Tauchgänge: Psychoanalyse der äußeren und inneren Realität 9783666401909, 9783525401903, 9783647401904


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Tauchgänge: Psychoanalyse der äußeren und inneren Realität
 9783666401909, 9783525401903, 9783647401904

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Thomas Hartung /  Laura Viviana Strauss (Hg.)

Tauchgänge

Psychoanalyse der äußeren und inneren Realität

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40190-3 ISBN 978-3-647-40190-4 (E-Book) Umschlagabbildung: Norbert Matejek © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort von Heinz Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Laura Viviana Strauss und Thomas Hartung Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Georg Matejek Die bedingte psychische Relevanz von Fakten. Gedanken zu einer Fallvignette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Laura Viviana Strauss Deuten aus dem Inneren: Betrachtung eines Dilemmas . . . . . . 43 Thomas Hartung und Michael Steinbrecher Zwischen innerer und äußerer Realität: Der Körper im psychoanalytischen Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Klaus Röckerath Von der äußeren zur inneren Realität. Aus der psychoanalytischen Behandlung eines hirngeschädigten Patienten oder: Der Schatten des Phineas Gage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Thomas Auchter Äußere Realität, innere Realität und der potential space bei Donald W. Winnicott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Hellfried Krusche Wilfred Bion zwischen fernöstlicher Mystik und westlicher Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Angelika Voigt-Kempe Innere und äußere Realität im Spiegel von Kunsterfahrungen . 175 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Inhalt

Michael Steinbrecher »The Truman Show« von Peter Weir – oder: Die Wiederbelebung von innerer und äußerer Welt . . . . . . . . . 207 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

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Vorwort

Die Leser dieses Buchs aus Anlass des 80. Geburtstags von Georg Matejek sind eingeladen, die Autorinnen und Autoren auf ihren Exkursionen in jene Bereiche des psychischen Lebens zu begleiten, die seit jeher den Kernbestand der psychoanalytischen Theorie und Praxis ausmachen: die Zonen, an denen innere Welt und äußere Realität aufeinander treffen. Es ist zugleich der Bereich, den Georg Matejek zum Ausgangspunkt für seine Tätigkeit als psychoanalytischer Kliniker, Forscher und Lehrer bestimmt hat. Der Titel »Tauchgänge« nimmt dabei nicht nur auf eine persönliche Passion des Jubilars Bezug; er steht auch für die Neugierde, die Offenheit und den Mut, sich jenen Regionen der menschlichen Psyche zu nähern, von denen Freud in seiner »Traumdeutung« gesagt hat, sie seien uns nach ihrer inneren Natur »so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewusstseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (1900a, G. W. Bd. II/III, S. 617 f.). Die Instrumente, die dem Psychoanalytiker hierbei zur Verfügung stehen, sind vielleicht ebenso wenig verlässlich und präzise wie jene Atlanten und nautischen Geräte, mit denen die Seefahrer am Beginn der Neuzeit in unbekannte Welten aufbrachen. Sie dienen jedoch als Orientierungshilfe, um in den Stürmen von Übertragung und Gegenübertragung zu bestehen. Georg Matejek hat diese Ungewissheit der psychoanalytischen Situation als Herausforderung empfunden und sich bei seinen Erkundungen an den Werken von Melanie Klein, Wilfred Bion und Herbert Rosenfeld orientiert. Er hat über viele Jahre hinweg an Rosenfelds Supervisionsarbeit sowie später an den Seminaren mit Michael Feldman teilgenommen. Dadurch gehört er zu jenen Pionieren, die kleinianisches Denken im deutschen Sprachraum wieder fruchtbar machten. Von dessen klinischer Frische und inno-

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Vorwort

vativer Kraft profitierten seine eigenen Seminare, seine Arbeit mit Analysanden, Weggefährten und Kollegen, die ihre Ideen in diesem Band präsentieren. Die Breite der Themen spiegelt die Vielfalt von Georg Matejeks Interessen wider: die Bedeutung des inneren Raumes, die Untersuchung von Transformationsprozessen, die Erkundung der Ränder und Übergangsbereiche, in denen psychisches Wachstum stattfindet. Und ebenso die Beziehung zum Körpererleben, zu Kunst, Kulturwissenschaften und Philosophie. In seinem eigenen Beitrag erinnert er daran, wie beschränkt die Relevanz äußerer Fakten ist, wenn es nicht gelingt, sie in Bedeutungen der inneren Welt zu transformieren. Genau dieser Prozess setzt aber die Aufnahmebereitschaft eines Gegenübers voraus, das sich affizieren lässt und bereit ist, bislang Undenkbares in sich aufzunehmen und zu erkunden. Der vorliegende Band bietet vielfältige Gelegenheiten für solche Erkundungen. Er ist zugleich ein überzeugendes Beispiel dafür, wie fruchtbar sich psychoanalytisches Denken auf die Entwicklung einer Gruppe auswirken kann. Heinz Weiß

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Laura Viviana Strauss und Thomas Hartung

Einführung

Die Analyse kann als ein zeitlicher Moment betrachtet werden, der sich ausdehnt und so zu einer sich über mehrere Jahre erstreckenden Geraden oder Oberfläche wird – eine extrem dünne Membran eines Augenblicks. (Wilfred R. Bion, Aufmerksamkeit und Deutung, 1970/2006, S. 23)

Bions Membran-Metapher lässt uns an eine Struktur denken, die gleichzeitig eine verbindende und trennende Qualität hat. Bei allen Vorgängen, die mit Wachstum und Entwicklung zu tun haben, spielen Membranen eine wichtige Rolle. Als eine solche dünne Membran, die sich auf einem langen Weg gebildet hat, verstehen wir auch diesen Band. Er enthält Arbeiten von Mitgliedern einer Arbeitsgruppe, die sich in den letzten zehn Jahren um den Psychoanalytiker Georg Matejek aus Bensberg bei Köln zusammengefunden hat. Die wachsende Vertrautheit und Kontinuität, die sich in einer Vielzahl von gemeinsamen Seminaren, Diskussionen und Begegnungen gebildet hat, bot uns einen Raum, über psychische Prozesse offen nachzudenken. Kennzeichnend ist, dass alle Beiträge sich mit der Psychoanalyse der inneren und äußeren Realität befassen. Jeder »taucht« in einen anderen Teilbereich des unendlichen »Ozeans der Psychoanalyse« ein, eine Allegorie, auf die auch das Titelbild unseres Kollegen Norbert Matejek Bezug nimmt. Im Laufe der jahrelangen befriedigenden Zusammenarbeit, verbunden mit der Entwicklung einer gewissen gemeinsamen negative capability, hat jeder der Autoren seinen persönlichen, individuellen Zugang zu der von ihm dargestellten Thematik entwickelt. Für diesen fachlichen Entwicklungsprozess sind wir allen in der Arbeitsgruppe – mit Georg Matejek in ihrer Mitte – sehr dankbar. Durch seine Fähigkeit, in psychische Prozesse einzutauchen, ermuntert er uns zu immer neuem Suchen nach Bedeutung. In Anerkennung dieser Fähigkeit schätzen wir ihn nicht nur als aufgeschlossenen Kollegen, sondern auch als hilfreichen Mentor, weshalb wir ihm dieses

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Laura Viviana Strauss und Thomas Hartung

Buch widmen möchten. Mit den Gedanken, die wir hier vorlegen, möchten wir psychische Vorgänge beschreiben, die die Auffassung der äußeren und der inneren Realität und ihrer Übergangsbereiche prägen. Sie sind gewissermaßen Bestandteile einer fiktiven Membran, die die Innenwelt von der Außenwelt in seelischer und körperlicher Hinsicht unterscheidet und verbindet. Neben dem grundlegenden Beitrag von Georg Matejek »Die bedingte psychische Relevanz von Fakten« enthält dieser Band einige klinische Beiträge zur Deutungstechnik, zur Rolle des Körpers im psychoanalytischen Feld sowie zu den psychoanalytischen Behandlungsmöglichkeiten bei einem hirntraumatisierten Patienten. Dann folgen zwei theoretische Texte zu Donald W. Winnicott und den indischen Wurzeln von Wilfred Bion. Zwei Exkursionen in die darstellende Kunst bzw. den Film schließen den Band ab.

Zu den einzelnen Beiträgen Im ersten Beitrag »Die bedingte psychische Relevanz von Fakten« geht Georg Matejek von Bions Annahme aus, dass die psychische Entwicklung des Individuums aus einem rudimentären protomentalen Zustand hervorgeht, in dem Gefühle und Affekte vorherrschen und in dem bildhafte Eindrücke, Empfindung und Wahrnehmung verschwimmen. Im Empfinden des Säuglings erscheint auch die Mutter nicht als unabhängige, getrennte Person. Sie wird für das Baby gleichsam zum ersten Faktum, wenn das Kind ihre Abwesenheit soweit erträgt, dass es diese als Gedanken fassen kann. In ihrer einfühlenden Zuwendung kann sie die häufig exzessiven Affektzustände »entgiften«. Nicht mentale, rohe, affektive Sinneseindrücke (β-Elemente) werden auf diese Weise in mental verwendbare, für psychische Bearbeitung unentbehrliche α-Elemente transformiert, eine Fähigkeit, welche das Kind schließlich von der Mutter übernimmt. In der weiteren Entwicklung verstärkt sich die Tendenz, sich neugierig der Realität zuzuwenden. So findet der Heranwachsende in die Wirklichkeit der Fakten hinein und kann sie als Grundlage des Vertrauens in die Konstanz und die Stabilität der Welt, in der er lebt, und als verlässlichen Bezugsrahmen seiner inneren Sicherheit empfinden. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

Einführung11

Dies ist bei einer großen Gruppe von schwer gestörten Patienten in der psychoanalytischen Praxis nicht oder nur eingeschränkt der Fall. Sie empfinden die äußere Realität als eine schwer erträgliche Sphäre, die psychisch nicht bewältigt (»verdaut«) werden kann und die eine Entfaltung der eigenen Bedürfnisse nicht zulässt. Sie suchen eine Lösung im Rückzug in eine selbst geschaffene erträglichere Welt, indem sie beispielsweise die Realität negieren oder sie destruktiv bekämpfen. Im Extrem zeigt sich dies beim Psychotiker, der die Realität (zumindest innerlich) auszulöschen versucht. Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Konzepts entfaltet der Autor seine Gedanken zum Verständnis einer Fallvignette. Das von Bion postulierte Katastrophengefühl der menschlichen Existenz spielt dabei eine besondere Rolle. Weiterhin veranschaulicht dieser Beitrag, wie die handfeste körperliche Realität dieses Patienten den Analytiker verführen kann, seinen Einblick in die psychische Verfassung des Patienten zu verlieren. Es kann ein »betäubendes Gefühl der Realität« (Bion, 1961, S. 108 f.) entstehen und das Verständnis der inneren Realität des Patienten verfälschen. Im zweiten Beitrag, »Deuten aus dem Inneren«, entfaltet Laura Viviana Strauss ein kontrovers diskutiertes Thema der psychoanalytischen Technik, nämlich die Frage nach der Selbstoffenbarung des Analytikers (self disclosure). Soll der Analytiker soweit gehen, Selbstoffenbarung unter bestimmten Umständen als eine Möglichkeit anzusehen, das dynamische Wachstum des psychoanalytischen Prozesses anzuregen? Oder soll die Mitteilung dessen, was möglicherweise im Analytiker während der Sitzung vor sich geht, als ein Ausagieren des Analytikers betrachtet werden, das die Symbolbildungsfähigkeit des Patienten behindert? Vor dem Hintergrund eines inneren Dialogs mit zeitgenössischen Analytikern, der aus der klinischen Erfahrung mit einer Patientin hervorging, versucht die Autorin darzustellen, wie die Analytikerin in der Arbeit mit der Patientin ihre Gegenübertragungsreaktion als Deutungsinstrument nutzt, um der Patientin zu verdeutlichen, dass das, was sie in die Analytikerin projiziert, tatsächlich auch eine innere Realität hat. Analytikerzentrierte Deutungen stellen eine Möglichkeit dar, dem Patienten etwas zu vermitteln, wodurch er in Kontakt mit den Aspekten kommen kann, die er in den Analytiker projiziert hat. Unvermeidlich bieten © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Laura Viviana Strauss und Thomas Hartung

sie dem Patienten jedoch auch einen gewissen Einblick in das Innere des Analytikers und seine Wahrnehmung von den Projektionen des Patienten. Sie enthalten auf der einen Seite eine Erfahrung, die im Analytiker im Zusammenhang mit den Projektionen des Patienten entsteht, aber sie sind auf der anderen Seite auch unweigerlich durch die persönliche Matrix der Erfahrungen des Analytikers »personifiziert« – auch wenn der Analytiker keine direkte Aussage über sich selbst macht. Die Analytikerin führt aus, wie sie immer präzisere Beschreibungen ihrer Gegenübertragungsreaktionen in analytikerzentrierte Deutungen einbezieht. Auf diese Weise konnte der Patientin ein Zugang zu der Gültigkeit psychischer Realität ermöglicht werden. Eine direkte Selbstoffenbarung würde den Prozess zerstören. Ein Vorenthalten der inneren Prozesse der Analytikerin würde den Prozess zum Stagnieren bringen. Die Vorgehensweise der Analytikerin berücksichtigt diese beiden Gefahren. Sie bewahrt die symbolische Bedeutung der Übertragung und ermöglicht doch der Patientin die Erfahrung der Gültigkeit der psychischen Realität. Im dritten Beitrag befassen sich Thomas Hartung und Michael Steinbrecher mit dem »Körper im psychoanalytischen Feld«. Die Integration von Psyche und Soma beginnt in der frühesten Kindheit im Kontakt des Babys mit seinen primären Bezugspersonen. Bions Konzept des Fühl-Denkens, das sich in einer Container-ContainedBeziehung entwickelt, in welcher durch die Rêverie der Mutter die β-Elemente in α-Elemente transformiert werden können (siehe auch den Beitrag von G. Matejek), bietet eine geeignete Grundlage für die Auseinandersetzung mit diesem Thema. Was geschieht jedoch mit den nicht transformierten Affektbeträgen? In der Regel werden sie durch übermäßige projektive Identifizierung in die Außenwelt ausgeschieden. Allerdings können β-Elemente auch untransformiert im Körper zurückbleiben und sich dann in psychosomatischen Symptomen äußern. Der Körper kann demnach als Zwischenlager zwischen der äußeren und der inneren psychischen Realität betrachtet werden. Die Autoren legen ihr besonderes Augenmerk auf den kommunikativen Prozess, in dem sich diese psychosomatischen Symptome auch dem Körper des Analytikers mitteilen können. Sie greifen auf sensorische Prozesse (Sehen, Gehör, Musik) und psychische Phänomene (projektive und introjektive Identifizierung) zurück, um das Medium © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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dieser Kommunikation zu beschreiben. Der Zugang zur Thematik des Körpers in der psychoanalytischen Behandlung wird unter Hinzuziehung weiterer psychoanalytischer Literatur erweitert. Die besonders interessante Frage, wie der Analytiker einen Zugang zu der spezifischen körperlichen Verfassung des Patienten entwickeln kann, wie also eine Kommunikation zwischen den beiden involvierten Körpern entstehen kann, wird mit Hilfe eines detaillierten Konzepts der projektiven Identifizierung (Weiß) erörtert. Veranschaulicht werden diese Zusammenhänge durch eine ausführliche klinische Vignette, durch die sich Verbindungen zwischen theoretischen und klinisch praktischen Erkenntnissen ergeben. Die Fortschritte der Neurowissenschaften haben die wissenschaftliche Akzeptanz der Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten sehr untermauert und der psychoanalytischen Forschung wertvolle Hinweise auf die anatomischen Korrelate mancher ihrer Konzepte geliefert. In seinem Beitrag »Von der äußeren zur inneren Realität. Aus der psychoanalytischen Behandlung eines hirngeschädigten Patienten oder: Der Schatten des Phineas Gage« bereitet Klaus Röckerath dem Leser im vierten Beitrag einen tiefen Einblick in diese Thematik. So zeigen Schädigungen im Stirnhirn häufig ein Frontalhirnsyndrom, das unter anderem gekennzeichnet ist durch Antriebslosigkeit, Schwächung der Selbstkontrolle, ungehemmtes Ausleben der Triebhaftigkeit, Orientierungs- und Konzentrationsstörungen. Veranschaulicht wird dieser Zusammenhang durch eine ausführliche Vignette über die psychoanalytische Behandlung eines Patienten mit Frontalhirnsyndrom. Der Autor geht zum einen der Frage nach, welche Rolle die äußere Schädigung des Gehirns in der inneren Welt des Patienten spielte. Zum anderen wird am Behandlungsverlauf erörtert, ob und wenn ja, welchen Einfluss die psychoanalytische Behandlung auf die Restitution von Patienten mit derartigen Hirnläsionen hat. Die nachweislich durch die neurologische Schädigung verursachte Veränderung des Verhaltens wird in der psychoanalytischen Auseinandersetzung wie ein Symptom unbewusster Triebkonflikte behandelt. Die psychoanalytische Methode sieht also von der Präsenz der neurologischen Schädigung ab und beschäftigt sich ganz mit der inneren Realität des Patienten wie in jeder anderen Analyse auch. Der Autor stellt die These auf, dass die ursprüngliche Persön© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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lichkeit des Patienten bei solcher Art Schädigungen erhalten bleibt. Allerdings tritt die unbewusste konflikthafte Triebdynamik durch den Wegfall steuernder und koordinierender Funktionen sehr viel offener zutage. Eine wesentliche Frage wird dabei diskutiert, nämlich inwieweit durch die Behandlung die Restitution der geschwächten Selbstkontrolle und Selbstreflexion gefördert wurde. Im fünften Beitrag führt Thomas Auchter die im Gesamtwerk des britischen Psychoanalytikers Donald W. Winnicott verstreuten Gedanken und Ideen zur inneren Realität und zur äußeren Realität zusammen. Gerade zu diesem Thema liefern die Gedanken Winnicotts einen wichtigen Beitrag, weil er eine spezifische Vorstellung von einem Raum zwischen der inneren und der äußeren Realität konzipiert hat. Dieser Besonderheit von Winnicotts Konzept, dem Bereich des Dazwischen, den er als potential space (Übergangsraum, intermediärer Raum, Möglichkeitsraum) bezeichnet hat, wird eine eingehende Diskussion gewidmet. Denn gerade in diesem Raum, der sich in der Beziehung zum Primärobjekt aufspannt, kann die Entwicklung stattfinden. Der potential space eröffnet sich in jener Zeitspanne, in der sich die ursprüngliche Selbst-Objekt-Unterschiedenheit aufzulösen beginnt und das Kind in einen Integrationsprozess von Körper und Seele eintritt. Zwischen Ich und Nicht-Ich liegt ein Bereich, in welchem das Kind die Welt, die wir mit ihm gemeinsam haben, zugleich als seine imaginäre Welt erlebt, einen Ort, an dem eine erste Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich möglich wird. Winnicotts Überlegungen werden zunächst in das größere Feld der Wirklichkeitserfahrungen eingeordnet. Die Entwicklung der inneren Realität wird sodann in ihrem Verlauf von Beginn an dargestellt. In einer klinischen Vignette wird deutlich, wie wichtig es ist, dass der Analytiker »bedingungslos und unhinterfragt« die innere Realität des Patienten annimmt. Denn nur, indem sich dieser Übergangsraum bildet, in welchem Analytiker und Patient eine innere Realität teilen, kann sich die Patientin vom Analytiker erkannt und verstanden fühlen. Im sechsten Beitrag beleuchtet Hellfried Krusche die Verbindungen, die sich zwischen Bions psychoanalytischem Denken und der indischen Philosophie erkennen lassen. Die Bereitschaft, auf ein ordnendes Denken zu verzichten, ist nämlich in Bions Werk von zen© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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traler Bedeutung. Von dieser inneren Bereitschaft ausgehend strebt der Analytiker danach, in Kontakt mit einer psychischen Dimension zu kommen, die Bion als O beschreibt. Grotstein spricht von einer tiefen formlosen Unendlichkeit. Die Entwicklung und Erfahrung neuer Formen, für die der Analytiker offen sein will, hängt mit einem Glaubensakt (act of faith) zusammen, der es dem Analytiker ermöglicht, seine Aufmerksamkeit auf einen ihm unbekannten Bereich zu richten. Mit der Entwicklung solcher Konzepte schafft Bion eine ganzheitliche Vision des Unbewussten. An zwei Beispielen aus seiner Praxis veranschaulicht der Autor die Notwendigkeit, sich zunächst unbekannten körpernahen Prozessen zu überlassen. Indem er seine langjährigen in Indien gesammelten Erfahrungen aus der Philosophie des Yoga zugrunde legt, fragt sich der Autor, ob Bion ein Grenzgänger zwischen den philosophischen Kulturen von Okzident und Orient ist. Er erörtert diese Frage mit einigen wesentlichen Gedanken des Hinduismus und des klassischen Yoga. In den indischen Wurzeln Bions entdeckt der Autor Anklänge an die hinduistische Philosophie der Bhagavad-Gita (Kernstück des großen Epos Mahabarata) und die Upanishaden, einer frühen Form der indischen Philosophie. Yoga heißt im ursprünglichen Sinne Bindung. Yoga könnte auch mit dem von Bion gebrauchten Begriff linking übersetzt werden. Demnach bedeutet Yoga Beziehung. Der Autor weist vor allem darauf hin, dass manche Gedanken aus der indischen Tradition in Bions Perspektive auf die Funktion von O erkennbar sind. Ausgehend von dem Kunstwerk »Der Fahrstuhl« des indischen Künstlers Gigi Scaria, in welchem ein imaginärer Fahrstuhl mit der Gleichzeitigkeit von gegensätzlichen Wahrnehmungen spielt, gibt Angelika Voigt-Kempe dem Leser im siebten Beitrag einen Einblick, wie Irritationen der Sinne durch widersprüchliche Wahrnehmung im Körper entstehen. Etablierte Grenzen können demnach im ästhetischen Erleben verwischt oder wieder aufgehoben werden. Damit führt sie den Leser direkt in die Thematik ihres Beitrags »Innere und äußere Realität im Spiegel von Kunsterfahrung«. Die These der Autorin lautet, dass gerade die realistische Kunst es dem Betrachter ermöglichen kann, die Rolle des Künstlers als Gestalter der Wirklichkeit zu reflektieren und dabei die eigene aktive Rolle beim Herstellen von Wirklichkeit zu spüren. Der Beitrag gibt dem Leser zunächst © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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einen Überblick über die wissenschaftlichen Beiträge verschiedener Disziplinen zur Thematik der inneren und äußeren Realität. Der Versuch einer Verortung des Subjekts in einer objektiv gegebenen äußeren Welt wirft die Frage auf, inwieweit dem Individuum eine Erkenntnismöglichkeit darüber überhaupt zur Verfügung steht. Fragen nach der Entstehung und Aufrechterhaltung der inneren Welt des Subjekts und die verschiedenen psychoanalytischen theoretischen Konzeptualisierungen beleuchten zunächst eine allgemeine Perspektive dieser Verortung. Darüber hinaus führt die Beschäftigung mit Wahrnehmungsprozessen und deren Bedeutung für die innere subjektive Welt zu Beschreibungen der ästhetischen Dimensionen, die diese Prozesse begleiten. Eine intersubjektive Konstruktionserfahrung umfasst Aspekte sowohl des ästhetischen Erlebens als auch Erfahrungen, die sich in psychoanalytischen Prozessen entfalten. Nach einem Überblick über einige Theorien zum künstlerischen Schaffensprozess wendet sich die Autorin dann der Frage zu, welche Prozesse bei der Betrachtung eines Kunstwerks die Wahrnehmung des Subjekts im Feld von innerer und äußerer Realität strukturieren. Schließlich führt die Beschäftigung mit der Kunstrichtung des Realismus oder Hyperrealismus zu Aspekten, die auf innere Erfahrungen von Trauer- und Verlusterlebnissen bezogen werden können. Am Beispiel des Films »The Truman Show« von Peter Weir setzt sich Michael Steinbrecher im achten Beitrag mit der Frage der Beziehung zwischen der inneren und der äußeren Realität auseinander. Das Studio, in dem der Film spielt, erhält in diesem Zusammenhang nämlich die Bedeutung eines Zwischenraums: Der auf das äußere Geschehen gerichtete Blick zeigt das Individuum als gläsernen Menschen, geprägt von einer kontrollierenden Umgebung, für die innere Prozesse bedeutungslos sind. Realität ist aus diesem Blickwinkel betrachtet, was von außen vorgegeben wird, und gleichbedeutend mit dem, was durch die nach außen gerichteten Sinnesorgane wahrgenommen werden kann. Der nach innen gerichtete Blick offenbart die innere Welt des Subjekts mit seinen emotionalen Erfahrungen. Kann das Subjekt ausreichend Vertrauen in eine tragfähige Beziehung finden, dann kommt dem Studio die Bedeutung eines wahrnehmbaren Übergangsraums bzw. Zwischenbereichs zu. Es erkennt die Grenzen des Studios und überwindet diese, indem es das Studio © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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verlassen kann, um sich neue Räume zu erschließen. Ist dies nicht der Fall, erstarrt der potenzielle Übergangsraum zu einem dauerhaften Gefängnis, das dann nicht mehr als Zwischenraum erkennbar ist. Die Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit bleiben soweit reduziert, dass das Studiogefängnis weder in seiner Begrenztheit noch in seiner Übergangsfunktion erkannt werden kann. Es wird als einzig verfügbarer und maximal vorstellbarer Lebensraum hingenommen. Darüber hinaus beschreibt der Autor, wie der Film erkennen lässt, welches Risiko das Subjekt eingeht, sobald es den einmal erreichten Status quo verlässt. Er schildert das Kräftespiel zwischen dem Wunsch nach Veränderung und dem Bedürfnis, die einmal erreichte Sicherheit zu bewahren.

Abschließende Bemerkungen Dieser Band befasst sich mit Austauschprozessen zwischen äußerer und innerer Realität. Nicht nur ist die äußere Realität Voraussetzung für die Entstehung des Inneren, sondern umgekehrt beeinflusst die innere emotionale Verfassung die Wahrnehmung der äußeren Realität. Manchmal sind psychoanalytische Prozesse erschwert, weil die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Realität verfälscht sein kann, sowohl im Patienten als auch im Analytiker. Wir haben uns bei diesen Überlegungen besonders dafür interessiert, wie manche dieser Verfälschungen als Teil des analytischen Prozesses verstanden werden können. Denn die analytische Beziehung basiert auf »Tauchgängen«, in denen diese beiden Realitäten uns einen Zugang zu immer neuen, unbekannten Erfahrungen ermöglichen. Innere Realität, äußere Realität und die Übergangsbereiche dazwischen – eigentlich scheinen alle Autoren durch ihre Erfahrungen in der klinischen Arbeit, in der Kunst, in der Religion oder in den Neurowissenschaften die Meinung zu teilen, dass es die innige emotionale Beziehung zu einem anderen Mensch ist, die, wie in der psychoanalytischen Sitzung, einen Zugang zu diesen beiden Bereichen der Realität ermöglicht. Von ganzem Herzen möchten die Herausgeber der Autorengruppe (Auchter, Krusche, Matejek, Röckerath, Steinbrecher, VoigtKempe) danken für den lebhaften und intensiven Diskussionsprozess, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Laura Viviana Strauss und Thomas Hartung

der uns alle geistig und emotional sehr bereichert hat und ohne den diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Auch Sabine Lorenz danken wir für ihre bereichernden Anregungen und Kommentare bei der Vorbereitung und Diskussion dieses Buches.

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Georg Matejek

Die bedingte psychische Relevanz von Fakten Gedanken zu einer Fallvignette

In seiner Arbeit »Clinical Facts or Psychoanalytic Clinical Facts?« (1994, S. 963) unterscheidet Quinodoz im französischen Sprachgebrauch des Wortes fait (Fakt) zwei lexikalische Definitionen: eine allgemeinere im Sinne von »was geschehen ist«, »was stattgefunden hat«, und eine etwas enger gefasste in der Bedeutung: »Ein Faktum ist, was tatsächlich existiert, was zum Bereich des Realen gehört.« Ähnliche Definitionen – vorwiegend in der allgemeineren Fassung – findet man nahezu wörtlich auch in deutschen Wörterbüchern (z. B. Brockhaus, Duden). In den folgenden Ausführungen hält sich die Verwendung des Begriffes Faktum eher an die engere Fassung, bezieht allerdings die innere Realität in den Begriffsinhalt ein. Da wir den Begriff primär aus der Perspektive des Patienten benutzen, verzichten wir auf die stringentere Verwendung im Sinne des »klinischen Faktums«, wie es in der psychoanalytischen Literatur ausführlich diskutiert wird, und verweisen auf die Diskussionsbeiträge einer Reihe von Autoren im International Journal of PsychoAnalysis (1994, 75, 5/6). Für den Psychoanalytiker Bion stehen am Beginn der Entwicklung der Beziehung zur Realität als eine Art rudimentären Ausgangsmaterials späterer Fakten rohe Sinneseindrücke. Diese finden jeweils statt als Empfindungen, in denen Gefühl, Bild und Ding ungeschieden ineinander übergehen. Der Zustand, von dem die Rede ist, ist eine Art protomentaler Vorstufe, die – zeitlich kaum zu datieren – aller Wahrscheinlichkeit nach verstärkt durch wiederholtes Auftauchen des jeweils dominanten Eindrucks, in den Zustand einer »definitorischen Hypothese« (Bion, 1985, S. 26 f.) einmünden kann, das heißt in eine zuerst vage Anmutung von »Das ist …«. Eine prominente Quelle von Sinneseindrücken bilden in der frühesten postnatalen Situation zweifellos die vitalen Bedürfnisse des Neugeborenen, deren physische Signale (z. B. motorische Unruhe,

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Georg Matejek

Wimmern, Schreien, aber auch unbezogenes Lächeln) auf dem Weg der projektiven Identifizierung die Zuwendung des umsorgenden Objekts mobilisieren. Mit der sich stetig wiederholenden Zuwendung des Objekts verbindet sich jeweils die Erfahrung von Abhilfe, der Modifikation des eigenen Zustands. Die Antwort des Objekts organisiert als sich wiederholende Erfahrung auch die Situation des aufnehmenden Säuglings: Er signalisiert etwas wie ein Gefühl der Vertrautheit. Es zeigt sich quasi am Rande der β-elementaren Gefühlslage, die Bion als Ausgangssituation der Entwicklung des Denkens annimmt. Ein wesentlicher Aspekt des Gefühls von Vertrautheit ist aber ein Empfinden von Kontinuität. Darüber hinaus bildet das Gefühl der Vertrautheit die Grundlage dafür, dass Modifikationen im Verhalten des Objekts eher als erweiternde Realisierungen des Präkonzepts »Brust«/Mutter, das heißt als mental verwendbare α-Elemente verwendet werden können. Kann das Objekt im negativen Fall seine mütterliche Funktion nicht oder nur unzulänglich annehmen, so hat dies in aller Regel desaströse Folgen für die Beziehung des Kindes zum Objekt und auch für seine gesamte Einstellung zur Realität. Als der Evidenz naheliegende ursprünglichste Reaktionsweise auf die wiederkehrende negative Erfahrung der versagenden (Container-)Funktion ist eine abwehrende »Kontraktion« des rudimentären Selbst zu erwarten. Sie manifestiert sich mitunter unmittelbar in der Weigerung, die Brust überhaupt anzunehmen, oder auch in der Verweigerung jeglicher Nahrung, die von der Mutter kommt. Sie bildet vielfach die Grundlage von Verdauungsstörungen sowohl in somatischer als auch in psychischer Hinsicht. In einer Art negativer Vertrautheit gerinnt die sich wiederholende Kontraktion zu einer erstarrten Abwehrstruktur, die sich dem bewusst und/oder unbewusst widerwillig, ablehnend, überängstlich oder innerlich abwesend angebotenen mütterlichen Angebot verweigert. Sie hat vielfach zur Folge, dass das Baby sich generell durch massive Aversion gegen frustrane Sinneseindrücke sperrt. Seine Einstellung zur Realität wird dann durch Feindseligkeit, Eliminierung, Verleugnung oder Abkehr bestimmt. Nicht selten entwickelt sich auf diesem Hintergrund die Neigung, sich durch Sucht oder Perversion, aber auch durch Wahnbildungen (Freud, 1924, S. 389) eine erträglichere Ersatzwelt zu schaf© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

Die bedingte psychische Relevanz von Fakten21

fen. Man kann sagen, dass die geronnenen Abwehrstrukturen im Wesentlichen gegen die Verdauung von Fakten der inneren und äußeren Realität gerichtet sind. Bion sieht entsprechend in solchen Verdauungsstörungen generell das Paradigma der Psychopathologie. In der im Folgenden wiedergegebenen Sequenz aus der psychoanalytischen Behandlung eines Patienten werden Aspekte einer vergleichbar gestörten Entwicklung veranschaulicht.

Die Fallvignette1 Herr A., ein Mann mittleren Alters, berichtet im Erstgespräch, seit längerem »völlig in der Luft zu hängen« und von innerer Unruhe und Ängsten gequält zu werden. Seit einer Operation im Rachenraum sei seine Sehfähigkeit noch stärker eingeschränkt als ohnehin seit seiner Kindheit. Er leide unter einer extremen Kurzsichtigkeit, die allerdings erst im Schulalter bemerkt worden sei. Als Künstler sehe er sich damit vor existenzielle Probleme gestellt, er fühle sich auch sozial isoliert. Das sei ein altes Problem, er habe sich schon immer als Außenseiter erlebt. Im Laufe der Vorgespräche beeindruckt mich zunehmend die Ernsthaftigkeit, mit der er offenbar bereit ist, an seinen inneren Problemen zu arbeiten, obwohl die äußere Realität zunächst eine scheinbar unüberwindbare Faktizität darstellt. Der Beginn der hochfrequenten Behandlung wird durch einen »Bruch« verzögert. Herr A. bricht sich den Knöchel bei einem riskanten Überholmanöver auf dem Fahrrad und erscheint zum ersten Termin nach drei Wochen auf Krücken. Ich bin beunruhigt und von massiven Zweifeln geplagt. Dabei fühle ich mich mit der Erwartung konfrontiert, als hätte ich sein Überleben und seine Unversehrtheit zu garantieren. Konkret steht die Frage im Raum, ob die bevorstehende Behandlung nicht eine Überforderung seiner Kapazitäten, aber auch meiner Möglichkeiten darstellt. Die Analyse dieser Anfangsszene führte mitten hinein in seine lange Geschichte körperlicher Erkrankungen: Eine unerkannte Blinddarmentzündung mit anschlie1

Die Fallvignette wurde mir von Angelika Voigt-Kempe überlassen. Ich bin Frau Voigt-Kempe sehr zu Dank verpflichtet.

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ßender Notoperation im Alter von einem Jahr hatte ihn über mehrere Wochen im Krankenhaus isoliert. Als der Bruder geboren wurde, war er drei Jahre alt und reagierte mit unspezifischen Magen-Darm-Problemen, die eine komplizierte Behandlung mit erneuter stationärer Einweisung erforderten. Ein komplizierter Beinbruch in der Pubertät, diverse leichtere Verkehrsunfälle und eine lebensbedrohliche Gehirnhautentzündung im Erwachsenenalter erschienen mir wie eine endlose Auflistung von äußeren Realitäten, die aus dem Nichts über Herrn A. hereingebrochen waren. Es dauerte lange, bis wir zu verstehen begannen, welche innere Welt diese Fakten für Herrn A. bedeuteten. Dabei war ein Verständnis seiner künstlerischen Tätigkeit im Austausch mit diesen Fakten seines Lebens von großer Hilfe. Herr A. beschrieb seine künstlerische Tätigkeit als etwas sehr Existenzielles. Er sei seit dem Abschluss seines Studiums damit beschäftigt, jeweils zwei Farben miteinander in Beziehung zu setzen. Die größte Aufmerksamkeit liege dabei auf dem Herstellungsprozess der jeweiligen Farben. Er entscheide intuitiv, welche Pigmente er zusammenrühren wolle, auch die Konsistenz der Farben sei ernorm wichtig. Teilweise wurde ein schwerer Brei auf dicke Holzplatten gespachtelt, an anderen Tagen eine verdünnte Lösung fließend miteinander in Beziehung gesetzt. Wichtig war, dass auf einem Bild diese zwei Farben miteinander kommunizierten. So gab es düstere Dialoge von zähem ineinander gerührtem Grau-Braun, leuchtende Bilder von Rot-Orange, aber oft auch lichte verwaschene Überflutungen, die keine Tiefe erlaubten. Meine Aufgabe sollte zunächst darin festgelegt bleiben, die Farben zu verstehen: »Kennen Sie Kobaltblau?«, fragte er dann unvermittelt, »oder Ocker mit einem Stich ins Karminrote?« Ich erlebte Herrn A. zutiefst befriedigt, sobald ich die Farben mit meinen Worten beschrieb. Wenn allerdings für ihn der Eindruck entstand, ich treffe den Ausdruck nicht hundertprozentig, brachte er mir zur nächsten Stunde eine entsprechende Probe der Farbe mit, damit ich mir selbst ein Bild machen konnte. Allmählich gelang es besser, die Farbwerte mit seiner affektiven Lage in einen Zusammenhang zu bringen. Die finstere Stimmung ließ sich zunächst auf die Zumutungen der Realität beziehen: Zurückweisungen, seine körperliche Eingeschränktheit, aber auch eine plötzlich abgesagte Stunde von mir ließen die Welt in ein alles umfassendes © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Grau in Grau versinken. Bestimmte Rottöne ließen sich zunehmend der Wut über »Brüche«, verschlossene Türen, verlorene Schlüssel und einem beschämenden Gefühl von Kleinheit und unbefriedigter Triebspannung zuordnen. Andere Farbtöne erschienen zärtlich, blass, kühl oder gesättigt, Selbstzustände, die von der äußeren Realität nach innen wanderten. Am schwierigsten erschien die Kommunikation, wenn die verwaschenen Farben dominierten. Dann präsentierte er mir Bilder aus kaum zu unterscheidenden Nuancen, auf denen zum Beispiel alles weißlich-eierschalenfarben-beige ineinander floss. Das Licht der Farbgebung wirkte dabei keinesfalls leicht und heiter. Vielmehr zog mich mit diesen »inneren Bildern« in den Stunden etwas in einen strukturlosen Abgrund. Ich erlebte eine Transparenz, die keinen erkennbaren Grund beinhaltete, die im Nichts endete. Zeitweilig erlebte ich Atemnot und Beklemmungen und war dann nur noch mit meiner eigenen körperlichen Verfasstheit beschäftigt. Es gab endlose Stunden in völliger Zeitlosigkeit, aus denen ich mit dem Ende der Stunde jedoch immer pünktlich auftauchte. Diese Tatsache beruhigte mich, quasi wie ein Hinweis darauf, dass unser Diskurs nicht völlig abgerissen war. Die Verbindung mit Zuständen des völligen Abgeschnittenseins, zum Beispiel während der frühen Krankenhausaufenthalte, erschien mir naheliegend. Herr A. reagierte auf mein diesbezügliches Angebot an Faktizität barsch: »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, das ist doch schon so lange her.« Ich fühlte mich zurückgestoßen und auf eine zwingende Weise auf die Deutung seiner Farbtöne festgenagelt. Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Resignation machte sich in mir breit. Ich glaubte zeitweilig, nur durch einen radikalen Eingriff oder Hinweise auf die real existierende Krise in seinem Leben einen Veränderungsschlag bewirken zu können. Erst als Herr A. mir einen Traum mitteilte, in dem er fast blind und auf das Erkennen von Hell-Dunkel-Tönen beschränkt stolpernd in einen Abgrund fiel, fand ich wieder Zugang zu seiner Not. Ich sagte ihm, dass er sich offenbar dringend darauf angewiesen fühlte, dass ich da sei und mich auf seine Perspektive, die Welt zu betrachten einließe, ansonsten fühlte er sich fallen gelassen und einer Katastrophe ausgesetzt. Er weinte lange. Eine mühsame Kleinarbeit an aktuellen Ereignissen folgte, die sein Abgeschnittensein und seinen aktiven Rückzug in eine bunte © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Innenwelt deutlicher werden ließ. Sie führten allmählich in einen Zustand des Wissenwollens. Er begann sich erstmals für seine eigene Geschichte zu interessieren, seine Eltern nach den Ereignissen in seiner Kindheit zu befragen und Vorwürfe gegen sie zu erheben, dass sie ihn offenbar nicht gut im Blick gehabt hätten. Allmählich ließ sich aber auch rekonstruieren, dass die extreme Kurzsichtigkeit offenbar als ein grundlegender Modus des In-der-Welt-Seins erlebt wurde. Eine schwimmende Realität, die nur wenig Orientierung bot und ihn auf seine innere Welt zurückwarf. Die in dieser Welt erlebte Omnipotenz ertrug keine Zumutungen der Realität. Die erst im Schulalter bemerkte Sehschwäche hatte bereits zu erheblichen Entwicklungsdefiziten beigetragen, die im sozialen Miteinander zu Demütigungen und Hänseleien geführt hatten. Herr A. hatte sich immer stärker in seine innere Welt zurückgezogen. Der Neid auf den erfolgreicheren Bruder, für den sich Herr A. sehr schämte, hatte ihn immer stärker in die Isolation getrieben. Diese Isolation mutete mir Herr A. nun in plötzlichem Stundenabsagen und einer mich zum Teil sehr wütend machenden verwaschenen Artikulation zu. Seine Worte erschienen mir dann wie Farbschlieren, mit denen er mich einseifte, ohne dass ich mich dagegen hätte zur Wehr setzen können. Schließlich konnte er mir mitteilen, dass er rasende Angst davor habe, von mir als »kleines Würstchen« betrachtet zu werden. Vor einer längeren Ferienunterbrechung träumte er: »Ich kam zu meiner Stunde, aber Sie kamen mir bereits auf der Treppe entgegen, um mir zu sagen, dass die Stunde nicht stattfinden kann, weil Sie krank sind. Sie hatten einen langen Mantel an mit einer Kapuze. Darunter sah ich, dass Sie ihre Haare rot gefärbt hatten. ›War’s das?‹, hab ich ganz zerknirscht gefragt und mich umgedreht, um zu gehen. Sie haben mir noch hinterher geschaut und ganz zweifelnd den Kopf geschüttelt.« Die Einfälle zum Traum führten uns zu seiner Phantasie, ich sei gar nicht krank, sondern hätte die Krankheit nur vorgeschoben, um mit dem Bademantel, den ich im Traum trug, zum WellnessUrlaub zu fahren. Es wurde deutlich, dass Herr A. ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem gesprochenen Wort hegte und stets mit der Frage beschäftigt war, ob man ihm die Wahrheit sagte. Seine Frage im Traum: »War’s das?« wurde damit zum grundsätzlichen Zweifel: Ist das wahr? Er misstraute dem gesprochenen Wort, aber © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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auch der wahrnehmbaren äußeren Realität sowie der Verbindlichkeit von Beziehungen. So wurde seine Frage im Traum für uns zur Frage nach der Verbindlichkeit meiner Worte und meiner Präsenz. Er fragte sich schließlich: Kann ich mich darauf verlassen, was Sie sagen und dass Sie wiederkommen? Trennungen in den Ferien oder am Wochenende führten jetzt weniger zu inneren Abbrüchen unseres Kontakts. Herr A. konnte auch erinnern, dass seine diversen Krankenhausaufenthalte immer auch etwas Befriedigendes für ihn darstellten, da er »dann einen Knopf am Bett drücken konnte und die Schwestern springen mussten«. Ein großer Fortschritt in der Behandlung erschien mir, dass Herr A. eines Tages berichtete, dass er nun etwas Neues entdeckt habe. Er fände es jetzt ganz spannend, weiße Flecken auf dem Bild zu belassen, er müsste ja gar nicht alles mit Farbe bedecken. Das Nichts hatte einen vorläufigen Ort in der äußeren Realität gefunden.

