten in Krisensituationen kurzfristig Hilfestellungen zu geben. – Eine Triangulierung der pdagogischen Situation. Da davon auszugehen ist, dass Cem traumatisierende Situationen in der Schule reinszenieren wird, bençtigen die beteiligten Lehrerinnen sowohl die Untersttzung in den konflikthaften Situationen als auch eine zustzliche Gelegenheit zum fachlichen Austausch zur Aufarbeitung des Erlebten und zum Entwickeln eines gemeinsamen Verstehensansatzes. Dieser soll den Beteiligten zur Handlungssicherheit in ihrer tglichen Praxis verhelfen, damit die vom Kind immer wieder provozierten Beziehungsabbrche im Dienste eines Wiederholungszwanges nicht zur retraumatisierenden Wirklichkeit werden. – Fçrderung einer Gruppendynamik, die Cems Integration in die Klasse untersttzt. Da Cem sichtlich Interesse an anderen Kindern zeigt, ist hier ein guter Ansatzpunkt fr seine Eingliederung zu finden. Gleichzeitig muss auch darauf geachtet werden, dass andere Kinder durch seine teilweise sehr belastenden Verhaltensweisen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Der Fçrderansatz soll sich u. a. auf die ganze Gruppe beziehen, nicht allein auf das zu integrierende Kind. – Regelmßige gemeinsame Gesprche mit Mutter und Lehrerin und ein kontinuierlicher, begleitender Kontakt zur Mutter. Durch die Einbeziehung eines dritten Standpunktes sollen die unterschiedlichen Positionen von Mutter und Lehrerin berbrckt werden. Es bedarf einer Instanz, die sich bemht, die Sichtweise der Mutter und die der Schule zu verstehen und beide in Gesprchen zu vermitteln, um schrittweise in relevanten Angelegenheiten zu einer gemeinsamen Sichtweise und folglich zu einer aufeinander abgestimmten Alltagspraxis zu gelangen. – Kooperation mit anderen Hilfsinstitutionen, die mit der Familie befasst sind, und ihre Vernetzung.

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Die Fçrderung des Kindes Die Schule vereinbart mit Frau K. eine probeweise Aufnahme. Es soll zunchst beobachtet werden, wie sich Cem in die Klasse integrieren kann, ob sich eine Beziehung zu den Lehrkrften entwickelt, der Unterricht nicht im bermaß gestçrt und andere Kinder nicht durch Cem beeintrchtig werden. In den ersten Wochen wird Cem auf Wunsch der Schule nur reduziert beschult. Es soll festgestellt werden, wie viel Unterricht und wie viele Pausen er durchstehen kann. Schrittweise soll die tgliche Stundezahl gegebenenfalls erhçht werden. Es wird vereinbart, dass ich tglich zwei Stunden mit im Unterricht und wenn mçglich auch in den Pausen anwesend sein soll. Meine Aufgabe ist es, Cem vor allem bei der Arbeit im Unterricht zu untersttzen, bei Unterrichtsstçrungen einzugreifen, eventuell mit ihm außerhalb des Klassenverbandes zu arbeiten, mit ihm ber Vorkommnisse zu sprechen, bei Konflikten klrend und beruhigend auf ihn einzuwirken. Die Haltung der Klassenlehrerin Cem gegenber ist zuerst ambivalent. Einerseits sieht sie es als eine ihrer Aufgaben, auch schwierigen Kindern eine Chance zu geben, andererseits hat sie große Angst vor unberechenbaren und nicht bewltigbaren Verhaltensweisen, mit denen sie konfrontiert werden kçnnte. Die großen Komplexe »Psychiatrie« und »Heim« lasten schwer auf dem Vorhaben. Gleichzeitig befrchtet die Lehrerin, dass ihre Klasse, die nach einem halben Jahr der Gruppenarbeit gerade zu einem angemessenen Arbeits- und Sozialverhalten gefunden hat, durch Cem wieder in der Entwicklung zurckgeworfen werden kçnnte. Die Befrchtungen der Klassenlehrerin sind nicht unbegrndet. Mit Cem kommt viel Tumult in die Gruppe. Er wird vor allem von den Jungen freundlich aufgenommen. Es stellt sich gleich ein gegenseitiges Interesse her. Cem ist sichtlich daran interessiert, sich in der Kindergruppe aufzuhalten. Er bringt viele Spielthemen mit, die auch fr andere attraktiv sind. Gleichzeitig leiden die anderen Kinder unter seinen ungebremsten heftigen Umgangsweisen. Es kommt vor allem in den Pausen zu Konflikten und Schlgereien, weil u. a. die Rangordnung unter den Jungen in der Klasse durcheinandergeraten ist. Es ist zu beobachten, dass Cem die anderen Kinder nicht vorstzlich schdigen, verletzen, einschrnken will. Er verwickelt die

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anderen in Raufereien, in denen er sein stndig prsentes Thema »Kmpfen« ausagiert. Cem ist nicht in der Lage, die schmale Grenze zwischen Spiel und Ernst zu erkennen. Die anderen Jungen sind ambivalent bei den Kmpfen beteiligt. Sie fhlen sich von den Kampfspielen angezogen. Gleichzeitig haben sie Angst vor seinen bergriffen. In den ersten Monaten ist die Situation sehr fragil. Cem ist kaum in der Lage, am Unterricht ber einen ganzen Vormittag hinweg teilzunehmen. Dies liegt vor allem daran, dass Cem nicht fhig ist, in lngeren Phasen zu arbeiten. Er zeigt große Konzentrationsprobleme. Aus den Anforderungen an das Arbeits- und Sozialverhalten im Unterricht ergibt sich viel Konfliktstoff. Cem stçrt heftig den Unterricht oft durch seinen kaum zu regulierenden Bewegungsdrang. Er steht unter großer Spannung, die nach Abfuhr verlangt. Cem stellt fast durchweg Kampfhandlungen dar und gibt whrend des Unterrichts Schieß- und Explosionslaute von sich. Wochen nach seiner Aufnahme in die Klasse erzhlt Cem der Klassenlehrerin, sein Vater sei gewaltttig gegenber der Mutter gewesen. Er habe die Mutter und die Kinder mit dem Messer bedroht. Auch erzhlt er tglich von Kampfspielen, mit denen er sich am Computer beschftige. In kritischen Situationen verlasse ich mit Cem die Klasse, spreche mit ihm und versuche, beruhigend auf ihn einzuwirken, was nicht immer gelingt. In Einzelsituationen mit mir kann es auch vorkommen, dass er die Beherrschung vollkommen verliert und seine zerstçrerischen Akte steigert. Außerhalb des Klassenraums besteht Spielraum, Cem ausagieren zu lassen und ihm Hilfen zur Beruhigung anzubieten. An manchen Tagen nutzt Cem die Auszeiten mit mir, um sich Untersttzung bei seinen Aufgaben zu holen. Thema der Gesprche mit ihm ist auch seine Angst »behindert« oder »verrckt« zu sein. Immer wieder spielt er vor den anderen Kindern »Psychiatrie«. Die Lehrerin und ich entwickeln die Hypothese, wonach ich in Cems Wahrnehmung mal den versorgenden, mal den bedrohlichen Vater fr Cem verkçrpere. Mein Zugehen auf ihn muss also in jeder Situation abgewogen werden. In vielen Momenten empfiehlt es sich, dass ich mich mit der Gruppe beschftige und die Klassenlehrerin sich Cem zuwendet. hnlich wird mit der Ambivalenz umgegangen, mit der er der Lehrerin als mtterlicher Bezugsperson begegnet. Durch die Arbeit an einem gemeinsamen Verstndnis von Cems Konflikten und der

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hieraus abgeleiteten Gestaltung der Beziehungsangebote verringert sich das Konfliktpotential whrend des Unterrichts. Ich selbst fhle mich Cem gegenber meist sicher und ruhig. Auch in extremen Situationen, wenn er z. B. nach Konflikten vçllig außer Kontrolle gert, dabei Tische und Sthle umtritt oder versucht, mich durch Beleidigungen oder durch Drangsalieren anderer Kinder aus der Reserve zu locken, empfinde ich weder Angst noch Wut. Ich verspre bei mir selten den Impuls, die Beziehung zu ihm abzubrechen, obwohl es im Schulalltag viele Anlsse dafr gibt. Dies ist fr mich deswegen erstaunlich, weil ich selbst unzhlige Male erlebt habe, wie aggressiv ausagierende Kinder und Jugendliche, mich selbst, aber auch andere Lehrer und Erzieher in die Rolle des Aggressors oder in die des ohnmchtigen Opfers drngen. Im Umgang mit hochaggressiven Kindern erlebe ich gewçhnlich sowohl eine bertragungsidentifizierung mit der traumatisierenden Elternfigur wie auch eine projektive Identifizierung mit dem Kind als Opfer einschließlich der damit verbundenen Gefhlsqualitten wie Wut, Angst, Ohnmacht. Wenn ich einen aggressiven Impuls oder den Wunsch nach Abbruch der Beziehung bei mir wahrnehme, vermute ich einen Auftrag Cems diesem standzuhalten und diese Regungen zu bearbeiten. Im Umgang mit Cem ist bei mir von Anfang an die Gegenbertragungsreaktion des beschtzenden, versorgenden und tragenden Vaters dominant. Dies stellt offensichtlich die Reproduktion einer Seite seines Vaterbildes dar. Seine in manchen Situationen deutlich werdende Abwehr gegen meine Untersttzung gibt Hinweise auf den bedrohlichen Anteil seines Vaterbildes. Es gibt in unserer Beziehung insgesamt ber alle Krisen hinweg einen stabilen Faktor, der sicherlich nicht nur das Ergebnis meiner professionellen Haltung ist, sondern auch auf eine Beziehungsfhigkeit Cems zurckgefhrt werden kann. Er sucht offensichtlich einen zuverlssigen Erwachsenen, den er mit seinen Geschichten und seinem Verhalten nicht in Schrecken versetzen kann, einen Erwachsenen, der in der Lage ist, ihn auszuhalten und mit ihm die dargestellten Szenen zu durchleben und durchzustehen. Cem wird nicht nur verstanden und ausgehalten, sondern ihm werden auch Anpassungsleistungen abverlangt. Er wird mit vielen regulren Anforderungen des Schullalltages konfrontiert. Dies stellt einen Teil des haltenden Settings dar. Ich setze ihm gegenber die

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Einhaltung von grundlegenden Verhaltensregeln in der Schule durch und halte ihn zur Erledigung von Arbeiten an. Darauf reagiert Cem allgemein positiv, auch wenn dies von heftigen Konflikten im Schulalltag begleitet ist. Mit der Zeit lßt sich Cem besser lenken. Er akzeptiert zunehmend die Vorgaben der Schule. Es stellen sich erste kleine Lernerfolge ein. Cem kann im Gruppenunterricht eigene Beitrge leisten und bemht sich, wenn auch mit erheblichen Konzentrationsproblemen, seine Aufgaben in den Einzelarbeitsphasen zu erledigen.

Die Beratung und Untersttzung der Lehrerin Zum Erhalt des Fçrdersettings gehçrt nicht zuletzt die Befhigung der verantwortlichen Lehrerin, die großen Belastungen auszuhalten, die das schwierige Kind mit sich bringt. Als erstes mssen Verstehensanstze fr sein belastendes Verhalten entwickelt werden. Neben praktischer Untersttzung im Unterricht erhlt die Lehrerin durch mich eine begleitende Beratung. Ein Thema der Beratungsgesprche ist das Bild der Lehrerin von Cem. Er tritt oftmals massiv und bedrohlich auf, gebrdet sich wild und gewaltbereit und hatte dabei so wie bereits im Vorstellungsgesprchs beobachtet, ein Grinsen im Gesicht. Dazu ußert er sich bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit martialisch. Im Morgenkreis erzhlt er stets phantasierte Gewalterlebnisse aus seinem Umfeld. In seinen Geschichten wimmelt es von Katastrophen, Zerstçrungen und Schlgereien. Immer wieder ußert Cem, er sei ein Terrorist, der Bomben werfe und die ganze Schule in die Luft sprengen wolle, er wolle spter einmal Kindersoldat werden u. . Cem hlt sich gerne in der Kindergruppe auf. Ich habe den Eindruck, dass er durch die Begegnung mit anderen Kindern aber sehr verunsichert wird, so dass er die fr ihn positive Situation beschdigen muss. Auffallend ist auch, dass in seinen Gewaltdarstellungen regelmßig die Polizei vorkommt. Ich sehe dies als einen Wunsch nach einer Instanz, die in der Lage ist, die eigenen aggressiven Impulse einzudmmen, als den Ruf nach einem Hilfs-Ich. Als die Klasse einen Unterrichtsgang in den nahe gelegenen Stadtwald unternimmt, will Cem einen Baseballschlger mitnehmen. Nicht wie er bekundet, um jemanden anzugreifen, sondern um sich vor erwarteten

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Angreifern zu schtzen. Hier wird fr mein Empfinden sein großes Angstpotential sichtbar. Cems Eigendarstellung als Terrorist wird von der Außenwelt nicht als Strategie der Angstbewltigung angesehen, sondern als gefhrlicher Charakterzug. Ich bemhe mich in Gesprchen mit der Lehrerin auf Cems kindliche Anteile und auf seine Angstreaktionen hinzuweisen. Mit der Zeit treten in ihrer Wahrnehmung mehr Cems Charme, seine klugen Beitrge im Unterricht, sein Anlehnungsbedrfnis, seine teilweise kleinkindhaften Reaktionen in den Vordergrund. Hierdurch wird es fr sie einfacher, mit Cem umzugehen. Nachdem Cem bereits einige Monate in der Klasse ist, sagt die Lehrerin, sie nehme ihn weniger als »Terroristen« wahr, vielmehr als beraus bedrftiges Schulkind. Sie legt ihre ngstlichkeit ihm gegenber ab und entwickelt eigene Arbeitshypothesen ber die Grnde fr sein Verhalten. So interpretiert sie seine stndigen kçrperlichen Auseinandersetzungen u. a. auch als Wunsch nach kçrperlicher Zuwendung. Sie sieht eine tief greifende Beziehungsstçrung zwischen Mutter und Cem. Er ist demnach stndig auf der Suche nach Kontakt, Orientierung und Besttigung. Als Ergebnis vieler Gesprche sehen die Lehrerin und ich Cems aggressives Verhalten nicht mehr allein als Reinszenierung einer Traumatisierung durch erlittene oder erlebte Gewalt (des Vaters oder auch der Mutter), sondern auch als Folge einer Vernachlssigung und eines unempathischen Umgangs mit ihm. Durch die gemeinsame Erarbeitung von Arbeitshypothesen verndert sich im Laufe der Zeit die anfngliche Rollenaufteilung zwischen mir und der Lehrerin in Berater und Beratende. Es entsteht ein Team von sich gegenseitig beratenden Fachkrften.