Gedanken zur Vignette Der Patient, Herr A., bemüht sich um eine psychoanalytische Behandlung, weil er »seit längerem völlig in der Luft hängt« und unter Angstzuständen und Unruhe leidet. Man kann sich neugierig fragen, was wohl dazu geführt hat, dass er seine Bodenhaftung verloren hat. Aber man braucht weitere Information, ehe sich Vermutungen bilden können. Dennoch: Hört man den Kontext der Symptome narrativ als Mitteilung in einer Zeichensprache, wie Bion sie versteht, dann klingt sie übersetzt etwa so: »Ich hänge in der Luft. Ich fühle mich äußerst beunruhigt und habe große Angst (weil ich abzustürzen fürchte).« Was hindert den Patienten, diesen Gedanken selbst zu artikulieren? Man muss annehmen, dass es ihm nicht möglich ist, die Vorstellung des (lebensbedrohlichen) Abstürzens als einen angstvollen Gedanken zu akzeptieren, mit dem man sich auseinandersetzen, über den man nachdenken kann, damit er erträglich wird. Stattdessen wird er so behandelt, als wäre die Vorstellung identisch mit dem Absturz selbst und bleibt so ein psychischer Inhalt mit »namenloser Angst« (Bion). Er kann so allenfalls als der emotionalen Bedeutung entkleidetes, affektentleertes »Gerippe« gedacht werden. Die oben vorgenommene © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Deduktion des Absturzes aus der Zeichensprache der »zusammengebrachten« Symptome ist zunächst nicht mehr als ein Einfall, den der Analytiker als Hypothese bzw. als potenziellen Fokus seiner Aufmerksamkeit im Hinterkopf unterbringen kann. Seine Relevanz kann er ja erst im Fortgang der Analyse erweisen. Das Verhalten des Patienten in der sich anschließenden ersten Phase der Analyse scheint indes in gewisser Weise die Vermutung zu bestärken. Im einführenden Kontext erscheinen die symptomatischen Ängste unmittelbar im Zusammenhang mit einer primär körperlich bedingt erheblich eingeschränkten Verfassung des Patienten. Insbesondere seine Kurzsichtigkeit bedeutet für Herrn A. ein existenzielles Handicap. Seine Behinderungen sind für ihn offenbar wesentliche Teilaspekte einer abweisenden, ignoranten, feindseligen äußeren Realität, die ihn in die Isolierung treibt. Aus dieser Situation heraus füllt er die ersten Stunden der Behandlung mit der Aufzählung von körperlichen Defekten, Erkrankungen, traumatischen Trennungserfahrungen und Unfällen aus, die der Analytikerin schier endlos vorkommt. Es ist, als sollten diese Fakten – zunächst und zuerst – erdrückend und beunruhigend für sich selber sprechen oder als fühlte Herr A. sich in den Fakten seiner Körperlichkeit gefangen und als hätte diese ihre eigene Mitteilungsvalenz. So scheint es, als ergäbe sich für ihn aus dem Leiden unter seiner vielfältigen körperlichen Beeinträchtigung, insbesondere seiner Sehbehinderung, eine dauerhafte Aktualisierung der Erfahrung, die in der Feststellung Freuds liegt, »daß das Ich vor allem ein körperliches ist« (1923, S. 253). Herr A. bezieht sich indes zu Beginn in solcher Ausführlichkeit verbal und in seinem Verhalten auf die handfeste Realität, als stünde ihm nichts sonst zur Verfügung, an dem er Halt finden könnte. Seine Analytikerin fühlt sich als Antwort darauf beunruhigt und von massiven Zweifeln geplagt. Dies lässt an eine Bemerkung denken, die von J. Steiner Bion zugeschrieben wird: »Wenn im Material des Patienten ein erheblicher Anteil an Realität auftaucht, dann kann der Analytiker sicher sein, dass er unter dem Einfluss einer massiven projektiven Identifikation steht« (Steiner, 2011, S. 74). Im gleichen Kontext bezieht sich Steiner auf eine weitere Bemerkung Bions, wonach der Analytiker in einer solchen Situation zeitweilig seinen Einblick verlieren kann: »man steht unter dem Ein© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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druck starker Empfindungen und glaubt zugleich, ihre Existenz sei hinreichend durch die objektive Situation gerechtfertigt, ohne dass man auf eine umständliche Erklärung ihrer Ursache zurückgreifen müsse. Vom Analytiker aus gesehen besteht das Erlebnis aus zwei eng miteinander verbundenen Phasen: In der ersten hat man das Gefühl, man habe bestimmt keine richtige Deutung gegeben, ganz gleich, was man im übrigen getan haben mag; in der zweiten hat man das Empfinden, eine ganz besondere Person in einer ganz besonderen emotionalen Situation zu sein. Ich glaube, das hauptsächliche Erfordernis für den Analytiker in der Gruppe ist die Fähigkeit, das betäubende Gefühl der Realität von sich abzuschütteln, das eine Begleiterscheinung dieses Zustandes ist« (Bion, 1961, S. 108 f., Hervorhebung G. M.). Für die Analytikerin enthält die lange Reihe der aufgezählten Handicaps ein Zuviel. Die Aufzählung erscheint ihr endlos. Dieses Zuviel reflektiert in ihrem Empfinden ein offensichtlich dominierendes Lebensgefühl des Patienten, das er projektiv in sie hinein zu entleeren versucht, als könnte er sich auf diesem Weg zumindest teilweise der unerträglichen Fakten seiner Realität entledigen. Darüber hinaus scheint ihre Reaktion anzudeuten, sie sähe sich dem Ansinnen ausgesetzt, dass sie – auf sich allein gestellt – das Überleben des Patienten zu gewährleisten hätte. Damit hätte sie eine umfassende mütterliche Funktion zu übernehmen, wie sie in der Frühphase der kindlichen Entwicklung überlebenswichtig ist. Diese würde implizieren, dass sie im Wesentlichen selbst die entsagungsvolle Auseinandersetzung mit den aufgezählten Fakten zu leisten und seine Verbindung zur äußeren Realität als ihre Angelegenheit anzusehen hätte. Offenbar zeigt sich darin die Wirkung jener massiven projektiven Identifizierung, von der im oben genannten Zitat die Rede ist: Als würde Herr A. seinen Überlebenswillen zum großen Teil in die Analytikerin hineinverlegen. Ein restlicher Teilaspekt dieser Vitalität scheint ihm als kooperative Bereitschaft dazu zu dienen, mit der er ihre von ihm erspürte Skepsis zu beschwichtigen versucht. Das zweifelbehaftete Unbehagen der Analytikerin nährt sich sicherlich aus der Konfrontation mit der endlos langen Reihe der traumatischen Ereignisse und Behinderungen. Es wird aber zugleich verstärkt durch die Umstände, mit denen Herr A. die Analyse beginnt: © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Ein offensichtlich von ihm provozierter Fahrradunfall stellt sich dem verabredeten Behandlungsbeginn in den Weg. Um drei Wochen verzögert erscheint er dann aufgrund eines gebrochenen Fußknöchels auf Krücken. Man kann vermuten, dass der Patient in diesem Verhalten eine massive Feindseligkeit zu erkennen gibt. Sie scheint sich gegen die in den Fakten implizit angeklagte, ihrerseits feindselige, ignorante, gleichgültige äußere Realität zu richten, aber auch gegen die beginnende Behandlung selbst und die Analytikerin, die im Begriff ist, ihn zur Auseinandersetzung mit dieser Realität zu bewegen, und in seiner Vorstellung vermutlich den Anspruch erhebt, ihm dabei wie sein in den Unfall verwickelter Kontrahent voraus zu sein. Das auf den ersten Blick beeindruckend kooperative Angebot des Patienten bringt die Analytikerin in einen schwer zu lösenden Zwiespalt, weil Herr A. es – unausgesprochen – an die Bedingung knüpft, dass er bereits über eine für ihn existenziell wichtige Methode der Auseinandersetzung verfügt und diese seit langen Jahren praktiziert. Es liegt ihm daran, diese Methode auch als Kommunikationsmodus im Austausch mit der Analytikerin zu verwenden. Sie besteht im künstlerischen Ausdrucksbemühen seiner Malerei. Dabei scheint Herr A. – auf welchem Hintergrund auch immer – zu wissen, dass er sich in einem Interessengebiet bewegt, das die Analytikerin mit ihm teilt. So enthält sein ernsthaftes Bemühen einen verführerischen Aspekt, der durch das betonte existenzielle Gewicht seiner Tätigkeit mit einem zusätzlichen Akzent von Unabweislichkeit versehen scheint. Es gelang ihm offensichtlich, die Analytikerin zunächst dazu zu bewegen, sich mit seiner Sichtweise zu identifizieren. Bei genauerem Hinsehen erweist sich indes seine Art der Auseinandersetzung als zentraler Aspekt eines Refugiums bzw. eines retreats im Sinne von J. Steiner (1993), in das sich Herr A. seit langer Zeit zurückgezogen hat, um der Auseinandersetzung mit den enttäuschenden Aspekten der Realität aus dem Wege zu gehen. So enthält das Angebot, sein künstlerisches Tun als Kommunikationsmodus der Behandlung zu verwenden, die Intention, sich gemeinsam mit der Analytikerin als Künstlerin in seinem Rückzugsraum einzunisten. Dabei würde der Austausch weitgehend seinen Vorgaben folgen und die Konfrontation mit der verhassten Realität wesentlich vermeiden. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Seine künstlerische Arbeit besteht seit der Beendigung seines Studiums darin, zwei Farben intuitiv und gleichwohl mit Bedacht (d. h. in enger Verbindung mit seiner jeweiligen Gefühlslage) auszuwählen und sie miteinander zu verrühren oder sie ineinander verfließen zu lassen. Das Ergebnis seiner Anstrengung soll offenbar als sichtbares Abbild seinen jeweils akuten Gefühlszustand repräsentieren. Mit Beginn der Behandlung versuchte Herr A., die Analytikerin als teilnehmendes Objekt in dieses Szenario einzubeziehen und sie entsprechend in seine Farbenlehre einzuweisen. Dies bedeutete, dass der Verständigungsmodus zwischen beiden Beteiligten weitgehend auf einen vom Patienten jederzeit überprüfbaren Lehr- und Lernvorgang reduziert wurde. Der Analytikerin blieb dabei wenig Raum, sich als Psychoanalytikerin ihre eigenen Gedanken zu machen bzw. mit sich selbst zu kommunizieren. Die gleiche Problematik scheint sich in ihrem wesentlichen Aspekt im Inhalt seiner künstlerischen Gestaltung abzubilden: Herr A. trifft die Auswahl der beiden Farben und bestimmt ihre Konsistenz. Er legt damit den Rahmen fest, in welchem die Farben als Objekte miteinander zu kommunizieren haben. Im psychoanalytischen Verständnis kann man darin die Merkmale einer archaischen Urszene bemerken, in der die Eltern fusionär miteinander verkehren. Als existenziell wichtig empfindet es Herr A., dass der Vorgang in seine Gefühlslage einmündet bzw. diese in seiner Regie authentisch dokumentiert. Damit setzt er sich in seiner Phantasie als Urheber der kreativen Potenz an die Stelle der Eltern. Es liegt nahe, dass er auf diese Weise ein für ihn unerträgliches Gefühl ohnmächtigen Ausgeschlossenseins in sein Gegenteil zu kehren versucht. Mit Hilfe seiner Abwehrmaßnahmen möchte er innerlich gewährleisten, dass er allein über die entscheidende Verbindung zum primären Objekt verfügt. Dabei machen insbesondere die aktivierten Kontrollfunktionen deutlich, dass er sich des emotionalen Zugangs zum Objekt keineswegs sicher ist. Das gezielte und mit Nachdruck in der analytischen Beziehung durchgesetzte Arrangement des Grundkonflikts verrät eine spürbare Starre und verweist damit auf die Fragilität seines Bearbeitungskonzepts. Er müsste es deshalb als Angriff auf seine Position empfinden, wenn die Analytikerin es direkt hinterfragen wollte. In diesem Zusammenhang betrifft sein Misstrauen innerhalb © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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der analytischen Beziehung offenbar nicht nur die verbale, sondern ebenso sehr die emotionale Kommunikation. Insgesamt enthält das fusionäre, archaisch-ödipale Szenario die Merkmale einer Ersatzkonstruktion, mit deren Hilfe er die Beziehung zur Analytikerin für ihn erträglich zu regulieren versucht. Um zu verstehen, welche elementare(n) psychische(n) Funktion(en) Herr A. zu ersetzen versucht, wird anknüpfend an unsere Ausgangsüberlegungen ein kurzer Rückblick auf die psychische Entwicklung des Individuums erforderlich. Wir folgen dabei den Überlegungen Bions (1963), für den die Ausgangssituation der psychischen Entwicklung wie bereits erwähnt jenseits der Möglichkeit zu denken liegt. In diesem Stadium der Entwicklung herrschen Zustände vor, die noch nicht durch einen Bezugsrahmen zusammengehalten werden können, weil es ihn noch nicht gibt, sondern lediglich »rohe Affektzustände […] die Bild-Empfindung-Wahrnehmung verschmelzen« (Eigen, 1985, S. 324). Bion nennt diese Zustände β-Elemente. Sie sind für ihn ein Gemisch aus Verfolgungsgefühlen, depressiven und Schuldgefühlen. Im Übrigen ist dieses Gefühlsgemisch nicht von Körperempfindungen und rudimentären Dingwahrnehmungen (»Dinge an sich«) zu unterscheiden. Es geht um »Rohmaterialien, die weiter bearbeitet werden müssen, ehe sie Teil eines Denkprozesses werden können. Sie erfassen das Subjekt mit katastrophischer Intensität« (Eigen, 1985, S. 324). Im Kontext der Problematik von Herrn A. hat der von uns angenommene Gefühlszustand ohnmächtigen Ausgeschlossenseins weitgehend die Qualität des β-elementaren Rohmaterials. Sein Bearbeitungsversuch führte zu einer unbefriedigenden Ersatzkonstruktion, die mit einer Stagnation seiner psychischen Entwicklung einherging. Wir haben im Folgenden die Frage zu beantworten, wie das Individuum in die Lage kommt, die affektiven Rohzustände der Ausgangslage so zu bearbeiten, dass es den Erfordernissen der gesunden psychischen Entwicklung gerecht werden kann. Dabei ist zu bedenken, dass diese β-elementar bestimmte Situation kein statischer Zustand ist. Sie unterliegt von Beginn an der Einwirkung der in entgegengesetzter Richtung zusammenwirkenden Funktionen des Klein’schen Konzepts der paranoid-schizoiden und der depressiven © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Position, die Bion mit der Formel PS ↔ D charakterisiert. Sie stehen für die Tendenz des Auseinanderfallens (oder in reifer Form des Differenzierens) einerseits und des Zusammenkommens (später: des Integrierens) andererseits. In etwa gleichzeitig beginnt auch die Dynamik, die Bion mit seinem Modell ♀♂ (Container-Contained) als wesentlichem Aspekt der projektiven Identifizierung verbindet, die Situation der inkohärenten, zerstreuten β-Elemente zu beeinflussen (etwa, indem sie eine Art Partikelwolke bilden oder zu netzartigen Gebilden zusammenkommen). Aber die Eindrücke, die das Baby bis dahin erfährt, sind protomental. Sie können nicht gedacht werden. Dies gilt so lange, bis die – eher subkutanen – Veränderungen der Ausgangssituation an einen Punkt gelangen, an dem Bion, ohne ihn zeitlich näher festzulegen, einen massiven Entwicklungsschub annimmt. Er betrachtet ihn als die psychische Geburt des Individuums, als sein »Auftauchen aus dem Oblivion«, als einen Vorgang, der mit wahrhaft umwälzenden Veränderungen einhergeht, die das Kind katastrophisch erschüttern. Sie ziehen auch entscheidende Fortschritte der Entwicklung der Fähigkeit zu denken nach sich. War die projektive Identifizierung zuvor ein rudimentäres Instrument, um rohe Gefühlszustände auszustoßen, so wird sie jetzt primär zum Kommunikationsmodus mit der Mutter. Es kann so ein Austausch stattfinden, der die innere Situation des Babys in bestimmter Weise verändert und es ihm ermöglicht, auch die umgebende Welt anders zu erfahren. E. Krejci (2011) bemerkt über diese grundlegende Veränderung: »Von da an wird diese emotionale Erfahrung, nämlich allmählich heterogene Elemente in Beziehung zueinander zu setzen bzw. ihre Bezogenheit zu entdecken, durch den Begriff Alphafunktion repräsentiert.« Bion selbst beschreibt diese zentrale Funktion wie folgt: »In der Situation, in der das β-Element, etwa die Angst, dass er stirbt, vom Säugling projiziert und vom Behälter so aufgenommen wird, dass es ›entgiftet‹ wird, das heißt, vom Behälter derart modifiziert wird, dass der Säugling es in erträglicher Form in seine eigene Persönlichkeit zurücknehmen kann. Der Vorgang ist analog zu dem, was die α-Funktion leistet. Der Säugling ist darauf angewiesen, dass die Mutter als seine α-Funktion wirkt. […] das β-Element [wurde] frei von dem Gefühlsexzess, der das Anwachsen der einschränkenden © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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und explosiven Komponente erzwungen hatte; so kam es zu einer Transformation, die den Säugling in die Lage versetzt, etwas zurückzunehmen, […] das jetzt als eine Definition oder Präkonzeption verwendet werden kann« (Bion, 1963, S. 27). Unter der Einwirkung der mütterlichen α-Funktion erfährt das Baby mithin eine beruhigende, affektentlastende Veränderung seines Zustands. Sein Impuls ging in die Richtung, einen affektgeladenen Zustand auszustoßen. Stattdessen nimmt es – zugleich mit dem vermittelnden Objekt – seine »entgifteten«, nunmehr also mit seiner (inneren) Situation kompatiblen Affekte zurück. Die Erfahrung des verinnerlichten transformierenden mütterlichen Objekts enthält als wesentliches Moment, dass das Objekt sich von der affektiven Verfassung, in der sich der Säugling befindet, innerlich zurücknimmt. Es setzt sozusagen einen Hiatus, um sich in der Situation zurechtzufinden. In der Entgiftungserfahrung introjiziert das Baby nicht zuletzt auch diesen Aspekt. Damit wird, nunmehr explizit als Aspekt der Denkentwicklung, eine für seine gesamte Einstellung zur Realität grundlegende kommunikative Dynamik in Gang gesetzt: die kontinuierliche Korrespondenz von Projektion und Introjektion, die die Grundlage des Lernens aus Erfahrung bildet. Vorausgesetzt ist dabei, dass das mütterliche Objekt empathisch aufnahmebereit die Realität der affektiven Situation des Babys zutreffend erfasst. Indem die Mutter in dieser emotional anfordernden Situation auch die Fakten im Blick behält, hebt sie sich gewissermaßen gegen den affektgeladenen Zustand des Säuglings ab; sie überlegt, kommuniziert mit sich selbst. Sie mutet ihm damit auch eine Erfahrung von Anderssein oder Getrenntsein zu. Ohne dieses Moment geriete sie allzu sehr in den Sog des β-elementaren Gefühlsexzesses und könnte sich ihrerseits nur ohnmächtig, hilflos und schuldig fühlen: unfähig, die notwendige Transformation zu erreichen. In der Diskussion der frühen Beziehungsaspekte findet es relativ wenig Beachtung, dass es auch für das mütterliche Objekt einen Verzicht bedeutet, entsprechend nachdenkend mit dem fusionären Sog der positiven Gefühle umzugehen, der in der frühen Beziehung von Bedeutung ist. Wenn es ihm also gelingt, die mütterliche α-Funktion allmählich adäquat zu internalisieren, gewinnt das Baby die Fähigkeit, β-Ele­ © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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mente in Elemente des Denkprozesses, in α-Elemente zu transformieren. Bion schreibt: »Die früheste Beobachtung, die ich machen konnte, schien nahezulegen, dass die Entwicklung des Denkens durch PS ↔ D von der Herstellung von Zeichen abhing. Das heißt, das Individuum musste Elemente zusammen bringen, um damit Zeichen zu bilden und dann Zeichen zusammen bringen, bevor es denken konnte« (Bion, 1963/1992, S. 37 f.). Zeichen in diesem Sinn sind noch keine Symbole, in denen ein Objekt in der Bedeutung eines anderen verwendet wird. Vielmehr, so Eigen, »bestehen diese Zeichen, wie Bion sie versteht, aus elementaren Komponenten oder psychischen ›Materialien‹ mit rohen Affektqualitäten und weisen zugleich auf diese hin. Die früheste Sprache ist eine Art emotionaler Zeichensprache. Nach Bion zeigten sich die emotionalen Zustände als katastrophisch« (1985, S. 323). Eigen gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken: »Bei vielen Patienten ist es genau die Fähigkeit, das Objekt als Container zu entdecken und zu verwenden, die sich als problematisch erweist« (1985, S. 322). Wie sich zeigen wird, scheint dies auch bei Herrn A. wesentlich der Fall zu sein. Seine Entwicklung erscheint von Beginn an durch Fakten der Körpersphäre mit katastrophischer Relevanz beeinträchtigt. Unter diesen hat die erst im Schulalter erkannte Sehbehinderung zweifellos ein besonderes Gewicht. Auch seine Blinddarmentzündung im Alter von einem Jahr wurde nicht rechtzeitig diagnostiziert und führte zu einem mehrwöchigen Klinikaufenthalt. Für sich genommen könnte man beides als zufällige Vorkommnisse ansehen: »So etwas kommt halt vor!« Aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Herr A. überzeugt zu sein scheint, dass nicht nur er, sondern auch die Personen seiner Umgebung psychisch »sehbehindert« sind: nicht fähig oder nicht Willens wahrzunehmen, wie es in seinem Inneren aussieht. Offenbar entspricht es seiner Erfahrung, dass er sich am ehesten über faktische Manifestationen speziell auf somatischer Ebene bemerkbar machen kann. Dabei zeigt es sich, dass seine Sichtweise, wie er sich in seiner Auseinandersetzung auf Dinge und Personen bezieht, primär zwei Dimensionen enthält. Seine Darstellungen richten sich an einen Betrachter, einen Rezipienten, der in der Lage sein müsste, die Sprache des jeweiligen Bildes © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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zu verstehen, das heißt, auf dem Weg, der projektiven Identifizierung zu fühlen, was Herr A. fühlt. Dies setzt aber Tiefe, will heißen, die dritte Dimension voraus. Die »Sprache« der mehr oder weniger ineinander verfließenden Farben erscheint demgegenüber als zwar fusionäres, aber eher flächiges Geschehen. Bisher war Herr A. selbst der einzige Rezipient, der über die Herstellung seiner Bilder einen Zugang zu seinen wechselnden (β-elementaren) Gefühlszuständen erreichen konnte. Hier ist daran zu erinnern, dass der Patient sich seit langem sozial isoliert und als Außenseiter fühlt. Dies scheint sich auch darin nachhaltig zu bestätigen, dass mit Ausnahme einer kleinen Sequenz mit gewisser Öffnung zur Realität gegen Ende der Vignette in seinen Äußerungen allein die Analytikerin als andere Person erscheint. Das gilt ebenfalls für seine Träume. Auch darin zeigt sich offensichtlich sein zweidimensionaler Bezugsrahmen. Herr A. lässt anscheinend in der ausschließlichen Präsenz der Analytikerin die frühe Erfahrung der Beziehung zu seinem mütterlichen Primärobjekt wieder aufleben. Wie bereits oben dargestellt, kommt dies auch im Inhalt seines künstlerischen Bemühens zum Ausdruck, in dem er zwei (Eltern-)Objekte fusioniert und sich im gleichen Vorgang omnipotent im Besitz der (väterlichen) Kreativität des Primärobjekts bemächtigt, so dass der trianguläre Ansatz sich auflöst. Auch in der Verwendung seiner Kunstsprache als einer Art Hilfsinstrument orientiert sich Herr A. zweidimensional. Er möchte ja sicherstellen, dass sich die Analytikerin wirklich, das heißt in kontrollierbarer Ausschließlichkeit, auf seiner Ebene bewegt. Vor Beginn seiner Analyse fand Herr A. in seiner malerischen Kommunikation mit sich selbst sicherlich vielfach eine Zuflucht, mit der sich seine Einsamkeit und Isolierung ein wenig besser ertragen ließen. Zuletzt allerdings ist er mit dieser Situation in eine Krise geraten. Wir vermuten deren Auslöser in dem Umstand, dass in einer Variation des immer Gleichen in Wirklichkeit keine psychische Arbeit (Träumen im Sinne Bions) erfolgt, die Fortschritte in der Entwicklung seines künstlerischen und seines persönlichen Potenzials erkennen ließe. Die Symptomatik, die ihn in die Behandlung führte, weist auf eine gefährliche Zuspitzung hin: »Hört« man auf ihre Sprache, so scheinen sie gemeinsam als »Zeichen« auf einen inneren Zustand hinzuweisen, in dem ein Absturz befürchtet wird. Die Angst © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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vor einem solchen Zusammenbruch scheint zu begründen, dass es für ihn existenzielle Bedeutung hat, diese Katastrophe abzuwenden. Es ist, als hätte er auch dafür seine Kunst-Sprache entwickeln müssen, um nicht in einem Zustand »gefangen in Unaussprechlichkeit« zu versinken, der, so Bion, für die psychotische Persönlichkeit charakteristisch ist (Bion, 1985, zit. nach Wiedemann, 2007, S. 250). Eine Folge seiner enttäuschenden frühen Erfahrungen mit der mütterlichen α-Funktion ist zweifellos sein tiefes Misstrauen, das die Kommunikation mit anderen bestimmt. So erscheint ihm auch die verbale Kommunikation als ein eher untaugliches Instrument, um das, was er jeweils fühlt, einem Gegenüber in der Außenwelt zutreffend zu vermitteln. Dabei wird offenbar auf dem Hintergrund schwerer Enttäuschungen am primären Objekt und später an anderen Objekten seiner realen Umgebung das Misstrauen vom Objekt teilweise auf die Sprache verschoben. Umso wichtiger, geradezu unabdingbar, erscheint es ihm, seine Analytikerin mit Nachdruck in die Sprache seiner Bilder einzuweisen, um überprüfbar sicherzustellen, dass sie für Gemütszustände, die er in den Farbverläufen auszudrücken versucht, unzweifelhaft empfänglich ist. Dem liegt seine Überzeugung zugrunde, nur so könne er einem anderen (der Analytikerin) seine innere Situation »vor Augen führen« und dies auch nur dann, wenn sie die Sprache seiner Farben versteht. Aber in ihrer vokabularischen Zuordnung (Rot = Wut, Grau in Grau = Enttäuschung usw.) enthält auch diese Sprache einen einschränkenden zweidimensionalen Aspekt. Zudem legen später erinnerte Kindheitserinnerungen nahe, dass in seinem manipulativen Sprachtraining der Analytikerin ein Moment sadistischer Befriedigung ausschlaggebend ist, als hätte sie – wie früher die für ihn zuständigen Krankenschwestern in der Klinik – auf seinen Knopfdruck hin zu funktionieren. Die Analytikerin ist von der Intensität seines existenziellen Bemühens sehr beeindruckt. Unter dem zwingenden Gewicht der vermittelten Ernsthaftigkeit entschließt sie sich (von Zweifeln geplagt) vorerst die zweidimensionalen Vorgaben seiner Farbensprache als Medium der Kommunikation hinzunehmen. Sie hält an der triangulären Kommunikation mit sich selbst fest. Aber es gelingt (noch) nicht, den immanenten Konflikt angesichts der heftigen Abwehr des © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Patienten »entgiftend« zur Sprache zu bringen. Es scheint, dass das, was nicht zu Wort kommt, sich in der analytischen Auseinandersetzung auf einer eher β-elementaren Ebene vermittelt. Jedenfalls treten über die projektive Identifizierung als Kommunikationsinstrument averbale Mitteilungsaspekte stärker in den Vordergrund. So kommt die Analytikerin in eine schwer erträgliche Lage, als Herr A. sie mit nahezu konturlosen Bildern konfrontiert, die sie so beschreibt: »Vielmehr zog mich mit diesen ›inneren Bildern‹ in den Stunden etwas in einen strukturlosen Abgrund. Ich erlebte eine Transparenz, die keinen spürbaren Grund beinhaltete, die im Nichts endete. Zeitweilig erlebte ich Atemnot und Beklemmungen und war dann nur noch mit meiner körperlichen Verfasstheit beschäftigt.« Dieser Zustand der Analytikerin lässt sich so verstehen, dass der Patient seine eigene emotionale Verfassung exzessiv, das heißt nahezu vollständig in sie hineinverlegt. Als Vehikel dient ihm auch diesmal die projektive Identifizierung. Die Situation erscheint der Analytikerin transparent, lässt aber keinen Boden erkennen. Auch dabei fehlt analytisch gesehen die dritte Dimension. Hier ist daran zu erinnern, dass Herrn A. das Gefühl, in der Luft zu hängen, in die Behandlung führte. Die von ihm projizierte Notsituation breitet sich mit solcher Macht im Inneren der Analytikerin aus, dass sie dem Empfinden unterliegt, keinen Raum für sich selbst zu behalten. So als bliebe ihr einzig der Körper quasi als Rest ihres Selbst, um ihre Bedrängnis in Atemnot und Beklemmungen zu signalisieren. Der ihr vom Patienten auf ähnliche Weise vermittelte Zustand völliger Zeitlosigkeit enthebt diesen (vorübergehend) der Zumutungen seiner Realität, die zusammen mit der Zeit beseitigt ist. Auf diese Weise verhilft der zeitlose Zustand Herrn A. dazu, sich schmerzlos zu fühlen. Es ist aber auch ein psychischer »Nullzustand«, vielfach verbunden mit Impulsen, psychotisch die Realität dauerhaft zu eliminieren. In dieser Situation kann die Analytikerin die Zeitbegrenzung als dritte Dimension sich selbst und dem Patienten gegenüber vertreten und so das Abgleiten in die selbstverlorene Zeitlosigkeit verhindern. Als dem Urheber der in die Analytikerin projizierten Gefühlszustände kommen in Herrn A. Ängste auf, dass sie diese schwer erträglichen Zustände nicht aushalten könnte und versuchen würde, sich ihnen zu entziehen. Entsprechend empfindet er – hellhörig – ihren © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Hinweis auf eine frühere Trennungserfahrung als Versuch, die Identifikation mit der ihr hier und jetzt projektiv aufgenötigten katastrophischen Gefühlslage zu verweigern. Er empfindet ihre Bemerkung als Fluchtversuch in eine längst vergangene Szenerie und weist ihn brüsk zurück. Entsprechend fühlt sie sich von ihm auf eine Position festgenagelt, in der es ihr verwehrt erscheint, befreiend ihre eigene – die analytische – Sprache zu verwenden. Dass sich die Analytikerin festgenagelt fühlt, ist gewissermaßen die Antwort darauf, dass Herr A. sich auf dem Hintergrund seiner Angst dazu gedrängt fühlt, die Analytikerin mit Gewalt auf der von ihm definierten Position festzuhalten und sich mit ihm weiterhin in seiner Sprache zu verständigen. Daraufhin bemerkt sie ihrerseits in sich selbst den Impuls, ihre Ohnmacht gewaltsam mit einem Veränderungsschlag zu beseitigen. In dieser affektiv aufgeladenen Situation berichtet Herr A. einen Traum, in dem er fast blind und auf das Erkennen von Hell-DunkelTönen beschränkt stolpernd in einen Abgrund fiel. Es ist, als öffnete der Patient in dieser affektiv zugespitzten Situation der analytischen Beziehung seiner Analytikerin durch die Mitteilung des Traums eine winzige Chance, in der Kommunikation mit ihm ihre Sprache zu verwenden. Zwar ist im Sinne Bions der Traum kein eigentlicher Traum, weil er keine Symbole verwendet, sondern lediglich Zeichen, die auf eine katastrophische emotionale Situation hinweisen (Eigen, 1985; Schneider, 2010, S. 529 f.). Für Herrn A. liegt diese Katastrophe akut in der Angst, fast blind (für seine innere und seine äußere Realität) in einen Abgrund zu fallen. Durch ihre Deutung scheint es der Analytikerin zu gelingen, ihm einen Zugang zu jener emotionalen Verständigung zu öffnen, den er bisher durch seine Farbensprache herzustellen versuchte. Zwar kann er daraufhin die Kunstsprache noch nicht aufgeben. Aber dadurch, dass die Analytikerin für ihn als α-Funktion zur Verfügung stand, fühlte er sich von ihr emotional erreicht und antwortete darauf seinerseits emotional sehr bewegt. In der Folge kann er sich verstärkt seiner Realität zuwenden und damit seine Isolierung lockern. Dabei erinnert er sich daran, dass er seinen erfolgreichen Bruder sehr beneidet hat. In seinen Aktionen innerhalb der Analyse (Stundenabsagen, verwaschene Artikulation) gibt er zu erkennen, dass er die beginnenden Veränderungen seiner inneren Realität als Erfolg der Analytikerin empfindet, um den er sie © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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beneidet und für den er deshalb im weiteren Verlauf nicht herhalten will. Es deutet sich an, dass sich der Spielraum seiner Möglichkeiten, innerhalb der analytischen Beziehung seine Ängste und seine Affekte, etwa sein Misstrauen, direkter sprechen zu lassen, erweitert. Dies zeigt sich in einem Traum, den er vor einer Ferienunterbrechung berichtet. Darin empfängt ihn die Analytikerin, noch ehe er ihre Praxisräume betreten hat, auf der Treppe, um ihn unter der Vorgabe, sie sei krank, wieder wegzuschicken – womöglich für immer. Aber ihre Aufmachung verrät ihm deutlich ihre wahre Absicht: dass sie im Begriff ist, einen Wellness-Urlaub anzutreten. Er artikuliert im Traum und durch ihn die Überzeugung, dass die Analytikerin akut und durchgehend innerlich nicht wirklich auf ihn bezogen ist, sondern stets ihren eigenen Komfort im Kopf hat, wie es die Sprache ihres rot gefärbten Haares – symbolisch (!) – sichtbar zum Ausdruck bringt und wie es auch ihr Wellness-Outfit unverkennbar verrät. Im Traum zieht er daraus die Konsequenz, dass er ihr in Wahrheit im Weg steht und sie ihn los sein möchte. So räumt er resigniert ohne zu protestieren das Feld, als sei er (längst) auf einen solchen katastrophalen Ausgang gefasst. Er lässt die Analytikerin mit zweifelndem Kopfschütteln zurück, vermutlich in der leisen Hoffnung, dass sie die Trennung doch nicht endgültig meint. Indem er ihre Absicht, einen Urlaub zu nehmen, der Analytikerin als Indiz ihrer Falschheit vorhält, versucht er quasi jenseits der Treppe mit dem Problem in sie hineinzugelangen, das im Wesentlichen die Quelle seiner Vereinsamung ist. Es geht um sein katastrophisches Gefühl, die bittere Überzeugung, dass es von Beginn an seine immer wiederkehrende Erfahrung sei, von anderen »an der Treppe« abgewiesen zu werden, mit anderen Worten, nie in das Innere eines anderen gelangen zu können. Oder anders: den Umgang mit anderen in ständiger Wiederholung mit dem Gefühl verbinden zu müssen, nicht als er selbst gewollt zu sein. So liegt es nahe, dass sein resignierter Rückzug im Traum gewissermaßen die Kehrseite einer bisher nicht sagbaren extremen Wut darstellt, die ihn außerordentlich ängstigt. Es scheint, dass sich diese Wut im Traum projektiv in der Rotfärbung der Haare der Analytikerin widerspiegelt. (Herr A. hat ja bereits auf zweidimensionaler Ebene die Farbe Rot mit Wut gleichgesetzt.) In der Auseinandersetzung mit diesem © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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destruktiven Aspekt ist es von großer Bedeutung, dass die Analytikerin es aushält, als verlogenes, abweisendes, sich verweigerndes Objekt da zu sein in einer Situation, in der die aufkommende Angst es dem Analytiker in aller Regel aufdrängt, sich dem Gegenüber als gutes Objekt zu beweisen. Die zusammengefassten Angaben über die Auseinandersetzung mit dem Traum deuten – verallgemeinernd – eine leicht zögernde Annäherung an die »Verlogenheit« der Analytikerin an. Aber angesichts der kaum verblümten, offenen Darstellung ihrer Schlechtigkeit im Traum erscheint eine zurückhaltende Verwendung gesättigter Deutungen der Übertragung notwendig, um nicht über das zu diskutieren, was ohnehin für beide Beteiligten offen zutage liegt. Inhaltlich lebt im Traum offensichtlich das ursprüngliche Scheitern am mütterlichen Objekt bei der Introjektion der α-Funktion wieder auf, das sich in der Folge in seinen Beziehungen als Grundkonflikt vielfältig wiederholt. Die Auseinandersetzung mit seinem grundlegenden Zweifel an der verlässlichen psychischen Permanenz von Beziehungen betrifft jeweils den Kern der Verbindung des Patienten mit der Realität: Für ihn bedeutet das Abreißen einer Beziehung offenbar jedes Mal den Sturz in eine »bodenlos leere Leinwand«. Er musste sie bislang vollständig mit Farben bedecken, so wie er die ersten Stunden seiner Analyse mit der Schilderung seiner körperlichen Beeinträchtigungen und Defekte anfüllen musste, um zu verhindern, mit der Gefahr des Absturzes ins Bodenlose konfrontiert zu sein. Jetzt wird er indes in der Erinnerung darauf aufmerksam, dass ihm selbst in katastrophalen Trennungserfahrungen seiner Kindheit die Fähigkeit erhalten blieb, (allmächtig) mittels Knopfdruck über für seine Betreuung zuständigen Krankenschwestern zu verfügen. Schon damals versuchte er sich die ohnmächtige Verlassenheit zu erleichtern, indem er andere fühlen ließ, wie er sich selbst behandelt fühlte. Wie erwähnt zeichnet sich dieser Impuls akut auch in der Übertragung ab. Dabei wird deutlich, dass in der von Herrn A. selbst ins Spiel gebrachten Erinnerung an frühere Erfahrungen jetzt ein Aspekt von zeitlicher Tiefe erscheint. Dies geht einher mit seiner in der Vignette abschließend erwähnten spannenden Entdeckung der neuen Erfahrung, auf seinen Bildern weiße Flecken offen zu lassen. Damit © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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wird fraglos ein Blick auf den Untergrund möglich. Das bedeutet in analytischer Perspektive einen Zugang zu der bisher verleugneten dritten, der ödipalen Dimension. Darin läge zweifellos ein Schritt in eine spürbar veränderte Beziehung zu seiner inneren und auch zu seiner äußeren Realität. Rückblickend versuchen die dargestellten Überlegungen, sich auf die emotionalen Grundlagen menschlicher Kommunikation und deren Dynamik einzulassen. Von ihnen her gewinnen die Fakten im »Lernen durch Erfahrung« (Bion, 1962) ihre Bedeutung. Man kann sich über die Dynamik in verschiedenen analytischen »Dialekten« verständigen – oder missverstehen, wie sich am Beispiel der Kunstsprache des Patienten zeigt. Aber es wird auch deutlich, dass in der analytischen Beziehung eine schwer erträgliche Leidens- oder Konfliktsituation transformiert werden kann, wenn der Analytiker der Notlage des Patienten ähnlich offen und unvoreingenommen begegnet, wie die dem Säugling einfühlsam zugewandte Mutter auf dessen Bedürfnislage eingeht. Bion nennt diese mütterliche Einstellung Rêverie. Es ist eine Haltung, die von dem Vertrauen getragen wird, dass die identifizierende Wahrnehmung des β-elementaren Zustands des Babys den Zustand selbst zutreffend wiedergibt. Die immanente Ungewissheit sorgt dafür, dass sich die Mutter (der Analytiker) für Modulierungen ihrer (seiner) Deutung des Zustands offen hält. Sie fühlt sich allenfalls in Notfällen darauf angewiesen, die eigene Position durch Rückgriffe auf Fakten abzusichern oder zu behaupten. Literatur Bion, W. R. (1961). Experiences in groups and other papers. London: Tavistock. (Deutsch: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Frankfurt a. M.: Fischer, 1990) Bion, W. R. (1962). Learning from experience. London: Karnac. (Deutsch: Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990) Bion, W. R. (1963). Elements of psycho-analysis. London: Heinemann. (Deutsch: Elemente der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992) Bion, W. R. (1965). Transformations. London: Karnac. (Deutsch: Transformationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997) Bion, W. R. (1985). All my sins remembered. The other side of genius. London: Karnac. Eigen, M. (1985). Toward Bion’s starting point: Between catastrophe and faith.

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International Journal of Psychoanalysis, 66 (3), 321–330. (Deutsch: Bions Ausgangspunkt entgegen: Zwischen Katastrophe und Glauben. Wege zum Menschen, 1995, 47, 459–476) Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1924). Neurose und Psychose. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M.: Fischer. Krejci, E. (2011). Psychische Strukturbildung und Mythos im Denken von Freud, Bion und Loch (unveröffentlichtes Manuskript). 12. Wolfgang-Loch-Vorlesung. Tübingen. Quinodoz, J. M. (1994). Clinical facts or psychoanalytic clinical facts? International Journal of Psychoanalysis, 75 (5/6), 963–976. Steiner, J. (1993). Psychic retreats. London u. New York: Tavistock/Routledge. (Deutsch: Orte des seelischen Rückzugs. Pathologische Organisationen bei psychotischen, neurotischen und Borderline-Patienten. Stuttgart: KlettCotta, 1998) Steiner, J. (2011). The numbing feeling of reality. Psychoanalytic Quarterly, 80, 73–89. Schneider, J. A. (2010). From Freud’s dream-work to Bion’s work of dreaming. The changing conception in psychoanalytic theory. International Journal of Psychoanalysis, 91 (3), 521–540. Wiedemann, W. (2007). Wilfred Bion. Biografie, Theorie und klinische Praxis des »Mystikers der Psychoanalyse«. Gießen: Psychosozial.

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Deuten aus dem Inneren: Betrachtung eines Dilemmas

Aber was, um Himmels willen, soll ich in den Händen halten? (Kurt Vonnegut, Katzenwiege, 1989)

Diese verzweifelte Frage stellte mir eine 25-jährige Patientin, die im Alter von fünf Jahren Zeugin schwer traumatisierender Ereignisse geworden war, durch welche ihre reale kindliche Welt der eruptiven Übernahme unkontrollierbarer psychischer Prozesse erlag. Ich verstand, dass für sie psychische Realität anzuerkennen bedeutete, sich nicht nur mit psychotischer Annihilierung und unwiderruflichem Verlust zu konfrontieren, sondern auch mit der Vergeblichkeit einer Wiedergutmachung. Denn der Trauerprozess konnte sich nicht einstellen, da die Wahrnehmung des Verlustes die Virulenz des mörderischen Impulses weckte. Die Kluft zwischen der neutral distanzierten Art der Patientin und meinen Reaktionen, die durch die unmittelbaren emotionalen Erfahrungen mit ihr hervorgerufen wurden, schienen mich vor ein Dilemma zu stellen: entweder in einem Stillstand zu erstarren, indem ich mit ihr auf der distanzierten Ebene blieb, oder einen Weg zu finden, um sie mit meiner psychischen Realität zu konfrontieren. Denn psychisches Leben schien in mich verlagert zu sein. Für die Patientin hatte psychisches Leben keine Realität. Im Stillstand zu verharren ließ den Prozess hohl und unecht erscheinen. Psychische Realität anzuerkennen wiederum schien sie mit einem Ausbruch von Zerstörung und der resultierenden verheerenden Hoffnungslosigkeit zu bedrohen. Dieses Dilemma schien sich in der Übertragungs-/ Gegenübertragungsreaktion als eine Erfahrung einzustellen, zu der kein transformierender verbaler Zugang möglich war.

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Vorbemerkung Die Bedeutung der inneren Reaktion des Analytikers auf seinen Patienten als Instrument, den psychoanalytischen Prozess zu verstehen, ist zunehmend Thema der psychoanalytischen Forschung geworden. Infolgedessen wurden manche allfälligen Verwicklungen, die in den Sitzungen stattfinden, manchmal auch als Ergebnis dieser inneren Aufnahme des Analytikers und seiner Resonanz auf den Patienten gesehen, und damit eher als eine Chance, psychische Entwicklung zu fördern, als nur als Schwierigkeiten, die zu überwinden seien. Innerhalb der »total situation« (Joseph, 1985) bilden diese Verwicklungen die Grundlage, auf welcher der Analytiker seine analytische Funktion ausübt. Entsprechend können seine Deutungen nie ganz frei von seiner inneren Welt sein. Wir wissen jedoch, wie trügerisch dieser Prozess werden kann: Der Analytiker kann sich plötzlich in einer Enklave mit dem Patienten wiederfinden, die er nicht erkennt und die entsprechend in eine Sackgasse im Prozess führt (Baranger, 1983; O’Shaughnessy, 1981). Die Betrachtung von Gegenübertragung und Enactment hat sich in technischen Überlegungen niedergeschlagen, die in der psychoanalytischen Literatur zahlreich diskutiert worden sind – unter anderem in der Frage nach der Selbstoffenbarung des Analytikers (self disclosure). Soll der Analytiker soweit gehen, Selbstoffenbarung unter bestimmten Umständen als eine Möglichkeit anzusehen, das dynamische Wachstum des psychoanalytischen Prozesses anzuregen? Oder soll die Mitteilung dessen, was möglicherweise im Analytiker während der Sitzung vor sich geht, betrachtet werden als ein Ausagieren des Analytikers, als Unfähigkeit, die analytische Haltung zu bewahren? Diese etwas vereinfachte Beschreibung der Fragestellung umschreibt den Rahmen der folgenden Diskussion.