Die Arbeit mit der Mutter Der Kontakt mit der Mutter ist anfangs berlagert von großen Spannungen. Gleich zu Anfang entsteht eine sehr aggressive Atmosphre zwischen der Lehrerin und Frau K. Die Mutter tritt auch ihr gegenber fordernd auf und verwahrt sich gegen jegliche Versuche der Erziehungsberatung. Frau K. blockt bei Gesprchen zudem vehement Klagen ber ihren Sohn ab. Sie wehrt sich schroff gegen das Thematisieren von erzieherischen Maßnahmen zu Hause. Durch die

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herausfordernde Art der Mutter besteht die Gefahr, dass die Bereitschaft der Lehrerin geschmlert wird, die Fçrderung Cems weiter mit zu tragen. Zur Herstellung eines gnstigen Fçrdersettings gehçrt deswegen, den Dialog zwischen Schule und Mutter in Gang zu halten. Ich begebe mich, so gut es geht (ich bin als Fçrderschullehrer schließlich Teil des Schulsystems), in eine neutrale Position und versuche meinen Gesprchspartnerinnen jeweils die Sicht und die Situation der anderen Seite zu vermitteln. Ziel meiner Bemhungen ist es, ein Arbeitsbndnis zwischen Mutter und Schule zustande zu bringen. Die Konflikte zwischen Mutter und Lehrerin sind sicherlich auch in starker Konkurrenz und in Dominanzansprchen beider zu suchen. Hierbei geht es vielleicht unbewusst um die Frage, wer die bessere Mutter angesichts der schwierigen Geschichte des Jungen sei. Meine Position als mnnlicher Dritter gibt mir die Freiheit, darauf zu achten, dass die Gesprche zu einem gemeinsamen Ergebnis fhren. Im Laufe der Arbeit mit der Mutter sehe ich immer deutlicher ihre gegenstzlichen Seiten, analog zu meinen Wahrnehmungen in dem Aufnahmegesprch. Zum einen ist da die kmpferische und realittsbezogene Mutter, die sich fr ihre Belange und die ihres Kindes einsetzt. So entnehme ich der mit einiger Versptung zugesandten Schlerakte, dass im Heim tatschlich Probleme mit der Medikamentenvergabe aufgetreten sind. Cem zeigte damals in der Schule bengstigende Symptome in Folge einer zu hohen Dosis. Frau Ks. Anlass, ihr Kind aus dem Heim zu nehmen, war somit ernster Natur. Zum anderen zeigt sich Frau K., nachdem ihr Sohn wieder bei ihr ist und die Schulfrage geklrt scheint, an seiner weiteren Entwicklung nicht ausreichend interessiert. Sie wehrt Hilfe ab und erscheint mir resigniert und wenig engagiert fr ihren Sohn. Dies wird in Cems tglicher Versorgung sichtbar. Er kommt oft zu spt oder zu frh in die Schule. Er ist an vielen Tag nicht angemessen gekleidet, verfgt im Unterricht selten ber die notwendigen Materialien und erledigt nie die Hausaufgaben. Neben regelmßigen Gesprchsrunden mit Mutter und Lehrerin telefoniere ich oft mit Frau K., um ihr von Cems Schulvormittagen zu berichten. Ich sehe in diesen Telefonaten eine Brcke zwischen Schule und Elternhaus. Dabei vertrete ich bewusst nicht allein die Interessen der Schule, sondern biete der Mutter mein Wissen von Cems Situation in der Schule an. Ich berate Frau K., wie sie das Lernen ihres

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Christoph Kleemann

Sohnes untersttzen kann. Vielfach reagiert sie sehr schroff und abwehrend, wenn ich von Schwierigkeiten in der Schule berichte, so dass ich mich an manchen Tagen berwinden muss, sie anzurufen. Nachdem ich aber zu dem Schluss komme, dass diese Reaktion vielleicht Teil einer Gegenbertragung sein kçnnte, die die Angst und die Unsicherheit der Mutter vor Vernderung ausdrckt, berwinde ich meine Zurckhaltung und meine Ressentiments. Dies fhrt bei mir zu einer meist offenen und furchtlosen Haltung gegenber Frau K. Sie erfhrt so, dass ihre aggressiven Impulse zur Abwehr von Vernderung das Untersttzungsangebot nicht gefhrden kçnnen. Die Stabilitt des haltenden Rahmens lsst sie im Arbeitsbndnis verbleiben, entgegen ihrer Neigung, Hilfe immer wieder abzublocken. Trotz vieler unerfreulicher Gesprchsthemen, bleibt der Dialog mit Frau K. erhalten. Sie entwickelt zunehmend eine Bereitschaft, sich mit mir ber alltagspraktische Fragen auszutauschen. Die Arbeit mit Frau K. ist gekennzeichnet von einem stndigen Austarieren von Zumutungen und Rcksichtnahmen. Der Raum fr Entwicklungen ist dabei nicht statisch, sondern muss immer wieder neu abgemessen werden. Im Laufe der Monate entwickelt Frau K. ein etwas hçheres Maß an Zuverlssigkeit als zu Anfang der Beschulung und Betreuung. Der Lehrerin kann ich von kleinen Fortschritte bei der Zusammenarbeit mit der Mutter berichten. Diese werden auch fr sie erkennbar. Frau K. erfllt nach und nach einige Bedingungen, die sich mit dem Schulbesuch ihres Sohnes verbinden. Einige Konfliktpunkte in der Schule um Pnktlichkeit und Ordnung werden somit vermieden. Es gibt aber weiterhin lngere Phasen, in denen Frau K. nur schwer oder gar nicht erreichbar ist. In dieser Zeit ist sie wenig fr Angelegenheiten ihres Sohnes zugnglich und sie zeigt Tendenzen, die Verantwortung fr ihn an andere zu delegieren. Dies betrifft vor allem erzieherische Angelegenheiten wie den Umgang mit seinem Fernsehkonsum, das stundenlange Spielen von PC-Kriegsspielen, die Erledigung der Hausaufgaben und das Einhalten von Schlafenszeiten. Frau K. hat weder die Energie noch die Motivation, ihre Rolle als Grenzen setzende Mutter auszufllen. Je besser es in der Schule luft, desto mehr beschwert sie sich ber Cem zu Hause. Es wird offensichtlich, dass sie sehr mit sich selbst beschftigt ist, so dass sie fr Cems Versorgung und seine Erziehung nicht mehr viel Kapazitt besitzt. Cem muss deswegen viel fr sich selbst sorgen. Er lebt somit

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weiterhin in sehr ungnstigen familiren Verhltnissen, so dass es ratsam erscheint, der Familie ber die Schule hinaus Hilfe zukommen zu lassen. Ein Thema der Beratungsgesprche mit der Mutter wird die Inanspruchnahme weiterer Hilfe durch das Jugendamt. Gleichzeitig wird mit dem fr die Familie zustndigen Sozialarbeiter beim Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes ber die Mçglichkeit einer teilstationren Unterbringung am Nachmittag in einer Tagesgruppe (heilpdagogischer Hort) gesprochen. Die Gewhrung einer solchen Hilfe zur Erziehung muss vom Jugendamt grndlich abgewogen werden, nachdem Frau K. bereits mehrere Hilfen abgebrochen hat. Frau K. stellt einen neuen Antrag auf Hilfe zur Erziehung. Fr sie ist entscheidend, dass Cem nur am Nachmittag betreut wird, nicht ber Nacht fremd untergebracht ist.

Die Zusammenarbeit mit der Tagesgruppe Nachdem Cem in eine Tagesgruppe aufgenommen worden ist, stellt sich die Aufgabe, die schulische Fçrderung mit der Jugendhilfemaßnahme abzustimmen. Es findet mit Einverstndnis der Mutter ein monatlicher Austausch zwischen Tagesgruppe und Schule statt. In dieser Runde verstehe ich mich als Moderator im Austausch beider Professionen, die sich nach meinen Erfahrungen grndlich missverstehen kçnnen. Mit den Pdagogen der Tagesgruppe und der Lehrerin werden in vielen Bereichen ein gemeinsames Verstndnis von Cems Situation hergestellt, Ziele der Fçrderung formuliert und ein Konzept der Zusammenarbeit erstellt. In der Folgezeit kçnnen in Krisensituationen kurzfristig Absprachen getroffen werden. Wenn Cem nach der Schule in einer schlechten seelischen Verfassung ist, begleite ich ihn in die Tagesgruppe und spreche dort mit den Pdagogen. Cem nimmt wahr, dass die Haltung der Bezugspersonen beider Einrichtungen in wesentlichen Fragen bereinstimmt. Zu den Absprachen zwischen Tagesgruppe und Schule gehçrt auch, dass familire Themen in den Elterngesprchen der Tagesgruppe besprochen werden sollen, whrend die Schule, sich auf Angelegenheiten beschrnkt, die den Unterricht und den Schulalltag betreffen. Somit ist ein umfangreicher und vernetzter Untersttzungsrahmen fr Cem entstanden.

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Christoph Kleemann

Die aktuelle Situation Cem wird derzeit tglich ber den ganzen Vormittag beschult. Er darf zudem an Veranstaltungen teilnehmen, die ihn sehr in seinem Verhalten herausfordern wie Sportunterricht und Klassenausflge. Er wurde schon seit einiger Zeit nicht mehr vorzeitig aus dem Unterricht entlassen. Extreme Kontrollverluste sind in letzter Zeit nicht mehr vorgekommen. Die familire Situation hat sich aber bisher nicht wesentlich verndert. Ob die eingeleitete Jugendhilfemaßnahme Cems Gruppenfhigkeit verbessern wird, ist noch vçllig offen. Durch die Aufnahme in die Schule und durch verschiedene Bemhungen um einen Fçrderansatz konnte Cem fast ein Jahr lang an einem Gruppenunterricht in der Schule teilnehmen. Einige seiner Lernrckstnde sind verringert worden. Die Wiederaufnahme der Hilfe durch das Jugendamt ist durch die Anbindung und die Beratung der Schule untersttzt und somit eine Entwicklungsperspektive fr den Jungen erçffnet worden. Ob Cem sie nutzen kann, wird sich erst in der Zukunft erweisen.

Ursula Pforr

Trauma und Persçnlichkeitsbildung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung

Psychoanalytische Reflexion, Persçnlichkeitsbildung und die Bedeutung von traumatischen Erfahrungen spielen in der pdagogischen Arbeit mit geistig behinderten Menschen bis heute leider nur eine untergeordnete Rolle. Hartnckig richtet sich der Fokus auf die organische Schdigung, obwohl mittlerweile in zahlreichen Verçffentlichungen die Bedeutung der psychodynamischen Seite einer geistigen Behinderung hervorgehoben wurde.

Die psychodynamische Seite einer geistigen Behinderung Der Begriff geistige Behinderung zhlt zu den umstrittensten Begriffen innerhalb der Heilpdagogik. Bis heute existiert keine allgemein anerkannte Definition. Immer noch weit verbreitet ist der Versuch, Behinderungsgrade an IQ-Werten festzumachen und geistige Behinderung als direkte Folge einer organischen Schdigung anzusehen. Es gibt aber auch Anstze, die diese direkten Zusammenhnge anzweifeln. Geistige Behinderung ist immer eine Folge gestçrter psychischer Strukturbildung. Hier kçnnen zwar organische Schdigungen urschlich fr die Entstehung von psychischen Defekten mit verantwortlich sein. Das Organische kann aber immer nur indirekt ber die psychische Struktur wirken. Niemand kommt geistig behindert zur Welt. Die Behinderung entsteht erst im Laufe der Entwicklung. Maud Mannoni (1972) war eine der ersten, die sich radikal der psychischen Seite einer geistigen Behinderung zugewandt und den Begriff geistige Behinderung berhaupt in Frage gestellt hat. Sie zeigte

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Ursula Pforr

auf, dass viele Debile eigentlich Pseudo-Debile genannt werden mssten, da ihrer Debilitt keine organische Schdigung, sondern eine Psychose zugrunde liegt. Sie zeigte aber auch, dass die Frage, ob eine Zurckgebliebenheit organisch oder psychisch bedingt sei, unwichtig ist. Viel wichtiger sei die Frage nach dem Sinn der geistigen Zurckgebliebenheit. Bei etwa der Hlfte der Menschen mit einer geistigen Behinderung existiert keine nachweisbare organische Vorschdigung wie z. B. Trisomie 21, Hydrocephalus oder hnliches. Bei ihnen wird die Behinderung dann in der Regel auf einen nicht klar definierten frhkindlichen Hirnschaden oder gar nur einen Verdacht hierauf zurckgefhrt (vgl. Speck, 1990, S. 46 f.). Es wird immer versucht, eine organische Ursache fr die geistige Behinderung zu konstruieren, um sich der psychischen Seite nicht zuwenden zu mssen. Seit einigen Jahren beschftigen sich aber zunehmend Verçffentlichungen auch mit der psychodynamischen Seite einer geistigen Behinderung (Gaedt, 1990, 2002; Gerspach, 1998; Gerspach u. Mattner, 2004; Katzenbach, 2004; Niedecken, 1989, Niedecken et al., 2003; Pforr, 1997, 2008; Schnoor, 1992; Sinason, 2000). Denn bei Menschen mit einer geistigen Behinderung sind in der Regel bereits die frhesten Abstimmungsprozesse zwischen den primren Bezugspersonen und dem Kind gescheitert, sei es, weil die Eltern von der Diagnose geistig behindert geschockt sind, weil die Kinder tatschlich durch eine organische Schdigung in ihren Mçglichkeiten deutlich eingeschrnkt sind, oder vielleicht auch, weil die Eltern selber geistig behindert, psychisch krank oder traumatisiert sind und deswegen nicht in angemessener Weise auf ihr Kind eingehen kçnnen. Gaedt beschreibt in seinen Aufstzen den Webfehler (Gaedt, 1987, S. 15), der bei geistig behinderten Menschen vom ersten Tag an entsteht und der sich durch die gesamte psychische Entwicklung zieht. Gerspach (1994) spricht von dem doppelten Handicap (S. 349), dem dieser Personenkreis in der Regel ausgesetzt ist. Gaedt (1987) fhrt außerdem aus, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung ein deutlich hçheres Risiko haben, im Laufe ihres Lebens psychisch zu erkranken.

Trauma und Persçnlichkeitsbildung bei geistiger Behinderung

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Die Bedeutung von traumatischen Erfahrungen fr die Entwicklung einer geistigen Behinderung Nicht nur psychische Krankheiten, auch Traumatisierungen sind im Behindertenbereich deutlich hufiger als in der Gesamtbevçlkerung anzutreffen. Dabei beziehe ich mich auf Untersuchungen aus den USA (vgl. Senn, 1993, S. 22 f.) und auf meine langjhrigen beruflichen Erfahrungen in diesem Bereich. Ich war zunchst sieben Jahre in einer sogenannten Komplexeinrichtung fr Menschen mit einer geistigen Behinderung ttig. Seit zwanzig Jahren arbeite ich am Aufbau ambulanter Versorgungsstrukturen fr diesen Personenkreis. 1986 wurde in Hessen die Vereinbarung zum Betreuten Wohnen fr Menschen mit Behinderungen (LWV-Hessen, 1986) zwischen dem Landeswohlfahrtsverband, der Liga der freien Wohlfahrtsverbnde und den hessischen Kommunen abgeschlossen. Ursprnglich fr psychisch kranke Menschen gedacht, bietet diese Vereinbarung auch Menschen mit einer geistigen Behinderung die Mçglichkeit, ambulante Untersttzung zu erhalten und außerhalb von stationren Einrichtungen zu leben. ber den Verein Betreutes Wohnen Darmstadt e.V. werden im Raum Darmstadt mittlerweile sechzig Personen ambulant betreut. Sie leben alleine oder als Paar in ihrer eigenen Wohnung und werden von Mitarbeitern des Vereins stundenweise in den unterschiedlichsten Lebensbereichen untersttzt. Macht man sich die Definitionen von Traumata zu eigen, wie sie von Rauwald in diesem Band dargelegt werden, dann muss ein erschreckend hoher Prozentsatz der Menschen mit einer geistigen Behinderung als traumatisiert angesehen werden. Diese Quote steigt noch an, wenn man die Ausfhrungen Khans (1964/1977) zum kumulativen Trauma zugrunde legt. Selbst bei einer sehr engen Definition ergibt sich noch ein hoher Prozentsatz, da insbesondere Menschen mit einer geistigen Behinderung kaum ber biographische Schutzfaktoren, dafr aber ber zahlreiche Risikofaktoren verfgen und von daher hufiger Opfer von traumatisierenden Situationen werden. Ein Blick auf die Lebensgeschichten der Klienten des Vereins hat ergeben, dass etwa ein Drittel selber ber Missbrauchs- und Gewalterfahrungen berichtet. Bei einem weiteren Drittel kann man dies