Einführende Überlegungen Steiner hat sich ausführlich über eine Dichotomie im Umgang mit dem Material des Patienten geäußert, indem er »patientenzentrierte« und »analytikerzentrierte« Interpretationen beschrieb (Steiner, 1993). Unter der Annahme, dass analytikerzentrierte Deutungen sich auf © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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die seelischen Zustände beziehen, die vom Patienten im Analytiker hervorgerufen werden, stellt er fest, dass sie dem Patienten dazu verhelfen können, mit Aspekten seiner selbst in Berührung zu kommen, die auf den Analytiker projiziert werden. In dieser Form kann sich der Patient eher verstanden fühlen, als wenn der Analytiker das, was in ihn projiziert wird, als dem Patienten zugehörig deutet. Denn in diesem Fall wird die Containing-Funktion des Analytikers, die die Projektionen des Patienten aufnimmt, geschwächt. Diesem Gedanken folgend zieht Feldman vor, diese Art Deutungen als »Deutungen aus dem Projizierten« (persönliche Mitteilung, 2009) zu bezeichnen. Er geht davon aus, dass die Gegenübertragungsreaktionen des Analytikers, hervorgerufen durch die Projektionen des Patienten, wie ein Spiegel benutzt werden können. Sie erlauben dem Patienten, sich selbst anzusehen, auch wenn er noch nicht erkennen kann, dass es sich um ihn selbst handelt. Beide Standpunkte gründen auf der Annahme, dass die Subjektivität des Analytikers von den projektiven Identifizierungen des Patienten beeinflusst wird, während die »Außensicht« (Spillius, 2004) in seiner Deutungsfunktion widergespiegelt wird. Diese findet statt, nachdem eine bestimmte Reflexion über die Interaktion und eine Entflechtung von der Persönlichkeit des Analytikers geschehen ist: mit anderen Worten, nachdem der Analytiker in die Lage gekommen ist, eine »Dritte Position« (Britton, 1998, S. 92 f.) zu seiner Gegenübertragung einzunehmen. Feldman (2009) beschreibt jedoch, wie ein Patient den Analytiker, auch wenn er aus dieser dritten Position interveniert, dazu bewegen kann, eine weitere Version eines Objekts des Patienten darzustellen. Denn projektiv identifikatorische Prozesse sind immer am Werk, und der Analytiker kann ständig in eine Gegenübertragungserfahrung involviert sein, die Teil der Übertragung des Patienten ist. In der Auseinandersetzung mit diesem Zwiespalt macht uns Weiss (2009) auf die Gefahr aufmerksam, dass analytikerzentrierte Deutungen das Risiko enthalten, vom Patienten als eine Bestätigung seiner eigenen Projektionen erlebt werden zu können. Er beschreibt, wie der Patient dann den Eindruck gewinnen könnte, dass der Analytiker etwas von sich selbst zugibt, bekennt oder offenbart und auf diese Weise die Ängste des Patienten bestätigt. Das kann dazu führen, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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dass der Patient sich verfolgt fühlt. Er postuliert, dass es manchmal hilfreich sein könnte, die Atmosphäre der Sitzung zu beschreiben, ohne direkt auf einen der beiden Teilnehmer einzugehen; so entsteht eine Möglichkeit, die Gegenübertragung des Analytikers in eine Deutung einzubeziehen. Er beschreibt, wie beide Formen der Deutung, patientenzentrierte und analytikerzentrierte, jeweils ein Dilemma mit sich bringen: Während die patientenzentrierte Deutung im Patienten den Eindruck erwecken kann, dass der Analytiker etwas in ihn projiziert (Dilemma ersten Grades), so kann die analytikerzentrierte Deutung dazu führen, dass der Patient sie als Bestätigungen seiner Projektion erlebt (Dilemma zweiten Grades). Im Vergleich dazu nähern sich Autoren wie Renik (1999) diesem Thema von einer anderen Seite, indem sie annehmen, dass es in manchen klinischen Situationen hilfreich sein kann, eine teilweise Selbstoffenbarung des Analytikers anzubringen. Sie wird nicht zwangsläufig als ein Ergebnis projektiver Identifizierung gesehen, sondern soll so dem Patienten helfen, größere Einsicht in sich selbst zu erlangen. Dieser Standpunkt scheint die Annahme zu enthalten, dass der Analytiker sich bereits von den projektiven Identifikationen des Patienten befreit hat, wenn er zu dieser Art von Interpretationen greift. Renik führt aus, dass unter bestimmten Umständen die Vermeidung einer Selbstoffenbarung eher einer Abwehr des Analytikers gegen unerträgliche Gefühle entspricht, die der Patient in ihm erregt. Er versteckt sich dann hinter seiner analytischen Funktion und verhält sich neutral und distanziert. Ferro (2009) dagegen schlägt in diesem Zusammenhang – bei einigen Fällen und bei einigen Patienten – eine Haltung vor, die zwischen Offenbarung und Nicht-Offenbarung liegt. Bei schwer traumatisierten Patienten empfiehlt er, »Schockabsorber«-Interventionen einzuführen, um die Starrheit des Settings zu mildern. Er meint damit, eine Formulierung zu finden, welche die Fragen dieser Patienten manchmal mit einem gewissen Maß von versteckter Selbstoffenbarung beantwortet, wobei besonders jede Spur einer psychoanalytischen Technik verhüllt bleiben soll. Diese Interventionen, die sich nicht direkt auf die Übertragung/Gegenübertragung beziehen, sondern eher das analytische Feld ansprechen, können Veränderungen in der Grundaktivität zwischen der Psyche des Patienten und der des Analytikers bewirken. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Auf der Grundlage eines inneren Dialogs mit diesen zeitgenössischen Analytikern, der aus der klinischen Erfahrung mit meiner Patientin hervorging, möchte ich einen bestimmten Umgang mit analytikerzentrierten Deutungen beschreiben, in welchem die Gegenübertragungsreaktionen des Analytikers dem Patienten als ein hilfreiches Instrument für den Prozess zugänglich gemacht werden können. Analytikerzentrierte Deutungen stellen nicht nur eine Möglichkeit dar, dem Patienten etwas zu vermitteln, das es ihm ermöglicht, Kontakt mit dem aufzunehmen, was in den Analytiker projiziert wurde. Im Gegenzug bieten sie, unvermeidlich, auch eine Möglichkeit, dem Patienten etwas von der inneren psychischen Wahrnehmung dieser Projektionen durch den Analytiker zugänglich zu machen. Sie enthalten auf der einen Seite eine Erfahrung, die im Analytiker im Zusammenhang mit den Projektionen des Patienten entsteht; aber sie sind auf der anderen Seite auch unweigerlich durch die persönliche Matrix der Erfahrungen des Analytikers »personifiziert« – auch wenn der Analytiker keine direkte Aussage über sich selbst macht. Im Fall meiner Patientin ging es mir vordringlich darum, eine Deutungsmöglichkeit zu finden, die die Anerkennung der psychischen Realität als solcher bei der Patientin fördern sollte. Ich werde mich in dieser Arbeit auf diesen Aspekt konzentrieren.

Klinisches Material Der analytische Prozess schien seit längerer Zeit wie eingefroren. Die Nüchternheit, mit welcher die Patientin reagierte, verwandelte jeden Versuch, sie mit der leisesten emotionalen Qualität ihrer massiven projektiv-identifikatorischen Prozesse zu konfrontieren, in einen Leerlauf. Mir kam es so vor, als versuchte die Patientin durch diese Nüchternheit ein prekäres psychisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, das sie vor dem emotionalen Zusammenstoß in der Begegnung mit einem Objekt schützte. Denn emotionale Paarung endete in ihrer Erfahrung in einem vernichtenden Niedergang sowohl der realen Welt wie der psychischen Bedeutung. Vordergründig sah es aus, als würde die Wahrnehmung des Verlustes unmittelbar die Virulenz eines mörderischen Impulses in Gang setzen. Ein Trauerprozess schien nicht möglich, da die traumatische Begegnung dieser inne© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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ren Objekte durchgehend aktiv und immerwährend tödlich zu sein schien. Der Wunsch, am Leben zu bleiben, und ihre Sehnsucht, eins zu werden mit einem toten Objekt, um Wiedergutmachung leisten zu können, ließen sie in einer dissoziativen Nüchternheit verharren, die diese Begegnung und gerade Wiedergutmachung verhinderte. Das führte gleichzeitig zu Ausweglosigkeit, denn die Entfaltung massiver projektiv-identifikatorischer Prozesse schien nicht nutzbar gemacht werden zu können. Stattdessen verschleierte sie die Virulenz ihres bedrohlichen inneren Lebens durch Nüchternheit. Dieser Stillstand blieb im Dienst des Wiederholungszwangs und übte eine perpetuierende Funktion aus. In mir entwickelte sich der Gedanke, dass die Patientin sich in dieser Form der Realität und Wirkung psychischen Lebens zu entledigen versuchte. Ich sah mich immer mehr mit der Frage konfrontiert, wie ich der Patientin helfen könnte, psychische Realität wahrzunehmen. Unter diesen Umständen suchte ich nach einer Möglichkeit, die psychische Realität in den Prozess einzubringen. Ich fing an, meine Gegenübertragungsreaktionen, die ich im Zusammenhang mit der Patientin verstehen konnte, mehr in meine Interventionen einzubeziehen. So fügte ich in die analytikerzentrierten Deutungen immer präzisere Beschreibungen bestimmter Gegenübertragungserfahrungen ein. Ich hatte den Eindruck, dass wir uns auf einem sehr schmalen Grad bewegten, auf dem die innere Realität der Analytikerin, die sich in Zusammenhang mit den Projektionen der Patientin entwickelte, unmittelbarer als bisher und doch nicht als direkte Äußerung benutzt werden konnte, um der Patientin ein Bild von ihrer Analytikerin zu spiegeln. Dieses Bild zeigte aber nicht nur die Projektionen der Patientin, sondern vermittelte ebenfalls, wenn auch indirekt, wie die Analytikerin von ihren Projektionen affiziert wurde – auch wenn sie in der Lage blieb, sie im Dienste der Reflexion zu nutzen. Ich werde versuchen, anhand des Fallmaterials das Dilemma zu erläutern, das mich zu einer Veränderung meiner Interpretationstechnik brachte, um die möglichen Vorzüge, aber ebenso die Komplikationen und Gefahren zu diskutieren.

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Fallbeschreibung Meine Patientin hatte in ihrer Kindheit erfahren, wie die äußere Realität durch den Ausbruch einer inneren, archaischen, omnipotenten psychischen Realität vernichtet wurde. Sie verlor ihre beiden Primärobjekte. Psychisches Leben wahrzunehmen hieß für sie, die Verheerung einer tödlichen archaischen Begegnung wahrzunehmen. Sich von der psychischen Realität fern zu halten erschien ihr als die einzige Möglichkeit, ein prekäres Gefühl von psychischer Gesundheit aufrechtzuerhalten. Die Behandlung dieser jungen Frau begann mit einer bedrohlichen Schwangerschaft, die bald in einem Abbruch endete. Meine Erleichterung, als der Abbruch endlich stattfand, machte mich zu ihrer Komplizin. Die Analyse erschien so von Anfang an wie ein »Post-mortem-Unternehmen«, gegründet auf die Trümmer einer verlorenen Hoffnung auf Reparation für ein unwiderrufliches Geschehen, das gebunden war an eine fatale sexuelle Vereinigung, die alles zu bedrohen schien. Unter diesen Umständen stellte sich die Frage: Konnte die Analyse mit einem solchen Beginn überhaupt überleben? War das der Bund, den sie von Anfang an mit mir schließen musste, um sich zu vergewissern, dass ich sie nur würde verstehen können, wenn ich mit ihr dieses schuldhafte und vernichtende Paar bilde? War dieser »Initialalbtraum« ein Handlungsersatz für den Initialtraum, der uns Zugang zu einer gewalttätigen, archaischen und wahnhaften zerstörerischen und zerstörten Welt gewährte? War das die Wiederholung einer traumatischen Situation, die durch Wiederholung ungeschehen gemacht werden sollte und stattdessen sich perpetuierte? Oder war die Konfrontation mit einer unwiderruflichen Zerstörung, die als Ergebnis einer befruchtenden Begegnung resultierte, die Voraussetzung, dass die Analyse überhaupt stattfinden konnte? Mit diesen Fragen konfrontierte mich die Patientin in der Übertragungs-/Gegenübertragungssituation von Beginn an. Auf jeden Fall schien ich durch die Erleichterung, die ich gespürt hatte, sofort in Berührung zu kommen mit ihrem Gefühl, dass sie – obwohl »Opfer-Kind« einer schrecklichen Tragödie  – innerlich davon überzeugt war, sich selbst schuldig gemacht zu haben. Eine ganze tragische Welt voller Verdächtigung, mörderischen Impulsen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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und Übergriffen, Bedrohung, Gewalt, Schuld und Sexualität schien sich zu entfalten; es entstand in den Sitzungen bald eine aufgeregte, bedrohliche und schuldhafte Atmosphäre. Die Patientin schien sie nicht wahrzunehmen, obwohl die Analyse mit einem »Tod« begann. Im Verlauf ihrer Analyse, die zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Jahre mit vier Wochenstunden lief, hatte sie allmählich den Druck auf mich erhöht, die »wirkliche Person«, wie sie es nannte, hinter ihrer Analytikerin kennenlernen zu wollen. Gleichzeitig ließ sie durch ihre neutrale nüchterne Aufnahme jegliche affektive Bedeutung meiner Interventionen geradezu einfrieren. Das jedoch versetzte sie in Hoffnungslosigkeit und beraubte die Analyse der affektiven Potenz und wirksamen Lebendigkeit. Obwohl sie über die Zeit etwas mehr Vertrauen in sich selbst und andere gewonnen, ein Studium absolviert und auch eine Beziehung mit einem Mann begonnen hatte, von dem sie sich respektiert und geschätzt fühlte, blieb die Spaltung zwischen intensiven, gewalttätigen seelischen Zuständen und einer rationalen, distanzierten, scheinbar unerschütterlichen Seite ihres psychischen Lebens bestehen. Im Lauf der Analyse hatten wir entdeckt, dass sie bereits lange vor dem tragischen Ereignis, das zum Zusammenbruch der Familie führte, in einer Atmosphäre unterschwelligen Grauens gelebt hatte, in welcher eine paranoide Umgebung Angst und Argwohn begünstigte. Es zeigte sich, dass die Patientin als Kind mit einer bedrohlichen Atmosphäre hatte zurechtkommen müssen, die sich um das sexuelle Leben ihrer Eltern drehte. All dies schien jedoch zusammengehalten zu werden durch einen formellen familiären Rahmen, den Eltern, Großeltern und Freunde der Familie gleichermaßen teilten und in dem alles Beunruhigende beschwichtigt wurde. Erst als es zu spät war, führte der Bruch der Familie zur Aufdeckung vernichtender psychotischer Verhältnisse, die vorher zwar spürbar gewesen, jedoch verleugnet worden waren. Sie hatte in Angst vor Gewalt, Überschreitungen und Vernichtung gelebt. In ihren Augen konnte sie »bei Verstand« bleiben, wenn psychisches Leben auf einen nüchternen, geschäftsmäßigen Austausch reduziert würde. Ich denke, dass die Patientin mit ihrer Nüchternheit einen Halt im Rahmen der Analyse aufrechtzuerhalten versuchte, der ihr erlaubte, das Gefühl von psychischer Zurechnungsfähigkeit zu bewahren. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Von einem genetischen Gesichtspunkt aus gesehen schien der Druck, den die Patientin durch ihren Wunsch zu wissen, was ich wirklich dachte, auch in Zusammenhang zu stehen mit ihrem Wunsch, ein gutes, verlässliches Objekt/Analytikerin zu finden: Es/ ich sollte ihr die Sicherheit geben, die sie in ihrer Kindheit vermisst hatte, um mit dem Argwohn und dem Grauen ihres inneren Lebens angesichts der bedrohlichen psychischen Verhältnisse in ihrer Familie, das heißt dem Zusammenbruch der familiären Struktur zurechtzukommen. Von der Übertragungs-/Gegenübertragungssituation her hatte ich jedoch den Eindruck, dass sie sich an der Nüchternheit festhielt, um zu verhindern, in Kontakt mit einem unzurechnungsfähigen, mörderischen inneren Objekt zu kommen, das sie bei mir vermutete, doch das sie eigentlich in sich selbst bedrohte. Jedoch war es vor allem die Überzeugung, dass es ihre geheimen, grausamen, ödipalen Verwicklungen waren, die zu dem familiären Zusammenbruch ihrer Kindheit beigetragen hatten, die sie auf einer unerreichbaren Neutralität beharren ließen. In ihren Augen hatten ihre eigenen mörderischen Impulse gegenüber einem vereinten Elternpaar und ihre besitzergreifenden und gleichzeitig neidischrivalisierenden Impulse gegenüber einem Mutterobjekt die Katastrophe herbeigeführt und sie zur Mörderin gemacht. Also mussten sie abgespalten und für irreal erklärt werden. Emotionalen Kontakt mit mir aufzunehmen bedeutete für sie, eine innere Welt wahrzunehmen, die sie mit Grauen, Angst und unerträglicher Grausamkeit und Schuld erfüllte. Es jedoch nicht zu tun, fixierte sie in einer psychischen Lage, in der die Aufarbeitung des Traumas nicht möglich war, um Wiedergutmachung leisten zu können. Diese Dichotomie zwischen Wahrheit und Offenbarung schien die Behandlung zu prägen. Mit ihrer wunderschönen, engelsgleichen Erscheinung, ihrer fast durchsichtigen Haut und ihrer freundlichen, angenehmen Art löste die Patientin zärtliche, schützende Gefühle in mir aus sowie auch den Wunsch, sie möge etwas Güte und Freundlichkeit in ihrem Leben finden. Meine anfänglichen Versuche, ihre kindliche Hilflosigkeit angesichts der familiären traumatischen Verhältnisse anzusprechen, schienen in ihr zuerst Erleichterung auszulösen; sie verhalfen ihr jedoch nicht zu psychischer Entwicklung und ließen sie allein mit ihrem »Wissen« über eine apokalyptische Innenwelt. Denn © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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gerade die Engelhaftigkeit schien diese Angst vor der angedeuteten vernichtenden Innenwelt noch deutlicher hervorzubringen, wie in einem Thriller, wo der Zuschauer ahnt, dass die scheinbare Normalität durch eine noch nicht sichtbare Katastrophe bedroht ist. Ihre naiven und sorglosen Manieren, die Art, wie sie mit weit geöffneten Beinen auf der Couch lag, schienen ein Eindringen und Übergriffe provozieren zu wollen. Ich hatte den Eindruck, Zeugin einer ständigen Erregung zu sein. Es war, als ob sie von sich den Eindruck erwecken wollte, in ständigem bedrohlichen Geschlechtsverkehr sein zu wollen, während sie mich gleichzeitig in die Rolle einer impotenten Analytikerin brachte. Denn in ihren Augen waren meine Deutungen nur eine nüchterne Verkleidung. So verleugnete sie nicht nur die Angst vor mir und meinem inneren Erleben, sondern auch die Verzweiflung, die sie in mir durch ihre Undurchdringlichkeit zu provozieren fürchtete und zu einem gefährlichen Ausbruch bringen könnte. Denn sie hatte Angst, die massive Projektion von Impotenz, mit welcher ich mich durch sie konfrontiert sah, könnte mich zu einer verheerenden unwiderruflichen Handlung verleiten, die zu einem gewalttätigen Abbruch der Behandlung führen würde. Und doch spürte ich, dass die Patientin in mir jemanden zu finden hoffte, die sich nicht nur als eine gute Person zeigt, um Grausamkeit zu verdecken, sondern jemand war, die auch in Wirklichkeit die Dinge tat, die eine gute Person tun sollte. Aber dann sah sie sich mit der bangen Frage konfrontiert, ob eine gute Person in der Lage war zu erkennen, was möglicherweise schlecht in ihr war. Hatte sie mit einer Analytikerin zu tun, die Tricks benutzte, hinterlistig und berechnend war und sie eigentlich vernichtend besitzen wollte? Mit anderen Worten, war meine Funktion als Analytikerin, war Psychoanalyse überhaupt eine Vortäuschung emotionalen Geschehens, nach dessen Existenz sie sich doch so sehnte? Eine ihrer Assoziationen, die auf eine Deutung von mir entstand, machte ihr perverses Verständnis des psychoanalytischen Prozesses sichtbar. Sie bezog sich darin auf einen Mörder in einem Kriminalfilm. Sein Rechtsanwalt bemühte sich um ein menschliches Verhältnis zu ihm, er aber nützte die schützenden und reflektierten Strategien seines Anwalts aus, um seinen nächsten Mord besser zu planen. Ich dachte, die Patientin verschaffte sich eine innerliche © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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freie Zone, die unberührt von der Analyse blieb, indem sie meine Interventionen der Wahrhaftigkeit beraubte. Gleichzeitig fühlte sie sich von dieser inneren unberührten Seite in ihr, die ihre manipulativen, besitzergreifenden und destruktiven Impulse enthielt, extrem bedroht. Durch diesen Gebrauch der reversiblen Perspektive schien sie den psychoanalytischen Prozess in seinen Grundfesten zu unterminieren. Das steigerte noch mehr ihre Angst vor ihrer eigenen Destruktivität und die entsprechenden Schuldgefühle. Unter diesen Umständen fragte ich mich, wie ich als Analytikerin eine »corporeality«1 gewinnen könnte, die es erlauben würde, die affektive Bedeutung, die ich für die Patientin hatte, aus dem Stillstand zu befreien? Wie konnte psychische Realität als solche erkannt werden, ohne gleichzeitig durch die Realisation des psychischen Geschehens existenziell bedroht zu werden? Die Patientin hatte keine Gelegenheit gehabt, sich mit einer Elternfigur zu identifizieren, die in der Lage war, unter dem Druck extrem gewalttätiger Seelenzustände eine Denkfunktion aufrechtzuerhalten.

Sitzungen In einer Montagssitzung bemerkte sie, dass etwas in dem Haus, in dem ich lebte und auch meine Praxis habe, vor sich ging. Die Aktivitäten hingen mit der Tatsache zusammen, dass ich meine Privatwohnung in ein anderes Gebäude verlegte. Sie nahm die Unruhe wahr, bezog sich darauf aber in einem geschäftsmäßigen Ton, ohne es ausdrücklich mit mir in Verbindung zu bringen. Sie bemühte 1

Der Begriff »corporeality« (Korporealität) stammt von der englischen Psychoanalytikerin Catalina Bronstein. Sie versucht damit nicht nur die Realität des Körpers und sein Wirken in frühen unbewussten Phantasien zu beschreiben, sondern auch eine Funktion, in der das Objekt selbst Bedeutung bekommt. Durch die Spaltung zwischen ihrem emotionalen Leben und ihrem Festhalten an den Fakten der Realität stellt sich in der Analyse meiner Patientin eine Situation dar, in welcher der psychischen denkenden Funktion die psychische Realität entzogen wird. Dieser Korporealität als denkendes Organ beraubt, kann die Psyche auch nicht die äußere Realität verwenden, um Denkprozesse anzuregen und entsprechend eine gewisse Wirkung auf diese Realität zu haben. Stattdessen wird die Realität als »denkendes Organ« dargestellt und nicht die Psyche.

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sich, ihren Kommentar als banal erscheinen zu lassen, so als wollte sie verleugnen, dass im Gegenteil eigentlich alles für sie eine Tododer-Leben-Qualität hatte. Ich sah, dass sie am Fußende der Couch lag, als ob sie fürchtete, mir zu nahe zu sein. Durch ihre Assoziationen konnte ich verstehen, dass sie die Unruhe im Gebäude als die sadistische Intrusion einer Analytikerin empfand, die sich hinter Neutralität versteckte, während Aktivitäten stattfanden, die in den Augen der Patientin bedrohlich erschienen. Eine Analytikerin, die listig versteckte Hinweise gab, während sie sich bedeckt im Hintergrund hielt und vielleicht sogar den Terror, den sie in der Patientin erzeugte, sadistisch genoss. Wenn die Patientin sich in dieser Form bedroht fühlte, neigte sie dazu, ihre Ängste abzustreiten, sie zu verbergen und geheim zu halten, um einer aufrichtigen Konfrontation zu entgehen. Diese Art von Verstecken untergrub ihr Identitätsgefühl, ließ sie psychisch schwach und fragmentiert sein und verhinderte, dass sie Identifikationen aufbauen konnte, die ihr Ich stärken würden. Am Dienstag kam sie unerwartet, obwohl sie lange vorher die Stunde wegen einer beruflichen Verpflichtung abgesagt hatte. Ich war wirklich überrascht, sie zu sehen, fühlte mich überrannt und ertappt, da ich mit ihr nicht gerechnet hatte. Als sie zur Couch eilte und einen kurzen Blick auf mein Notebook warf, das neben meinem Stuhl lag, dachte ich, dass ihre unerwartete Gegenwart ein Ausdruck ihres Wunsches war zu erfahren, was vor sich ging. Auf der Couch berichtete sie in ihrer ersten Assoziation über eine riskante Strategie, die sie gerade in einem beruflichen Manöver benutzte. Ich sagte ihr, sie nehme offenbar an, dass manchmal eine Chance darin liegen könnte, etwas zu riskieren, »wie heute … als Sie trotz Ihrer Absage zu dieser Sitzung gekommen sind«. Sie reagierte erschrocken und fragte, wobei sie mich mit Namen ansprach, in einem besorgten Ton, ob ich mich bereit für sie fühle. Ich denke, dass meine Intervention sie erschreckt hatte. Denn indem ich die riskante Strategie aufgriff, die in der Assoziation der Patientin enthalten war, fühlte sich die Patientin bestätigt in ihrer Wahrnehmung, dass ihr Kommen nicht selbstverständlich für mich gewesen war. Sie erläuterte, dass sie sich jetzt für ihr unerwartetes Kommen schuldig fühlte, ergänzte jedoch in einem indifferenten, abfälligen Ton, sie wisse ja, ich würde keine Fragen beantworten. Auf diese Weise mischte sie © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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eine gewisse Verächtlichkeit in ihre ernsthafte Sorge, vielleicht, um ihre Resignation zu verdecken. So erstickte sie ihre Redlichkeit und ihr Bedürfnis, ein ernsthaftes Objekt finden zu wollen, das ihr helfen konnte, ihr Vertrauen wiederherzustellen, wenn sie sich schuldig und beunruhigt fühlte. Meine Deutung formulierte ich dahingehend, dass sie sich vielleicht schuldig fühle, weil sie die starke Vermutung habe, ich könnte nicht erfreut über ihr unerwartetes Erscheinen sein und befürchtete, ich könnte mich doch dabei ertappt fühlen, dass ich meine Zeit für etwas anderes benutzte, wo es doch eigentlich ihre Zeit sei, auch, wenn sie nicht käme. Und, fügte ich hinzu, dass sie sicher wäre, ich würde es verleugnen, weil ich vielleicht das Gefühl hätte, etwas Falsches getan zu haben. Nach einer Zeit des Schweigens fiel ihr eine Situation ein, als sie noch ziemlich klein war und mit ihrer Mutter und ihrem Vater die Straße entlang ging. »Plötzlich sah ich einen Kiosk. Ich drängte meine Mutter und meinen Vater, mir dort eine Süßigkeit zu kaufen. Auf einmal geschah ein Unfall an der Stelle, wo wir einige Sekunden zuvor gestanden hatten. Ein Gerüst, welches das Gebäude neben dem Kiosk umkleidete, fiel in sich zusammen. Hätte ich meine Eltern nicht bedrängt, wären wir erschlagen worden. Ich erinnere mich daran, wie ich immer wieder behauptete, dass ich meinen Eltern das Leben gerettet hatte.« Ich denke, dass ihr diese Szene nicht zufällig in dem Moment einfiel, wo sie vielleicht durch meine Deutung etwas Erleichterung erfahren hatte, sondern einerseits ihre Angst zum Ausdruck brachte, die Analytikerin durch ihre Anwesenheit in Bedrängnis gebracht zu haben. Andererseits implizierte sie aber auch ihre Vorstellung, dass ihr Kommen vielleicht die Analytikerin vor einer schlimmeren Katastrophe (tödlicher Unfall) gerettet haben könnte, denn die Patientin war besorgt um mich. Ihre Fehlleistung, zur abgesagten Stunde zu kommen, hatte offenbar mit paranoiden Ängsten infolge der Umzugsbewegungen in meiner Praxis zu tun, die in ihr die Befürchtung erweckten, die Analyse würde in einem Abbruch enden. Ihre unerwartete Präsenz in meiner Praxis stellte sich als eine Möglichkeit für sie dar, durch einen »Überfall« in meine Welt einzudringen und zu erfahren, was los war, als wollte sie sich auch vergewissern dass ich psychisch (zurechnungsfähig) und auch phy© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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sisch (nicht Opfer) noch am Leben war. In meinem Verständnis enthielt diese frühe Erinnerung auch die Wahrnehmung, dass ihre kindliche Omnipotenz, durch welche sie sich als Ursache eines tödlichen Unfalls oder seiner Verhinderung erlebte, etwas Täuschendes einschloss. Denn sie schien über ihre kindliche Naivität und ihren Glauben, dass sie einen tödlichen Unfall wirklich hätte verhindern können, schmunzeln zu können. Ich verstand es als eine leise Wahrnehmung ihrer kindlichen Omnipotenz. Jedoch schien dieser Einfall nach meiner Deutung auch zum Ausdruck zu bringen, dass sie sich möglicherweise durch mich und meine Deutung bedroht gefühlt hatte. Vielleicht hatte er auch zum Ziel, von dieser bedrohlichen Begegnung, die gerade stattfand, abzulenken. Denn ich denke, die Patientin nahm wahr, dass ich mich schuldig fühlte, da ich sie nicht mit der üblichen Selbstverständlichkeit empfangen konnte. Und gerade an dieser Auseinandersetzung mit der Schuld wollte ich sie mit meiner Intervention teilnehmen lassen, denn mir schien es für die Patientin wichtig zu sein zu erfahren, dass ihre Analytikerin in der Lage war, Schuld zu ertragen und anzunehmen, aber auch, Schuld zu erkennen und auszuhalten. Ich fügte dann hinzu, es wäre vielleicht äußerst wichtig für sie, sich vergewissern zu können, dass ich in der Lage sei, richtig und falsch zu unterscheiden und zu ertragen, mit dem umgehen zu müssen, was vielleicht falsch in mir selbst wäre, damit sie in der Lage wäre, mir zu vertrauen. Sie begann zu weinen und sagte, sie wisse nicht, warum sie so viel lügen und verstecken müsse, und dass sie so sehr versuchen würde zu vertrauen, aber dieses Vertrauen sei so zerbrechlich. Mir war es wichtig gewesen, in dieser Auseinandersetzung mit der Patientin ihr etwas von der inneren Welt der Analytikerin, die von der Patientin affiziert war, zu vermitteln. Denn ich dachte, dass dieses Affiziertsein für die Deutungen verwendet werden konnte. Die Frage der Schuld, die diese Patientin verfolgte, wurde in dieser Form zum ersten Mal als psychische Realität anerkannt. Denn sie war überzeugt, dass sie als Kind den tödlichen Zusammenstoß, der zu der Vernichtung ihrer Welt geführt hatte, hätte verhindern können. Im Nachhinein denke ich: Hätte ich interveniert, ohne in meiner Deutung Bezug auf dieses Gefühl von Ertapptsein zu nehmen, hätte © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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sie mich weiterhin als falsch empfunden, versteckt hinter der analytischen Funktion. Ich war mir jedoch sehr klar darüber, dass meine Patientin Opfer extrem traumatisierender Erfahrungen gewesen war und alles verloren hatte, das einem kleinen Mädchen von fünf Jahren die notwendige Sicherheit hätte geben können, um zu wachsen. Sie hatte eben deshalb die Analyse aufgesucht, weil sie unfähig war, anderen zu vertrauen und natürlich auch ihren inneren Objekten. Das hatte den Aufbau aufrichtiger und ehrlicher Beziehungen erschwert. Sie fühlte sich ohne Hoffnung und ständig verfolgt von ihren inneren Dämonen in Zusammenhang mit ihrer traumatischen Erfahrung. Das führte dazu, dass sie in ständiger Vorsicht lebte und vieles im Verborgenen zu leben versuchte. Ich denke, dass sie in dieser Sitzung in Berührung kommen konnte mit ihrem Wunsch, vertrauen zu können, um zu lieben und geliebt zu werden.

Gefahren der Deutung aus dem Inneren In der Sitzung am Mittwoch erzählte sie einen Traum, in dem sie sich mit einer Freundin unterhielt. Sie hatte einen Spiegel in ihrer Hand. Die Patientin schaute in den Spiegel und erblickte das Gesicht einer anderen Freundin, nicht das Gesicht der Freundin, die in den Spiegel schaute. »Oder war es vielleicht mein Gesicht, das ich darin sah?« Ich dachte, dass sie durch diesen Traum die Konfusion andeuten wollte, die meine Deutungen in der Sitzung davor in ihr ausgelöst hatte. Sie schien jetzt das Gefühl zu haben, dass ihre Analytikerin eine Kopie ihrer selbst geworden war. Dies erschreckte sie, weil sie jetzt befürchtete, ihre Analytikerin wäre in ihrer analytischen Funktion zerstört. Denn sie schien sie jetzt als Gleichgesinnte zu betrachten. Und doch erlaubte ihr dieser Traum, ihr eigenes Gesicht im Gesicht der Analytikerin (Spiegel) zu erblicken. Ein Spiegel, der es möglich machte, sich und das Objekt darin zu sehen. Doch hatte die »Geständnisinterpretation« sie anscheinend verunsichert. Sie fühlte sich jetzt konfrontiert mit einem Objekt, dessen psychische Gesundheit (verkörpert durch die analytische Funktion) zu zerfallen drohte und sie durch ihre mörderischen Impulse in Gefahr bringen könnte. Und wiederum auch nicht, denn ein geträumter Spiegel erschien, worin sie sich selbst und mich sehen konnte. Als ich ihr © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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die »sehende« Funktion des Spiegels signalisierte, sagte sie, dass sie immer gedacht habe, ich übte meine Funktion als Analytikerin aus, ohne wirklich emotional beteiligt zu sein; aber dann begann sie zu weinen und sagte: »Ich weiß, dass Sie Gefühle haben.« Ich antwortete ihr, dass es vielleicht schwierig für sie sei zu glauben, dass ich die Analyse in der Tat als eine Methode benutzte, um seelische Erfahrung zu verstehen und zu ordnen und daran glaubte, dass Analyse eine ernsthafte Möglichkeit für Menschen sei, mit unerträglichem Leid und Elend umzugehen. Ihr jedoch erschiene Analyse wie ein Trick. Sie sagte dann sehr leise, dass sie immer den Verdacht hatte, dass ich ihre Schwangerschaft, mit welcher die Behandlung begann, nicht gebilligt hatte. Ich erinnerte mich an meine Gefühle von Erleichterung, als die schwierige Schwangerschaft zu einem vorzeitigen Ende gekommen war. Ich sagte ihr daraufhin, sie frage sich, ob ich die Schuldgefühle aushalten könne, die entstehen, wenn ich in jener Situation neben Traurigkeit auch Erleichterung in mir wahrnehme, und ob ich in der Lage sei, das anzuerkennen. Sie schwieg für eine lange Zeit und sagte dann, sehr bewegt, am Anfang der Analyse habe sie sich ergriffen gefühlt von einem Hochgefühl, ihre Biografie ungeschehen machen zu können. »Für einen Augenblick habe ich gedacht, ich könnte alles lösen. Und im nächsten Augenblick, ich könnte alles zerstören!« Weinend fügte sie hinzu, dass sie sich jetzt sehr wünsche, ein Kind zu haben. Sie spüre jetzt, dass sie mit ihrem neuen Partner eine Familie gründen könnte, aber ihre Gefühle der Hoffnung seien auch gemischt mit Sorge und Unsicherheit. Dies fühlte sich für sie viel wirklicher an als die Gefühle, die sie am Anfang der Analyse hatte. Für den Rest der Stunde weinte sie. Am Donnerstag träumte sie zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, von ihrer Mutter: »Sie kam in mein Zimmer, und als ich ihre Brust berühren wollte, löste sie sich auf.« Ich dachte, dass dieser Traum ihre Tragödie der Hoffnungslosigkeit darstellt; das Gefühl, dass sie jemand sei, die nicht wert sei, geliebt zu werden, und die sich nicht mit jemandem identifizieren konnte, von dem sie annahm, dass er sie lieben könnte. Denn durch meine Intervention, in welcher ich die Erleichterung anerkannte, schien sie sich bestätigt zu fühlen, dass ein solch zerstörerisches Baby, wie sie selber es zu sein meinte, kein Recht zum Leben hat. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Obwohl sie sich durch meine Interventionen geängstigt und überwältigt gefühlt hatte, hatte sie auf der anderen Seite doch erkennen können, dass es etwas Gutes in ihrer Analytikerin gab: die Brust der Mutter – von der sie zum ersten Mal träumte –, die sie berühren wollte, während sie gleichzeitig davon überzeugt war, keine Chance zu haben, wirklich von ihrer Analytikerin/Mutter geliebt zu werden. Ich denke, dass der Traum einen Zugang zu ihrem inneren Verständnis der traumatischen Situation ermöglichte: Sie war überzeugt, dass ihre intensive, besitzergreifende Gier das Objekt zerstörte. Vielleicht, weil sie mich in ihren Augen zu einer »Beichte« gedrängt hatte, so dass sie befürchten musste, sie hätte mich als Analytikerin vernichtet. Wenn sie das Gefühl hatte, sich dem Objekt anzunähern, könnte zu einer Auflösung des Objekts führen, konnte sie sich nicht wie ein wirklicher Mensch fühlen mit dem Recht, eine fruchtbare Verbindung einzugehen, und konnte die Analyse nicht erfolgreich nutzen. Es konnte in der Analyse keine Wiedergutmachung entstehen.

Innere Gespräche Als Analytiker sind wir ständig mit der Frage konfrontiert, ob wir uns in den Interaktionen mit unseren Patienten angemessen verhalten. Wir haben verschiedene Zugangsweisen erlernt und kämpfen doch darum, unseren eigenen Weg in jeder neuen herausfordernden Situation zu finden. Dies kann uns zu einer neuen Entwicklung oder einer falschen Schlussfolgerung führen, besonders bei dem Versuch, unsere Gegenübertragungsreaktionen zu verstehen und sie aus der Verstrickung mit unseren persönlichen geistig-psychischen Prozessen zu befreien, um sie fördernd in Verbindung mit dem Patienten nutzen zu können. Im Falle meiner Patientin habe ich beschrieben, wie ich vor einem Dilemma stand, in welchem mein Umgang mit ihr auf der einen Seite eine Entwicklung im Prozess ermöglichte, denn die Patientin konnte zum ersten Mal von ihrer Mutter träumen; auf der anderen Seite wurde sichtbar, dass sie das Gefühl hatte, keine Wiedergutmachung leisten zu können, was ihre Angst steigerte. Renik meint dazu: »Mein Eindruck […] ist, dass die Karten auf den Tisch zu legen eine wirkungsvollere klinische Methode ist als das sorgfältige Verfolgen einer selbst relativen Anonymität« (1999, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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S. 523; Übersetzung L. V. S.). Könnte diese Art Zugang hilfreich sein? In den langen Jahren der Behandlung war offensichtlicher geworden, wie wichtig es für die Patientin einerseits gewesen war, sich auf einen Rahmen verlassen zu können, den sie nicht zerstören konnte. Auf der anderen Seite war der Prozess in ihren Augen durchtränkt von professioneller Neutralität, was ihn unaufrichtig erscheinen ließ. Könnte eine Selbstoffenbarung des Analytikers in so einem Fall wirklich hilfreich sein? Ich denke, dass eine direkte Enthüllung die Gefahr mit sich gebracht hätte, die Unterscheidung zwischen psychischer und äußerer Realität zu verletzen und damit den Wert des Gebrauchs der projektiven Identifizierung als Verständnismittel zu zerstören. Ich hatte das Gefühl, dass es zur Erzeugung weiterer Hoffnungslosigkeit der Patientin beigetragen und das Trauma fortgeführt hätte. Ferro äußert dazu: »Bei diesen und nur bei diesen Patienten kann dies zum Beispiel bedeuten, ihre Fragen mit ›analytischer Vernunft‹ zu beantworten und manchmal eine Prise versteckter Selbstoffenbarung in Kauf zu nehmen […] Insbesondere braucht man eine Technik, die ausgefeilt genug ist, um jegliche ›Spur einer Deutungstechnik‹ in der Art, wie man mit dem Patienten spricht, zu vermeiden« (2009, S. 52; Übersetzung L. V. S.). In meinem Empfinden war es bei dieser schwer traumatisierten Patientin wichtig, die Spuren von Deutungstechnik explizit nicht zu verstecken, sondern im Gegenteil sicherzustellen, dass das, was ich sagte, als eine Interpretation verstanden wurde. Es war sehr wichtig, den Rahmen der Deutungsfunktion aufrechtzuerhalten. In ihrem Fall war der Rahmen, in dem sie gelebt hatte, zusammengebrochen. Bis dahin wurde der Rahmen zum Teil dazu benutzt, die Zeichen der drohenden Katastrophe zu verleugnen. Aber seine Existenz hatte ihr im Nachhinein auch geholfen, im Leben zurechtzukommen, zur Schule zu gehen, zu studieren und am normalen Leben teilzunehmen – jedoch auf Kosten der Verleugnung der psychischen Realität. Denn psychische Realität konnte nur Verheerung offenbaren. Unter diesen Umständen dachte ich, dass es notwendig war, Deutungen zu geben, die von der Patientin als Deutungen erkannt werden konnten, um den Prozess vor dem Kernzerfall zu schützen. Steiner schreibt: »Manchmal wird das patientenzentrierte Element weiter ausgearbeitet […] Die Deutung schließt dann eine © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Verbindung zwischen dem, was die Patientin tut, denkt oder sich wünscht, und dem Zustand ihres Analytikers ein. Manchmal bekommen diese Verbindungen die Form einer Klausel, die der analytikerzentrierten Deutung beigefügt wird« (1993, S. 209 f.). Meine Art zu interpretieren, glaube ich, ging ein bisschen weiter als Steiners Beschreibung der analytikerzentrierten Deutung, da sie den Zustand, in welchen der Analytiker durch die Projektionen des Patienten geriet, sehr ausdrücklich formulierte, wenn auch immer noch indirekt. Der Abstand zwischen meinem Gegenübertragungsgeschehen und meinen Interventionen wurde verkürzt und dadurch war die Intervention etwas mehr personifiziert. Es schien der Patientin erlaubt zu haben, mit einer Analytikerin/Objekt in Berührung zu kommen, die Gefühle wahrnahm, die wahrzunehmen für sie unerträglich waren. Dafür musste sie einen Zugang zu dem Erleben dieser Gefühle in der Analytikerin bekommen. Obwohl es sie verunsichert zu haben schien, scheint die träumerische Aktivität der Patientin zu zeigen, dass sie in der Lage war, die Deutungen zu verwenden, um zu träumen. Das brachte den Prozess näher an ihre psychische Realität und an ihre emotionalen Verwicklungen. »Manchmal können analytikerzentrierte Deutungen vom Patienten nicht als Containment, sondern als eine Bestätigung ihrer eigenen Projektionen erlebt werden« (Weiss, 2009, S. 193). Ich habe versucht zu beschreiben, wie sich die Gefahren dieser Art von Interpretation in der Behandlung verwirklicht haben. So in der Szene mit dem Spiegeltraum, wo die Patientin sich unsicher war, welches Bild sie erblickte, und ihre Konfusion zum Ausdruck brachte. Dies machte deutlich, dass die Patientin diese Art der Deutung als eine projektive Identifikation, die von der Analytikerin ausging, wahrnahm. Und doch schien die Tatsache, dass sie einen Traum gebracht hatte, anstatt ihre Angst wie am Anfang der Behandlung in Nüchternheit zu verhüllen, darauf hinzuweisen, dass die Patientin zu diesem Zeitpunkt in einer Verfassung war, in der solche Deutungen hilfreich sein konnten. Sie konnte die projektive Identifizierung verwenden, um zu träumen. Es fand ein Übergang statt von einem konkreten Trauma zu einer mit der Analytikerin geteilten Erfahrung. Das Timing dieser Erfahrung schien dabei geholfen zu haben, mit diesen Komplikationen fertig zu werden. Darüber hinaus zeigte die Tatsache, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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dass sie im Spiegel das Gesicht der Analytikerin als ihr gleichend sehen konnte, dass sie sich in Kontakt mit ihrem eigenen und auf die Analytikerin projizierten psychischen Leben fühlte. In meinen Augen schien dieser Umgang mit der Patientin – Interpretationen aus dem Inneren zu geben, Gegenübertragungserfahrungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Form einer Deutung ausdrücklich zu machen – ihr ermöglicht zu haben, psychisches Leben zu erkennen. Sie hatte ihre Analytikerin als jemanden erlebt, die psychisches Leben erleidet und durchlebt, aber auch in der Lage ist, es im Dienste der Aufrechterhaltung psychischen Lebens zu verwenden statt zusammenzubrechen. Um zurück zu dem Anfangszitat zu kommen »Aber was, um Himmels willen, soll ich in den Händen halten?« Wie konnte die Patientin ihre zerstörte innere Welt wiederherstellen? Eine innere Welt, in der auch keine Wiedergutmachung möglich schien, denn die Wiedergutmachung führte zu einer Revitalisierung der Virulenz einer verheerenden Begegnung. Ich glaube, dass die Deutungen ihr erlaubt haben, in Kontakt mit diesem traumatisierenden psychischen Leben zu kommen, denn sie konnte zum ersten Mal seit ihrer Kindheit von ihrer Mutter träumen. Ich hoffe, dass der analytische Prozess ihr etwas gegeben hat, das sie in »den Händen halten« kann, nämlich einen Zugang zu einem Objekt, das in der Begegnung mit dem Anderen überleben kann, ohne dabei seine eigene innere oder äußere Realität aufzugeben. Literatur Baranger, M., Baranger, W. (1983). Process and non-process in analytic work. International Journal of Psychoanalysis, 64, 1–15. Britton, R. (1998). Belief and imagination. Explorations in psychoanalysis. London and New York: Routledge. Feldman, M. (2009). Doubt, conviction and the analytic process. London and New York: Routledge. Ferro, A. (1999). The Bi-personal field. Experiences in child analysis. London and New York: Routledge. Ferro, A. (2009). Mind Works: Technique and creativity in psychoanalysis. London and New York: Routledge. Joseph, B. (1985). Transference: The total situation. International Journal of Psychoanalysis, 66, 447–454.

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Zwischen innerer und äußerer Realität: Der Körper im psychoanalytischen Feld Immer denkt und denkt er. Wo? In seinem Kopf? Oder in seinem Bauch? […] Es ist möglich, über jemanden zu sagen, er halte »seinen Bauch für seinen Gott.« In vergleichbarer Weise können wir sagen, dass Leute ihr intellektuelles Leben für ihren Gott halten. […] Was hier plötzlich auftaucht, ist keine wirkliche Uneinigkeit zwischen dem Patienten und dem Analytiker […], sondern die Uneinigkeit zwischen dem Verdauungstrakt des Patienten und der Nahrung und zwischen dem Verdauungstrakt und seiner seelischen Ernährung – beides sind keine innerpsychischen Konflikte. […]. Es kann so etwas geben wie zu viel verstandesmäßige Reflektion. Die Hirnhemisphären werden zum Schaden des sympathischen oder autonomen Nervensystems gebraucht. Und so wurde die Heirat zwischen diesem Patienten und ihm selbst niemals wirklich vollzogen. (Bion, 1987, S. 163)1

Zwischen der Psyche und der Außenwelt besteht beim gesunden Erwachsenen ein permanenter Austauschprozess in Form von Projektionen und Introjektionen. Es gibt allerdings einige Übergangsbereiche, die weder der innerseelischen noch der äußeren Wirklichkeit zuzuordnen sind. Hierzu gehören zum Beispiel die Bereiche der Kunst mit ihren Bildern, Skulpturen, aber auch filmischen Gestaltungen, die wir anschauen können; genauso wie die Tonkunst, deren Werke wir hören können. Noch deutlicher wird der Übergangscharakter dieser Bereiche, wenn wir selber ein Bild malen oder ein Musikstück singen oder spielen. Während diese Bereiche immer schon Gegenstand der Psychoanalyse waren, ist die Auseinandersetzung mit einem anderen wichtigen Übergangsbereich über längere Zeit vernachlässigt worden. Damit meinen wir den Körper in seiner 1

Zu diesem Thema siehe auch Lombardi (2009), wodurch wir auf dieses schöne Bion-Zitat aufmerksam wurden.

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Zwischenposition zwischen innen und außen. Der Körper ist in der seelischen Entstehung des Menschen der Ursprung des Ichs und der Affekte. Im heranwachsenden Kind vollzieht sich in den ersten Lebensjahren die Integration zwischen Psyche und Soma, also die psychosomatische Integration, auf deren Misslingen sich das vorangestellte Bion-Zitat bezieht. Gelingt sie, dann sind Seele und Körper in einem permanenten Austauschprozess miteinander verbunden. Dieser Text befasst sich mit dem Körper in einer besonderen Funktion, nämlich als Zwischenspeicher für unerträgliche Affektbeträge, die weder zur Integration ins Ich noch zur Kommunikation mit der Außenwelt zugelassen werden können. Zwischen dem Körper des Analysanden und dem Körper des Analytikers kann dann eine nonverbale Kommunikation entstehen, dergestalt dass der Analytiker mit seinen Körperempfindungen auf die des Analysanden reagiert. Wird der Analytiker auf diese Vorgänge aufmerksam, dann kann er durch die innere Verarbeitung seiner Körpergegenübertragung zur Transformation der im Körper des Analysanden zwischengespeicherten Affektanteile beitragen, die auf diese Weise dem verbalen analytischen Dialog zugänglich gemacht werden können. Das psychoanalytische Feld, wie es Ferro (2009) beschreibt, lässt sich somit erweitern. Es berücksichtigt nicht nur die verbalen und szenischen Mitteilungen des Analysanden aus dessen äußerer und innerer Welt oder die szenischen Eindrücke zwischen Analytiker und Analysand in der Stunde für die Einschätzung der Übertragungssituation. Der Analytiker verlässt sich vielmehr auch auf seine eigenen körperlichen Reaktionen, um die Situation des Analysanden einschätzen zu können. Das Sensorium des Analytikers erweitert sich also um die Mitteilungen seines eigenen Körpers. Bei Beginn seiner Analyse war Herr B. ein Anfang 40 Jahre alter, verheirateter Mann, der mit seiner Frau zwei Kinder hatte. Beruflich betrieb er sehr erfolgreich selbständig eine Anwaltskanzlei mit einigen Angestellten. Eine mehrere Jahre zurückliegende Psychotherapie hatte er wegen diffuser Ängste begonnen. In deren Verlauf war es zu einer deutlichen Symptomlinderung gekommen, »dann lief die Therapie aus, sie verlief im Sand«. Im Erstkontakt schimmerten die Ängste latent durch seine scheinbar heiter-abgeklärten Erzählungen hindurch. Er berichtete © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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dann, er wache nachts oft schweißgebadet mit dem Gedanken auf, »es nicht zu schaffen.« Außerdem leide er unter unklaren supraventrikulären und zeitweise auch ventrikulären Herzrhythmusstörungen, die allerdings keiner Therapie bedürften und im Analyseverlauf lange Zeit keine Rolle spielten. Nur zwischendurch ließ er seine Sorge erkennen, indem er von regelmäßigen Kontrolluntersuchungen sprach, die ihn vorübergehend beruhigten. Zwei Jahre nach Beendigung seiner ersten Therapie seien die Herzrhythmusstörungen wieder aufgetreten, als er von gesundheitlichen Schwierigkeiten seiner damaligen Analytikerin gehört habe. Zunächst kam er einige Monate im Abstand von mehreren Wochen, dann regelmäßig einmal pro Woche. Nach einem Jahr entschied er sich für ein zweistündiges Setting, um sich nach einem weiteren Jahr auf eine vierstündige Analyse einzulassen. In den Analysestunden war Herr B. sehr darauf bedacht, freundlich, aber bestimmt das Heft in der Hand zu behalten. Auf interessante Weise erzählte er Geschichten aus dem Alltag und der Vergangenheit. Mich2 behandelte er respektvoll freundlich, Mängel in der Praxis wie beispielsweise ein Wasserfleck im Parkett des Wartezimmers entgingen ihm allerdings nicht. Er streifte sie in seinen Mitteilungen ebenso beiläufig, wie er auf grammatikalische Mängel in meinen Äußerungen hinwies. Ich fühlte mich in dieser Zeit angesichts solcher Bemerkungen, die einer Deutung noch nicht zugänglich schienen, zwar hilflos, klein und unzulänglich-zurückgeblieben, aber dennoch ihm zugewandt. Meine Interpretationen kreisten um Unzulänglichkeit allgemein bzw. griffen Situationen auf, in denen Herr B. sich unverstanden und deshalb irritiert fühlte. Er erinnerte sich dabei an die familiäre Atmosphäre, als er Kind war: »Ich war immer gut versorgt, aber irgendwie lief ich als Nachzügler mit vier großen Geschwistern nur nebenher mit und fiel manchmal durch Bemerkungen auf, über die alle lachten, weil sie nicht verstanden, was ich meinte.« Am Ende des ersten Analysejahres träumte er, er trete in eine Viehhalle ein: »Die ist gedrungen und dunkel. Ich habe die Vorstellung, wer hier drin ist, kommt monatelang nicht raus. Links war ein 2 Aus Gründen der Anschaulichkeit in der Ich-Form geschrieben.

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Zimmer, eher ein Verschlag mit Bett. Da lag ein vier- bis fünfjähriger schwacher Junge mit ganz weicher Haut, wie Marshmallows. Der konnte nicht aufstehen und hatte nasse Windeln und eine Trichterbrust. Er tat mir leid. Im Nachhinein dachte ich an meine kleine Tochter und meine Sorge um ihre Zukunft, aber auch an mich.« Ich verstand Hinweise wie diesen als Mitteilungen, in denen Herr B. mich auf seine Verletzlichkeit aufmerksam machte. »Vernachlässigung auf hohem Niveau«, dachte ich später, als er mehr über die großbürgerliche Atmosphäre zu Hause sprach. Das einfühlsame Denken, man könnte es Fühldenken nennen, entwickelt sich beim Kind aus dem körperlich-seelischen Kontakt mit der einfühlsamen Mutter, darauf hat schon Bion mit seinem Begriff der Rêverie hingewiesen. Ganz analog dazu ist auch in der Beziehung zwischen Analytiker und Analysand das Träumen »ein zentraler Aspekt der freien Einfälle des Patienten und […] ein integraler Aspekt der Beobachtungen des Analytikers und seiner Deutungen« (Georg Matejek, mündliche Mitteilung). Es kann aber sein, dass sich zwischen Mutter/Eltern und Kind eine solche Einfühlung nur sehr partiell entwickelt, oder dass der Kontakt von Abweisungen und Abwertungen gekennzeichnet ist. Dann stehen Schutzbedürfnisse im Vordergrund, die sich nicht nur seelisch, sondern vor allem auch körperlich zeigen. Es sind ja die β-Elemente (Bion, 1962/1990, S. 52), die aus dem Körper des Kindes auftauchen und der transformierenden Einfühlung und stillenden Handlung der Mutter bedürfen, um in eine denkbare, fühlbare und träumbare Form, also in α-Elemente umgewandelt zu werden. Bleiben sie untransformiert im Körper zurück, dann können sie sich, wie wir später zeigen werden, als psychosomatische Symptome äußern. Diese Phänomene, die sich bei Herrn B. in subtiler Form zeigten, möchten wir jetzt aus der theoretischen Perspektive etwas näher fokussieren. Später wollen wir auch betrachten, wie sie sich im analytischen Feld in der Stunde zeigten und wie die Beachtung dieser Phänomene sich auf den träumerischen und spielerischen Umgang von Analytiker und Analysand auswirkte; wie das Träumen in ein Handlungsträumen, ein Spielen, überging. Die Erwachsenenanalyse bekommt also hier eine gewisse Ähnlichkeit mit der Spielanalyse des Kindes, wie sie Melanie Klein entwickelt hat. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Wilhelm Reich (zusammengefasst nach Büntig, 1982, S. 263 f.) führte 1927 auf dem Zehnten Psychoanalytischen Kongress in Innsbruck den Begriff des Charakterpanzers ein, mit dem er eine Art von psychophysischer Abwehrschale beschrieb. Er sah beim Aufbau der Persönlichkeit seiner Patienten drei Schichten: eine oberflächliche Fassade von Zurückhaltung, zwanghafter Höflichkeit, falscher Freundlichkeit und Nachgiebigkeit, an der die meisten Analysen scheitern würden, wenn es nicht gelänge, sie zu durchdringen. Darunter liege die Schicht der sekundären Triebe und Bedürfnisse, all die versteckte Negativität des verdrängten Unbewussten (Freud). Im Innersten befinde sich dann, geschützt von den beiden äußeren Schichten, eine Sphäre primärer Bedürfnisse. 1934, beim 13. IPAKongress in Luzern, führte Reich seine Gedanken weiter, indem er den Begriff der muskulären Panzerung prägte und von der funktionellen Identität zwischen muskulärer und charakterlicher Panzerung sprach. Widerstand in der Analyse und die Unterdrückung von starken Emotionen wie Wut, Angst, Trauer und Lust seien immer mit einer chronischen Muskelverkrampfung verbunden, die Reich als wesentliches Stück des Verdrängungsvorgangs darstellte. Diese Anspannung werde von Kindheit an als Mittel der Affektunterdrückung eingesetzt. So beschrieb er anschaulich, wie kleine Kinder beispielsweise die Bauchpresse gegen den Impuls zu Weinen einsetzen. Auch das Atemanhalten diene demselben Zweck. Eine gewisse Ähnlichkeit ergibt sich zwischen Reichs Beschreibung des Charakterpanzers und Winnicotts Ausführungen zum Falschen Selbst. Beide Begriffe beschreiben eine Art von seelischkörperlicher und psychosozialer Schutzschicht. Man könnte sich das wie eine Abwehrschale gegen (grob) uneinfühlsame Reaktionen des primären Objekts vorstellen. Winnicott spricht davon, dass die spontane Geste des Säuglings nicht empathisch von der Mutter beantwortet (und damit auch nicht angemessen »gedeutet«; Anm. der Verf.) wird. Stattdessen reagiert das primäre Objekt mit einer eigenen (für das Baby fremden) Geste. Das Baby ist dadurch zu einer Anpassung an das Objekt gezwungen. Statt dass es sich durch das Objekt verstanden fühlen kann, muss es nun seinerseits versuchen, das Objekt zu verstehen. Winnicott (1965, S. 147) beschreibt die sich so herausbildende Gefügigkeit des Kindes als das früheste © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Stadium des Falschen Selbst. Als unempathisch empfindet das Kind dabei nicht nur ein Zuviel an Abwendung (Deprivation), sondern auch ein Zuviel an Zuwendung (Übergriff). Auchter (1994) hebt in seinem zusammenfassenden Überblick über Winnicotts Begrifflichkeit hervor, dass die Ausbildung des Falschen Selbst nicht auf die frühe Kindheit beschränkt ist. Auch die Adoleszenz ist eine hierfür entscheidende Phase, besonders bei kumulativen Traumatisierungen des Selbst durch das Objekt. Die von W. Reich beschriebene Sphäre der primären Bedürfnisse, die sich im Innersten des Subjekts, geschützt von den beiden äußeren Schichten, befinde, könnte man mit Winnicotts Begriff des potenziellen Wahren Selbst vergleichen. Winnicott (zusammengefasst nach Auchter, 1994) beschreibt anschaulich, wie sich in einer als hinreichend gut erlebten Objektbeziehung eine gute seelisch-körperliche Struktur des Selbst herausbildet. Es kommt zu einem Prozess der Integration, der Personalisierung oder Einhausung der Seele in den Körper. Diese Formulierung ist verwandt mit dem Sinn von Bions Formulierung, der von einer »Heirat zwischen diesem Patienten und ihm selbst« spricht. Ogden (1996) führt Winnicotts Gedanken weiter aus, indem er vom »potenziellen Raum«, also einem Möglichkeitsraum zwischen dem Baby und der Mutter spricht, einer Übergangssphäre, in der die Gesten des Kindes und die Gesten der Mutter einander auf sinnstiftende Weise begegnen können. In diesem Fall wird durch eine gelingende Interaktion zwischen dem Subjekt und dem primären Objekt der Grundstock zu einer gesunden Selbstentwicklung gelegt. Beim später dargelegten Fallmaterial spielt diese Vorstellung eines potenziellen Raumes für die Entwicklung des Verstehensprozesses und der analytischen Beziehung eine wichtige Rolle. Von Winnicotts Begriff des Falschen Selbst, besonders von dem damit verbundenen Aspekt der Gefügigkeit, ist es nicht weit zu Feldmans Konzept der Compliance als Abwehr (Feldman, 1998). Während in den Konzepten von Reich und auch von Winnicott eine generelle Beschreibung von Schutzfunktionen des Subjekts enthalten ist, beziehen sich die Ausführungen Feldmans direkt auf die analytische Dyade und beschreiben Anpassungsvorgänge des Patienten an den Analytiker und – auch umgekehrt – des Analytikers an den Patienten. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Er unterscheidet verschiedene Nuancen der Compliance voneinander, legt dann den Schwerpunkt auf die unbewussten Aspekte der Compliance als einem Schutz, zum Beispiel vor der »Konfrontation mit Getrenntheit und Verschiedenheit, mit Schmerz, Neid und Hass« (Feldman, 1998, S. 85). Er bezieht sich in seinen Ausführungen besonders auf Abraham, der schon 1919 die narzisstischen Mechanismen beschrieb, mit denen ein Analysand nicht nur seelischen Schmerz und das Gefühl der Erniedrigung abwehrte, sondern sich vor allem dagegen schützte, sein Angewiesensein auf die therapeutische Wirkung des Analytikers anerkennen zu müssen. In seinen beiden Fallbeispielen wird deutlich, wie Hass und Gewalt ausbrechen, wenn der Analytiker seine – ihm bis dahin unbewusste – Compliance den Patienten gegenüber aufgeben kann. »Die Compliance unserer Patienten […] stellt eine Abwehr gegen Angst und Schmerzen dar, ein Vorgang, der manchmal mit Befriedigung verbunden ist und auf einer primitiven und konkretistischen Phantasie, auf mechanische Weise [das ist das körperliche Element, Anm. der Verf.] umgeformt zu werden und auch das Objekt umzuformen, beruht« (Feldman, 1998, S. 85). »[…] die Schaffung eines gegenseitig übereinstimmenden Paares [dient] dazu, den Patienten vor der Konfrontation mit Getrenntsein und Differenz zu schützen, wie auch vor der Abhängigkeit des Patienten vom Analytiker als mächtiger Figur, die fähig ist, auf konstruktive Art zu denken. In dem Maße, in dem der Patient sich den Bedürfnissen des Analytikers auf mechanische Weise anpasst und den Analytiker unmerklich in ein von Compliance bestimmtes Agieren hineinzieht, können beide störenden Aspekten ihrer psychischen Realität ausweichen« (S. 108). Hier ist also der Schutzaspekt ganz aus der Perspektive des analytischen Paares in der Stunde beschrieben, aber gleichzeitig wird darin auch die genetische Situation erkennbar, die Reich bei der Beschreibung des Charakterpanzers im Sinn gehabt haben muss und die Winnicott zu seinem Konzept des Falschen Selbst veranlasst haben wird. Wir erkennen in diesen theoretischen Konzepten ziemlich anschaulich die seelisch-körperliche Beziehungsschutzschale von Herrn B., auf dessen Lebensgeschichte wir im Folgenden kurz zurückkommen möchten. Der familiäre Fokus war ganz auf seinen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Vater, Unternehmer eines mittelständischen Betriebs, ausgerichtet. Er duldete keinen Widerspruch, weshalb es zu heftigen Auseinandersetzungen mit Herrn B.s Stiefbruder kam, der sich dagegen auflehnte: »Der wollte nicht einsehen, dass er gegen unseren Vater den kürzeren ziehen würde und riskierte sogar Schläge!« Er selbst habe seine Lehre daraus gezogen und sich bedeckt gehalten. Andererseits habe sich der Vater sehr für die Familie engagiert. »Wirklich mit mir gespielt in dem Sinn, dass er sich mir mit meinen Bedürfnissen zugewandt hätte, hat er allerdings nie.« Seine Mutter blieb in diesem familiärpatriarchalischen Sinn im Hintergrund, sie spielte in der Analyse eine eher randständige Rolle: »Sogar meine Geburt ereignete sich unspektakulär, eingebettet im häuslichen Alltag zwischen Saubermachen und Besuchen …« Wie sehr er von dieser Atmosphäre geprägt wurde und zugleich seine Antennen darauf ausrichtete, verdeutlicht die Eingangsszene einer Stunde aus der ersten Analysephase: Das Ablagetischchen an der Garderobe fehlte in dieser Stunde. Herrn B. fiel dieser Umstand auf, als er seine Mütze wie sonst auch darauf werfen wollte und diese im Flug wieder auffangen musste, was ihm lässig gelang. Lapidar bemerkte er mit einem belustigten Lächeln: »Oh, eine Änderung!« Im Stundenverlauf verdeutlichte er, wie sehr er sich durch das abwesende Tischchen verunsichert fühlte. Er liebe das Rhythmische in der Wiederholung und habe sich daran gewöhnt, seine Mütze nach unserer Begrüßung darauf zu werfen: »Ich kann gut damit umgehen, wenn es dann plötzlich nicht da ist, und die Mütze in meine Manteltasche stecken. Aber wie verunsichert ich dahinter bin, bekommt keiner mit.« Mehr als der Gedanke, ich wolle ihn womöglich provozieren, mache ihm die Vorstellung zu schaffen, dass ich nicht an ihn gedacht hatte: »Sie müssen doch wissen, welche Bedeutung das für jemand hat, der so hochsensibilisiert hier herein kommt. Das ist doch so, wie wenn man am Meditieren ist, und jemand pfeift einem schrill ins Ohr!« Hier kam also ein Objekt ins Feld, von dem er sich fallen gelassen fühlte, das ihn plötzlich nicht mehr auffing, er musste sich selbst auffangen. Winnicott (1974) beschreibt in seiner Arbeit über die Angst vor dem Zusammenbruch die Auswirkung fortgesetzter emotionaler Traumatisierung in der frühen Kindheit. Agonien (das Wort Ängste © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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war ihm nicht ausdruckvoll genug) können auftreten. Unter anderem beschreibt er das Gefühl des »unendlichen Fallens«. Als Schutzmechanismus dagegen entwickeln sich Versuche des Sich-selbst-Haltens. Das sofortige Auffangen seiner Mütze scheint jedenfalls mehr zu sein als nur ein gut entwickelter akrobatischer Bewegungssinn, wie aus der heftigen emotionalen Reaktion von Herrn A. deutlich wurde. Diese Selbsthaltemechanismen scheinen auch eine gewisse Ähnlichkeit mit den von Reich beschriebenen körperlichen Abwehrmechanismen, zum Beispiel gegen das Weinen, zu haben. Die Mützenfängerszene steht für einen wesentlichen Aspekt seines Lebensentwurfs, der von einer Folge gehäuft auftretender minimaler Traumatisierungen geprägt ist. Die familiäre Atmosphäre weitgehender Nichtbeachtung oder Beschämung seiner eigenen Bedürfnisse und die Erfahrung, dass es gefährlich wird, wenn er sich in seiner Enttäuschung und Wut darüber wie der Stiefbruder Luft macht, hat dazu geführt, dass er sich weitgehend zurückgezogen hatte. Auch wenn er sich nach außen hin freundlich und zugewandt verhält, so ist er doch über einen kaum zu durchdringenden Wall im Sinne der von Reich beschriebenen Charakterabwehr gegen unvorhergesehene Ereignisse gewappnet. Über lange Zeit hatte ich zu respektieren, dass er es war, der Ereignisse, Begebenheiten und Situationen »einstielen« musste, wie er es bezeichnete. Wie an der geschilderten Szene sichtbar wird, hatte er seine Wahrnehmung als hoch entwickeltes Frühwarnsystem gegen jede Gefahr ausgebildet. Schon als Kind hatte er seine daraus resultierende Einsamkeit gespürt, wie eine Kindheitserinnerung belegt, in der er sich, unbeachtet vom Rest der Familie, allein im Wintergarten spielen sieht. Als wir in der Analyse in eine vergleichbar schwierige Situation gerieten, träumte er von einem kleinen, wie eine Hartschale eng an seinem Körper anliegenden Auto, in dem er zu einer Demonstration fuhr. Er drückte damit aus, dass er sich allmählich traute, gegen den (analytischen) Vater zu demonstrieren. Aber er befand sich in einer fast manövrierunfähigen Situation. In seinem Schutzpanzer konnte er »der engen Sehschlitze wegen nur nach vorne schauen. Deshalb bin ich wieder zur Arbeit gefahren.« Erste zärtliche Bewegungen auf mich zu waren in ähnlicher Weise wie sein aufkeimender Zorn von Abwehrbewegungen gefolgt; er fühlte sich von ihnen verunsichert, weil er nicht wirklich auf eine © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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emotionale Begegnung gefasst war. Darüber hinaus fürchtete er, verlacht und somit beschämt zu werden. Ich deutete ihm: »Ich habe den Eindruck, es irritiert Sie, wenn Sie spüren, dass es zwischen uns nicht nur sachlich neutral, sondern auch emotional zugeht.« Daraufhin geriet er in einen Ausnahmezustand: Seine Gedankengänge verselbständigten sich; sobald er sie festhalten, greifen wollte, zersprangen sie in eine Vielzahl weiterer Gedanken. Es war eine regelrechte Hetzjagd für ihn, der es bislang gewohnt war, nicht nur seine Empfindungen und Gedanken, sondern auch seine Handlungen plangemäß zu lenken. Auch ich geriet immer wieder in einen Sog, gedanklich mit ihm zu laufen, bis wir gemeinsam verstehen konnten, was ihn ängstigte. Herr B. offenbarte mir in einer Stunde auf berührende Weise sein Dilemma: Er spüre tatsächlich eine wohltuende Verbundenheit mit mir, sie sei wie Balsam. Allerdings stürze sie ihn zugleich in panikartige Zustände: »Was, wenn das nur Schein ist und Sie heute Abend zu Hause oder Ihren Kollegen gegenüber von mir als langweiligem Typen sprechen, der Sie anödet?!« Für ihn wäre das schrecklich. Insgesamt machte er mir im Analyseverlauf klar, wie viel er wagte und wie viel für ihn auf dem Spiel stand, wenn er seinen Schutzpanzer verließe und das Weiche in sich durchscheinen ließe. Wäre er dann formbar wie Marshmallows? Tempo, Rhythmik und Dynamik in den Stunden schienen von dieser Sorge bestimmt. Wie schon angedeutet, verstand ich die Behutsamkeit, mit der auch ich mich in der Analyse bewegte, als Ausdruck seiner Zerbrechlichkeit, aber auch als Sensibilisierung meiner Antennen für diesen Zustand. Eine erneute emotionale Zurückweisung, das war mir im Analyseverlauf deutlich geworden, würde er nicht mehr abfedern können. Wiederholt erwähnte er in diesem Zusammenhang, wie sehr er sich um die Zukunft seiner kleinen Tochter sorge, für die er sich besonders verantwortlich fühle. Nachfolgend möchte ich darauf eingehen, welche Bedeutung das Körperliche in dieser Analyse trotz oder gerade wegen der geschilderten Fragilität und Vorsicht für die weitere Entwicklung der Analyse hatte. Er träumte, dass er auf dem Weg zu mir war. Der Pfad war zwar klar sichtbar, aber versperrt. Faszinierend für mich ist die Plastizität, mit der er den Weg symbolisch verdichtet entwarf: © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Auf einer Anhöhe stand mein Haus, das er, aus dem Tal kommend, nicht unmittelbar erreichen konnte. Er musste sich einen Umweg suchen. So, wie er ihn mir während seiner Schilderung mit seiner rechten Hand in den Luftraum vor sich zeichnete, erhielt der Weg die Form eines Bassschlüssels und erinnerte mich zugleich an die äußere Umrandung eines Ohres; das Haus befand sich an der Pforte des äußeren Gehörgangs. Indem ich ihm zuhörte und seinen Zeichenbewegungen mit den Augen folgte, fühlte ich mich an mein eigenes Ohr erinnert. Mein Eindruck war, dass er mich nicht mehr rein intellektuell ansprechen wollte, sondern einen subtileren Zugang zu mir suchte. Musik, besonders in Verbindung mit der Rhythmik, beschäftigte uns öfter. Meine Affinität zur Musik schien ihm etwas Selbstverständliches zu sein, als ahnte er, dass ich ein Bass bin. Der Bassschlüssel steht aber auch für seinen Wunsch, Cello zu spielen, dessen schwingender Resonanzkörper ihn begeisterte. Er entdeckte einen solchen Resonanzraum über die Musik in seinem eigenen Körper und stellte in diesem Zusammenhang auch für mich hörbar fest, dass seine Stimme sonorer klang. Ganz offensichtlich hatte sich seine muskuläre Dauerspannung in Bauch, Zwerchfell und Brustraum gelockert, weshalb sie nun freier schwingen konnten und seine Stimme voller tönen ließen; es war jetzt mehr Raum für die Ausbildung von Unter- und Obertönen vorhanden. Mir war, als habe er sich über Rhythmus, Schwingung und Resonanz insgesamt einen spürbaren Zugang zu seinem Körper eröffnet. Er kam mehr mit ihm in Kontakt (vgl. den Prolog von Bion). Dieser Kontakt unterschied sich deutlich von der psychosomatischen Reaktion, in der der Körper verrückt spielt (McDougall, 1998) und sich verzerrt. In der Folge begann er, sich auch für meinen Körper zu interessieren: zum Beispiel das Ohr als Teil meines Kopfes, den er als Westfalenschädel bezeichnete. Vor den Sommerferien sah er in einer Kirche eine Marienfigur mit Jesuskind. Insbesondere der Kopf des Jesuskindes sprach ihn an, während der Rest der Skulptur ihm eher blass erschien. Er entdeckte verschiedene Verbindungen und sagte schließlich: »Unmittelbar hat mich die spiegelnde Glatze des Kindes an Ihren Kopf erinnert!« Unser daran anknüpfender Austausch drehte sich sowohl um sexuelle Konnotationen als auch mögliche Entwertungen von mir als Kindskopf. Aber die eigentliche Dynamik © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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war geprägt von dem spielerischen Element, wie wir miteinander sprachen, das ihn wie auch mich erfüllte und sich über mehrere Stunden hinzog. Dass er bei aller wechselseitiger Wertschätzung über mich als Kindskopf sprechen konnte, der zeitweise Gedanken entwickelte, über die Herr B. nur den Kopf schütteln konnte (ähnlich wie früher die Eltern über ihn), die ihn zeitweise sehr berührten, dann auch wieder belustigten, all das ergriff ihn sehr: »Es ist wie bei einem gemeinsamen Spiel, bei dem zwei sich den Ball hin- und herwerfen!« Das Körperliche wurde in dieser Phase der Analyse also über einzelne Aspekte meines Körpers zum zentralen Bestandteil unseres Austausches.3 Umgekehrt begann ich, auch seinen Körper anders wahrzunehmen. Sein Kopf erschien mir jetzt konturiert, markantmännlich; seine Hand fühlte sich bei der Begrüßung und Verabschiedung im Gegensatz zur Anfangszeit nicht mehr knöchern-hart an; statt dessen erlebte ich seinen Händedruck jetzt zwar als fest, aber doch warm, gut durchblutet und elastisch. Aus den Ferien kam er mit heftigen Herzrhythmusstörungen zurück und deutete an, dass er eine Verbindung zu mir vermute. Die zeitweiligen Schmerzen in der Brust in Verbindung mit dem ebenfalls schmerzhaften Schlagen seines Herzens bis zum Hals führten ihn zum Kardiologen, der ihn allerdings beruhigte: »Er meint, es sei wohl nur eine einzige Zelle in der Herzwand, die übererregt ist.« Zu diesem Bild einer »einzigen übererregten Herzzelle« passt ein Zitat von Joyce McDougall: »Psychosomatische Symptome lassen in der Analyse auf den ersten Blick keinen neurotischen oder psychotischen Konflikt erkennen. Ihr ›Sinn‹ ist präsymbolisch und umgeht eine Repräsentation durch die Sprache. Versuchen wir also, ihre Sprachbehandlung mit der der Psychotiker zu vergleichen. Während psychotisches Denken bestimmt ist durch einen inflationären und wahnhaften Sprachgebrauch mit dem Ziel, eine schreckenerregende Leere auszufüllen, suchen die Denkvorgänge der Somatisierenden die Sprache um ihre affektive Bedeutung zu bringen. In psychosomatischen Zuständen ist es der Körper, der sich ›wahnhaft‹ verhält, er 3 Die Bedeutung dieses körpernahen Wechselspiels für die Subjektwerdung beschreiben sowohl P. Aulagnier als auch R. Rodulfo, auf die wir noch zu sprechen kommen werden.

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betreibt eine ›funktionale Überfüllung‹ oder hemmt vielmehr normale Körperfunktionen in einem Ausmaß, das physiologisch sinnlos erscheint. Hier ist also der Körper verrückt geworden« (1998, S. 23). Mit diesen Aspekten hat sich auch Piera Aulagnier in ihrem Konzept des Piktogramms beschäftigt (zusammengefasst nach Leiser, 2007). In Anlehnung an Freud geht sie davon aus, dass die Subjektbzw. Ichwerdung sich aus dem Körper entwickelt. Indem sie sich auf die Anfänge der Entwicklung fokussiert, entwirft Aulagnier ein dreistufiges Modell der seelischen Verarbeitung der Begegnung zwischen Subjekt und Umwelt, an deren Ende die gedankliche, von ihr als Sekundärprozess bezeichnete Repräsentation im Symbolischen steht. Insoweit könnte man ihre Begrifflichkeit mit der von MoneyKyrle vergleichen. Der zweite Modus, also die dem Sekundärprozess vorausgehende Stufe, betrifft die szenische Repräsentation im Imaginären, das Phantasiegeschehen, von Aulagnier Primärprozess genannt. Am Anfang dieser Entwicklungsreihe steht der Originärprozess, der, so Aulagnier, das Psychische aus dem Körperlichen entstehen lässt. Dem vorsprachlichen Charakter dieser Entwicklungsstufe entsprechend, postuliert sie für die Niederschrift der Eindrücke, die der Säugling in dieser Zeit erfährt, eine körperlich ausgerichtete Zeichensprache, die sie Piktogramm nennt. Die Vorgänge, die Aulagnier hier theoretisch umfasst hat, beschreibt Ricardo Rodulfo auf eine sehr anschauliche Weise, die eher phänomenologisch orientiert ist. So schildert er die früheste kindliche Entwicklung folgendermaßen: »Subjekt werden heißt für das Kind, Löcher zu bohren und aus diesen Material zutage zu fördern, angefangen beim mütterlichen Körper, um daraus etwas Eigenes und insbesondere einen eigenen Körper zu konstruieren« (zusammengefasst nach Leiser, 2007, S. 144). Im Grunde handelt es sich um einen introjektiven Vorgang, bei dem sich die introjizierten Anteile mit den entsprechenden Körpersensationen verbinden (S. 172). Dabei ist es nicht nur der introjizierende Mund, mit dem der Säugling Material, zum Beispiel Milch, aus der Brust herauszieht, auch die visuelle, auditive und taktile Introjektion durch die aufnehmenden Wahrnehmungsorgane, Augen, Ohren und zum Beispiel Finger, spielen eine wichtige Rolle. Auf diese Weise besetzt er, oder vielmehr beseelt er seinen Körper Organ für Organ, wobei er © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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zunächst ja weder räumlich denken kann noch Grenzen kennt, um zwischen innen und außen unterscheiden zu können. Er beginnt deshalb, all die Materialien zu Collagen im Sinne von Bändern und später von Oberflächen zusammenzufügen. Rodulfo verdeutlicht, wie auf diese Weise die Körperwahrnehmung des Säuglings, das innere Empfinden seiner Ober- und Außenfläche, also sein inneres Bild von sich von Beginn an durch die Wechselbeziehung mit seiner Umgebung bestimmt wird. Leibnah beschreibt er deren Anfänge: »Körperlich assimilierbare Substanzen wie Milch, Brei, Rotz, Schleim usw. und mit den Blicken ›gepflückte‹ Körperteile der Mutter können hier mühelos mit körperfremden Elementen wie Knöpfen, Stoff oder Schmuckstücken zusammengefügt werden« (zusammengefasst nach Leiser, 2007, S. 172 f.). Das passt zu der frühen Situation, in der der Säugling noch nicht zwischen seinem eigenen Körper, dem der Mutter und anderen Objekten unterscheiden kann, sondern diese Partialobjekte wie bei einer Collage aneinander fügt. Dabei sorgen die harten Anteile dieser Collage dafür, dass Konturen entstehen können. Aulagnier zufolge spiegelt sich jede Begegnung mit der Welt in einem solchen körperlichen Korrelativ, innerhalb dessen die Erfahrung des Subjekts mit dem Objekt gewissermaßen organisch verankert wird. Anders ausgedrückt schafft sich das Subjekt im eigenen Körper eine Landkarte von Beziehungserfahrungen; der Kontakt mit der Welt spiegelt sich auf narzisstische Weise im eigenen Körper bzw. wird in ihm erschaffen, vergleichbar mit dem Mapping, wie es Edelman (1987) für die Neurowissenschaften postuliert. Im Unterschied dazu werden die Reize Aulagnier zufolge aber nicht im Hirn, sondern direkt in den Organen verankert, was für ihr spezifisches Verständnis psychosomatischer Prozesse von Bedeutung ist. Indem sie im Körper untergebracht sind, bleibt dem Ich der unmittelbare Zugang zu ihnen verschlossen. Faszinierend an der Idee ist, dass auf diese Weise die Urerfahrungen mit der Welt im Körper des Säuglings gewissermaßen zellulär verankert sind. Sie sind ebenso wie eine Zelle dem bewusst erlebenden Denken nicht zugänglich, bleiben aber aktiv wirksam und lassen die bandförmigen Kollagen hervorgehen. Darauf aufbauend entstehen erste rudimentäre Vorstellungen vom eigenen Körper. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Herr B. kam mit Analysebeginn, das heißt mit Beginn des vierstündigen Settings immer wieder in seelische Verfassungen, die unseres Erachtens diese Überlegungen Rodulfos veranschaulichen können. Er konnte diese Zustände nur schwer begrifflich fassen. Allenfalls konnte er sie als blitzartig auftretende sensorische Eindrücke beschreiben. Meist waren sie vermengt mit Gedankenfragmenten, erschienen ihm sinnlos und beunruhigten ihn zunächst; denn er hatte ja keinen Zugriff auf sie. Sie entzogen sich seinem Denken, sobald er sie festhalten wollte. Im Analyseverlauf verloren sie allmählich ihren Schrecken und er nahm wahr, wie aus den ungeordneten, chaotischen Blitzen Gedankenketten entstanden. Sie ergaben zwar immer noch keinen Sinn für ihn und waren seinem Verstehen unzugänglich. Aber er stellte fest, dass sie beispielsweise Grundlage für Träume sein konnten. In diesem Zusammenhang sei der oben wiedergegebene Traum erwähnt, in dem er sich als Jungen mit unsicheren Konturen (Marshmallow) sah. Ohne auf die Details dieser Entwicklung eingehen zu können, möchten wir auf die allmähliche »Organ-isierung« der Entwicklung des Säugling hinweisen. Aulagnier versteht den Säuglingskörper der ersten Zeit weniger als organisch im konkreten Sinn. Vielmehr sieht sie ihn als »Gesamtheit von Sinnesfunktionen und Vehikel eines kontinuierlichen Informationsflusses« (zit. nach Leiser, 2007, S. 118) in einem libidinös besetzten psychosomatischen Feld. Der Körper bildet also in dieser frühen Zeit ein Kontinuum zwischen sensorischer und erotischer Aktivität und stellt das Fundament der späteren Beziehung zwischen Psyche und Körper dar. In Anlehnung an den somatischen Stoffwechsel versteht sie die allmählich sich bildenden Repräsentationen als Ausdruck einer psychischen Verstoffwechselung, die in einer Angleichung der heterogenen Elemente bestehe. Sowohl Aulagnier als auch Rodulfo weisen auf die enorme Bedeutung der angemessenen, passgenauen Anregung durch das mütterliche Objekt hin. Allerdings spricht Aulagnier in diesem Zusammenhang auch von der »unerlässlichen mütterlichen Gewalt dem Säugling gegenüber« (S. 125). Sowohl Trennungen als auch aktive Hinwendungen der Mutter konfrontieren das Baby mit deren Anderssein. Im Regelfall orientiert sich die Mutter natürlich, so gut sie kann, mit ihren © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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bewussten und unbewussten Wünschen an den Erwartungen, den Wünschen, Forderungen und Befürchtungen des Kindes. Erst wenn der Rahmen der unerlässlichen Gewalt überschritten wird, resultiert daraus eine Schädigung der Ichwerdung bis hin zu einem enteigneten Ich. Gerade die Geschichte von Herrn B. weist deutlich darauf hin, dass es nicht nur durch ein Zuviel, sondern auch durch ein Zuwenig an Zuwendung zu einer solchen Schädigung kommen kann. Noch bevor der Säugling in der Lage ist, den anderen als anderen zu erkennen, verstoffwechselt er auch die erwähnte Gewalt des Objekts über die Ausbildung körpereigener Piktogramme. Mit ihnen verbunden sind die Affekte, welche die jeweilige Erfahrung begleiten. Einmal in Gang gesetzt, so Aulagnier, steht die Psyche unter ständiger Anforderung der piktografischen Metabolisierung. Das piktografische Objekt wird so zum Produkt der ursprünglichen Sinneserfahrung. Wie erwähnt, findet dieser sensorische Prozess in einem Beziehungsfeld zwischen Mutter und Baby statt, das gewissermaßen von libidinöser Energie durchzogen ist. Auf diese Weise wird das piktografische Objekt mit einer Lusterfahrung verknüpft, die von Aulagnier als Organlust bezeichnet wird. Sie unterscheidet diese Organlust vom Zustand der Mindestlust, einer Verfassung, die dem Nirwanagefühl entspricht, also dem wunschlosen Wohlbefinden des Säuglings an der mütterlichen Brust (zit. nach Leiser, 2007, S. 129). Nach diesem ursprünglichen Gleichgewichtszustand strebt ja bekanntlich, so Freud und auch Aulagnier, das Baby. Also ruft die neu erfahrene Organlust zugleich auch Hass in ihm hervor. Dieser Hass kommt in seiner destruktiven Qualität einer Äußerung des Todestriebes nahe. Die Psyche ist also nicht »auf sich allein gestellt«, sondern gleichermaßen auf den Körper und das Objekt angewiesen. Dabei »erfährt die Psyche den Körper als ihren Ursprung und als Lieferant des somatischen Rohmaterials für ihre Repräsentationsaktivität« (S. 130). Auf diese Weise richtet sich die Psyche im Körper ein. Diesen Vorgang beschreibt auch Winnicotts Formulierung vom Behausen des Körpers durch die Seele. Durch diese libidinöse Besetzung des Körpers mit seinen Gliedmaßen und Organen bilden sich mächtige erogene Quellen der Lust. Sie können sich nun als autoerotische Tendenzen den destruktiven Strebungen entgegensetzen und wer© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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den dabei durch die aus der intersubjektiven Begegnung geborene libidinöse Energie unterstützt. Gelingt es der Psyche nicht, sich im Körper einzurichten, überwiegt die Tendenz zu zerstören bzw. zu fragmentieren, wodurch es zur Auslöschung bestimmter Körperzonen im Sinne der Enteignung kommen kann (S. 135). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Säugling mit einem sehr inadäquaten Objekt konfrontiert ist. Dann lassen sich die heterogenen Elemente nicht im Sinne der Homogenisierung oder Angleichung integrieren und in Lusterfahrung transformieren, sie verbleiben als partiell heterogene Bruchstücke. Herr B. war einer solchen partiell inadäquaten Atmosphäre ausgesetzt, und wir vermuten, dass er in diesem Kontext insbesondere mit inadäquaten Rhythmuserfahrungen konfrontiert war. Rodulfo hat auf die Wichtigkeit von Routinen hingewiesen. Er versteht darunter wiederholt stattfindende Erfahrungen, die dem Kind dabei helfen, »ein immer verlässlicheres Kontinuum mit der Welt aufzubauen« (zit. nach Leiser, 2007, S. 173). Herr B. konnte keine organischen Routinen im Austausch mit seinen Bezugspersonen ausbilden. An deren Stelle entwickelte er mechanische Rhythmisierungen, wie das von ihm beschriebene »Einstielen«. Dies führte dazu, dass er sich auch keinen fremden Rhythmen überlassen konnte, was sich im psychoanalytischen Prozess unter anderem in einem über viele Jahre anhaltenden vorzeitigen Klingeln niederschlug, womit er den von mir vorgegebenen Rhythmus umging. Den Affekt, der mit all diesen Erfahrungen einhergeht, beschreibt Aulagnier auf der Ebene der originären Stufe als körperliche Aktion vom Typ Anziehung versus Abstoßung. Seine sich selbst generierende Funktion unterscheidet das originäre Stadium von den anderen beiden Stadien grundlegend. Es wird erst bei Reizüberflutung verlassen, bleibt aber weiterhin, als Matrize oder Grundmuster, im Hintergrund wirksam und kann regressiv vom Subjekt wieder aufgesucht werden, so dass es zu einer erneuten Verkörperlichung von emotionalen Erfahrungen wie Schmerz, aber auch Freude kommen kann. Diese Verfassung befindet sich außerhalb des Einflussbereichs des Ich. Dementsprechend lässt sie sich auch nicht direkt mit Worten beschreiben. Man kann sich ihr aber annähern mit Hilfe von Metaphern oder eben durch die Vermittlung seiner eigenen körperli© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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chen Gegenübertragungsempfindungen, wie wir gleich im klinischen Material bei Herrn B. sehen werden. Nachdem Herr B. mir von seinen erneut aufgetretenen Herzrhythmusstörungen während der Ferien berichtet hatte, spürte er sie in den folgenden Tagen insbesondere beim Hinlegen auf die Couch, wo sie aber nun ihren bedrohlichen Charakter verloren. Sie wurden freundlicher, je klarer ihm die Verbindung zu mir erschien. Die abrupte Trennung im Anschluss an die intensive Zeit vor den Ferien erschien ihm bedeutsamer, als er es vermutet hatte. Gleichermaßen beschäftigten ihn Gemeinsamkeiten mit seiner Tochter; mit ihr entdeckte er ein unbekanntes Feld, denn sie interessierte sich für die Ausleuchtung von Räumen. Gemeinsam hatten sie eine Beleuchtungsanlage installiert, die auf Musik anspricht! In diesem Zusammenhang streifte er fast tonlos die Beziehung zu seinem Vater, mit dem solche Erfahrungen nicht möglich waren. Aus dieser Auseinandersetzung mit seiner Beziehung zu mir, seiner Tochter und seinem Vater tauchte in ihm ein bildhaftes Verständnis für seine Rhythmusstörungen auf: »Es ist fast so, als würde jemand anklopfen und rufen: ›Ich bin auch noch da!‹« Ich kommentiere unmittelbar: »Hört mich denn keiner?!«, denn seine plastische Beschreibung hatte in mir ein Bild von jemand entstehen lassen, der in der Zelle eines Gemäuers sitzt – seiner Herzzelle, die über die Jahre übererregt und krank geworden ist. Was in der Situation eher intuitiv als Gedanke in mir entstanden war, verstehe ich im Nachhinein auch als Ausdruck meiner Position in der analytischen Situation mit ihm: Über Jahre hinweg hatte ich mich zurückgenommen und mich behutsam-vorsichtig bewegt, immer mit der Sorge, ihn verletzen zu können. Von Analysebeginn an hatte ich mich bereits von ihm in diese Position ganz im Sinne von Feldmans Konzept der Compliance hinein soufflieren lassen. Dementsprechend hatte ich mich auf ihn eingestellt und seine Versuche aufgenommen, mich zu kontrollieren und auf Abstand zu halten. Ich befand mich schließlich in einem gefangenen Zustand, in dem ich glaubte, mich nicht bewegen zu können, wie ich es wollte. Oft fühlte ich mich in den Stunden hilflos, zeitweise schwer, gelähmt und unfähig zu irgendeiner Aktivität. Meine Versuche, dies zu deuten, hatte er in aller Regel enttäuscht und verletzt zurückgewiesen, um © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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mir dann immer wieder klar zu machen, dass er sich nicht mehr in die Position des Hilflosen, über den man lacht, begeben kann. Dennoch trat in dieser Zeit eine entscheidende, wenn auch stille Wende ein. Denn er spürte, dass ich auf ihn reagierte, dass er etwas in mir auszulösen vermochte, was auch ihn beeinflusste. Über diesen Weg begann er, sich damit auseinanderzusetzen, dass es zum einsamen Spiel im Wintergarten das gemeinsame Spiel als Alternative gibt. Allerdings erschien ihm dieser Gedanke über lange Zeit sehr verwegen, so dass er ihn immer wieder verwerfen, relativieren musste. Mein Ausruf »Hört mich denn keiner?!« in der geschilderten Szene spiegelte somit unser beider Zustand. Herr B. weinte daraufhin unvermittelt, anders als sonst, unkontrollierter. Schließlich sagte er: »Es war ja alles gut zu Hause, aber irgendwie bin ich mit dem, was mich innerlich beschäftigte, allein geblieben. Ich glaube, ich habe dann auch dicht gemacht.« In der Analyse war es, als trete er aus dieser übererregten Zelle heraus und verlasse den psychosomatischen Boden des Originärprozesses; er zeigte sich mir in seiner ganzen Gestalt, als stattlicher Mann. Er hatte mehr als zehn Kilo Gewicht abgenommen, wirkte drahtig und beweglich, fühlte sich körperlich fit. Aber, und das ist entscheidend: All das wäre irrelevant, sähe ich es nicht; das Sehen gewann eine dem Hören ebenbürtige Bedeutung. Er spielte auf unterschiedliche Weise darauf an, ich nahm es wahr und vermittelte ihm das auch – so in etwa gestaltete sich die Interaktion zwischen uns in den kommenden Wochen, die ihn regelrecht aufleben ließ. Ausgesprochen überrascht reagierte er auf den Umstand, dass in diesem Kontext seine Rhythmusstörungen verschwanden. Fast ängstigte es ihn, denn sie gehörten zu seinem Leben. Sollte er jetzt auf diesen zwar regelmäßigen, aber schwächer wahrnehmbaren Rhythmus setzen? Mein Eindruck war, dass Herr B. sich aufgrund seiner Verbundenheit mit mir, die er körperlich spürte, dem annähern konnte, was ihn traumatisiert haben mag. Zumindest entstanden in den nachfolgenden Stunden Bilder und Vorstellungen davon, die zwar nicht mit den eigentlichen Traumatisierungen übereinstimmen müssen, weil diese sicher früher stattgefunden haben; aber wir erlebten einen ersten emotionalen Zugang zu ihrem Charakter und ihrer Wirkung auf Herrn B. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Bion beschreibt, wie oben erwähnt, seine Vorstellung von β-Elementen. Sie haben bekanntlich eine körperliche, eine seelische und eine soziale Dimension. Diese Definition hilft uns dabei, psychosomatische Krankheit immer »im Kontext gestörter Fühl-Denk-Beziehungsprozesse zu begreifen« (Rothhaupt, 1997, S. 140). Im analytischen Prozess kann deutlich werden, ob eine körperliche Erkrankung »selbst Ausdruck einer auf β-Elemente zurückzuführenden Dynamik ist, die auf Versagen der mütterlichen Alphafunktion hinweist« (S. 141). Dann ist die psychosomatische Erkrankung Ausdruck einer fehlenden Transformierung der β-Elemente in α-Elemente als Folge gestörter Fühl-/Denkbeziehungsentwicklung von Lebensanfang an. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass ein Mensch, der das symbolische Denken hinreichend entwickelt hat, krank wird und nun die Aufgabe hat, die mit der Todesangst einhergehenden β-Elemente psychisch zu integrieren. Britton beschreibt, dass β-Elemente zwar geistiger Natur sind, aber als beinahe physisch erfahren werden. Sie können nicht unterdrückt werden, sie können aber auch nicht integriert werden. Vor allem sind sie nicht für Träume oder Mythen (Narrative) zu verwenden. Also häufen sie sich an, wodurch sie einen starken Druck erzeugen, sie loszuwerden. Sie sind deshalb »something that has to be dealt with« (zit. nach Rothhaupt, 1997). Bion beschreibt diese Zusammenhänge für den psychotischen Zustand und auch für das Ausagieren. In Erweiterung von Bion beschreibt Britton eine dritte Möglichkeit: die Verlagerung von β-Elementen in den Körper. Dort beeinträchtigen sie entweder die konkrete körperliche Funktion selbst (Beeinflussung des körperlichen Funktionierens im psychosomatischen Sinn) oder aber sie beeinflussen die Wahrnehmung von körperlichen Funktionen und rufen auf diese Weise hypochondrische Ängste hervor. Dieses neue, auf Bion basierende psychosomatische Verständnis grenzt Britton gegen hysterische Konversion ab, die mit Symbolisierung einhergeht. Mit dieser Erweiterung gibt es also vier nebeneinander bestehende Möglichkeiten der Evakuierung von β-Elementen, auf die auch Rothhaupt (1997, S. 140 ff.) hingewiesen hat. ȤȤ die psychotische Verfassung, ȤȤ das Agieren, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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ȤȤ die psychosomatische Verfassung, ȤȤ die hypochondrische Verfassung. Dementsprechend kann das psychosomatische Symptom (genauso wenig wie das hypochondrische Symptom) auch nicht auf einer Symbolebene gedeutet werden. Die Ursache der psychosomatischen Symptomatik befindet sich nicht auf einem symbolisierungsfähigen Niveau, nicht transformierte β-Elemente und die mit ihnen verbundene Beziehungsdynamik sind symbolisierungsfern. Ein Patient, der nicht symbolisch denken kann, erlebt Interventionen, die Symbolisierungsfähigkeit voraussetzen, als misslingendes Containing, bei dem der Analytiker als schuldzuweisender, feindlicher Verfolger erlebt wird, was einen traumatisierenden oder retraumatisierenden Charakter bekommen kann. Schlimmstenfalls wird die analytische Arbeit als malignes Containing erfahren mit der Gefahr psychotischer Eskalation. Wie entfalteten sich nun diese Aspekte im psychoanalytischen Feld zwischen Herrn B. und seinem Analytiker weiter? In Annäherung an die erwähnten Traumatisierungen träumte er von einer Hochofenanlage, ähnlich wie die Heizanlage früher, zu Hause als Kind. Sie wurde von einem Heizer bedient. Aber im Traum wurden nun Menschen darin verbrannt. Er betrachtete das Geschehen wie unbeteiligt hinter einer dicken Panzerglasscheibe, beeindruckt von dem geordneten Ablauf: »Alle liefen paarweise in den Ofen.« Erst als ein kleiner Junge dran war, schrie er auf. Im Anschluss an den Traum dachte er an Judenvergasungen: »Das muss ähnlich gewesen sein. Einfach klingeln, zur Deportation wegschaffen und vergasen. Ich habe gelesen, dass die Deutschen, nachdem sie in Polen eingefallen waren, 50.000 Intellektuelle abgeknallt haben, um einem späteren Aufstand vorzubeugen; Vernichtung von Intelligenz, indem man klingelte und schoss, sobald sich die Tür öffnete!« Während ich4 ihm zuhörte, spürte ich, wie mein eigenes Herz plötzlich stolperte! Wie ein Peitschenknall durchzog mich eine »helle« schmerzhafte Körpersensation. Sie begann im Brustkorb und lief wellenförmig in meinen Hals, wo sie mir die Luft abschnürte. Todes4