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aufgrund ihres Verhaltens und der Art ihrer psychischen Problematik zumindest vermuten. Gaedt (1987) und andere haben ausgefhrt, dass bereits die typische frhkindliche Entwicklung von geistig behinderten Menschen in der Regel unter schwierigen oder sogar traumatischen Bedingungen verluft. Schon die Diagnose »geistig behindert« hat hufig bereits traumatische Auswirkungen auf die ganze Familie. Die Eltern sind in der Regel verzweifelt oder geschockt und haben Schuldgefhle oder sogar Todeswnsche in Bezug auf ihr Kind. Darber hinaus sind geistig behinderte Menschen bereits in frhester Kindheit hufiger traumatisierenden Erfahrungen wie z. B. langen Krankenhausaufenthalten und Operationen ausgesetzt und die Beziehung zu den primren Bezugspersonen verluft hufiger unbefriedigend als bei nicht behinderten Kindern, weil die frhen Abstimmungsprozesse nicht gelingen. Hierdurch entstehen psychische Strukturen, die sie bis ins Erwachsenenalter anfllig machen, erneut zum Opfer von traumatisierenden Erfahrungen zu werden. Aufgrund der fr Menschen mit einer geistigen Behinderung typischen psychischen Strukturen entsteht auch leichter eine Diskrepanz zwischen psychischer Verarbeitungsmçglichkeit und traumatisierender Erfahrung, so dass belastende Situationen schneller traumatisch wirken als bei nicht behinderten Menschen. Ich werde im Folgenden speziell auf den sexuellen Missbrauch von Menschen mit einer geistigen Behinderung eingehen. Hierbei handelt es sich um ein Thema, das von der Behindertenhilfe nur zçgerlich in seiner vollen Dimension wahrgenommen wird. In zahlreichen Untersuchungen zum sexuellen Missbrauch wurde mittlerweile auf die Bedeutung der Schutzfaktoren hingewiesen (vgl. Rauwald in diesem Band). Diese Schutzfaktoren mindern das Risiko, berhaupt Opfer eines Missbrauchs zu werden. Sie kçnnen aber auch bei der erfolgreichen Verarbeitung eines trotzdem erfolgten Missbrauchs hilfreich sein. Aufgezhlt werden u. a. positives Selbstwertgefhl, sicheres Bindungsverhalten, gute kommunikative Fhigkeiten, eine mindestens durchschnittliche Intelligenz, ein stabiles soziales Umfeld, wenige kritische Lebensereignisse, positive Beziehungen zu primren Bezugspersonen und Untersttzung von außen (Schule, Arbeit, Kirche).

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Ein Blick auf die Liste verdeutlicht, dass ein Mensch mit einer geistigen Behinderung in der Regel ber keinen ausreichenden Schutz verfgt. Die Beziehung zu den primren Bezugspersonen und das Bindungsverhalten sind durch die Tatsache der Behinderung belastet, wie ich an anderer Stelle ausfhrlich dargestellt habe (vgl. Pforr, 2008). Des Weiteren muss man beachten, dass die meisten Menschen mit einer geistigen Behinderung in Formen von Abhngigkeit leben, die ebenfalls einen Missbrauch begnstigen. Sie sind nicht gewohnt, ber sich oder ihren Kçrper selbstbestimmt zu verfgen. In vielen Einrichtungen wird die Intimsphre regelmßig verletzt, je hçher der Behinderungsgrad, desto hufiger und selbstverstndlicher. Menschen, die fremdbestimmt leben, sehen keine Mçglichkeit, sich gegen Missbrauch zu wehren, da er sich nahtlos in ihr Selbst- und Weltbild einfgt. Zum Missbrauch an Kindern gibt es auch Studien, die sich mit der Frage beschftigen, ob es spezifische kindliche Merkmale gibt, die das Tterverhalten auslçsen oder begnstigen kçnnen (Bender u. Lçsel, 1997, S. 42 f.). Neben einer hohen physischen oder psychischen Abhngigkeit werden hier auch Merkmale wie Frhgeburt, geistige oder kçrperliche Behinderung oder perinatale Komplikationen als Faktoren genannt. Ein Grund hierfr kçnnte sein, dass es bei diesen Kindern schwerer fllt, diese Merkmale positiv zu besetzen. Die Missbrauchsschwelle kçnnte daher niedriger liegen. Fr erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung in Anstalten kommen als Faktoren noch ihre geringe Glaubwrdigkeit und die in Anstalten allgemein fehlende Intimsphre hinzu. In einem Beitrag wird auch die Sterilisation von geistig behinderten Frauen als Risikofaktor bezeichnet, da dies die Hemmschwelle potentieller Tter zustzlich senke (Walter, 1996, S. 26). Ein Mensch mit einer geistigen Behinderung verfgt daher nicht nur ber einen mangelnden Schutz vor Missbrauch, hinzu kommen auch noch Faktoren, die das Tterverhalten auslçsen oder zumindest begnstigen kçnnen. Und nicht zuletzt besteht im Behindertenbereich ein deutlich geringeres Risiko fr potentielle Tter. Bei pflegebedrftigen Behinderten lsst sich der Missbrauch in der Pflegeleistung verstecken. Kçrperbehinderte berichten immer wieder von Missbrauch bei der Kçrperpflege, wenn der Pfleger z. B. den Intimbereich unverhltnismßig intensiv reinigt oder aber vorstzlich stimuliert. Bei Menschen

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mit einer geistigen Behinderung kann der potentielle Tter ziemlich sicher sein, nicht entdeckt zu werden, da in der Regel hohe Abhngigkeiten bestehen und dem behinderten Menschen das Selbstbewusstsein fehlt, sich an anderer Stelle zu beschweren. Sollte es doch einmal zu einer Beschwerde des behinderten Menschen kommen, so wird diesem hufig nicht geglaubt, ihm wird unterstellt, zu phantasieren oder sich auf diesem Wege fr irgend etwas rchen zu wollen. Der Tter wird darauf vertrauen kçnnen, dass seiner Version mehr geglaubt werden wird. Auch strafrechtlich hat ein potentieller Tter mit geringeren Folgen zu rechnen. Missbrauch eines Menschen mit einer geistigen Behinderung wird geringer eingeschtzt als Missbrauch eines Nicht-Behinderten. Gerade bei Missbrauch von leichtgradig geistig behinderten Menschen kommen Tter hufig vçllig ungeschoren davon, da diese nicht als widerstandsunfhig gelten, sie sich aufgrund ihrer psychischen Struktur und fremdbestimmten Lebensweise in der Regel aber trotzdem nicht wehren. Dies wird vor Gericht dann als Zustimmung gewertet und der Tter geht straffrei aus (Heinz-Grimm, 1996, S. 397 f.). In Untersuchungen ber die Folgen des Missbrauchs wird betont, dass es keine spezifischen Missbrauchsfolgen gibt, sondern die Folgen vom Alter und der Individualitt des Opfers abhngen (vgl. auch Rauwald in diesem Band). Als mçgliche Folgen werden Angst, Depression, Aggression, internalisierendes oder externalisierendes Verhalten, Suizidneigung, Somatisierungen, Alkohol und Drogenmissbrauch, sexuelle Stçrungen und Reviktimisierung genannt. Im Behindertenbereich sind diese Aufflligkeiten weit verbreitet, werden aber in der Regel der geistigen Behinderung und nicht einem potentiellen Missbrauch zugeschrieben. Dabei msste diese Vermutung eigentlich nahe liegen, da dieser Personenkreis sowohl einem deutlich hçheren Risiko ausgesetzt ist als auch in der Regel nicht ber die oben aufgezhlten Schutzfaktoren verfgt, die bei der Verarbeitung behilflich sein kçnnten. Das tatschliche Ausmaß von sexuellem Missbrauch im Behindertenbereich wird wohl immer im Dunkeln bleiben. Man kann aber prventiv ttig werden. Selbstbestimmte Wohn- und Lebensformen fr Menschen mit einer geistigen Behinderung mssen weiter ausgebaut werden. Ein selbstbewusster Mensch, der gewohnt ist, ber sich und seinen Kçrper selbst zu bestimmen, wird weniger gefhrdet

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sein. Außerdem muss den behinderten Menschen eine eigene Sexualitt zugestanden werden. Nur wer ber eine eigene gelebte Sexualitt verfgt, kann eindeutig zuordnen, welche Form der Sexualitt mit welcher Person er eigentlich mçchte. Und nicht zuletzt sollten Mitarbeiter in Behinderteneinrichtungen aufflliges Verhalten nicht vorschnell der geistigen Behinderung zuschreiben, sondern nach dem Sinn des Verhaltens fragen und einen mçglichen Missbrauch in die berlegungen einbeziehen.

Fallbeispiel Als Beispiel, an dem ich den Zusammenhang zwischen Missbrauchserfahrungen, psychischer Strukturbildung und geistiger Behinderung verdeutlichen mçchte, habe ich eine Klientin des Vereins Betreutes Wohnen Darmstadt e.V. gewhlt, der seit zwanzig Jahren Menschen mit Behinderungen im Raum Darmstadt ambulant betreut. Frau R., 45 Jahre alt, stammt aus schwierigen sozialen Verhltnissen und ist seit ihrem sechstem Lebensjahr in verschiedenen stationren Einrichtungen untergebracht. Ihre geistige Behinderung ist unklarer Genese. Im Alter von 31 Jahren lernen wir die Frau kennen. Es bestehen große Defizite im lebenspraktischen Bereich, sie hat Probleme, ihren Tagesablauf sinnvoll zu strukturieren, und sie hat berhaupt keinen berblick ber ihre persçnlichen Verhltnisse. Sie bewirbt sich gemeinsam mit ihrem Lebenspartner, den sie in der letzten Einrichtung kennen gelernt hat, bei uns um einen Platz im Betreuten Wohnen. Alleine wre sie zu diesem Schritt nicht in der Lage. Der Partner ist der deutlich dominantere Teil in der Beziehung. Sie selber wirkt labil, naiv und ausgesprochen leichtglubig. Auffllig sind ihre stndigen Klagen ber Probleme im Unterleib. Sie ist diesbezglich bei mehreren rzten in Behandlung und wird im Laufe der Jahre mehrfach wegen unterschiedlicher Unterleibsbeschwerden (Blase, Gebrmutter) operiert. Hufig nsst sie ein, ist aber nicht dazu in der Lage, die verschmutzte Wsche selber zu entsorgen. Dies muss ihr Lebensgefhrte fr sie erledigen. Er weicht die verschmutzte Wsche so lange ein, bis er eine Waschmaschinenfllung zusammen hat. Be-

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sonders problematisch sind die Tage ihrer Monatsblutung, unter der sie sehr leidet. Als Besucher der gemeinsamen Wohnung wird man durch die Berge von Binden im Mll und die Eimer voller eingeweichter Wsche sofort auf die Unterleibsproblematik der Frau hingewiesen. Der Mann leidet erheblich darunter, noch verstrkt durch seine Mutter, die mit der Partnerwahl ihres Sohnes berhaupt nicht einverstanden ist. Frau R. zeigt sich den Anforderungen an sie (z. B. den Haushalt besser zu fhren, endlich Verantwortung zu bernehmen etc.) nicht gewachsen. Als der Druck auf sie immer strker wird, lsst sie sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik einweisen. Schließlich kommt es zur Trennung des Paares und Frau R. zieht vorbergehend in die vereinseigene Wohngemeinschaft. Ihre psychische Verfassung ist bedenklich. Außerdem wird deutlich, wie groß ihre Abhngigkeit von ihrem Partner ist. Mit der eigenen Haushaltsfhrung und der Einteilung von Geld ist sie vçllig berfordert. Wir haben in den vergangenen Jahren keine tragfhige Betreuungsbeziehung zu ihr aufbauen kçnnen, da sie sich immer hinter ihrem Partner versteckt hat. Das rcht sich jetzt. Wir kçnnen ihr keinen Halt geben. Sie flchtet sich wieder verstrkt in ihre psychosomatischen Unterleibsbeschwerden und eilt von Arzt zu Arzt. Schließlich haben wir den Verdacht, dass sie sich, vermutlich um ihre Geldprobleme in den Griff zu bekommen, eventuell aber auch auf Partnersuche, gelegentlich prostituiert. In diesem Milieu lernt sie auch ihren nchsten Partner kennen, einen alkoholabhngigen, lteren Mann ohne festen Wohnsitz. Diese Beziehung ist von Anfang an ußerst problematisch und von Gewalt geprgt. Das Ausmaß der Abhngigkeit, in die sie sich freiwillig begibt, ist erschreckend. Nicht nur, dass er ihre Sozialhilfe vertrinkt, er macht auch auf ihren Namen Schulden und berredet sie sogar, ihren Werkstattplatz aufzugeben, um den ganzen Tag bei ihm sein zu kçnnen. Der Kostentrger hlt eine Betreuung durch den Verein nicht mehr fr erforderlich, da sie ja mit einem nicht behinderten Partner zusammen lebt. Da auch der Partner gegen unsere Betreuung ist und unsere Betreuungsbeziehung zu Frau R. nicht tragfhig genug ist, wird die Betreuung eingestellt. In den folgenden fnf Jahren haben wir kaum noch Kontakt zu Frau R. Gelegentlich versucht sie, Klienten des Vereins anzupumpen, und berichtet ihnen von Alkohol- und Gewaltexzessen ihres Partners,

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den sie mittlerweile geheiratet hat. Vor vier Jahren nimmt sie berraschend wieder Kontakt zu uns auf und bittet uns dringend um Hilfe. Ihr Mann ist gerade qualvoll an Kehlkopfkrebs gestorben. Zwei Wochen zuvor hat man ihn als Pflegefall mit Sonde und Katheter aus dem Krankenhaus entlassen. Ohne Untersttzung durch einen Pflegedienst hat sie verzweifelt versucht, die Pflege ihres Mannes zu bernehmen. Sie ist mit den Nerven am Ende und auch mit der Organisation der Beerdigung und den anstehenden Behçrdenangelegenheiten vçllig berfordert. Außerdem besteht eine Verschuldung in unbekannter Hçhe, irgend jemand hat auch bereits ihr Konto gepfndet und sie hat kein Geld fr ihren Lebensunterhalt. In dieser Situation steigen wir wieder in die Betreuung ein und versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Aus der frheren Betreuung ist bekannt, dass Frau R. ber eigene Missbrauchs- und Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit verfgt. Bereitwillig hat sie von dem wiederholten Missbrauch durch ihren Vater und ihren Onkel, der daraus erfolgten unerwnschten Schwangerschaft, dem Schwangerschaftsabbruch und der frhen Zwangssterilisation berichtet. Problemlos kçnnen wir ihr aufflliges Verhalten diesen Tatbestnden zuordnen. Deswegen leidet sie an Unterleibsbeschwerden, fgt sich immer neue Verletzungen in Form von zweifelhaften operativen Eingriffen zu und verhlt sich manchmal sehr eigenartig. Wir haben Verstndnis und Mitleid. Das hilft aber nichts, denn diese Frau hat noch eine andere Seite, an der wir beim ersten Mal auch gescheitert sind. Gleichzeitig lçst sie nmlich intensive Gefhle von Wut, Hass, Ekel, Ohnmacht und Verzweiflung in den zustndigen Mitarbeitern aus, die diese aber nicht beachten drfen, weil sie nicht zu der gewollten Grundhaltung von Verstndnis und Mitgefhl passen. Diesmal stellen wir uns dieser Seite. Jetzt wird auch deutlich, dass ihr frherer Partner sich damals auf ihre Kosten zum strahlenden Ideal-Klienten stilisiert hat. Mit ihm konnte man – im Gegensatz zu ihr – wunderbar zusammenarbeiten. Er war vernnftig, einsichtig, verstndnisvoll. Und war es nicht beeindruckend, wie er sich um sie gekmmert hat? Seine Probleme – unter anderem Aggressivitt und Spielsucht – lçsten sich damals in Luft auf, whrend bei ihr keine Fortschritte zu verzeichnen waren. Auch jetzt gestaltet sich der Beziehungsaufbau wieder zh. Man kommt nicht wirklich an sie heran. Bei dem zentralen Thema Geld entzieht sie sich immer wieder und