Aus Gründen der Anschaulichkeit wieder in der Ich-Form geschrieben.

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angst stieg in mir auf. Sie breitete sich nur deshalb nicht aus, weil diese Körpersensation nun auslief. Sie erinnerte mich an den Zustand, den man spürt, wenn ein Zahnarzt mit dem Bohrer in die Pulpa einbricht, bevor man den eigentlichen Schmerz spürt. Dies war ein besonderer Moment zwischen Herrn B. und mir, den ich im Nachhinein als symmetrisch bezeichnen würde. Herr B. hatte mit seiner Schilderung das Panzerglas in mir durchschlagen, welches ich – auch im Kontakt mit dem Analysanden – vor meine eigene familiäre Vergangenheit in Nazideutschland hatte setzen müssen. Die genauen Zusammenhänge dazu erfuhr ich erst einige Monate später, aber Ahnungen davon hatte ich immer schon. Dass sie allerdings so unmittelbar mit den von Herrn B. zum Traum assoziierten Ereignissen in Polen zu tun hatten, war mir in diesem Moment noch nicht bewusst. Ohne dass ich ihm im Sinne einer konkreten self disclosure die Verbindungen zu meiner familiären Vergangenheit erläutern musste, deutete ich jetzt, er lasse mich spüren, wie lebenswichtig für ihn angesichts der Heftigkeit seiner emotionalen Eindrücke das Panzerglas war. Und dass er jetzt einen Zugang dazu herstelle, indem er die Verbindung zu seinem Körper insgesamt und insbesondere zu seinem Herzstolpern ziehe, was er aber zugleich als äußerst riskant erlebe. Wie kann man sich das Zustandekommen einer so konkreten und spezifischen, konkordanten Körpergegenübertragung erklären? Der Analytiker findet in seinem eigenen Körper eine genaue Widerspiegelung des Symptoms, unter dem der Analysand leidet, einen auf das Herz bezogenen, somatisierten, heftigsten Schreck, gefolgt von Todesangst, ein Stocken des Herzschlags als Ausdruck eines Todesschreckens. R. Money-Kyrle (1956) hat unser Verständnis für Blockaden im Prozess des Durcharbeitens in der Gegenübertragung beträchtlich erweitert. Heinz Weiß (2007) hat seine Gedanken aufgegriffen und weiterentwickelt. Mit diesen Überlegungen wird sowohl die Blockade (das Panzerglas) als auch das »Durchschlagen« durch die Blockade verständlicher. Nach Money-Kyrle projiziert der Patient Teile seines Selbst und seiner Objekte in den Analytiker, der diese Selbstanteile in sich aufnimmt und mit seinen eigenen inneren Objekten vergleicht. Durch diese introjektive Identifizierung kommt der Analytiker mit seinem © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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eigenen frühen Selbst wie auch mit den beschädigten inneren Objekten in seiner unbewussten Phantasie in Kontakt […] Die introjektive Identifizierung bildet die Grundlage für die Empathie und Einsicht des Analytikers (zit. nach Weiß, 2007, S. 183). Offenbar war dieser Vorgang über lange Strecken der Analyse partiell beeinträchtigt. Er durfte, den Überlegungen Feldmans zur Compliance als Abwehr entsprechend, keine Bedeutung erfahren. Der Analytiker wollte bewusst Herrn A., unbewusst aber auch sich selbst vor dem affektiven Wiedererleben der traumatisierenden Erfahrungen schützen. Beide hatten eine unbewusste Absprache miteinander, diese Konfrontation zu umgehen. Dass diese Entwicklung allerdings nicht nur im Dienst der Abwehr stand, sondern auch eine Entwicklung ermöglichte, zeigt der geschilderte Verlauf. Zur Erinnerung: Herr B. gewann in dieser Zeit allmählich einen emotionalen Zugang zu seinem Körper. Über das gemeinsame Spiel hat er darüber hinaus Musik und Rhythmus in dem gemeinsamen Prozess entstehen lassen, wodurch schließlich seine Herzrhythmusstörungen in der Analyse Bedeutung erhielten. Dennoch hat diese Beeinträchtigung den direkten Kontakt zwischen Analysand und Analytiker partiell behindert. Die Behinderung hat sich in dem bildlichen Eindruck einer Panzerglasscheibe verdeutlicht, ein Begriff, in dem immerhin schon das kriegerische Wort »Panzer« enthalten ist. Auch Hanna Segal spricht davon, dass unerträgliche Beziehungsaspekte in Form von bizarren Objekten passager in einen dritten Bereich abgespalten, sozusagen ausgelagert werden können, um so eine – allerdings eingeschränkte – Beziehung zwischen Analysand und Analytiker aufrechterhalten zu können (vgl. 1983, S. 81). Weiß unterscheidet eine erste Phase der Anheftung der projektiven Identifizierung von einer zweiten Phase ihres Eindringens in das Innere des Analytikers. Diese zweite Phase war über lange Zeit erschwert. Offenbar hatte der Analytiker eine Art immunologische Barriere, wie Weiß es nennt, ausgebildet, die das Eindringen der projektiven Identifizierung verhindert oder zumindest verlangsamt hat. In einer dritten Phase verbindet sich, so Weiß, die Projektion mit einem inneren Objekt des Analytikers und kann im günstigen Fall unter Zuhilfenahme der inneren Eltern des Analytikers von dessen inneren Objekten wieder abgelöst, verstanden und gedeutet werden. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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In der vorliegenden Situation trat die eingedrungene Projektion allerdings mit sehr archaischen, bisher nicht affektiv durchgearbeiteten Teilen der inneren Objekte des Analytikers in Verbindung. Gleichzeitig stand dem Analytiker in dieser Situation kurzfristig kein hilfreiches inneres Elternpaar zur Verfügung; es dauerte eine Zeit, bis er zu seinen inneren analytischen Elternobjekten Kontakt aufnehmen konnte. In dieser Zeitspanne war er einem Affektsturm ausgesetzt, der symmetrisch zum Affektsturm des Analysanden in dessen Traum war. Auf diese Weise hat er nun die unmittelbare Gewalt der stillen, aber traumatisierenden Erfahrungen, denen der Analysand als Kind ausgesetzt war, unmittelbar am eigenen Leib erlebt. Das war nur möglich, indem sein eigenes familiäres Panzerglas durchbrochen wurde und sich dann mit der Erinnerung emotional verbinden konnte. Diese Sequenz verdeutlicht, dass sich nicht nur der Analysand, sondern auch der Analytiker dem Unerträglichen nähern, sich auf die Konfrontation damit vorbereiten muss. Der in der Gegenübertragung erlittene Todesschreck hat auf diese Weise jedoch den Prozess des Durcharbeitens in der Gegenübertragung wieder in Gang gesetzt. Ein wesentlicher Aspekt scheint uns nun darin zu bestehen, dass die Projektionen des Patienten offenbar ein sehr archaisches körpernahes Element enthielten. Man könnte sich damit begnügen, diesen Anteil mit dem Begriff β-Element zu belegen. An dieser Stelle möchten wir aber auf den Begriff des Piktogramms von Aulagnier zurückkommen. Anders als bei einem Symbol im Sinne Hanna Segals und als bei einem α-Element im Sinne Bions handelt es sich beim Piktogramm um eine Verbindung von körpernahem Affekt des Babys, der Lust an einer Körperzone, mit dem bejahenden Blick der Mutter, der dem Baby hilft, diese Affektsensation libidinös zu besetzen und entsprechend zu begreifen. Unlusterfahrungen im Baby oder eine verleugnende Haltung des mütterlichen Objekts (zum Beispiel ein abweisender Blick) führen zu Fragmentierungsimpulsen, die zur »Auslöschung« bestimmter Körperzonen (zit. nach Leiser, 2007, S. 133) und damit einhergehend zur psychischen Verstümmelung führen können. Die vom Analysanden in den Analytiker projizierten Inhalte hatten eine gemischte Zusammensetzung und enthielten auch sehr bedrohliche elterliche Zerstörungsanteile. Diese hatten offensichtlich in früher Zeit die Wissbegier des Patienten, aber genauso © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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auch die des Analytikers mit Todesangst bedroht, einer Todesangst, die sich in die Zone des Herzens wie ein böses Objekt eingenistet und eine böse Zone ohne stabilen emotionalen Rhythmus hervorgebracht hat. Diese Überlegungen sind natürlich sehr modellhaft dargestellt. Solche Denkmodelle können aber helfen, sich eine gewisse Vorstellung von den subtilen psychosomatischen Beziehungsvorgängen zu machen. Vereinfacht könnte man sagen, dass der Todesschreck eine geteilte Erfahrung von Analysand und Analytiker geworden ist, die durch die Berührung der projektiven Identifizierung mit den archaischen Objekten im Analytiker und dessen beschädigtem kindlichen Selbst in der Gegenübertragung freigesetzt werden konnte. Diese traumatischen Anteile konnten nun in Gegenübertragung und Übertragung durchgearbeitet und integriert werden, wodurch die Analyse eine wesentliche Vertiefung erfuhr. In seiner Reaktion machte der Analysand klar, wie sehr er sich zwar in der Analyse gehalten fühlte, aber wie gefährdet er sich zugleich erlebte: »Es ist wie bei einer tektonischen Verschiebung von Erdplatten.« Besorgt fragte er sich immer wieder, ob ich all das ertrage. Denn für ihn war es so, als finde er aus einer Erstarrung heraus: »Es ist wie bei einem 90-jährigen Bekannten. Der erzählte mir kürzlich, wie er als einer der wenigen bei minus 40° Celsius während eines Eissturms, erstarrt auf dem Pferd sitzend, aus Russland herausfand.« Wir sehen in diesem Einfall eine erste Transformation des unerträglichen Todesschreckens im Sinne der erwähnten, von Weiß beschriebenen Reintrojektion des Patienten. Er konnte die Erzählung seines Bekannten emotional besetzen und sich als Reaktion auf die Bemerkung des Analytikers zum Panzerglas daran erinnern. Gerade mit dieser letzten Bemerkung wies Herr B. auf die Erstarrung seines emotionalen Containers hin, durch die es ihm unmöglich geworden war, die in ihm entstehenden β-Elemente, also das körpernahe Rohmaterial des psychischen Erlebens, auf eine integrative Weise zu verarbeiten. Es waren keine ausladenden, massiven Traumatisierungen, die ihn erstarren ließen, vielmehr Erfahrungen, die in aller Stille, gewissermaßen ohne großes Aufheben stattfanden. Er konnte sich auf diese Weise intellektuell weit entwickeln, und letztlich ist auch sein emotionaler Container nicht gänzlich einge© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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froren. Schließlich erschloss er sich ein soziales und familiäres Feld, welches eine ausgeprägte emotionale Erlebens- und Handlungsfähigkeit voraussetzt. Aber sobald er selbst ins Zentrum dieses Felds geriet und seinerseits auf ein Gegenüber traf, das sich nicht ausschließlich angewiesen auf ihn fühlte und das sich gemeinsam mit ihm unbekannte, neue Beziehungserfahrungen erschließen wollte, schien er sich bedroht zu fühlen. Dann stieg er in sein im Traum beschriebenes Fahrzeug mit der hauteng anliegenden harten Schale, das mit dem beschriebenen, technisch hoch entwickelten Frühwarnsystem ausgestattet war, auch wenn es nur einen schmalen Schlitz für Wahrnehmen und Fühlen zuließ. Als seine erste Analytikerin erkrankte, wurde dieser Modus funktionsuntüchtig. Es war, als sei eine zusätzliche wichtige Bastion gefährdet, ein nach außen verlagerter Anker, der zur Aufrechterhaltung seines Gleichgewichts von großer Bedeutung war. Denn die Analytikerin hatte eine auch väterliche Funktion für ihn, wie sie der leibliche Vater nicht hatte ausfüllen können. Herr B. fühlte sich im Herzen getroffen, ganz in Identifizierung mit dem Vater, der an einer akuten Herzattacke starb, sowie mit seiner früheren Analytikerin, die eine solche überlebte. Der Hilferuf – so könnte man meinen – erstarb Herrn B. gewissermaßen auf den Lippen, als er durch früheres heimatliches Gebiet zu einer Veranstaltung fuhr, auf der er auch seine Analytikerin treffen wollte. Er schilderte diese Fahrt als traumähnliches Erlebnis, während welchem er plötzlich erstmalig seine Herzrhythmusstörungen und damit verbunden Panik spürte. Vermutlich erfuhr Herr B. die in dieser Situation auftauchenden emotionalen Erfahrungen als β-Elemente, die er nur noch im Sinne der symbolischen Gleichsetzung verarbeiten konnte. Wie von Aulagnier für den Originärprozess beschrieben, reagierte er konkret körperlich mit dem Herzen und wies damit auf früheste Beeinträchtigungen während der Phase der Rhythmusfindung in der Begegnung mit der Welt hin. Rodulfo betont in diesem Zusammenhang explizit die Bedeutung der mütterlichen Zuwendung, weshalb die Subjektwerdung über den Körper auch in seinem Ansatz immer schon intersubjektiv zu verstehen ist: Die mütterliche Berührung setzt den Prozess in Gang, dem das Kind durch seine sensorische Wahrnehmungsfähigkeit in © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Verbindung mit seiner libidinösen Erregbarkeit entgegenkommt. Dabei ereignet sich eine doppelte Spiegelung. Zum einen zeichnet das Kind »mit Augen und Mund und später mit seinen Händen das Gesicht und den Körper der Mutter nach und baut sich aus dem dabei zusammengestellten Material Element für Element sein eigenes Gesicht und seinen eigenen Körper auf« (zit. nach Leiser, 2007, S. 148). Zum anderen »hilft die Mutter, indem sie liebkosend mit Augen, Mund und Händen den Körper des Kindes durchgeht, beim Einzeichnen seiner Gesichtszüge und Körpermerkmale« (S. 148). Der physische Stoffwechsel, wie zum Beispiel beim Stillen, dient somit als Grundlage für eine erste Verbindung mit der Welt und lässt über die ersten Einschreibungen von Zeichen, die körperlich geprägt sind, das Psychische entstehen. Dadurch bedingt kommt der Säugling allmählich in die Lage, sich durch Imagination und Phantasietätigkeit im Primärprozess auszudrücken, der schließlich in den Symbolisierungsvorgang des Sekundärprozesses einmündet. Dieses Konzept von Symbolbildung basiert auf einer libidinösen Anwesenheit des Objekts und unterscheidet sich dadurch ganz grundsätzlich von den Konzepten Bions und Segals wie auch von denen Aulagniers, die auf der Abwesenheit des Objekts fußen und bei denen gerade das spezifische Fehlen des Objekts die Symbolisierung in Gang setzt. Darüber hinaus scheint Bion bei der Entwicklung der α-Funktion mehr die projektiven Vorgänge im Kind zu betonen: Die β-Elemente werden vom Kind projiziert, von der Mutter introjiziert, transformiert, reprojiziert und dann vom Kind introjiziert. Ganz beträchtlich unterscheidet sich davon das Bild, das uns Rodulfo von den frühesten Vorgängen im Kind vermittelt. Denn seine Beschreibung erzeugt den Eindruck, als würde sich das Kind aktiv etwas aneignen, Löcher5 machen und das so introjizierte Material – natürlich in Passung mit dem gelöcherten Objekt – in sein werdendes Selbst einbauen, Collagen formen. Zeitweise ist demnach der Säugling auf die primäre Versorgung durch das Objekt angewiesen. Zu anderen 5

Die Umgangssprache kennt ja die Neigung von kleinen Kindern, den Eltern »Löcher in den Bauch zu fragen«. Hier handelt es sich zwar um einen wesentlich späteren Entwicklungszeitpunkt, aber der Vorgang scheint ähnlich zu sein.

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Zeiten spielt offenbar die geschilderte spezifische Form der introjektiven Aneignung eine wichtige Rolle. Der Säugling forscht dann sozusagen auf introjektive Weise am Objekt. Demnach scheint es also nach diesem Modell bereits eine primordiale transformatorische Aktivität im Kind zu geben. Dagegen entwickelt sich, folgt man Bions Gedankengang, genau diese transformatorische Qualität erst in einer langen Abfolge projektiver und introjektiver Zyklen. Vergleichbare Vorgänge ereigneten sich im Analyseverlauf zwischen Herrn B. und dem Analytiker. Wir erinnern an den spielerischen Umgang beider mit der »Begreifung« ihrer Körper im Sinne des Spiegelns als Zeichen des Primärprozesses, wobei auch der musikalische Grundrhythmus an Bedeutung gewann. Nach längerer Zeit des Durcharbeitens spielte sich schließlich die folgende Szene zwischen beiden außerhalb der Stunde ab: Der Analytiker saß lesend auf dem nahegelegenen Universitätsgelände und betrachtete hin und wieder eine mitten auf dem Campus aufgestellte Skulptur. Nach geraumer Zeit sah er Herrn B. in einiger Entfernung von sich sitzen; auch er betrachtete die Skulptur, die eine Säule aus quaderförmigen Felsblöcken darstellt. Kurz schauten sich die beiden an und winkten sich zu. Später in der Stunde kommentierte Herr B. diese Situation mit den Worten, er habe, als er den Analytiker dort habe sitzen sehen, auch den Wunsch verspürt, die Skulptur zu betrachten. Die Vorstellung, sie beide seien in den gleichen Vorgang vertieft, wobei jeder neben der gleichen Wahrnehmung etwas Eigenes in sich entstehen lasse, habe ein bislang nicht gekanntes Glücksgefühl in ihm entstehen lassen. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist das, was Rodulfo Differenz nennt: Herrn B.s Erfahrung, dass beide etwas Gleiches und doch unterschiedlich wahrnahmen. Auf diese Weise waren sie miteinander verbunden und doch voneinander unterschieden. In der geschilderten Szene wie auch im gemeinsamen Spiel hat die Passung zwischen ihnen gestimmt; dieser zentrale Aspekt ist auch für Rodulfo von Bedeutung. Er schreibt dazu, die Liebkosung der Mutter, die dadurch den Einschreibvorgang anrege, müsse auf bestimmte Weise strukturiert, das heißt stimmig sein (zit. nach Leiser, 2007, S. 150). Bleibe allerdings diese Erfahrung aus, so dass auch das Befriedigungserlebnis ausbleibe oder verloren gehe, könne der Einschreibvorgang nicht stattfinden, was zu psychosomatischen Symp© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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tomen führen könne. Das Ergebnis sei ein von Negativität gezeichneter Körper, weshalb auch das Seelenleben in seiner Entwicklung stecken bleibe. Herr B. musste sich panzern und, wie erwähnt, sich selbst wie auch seine Umgebung in einen mechanisch anmutenden Rhythmus »einstielen«. Rodulfo weist allerdings auf einen weiteren notwendigen Aspekt neben der liebevollen Zuwendung zum rechten Moment hin, damit die Passung gelingen kann. Er bezeichnet ihn als hartes Element (S. 155 ff.) und meint damit, dass das Kind die mütterliche Zuwendung auch als ausreichend konsistent erfahren – und ihr ebenso begegnen müsse. Erneut greift er zur Illustration dessen auf den Stillvorgang zurück: Die Brust könne sich dem Säugling nicht nur als schwabbelndes Etwas anbieten. Vielmehr spanne sich die Muskulatur des mütterlichen Körpergewebes an, so dass sich der – ebenfalls muskulär gespannte – Mund des Babys in die Brust pressen könne. Auf diese Weise sei der Säugling in der Lage, konkret körperlich und damit auch piktografisch umsetzbar, den mehrfach beschriebenen Einschreibvorgang vorzunehmen. Das harte Element stellt demzufolge eine für das psychische Wachstum notwendige Bedingung dar. Auch jetzt greift Rodulfo zur Erläuterung des Psychischen auf einen körperlichen Vorgang zurück, indem er darauf hinweist, das Kind benötige die Erfahrung mit dem harten Element, um sich dadurch zum aufrechten Gang hin entwickeln zu können. Nur so sei es ihm möglich, die Vorstellung eines eigenen Rückgrats oder seiner Wirbelsäule zu entwickeln, um die herum er ein unbewusstes Bild seines Körpers zusammenfügen zu können. Bezogen auf Herrn B. findet sich dieses harte Element ebenfalls im gemeinsamen Spiel: Unter anderem über das Begreifen des Körpers seines Analytikers, dessen Kopf er auch als harten WestfalenSchädel bezeichnete, konturierte sich sein eigener Körper. Schließlich verinnerlichte er die Steinsäule auf dem Campusgelände symbolisch: Wie eine Wirbelsäule wurde sie zum Dreh- und Angelpunkt, um den herum sich in Herrn B.s Vorstellung das gesamte studentische Treiben ereignete und die sich in der gemeinsamen Szene mit seinem Analytiker zu ihrem gemeinsamen und doch voneinander unterschiedenen Mittelpunkt transformierte. Sie symbolisierte Gemeinsamkeit, Individualität und schöpferische Kreativität zugleich! © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Man kann nicht sagen, dass Herr B. vor der Analyse seinen Körper in der Gänze unbewohnt gelassen hätte, er hatte sich ja zu einem stattlichen Mann mit einiger Reputation entwickelt. Und dennoch weist der eingangs erwähnte Traum von dem Jungen mit einer Körperkonsistenz von Marshmallows darauf hin, dass ihm für eine sichere Wechselwirkung in der Begegnung mit seinen Bezugspersonen das so wichtige harte Element nicht sicher zur Verfügung stand. Es konnte auch nicht in ihm selbst entstehen; stattdessen schützte er das Weiche in sich mittels einer von außen kaum wahrnehmbaren und doch rigide harten Schale, die im Autotraum sichtbar wird. Im Unterschied zum harten Element ist diese harte Autoschale rigide und mechanisch-unemotional. Wie schwer es für ihn war, emotional offen im Kontakt mit anderen zu sein, offenbarten sein über lange Zeit von mir als hölzern erlebter Händedruck und seine vorsichtige Annäherung an das vierstündige Setting. Die Bezeichnung unbewohnbar soll einen von Angst geprägten Zustand beschreiben, da der Körper von Herrn B. mit unverdauten β-Elementen angefüllt war und er ihn deshalb in der Tiefe meiden musste. In der Angst um seine erste Analytikerin, die beinahe das Schicksal seines Vaters geteilt hätte, entwickelte Herr B. auf der Fahrt zu dieser seine Rhythmusstörungen. Sicherlich war es eine namenlose Angst, die ihn in ihrer Unerträglichkeit auf die Verarbeitung im Originärprozess zurückgreifen ließ. Es ist ja die früheste Erlebensstufe, in welcher der Säugling unmittelbar körperlich reagiert, wobei der dazugehörige Affekt im betroffenen Organ bzw. der organischen Funktion gerinnt. Bemerkenswerterweise traten die Rhythmusstörungen nach der oben beschriebenen Wende bis zu ihrem völligen Verschwinden in Abständen weiter auf, wenn auch deutlich seltener und ohne den bedrohlichen Charakter von einst. Wie er jetzt zunehmend entdeckte, meldeten sie sich allerdings nicht mehr in Situationen, in denen er sich verlassen fühlte, sondern dann, wenn er freudig erregt oder aufgeregt war. Rodulfo spricht in diesem Zusammenhang von der notwendigen phobischen Funktion, die das Kind durchlaufen müsse, und grenzt sie von der pathologischen phobischen Neurose ab. Es ist die Angst vor der eigenen Kraft und vor allem Bewegungslust, ähnlich wie es von Herrn B. beschrieben wurde. Vermutlich begann sein Herz © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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auf dem Weg zur emotionalen Belebung jetzt angesichts der ersten libidinösen Besetzung des bisher gemiedenen Körper-Raums zu stolpern. War dieser ihm bislang als fremd erschienen, sozusagen als extraterritorial im Off der äußeren Realität, so repräsentierten die Kapriolen seines Herzens in dieser Phase »die ersten Landemanöver auf dem wiederentdeckten Planeten«: Wegen der noch ungewohnten Anziehung geriet er ab und zu ins Stolpern. Im Laufe der Analyse kam es dazu, dass Herr B. seinen Körper zunehmend bewohnte und ihn nicht mehr als »extraterritorial« empfinden musste. Oder, um auf das vorangestellte Bion-Zitat zurückzukommen: Die Analyse ermöglichte in einem langen Prozess, sich der »Heirat zwischen diesem Patienten und ihm selbst« anzunähern. Literatur Abraham, K. (1919). Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik. Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse 5, 173–180. Auchter, Th. (1994). Die Entwicklung des Wahren Selbst und des Falschen Selbst. PsA-Info 42/94, 54–73. Bion, W. R. (1962). Learning from experience. London: Karnac. (Deutsch: Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990) Bion, W. R. (1987). Clinical seminars and four papers. Ed. by Francesca Bion. London: Karnac. Büntig, W. (1982). Das Werk von Wilhelm Reich und seinen Nachfolgern. In Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 3 (S. 254 ff.). Weinheim: Beltz. Edelman G. M. (1987). Neural Darwinismus. The theory of neural group selection. Basic Books, Inc. Publishers: New York. Feldman, M. (1998). Compliance als Abwehr. In R. Britton, M. Feldman, J. Steiner: Identifikation als Abwehr (S. 83–109). Tübingen: Edition diskord. Ferro, A. (2009) Transformations in dreaming and characters in the psychoanalytic field. Hauptvortrag (key note paper) auf dem 46. IPV-Kongress »Praxis der Psychoanalyse: Angleichungen und Unterschiede« (Chicago, 29. Juli – 1. August 2009). Leiser, E. (2007). Das Schweigen der Seele, das Sprechen des Körpers. Gießen: Psychosozial. Lombardi, R. (2009). Der Körper in der analytischen Sitzung. In A. MaussHanke (Hrsg.), Internationale Psychoanalyse (S. 51 ff.). Gießen: Psychosozial. McDougall, J. (1991/1998). Theater des Körpers. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse. Rothhaupt, J. (1997). Beta-Elemente und körperliches Leiden. In R. Kennel und G. Reerink (Hrsg.), Klein – Bion. Tübingen.

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Von der äußeren zur inneren Realität Aus der psychoanalytischen Behandlung eines hirngeschädigten Patienten oder: Der Schatten des Phineas Gage

Neurowissenschaft und Psychoanalyse – zwei Seiten einer Medaille? Die neurowissenschaftliche Erkundung geschädigter und gesunder Hirnareale hat der psychoanalytischen Forschung Hinweise auf die anatomischen Korrelate mancher ihrer Konzepte geliefert. So ist zum Beispiel bei bilateraler Läsion des ventromedialen Quadranten des Vorderhirnlappens das Überwiegen der inneren über die äußere Realität unübersehbar. Solms und Turnbull (2002) beschreiben Patienten mit derartigen Schäden, deren Drang nach »Wunscherfüllung« (ein psychoanalytisches Konzept) als Quelle vielfältiger und nicht korrigierbarer Verwechslungen von Personen, Gegenständen, Ort und Zeit ausgemacht wird – in einem Gehirn, dessen Schädigung im Frontalbereich (ein neurologischer Befund) offenbar zur Freisetzung dieses Verhaltens führt. Der von der Psychoanalyse beschriebene Primärprozess mit seiner Beweglichkeit der Besetzung, der Toleranz von Widersprüchen und Zeitlosigkeit entfaltet sich hier ungehemmt und dominiert das Verhalten dieser Patienten. Anders gesagt, die Schädigung dieses Hirnareals hat regelmäßig den Wegfall von Ich-Funktionen zur Folge, die das Verhalten steuern und es an der (äußeren) Realität und den verinnerlichten Werten (Erziehung) ausrichten – Realitätsprüfung und Selbstreflexion sind in bestimmten, besonders den sozialen Bereichen eingeschränkt oder aufgehoben. Der Patient verhält sich anders als vor der Hirnschädigung. Aber ist er auch ein anderer? Berühmtestes Beispiel dieser Art von Verletzung dürfte der Eisenbahnarbeiter Phineas Gage sein, dessen Krankengeschichte immer wieder dokumentiert und diskutiert wurde (Harlow, 1868; Damasio et al., 1994; McMillan, 2002). Der 25-jährige Mann war Vorarbeiter eines Sprengkommandos der amerikanischen Rutland-and-Burling-

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ton Eisenbahngesellschaft und im Jahr 1848 bei Cavendish, Vermont, damit beschäftigt, eine Sprengladung im Fels anzubringen. Damals stopfte man den Sprengstoff mit einer Eisenstange von etwa einem Meter Länge in vorgebohrte Löcher, um ihn zu verdichten und dann das Loch mit Sand aufzufüllen. Bei dieser Tätigkeit explodierte die Ladung vorzeitig, die angespitzte Eisenstange durchschlug den Schädel von Phineas Gage unterhalb der linken Augenhöhle und trat etwas rechts von der Scheitellinie am Schädeldach wieder aus. Große Teile seines Vorderhirns waren zerstört (für eine Rekonstruktion des wahrscheinlichen Schädigungsverlaufs und Ausmaßes siehe Damasio et al., 1994). Er überlebte den Unfall, doch veränderte sich nach den Beschreibungen seiner Zeitgenossen seine vormals gutmütige und gesellige Persönlichkeit in die eines rechthaberischen, aufbrausenden und pöbelhaften Menschen – »Gage was no longer Gage« (Harlow, 1868). Nach etwa dreieinhalb Jahren schien sich dieses Bild jedoch wieder in Richtung der prämorbiden Persönlichkeit zu verändern. Auf die Details soll hier nicht eingegangen werden. Wichtig ist aber der Wandel von der prämorbiden zur postmorbiden Persönlichkeit; denn neurologische Schädigungen dieser Bereiche rufen eine Veränderung im Verhalten hervor, die ohne Kenntnis des Zustandes quo ante nicht zu werten wäre. Man spricht in einem solchen Fall von einem Frontalhirnsyndrom. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Hirnschädigung, Persönlichkeitsstruktur und psychoanalytischer Methode. Verändert sich die Persönlichkeit eines Menschen durch eine Hirnschädigung? Ist der Mensch nach einer Hirnschädigung in seiner Gesamtheit oder (nur) in bestimmten Bereichen ein anderer als vorher? Welche Bedeutung kommt einer Hirnschädigung im Rahmen des psychotherapeutischen Prozesses zu? Greifen die psychoanalytischen Vorstellungen über den psychischen Apparat auch dann, wenn der organische Apparat des Psychischen, das Gehirn, geschädigt ist und es dadurch zu Verhaltensänderungen kommt? Wie kann das nachweislich neurologisch ausgelöste Erscheinungsbild psychoanalytisch konzeptualisiert werden? Wie geht ein Psychoanalytiker mit einem Patienten um, der eine solche Schädigung mit entsprechender Verhaltensänderung aufweist? Diese Fragen berühren dabei einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Neurowissen© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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schaft und Psychoanalyse, obwohl beide für sich unterschiedliche Forschungs- und Wissensbereiche mit jeweils eigenen Theorien und Konzepten sind. Der Zusammenhang von Hirnschädigung und Verhaltensänderung wirft nämlich einige interessante Fragen auf. Eine davon ist zum Beispiel, wie – neurowissenschaftlich – zu erklären ist, dass es auch ohne grobe anatomische (geschweige denn traumatische) Veränderungen in diesen Gebieten zu einem Verhalten kommen kann, das die oben beschriebenen Charakteristika aufweist. Ungehobelte Verhaltensweisen gibt es schließlich auch ohne Hirnschädigung. Zum Beispiel geht man aus neurowissenschaftlicher Sicht davon aus, dass die anatomischen Veränderungen in der Hirnreifung während der Pubertät Ursprung ähnlicher Verhaltensauffälligkeiten sind; man spricht aber nicht von einer pathologischen Veränderung der Hirnstruktur, zumal das Verhalten in aller Regel reversibel ist. Das Ungestüme der Pubertätsjahre ist ein ubiquitäres Phänomen. Untersuchungen von Panksepp (1998) identifizierten fünf neuronal verankerte Emotionssysteme: seeking (Neugier), rage (Wut), fear (Angst), care (Fürsorge) und panic (Verzweiflung). Diese sind individuell unterschiedlich dominant und haben nach Panksepp Einfluss auf den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt. Ein physiologisch stark ausgebildetes Wutsystem kann so in bestimmten Situationen grundlegend am Zustandekommen eines Verhaltens beteiligt sein, das als pathologisch bezeichnet werden würde, ohne dass man eine Schädigung des Frontallappens annehmen muss. Man wird erinnert an die klassischen Kategorien des Sanguinikers, Cholerikers und Melancholikers. Untersuchungen an Menschen mit antisozialer Persönlichkeit (Buckholtz et al., 2010) zeigen Veränderungen im Dopaminstoffwechsel, der im sogenannten Belohnungssystem eine wichtige Rolle spielt. Diese Menschen nehmen sich, was sie wollen, ohne die Konsequenzen für ihre Opfer zu berücksichtigen. Augenscheinlich ist eine physiologische Variation ein entscheidender Faktor im Umgang mit der äußeren Realität. Gehirnstrukturen haben also Einfluss auf das Verhalten. Aber auch hier bleibt die Frage, wie ist diese Art von Verhalten zu verstehen? Ist zum Beispiel eine – psychoanalytisch gesehen – traumatische Kindheit Ursache eben dieser physiologi© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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schen Hirnstoffwechselstörung? Oder ist es umgekehrt? Die zitierten Untersuchungen können meines Erachtens nur das Faktum als solches darstellen. Diese Konzepte haben etwas Statisches an sich, obwohl sie implizit postulieren, dass die Wahrnehmung der Welt durch die genetische Disposition bestimmt wird und somit auch die resultierenden Reaktionen. In der Psychoanalyse spielt die genetische Disposition eine eher kleine Rolle. Hier werden die Reaktionen eines Menschen als ursächlich in seiner psychischen Entwicklung verankert. Je nachdem, wie die verschiedenen, zuerst von Sigmund Freud und später von anderen Psychoanalytikern erforschten und konzeptualisierten Entwicklungsphasen durchlaufen werden, ergeben sich erst Dispositionen. Es übersteigt den Rahmen dieser Arbeit, eine detaillierte Beschreibung dieser Konzepte zu geben. Angemerkt sei, dass Freud sich besonders auf die sexuelle Entwicklung (orale, anale, urethrale und phallische Phase) konzentrierte und sein Entwicklungskonzept um die autoerotische bzw. narzisstische Phase erweiterte. Anna Freud und Melanie Klein beschäftigten sich besonders mit der Entwicklung des Kleinkinds. So formulierte Melanie Klein mit der »paranoid-schizoiden« (PS) und der »depressiven Position« (D) zwei grundsätzliche »Seinszustände«, die in stetem Wechsel die jeweilige Haltung des Individuums zur Welt bestimmen. In der paranoid-schizoiden Position herrschen projektive Mechanismen vor, die die Welt als feindselig erscheinen lassen. So wird der Säugling seine Wut über Frustration in die versorgende Umwelt projizieren und Vergeltung für seine aggressiven Phantasien fürchten. Erst in der depressiven Position, wenn er gelernt hat, dass die versorgende Person ein und dieselbe Quelle für gute und schlechte Erfahrungen ist, kann er Sorge um das Objekt empfinden, das er eben noch zerstören wollte, und damit seine Bedürftigkeit und Abhängigkeit akzeptieren – er will das »gute« Objekt schützen. Je nachdem, wie verständig die Primärobjekte (in der Regel die Eltern) mit den frühen Ängsten und Bedürftigkeiten des Kindes umgehen, wird sich eine Tendenz ausbilden, welche Position im späteren Leben tendenziell vorherrschen wird. Diese Sichtweise des Menschen ist dynamisch, das heißt entwicklungs- und situationsorientiert. Damit ist auch gesagt, dass Erfahrungen, also emotional bedeutsame Ereignisse, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Menschen verändern können: Sie haben die Chance, aus Erfahrung zu lernen, gerade weil ihre Dispositionen veränderbar sind. Ich komme gleich darauf zurück. Aus psychoanalytischer Sicht reichen die neurowissenschaftlichen Befunde nicht aus, um eine Konzeptualisierung der Motivationslage für ein bestimmtes Verhalten zu liefern. Dies ist vornehmlich Bereich psychoanalytischer Forschung. Mit anderen Worten, psychisches Erleben (die innere Realität) bedient sich der funktionellen Exekutive (Motorsystem), um die äußere Realität zu beeinflussen. In welcher Weise und in welchem Maße die äußere Realität, wozu auch das Gehirn zählt, wiederum Einwirkungen auf das psychische Erleben und damit auf das Verhalten hat, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Pathologische Veränderungen von Hirnstrukturen sind dabei nur ein kleiner Teil. Der Einfluss der Primärpersonen (die ebenfalls zur äußeren Realität gehören), im weitesten Sinne also der Austausch mit der Umgebung (Edelman, 1987, 1988, 1989, 1992) während der psychischen Entwicklung, hinterlässt seine Spuren in der Gehirnstruktur und im Werden der Persönlichkeit. Man spricht von »embodiment« oder »embodied mind« (Edelman, 1987, 1992). Das ist die neurophysiologische Basis der Psychoanalyse. Dabei verläuft der Prozess des Werdens in beide Richtungen. Die in den letzten Jahren stärker ins Visier der Forschung geratene neuronale Plastizität des Gehirns (Doidge, 2008) spielt bei der Reversibilität von Verhaltensauffälligkeiten eine wichtige Rolle. Norman Doidge beschreibt dies in seinem Buch für neurologische Störungen, ohne allerdings explizit psychopathologische Verhaltensmuster einzubeziehen. Neuroplastizität dürfte aber mit großer Wahrscheinlichkeit ein wichtiger Faktor psychotherapeutischer Behandlungen sein. Dass Menschen sich nach Psychotherapien »anders« fühlen, muss Veränderungen im Zusammenspiel verschiedener Hirnmechanismen entsprechen, die mit bildgebenden Verfahren ja bereits nachgewiesen wurden (Roffman, 2005; Linden, 2006; Kumari, 2006; Beauregard, 2007; Beutel et al., 2010; Northoff, 2011; für eine Literaturübersicht siehe auch Grawe, 2004). Die Auseinandersetzung mit den eingangs gestellten Fragen könnte somit auch Rückschlüsse darauf erlauben, was bei Psychotherapien im Gehirn geschieht. Denn einmal geschädigtes Hirngewebe kann nicht repariert werden. Sehr wohl kann es © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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aber über die Neubildung von Neuronen und Synapsen zu einer Umgehung des geschädigten Bereichs kommen und zu einer Wiederherstellung der ausgefallenen Funktion führen – wenn auch über einen Umweg. Was also macht psychoanalytische Methodik mit einer Persönlichkeit, die sich durch ein geschädigtes Gehirn anders verhält als vorher? Diese Frage möchte ich an einem Fallbeispiel etwas näher erörtern.