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hlt sich nicht an Absprachen. Es wird nicht so recht deutlich, ob sie zu dumm oder zu verschlagen ist, um sich an die Verabredungen zu halten. Bei den Mitarbeitern macht sich Wut und Verzweiflung breit. Es scheint kein Mittel zu geben, ihre Geldprobleme in den Griff zu bekommen. Obwohl sie Schecks und Scheckkarte bereits den Mitarbeitern bergeben hat, gelingt es ihr immer wieder, ihr Geld vor den Mitarbeitern komplett von ihrem Konto abzuheben. Und sie lsst sich in erschreckendem Ausmaß von Nachbarn und Bekannten ausnutzen. Bei uns beklagt sie sich zwar ber das Verhalten dieser Menschen, hlt sich aber auch hier an keine mit uns getroffene Absprache. Bei den Mitarbeitern regt sich der Wunsch, zu rigorosen erzieherischen Mitteln zu greifen. Diese Phantasien machen wtend, sowohl auf sich selbst, aber auch auf Frau R., die sich so intensiv anbietet, autoritr und bergriffig zu reagieren. Schließlich wird deutlich, dass das Geldthema bei ihr eng mit dem Missbrauchsthema verbunden ist. Geld ist heute der Bereich, in dem sie in Abhngigkeiten gert und von anderen Menschen missbraucht wird. Unsere Hilfsangebote kann sie daher auch nicht als Untersttzung erleben, sondern sieht in ihnen ebenfalls versuchte bergriffe, vor denen es sich zu schtzen gilt. Da unsere Betreuungsziele in Selbstbestimmung und wachsender Autonomie bestehen und wir von daher zurckhaltender als ihre Bekannten agieren, sind wir gleichzeitig auch das ideale bungsfeld fr Versuche von Selbstbehauptung. Geld spielt bei fast allen Klienten eine zentrale Rolle in der Betreuungsbeziehung. ber sein Geld frei verfgen zu kçnnen, ist ein wichtiger Faktor fr den Grad der Selbstbestimmung. Gleichzeitig hngt aber auch das Gelingen oder Scheitern des Lebens außerhalb eines Heims entscheidend von der gelungenen Einteilung des vorhandenen Geldes ab. Das Geld ist in der Regel knapp bemessen und wenn man es nicht richtig einteilt, drohen mangelhafte Versorgung mit Nahrungsmitteln, Abstellen von Telefon und Strom oder sogar Verlust der Wohnung, wenn die Miete wegen Kontoberziehung nicht berwiesen werden kann. Von daher ist es auch ein ernst zu nehmendes Problem, dass Frau R. ihre Missbrauchsproblematik ausgerechnet ber das Geld ausagiert. In einem langwierigen Prozess mit unzhligen Besprechungen und Analysen der Situation wird schließlich deutlich, dass Frau R. ihre

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Gefhle als Missbrauchsopfer auf die zustndigen Mitarbeiter bertrgt und diese sich dadurch ohnmchtig und hilflos, gleichzeitig aber auch angeekelt und wtend fhlen. Außerdem versucht sie aber auch, die Mitarbeiter in die Tterrolle zu drngen. Durch ihr Verhalten provoziert sie rigorose pdagogische Maßnahmen. Ohne den psychoanalytisch-pdagogischen Ansatz unserer Arbeit wrde man vermutlich versuchen, ber immer einengendere Maßnahmen die Kontrolle ber ihr Geld und ber ihr Verhalten zu erlangen. Vermutlich wrde dieser Versuch aber scheitern, weil man im ambulanten Bereich Kontrolle nicht in dem Maße erreichen kann wie im stationren. Das Ergebnis wre wohl, dass Frau R. wieder in einer stationren Einrichtung untergebracht werden wrde, weil sie aufgrund ihrer Behinderung nicht zu einem selbstndigen Leben in der Lage sei. Nachdem wir erkannt haben, dass wir ihr ber das Geld vermitteln mssen, welchen Vorteil es haben kçnnte, sich auf uns einzulassen und dass sie in dieser Beziehung nicht erneutes Missbrauchsopfer, sondern Nutznießer sein kçnnte, verwenden wir zunchst alle unsere Energie darauf, einmal vor ihr an das Geld zu kommen. Nachdem dies gelungen ist, lassen wir ihr auch zu ungewçhnlichen Zeiten, Anlssen oder Orten das Geld wieder zukommen. Eine Zeitlang bringen wir ihr sogar schachtelweise Zigaretten vorbei, wenn sie ihre Vorrte wieder nicht richtig eingeteilt hat. Dass wir dazu bereit sind, einen so großen Aufwand zu betreiben und uns ganz ihren Bedrfnissen anzupassen, verndert ihre Beziehung zu uns grundlegend. Endlich wird sie nicht benutzt, sondern sie kann benutzen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben werden ihre Bedrfnisse gesehen, anerkannt und sogar befriedigt. Heute genießt sie es zu wissen, dass sich immer etwas von ihrem Geld bei den fr sie zustndigen Mitarbeitern befindet. Es gibt ihr die Sicherheit, dass in Notsituationen etwas fr sie bereit steht, ohne dass sie dies noch laufend austesten msste. Es ist eine Art Urvertrauen entstanden, die Basis fr eine tragfhige Betreuungsbeziehung. ber diese ist es mçglich, die unterschiedlichsten Themen und Probleme zu bearbeiten. Ihre gesundheitlichen Probleme im Bereich des Unterleibes bestehen nicht mehr und sie nsst auch nicht mehr ein. Sie neigt zwar immer noch dazu, sich von anderen Menschen ausnutzen zu lassen, in extreme Abhngigkeiten gert sie aber nicht mehr, weil sie mittlerweile gelernt hat, uns in diesem Fall als Hilfs-Ich

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Ursula Pforr

hinzuzuziehen. So schließt sie zwar immer noch Haustrgeschfte ab, weil sie in solchen Situationen grundstzlich nicht Nein sagen kann. Danach beauftragt sie aber umgehend ihren zustndigen Mitarbeiter mit der Auflçsung des Vertrages, was in den ersten Tagen ja problemlos mçglich ist. Besonders erfreulich ist, dass es ihr im vergangenen Jahr erstmals gelungen ist, Geld fr einen Urlaub anzusparen, den sie sehr genossen hat. Frau R. wird mit Sicherheit noch viele Jahre, wenn nicht gar dauerhaft, auf untersttzende Begleitung angewiesen sein. ber unsere psychoanalytisch-pdagogisch orientierte Beziehungsarbeit, die ich an anderer Stelle ausfhrlich beschrieben habe (Pforr, 2008), ist es aber gelungen, eine tragfhige Betreuungsbeziehung, die Basis unserer Arbeit, aufzubauen. Verhaltensweisen, die bei Frau R. zunchst ihrer Behinderung zugeschrieben worden waren, lçsten sich so in Luft auf und es droht auch keine stationre Unterbringung mehr.

Literatur Bender, D., Lçsel, F. (1997). Risiko- und Schutzfaktoren in der Genese und der Bewltigung von Mißhandlung und Vernachlssigung. In U.T. Egle, S.O Hoffmann, P. Joraschky (Hrsg.), Sexueller Mißbrauch, Mißhandlung, Vernachlssigung (S. 35 – 53). Stuttgart, New York: Schattauer. Gaedt, C. (1987). Psychotherapie bei geistig Behinderten. Neuerkerode: Stiftung Neuerkerode. Gaedt, C. (1990). Selbstentwertung – depressive Inszenierungen bei Menschen mit geistiger Behinderung. Neuerkerode: Stiftung Neuerkerode. Gaedt, C. (2002). Biographie und Identitt. Integrative Therapie, 28 (3 – 4), 238 – 246. Gerspach, M. (1994). Zur Methodik des szenischen Verstehens Behinderter. Behindertenpdagogik, 33 (4), 338 – 358. Gerspach, M. (1998). Wohin mit den Stçrern? Zur Sozialpdagogik der Verhaltensaufflligen. Stuttgart: Kohlhammer. Gerspach, M., Mattner, D. (2004). Institutionelle Fçrderprozesse von Menschen mit geistiger Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer. Heinz-Grimm, R. (1996). Sexueller Mißbrauch geistig behinderter Menschen im Spannungsfeld des Strafrechts. In J. Walter (Hrsg.), Sexualitt und geistige Behinderung. Heidelberg: Schindele.

Trauma und Persçnlichkeitsbildung bei geistiger Behinderung

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Die Autorinnen und Autoren

Rose Ahlheim, Dr. phil., Dipl.-Pd., ist Dozentin und Kontrollanalytikerin am Institut fr Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Frankfurt am Main und analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in eigener Praxis in Marburg. Joachim Bauer, Dr. med., Facharzt fr Innere Medizin, Psychiater und Psychotherapeut, ist Professor und Oberarzt der Abteilung Psychosomatische Medizin der Uniklinik Freiburg. Heribert Blaß, Dr. med., Facharzt fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ist Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DPV/IPA) in eigener Praxis in Dsseldorf. Dozent an der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Kçln – Dsseldorf. Frank Dammasch, Dr. phil., Dipl.-Soz., Pdagoge, analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis, ist Professor fr psychosoziale Stçrungen in Kindheit und Jugend an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Dr. phil., Dipl.-Pd., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Gruppenanalytikerin, Supervisorin, ist Professorin fr Sozialpdagogik an der Katholischen Fachhochschule Mainz. Tamara Fischmann, Dr. rer. med., Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin (DPV/ IPA), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Rolf Haubl, Dr. phil., Dr. rer. habil., gruppenanalytischer Supervisor, Organisationsberater, Gruppenlehranalytiker, ist Professor fr psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universitt Frankfurt am Main und Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main.

Die Autorinnen und Autoren

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Joachim Heilmann, Dipl.-Pd., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Psychoanalytischer Pdagoge, ist Leiter der »Heilpdagogischen Ambulanz« der Heilpdagogischen Initiativen e.V. Groß-Umstadt. Christoph Kleemann, Dipl.-Pd., ist Fçrderschullehrer; Vorstandsmitglied des Frankfurter Arbeitskreises fr Psychoanalytische Pdagogik. Jrgen Kçrner, Prof. Dr., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DGP, IPV), ist Professor fr Sozialpdagogik an der Freien Universitt Berlin. Heinz Krebs, Dr. phil., Dipl.-Pd., Supervisor (DGSV), Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist Mitarbeiter einer Beratungsstelle fr Eltern, Kinder und Jugendliche und in eigener Praxis ttig; Lehrbeauftragter am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Universitt Frankfurt am Main und zweiter Vorsitzender des Frankfurter Arbeitskreises fr Psychoanalytische Pdagogik. Judith Lebiger-Vogel, Dipl.-Psych., ist Promotionsstipendiatin der Heinrich Bçll Stiftung und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Marianne Leuzinger-Bohleber, Dr. phil., ist Professorin fr Psychoanalyse an der Universitt Kassel, Direktorin des Instituts fr Psychoanalyse an der Universitt Kassel und geschftsfhrende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main. Katharina Liebsch, Dr. phil., ist Professorin fr Soziologie mit dem Schwerpunkt fr Familien- und Jugendsoziologie an der Universitt Frankfurt am Main. Hans-Geert Metzger, Dr. phil, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DPV), ist ttig in eigener Praxis in Frankfurt am Main sowie als Dozent an der Universitt Frankfurt am Main und in der psychotherapeutischen Ausbildung. Ursula Pforr, Dipl.-Pd., ist pdagogische Leiterin des Vereins Betreutes Wohnen Darmstadt e.V. Marianne Rauwald, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist Psychoanalytikerin in eigener Praxis, freie Mitarbeiterin des FFGZ (Feministisches Frauengesundheitszentrum) und am Institut fr Traumabearbeitung und Weiterbildung in Frankfurt am Main sowie Dozentin der University of Cape Town, Sdafrika.

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Reihe 3: Psychoanalytische Sozialpsychologie Band 1: Hans-Joachim Busch (Hg.) Spuren des Subjekts Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie 2007. 288 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45404-6 Aus Freuds Ansätzen hat sich eine psychoanalytische Sozialpsychologie gebildet, die für die veränderten Bedingungen unserer heutigen Zeit fortgeschrieben wird. Mit Beiträgen von Hans-Joachim Busch, Angelika Ebrecht, Rolf Haubl, Robert Heim, Hans-Dieter König, Emilio Modena, Johann August Schülein, Hans-Jürgen Wirth.

Band 2: Johann August Schülein Optimistischer Pessimismus Über Freuds Gesellschaftsbild 3., erweiterte Auflage 2007. 273 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45409-1 Johann August Schülein stellt Freuds Gesellschaftsbild sowohl im Zusammenhang als auch im Detail dar. Dabei zeigt sich eine ungewöhnliche Mischung aus vortheoretischen Gewissheiten und einem hohen Maß an Unabhängigkeit, von Alltagsbewusstsein und tiefgreifendem Verständnis, von Optimismus und Pessimismus. Es kommt nicht nur die innere Logik von Freuds Gesellschaftsbild zutage, sondern

auch ihre Funktion für die Entwicklung der Psychoanalyse und die damit verbundenen Möglichkeiten und Risiken.

Band 3: Rolf Haubl / Bettina Daser (Hg.) Macht und Psyche in Organisationen 2007. 336 Seiten mit 2 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45166-3 Intrigen, Graben- und Konkurrenzkämpfe, Cliquenbildung und Informationsfilter: Kann Macht in Organisationen nur ein schlechtes Image haben? »Wer sich auf den Weg begeben möchte, Machtbeziehungen in Organisationen leichter identifizierbar zu machen, ist mit dieser Veröffentlichung in den besten Händen - absolut empfehlenswert für Supervisorinnen und Supervisoren.« Forum Supervision Mit Beiträgen von Dietlef Breuer, Bettina Daser, Carola EunickeMorell, Rolf Haubl, Sebastian Keil, Claudia Meister-Scheytt, Heidi Möller, Daniela Rastetter, Felix Reiners, Johann August Schülein, Erhard Tietel, Heike WestenbergerBreuer, Dietmar J. Wetzel.

Weitere Informationen: www.v-r.de