Klinisches Material Bei meinem Patienten, dem jetzt 64-jährigen Herrn A., kam es ein Jahr vor Behandlungsbeginn zu einer plötzlichen Blutung im Frontalhirn. Dank schneller Hilfe überlebte er. Die Rekonvaleszenz war langwierig, jedoch sehr erfolgreich: Es blieben keine funktionellen Defizite zurück; die Beeinträchtigungen durch gelegentliche Konzentrationsschwierigkeiten, ein schwaches Kurzzeitgedächtnis sowie Koordinations- und Orientierungsstörungen hielten sich in erträglichen Grenzen. Die einsetzenden psychopathologischen Auffälligkeiten jedoch erschreckten seine Umgebung zutiefst: Zum einen verstärkte sich seine schon vor dem Insult sprichwörtliche Antriebslosigkeit extrem. Zum anderen begann er, fast täglich Wettbüros aufzusuchen und auf Pferderennen zu wetten. Seine Lebensgefährtin machte ihm schwere Vorhaltungen ob seines Verhaltens, da sie finanzielle Komplikationen befürchtete. Alle Argumente hatten jedoch keine Auswirkungen auf sein Verhalten. Im Gegenteil, wie ein trotziges, uneinsichtiges Kind bestand Herr A. darauf, er sei ein freier Mensch und man solle ihn gewähren lassen.1 In Gesellschaften fiel auf, dass er schnell aufbrausen konnte und unter Umständen peinliche Äußerungen machte. Trotzdem blieb er über Strecken auch der liebenswürdige, angenehm plaudernde und höfliche Mensch, der er vor seiner Erkrankung gewesen war. Auf Betreiben seiner Partnerin suchte er schließlich einen psychiatrischen Kollegen auf, der ihn zu mir schickte. 1

Harlow (1868, S. 339; zit. nach McMillan, 2002) schreibt über Phineas Gage: »impatient of restraint or advice when it conflicts with his desires, at times pertinaciously obstinate« (Hervorhebung K. R.).

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Als ich den Bericht über ihn hörte, fiel mir sofort die Geschichte von Phineas Gage ein. Die Symptomatik schien genau in dieses Muster zu passen.

Erster Eindruck – äußere Realität und inneres Erleben des Analytikers Herr A. ist ein eher kleiner, etwas gedrungen wirkender Mann. Die Narbe seiner Schädeloperation ist deutlich sichtbar: Eine kleine stufenartige Verschiebung zwischen Stirnbein und Scheitelbein markiert die Stelle des operativen Eingriffs, der die Blutung schließlich stoppte. Ich denke, Herr A. muss Todesangst gehabt haben, so dramatisch zu erkranken – ein Gedanke, der sicherlich beeinflusst wurde durch die markante Verunstaltung seines Schädels, die in mir eigene Ängste vor einem solchen Schicksal weckte. Wie sich später herausstellte, besteht für die erste Zeit nach dem Hirnschlag eine retrograde Amnesie; Todesangst habe er »nie gehabt«. Ich denke, dass allein der Anblick und die Schilderung des dramatischen Verlaufs dafür sorgten, dass ich projektiv das empfand, vor dem ihn die Amnesie schützte. Im ersten Gespräch beschreibt er eine ihm seltsam vorkommende Veränderung seines Selbstgefühls; er sei unwirscher, »direkter« als früher. Er brause oft auf, werde schnell wütend und fluche »ohne Ende« über das Verhalten seiner Mitmenschen, wenn ihn etwas störe. Während seiner Schilderung wird er nicht müde, auf sich selbst zu schimpfen und sich für dieses Verhalten zu verurteilen. Die mir aus der Vorgeschichte bekannte Wettproblematik greift er allerdings mit keinem Wort auf. Mir kommt es so vor, als wolle er das zunächst einmal umgehen, obwohl er sich denken kann, dass ich darüber Bescheid weiß. Vielmehr scheint er mich dazu bringen zu wollen, besagte Direktheit zu verurteilen. Gleichzeitig denke ich, dass er testen möchte, wie weit ich seine Haltung tolerieren kann. Ich bin aber auch verunsichert: Inwieweit muss ich Rücksicht nehmen auf die organische Komponente in seinem Verhalten? Kann ich alles auf der psychischen Ebene verhandeln? Ich mache ihm einen Vorschlag, wie ich seine Verfassung nach dieser ersten Schilderung verstehe: Wir einigen uns auf »kompromisslos«. Ich habe den Eindruck, dass ihn dies zunächst einmal entlastet, und für mich bestätigt sich meine Ver© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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mutung, dass er befürchtete, ich würde ihm Vorwürfe machen und er sei zwecks »Nachsitzen« und Besserung hier. Ich denke, die Tatsache, dass er in erster Linie geschickt worden und weniger aus eigenem Antrieb gekommen war, machte mich vorsichtig, die in seinen Schilderungen enthaltene Projektion der Über-Ich-Problematik zu übernehmen. Zu diesem frühen Zeitpunkt schien eine Konfrontation mit seinem Verhalten nicht förderlich für den Aufbau einer Beziehung. Rein phänomenologisch stellte ich für mich fest, dass beide Haltungen, das Fluchen wie auch dessen Verurteilung, nebeneinander stehen. Es kommt nicht zu einer nachhaltigen Wechselwirkung, die etwa zu einer Reduktion des Fluchens aufgrund von Betroffenheit und Einsicht führen würde. Es scheint keine Verbindung zwischen den Bereichen zu geben. Wie um sich aus der ersten Selbsterniedrigung herausarbeiten zu müssen, setzt er dann nach: Er macht deutlich, dass seine lange verstorbenen Eltern von Psychiatern nichts hielten. Man müsse sich selber helfen. Er denke auch so und wisse nicht, was er hier solle. Zwar sei er den Neurochirurgen sehr dankbar, dass sie so gute Arbeit geleistet hätten; die Reha habe ihm aber gar nicht geholfen, er habe da »nur rum gesessen«. In drei Jahren, so habe man ihm gesagt, sei alles wieder in Ordnung. Er berichtet dann über seinen zurückgenommenen Vater, eine hochkultivierte und in seiner Umgebung sehr anerkannte Persönlichkeit, dem er nie wirklich habe nahe sein können. Deutlich wird jedoch, dass er seinen Vater bis heute bewundert und sich im Vergleich sehr minderwertig fühlt. Ich kann hier einen tiefen Kummer spüren und frage mich, inwieweit die nach allen Schilderungen ungestümen Verhaltensweisen auch aus der vielleicht als Ablehnung erlebten Haltung des Vaters herrühren. Weiter denke ich, dass sich die ambivalente Haltung seinem Vater gegenüber in seinem Erleben der Ärzte widerspiegelt: Die Neurochirurgen werden gelobt, die Enttäuschung am Vater setzt sich an den behandelnden Reha-Ärzten fort. Seine augenblicklich vordringliche Frage aber scheint zu sein, in welche Kategorie ich fallen werde. Er scheint Befürchtungen zu haben, wie ich mit ihm umgehen werde, und seine Erzählungen enthalten so indirekt auch Hinweise darauf, was ich nicht tun soll. Mich beschäftigt im Interview auch immer wieder die Frage, inwieweit sein Verhalten von der Hirnschädigung beeinflusst bzw. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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ausgelöst worden ist. Jeder analytische Befund, jede analytische Überlegung wird von mir mit der neurologischen Erkrankung abgewogen und abgeglichen. Ist also die Kompromisslosigkeit Folge der psychischen Entwicklung oder der anatomischen Schädigung? Ist seine große Wut auf die Ärzte Ausdruck der funktionellen Enthemmung in Folge der Hirnläsion? In meiner Intervention bleibe ich allerdings auf der psychischen Ebene: Er frage sich wahrscheinlich, wie es wohl mit mir sein werde. Herr A. kontrastiert den Vater daraufhin mit seiner Mutter, einer ebenfalls sehr gebildeten Frau, die sich ursprünglich in einer beruflichen Domäne spezialisiert hatte, die für Frauen eher ungewöhnlich war. Sie hatte ihren Beruf mit Geburt der Kinder aufgegeben. Mit ihr war es ganz anders – »nah«, »warm«. Er erlebte sie als Feingeist; das Zusammensein mit ihr war ein Vergnügen. Durch sie habe er auch eine gute Allgemeinbildung bekommen. Sogleich werden in mir Gedanken an inzestuöse ödipale Phantasien und ödipale Schuldgefühle wach: Der heimliche ödipale Sieger, der die Mutter in Abwesenheit des Vaters besetzt und besitzt, den heimlich Bewunderten als kalt abwertet, jedoch nicht offen in Rebellion geht und die Schuldgefühle trotzig verleugnet. Stellt er mich hier vor die Wahl, welches Übertragungsangebot ich aufgreifen werde? Unsere unmittelbare Situation scheint jetzt geprägt davon zu sein, wie er mich sehen muss und was er von mir erwarten kann. Werde ich Verständnis für seine Vergnügungen haben, wie er sie offenbar mit der Mutter teilte (oder sie mit ihm?) oder werde ich eher eine Über-Ich-Seite repräsentieren wie der kalte Vater? Es scheint, als habe er sich aus einem noch unbekannten Grund sperren müssen gegen die konfrontative Art seines Vaters, und er kündigt an, dass das hier genauso werden könnte, wenn ich bestimmte Grenzen überschreite: Er übt insofern von der ersten Begegnung an einen Kontrolldruck aus. Ich denke, indirekt kommunizierte er so auch einen möglichen Zugangsweg zu seinem Inneren, um dessen Zustand er sich – wenn auch nicht bewusst – Sorgen machte. Würde ich zu konfrontativ sein, so die Botschaft, würde er sich nicht öffnen können. Irgendwo in ihm gab es anscheinend doch das Empfinden, sein Verhalten sei vielleicht wirklich nicht akzeptabel. Enthielten seine eingangs des Gesprächs geäußerten Selbstbeschimpfungen anscheinend noch ein gewisses Kalkül, so scheint © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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jetzt eine Unsicherheit zum Ausdruck zu kommen darüber, ob er nicht doch aufgrund seines (immer noch nicht angesprochenen) suchtartigen Verhaltens zu verurteilen sei. Mit anderen Worten, es herrscht eine innere Verunsicherung über sich selbst vor, die er durch trotzigen Widerstand gegen (scheinbar äußere, aber wahrscheinlich von ihm projizierte) Vorhaltungen zur Ruhe bringen will. Wäre also das Ungestüme Ausdruck des Kampfes gegen Selbstverunsicherung, das heißt eine Erschütterung der inneren Realität? Ich habe den Eindruck, dass meine nichtintrusive Haltung ihm nunmehr ermöglicht hat, seine Verunsicherung etwas deutlicher werden zu lassen. Als hätte er meine Gedanken erraten, kommt er auf ein weiteres Problem zu sprechen: Insgesamt sei ihm den ganzen Tag langweilig; er habe keine Struktur mehr. Es gebe häufiger Streit mit seiner Lebensgefährtin, da er nicht im Haushalt helfe. Daran werde auch seine Wut gegen jegliche Einschränkung deutlich: Er wolle nicht aufräumen. Zwar sei es eigentlich kein Problem für ihn, aber er wolle nun mal nicht. Ich denke, es ist auch eine Deklaration seiner Unwilligkeit, hier in der Therapie »aufzuräumen«, das heißt mitzuarbeiten. Das Problem des Ordnungmachens scheint jedoch auch Ausdruck der Zerrissenheit zu sein, sich mit seiner Situation innerlich zu beschäftigen: Das äußere Chaos scheint für die innere Zerstörung zu stehen, mit der er sich nicht befassen will. Eine weitere Seite seiner veränderten Befindlichkeit scheint ganz anderer Natur zu sein: Er berichtet, dass er manchmal hemmungslos weinen muss, wenn er alte Filme sehe. Dieser abrupte Wechsel zwischen der Beschreibung seiner Wut und der scheinbar unvermittelten Traurigkeit passen einerseits zur Affektlabilität, wie sie von Neurologen bei derartigen Läsionen beschrieben wird. Andererseits fällt mir aber mein anfängliches Erschrecken über das Ausmaß der organischen Zerstörung ein und mein Gedanke, dass er Todesangst gespürt haben muss. Die Schilderung seiner Weinanfälle berührt mich in diesem Zusammenhang sehr. Dem wechselhaften Selbsterleben scheinen noch andere Motive zugrunde zu liegen, als dass sie nur Ausdruck einer organischen Läsion sind. Ich sage ihm, dass es doch vielleicht auch eine Verzweiflung über seinen Zustand in ihm gebe, die er nicht loswerden könne und die ihn mal mehr, mal weniger verfolge. Er scheint überrascht von diesem Gedanken, wirkt © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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erstaunt, äußert sich aber nicht weiter dazu. Ohne es anscheinend realisieren zu können, ist er durch das Geschehen doch tief verletzt. Ich denke, dass er durch meine Äußerung ein Gefühl dafür bekommen hat, dass es ein Zuhören noch auf einer anderen Ebene gibt. Es wiederholt sich mein Eindruck, dass rein phänomenologisch Teile seiner Persönlichkeit wie einzelne Fragmente nebeneinander stehen, als hätten sie keine Verbindung untereinander, als gäbe es kein integratives Moment. Ich sage, er erwarte von mir entweder keine richtige Hilfe, sondern Erziehung und Ermahnung, wie er sich vom Vater und auch von der Rehabilitation nicht wirklich unterstützt gefühlt habe. Das mache ihn wahrscheinlich innerlich sehr wütend. Andererseits komme er mir vor wie ein stehen gelassenes Kind, das manchmal wie aus heiterem Himmel weinen müsse. Damit scheine ich ihn zu erreichen, und er macht mir jetzt seine tiefe Verzweiflung über seinen Zustand deutlich, den er einfach nicht verstehe und in dem er sich so fremd vorkomme. Diese Mitteilung nimmt mich sehr für ihn ein. Plötzlich sehe ich ihn in seiner ganzen Traumatisierung vor mir, hilflos und irgendwie allein gelassen. Ich habe den Eindruck, dass Herr A. an dieser Stelle eine Antwort haben möchte, weil ihm sein Zustand offenbar unheimlich ist. Er hält die innere Not und tiefe Verunsicherung, was mit ihm passiert ist, eigentlich nicht aus. Er wehrt sich jedoch trotzig gegen sie, was sich unter anderem in dem Widerstand gegen jegliche Einschränkung (und damit auch gegen eine Therapie) äußert. Ich denke auch an seine Schilderung der Ärzte (und des Vaters), von denen er sich so schlecht unterstützt gefühlt hat. Sind seine Besuche im Wettbüro ein Container für etwas, das er anderswo nicht unterbringen kann? Seine einsame Verzweiflung ist jetzt jedenfalls deutlich sichtbar, und auch ich scheine sie in diesem Augenblick nicht aushalten zu können: Ich bin mit ihr identifiziert und greife zur medizinischen Erklärung, wie um dieser Ebene zu entgehen – auch ich will dem destruktiven Anteil zunächst entgehen. Ich werde in der Diskussion auf die Bedeutung dieser Szene noch näher eingehen. Ich erkläre ihm daraufhin den Zusammenhang zwischen Frontalhirn und steuernden Strukturen, den Wegfall von Kontrollmöglichkeiten und Strukturierungsfähigkeit. Er hat mit großer Aufmerk© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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samkeit zugehört und sagt, das habe ihm nie jemand so ausführlich erklärt. Ich sage, da habe er sich dann wohl wieder stehen gelassen gefühlt. Es ginge hier darum zu versuchen, die Strukturen, die durch die Blutung zerstört worden seien, vielleicht durch etwas anderes zu ersetzen. Das Gehirn forme sich durch Austausch mit der Umgebung, es brauche, wie er, Resonanz. Deshalb sei es sinnvoll, wenn wir miteinander sprechen. Er fragt dann, ob wirklich die Möglichkeit bestünde, dass die Gespräche ihm helfen könnten. Ich sage ihm, er habe große Angst, dass mit ihm alles zu Ende sei und er keine Chance mehr habe. Er spricht daraufhin von seinem Lebensüberdruss, den er eigentlich immer schon gehabt habe. Er wolle zwar nicht Selbstmord begehen, aber eigentlich sei sein Leben voller Mühsal. Es bleibt an dieser Stelle offen, was er damit meint; er lässt aber damit durchblicken, dass es wohl noch andere Problemfelder gibt als die Hirnschädigung. Ich habe an dieser Stelle die analytische Haltung verlassen und wurde, selbst in Not, wie in einer Art Rollenübernahme zu einer supportiven Figur – vielleicht wie die Mutter oder ein Vater, der wirklich hinhört. Mir schien es aber andererseits auch notwendig, Herrn A. zu diesem frühen Zeitpunkt eine Orientierung, eine Standortbestimmung zu geben – wahrscheinlich aus dem Empfinden seiner Einsamkeit und Verzweiflung heraus, die ich Mühe hatte auszuhalten. Nach unserem Gespräch habe ich den Eindruck, dass Herr A. innerlich tief erschüttert ist von der Hirnblutung, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Er hat eine Abwehr gegen die Angst aufgebaut, die sich in den heftigen Ausbrüchen und vielleicht auch in dem Drang, ständig Wetten abzuschließen, äußert. Gleichzeitig verstehe ich die parallel dazu auftretenden Weinkrämpfe als ein Zeichen für die Angst und Verzweiflung über die Konfrontation mit dem Tod. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die Symptomatik auch zu den beschriebenen neurologischen Veränderungen passt. Was ist also psychisch, was ist physisch? Wie ich zu zeigen hoffe, ist diese Frage für die psychoanalytische Behandlung nicht relevant.

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Zur Biografie Herr A. war Personalchef eines internationalen Industriekonzerns. Vor drei Jahren ging er in den vorzeitigen Ruhestand, weil es zu Zerwürfnissen mit Mitarbeitern gekommen war. Es konnte nicht geklärt werden, welcher Art seine Beteiligung daran war. Seitdem ist er ohne Beschäftigung zu Hause. Seine Lebenspartnerin, fast sieben Jahre jünger als er, ist weiterhin berufstätig. Seine Eltern, inzwischen verstorben, waren beide in angesehenen Berufen tätig. Die Mutter gab ihren Beruf, den sie wohl sehr liebte, jedoch mit der Geburt zweier Kinder in engem Abstand, acht bzw. sieben Jahre älter als der Patient, auf und verzichtete auf eine weitere Karriere in ihrem Spezialgebiet. Herr A. weiß wenig bis nichts über diese Zeit. Nach dem Krieg erwarb sich der Vater sowohl beruflich wie privat einen sehr guten Ruf. Der Patient schildert ihn als gebildeten Mann, der auch zu Hause immer förmlich blieb und meistens hinter einer Zeitung in seinem Arbeitszimmer verschwunden war. Es gibt in Herrn A.s Erinnerung jedoch vereinzelte Szenen, in denen der Vater die Kinder zu einzelnen Unternehmungen mitnahm. Wie sich später herausstellte, blieben die Kinder dann aber sich selbst überlassen, bis der Vater mit seinen Angelegenheiten fertig war. Mit der Mutter, ebenfalls sehr gebildet, verband ihn die Liebe zu Literatur und bildender Kunst. Es bleibt unklar, ob die Mutter die Anwesenheit ihres Jüngsten als Trost für die Eintönigkeit ihres Lebens nutzte, nachdem die älteren Geschwister bereits aus dem Hause waren. Schon als Jugendlicher entwickelte er eine Vorliebe für Spielautomaten und schaffte es immer wieder, einer Alterskontrolle in Spielsalons zu entgehen. Auch spielte er an Spielautomaten in Gaststätten. Dieses Verhalten begleitete ihn auch während seiner Berufsjahre. Er kann nicht recht erklären, was ihn dazu getrieben hat. Es beruhigte ihn. Die Beträge waren nie hoch, und offenbar hatte er die Ausgaben recht gut unter Kontrolle. Seine Bewerbung bei einem internationalen Konzern nach Studienabschluss hatte sofort Erfolg. In seinem Beruf, so sagt er von sich selbst, war er nicht besonders ehrgeizig. Vielleicht in Identifikation mit dem berühmten Vater (der allerdings ein Selfmademan war) hatte er erwartet, als Sohn des großen Mannes käme die Karriere von selbst zu ihm. Immerhin bot man ihm © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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nach wenigen Jahren den Posten des Personalchefs an. Offenbar schätzte man seine Art, mit Menschen umzugehen, er erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Diese Information ist im hier dargestellten Zusammenhang von großer Wichtigkeit, da sie ein Licht auf seine prämorbide Persönlichkeit wirft.

Aus der Behandlung Ein Grund, ihn in Behandlung zu nehmen, war sicherlich mein Interesse an den Veränderungen der Persönlichkeit, wie sie durch einen Hirnschaden entstehen können. Zum anderen interessierte mich die Frage, ob und welcher Zusammenhang bestand zwischen meinem Eindruck von seiner Psyche und der vermuteten neurologisch beeinflussten Verhaltensänderung. Im Folgenden möchte ich einige Szenen aus der Behandlung darstellen, um deutlich werden zu lassen, welche Funktion die Hirnschädigung auf psychischer Ebene erlangte, das heißt, wozu sie in der inneren Realität transformierte. Damit möchte ich auch betonen, dass die Hirnschädigung als neurologisches Faktum nicht relevant für die psychoanalytische Konzeptualisierung war. Allerdings war sie in meinem Erleben scheinbar relevant für das Setting: Ich bot Herrn A. die Couch zwar an, bestand aber nicht darauf, weil ich damals auf der bewussten Ebene unsicher war, inwieweit die Hirnschädigung hier ein Problem darstellen könnte. Im Rückblick denke ich, dass ich bereits zu diesem Zeitpunkt durch die Wucht seines Selbstwertkonflikts, den er projektiv in mich hineinverlegte, und den enormen Kontrolldruck eingeschüchtert war. Die Behandlung fand im Sitzen statt mit drei Terminen in der Woche. Nachdem er in den ersten Stunden immer wieder konstatiert, dass es ihm »eigentlich« gut gehe und er nicht wisse, was er hier solle – eine manische Verleugnung der Depression und eine Zurückweisung meines Angebots, denke ich – lässt er sich allmählich auf mich und die Umgebung ein. Auffällig in der Beziehung zu mir wird dann über die Zeit, dass er, in der Regel am Beginn und am Ende der Stunden, gezielt persönliche Fragen stellt bzw. den Behandlungsraum und die darin enthaltenen Objekte untersucht. Er äußert seine Schlussfolgerungen über mich als Person. Dabei schreckt er nicht davor zurück, auch in Bereiche meines Behandlungsraums vorzu© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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dringen, die eindeutig als meine Privatsphäre erkennbar sind. Die anfängliche Zurückweisung hat sich, kaum merklich, in eine Intrusion verwandelt – wie ein Versuch, sich den verschlossenen Vater und seine Geheimnisse zu Eigen zu machen. In den Sitzungen selbst kommt er immer wieder auf diesen zurück, den er sehr bewundert, dem er sich aber auch unendlich unterlegen fühlt. Dieses Verhältnis ist eine Quelle seiner Überzeugung, dass er aus seinem Leben nichts gemacht hat. Herr A. sagt: »Mit 60 Jahren muss man doch eine Selbstsicherheit erlangt haben! Aber was ist aus mir geworden? Gar nichts!« Anscheinend sucht er in meinem Zimmer nach Hinweisen, wie ich wohl – sichtlich gleichaltrig – beschaffen bin. Dieses Verhalten verunsichert mich sehr. Es scheint, als wolle er mir kein Schlupfloch lassen, als solle ich den Offenbarungseid leisten. Sein intrusives Forschen bringt mich in Bedrängnis, es fällt mir schwer, die passende analytische Replik zu finden – ich denke, er muss mich »unter Beschuss« halten, weil er sich selbst so exponiert und unsicher fühlt. Sein Verhalten imponiert mir als mehrfach determiniert. Zum einen scheint er sich aufgrund der Tatsache, dass er zu mir in Behandlung kommt, unterlegen zu fühlen. Der Eindruck, den er aus meinem Ambiente gewinnt, scheint mich ihm als gebildeten, belesenen Mann auszuweisen. Es verunsichert ihn, nicht mehr über mich zu wissen, wer ich bin und was ich mit ihm mache. Er fühlt sich, wie dem Vater gegenüber, minderwertig. Daher sucht er nach Anhaltspunkten, mich einordnen zu können, um mich besser in Schach halten zu können. Gleichzeitig ist er aber offenbar auch auf der Suche nach etwas, was er bei seinem Vater nicht finden konnte und was er bei mir zu finden hofft. Denn seine Intrusionen wirken aus einer anderen Warte auch, als ob er sich in mir einnisten wollte. Meine Interventionen beziehen sich auf sein Suchen nach dem, was »dahinter«, hinter den Regalen, liegt: Wer und wie ich bin und ob ich offen für ihn bin. Allerdings bin ich enorm verunsichert, ob ich den richtigen Ton treffe, die richtigen Verknüpfungen mache – seine innere Verunsicherung überträgt sich auf mich. Er selbst meint dazu, dass er immer schon neugierig gewesen sei, er wolle immer lernen. Außerdem sei es doch wichtig, dass man sein Gegenüber kenne, vor allen Dingen, wenn derjenige so viel Negatives über einen wisse. Ich © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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komme mir vor wie eine der Wetten, deren erfolgreichem Ergebnis er entgegenfiebert. Eine andere Seite dieses Verhaltens wird erst mit der Zeit deutlicher: Was er eigentlich in seinen Vater und in der Übertragung in mich projiziert, ist sein Erleben, sich selbst verschlossen zu sein. Er ist unbewusst tief verunsichert, was mit ihm los ist, findet aber keine Erklärung. In diesem Zusammenhang erhält meine Erklärung im Erstinterview eine besondere Bedeutung, auf die ich wie erwähnt noch einmal eingehen werde. Die immer wieder geäußerten Selbstanklagen, die ich aus dem ersten Gespräch kenne, wirken auf mich wie ein impliziter Appell, ihn zu beruhigen und zu trösten. Wie in einem Spiegel schildert er Szenen mit seiner Frau, die in seinen Armen weinen kann. In mir wächst das Gefühl, dass er sich seinerseits nicht aufgefangen, nicht gehalten fühlt. Allerdings kann er nach etwa drei Monaten zum ersten Mal von sich aus die Wettbüros ansprechen. Vehement verteidigt er sein Recht auf Selbstbestimmung. Gleichzeitig will er von mir wissen, ob ich noch andere Patienten mit so einer »Macke« habe. Dabei deutet er immer wieder auf die Narbe auf seinem Kopf, als sei das Komische an seinem Verhalten dort verankert. Mir wird deutlich, dass ihm das Ausmaß seines Verhaltens, ohne dass er das direkt anspricht, selbst unheimlich ist. Ihm scheint bewusst zu werden, dass es aus dem Ruder gelaufen ist. Da er aber keine Beruhigung findet und in seiner Umgebung auf Ablehnung stößt, zieht er sich in Trotz zurück. Die Hirnverletzung bekommt jetzt die Bedeutung einer Kausalität für seine Veränderung. Vor allem ist sie Ausdruck seiner Angst, dass sich nichts mehr verändern ließe. Er greift dabei sicherlich auch auf meine Erklärungen aus unserem ersten Gespräch zurück, als hätte er es sozusagen ärztlich bescheinigt bekommen: Er kann nichts dafür, der Hirnschlag hat ihn verändert. Ich sage ihm, vielleicht könnten wir ja noch weiter darüber nachdenken, wie das alles zu verstehen sei. Er teile mir diese Dinge ja mit, weil er sich Antworten von mir erhoffe. Ich denke, mit diesen Interaktionen möchte er zum einen mir nahe sein, weil ihm die bisher verleugnete Problematik seines Verhaltens allmählich bewusster wird. Diese Unterstützung, so scheint mir, hat er von seinem Vater nicht erhalten können. Damals standen Regeln im Vordergrund, nicht die Auseinandersetzung mit einem © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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pubertierenden Jugendlichen. In seiner Erinnerung war Glücksspiel bei den Eltern verpönt. Was wirklich mit den vermuteten »geheimen Leidenschaften« der Eltern war, bleibt ein Geheimnis für ihn. Seine heimlichen Besuche in Kneipen und Spielsalons bereiteten ihm in diesem Zusammenhang eine diebische Lust. Diese diebische Freude teilt sich mir mit, und ich denke, er möchte erleben, dass ich ebenfalls Freude daran empfinde, ja, Erregung und Lust mit ihm teilen kann. Dann wäre er nicht so allein damit, müsste sich nicht so schuldig fühlen – denn das tut er offensichtlich trotz Hirnschädigung! – und hätte außerdem bewiesen, dass auch der Vater/Analytiker diese verpönte Seite hat. Zum anderen sucht er in diesen und anderen Situationen eine Art von freundschaftlicher Nähe zu mir: Zwei fast gleichaltrige Jungen/ Männer, die vielleicht etwas gemeinsam haben könnten. In der Tat entfaltet sich in mir die großbürgerliche Szenerie der 1950er und 1960er Jahre, wie ich sie aus eigenem Erleben kenne. Mir sind manche Parallelen fast unheimlich. Seine humorvolle Art zu erzählen – ich höre ihm gern zu – erlebe ich wie Werbungsversuche. Darüber hinaus spezifiziert sich an der Betrachtung des Bücherregals (»Sie haben Bücher, die ich von zu Hause kenne«) aber auch ein weiterer Aspekt der Vaterübertragung: Trotz aller Belesenheit fehlten ihm Antworten. Sein Zustand ist nach wie vor verwirrend für ihn. An dieser Stelle wird deutlich, dass der Konflikt mit den Besuchen in Wettbüros schon sehr lange besteht. Das Ausmaß dieser Art von Befriedigung ist nicht neu. Herr A. berichtet, dass ihm das, seit er dazu imstande war, ein zuverlässiger Trost gewesen ist. Dieses Stichwort lässt mich denken, dass sowohl die Kneipen und später die Wettbüros psychische Orte waren, die er immer wieder aufsuchte, um Zustände von innerer Einsamkeit aufzufangen. Neu an seinem Verhalten ist allerdings die Sorglosigkeit, mit der er auf Diskretion verzichtet. Fast wirkt es, als lege er es darauf an, erwischt zu werden und so seine Partnerin/Mutter zu schockieren. Obwohl er die Stunden inzwischen offensichtlich gern wahrnimmt, gibt es auf der anderen Seite plötzliches Zuspätkommen oder ein völliges Vergessen der Stunden. Er schiebt es auf die von den Reha-Ärzten vorausgesagten Veränderungen im Gehirn, ein Zeichen, »dass sich etwas tut«. Allerdings ist er ohne die korrektiven © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Eingriffe seiner Lebensgefährtin in dieser Hinsicht hilflos. Ich denke, die Erwähnung der zeitlichen Desorientiertheit in Bezug auf die Sitzungen, die mangelnde zeitliche Verortung, ist neben der wahrscheinlich organisch bedingten Beeinträchtigung auch Ausdruck seiner Ambivalenz. Trotz seines Wunsches, mir näher zu kommen, hat er sich bei mir noch nicht sicher eingenistet. Er braucht noch Unterstützung. Als ich versuche, ihm das nahezubringen, wehrt er ab: Das Gehirn ist schuld, nicht ein Bedürfnis in ihm. Immer wieder, wenn ich ihm eine Nähe anbiete, werde ich zurückgewiesen. Ich denke, er lässt mich spüren, wie vergeblich seine Annäherungsversuche an den Vater waren. Seinerseits sucht er aber fast kontrollierend Zugang zu mir über die Inspektion meiner Umgebung. Andererseits betont er, wie gut ihm die Gespräche tun. Niemand belustigt sich hier über ihn, wie er es offenbar ansonsten immer befürchtet. Anscheinend hat er das Gefühl, dass seine auf mich projizierte Selbstverachtung von mir ausreichend entgiftet werden kann und ihn nicht beschädigt. Auch hier fällt mir auf, dass beides, die Leugnung eines Bedürfnisses und die Betonung, wie gut es ihm in meiner Anwesenheit gehe, nebeneinander stehen: Es darf keinen Kontakt geben, weil es ihn vielleicht zu abhängig machen könnte. Allerdings intensiviert er draußen eine Freundschaft mit einem pensionierten Kunsthistoriker; zusammen besuchen sie jetzt Ausstellungen im Umkreis. Er lerne viel, was ihm in seiner Neugier ja sehr entgegen komme. Offenbar will er auch von mir mehr hören. Die Abneigung gegen »väterliche« Methoden hat nach 15 Monaten Therapie nachgelassen. Als ein weiteres Zeichen für eine innere Bewusstwerdung der problematischen Situation werte ich seinen Entschluss, sich anders kleiden zu wollen. Er habe es zu weit getrieben, habe sich gehen lassen, sagt er, und beklagt sein mangelndes Interesse am Äußeren: Er sei die Trainingsanzüge leid. Meine Intervention hebt seinen Entschluss hervor, sich in Form bringen zu wollen. Zwei Ereignisse etwa zwei Jahre nach Behandlungsbeginn bringen eine dramatische Wende hervor. Nach einer kurzen Urlaubsunterbrechung meinerseits berichtet er über ein Ereignis während der Konfirmationsfeier seines Neffen: Er »verhört« ein befreundetes Ehepaar unvermittelt in kompromittierender Art und Weise über © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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ihre finanzielle Situation und bestimmte geschäftliche Transaktionen, von denen er erfahren hatte. Die Gesellschaft ist einigermaßen schockiert, er selbst findet am nächsten Morgen keine Worte der Erklärung; er hat den Vorfall sogar vollständig vergessen. Eine Welle von Schamgefühlen überrollt ihn – eine Reaktion, die jetzt deutlich abweicht von der Schamlosigkeit seiner bisherigen Verfassung. Es dem konsumierten Alkohol anzulasten fällt ihm schwer; so viel hat er nicht getrunken. Irgendwie kann er auch die Hirnschädigung dafür nicht recht in Betracht ziehen. Deutlich wird schließlich, dass die Behandlungspause ihn mit der Frage konfrontiert hat, wie, wo und mit wem ich wohl meinen Urlaub verbringe und was ich mit ihr oder ihm tue. Anscheinend hatte er sich dazu bewusst nie vorher Gedanken gemacht – als hätte ich bis dahin nur ein Leben innerhalb der Sitzungen mit ihm. Ich bin ihm plötzlich näher gerückt, eine reale Person geworden, die er jetzt als getrennt von sich wahrnimmt. Unbewusst hat ihn dieses Nichtwissen aber ebenfalls wieder konfrontiert mit dem Unverständnis sich selbst gegenüber. Gleichzeitig muss er feststellen, dass sein bevorzugtes Wettbüro aus ihm unbekannten Gründen geschlossen wurde. Ob auf Dauer oder nur vorübergehend, kann er nicht in Erfahrung bringen. Vielleicht unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Entgleisung entschließt Herr A. sich dazu, auf Besuche in anderen Filialen zunächst zu verzichten. Zum ersten Mal seit Behandlungsbeginn unterwirft er sich einer bewussten Einschränkung der bis dahin hartnäckig verteidigten Selbstbestimmung. Diesen Entschluss verstehe ich auch als Ausdruck eines Effekts unserer Gespräche: Anscheinend hat die innere Verzweiflung über das Sich-selbst-verschlossen-Sein in der Therapie einen Platz gefunden und der Druck hat etwas nachgelassen. Erstmalig seit der Erkrankung entsteht freiwillig ein Tabu. Hierüber wird aber auch die Rolle der Spielsucht in seinem Leben etwas deutlicher. Spielen/Wetten war immer schon ein Container für die innere Verlorenheit, die unbewusst als mangelhaft erlebte Verbindung mit sich selbst; eine »erträglichere Ersatzwelt« (G. Matejek in diesem Band). Mit anderen Worten: Die Persönlichkeit von Herrn A. hat sich nicht verändert. Allerdings hat die funktionelle Schädigung zu Verhaltensänderungen geführt, die ihm nicht wirklich erklärlich sind und das Fremdheitsgefühl sich selbst gegenüber verstärken. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Nunmehr erfolgt kompensatorisch eine Intensivierung der bereits bewährten Abwehr: Flucht in Stimulation durch fieberhaftes Wetten. Die Hirnschädigung hat also nicht zu einer wirklich grundlegenden Veränderung seiner Persönlichkeit geführt. Im Gegenteil: Sie ist stärker hervorgetreten, da der Überbau weggefallen ist. Durch einen Zufall kommt es schließlich dazu, dass er etwa ein halbes Jahr später von der Wiedereröffnung des bevorzugten Wettbüros erfährt. Herr A. hat plötzlich Angst. Wie wird er jetzt, wo wieder die bequeme Möglichkeit besteht zu wetten, damit umgehen? In den Sitzungen spricht er über ein Unbehagen, dass sich seiner bemächtigt, wenn er an die Anfangszeit der Therapie denkt. Wie konnte er so handeln? Er hat Angst vor sich selbst, aber auch Angst um die Beziehung zu seiner Partnerin. Er weiß, dass er diese gefährdet, wenn er in dasselbe Verhalten fällt wie früher. Mit einem vorher nicht da gewesenen Abstand kann Herr A. jetzt über sein Verhalten reflektieren. Offenbar versteht er plötzlich viel deutlicher, worum sich unsere Arbeit der letzten zwei Jahre gedreht hat. Die gesellschaftliche Entgleisung wird einerseits zum Bild des Kontrollverlusts: Wie ein ungezogenes Kind habe er sich geschämt. Andererseits wird ihm der Drang danach, wissen zu wollen, als Ausdruck seiner Not, sich selbst verstehen zu wollen, verständlicher. Völlig unvermittelt, fast im selben Atemzug, als müsse er die weitere Auseinandersetzung damit fliehen, kommt dann die Frage, wer die Skulptur in meiner Praxis geschaffen habe. Vielmehr, er glaube jetzt zu wissen, wer das sei. Eine ähnliche Skulptur habe er kürzlich im Fernsehen gesehen. Ich denke, er stellt jetzt Verbindungen her, beginnt zu kombinieren. Ich sage ihm, er wolle Antworten auf das Gefühl der Fragmentierung in ihm haben, wie man die Seiten in ihm, die scheinbar unintegriert nebeneinander stehen, zusammenfügen kann, damit sie einen Sinn ergeben. Deshalb wolle er auch immer wissen, wie das bei mir sei, wie ich damit fertig würde. Herr A. wird sehr still in dieser Sitzung. Plötzlich, so scheint es, muss er den Blick nicht mehr so dringlich von sich weg auf mich richten. Hinter der Bewunderung für seinen Vater steckt der Neid auf etwas, von dem er fühlt, dass er es nicht in ausreichendem Maß hat: Integration von Persönlichkeitsanteilen; die Fähigkeit, mit sich © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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und der Welt auszukommen; ein Gefühl von Selbstverständnis. Er projizierte dieses Ideal auf seinen Vater und jetzt auf mich. Allerdings – dieses Problem ist uralt und geht sehr wahrscheinlich auf früheste Verzweiflungszustände zurück. Mir scheint, dass die fieberhafte Suche nach Befriedigung durch Wettgewinne (eigentlich mehr durch das angespannte Warten auf den Ausgang der Wette) sein Ausweg war, die innere Zerrissenheit zu befrieden. Sie verschaffte ihm für kurze Zeit Lust und damit Entspannung, Ruhe. Da sich das eigentliche Problem seiner inneren Fragmentierung, die sich als unerträgliche Spannung in einem Gefühl der »Selbstverständnislosigkeit« äußerte, dadurch jedoch nicht wirklich löste, wurde der Besuch im Wettbüro zu einem Selbstläufer. Die Hirnverletzung und das nachfolgende Anwachsen der Verständnislosigkeit sich selbst gegenüber hat diesen Mechanismus intensiviert. Die persönliche Lösung von Herrn A. wurde dabei für alle sichtbarer, weil die Beeinträchtigung funktioneller Kontrollmechanismen durch die Schädigung der Frontallappen sie exazerbieren ließ. Pointiert gesagt, Herr A. war nach der Hirnschädigung mehr er selbst als vorher.2 Der Container der Erziehung konnte die ursprüngliche Dynamik nicht mehr halten: So sah es immer in ihm aus. Eine Sitzung aus der jüngsten Zeit zeigt, wie sich die Situation zwischen uns verdichtet hat und den eigentlichen Kern – ein zu enger Container in Figur seines Vaters, ein wahrscheinlich mangelhaftes frühes Containment durch die Mutter – deutlicher hervortreten lässt. Ich hatte bereits vor einiger Zeit angekündigt, dass ich die nächste Sitzung nicht wahrnehmen könnte. Er hatte das ohne größere Emotion zur Kenntnis genommen. In der Sitzung vor dem Ausfall erblickt er direkt auf meinem Schreibtisch Verpackungsmaterial von einem Versanddienst, den ich vorher nie benutzt hatte. Sofort fragt er, ob ich die alte Firma nicht mehr wolle. Ich denke, er möchte wissen, ob etwas passiert ist, was ihn aus mir herauskatapultiert haben könnte, und sage, er sei sich unsicher, ob etwas in mir vorginge, das sich in solchen Veränderungen äußere, und ob das etwas Bedrohliches 2 Insofern stimmt die von Harlow (1868) zitierte Aussage der Freunde und Bekannten von Phineas Gage nicht: »His mind was radically changed, so decidedly that his friends and acquaintances said he was ›no longer Gage‹.«

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bedeute; anscheinend wolle er sich Zugang verschaffen zu mir, weil er sich ausgeschlossen fühle aus meinem inneren Leben. Ihm fällt dann eine Szene ein, die er zwar schon inhaltlich berichtet hat, die mir aber jetzt eine emotionale Aufladung vermittelt, wie ich sie damals nicht verspürte. Er hatte einem Berufskollegen eine Situation im Unternehmen geschildert, mit der er sich sehr unwohl fühlte. Ohne sein Wissen hatte dieser Kollege wohl an anderer Stelle interveniert und eine für Herrn A. bedeutsame Verbesserung erreicht. Dies habe ihn so erschüttert und mit Dankbarkeit erfüllt, dass er fast habe weinen müssen, als er davon erfuhr. Ich sage, er habe dort offenbar ein Ohr gefunden, nach dem er lange gesucht habe, und das habe zu hilfreichen Veränderungen geführt, nicht nur zu Lippenbekenntnissen. Diese Sicherheit, das Eins-zu-Eins der Beziehung, suche er auch bei mir, weil er hoffe, dadurch auch zu sich selbst und seinen Gefühlen Zugang bekommen können. Dies ist ihm in der Beziehung zu seinen Eltern weitgehend versagt geblieben. Die Lösung war, seine innere Trostlosigkeit durch geradezu manische Erzeugung von Erregung im Wettfieber zu kompensieren. Er suchte den Reiz, weil er die Aufnahme in einen Container gar nicht erwartete. Er sucht jetzt das Containment bei mir, weshalb er immer wieder fragen muss, wie es in mir und um mich herum aussieht. Kann er etwas entdecken, das eine Gemeinsamkeit mit mir ergibt? Es ist die lebenslange Suche nach einem guten Objekt, denke ich und sage, er würde sich sehr wünschen, dass wir Gemeinsamkeiten teilen könnten, weil er sich dann aufgehoben fühlen würde. Deshalb suche er in meinen Räumen nach Anhaltspunkten, worin diese Gemeinsamkeiten bestehen könnten. Das habe er sich auch sehr von seinen Eltern gewünscht, doch habe er vergeblich danach gesucht. Sein Aufsuchen von Kneipen und Wettbüros sei ein Ausdruck dieser Suche nach Aufgehobensein und Halt; es sei gleichzeitig verbunden mit einer enormen Erregung, die sein Alleinsein, die Verzweiflung über sich selbst und die damit verbundene Niedergeschlagenheit aufheben sollten. Herr A. ist sehr nachdenklich geworden. Er schweigt lange Zeit und sagt dann, er hielte es nicht aus. Seine Partnerin sei zurzeit in Urlaub, er sei ganz allein und ihm falle die Decke auf den Kopf. Er schimpfe mit ihr am Telefon, dass sie zurückkommen solle, was ihm gleichzeitig leidtue, da er es ihr doch gönne. Ich sage, es © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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sei offenbar spürbarer in ihm geworden, welchen Mangel an Aufmerksamkeit und Aufnahme er erlitten habe. Deshalb vermisse er seine Lebensgefährtin und deshalb ertrage er auch nicht, wenn ich Stunden ausfallen ließe wie jetzt an diesem Wochenende. Ich denke, dass seine Antriebslosigkeit einer Hoffnungslosigkeit entspringt, dieses Problem einmal lösen zu können. Demgegenüber steht die rastlose Neugier, die Suche, ob bei der nächsten Wette, beim nächsten Rennen nicht eine Antwort auf die Frage zu finden ist, die ihn bewegt: Warum bin ich so zerrissen? Was fehlt mir? Dieses Drama entfaltete sich in der psychoanalytischen Behandlung. Soll man annehmen, dass der Hirninsult mit diesem Problem zu tun hat? Könnte es sein, dass der eigentlich gegen seinen (unbewussten) Willen erfolgte vorzeitige Ruhestand ihn stärker mit dieser Frage konfrontierte und zu einem »Kurzschluss« im Gefäßsystem führte? Sicherlich muss das Spekulation bleiben. Wenn man aber davon ausgeht, dass der psycho-physische Dualismus eine künstliche Trennung ist, darf in dieser Richtung weiter nachgedacht werden.

Diskussion Was hat die psychoanalytische Behandlung bewirkt und wie? Ich denke, dass die Übertragungssituation es möglich machte, die grundsätzliche Not von Herrn A., zu sich selbst keinen emotionalen Zugang gefunden zu haben, deutlich werden ließ. Die Entbehrung eines Vaters, der sich seiner früh entstandenen inneren Orientierungslosigkeit und Verwirrung (auch angesichts einer verführerischen, vermutlich depressiven und in der Frühzeit wenig responsiven Mutter) angenommen hätte, wurde sichtbar in dem Suchen nach dem »Etwas« in mir – neben dem Versuch, mich mit Fragen zu kontrollieren und in Schach zu halten – , das so anders zu sein schien als in ihm. Er projizierte sein Gefühl, sich selbst verschlossen zu sein, was durch die Verhaltensänderung infolge der Hirnschädigung verstärkt wurde, in mich. Dadurch wurde es möglich, ihm auf dem Weg von Deutungen Antworten zu ihm selbst zu geben, die ihm halfen, sich seiner inneren Situation, die er anfangs ganz auf den Hirnschaden projizierte, bewusst zu werden. In gewisser Weise erkannte er erst durch die extremen Entgleisungen, wer er ist – jenseits der Hirn© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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schädigung. Dabei geht es nicht um moralische Erziehung, sondern um die Auseinandersetzung mit der inneren Realität, der inneren psychischen Wahrheit. Erst darüber kann es ihm gelingen, seine durchaus vorhandenen Fähigkeiten zur Beziehungsaufnahme und Beziehungsgestaltung wieder zu besetzen. Die Behandlung macht deutlich, was eigentlich wiederherzustellen ist: nicht die moralische Ordnung, sondern die Abfederung seiner inneren Realität durch Auseinandersetzung mit ihr in Gegenwart eines anderen. In der Kindheit versuchen das Mutter und Vater, immer mit individuell unterschiedlichem Erfolg. Irgendwann muss das Kind das selbst übernehmen. Der Mensch bleibt aber angewiesen auf den Austausch mit anderen, weil er Bezugspunkte außerhalb seiner selbst braucht, um sich innerlich orientieren zu können. Ich denke, dass im vorliegenden Fall diese zentrale Frage bereits im Erstgespräch sichtbar wurde, und zwar an der Stelle, wo ich mich genötigt sah, ihm eine Erklärung für seine funktionellen Veränderungen zu geben. Einerseits verließ ich an dieser Stelle die Position analytischer Abstinenz, indem ich die spürbare Not des Patienten nicht als Anlass für eine Deutung nahm, sondern auf der konkreten Ebene reagierte. Ich tat dies wahrscheinlich, weil ich einer massiven projektiven Identifizierung mit seiner inneren Verzweiflung unterlag, die ich nicht deutend aufarbeiten konnte. Andererseits konnte er dadurch eine Begegnung mit jemandem erleben, der auf sein innerstes Problem direkt und in diesem Sinne verständig antwortete. Dies ermöglichte ihm, Hoffnung zu entwickeln, dass er entgegen seiner Erwartung vielleicht doch nicht allein damit bleiben müsse. Es war für ihn die erste Begegnung mit jemandem, bei dem er hoffte, Antworten zu finden – weshalb er bleiben konnte. Erst im Laufe der Behandlung konnte die Verzweiflung von Herrn A. weiter aufgefächert und verstanden werden. Die Fragmentierung seines inneren Erlebens konkretisierte sich in dem Gefühl, mit sich nicht wirklich in emotionalem Kontakt zu sein. In der Auf- und Durcharbeitung dieser inneren Realität – abgehandelt an der Projektion seiner emotionalen Abgeschlossenheit auf mich – konnten die äußere Realität und die innere Fragmentierung integriert und mit Bedeutung versehen werden. Der analytische Prozess war inso© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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fern sinnstiftend. Die allmähliche Annäherung an seine Not und die emotionale Erfahrung, dass ich als Analytiker und eigenständige Person in der Lage war, ihm aus meinem Erleben mit ihm heraus für sein Selbstverständnis stimmige Deutungen zu geben, war eine korrigierende emotionale Erfahrung. Dies ermöglichte ihm einen anderen Zugang zu sich selbst und ließ die bisherigen Kompensationsmechanismen weniger notwendig und zwingend erscheinen. Die Not wurde besser integrierbar. Dadurch konnte er sehen, welche Auswirkungen sein Verhalten auf seine Umgebung hatte. Die einsetzende Scham bedeutete insofern das Gewahrwerden, wie wichtig ihm die Beziehung zu anderen Menschen ist. Die aus der Verzweiflung innerer Einsamkeit entstandene Abschottung ließ nach, die Beziehungen wurden für ihn befriedigender. Es handelt sich bei dieser Veränderung also nicht um das Ergebnis einer moralischen Nacherziehung, sondern um die Öffnung zu seinem emotionalen Erleben, das ihm bisher Angst gemacht hatte, da es in den frühen Jahren nicht hatte in die Persönlichkeit integriert werden können. Nachdem dies besser gelang, fanden sich andere, mit der Umgebung verträglichere und befriedigendere Lösungen. Es sei angemerkt, dass erst jetzt Gedanken darüber möglich werden, was sich hinter der Wettsucht noch verbirgt. Die Verschiebung sexuellen Triebgeschehens auf das zwanghafte Wetten ist erst in Ansätzen deutbar. Hirnschädigungen an einer zentralen Stelle wie dem Vorderhirn, so scheint mir, verändern nicht die Persönlichkeit. Im Gegenteil, sie lassen sie in ihrer Konflikthaftigkeit stärker hervortreten. Die psychoanalytische Methode muss sich um die äußere Realität der substanziellen Schädigung nicht kümmern. Viel entscheidender ist, wie sie innerlich benutzt wird, wie sie eingebaut wird in die bereits bestehenden Konflikte, die eine Persönlichkeit ausmachen. Hirnschädigungen bieten dem Psychoanalytiker wie dem Neurowissenschaftler Einblicke in das Zusammenspiel von Gehirn und Psyche3. Allerdings betrachtet der Psychoanalytiker die äußere Realität des Patienten auf der Ebene der inneren Realität: Die äußere existiert nur insoweit, als sie psychische Bedeutung bekommt.

3 Es muss deutlich bleiben, dass diese Trennung eine künstliche ist.

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Äußere Realität, innere Realität und der potential space bei Donald W. Winnicott »Was ist wirklich?«, fragte eines Tages der Stoffhase, als er Seite an Seite mit dem Holzpferdchen in der Nähe des Laufställchens lag, noch bevor das Mädchen hereingekommen war, um aufzuräumen. »Bedeutet es, Dinge in sich zu haben, die summen, und mit einem Griff ausgestattet zu sein?« »Wirklich«, antwortete das Holzpferd, »ist nicht, wie man gemacht ist. Es ist etwas, was einem widerfährt. Wenn ein Kind dich liebt für eine lange, lange Zeit, nicht nur, um mit dir zu spielen, sondern dich wahrhaftig liebt, dann wirst du wirklich«. »Tut es weh?«, fragte der Stoffhase. »Manchmal«, antwortete das Holzpferd, denn es sagte immer die Wahrheit. »Wenn du wirklich bist, hast du aber nicht das Gefühl, verletzt zu werden«. »Geschieht das auf einmal, wie wenn man eine Wunde empfängt?«, fragte er, »oder nach und nach?«. »Es passiert dir nicht auf einmal«, sagte das Holzpferd. »Du wirst. Und das dauert lange.« (Williams, 1922/1970, S. 14 f.)

Vorbemerkung Die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit (Watzlawick, 1976), also nach dem Verhältnis zwischen innerer Realität und äußerer Realität, hat die Menschen schon immer beschäftigt und im Lauf der Geistesgeschichte die verschiedensten Antworten gefunden. Zum Beispiel im Höhlengleichnis von Platon (427–347 v. Chr.), in dem die Wirklichkeit grundsätzlich nur als Schatten, als Abbild oder Ideenwelt fassbar ist (Hirschberger, 1980, S. 105). »Jetzt sehen wir nur wie in einem Spiegel in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich völlig erkennen«, heißt es in der Bibel (1 Kor 13, 12). Der Talmud sagt: »Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wie wir sind« (zit. nach Haynal, 2011, S. 50). Von dem frühhistorischen chinesischen Dichter-Philosophen Chuang-Tsu wird der Gedanke überliefert: »Vor einiger Zeit habe ich geträumt, ich sei ein Schmetterling.

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Jetzt weiß ich nicht, ob ich ein Mensch bin, der glaubt, geträumt zu haben, ein Schmetterling zu sein, oder ob ich ein Schmetterling bin, der jetzt träumt, ein Mensch zu sein« (zit. nach Kemper, 1955, S. 7). Wie andere Psychoanalytiker – so zum Beispiel Sándor Ferenczi in seiner Arbeit »Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes« (1913/1970)1 – hat auch Donald W. Winnicott (vgl. Auchter, 2002) die Frage nach der Beziehung und der Wechselwirkung zwischen äußerer und innerer und der zwischen innerer und äußerer Realität nie losgelassen. Masud Khan vermerkt dazu: »Für ihn [Winnicott] waren die Tatsachen [facts] Realität [reality], und Theorien waren das menschliche Stammeln bei dem Versuch, Tatsachen zu begreifen« (zit. nach Davis u. Wallbridge, 1981/1983, S. 25; Anm. T. A.). Sogar eines von Winnicotts Büchern birgt im Titel das Wort: »Playing and Reality« (1971); in der deutschen Übersetzung »Vom Spiel zur Kreativität« (1973) ist die Realität leider verloren gegangen! Ein anderer einschlägiger Titel von ihm lautet: »The Child, the Family and the Outside World« (1964). Bei dem Problem der Wirklichkeit der Wirklichkeit haben wir es mit mindestens drei Aspekten zu tun. Zum einen mit einem wahrnehmungspsychologischen oder erkenntnistheoretischen: Wie wird Wirklichkeit überhaupt wahrgenommen? Und zum anderen mit einem entwicklungspsychologischen Aspekt: Wie entwickelt sich die Fähigkeit zur Realitätswahrnehmung? Und drittens mit der Frage nach den Wirklichkeitsverzerrungen in der Wahrnehmung. Darüber hinaus muss noch berücksichtigt werden, dass die äußere Realität nicht auf die Nicht-Ich-Welt reduziert werden kann, sondern auch Teile der Ich-Welt, wie zum Beispiel den Körper umfasst, der in der inneren Realität irgendwie repräsentiert sein muss. Das KörperSchema, die innere Repräsentanz des Körpers, ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich erst über verschiedene Stufen wie zum Beispiel die »Hand-Mund-Ich-Integration« (Hoffer, 1947). Schon Sig1

Ferenczi zeichnet hier eine Entwicklungslinie zum Realitätssinn nach, die über eine »Periode der bedingungslosen Allmacht«, eine »Periode der Allmacht mit Hilfe magischer Gebärden«, eine »animistische Periode«, eine »Periode der magischen Gedanken und Worte« und »Allmachtsstadien der Erotik« schließlich zum Realitätsprinzip führt.

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mund Freud (1923b, S. 253) vermerkte zur Entwicklung des Körperbildes: »Der Schmerz scheint […] vorbildlich für die Art, wie man überhaupt zur Vorstellung seines Körpers kommt«. Und weiter: »Es ist bekannt, dass wir, bei Schmerzen in inneren Organen, räumliche und andere Vorstellungen von solchen Körperteilen bekommen, die sonst im bewussten Vorstellen gar nicht vertreten sind« (Freud, 1926d, S. 204). Auch die Psychoanalytiker Paul Schilder (1935, zit. nach Egle, 1993, S. 291) und George L. Engel (1959) betonen die bedeutsame Rolle des Schmerzerlebens bei der Entwicklung des Körperbildes. »Durch Schmerz wird der eigene Körper zu etwas, was vom Ich wahrnehmbar und vom Selbst getrennt ist, zugleich jedoch zum Gesamtselbst gehört: Man hat den Körper und ist auch der Körper« (Egle, 1993, S. 291, Hervorhebung T. A.). Dabei führen Konfrontationen mit der Nicht-Ich-Welt wie zum Beispiel Anstoßen zu einer emotionalen »Besetzung der Körper-Selbst-Grenzen« (Mahler, Pine u. Bergmann, 1978, S. 276) und damit des Körper-Ichs. Angesichts neuerer datentechnischer und kommunikationstechnologischer Entwicklungen (Internet) stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit auch für Psychoanalytiker2 in ihrer klinischen Arbeit heute in verschärfter Weise. Im Internet, in den sozialen Netzwerken oder anderen Plattformen können Patienten – oder auch Psychotherapeuten –, häufig anonym, Bewertungen und Entwertungen mühelos vervielfältigen und dauerhaft (unauslöschlich) feststellen. Auf diese Weise entsteht in der virtuellen Welt eine tatsächliche neue Realität, die dann wiederum auf die faktische Realität zurückwirkt. Die Informationen über ihre Therapeuten, die Patienten heute mühelos aus dem Internet herunterladen können, erfordern eine Neubetrachtung und vielleicht Neudefinition von Abstinenz, sicher aber der Anonymität, die durch diese neuen Kommunikationstechniken schlicht weitgehend nicht mehr existiert. Die im Internet kursierenden Informationen – seien sie richtig oder falsch – beeinflussen schon heute bei vielen Patienten die Therapeutenwahl. Es ist aber eine Frage, ob zum Beispiel negative Bewertungen in Patientenpor2

Wenn hier und im Folgenden aus sprachökonomischen Gründen die männliche Form gebraucht wird, sind immer auch die Frauen mitgedacht.

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talen ausschließlich Patienten davon abhalten, einen bestimmten Therapeuten zu kontaktieren. Oder ob nicht auf diese Weise schon eine vielleicht sogar sinnvolle Selektion der Patienten erfolgt. Nämlich in solche, die alle Informationen des Internets unkritisch glauben, und andere, für die eine solche Wirklichkeitskonstruktion ein Anreiz ist, sie neugierig einer persönlichen Prüfung zu unterziehen. Sind letztere möglicherweise nicht eine geeignetere Klientel für einen psychoanalytischen Aufklärungsprozess als die Internetgläubigen? Möglichst zahlreiche der komplexen Aspekte des Aufbaus der inneren Welt möchte ich versuchen, in meinem Diskurs zu berücksichtigen. Im Verlauf meiner Überlegungen wird vielleicht deutlich werden, wie viele von Winnicotts Konzepten und Begriffen einen Zusammenhang mit dem Außen-Innen-Problem aufweisen. Da Winnicott seine Theorien und Konzepte am besten selbst darstellen kann, lasse ich ihn weitgehend selber zu Wort kommen.

Zur Terminologie In seiner Arbeit »The Manic Defence« von 1935 stellt Winnicott fest: »Noch vor drei oder vier Jahren pflegte ich ›Phantasie‹ und ›Realität‹ einander gegenüber­zu­stellen […] mittlerweile vergleiche ich die äußere Realität nicht mehr so sehr mit der Phantasie als vielmehr mit der inneren Realität« (1958, S. 129)3. Dementsprechend unterscheidet Winnicott »personal or psychic reality and reality that is actual [tatsächlich] and shared [mit anderen geteilt]« (1965b, S. 29; Einfügung durch T. A.). Wolfgang Loch hat entsprechend Letzterem den Aspekt der »konsensuellen Wahrheit« (1974, S. 444 ff.) betont. Er greift dabei auf Friedrich Nietzsche zurück: »mit Zweien beginnt die Wahrheit« (Loch, 1986, S. 194). Wahrheit verstehe ich in diesem Zusammenhang als Verständigung über Wirklichkeit. Wahrgenommene Wirklichkeit ist also immer intersubjektiv konstruierte Wirklichkeit.

3 Die deutschsprachigen Winnicott-Zitate sind in der Regel eigene Übersetzungen des Verfassers.

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Am Anfang ist das Sein (Being) Winnicott qualifiziert das ursprüngliche »Sein« (Being) (1949/1988b, S. 12) näher als ein Paradox. Einerseits ist »der Säugling zu Beginn des Lebens absolut allein. Gleichzeitig aber ist dieses Alleinsein nur unter der Bedingung maximaler Abhängigkeit möglich« (Winnicott, 1988a, S. 132). Und weiter: »Am Anfang ist das Individuum keine Einheit« (Winnicott, 1958, S. 221). Es gibt, schreibt er, keinen Sinn, »sich das neugeborene menschliche Individuum als abgegrenzte Einheit vorzustellen. Die Einheit besteht in diesem Stadium aus dem System Umwelt-Individuum […] und das Individuum ist nur ein Bestandteil dieser Einheit« (Winnicott, 1988a, S. 131). So wie Winnicott es in seiner wohl bekanntesten Sentenz 1952 ausdrückt: »There is no such thing as a baby […]. One sees a ›nursing couple‹« (1958, S. 99) (Etwas wie ein Baby gibt es gar nicht […]. Man sieht [immer nur] ein ›Pflege-Paar‹). Man könnte auch formulieren: Innen und Außen bilden anfänglich im Erleben eine ununterschiedene und undifferenzierte Gesamtheit. Winnicott (1958, S. 149; 1988a, S. 116) postuliert darüber hinaus eine »primäre Nichtintegriertheit« des Individuums. Das heißt: »Am Anfang besteht ein Zustand der Nicht-Integration [unintegration]; zwischen Körper und Psyche besteht keine Verbindung [denn die wäre logischerweise nur zwischen zwei voneinander Getrennten möglich, Anm. T. A.] und es gibt keinen Platz für eine Nicht-Ich-Realität. Dies ist, theoretisch betrachtet, der primäre Zustand, unstrukturiert und planlos« (Winnicott, 1988a, S. 131). Es gibt anfänglich außerdem kein »individuelles Selbst, das zwischen Ich [ME] und Nicht-Ich [Not-ME] zu unterscheiden vermag« (S. 131). Infolgedessen gibt es in diesem Sinne für das Neugeborene kein Innen und kein Außen und damit auch keine Unterscheidung zwischen innerer Realität und äußerer Realität. Am Anfang ist das »Sein«. »Dann [erst später, Anm. T. A.] wird das Kind zu einer Einheit« (Winnicott, 1986, S. 72; 1965a, S. 75) und zur Diskriminierung zwischen Innen und Außen fähig.

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Der Beginn der Aufnahme von Beziehungen zur Außenwelt – Paradoxien – Illusionsbildung als Voraussetzung von Realitätsprüfung Gerade Winnicott hat darauf hingewiesen, dass erste Ahnungen von Nicht-Ich im Sinne äußerer Realität bereits im intrauterinen Stadium beginnen. Die primäre Aggressivität schon des Fötus hat eine wichtige produktive Funktion in der Konstituierung der NichtIch-Welt, die sich als der Widerstand – Ob-jekt im ursprünglichsten Wortsinn – manifestiert, welcher sich den spontanen Bewegungen des Fötus bietet (Winnicott, 1958, S. 215). »Das Motilitätspotential […] braucht etwas, gegen das es stoßen kann« (S. 212), und dieser »Widerstand muss aus der Mitwelt4 kommen, vom Nicht-Ich, das allmählich vom Ich unterschieden wird« (S. 215). »Bei einer gesunden Entwicklung führen die foetalen Impulse zur Entdeckung der Mitwelt, wobei die letztere der Widerstand ist, der sich den Bewegungen bietet und während der Bewegung gespürt wird. Das Ergebnis hiervon ist ein frühes Erkennen der Nicht-Ich-Welt [Not-Me] und eine frühe Konstituierung eines Ichs [Me]« (S. 216). Die allmähliche Differenzierung zwischen Ich und Nicht-Ich ist jedoch nach Winnicott nur auf der Basis ursprünglicher und zum Teil zeitgleicher Einheits- oder Verschmelzungserfahrungen möglich. Sie werden nachgeburtlich durch die sogenannte primäre Mütterlichkeit gewährleistet und führen zu einem »Going on Being« (Winnicott, 1958, S. 191), einer stabilen und verlässlich erfahrenen Kontinuität des Seins. »Die Mutter, die sich dem Kind [in ihrer primären Mütterlichkeit; Anm. T. A.] anpasst, präsentiert ihm die Welt in einer solchen Weise, dass das Baby mit einer Ration Omnipotenzerfahrung beginnt. Das ist überhaupt erst die Grundlage dafür, dass der Junge oder das Mädchen später mit dem Realitätsprinzip zurechtkommt. Dies impliziert ein Paradox insofern, dass in dieser Frühphase das Baby das Objekt erschafft, obgleich das Objekt bereits vorhanden 4 Da der Begriff »Umwelt« in der Umgangssprache eine spezifische Konnotation erhalten hat, gebrauche ich in der Übersetzung des Wortes »environment« bewusst den Begriff »Mitwelt«, um der hervorragenden Bedeutung der sozialen Beziehungen gerecht zu werden.

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ist, ansonsten hätte das Baby es nicht erschaffen. Das Paradox muss akzeptiert werden, nicht aufgelöst werden« (Winnicott, 1986, S. 30). Winnicott (1988a, S. 100 f.) konkretisiert diese theoretische Annahme folgendermaßen: »Wir stellen uns ein Baby vor, das zum ersten Mal gestillt werden soll. In diesem Baby baut sich eine Triebspannung auf. Eine Erwartung entwickelt sich, ein Zustand, in dem das Baby dazu bereit ist, irgendetwas irgendwo zu finden, ohne zu wissen, was […]. Ungefähr zum rechten Zeitpunkt bietet die Mutter dem Baby ihre Brust an […]. Dieser theoretische erste Stillvorgang findet nun wirklich statt, abgesehen davon, dass es sich in der Realität weniger um ein einmaliges Geschehen als vielmehr den allmählichen Aufbau von Erinnerungen an eine Vielzahl solcher Stillsituationen handelt […]. In der (theoretisch angenommenen) ersten Stillsituation ist das Baby bereit, die Brust zu erschaffen, und die Mutter ermöglicht ihm die Illusion, die Brust und alles, was sie an Bedeutung umfasst, durch seinen bedürfnisbedingten Impuls erschaffen zu haben […] Theoretisch betrachtet, ist es sehr wichtig, dass der Säugling dieses Objekt erschafft, während sich die Aktivität der Mutter darauf beschränkt, ihre Brustwarze zum rechten Zeitpunkt an der richtigen Stelle zu platzieren, so dass es ihre Brustwarze ist, die das Baby erschafft« (Winnicott, 1988a, S. 103). »In dieser Situation ist das Neugeborene in der Position des Schöpfers der Welt« (S. 102). Und die Mutter ist »in der Lage, dem Baby diese Illusion zuzugestehen« (S. 101). »Zunächst also passt sich die Mutter dem Bedürfnis des Säuglings nahezu vollkommen an und vermittelt ihm auf diese Weise die Illusion, äußere Objekte erschaffen zu haben. Nach und nach nimmt sie ihre Fähigkeit zur Anpassung an (emotionale) Bedürfnisse zurück, aber der Säugling besitzt [nun auch] Mittel und Möglichkeiten mit dieser Veränderung fertig zu werden. Es ist irreführend zu denken, dass der Säugling seinen Realitätssinn [reality sense] entwickelt, indem die Mutter nachdrücklich auf der Äußerlichkeit äußerer Dinge beharrt […]. Zunächst muss ihm die Illusion zugestanden werden« (S. 101). »Tausendmal hatte es [das Baby] das Gefühl, dass das, was es begehrte, [von ihm] geschaffen wurde und gefunden werden konnte. Daraus entwickelte sich der Glaube, dass die Welt das enthält, was gewünscht und gebraucht wird, mit dem Resultat, dass es eine Hoffnung entwickelt, dass eine lebendige Beziehung zwi© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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schen innerer und äußerer Realität existiert, zwischen angeborener primärer Kreativität und der Welt im Ganzen, die von allen geteilt wird« (Winnicott, 1964, S. 90). Klinisch wird das der Realitätsprüfung vorausgehende vorübergehende Omnipotenzerleben besonders bei traumatisierten Patienten bedeutsam. Hier ist es beispielsweise deshalb therapeutisch unumgänglich, zunächst das Narrativ des Patienten, seine subjektive Wahrheit bezüglich seines Traumas bedingungslos und unhinterfragt als Wirklichkeit anzunehmen. Dabei ist ein tolerantes Aushalten des Therapeuten gefragt, der das Narrativ des Patienten zunächst und vielleicht längere Zeit in der Schwebe lassen kann und erst zum gegebenen Zeitpunkt einer Analyse unterziehen kann. Gegebenenfalls wird es dann im therapeutischen Prozessverlauf möglich, durch eine Realitätsprüfung das ursprüngliche Narrativ zu verifizieren, zu falsifizieren oder zu modifizieren. Frau U. hat seit Kindheit an massive sexuelle und andere Gewalterfahrungen über sich ergehen lassen müssen und leidet unter einer massiven Posttraumatischen Belastungsstörung mit psychosenahen Episoden. Für Frau U. ist es am Beginn unserer therapeutischen Arbeit und für viele Monate ganz wichtig, möglichst alles – fast omnipotent – unter Kontrolle zu haben. Zwar benutzt sie nach einiger Zeit im Gegenübersitzen zu einem von ihr gewählten Zeitpunkt die Couch, bringt aber jedes Mal ein eigenes Handtuch mit, das sie sorgfältig über dem Kissen (bei mir hat jeder Patient sein individuelles Kissen) ausbreitet. Nach jeder Sitzung schreibt sie in extra zu diesem Zweck angeschaffte Bücher ein umfangreiches kommentiertes Stundenprotokoll. Sie bringt es jeweils in die folgende Stunde mit, liest daraus vor und versucht, sich mit meiner Resonanz eine Sicherheit über die Korrektheit ihrer Wahrnehmungen zu verschaffen. Ihre hohe intellektuelle Begabung ermöglicht ihr seit langem, ihre traumatischen emotionalen Einbrüche seelisch zu überbrücken und zu überleben. Darüber hinaus versucht Frau U., sich zu ihrer Sicherheit und Beruhigung im Internet Informationen über mich zu beschaffen und ist gleichzeitig von Angst erfüllt, dass ich sie deswegen verurteile und aus der Analyse verstoße. Da deutlich wird, welche selbststabilisierende Funktion ihre »verrückten« Wahrnehmungen besitzen, werden sie über sehr lange Zeit © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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von mir nicht in Frage gestellt und auch nicht gedeutet. Stattdessen versuche ich vor allem, die kognitiven, besonders aber emotionalen Wahrnehmungen von Frau U. zu erfassen und ihr zurückzuspiegeln. Und mit ihr zusammen versuche ich, die inneren Bilder in ihrer psychodynamischen Funktion und Bedeutung zu verstehen. Frau U. bringt nach langjähriger analytischer Arbeit folgenden Traum mit, der neben anderem als Zusammenfassung des bisherigen Therapieverlaufs verstanden werden kann: »Ich befinde mich auf einem Metallregal, wie man es im Keller hat, auf der obersten Ebene. Ich traue mich nicht runter und bekomme Höhenangst. Für Sie sind die Regale wie eine Treppe, auf der Sie sich problemlos bewegen können. Sie kommen mir entgegen und strecken Ihre Hand aus. Ich ergreife Ihre Hand und wir kommen unbeschadet am Boden an.« Frau U. prägt in dieser Sitzung den Begriff »Lebensberuhigung«. Mit Hilfe der Analyse ist es ihr gelungen, sich so zu »erden«, dass ihre schwere Schlafstörung erheblich reduziert werden konnte, die psychosenahen Einbrüche beträchtlich weniger auftreten und sie sich heute in ihrem privaten und beruflichen Umfeld viel realitätsadäquater bewegen kann.

Die Haut als Grenze zwischen Innen und Außen »Die Haut«, meint Winnicott, »ist grundlegend und unübersehbar der bedeutendste Faktor in dem Prozess der eindeutigen Verankerung der Seele im Körper und ihrer festen Verknüpfung mit dem Körper. Pflege und Stimulierung der Haut sind wichtige Bestandteile der Säuglingsbetreuung; sie begründen ein gesundes Leben im Körper, ebenso wie das Halten die Integration fördert« (1988a, S. 122). Auch die kleinianische Psychoanalytikerin Esther Bick weist in ihrer vielfach zitierten Arbeit »Das Hauterleben in frühen Objektbeziehungen« (1968) darauf hin, dass die vom Säugling zunächst passiv erfahrene Funktion der Haut, das Selbst zusammenzuhalten, auf ein haltendes Objekt angewiesen ist. Dieses »bewahrende Objekt wird ganz konkretistisch als Haut erfahren« (Bick, 1968/1990, S. 237). Vor allem durch die mit dem Halten (Auchter, 2000b) verbundenen Hautberührungserfahrungen »entsteht etwas, das man als begrenzende Membran bezeichnen könnte, die (in gesundem Zustand) in gewis© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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sem Maß mit der Oberfläche der Haut gleichzusetzen wäre und ihre Stellung zwischen dem ›Ich‹ und dem ›Nicht-Ich‹ des Säuglings einnimmt. Auf diese Weise [des Bewusstwerdens der Haut; Anm. T. A.] erwirbt das Kind ein Innen und ein Außen und ein Körperschema« (Winnicott, 1965a, S. 45; vgl. S. 69 f.). »Unter günstigen Umständen wird die Haut die Grenze zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich« (S. 61). Der Säugling »hat begonnen ein Selbst zu errichten, eine Einheit, die sowohl physisch durch die Körperhaut zusammengehalten [contained] wird als auch psychisch integriert ist. Die Mutter ist nun – im Geist des Kindes – zu einer kohärenten Vorstellung geworden und der Ausdruck ›ganzes Objekt‹ ist jetzt anwendbar« (S. 75). »Der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ist ein Ort, von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können«, schreibt schon Sigmund Freud (1923b, S. 253, Hervorhebung T. A.). Um entwicklungsfördernd zu sein, müssen die Hautberührungserfahrungen maßvoll sein. Das nennen wir Zärtlichkeit. Didier Anzieus (1991) Entwicklungskonzept vom »Haut-Ich« verdeutlicht das Konzept des entwicklungsnotwendigen Zwischenraums in anschaulicher Weise. »Klebt die äußere Schicht [die Mutter; Anm. T. A.] zu sehr auf der Haut des Kindes, wird das Ich des Kindes in seiner Entwicklung erstickt […] ist die äußere Schicht jedoch zu locker, verliert das Ich an Festigkeit« (Anzieu, 1991, S. 87). Ein hinreichender Zwischenraum zwischen Kind(haut) und Mutter(haut) – »fest halten ohne festzuhalten« (Auchter 2000a) – ermöglicht dagegen Eigenbewegungen, Abgrenzungen zwischen Selbst und Objekt, und Entwicklung, Spielen und Lebendigwerden. Dodi Goldmann (1993, S. 123) charakterisiert dieses Halten als »grenz­setzend und zu gleicher Zeit raumschaffend« [boundary making and at the same time space-affording]. Der Psychoanalytiker Michael Balint (1966, S. 210 ff.). hat hierfür die schöne Kategorie des Unaufdringlichen kreiert. Erst die beginnende Distanz schafft den Raum für die Entfaltung eigener Gesten – Spielraum, »Möglichkeitsraum« (vgl. Auchter, 2004)! Winnicott selbst verwendet in seinem Aufsatz »Anxiety Associated with Insecurity« von 1952 die Metapher von »Kern« (kernel) und »Schale« (shell) (1958, S. 99). »Shell« bezieht sich auf die (äußere) Schale – eines Eies, einer Nuss, einer Muschel –, auch auf ein Schneckenhaus oder den Panzer einer Schildkröte, »kernel« ist © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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der (innere) Kern. Bei all den erwähnten Lebensformen sitzt die Schale nicht direkt auf dem Kern, sondern zwischen Schale und Kern befindet sich ein Zwischenraum. Die Perle zum Beispiel kann sich nur entfalten und zu voller Schönheit heranwachsen, wenn die Muschelschale sie zugleich beschützt und ihr Raum zum eigenen Wachstum lässt. Freud (1916–17a, S. 462) verwendet ein ähnliches Bild aus der Natur: »Die Übertragung wird so der Kambiumschicht zwischen Holz und Rinde eines Baumes vergleichbar, von welcher Gewebsneubildung und Dickenwachstum des Stammes ausgehen.« Frau D. schreibt mir Jahre nach Beendigung ihrer Analyse: »Heute las ich den Satz: ›Der Säugling fühlt sich in seiner primitivsten Form als Ansammlung loser Teile, welche passiv durch die Haut zusammengehalten werden‹. Es waren immer besonders beglückende Situationen in der Analyse, wenn Sie diese verstreut liegenden Teile in einen Sinnzusammenhang brachten. Ich wurde langsam aber sicher zu einem ›runden Ganzen‹, das nun von innen zusammenhält«.

Psychopathologie von Innen und Außen: Schweizer Käse oder Chinesische Mauer Die Hautoberfläche besitzt in dieser Begrenzung eine selbstkonstituierende Funktion und ist umgekehrt ein wichtiger Indikator für den Zustand des Selbst. Eine Überbetonung der Haut – man denke zum Beispiel an Hauterkrankungen oder Selbstverletzungen der Haut – hängt nach Winnicott (1988a, S. 42, S. 118; vgl. 1989, S. 115) mit »gravierenden Notsituationen des Ichs« zusammen. Wenn die Haut keine sichere, feste Grenze darstellt, sondern durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse (Borderline-Störung), dann kann es kompensatorisch zur Bildung einer übermäßigen, starren Grenze wie der Chinesischen Mauer kommen. Versagt die berührend-haltende Funktion5 des frühen Objekts, ist das Baby auf das Selbst-Halten zurückverwiesen, das nach Winni5

Thomas H. Ogden (1995) versucht der hervorragenden Bedeutung der Haut mit seinem Konzept einer frühesten Entwicklungsstufe, die er »autistischberührende Position« nennt, in der die Hautoberfläche die dominierende Erfahrungsdimension ist, gerecht zu werden.

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cott eine erste Form des Falschen Selbst darstellt. Winnicott (1965a, S. 142; 1958, S. 281) bezeichnet diese Abwehrformation auf Anregung einer Patientin als »caretaker-self«, also »Beschützer- und Versorger-Selbst« oder »Fürsorge-Selbst«, wie Caroline Neubaur (1987) vorschlägt. Eine gesunde Selbstfürsorglichkeit erwächst demgegenüber aus einer vorausgehenden hinreichenden Erfahrung von Fürsorglichkeit durch andere. Esther Bick (1990, S. 237 f.) spricht in demselben Sinne (wie das caretaker-self) von der »Pseudo-Unabhängigkeit«, die das Bilden einer »Zweit-Haut« anstelle des wirklichen Haut-Behälters darstellt. Versagt die Haltefunktion der Mutter und anderer für die Aufbewahrungsfunktion der Haut des Selbst, kommt es zu einer Störung der ursprünglichen Hautfunktion. Und sie »kann zur Entwicklung einer ›Zweithaut-Bildung‹ führen, […] durch den unangemessenen Gebrauch bestimmter geistiger Funktionen […] mit dem Ziel, einen Ersatz für diese bewahrende Funktion der Haut schaffen« (Bick, 1990, S. 237, Hervorhebung T. A.). Das entspricht genau dem von Winnicott (1958, S. 246) beschriebenen Intellektuellen Falschen Selbst (vgl. Auchter, 2006). Das sind die Kopffüßler, deren Leben sich weitgehend nur im Kopf abspielt und deren sinnliche Fühl- und Einfühlfähigkeit demgegenüber eher unterentwickelt ist.

Wahres Selbst und Falsches Selbst Winnicott postuliert einen primären »Kern [core] des Selbst«6 (1965a, S. 187), den er auch »Zentrales Selbst« (S. 46) nennt. Der Persönlichkeitskern umfasst die Lebendigkeit der Körpergewebe und das Wirken der Körperfunktionen, zum Beispiel Herzschlagen und Atmen (S. 148). Das Kernselbst ist Träger der angeborenen Anlagen, des ererbten Potenzials (Winnicott, 1965a, S. 46), der Lebenskraft, der Tendenz zum gesunden Wachsen und zur Entwicklung (Winnicott, 1958, S. 101; 1965a, S. 43), Ausgangspunkt der Kontinuität des Seins, der Tendenz zur Integration (Winnicott, 1988a, S. 116), der »spontanen Geste« und des »wahren Selbst« (Winnicott, 1965a, S. 187). 6

»core to the personality that corresponds to the true self« (Winnicott, 1965a, S. 187).

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Konstitutiv für das Kernselbst betrachtet Winnicott (1965a, S. 46; S. 99), dass es sich isoliert und verbirgt, damit der Kern nicht angetastet wird, weil sonst die archaischen »unvorstellbaren« psychotischen oder Vernichtungsängste ausgelöst werden (Winnicott, 1965a, S. 46 f.; 1989, S. 87 ff.). »Ich glaube, dass dieser Kern niemals mit der Welt wahrgenommener Objekte kommuniziert und dass der Einzelmensch weiß, dass dieser Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflusst werden darf« (Winnicott, 1965a, S. 187, 192). Dieser Ursprungsort des Wahren Selbst »darf niemals durch die äußere Realität beeinflusst werden, es darf sich niemals fügen« (S. 133). »Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ›incommunicado‹, das heilig und höchst bewahrenswert ist« (S. 187) und geradezu ein »Recht auf Nicht-Kommuni­kation« (S. 179) besitzt. Das Angreifen des innersten Persönlichkeitskerns durch ein Objekt, geschweige denn eine Grenzüberschreitung, stellt ein Trauma dar. Es zwingt das höchst verwundbare, gewissermaßen noch nackte und bloße Selbst zu einer Re-Aktion auf die als Verletzungs- und Vernichtungsdrohung erlebte Berührung. Wenn der Persönlichkeitskern angegriffen wird, dann bedeutet das, dass kein Sicherheitsabstand, kein Übergangsraum (potential space) mehr zwischen Selbstkern und Objekt verbleibt, in den hinein sich das Wahre Selbst entfalten und entwickeln könnte. Stattdessen erfolgt als Abwehrreaktion gegen den Übergriff die Entwicklung eines Falschen Selbst, auf das ich gleich näher zu sprechen komme. Im zweiten Teil seiner Arbeit »Aggression in Relation to Emotional Development«, entstanden 1954/55, ist eines von den drei Selbsten, die Winnicott beschreibt, das »True Self« (Winnicott, 1958, S. 217). Die anderen beiden sind verschiedene Grade von Falschheit. Caroline Neubaur (1987, S. 116 ff.) weist zu Recht auf die Problematik des deutschen Wortes »Wahres Selbst« hin, das es leicht in eine von Winnicott mit seinem True Self nicht beabsichtigte Nähe zu Philosophie und Moral rücke. Die Übersetzerin Helga Steinmetz-Schünemann schlägt deshalb die Begriffe »Echtes Selbst« oder »Authentisches Selbst« vor (vgl. Kernberg, 1985, S. 122 f.). Winnicott (1965, S. 133) formuliert programmatisch und pointiert: »Ein Grundsatz, der das menschliche Leben regiert, ließe sich wie folgt formulieren: Nur das Wahre Selbst kann sich wirklich fühlen, aber es darf niemals durch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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die äußere Realität verbogen werden, es darf sich niemals fügen«. Er relativiert aber dann selber seinen Begriff: »Neben dem Wahren Selbst gibt es [auch] im gesunden Leben einen Aspekt des Sich-Fügens, eine Fähigkeit des Säuglings, sich anzupassen ohne sich preiszugeben« (Winnicott, 1965a, S. 149 f., Hervorhebung T. A.). »Das Wahre Selbst erscheint, sobald es nur irgendeine psychische Organisation des Individuums gibt, und es bedeutet wenig mehr als die Gesamtheit der sensumotorischen Lebendigkeit« (Winnicott, 1965a, S. 149). »Die spontane Geste ist das [potentielle] Wahre Selbst in Aktion« (S. 148). Neben dem Frei-Raum des potential space (durch das holding), in den sich die spontane Geste entwerfen kann, bedarf die Selbstkonstituierung aber auch einer Begrenzung des Raums durch ein Ob-jekt (handling und object-presenting). Die spontane Geste muss auf ein konturiertes Gegenüber stoßen können (Winnicott, 1958, S. 212), damit das Selbst sich definieren kann. »In regelmäßigen Abständen findet ein spontaner Impuls Ausdruck in einer Geste des Säuglings« (Winnicott, 1965a, S. 145, Hervorhebung T. A.). »Die hinreichend gute Mutter begegnet der Omnipotenz ihres Säuglings und verleiht ihr in einem bestimmten Ausmaß Sinn. Sie tut dies wiederholt. Ein Wahres Selbst beginnt zum Leben zu erwachen, durch die Bekräftigung, die dem schwachen Ich [des Säuglings] mittels der Umsetzung der infantilen omnipotenten Äußerungen in die Wirklichkeit, zuteil wird« (S. 145, Hervorhebung T. A.). Bei einer Person mit einer starken Ausprägung des Wahren Selbst besteht eine weitgehende Stimmigkeit zwischen äußerer Realität und innerer Realität. Die Genese des Falschen Selbst wird im Wesentlichen durch zwei inadäquate Verhaltensweisen der Objekte begründet. Die eine ist ein Zuviel an Zuwendung (Übergriff [impingement]), die andere ein Zuviel an Abwendung [deprivation]. Bei beiden und zwischen beiden gibt es natürlich alle Abstufungen und zum Beispiel durch unberechenbare Willkürlichkeit des bedeutsamen Anderen verwirrende Kombinationen (Winnicott, 1965a, S. 147; vgl. Turk, 1990, S. 162). Eine nicht hinreichend gute Mutter – oder eine andere nicht genügende Beziehungsperson – verfehlt wiederholt die Begegnung mit den Spontanen Gesten ihres Säuglings und kann deshalb dessen notwendige (zeitlich und inhaltlich begrenzte, phantasierte) Omni© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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potenzerfahrungen (Winnicott, 1965a, S. 57) nicht wirksam werden lassen. Statt dass sie den Gesten des Säuglings Sinn verleiht, konfrontiert sie ihn mit ihrer eigenen Geste und zwingt ihn dadurch, dieser fremden Geste Sinn zu geben. »Diese Gefügigkeit auf Seiten des Säuglings ist das früheste Stadium des Falschen Selbst« (1965a, S. 145). Massive oder kumulative Übergriffe7 stellen in Winnicotts (S. 246) Worten eine »Vergewaltigung des Kerns des Selbst« dar. Durch das Fehlverhalten des Objekts wird das Subjekt zu einer Abwehrreaktion gezwungen, statt dass es sich kontinuierlich in seinem Selbst-Sein, seinem Wahren Selbst entfalten kann. »Das ›Individuum‹ entwickelt sich in diesem Falle als eine Ausdehnung der Schale, mehr als eine des Kerns, und als eine Erweiterung der übergriffigen Mitwelt« (Winnicott, 1958, S. 212). »Es kann Extremfälle geben, in denen nichts weiter existiert als eine Ansammlung von Reaktionen auf das Versagen der Mitwelt« (Winnicott, 1958, S. 296), ein »Pseudo-Selbst, das eine Ansammlung von zahllosen Reaktionen auf eine Aufeinanderfolge von verfehlten Anpassungsversuchen ist« (Winnicott, 1958, S. 296), eine Oberflächenpersönlichkeit, ein Charakterpanzer, eben die Chinesische Mauer. Winnicott beschreibt als eine spezifische Variante des Falschen Selbst eine »übermäßige geistige Aktivität« (Winnicott, 1965, S. 246), ein »Leben im abgespaltenen Geist« (Winnicott, 1986, S. 59), also gewissermaßen ein Intellektuelles Falsches Selbst. Zur inneren Halt- und Strukturgebung trägt nach Auffassung von Winnicott der Intellekt wesentlich mit bei. Diese Vorgänge werden heute unter dem Begriff Mentalisierung diskutiert. Die geistig-seelischen Funktionen haben nach Winnicott zunächst die Aufgabe, die Lücken in der immer nur hinreichend guten Anpassung und Versorgung der Mitwelt zu überbrücken. Das glückende mentale Ausgleichen der Versorgungsmängel macht aus dem Versagen der Mitwelt einen Anpassungserfolg des Kindes (Winnicott, 1958, S. 245). »Bestimmte Arten des Versagens, insbesondere unberechenbares Verhalten, rufen eine übermäßige Aktivität der geistigen Funktionen hervor« (S. 246) – 7 Sie können zum Beispiel auch darin bestehen, dass Eltern ihrem Kind ihre eigenen Vorstellungen und Bilder von ihm, ihre »Blaupause« seines Selbst so überstülpen, dass kein Möglichkeitsraum für Eigenentwicklung bleibt.

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Esther Bicks »Zweit-Haut« (1990, S. 237). In der Folge kommt es zu einer »Hypertrophie von intellektuellen Prozessen […] die mit einem potentiellen schizophrenen Zusammenbruch einhergeht« (Winnicott, 1958, S. 225). An die Stelle einer festen und stabilen Verbindung zwischen Geist und Körper tritt eine intellektuelle Fassade, hinter der die Seele kein Zuhause im Körper finden kann. »Das Baby beginnt ein falsches Selbst im Sinne einer abgespaltenen Geistestätigkeit zu entwickeln, während das Wahre Selbst nur psychosomatisch vorstellbar, verborgen bleibt oder vielleicht verloren geht« (Winnicott, 1986, S. 59). Dieses intellektuelle, fassadäre Falsche Selbst steht ständig in der Gefahr einer psychotischen Dekompensation. Bei einer Person mit einem Falschen Selbst stimmen die äußere Erscheinung und die innere Realität in hohem Maße nicht überein (Als-ob-Persönlichkeit). Man könnte auch sagen, dass die äußere Realität, präziser die Anpassung an sie, die innere Realität überwältigt und dominiert. Im Hinblick auf die therapeutische Behandlung warnt Winnicott (1965a, S. 133) ausdrücklich vor einer intellektualisierenden Pseudo-Analyse am Falschen Selbst, bei der sich Patient und Analytiker durch Scheinerfolge täuschen oder in unendliche Analysen verstricken (Winnicott, 1965a, S. 151) können. Die Entfaltung eines vollkommenen oder vollständigen Wahren Selbst ist natürlich eine ideale Fiktion. Die Struktur eines hinreichend guten Selbst wird immer aus einer Mischung von Wahren und Falschen Selbst-Anteilen gebildet, mit einem gewissen Übergewicht des Wahren Selbst (Winnicott, 1989, S. 491). In Winnicotts eigenen Worten: »Neben dem Wahren Selbst gibt es [auch] im gesunden Leben einen Aspekt des Sich-Fügens […] Die Fähigkeit zu Kompromissen ist eine Errungenschaft […] Beim Gesunden hört der Kompromiss aber zugleich auf, zulässig zu sein, wenn es um entscheidende Fragen geht. Wenn dies eintritt, kann das Wahre Selbst sich gegenüber dem gefügigen Selbst durchsetzen« (1965a, S. 149 f.; Hervorhebung T. A.).

Äußere Realität, innere Realität und das Dazwischen (potential space) Winnicott (1965b, S. 29) unterscheidet, wie eingangs schon angesprochen, zwischen »personal or psychic reality and reality that is actual © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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and shared«. »Das zwei-, drei- oder vierjährige Kind lebt gleichzeitig in zwei Welten. Die Welt, die wir mit dem Kind gemeinsam haben, ist zugleich die imaginäre Welt des Kindes […]. Darum sollten wir im Umgang mit einem Kind dieses Alters nicht auf einer exakten Wahrnehmung der Außenwelt [external world] bestehen« (Winnicott, 1964, S. 70). »Für das kleine Kind ist es legitim, dass die innere Welt sowohl außen wie innen ist« (Winnicott, 1964, S. 71). »Der entscheidende Punkt ist, dass wir dem kleinen Kind die Wirklichkeit [reality] nicht aufzwingen« (Winnicott, 1964, S. 71). »Sobald das Individuum die Phase erreicht hat, in der es sich als Einheit mit einer begrenzenden Membran und einem Außen und einem Innen erlebt, kann man [auch] davon sprechen, dass es über eine innere Realität verfügt« (Winnicott, 1971, S. 2). Im Dazwischen von äußerer Realität und innerer Realität kommt der »potential space« (Winnicott, 1971, S. 107 f.) ins Spiel. Übersetzt wird potential space als Übergangsraum, Raum ohne Wand (Bliersbach u. Schmidt, 1992), intermediärer Raum, potenzieller Raum, Spannungsbereich (so Ermann, 1973, in seiner Übersetzung von »Playing and Reality«) oder Möglichkeitsraum. Der potential space als Übergangsraum eröffnet sich in jener Zeitspanne, da sich die ursprüngliche Selbst-Objekt-Ununterschiedenheit aufzulösen beginnt und das vom Objekt getrennte Selbst zu erwachen beginnt. »Die Trennung [separation] wird dadurch vermieden«, schreibt Winnicott (1971, S. 109), »dass der potentielle Raum mit kreativem Spiel, dem Gebrauch von Symbolen und alldem, das sich allmählich zum kulturellen Erleben zusammenfügt, angefüllt wird«. Es ist der Raum, in dem Illusion, Träumen, Imagination, Spielen (S. 41), Kunst, kulturelles Erleben (S. 53) und schöpferische wissenschaftliche Arbeit möglich werden, der Möglichkeitsraum. »Der intermediäre Bereich […] ist jener Ort, der dem Kind zugestanden wird zwischen primärer Kreativität und objektiver, auf der Realitätsprüfung beruhenden, Wahrnehmung« (Winnicott, 1971, S. 11). Unter methodologischer Perspektive ist der potential space ein hypothetischer (Winnicott, 1971, S. 107), ein virtueller Raum. Das drückt ja auch das Adjektiv potenziell im Deutschen aus. »Es gibt ihn oder/und gibt ihn nicht« (Winnicott, 1971, S. 107). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Übrigens spricht auch Sigmund Freud (1914 g, S. 134) schon vom »Zwischenreich« des Seelischen. Und den Artikeln des ungarischen Psychoanalytikers Sándor Ferenczi »Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes« (1913/1970) und »Das Problem der Unlustbejahung« (1926/1972) liegen sehr ähnliche entwicklungspsychologische Überlegungen zugrunde wie Winnicotts Konzepten. Ferenczi spricht von »Übergangszuständen« (1970, S. 149) und vom »Zwischending zwischen Subjekt und Objekt« (1972, S. 218). Sándor Ferenczi (1873–1933) gehört übrigens zu den wenigen Autoren, die Winnicott (z. B. 1965a, S. 125 f.; 1989, S. 579, 396) zitieren. Als Übergangsraum entfaltet sich der potential space im Überschneidungsbereich zwischen äußerer Realität und innerer Realität. Er ist weder ganz Wirklichkeit noch ganz Nicht-Wirklichkeit (Phantasie), er beschreibt den intermediären Bereich. Weitere Erscheinungen im Zwischenreich sind die sogenannten Übergangsphänomene (transitional phenomenon) und Übergangsobjekte (transitional object). Zu den Übergangsphänomenen zwischen innerer und äußerer Realität zählen beispielsweise wiederholte, ritualisierte früheste Körperbewegungen wie Streicheln, Saugen, Lallen oder Summen. Übergangsobjekte sind reale Objekte wie Tuchzipfel oder Kuscheltiere, die vom Kleinstkind aber weder ganz als NichtIch-Objekte, also der äußeren Welt zugehörig, noch ganz zum IchSelbst, der inneren Welt zugehörig, erlebt werden. Sie dienen in dem sich erweiterten Trennungsbereich zwischen Baby und Mutter, zwischen Selbst und Objekt, also Nicht-Selbst, mittels ihrer durchgängigen Präsenz vor allem der Beruhigung und Versicherung. Im späteren Leben können Übergangsphänomene und Übergangsobjekte zum Beispiel als Rituale oder in Form von Maskottchen, Talismanen oder Fetischen eine hilfreich erlebte Funktion erfüllen. »Bezüglich des Übergangsobjekts kann formuliert werden: es handelt sich um eine Sache der Übereinstimmung zwischen uns und dem Baby, dass wir niemals die Frage aufwerfen: ›Hast du dir das ausgedacht oder wurde es von außen an dich herangetragen?‹. Der bedeutsame Punkt ist, dass an dieser Stelle keine Entscheidung erwartet wird. Die Frage sollte einfach nicht gestellt werden« (Winnicott, 1958, S. 240). Winnicott misst dem Spielen eine ganz zentrale Rolle für eine gesunde seelische Entwicklung und Entfaltung bei. Es ist für ihn © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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eine Grundform des Lebendigseins. Auch in der Bedeutsamkeit des Spielens weiß er sich übrigens mit Sigmund Freud (1905c, S. 214) einig, der einmal meinte: »Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit«. Das Spielen, das Tun-als-ob, vollzieht sich auf der Grenze, dem »schmalen Grad zwischen Subjektivem und objektiv Wahrnehmbaren« (Winnicott, 1971, S. 50). »Auf der Grundlage des Spielens baut die gesamte menschliche Erfahrungswelt auf. […] Wir erfahren das Leben im Bereich der Übergangsphänomene, in der aufregenden Verflechtung von Subjektivität und objektiver Beobachtung und in einem Bereich, der zwischen innerer Realität des Einzelmenschen und wahrnehmbarer Realität außerhalb des Individuums angesiedelt ist« (S. 64). Im Spiel kann die äußere Realität in Richtung innerer Realität in ein »Jenseits des Realitätsprinzips« (Rycroft, 1974) phantasievoll und kreativ überwunden werden.

Subjektivität und Objektivität Winnicott unterscheidet ein »subjektives Objekt« (1965a, S. 57; 1958, S. 240; 1971, S. 80, 91) von einem objektiven Objekt. »Der Begriff ›subjektives Objekt‹ wird verwandt, um das erste Objekt zu charakterisieren« (Winnicott, 1971, S. 80), das nichts ist als »ein Bündel von Projektionen« (S. 88) des Babys, »im Sinne von: Das Objekt ist das Subjekt« (S. 79). Die »Wandlung von der Objektbeziehung [relating] zur Objektverwendung [usage] bedeutet, dass das Subjekt das [subjektive, Anm. T. A.] Objekt zerstört« (S. 89). Frau O. erzählt in der Anfangsphase ihrer Therapie: »Wissen Sie, wann ich begonnen habe, Vertrauen in Sie zu setzen? Das war, als ich zum ersten Mal so richtig wütend auf Sie war, weil ich das Gefühl hatte, Sie hätten sich in etwas eingemischt, was Sie nichts angeht. Da merkte ich, wie betroffen Sie waren und dass Sie anfingen nachzudenken. Sie sagten, dass Sie meine heftige Reaktion nicht verstünden. Ich spürte, wie Sie sich wirklich bemühten, herauszubekommen und zu verstehen, was in mir vorging. Sie hatten nicht sofort fertige Antworten, sondern Sie versuchten das herauszufinden. Sie haben solange geforscht, bis Sie es verstanden hatten. Da wurde ich sicher, dass Sie mir nicht etwas Vorgefertigtes überstülpen wollten – wie ich es sonst © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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häufig erlebe –, sondern dass Sie sich bemühten, mich wirklich zu verstehen, was sich in mir abspielte. Da begann mein Vertrauen.« Vermutlich befürchtete Frau O. als Reaktion auf ihre Wut entweder eine aggressive Rache oder ein gewaltsames Aufdrücken einer fremden Wahrheit. Winnicott (1971, S. 90) beschreibt den behandlungstechnisch notwendigen Umgang mit einer derartigen Situation folgendermaßen: »Das Subjekt sagt zum Objekt: ›Ich habe dich zerstört‹, und das Objekt ist [und bleibt; Anm. T. A.] anwesend, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Von nun an sagt das Subjekt: ›Hallo Objekt!‹. ›Ich habe dich zerstört‹. ›Ich liebe dich‹. ›Du bist wertvoll für mich, weil du überlebt hast, obwohl ich dich zerstört habe‹. ›Im selben Moment, da ich dich liebe, zerstöre ich dich in der (unbewussten) Phantasie‹. Dies ist der eigentliche Beginn der Phantasie im Individuum«. »Mit anderen Worten: weil das Objekt überlebt hat, kann das Subjekt nun ein Leben in der Objektwelt beginnen« (Winnicott, 1971, S. 91).

Erfahrene Wirklichkeit – Gelebte Wirklichkeit Wenn Winnicott (1965b, S. 27) ausdrücklich als einen Entwicklungsfortschritt definiert, die »Fähigkeit zur äußeren Realität in Beziehung zu treten«, dann bedeutet das, dass die »objektiv wahrgenommene Welt niemals die gleiche ist, wie die vorgestellte, wie die subjektiv betrachtete« (S. 28). »Es entwickelt sich [allmählich] die Fähigkeit des einzelnen Kindes, obgleich die innere psychische Realität immer eine persönliche bleibt, so sehr sie auch durch das Wahrnehmen der Mitwelt bereichert wird, allmählich die Tatsache anzunehmen, dass gleichwohl eine Mitwelt und eine Welt außerhalb von ihm selbst existiert, die als wirklich bezeichnet werden kann« (Winnicott, 1988b, S. 56 f.). Allerdings: »Wir gehen davon aus, dass die Aufgabe der Realitätsakzeptierung nie ganz abgeschlossen wird, dass kein Mensch frei ist von der Anstrengung, innere und äußere Realität miteinander in Beziehung setzen zu müssen, und dass eine Befreiung von dieser Belastung nur durch einen nicht in Frage gestellten intermediären Erfahrungsbereich (Kunst, Religion etc.) gewährleistet wird« (Winnicott, 1971, S. 13). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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»Die Hauptsache ist«, meint Winnicott (1986, S. 27), »dass ein Mann oder eine Frau das Gefühl haben, dass er oder sie sein oder ihr eigenes Leben leben«. Sich »wirklich« (real) zu fühlen, bedeutet »ein Gefühl für das eigene Selbst und ein Gefühl für ihr Sein [being]« zu besitzen (Winnicott, 1986, S. 25). Wenn eine Psychotherapie hinreichend gut gelingt, »dann wird der Patient sein oder ihr Selbst finden und wird in die Lage versetzt, zu leben und sich als wirklich zu fühlen [feel real]. Sich wirklich zu fühlen ist mehr als zu existieren; es bedeutet die Entdeckung eines Weges, als Selbst lebendig zu sein, als Selbst zu Objekten in Beziehung zu treten und ein Selbst sein eigen zu nennen, in das man sich zur Entspannung zurückzuziehen vermag« (Winnicott, 1971, S. 117). Literatur Anzieu, D. (1991). Das Haut-Ich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Auchter, T. (2000a). Fest halten ohne festzuhalten. In A.-M. Schlösser, K. Höhfeld (Hrsg.), Psychoanalyse als Beruf (S. 385–400). Gießen: Psychosozial. Auchter, T. (2000b). Das Konzept des Haltens und seine Bedeutung für die allgemeine und die psychotherapeutische Beziehung. Zeitschrift für Individualpsychologie, 25, 88–99. Auchter, T. (2002). Winnicott – oder die Sehnsucht, ganz lebendig zu werden. Luzifer-Amor, 30, 7–45. Auchter, T. (2004). Zur Psychoanalyse des Möglichkeitsraumes »Potential Space«. Freie Assoziation, 7, 37–58. Auchter, T. (2006). Konzepte des ›Selbst‹ in der Psychoanalyse von Donald W. Winnicott. Selbstpsychologie, 24, 115–139. Balint, M. (1966). Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett. Bick, E. (1968/1990). Das Hauterleben in frühen Objektbeziehungen. In E. Bott Spillius (Hrsg.), Melanie Klein Heute. Band 1 (S. 236–240). München u. Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse. Bliersbach, G., Schmidt, M. G. (1992). Räume ohne Wände – Caroline Neubaurs Winnicott-Rezeption schafft neue Perspektiven. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, VII, 16–26. Davis, M., Wallbridge, D. (1981). Boundary and space. An introduction to the work of D. W. Winnicott. London: Karnac. (Deutsch: Eine Einführung in das Werk von D. W. Winnicott. Stuttgart: Klett-Cotta, 1983) Egle, U. T. (1993). Psychoanalytische Auffassungen vom Schmerz. Nervenarzt, 64, 289–302. Engel, G. L. (1959). »Psychogenic« pain and the pain-prone patient. American Journal of Medicine, 26, 899–918.

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Thomas Auchter

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Hellfried Krusche

Wilfred Bion zwischen fernöstlicher Mystik und westlicher Aufklärung Whose doings are all devoid of design and desire for results, and whose actions are all burnt by the fire of knowledge, him, the sages call wise. (The Bhagavad-Gita, Ch. IV, 19) When also like a tortoise its limbs, he can withdraw the senses from sense objects, his wisdom is then set firm. (The Bhagavad-Gita, Ch. II, 58)

Psychosenahe Zustände in der psychoanalytischen Behandlung Aus der klinischen Erfahrung kennen wir Patienten, die in innere Situationen verfallen, die für sie wie ein Albtraum, raum- und zeitlos sind. Herr A. sagte mir oft: »Ich meine immer, ich müsste irgendwohin. Aber ich spüre nicht die Schritte dazwischen. Ich tue alles dafür. Ich habe aber den Eindruck, ich bewege mich nicht weg. Ich kriege die Schritte nicht wahrgenommen. Dann ist da immer die Angst vor dem Zusammenbruch. Ich erlebe alles in einer Art Panik.« Herr A. verfügte über keinen stabilen seelischen Innenraum. Er reagierte häufig reflexartig und automatenhaft. Sein bisheriges Leben erschien ihm über weite Strecken wie ein Albtraum, in dem er sich gefangen fühlte. Seine Innenwelt überlagerte die Wahrnehmung seiner Außenwelt, die er als verzerrt und bedrohlich wahrnahm. Zugleich war er intelligent, kontrolliert und beruflich sehr erfolgreich. Ein anderer Patient, Herr B., litt jahrelang unter der Furcht, »aus dem Leben herauszufallen«. Er erlebte sich häufig wie ein Zuschauer im Kino vor einer Leinwand und fürchtete, irgendwann nach hinten, »ins Nichts wegzukippen«. Er konnte den Raum nicht als Raum erleben, sondern er sah alles nur zweidimensional, »wie in einem Film«. Das wurde für ihn im Arbeitsalltag zu einem Problem, wenn er zum Beispiel mit Kabelsalat von Computerkabeln zu tun hatte. Die Kabel

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Hellfried Krusche

sprangen in seiner Wahrnehmung plötzlich hin und her, weil er ihre Lage im dreidimensionalen Raum nicht wahrnehmen konnte. Auch dieser Patient war hochintelligent und erfolgreich. Er verfügte über eine enorme intellektuelle Kraft, die es ihm unter anderem ermöglichte, technische Erfindungen zu machen, die er patentieren konnte. Beide Patienten erlebten sich nicht in einer Kontinuität von Zeit und Raum. Ihre innere emotionale Grundlage war fragmentiert. Entsprechend war die Wahrnehmung ihrer Außenwelt verzerrt. Man würde umgangssprachlich sagen: »Sie waren nicht geerdet.« Sie hatten jedoch eine ungewöhnliche Fähigkeit zum verstehenden Antizipieren entwickelt. Sie waren beide als Spezialisten beruflich erfolgreich und galten in ihrem Bereich als Cracks. In den psychoanalytischen Sitzungen hatte ich häufig das Gefühl, von ihnen kontrolliert zu werden und keine eigenen, neuen Gedanken zu haben. Sie hatten die Fähigkeit entwickelt, das, was ich sagen wollte, vorwegzunehmen. Bei Herrn B. kam es erst zu einer wirklichen Veränderung, nachdem er einen Zusammenbruch erlitten hatte, während ich die Symptome seiner Erkrankung so erlebte, als seien sie meine. Er hatte mich in eine enge fusionäre Beziehung gebracht, in der ich über bestimmte Strecken der Behandlung nicht zwischen seinen und meinen Ängsten und Wünschen unterscheiden konnte. So fürchtete ich zum Beispiel einmal, an einer ernsthaften Kreislauferkrankung zu leiden, die später bei ihm, der nichts davon wahrnahm, klinisch diagnostiziert wurde. Gleichzeitig begann er mit dem Praktizieren von Hobbys, die er von mir übernahm, über die ich mit ihm jedoch nie gesprochen hatte. Bei Herrn A. war ich immer wieder überrascht, in welchem Umfang er Aspekte unserer Gespräche als bedeutsam erlebte, an deren Bedeutsamkeit ich nicht gedacht habe. In dem Maß, in dem ich die Freiheit und Originalität meines Denkens einbüßte, entwickelte er neue und originelle Gedanken. In beiden Fällen kam es zu einer Veränderung der klinischen Situation, nachdem ich meine innere Haltung veränderte. Diese Haltung würde ich mit einer Aufgabe des Anspruchs auf formulierbares Wissen beschreiben. Die Hinwendung auf die Wahrnehmung meiner inneren Befindlichkeit als Teil der Beziehung zu dem Patienten schien in diesen Fällen eher hilfreich zu sein. Dies betrifft auch die © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Bereitschaft, mich immer wieder von körperlichen und emotionalen Zuständen überraschen zu lassen. Meine Versuche des denkenden Verstehens hingegen erwiesen sich bei diesen Patienten über lange Stecken hinweg als leer und teilweise sogar als hinderlich. Sie schienen sie zu einem leeren Mitspielen in bekannten Mustern zu verleiten. Bei beiden Patienten bestand für mich eine große Versuchung darin, mich von ihren auffälligen geistigen, aber auch psychischen Fähigkeiten und Möglichkeiten faszinieren und »blenden« zu lassen. Herr A. berichtete später im Laufe der Behandlung davon, dass er beim Joggen im Park den Kopfhörer mit der Musik, die er ständig hörte, einmal vergessen hatte und er sich dabei plötzlich als lebendig und mit dem Boden und der Umgebung verbunden und als real vorhanden erlebt habe. So etwas habe er noch nicht erlebt. Dieses Gefühl erschien ihm als neu und auch tief bewegend. Herr B. konnte nach einer langen Phase, in der ich teilweise stellvertretend für ihn Symptome verspürt hatte, die zu seinem bis dahin unerkannten Krankheitsbild passten, darüber sprechen, dass er mich jetzt als real und körperlich vorhanden wahrnahm, während er mich bis dahin nur als substanzlose Sprechblase, als eine Stimme aus dem Off erlebt habe. Es sollte hinzugefügt werden, dass beide Patienten von psychisch kranken Müttern aufgezogen worden waren. Die Mutter von Herrn A. war Alkoholikerin, die des Herrn B. litt an einer Psychose. In Abwehr der erlebten Verrücktheit ihrer Mütter hatten beide Patienten ein eigenes kognitives Modell von Verstehen entwickelt, das darin bestand, Situationen schnell und effizient einzuordnen, ehe sie ihnen gefährlich werden konnten. Ich meine, an diesen Beispielen lässt sich zeigen, dass ein grundlegender Aspekt psychoanalytischen Verstehens eine Haltung des Psychoanalytikers ist, die zunächst auf ordnendes Wissen verzichtet (Rêverie), um so in einer zunächst vorsprachlichen Kommunikation die Botschaft des anderen aufzunehmen. Hierbei kann die Wahrnehmung des körperlichen Geschehens für beide Seiten eine haltende Grundlage bieten, um mit existenziellen psychischen Funktionen in Berührung zu kommen. Die beiden Patienten, Herr A. und Herr B., waren in einem System von Wissen und Kontrolle gefangen, für das jede vorschnelle © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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bzw. rationale Interpretation den Zugang zu ihrer inneren Welt eher verstellte. Obwohl Erfahrungen dieser Art bekannt sind, ist es schwer, sie psychoanalytisch zu fassen. Hier scheint es so, als sei bei diesen Patienten eine Art von Beziehung bedeutsam und wirksam geworden, die man nicht gut in bekannten kausalen Denkmustern unterbringen kann.

Zur Entwicklung des psychischen Funktionierens aus der Sicht Bions Wilfred Bion hat zum Verständnis psychotischer Patienten das Phänomen der projektiven Identifizierung ins Zentrum seiner theoretischen Überlegungen gestellt. Seine Beschreibung der Entwicklung des psychischen Apparats aus einer träumerischen Verfasstheit heraus hin zum Denken und Erkennen von Neuem, Transformation in K, stößt zunehmend auf Interesse und wird über weite Strecken diskutiert. In der Weiterführung der Gedanken Freuds bezieht sich Bion vorwiegend auf Melanie Klein. Besonders hebt er ihre Gedanken zur paranoid-schizoiden und depressiven Position hervor. Nach Engel (Engel et al., 2000) transformiert er die Theorie Kleins, indem er ausgehend von der emotionalen Erfahrung eine abstrakte »ungesättigte« Sprache entwickelt, die sich jeweils auf die konkrete psychoanalytische Situation bezieht (Engel et al., 2000, S. 18 ff.). In Anlehnung an die Gedanken Melanie Kleins sieht Bion die Mutter als Empfängerin emotionaler Erfahrungen, die das Kind alleine nicht verarbeiten kann. Die Mutter, so Bion, wird in ihrer Beziehung zum Baby mit heftigen Affektzuständen konfrontiert, die das Kind allein nicht verarbeiten kann. Sie nimmt diese Zustände des Kindes in einem träumerischen Zustand der Rêverie auf (Krejci, 1992, spricht in diesem Kontext von einem Zustand der träumerischen Gelöstheit) und transformiert sie in kohärente emotionale Erfahrungen, die sie an das Kind zurückgibt. Diese Erfahrungen werden auf diesem Weg von β-Elementen zu α-Elementen transformiert, die das Kind nun in Folge eines langwierigen Anreicherungs- und Entwicklungsprozesses später als Emotionen erleben und dann seinerseits für sich nutzen kann. Es kann auf der Grundlage der mütterlichen Rêverie Zusammenhänge und Traumerfahrungen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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herstellen. Die zunächst rohen Sinnesdaten, die das Kind erfährt, werden auf diese Weise von der Mutter, die ihre seelische Realität und ihr Wissen vom Leben ins Spiel bringt, »entgiftet«, das heißt von unerträglichen Mangelzuständen und den damit verbunden unbewussten Phantasien befreit. Ausgehend von dem Konzept der projektiven Identifizierung wird die Beziehung zwischen Mutter und Kind zur Metapher für eine grundlegende psychische Funktion, die Bion Container-Contained nennt. Container ist die Komponente an dem Prozess, die den aufnehmenden Aspekt vertritt (hier im Beispiel ist es die träumerisch gelöst anwesende Mutter). Contained ist der Aspekt, der das, was gehalten wird, oder das, was man Inhalt nennen könnte, vertritt (zum Beispiel der Säugling mit seinen noch unorganisierten Sinneserfahrungen). Bion gebraucht dabei das Modell eines »lebendigen Behälters, zusammen mit dem Gehalt, den er in sich aufnimmt« (Krejci, 1992, S. 26). Hierbei geht es um das Bild für eine Beziehung, in der es eine aufnehmende Funktion und eine Funktion des Gehaltenwerdens gibt. In dieser Beziehung können Entwicklungs- und Adaptationsprozesse stattfinden. Bion beschreibt die Entwicklung im Baby ausgehend von rudimentären Präkonzepten, die im Kind sozusagen als Reaktionsschema bereit liegen und eine Realisierung durch Sinneseindrücke benötigen, um sich erfüllen zu können bzw. real zu werden. Im Aufeinandertreffen eines solchen Präkonzepts mit einer in das Schema passenden Antwort etwa in Form eines Sinnesreizes kann ein Konzept entstehen, das mit dem Gefühl der Befriedigung einhergeht. Das Ergebnis kann als Präkonzept für weitere Realisierungen dienen. Hierüber wird der Boden für weitere Konzeptbildungen und das spätere Denken vorbereitet. Dieser Prozess beschreibt einen Vorgang des Lernens in weitesten Sinn. Das Aufeinandertreffen von Präkonzepten mit passenden Antworten schafft eine andauernde Bewegung zu neuen Erfahrungen hin, die sich fortwährend weiter generieren. Das Besondere an Bions Denken in diesem Kontext ist die Betonung dieses Prozesses des fortgesetzten Werdens, der fortgesetzten Entwicklung als einem lebendigen Prozess in Beziehung.

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Die lebendige Erfahrung als Grundlage der psychischen Entwicklung Grotstein (1981, S. 527) unterstreicht die Wichtigkeit, die Bion in einer gelebten Erfahrung sieht, die nicht vorfabriziert, sondern sich dem Geschehen wie einem Feld der Erfahrungen überlassen kann. Bei der Erforschung der Grundlagen für die Wahrnehmung der Welt kommt Bion zu der Schlussfolgerung, dass diese nur über die Entwicklung der psychischen Innenwelt erfahrbar ist. Die Innenwelt entfaltet sich über die Introjektion einer emotionalen Beziehung mit dem Beziehungsobjekt. Diese Prozesse sind lebenslang aktiv. Sie sind später Bestandteil der sich selbst organisierenden Psyche. Entwicklung in diesem Sinn erfordert die Fähigkeit, das Nichtwissen bzw. das Nichtverstehen auszuhalten und das Urteil bzw. die Einordnung des bis dahin Unbekannten so lange in der Schwebe zu halten, bis ein auf wirklicher Erfahrung gegründetes Wissen möglich wird. Das vorschnelle Vornehmen einer definitorischen Bestimmung hingegen ist aus der Sicht Bions als Abwehr des Erlebens neuer Erfahrungen zu verstehen. Dies erfordert eine innere Haltung, die Bion in Anlehnung an den englischen Romantiker Keats mit dem Begriff der »negative capability« beschreibt: »und plötzlich verstand ich, welche Eigenschaften, die Shakespeare in so überaus reichem Maße besaß – ich meine, die negative Fähigkeit, das heißt, wenn jemand fähig ist, das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen« (John Keats, zit. nach Bion, 2006, S. 143). Bions Werk stellt aus meiner Sicht eine wesentliche Erweiterung der bisherigen klassischen Psychoanalyse dar. Seine Gedanken waren mir für das Verstehen der beiden oben beschriebenen Patienten, Herrn A. und Herrn B., hilfreich: Herr A. und Herr B. glaubten, den drohenden psychischen Zusammenbruch über gedankliche Abwehrarbeit abwenden zu müssen. Dies engte ihren inneren Spielraum derart ein, dass Raum zum Verstehen sofort als bedrohlich erlebt wurde. Über das Aushalten der inneren Spannung im Rahmen einer Beziehung, in der unverarbeitetes Material der Patienten im Analytiker in einer aufnehmenden träumerischen Verfasstheit verarbeitet © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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und an die Patienten zurückgegeben wird, konnten die Patienten nach mehreren Jahren der Arbeit nun selbst die psychische »Verdauungsarbeit« und die entsprechende Symbolbildung leisten. Diese Patienten versetzten mich zunächst im Lauf der Behandlung jedoch in innere Spannungszustände, die sich nicht nur psychisch, sondern auch körperlich in mir ausbreiteten, ohne dass ich sofort Sinn und Bedeutung dieser Zustände verstehen konnte. Diese zunächst diffusen und unklaren Zustände bildeten die Grundlage für ein Verstehen im engeren Sinn im späteren Verlauf der Behandlung. Über projektive Identifizierung und eine innere Haltung des Containing konnte ein Verarbeitungsprozess in Gang kommen, der zunächst in mir und dann im Patienten im Sinn einer Symbolisierungsarbeit stattfand. In diesem Kontext könnte man in der Terminologie Bions von einer Transformation in K sprechen. Ich denke, dass im Beispiel dieser beiden Patienten noch eine weitere Dimension enthalten ist: Herr A. und Herr B. beschrieben, dass sie sich plötzlich tief mit einer inneren Lebendigkeit verbunden fühlten. Dies war für sie und für ihre Veränderung bedeutsam. Dieses Gefühl der lebendigen Verbundenheit war für sie die existenzielle Grundlage für ihre weitere Entwicklung in der Behandlung. Sie betonten diese Entdeckung der Wahrnehmung ihres Seins und ihrer Realität als eine neue Dimension in ihrem Erleben, ohne jedoch sagen zu können, was sich konkret verändert hatte. Könnte es sein, dass es sich hier um den Hinweis auf einen Prozess handelt, der vor der Symbolbildung auf eine körpernahe, existenzielle Grunderfahrung verweist?

Die Kontroverse um den »frühen« und den »späten« Bion In seiner weitergehenden Auseinandersetzung mit dem Unbewussten postulierte Bion in seinen späteren Publikationen ab 1965 eine grundsätzliche Nichterkennbarkeit des »Eigentlichen« im Patienten. Diese Gedanken in seinem Spätwerk werden in der psychoanalytischen Literatur zurzeit kontrovers diskutiert. Während es dem sogenannten frühen Bion vorwiegend um die Erkundung der Entwicklung des Wissens (knowing) gegangen sei (Transformation in K), habe © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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man es danach mit dem späten Bion zu tun, dem es vorwiegend um die Auseinandersetzung mit dem tieferen Sein und Werden (being) des Patienten gehe (Transformation in O). Die Kontroverse um den sogenannten frühen und späten Bion ist 2005 in einer Diskussion im International Journal of Psychoanalysis aufgekommen und wird dort 2011 erneut aufgegriffen und fortgeführt (2005, 86; 2011, 92). Taylor (2011, S. 1099) datiert zum Beispiel die Wende vom frühen Bion zum späten Bion um 1965. Dieses Datum fällt mit dem Erscheinen des Buchs »Transformations« von Bion zusammen, einem Werk, in dem er sich systematisch mit O als der Bezeichnung für etwas, das begrifflich nicht fassbar ist, auseinandersetzt. In dieser Monografie entwickelt Bion in einer an der Sprache der Mathematik orientierten Darstellung ein Modell der psychischen Entwicklung nach dem Bild einer Emanationstheorie. In einem abstrakten, von Formeln und mathematischen Zeichen durchsetzten Text bringt er die Frage nach dem letzten, nicht mehr erkennbaren »Ding an sich« auf, aus dem alles Manifeste und sinnlich Erfahrbare entstehe. In einer vorwiegend theoretischen Darlegung auf hohem Abstraktionsniveau werden klinische Praxis und Philosophie, insbesondere die abendländische Metaphysik und Religionsphilosophie, zusammengebracht. Hintergrund ist sein Anliegen, die Grundfrage nach der Einheit, die allem Vielfältigen zugrunde liegt, psychoanalytisch zu erfassen. Wiederholt zitiert er in diesem Kontext John Milton (»Paradise Lost«): »The rising world of waters dark and deep Won from the void and formless infinite.« (Bion, 1965/1991, S. 162). Grundlage aller Phänomene ist für den späten Bion das, was unerkannt aus der Tiefe heraus entsteht, das in immer neuen Hervorbringungen die phänomenale manifeste Welt aus dem Unbekannten zur Erscheinung bringt. Dieses O ist für ihn aber auch das Reale, nämlich das, was der Wirklichkeit zugrunde liegt (Bion, 1965/1991, S. 163 ff.). Offensichtlich wirft Bion hier die Frage auf, wie man das, was hinter dem »Vorhang der Illusionen« (Vermote, 2011) liegt, erfassen kann. Taylor hält dem entgegen, dass die Annahmen des späten Bion noch Ausarbeitungen und klinische Illustrationen brauchen, um © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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klinische Evidenz und Beweisbarkeit zu ermöglichen. In den späteren Schriften gehe es Bion um das Sein und nicht um das Wissen. Der Begriff Wahrheit sei beim späten Bion eng mit dem Begriff des Seins verknüpft. Gleichzeitig sei das Sein aber grundsätzlich nicht erkennbar (Taylor, 2011, S. 1112). Rachel Blass zeigt in ihrer die jüngste Diskussion einleitenden Arbeit auf, dass eine Reihe namhafter Autoren wie E. T. de Bianchedi, M. Eigen, A. Ferro, J. Grotstein, T. Ogden und J. und N. Symington den Wert Bions späterer Arbeiten betonen. Einige dieser Autoren sehen in Bions späten Arbeiten eine grundlegende Innovation, die Brücken und Verbindungen zu anderen psychoanalytischen Strömungen ermöglicht (Blass, 2011, S. 1081 ff.). Die grundlegende Differenz in der Diskussion entsteht an der Frage, wie die Beziehung mit einem Objekt, das nicht mehr mit den Sinnesorganen erfasst werden kann, psychoanalytisch gedacht werden kann. Ganz offensichtlich öffnen sich in der Diskussion um den frühen und den späten Bion zwei divergierende Bezugssysteme. Auf der einen Seite steht ein eher positivistischer Ansatz, in dem es um kontrollierbares Wissen geht, auf der anderen Seite steht eine eher philosophisch-anthropologische, verstehende Betrachtung des Seins im Hintergrund. Wissen ist kontrollierbar. Die Begegnung im Auftauchen von O ist nicht vorhersehbar und nicht steuerbar. Wenn sie aber stattfindet, hat sie eine tiefe transformierende Wirkung auf den Patienten. Es liegt nahe, dass psychoanalytisches Arbeiten beide Prozesse benötigt: wissenschaftlich kontrollierbares Erkennen und aus der Tiefe des Unbekannten auftauchendes Verstehen als ein kontinuierlicher Prozess des Werdens. In dieser Grundspannung der Frage, wie diese beiden für den psychoanalytischen Prozess so notwendigen Positionen zusammengebracht werden können, nimmt Rudi Vermote (2011) eine vermittelnde Position zwischen dem frühen und dem späten Bion ein. So habe Bion von der Ebene der Repräsentationen (Transformation in K) kommend sich auf die Frage konzentriert, wie Veränderungen auf einer tieferen, noch nicht repräsentierten Ebene stattfinden können (Transformation in O). Bion bediene sich hierbei der Sprache der Mystiker, ohne jedoch selbst Mystiker zu sein. Vielmehr versuche er, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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seine neuen Gedanken an der klassischen Psychoanalyse zu orientieren. Jeder Gedanke werde aus Bions späterer Perspektive aus dem noch formlosen dunklen Unendlichen gewonnen. Die Transformation in O sei etwas, was Neues generiere, und somit von dem Denken in bekannten Kategorien (Transformation in K) zu unterscheiden. Beide Prozesse erforderten unterschiedliche Grundhaltungen: Während für eine Transformation in K eine Einstellung von entspannter Aufmerksamkeit im Analytiker von Bedeutung sei, damit er offen für seine Träume und Phantasien (Rêverie) ist, ist für die Transformation in O eine Grundeinstellung von Glaube, Zuversicht und Ehrfurcht (Act of Faith und Awe) erforderlich, damit etwas, was bisher nicht stattfinden konnte, stattfinden kann (Vermote, 2011, S. 1091 ff.). Vermote vertritt hier die Position, dass sich beide Modelle, das des frühen Bion und das des späten Bion, zu einem umfassenden zweigleisigen Modell zusammenfügen lassen. Er spricht in diesem Kontext von einem »dual track model of psychic change« (S. 1089). Auch wenn deutlich ist, dass beide Prozesse, einmal die Öffnung für das Vorsprachliche und Unbekannte, zum anderen die Übersetzung in die gemeinsame Sprache, wesentliche Bestandteile für einen fruchtbaren psychoanalytischen Entwicklungsprozess sind, so bleibt doch die Chiffre O rätselhaft und das, was Bion hiermit verbindet, letztlich unerkannt und schwer fassbar.

Der Blick auf das Unbekannte Aus der Sicht Bions erfordert der Blick auf das Unbekannte und dessen Entwicklung eine »künstliche Abblendung«, die der Analytiker vornimmt, um für das, was zutage tritt, offen sein zu können. Jede Erinnerung und jeder Wunsch im Analytiker beeinträchtige die analytische Intuition (Bion, 2006, S. 40). Sie sind »Erhellungen, die die Beobachtungsgabe des Analytikers ebenso zerstören, wie das Licht, das durch einen Sprung in das Gehäuse der Kamera fällt, den solcherweise belichteten Film wertlos macht« (Bion, 2006, S. 82). Die künstliche Blindheit unterstütze die Fähigkeit des Analytikers, die evolvierten Elemente von O zu sehen (S. 71). »Jedem materiellen oder immateriellen Objekt wohnt die unerkennbare letzte Realität, das Ding an sich« inne (S. 101). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Bion spricht in diesem Kontext auch von einem »durchdringenden Strahl der Dunkelheit«, der auf die dunklen Stellen der analytischen Situation gelenkt werden könne. Dieser bewusste Akt des Verzichts auf Wunsch und Erinnerung sei aber nur möglich, wenn eine andere Einstellung, ein anderer Blickwinkel eingenommen werde. Hierbei geht es um die Beziehung zum nicht Erkennbaren, das aber als real angenommen und auch als erfahrbar beschrieben wird. »Objekte haben Emanationen oder emergente Eigenschaften oder evolvierende Merkmale, die als Phänomene auf die Persönlichkeit einwirken« (Bion, 2006, S. 101). Dieses Werden ist für Bion nicht direkt über die Sinnesorgane wahrnehmbar, sondern nur »intuierbar«. Bion weist darauf hin, dass es hierbei um das Zulassen der Erfahrung des Neuen, Unbekannten und letztendlich Unerkennbaren gehe, etwas, das in einer Art Urerfahrung plötzlich in der Innenwelt auftauchen könne, wenn man ihm den Platz einräume. »Ein Begriff, der annähernd auszudrücken vermag, was ich zum Ausdruck bringen möchte, ist Glaube – der Glaube, dass es eine letzte Realität und Wahrheit gibt – das Unbekannte, Un(er)kennbare, das gestaltlose Unendliche« (Bion, 2006. S. 41). Der Glaubensakt, Bion spricht hier von einem »act of faith«, ermögliche es dem Analytiker, seine Aufmerksamkeit auf O zu richten, also auf das Unbekannte. »Der Erfolg der Psychoanalyse hängt von der Beibehaltung eines psychoanalytischen Blickwinkels ab. Der Blickwinkel ist der psychoanalytische Vertex. Der psychoanalytische Vertex ist O. Damit kann der Analytiker nicht identifiziert sein: Er muss O sein« (Bion, 2006, S. 36).

Zur Bestimmung von O Wenn es unzweifelhaft ist, dass Bion sich in der abendländischen Philosophie an Plato, Spätplatonikern wie Plotin, den Gnostikern und Mystikern wie Meister Eckhart, aber auch an Philosphen der Neuzeit wie Kant und Heidegger orientiert hat, so lässt sich doch O in keinem der erwähnten Gedankensysteme fassen. Das zeigt sich unter anderem am Beispiel Meister Eckharts, den er wiederholt zitiert, dessen Gottesbegriff er aber überhaupt nicht teilt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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O kann auch nicht als analog zum Unbewussten verstanden werden, wie Freud es sah, da es ja vor der Trennung von bewusst und unbewusst angesiedelt ist. Auch kann es nicht als eine rein passive Hintergrundmatrix verstanden werden, da es anscheinend emergent aktiv ist und Neues produzieren kann. Grotstein hat in seiner Auseinandersetzung mit diesem Begriff eine zusammenfassende These formuliert. Aus seiner Perspektive ist es Bion gelungen, mit O das Konzept des Unbewussten zu revidieren (Grotstein, 2012, S. 12). Dabei sei es ihm gelungen, Psychoanalyse, Metaphysik und Existenzphilosophie zu verbinden (S. 1). Die tiefere Natur dieses Unbewussten sei die tiefe formlose Unendlichkeit »The deep and formless infinite is its nature« (S. 12). Dieses Unbewusste sei ohne Dimension, unbegrenzt und chaotisch. »In other words, Bion’s picture of the unconscious, along with that of Winnicott and Matte-Blanco, conveys an ineffable, inscrutinable, and utterly indefinable inchoate formlessness that is both infinite and chaotic, or complex by nature« (S. 12). Es sei immer in Entwicklung und zugleich auch unverändert. Diese paradoxe Grundstruktur sei die Grundlage des psychischen Geschehens. Vor diesem Hintergrund seien die Strukturen, die Klein und Freud beschreiben, Abwehr- und Verarbeitungsformen einer chaotischen Urerfahrung: »It is what it is and is always changing while paradoxically remaining the same. From this point of view, Freuds instinctual drives and Klein’s paranoid-schizoid and depressive positions can be understood as secondary structures, strategies or filters, to assist the infant in mediating chaos« (Grotstein, 2012, S. 12). Bions entscheidender Punkt ist das Forschungsinteresse und die lebendige Erfahrung des Neuen. Die Transformation in O dient in erster Linie der Öffnung für Entwicklung und Erfahrung von neuen Formen, für die er offen sein will. Anders als den häufig in diesem Kontext erwähnten Mystikern geht es Bion nicht um die sogenannte Gotteserfahrung oder Erleuchtung. Als Forscher scheint er von Mystikern und Gnostikern inspiriert. Seine innere Haltung bleibt aber die eines Suchenden. Ihm geht es um das Sein im Werden. Das nicht Fassbare an der Chiffre O ist wohl der Grund für die Ambivalenz, die diesem Konzept immer wieder entgegengebracht wird. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Die beiden eingangs erwähnten Patienten, Herr A. und Herr B., konnten sich entwickeln und verändern, nachdem sie sich als real vorhanden erlebt hatten. Diese Erfahrung setzte jedoch, zumindest zeitweise, die Aufgabe ihrer fortgesetzten gedanklichen Abwehr neuer Erfahrungen voraus. Dies wurde erst viel später Grundlage für weiteres Verstehen.

Indische Wurzeln im Denken Bions Wenn ich mich auf die schon erwähnte Arbeit Bions von 1965 »Transformations« beziehe, dann verstehe ich Bion so, als wolle er in einer ganzheitlichen Vision und in einer neuen Sicht das Unbewusste wissenschaftlich mathematisierbar erfassen und es zugleich in seiner Unbegrenztheit und seiner Nichtfassbarkeit beschreibbar machen. Mit dem Versuch, Endlichkeit und Messbarkeit auf der einen Seite und die Dimension des unendlichen und unerschöpflichen Werdens auf der anderen Seite zusammenzubringen, umspannt er zwei in unserer westlichen Tradition schwer vereinbare Perspektiven. Das ist aber nicht in allen Denksystemen so: Begrenztes Sein und unbegrenztes Werden stehen zum Beispiel in der fernöstlichen Philosophie der Inder nicht im Widerspruch zueinander. So ist die Einheit von beidem unter anderem ein Grundgedanke im Samkhya, dem philosophischen Unterbau der Theorie des Yoga. Ist Bion ist ein Grenzgänger zwischen den philosophischen Kulturen von Ost und West, Okzident und Orient? Dieser provokanten Frage möchte ich anhand einiger Gedanken des Hinduismus und des klassischen Yoga nachgehen. Bion ist in Indien geboren und dort zur Schule gegangen. Er kam im Alter von acht Jahren auf ein englisches Internat. Während seiner Zeit in Indien wurde er von einer indischen Kinderfrau versorgt, die ihm alles bedeutete und an die er sich gern und mit Zärtlichkeit erinnert. »Wir mochten unsere Ayah sehr gerne, vielleicht noch lieber als unsere Eltern« (Bion, 1987, zit. nach Wiedemann, 2007, S. 15). Bion selbst hat immer wieder Hinweise auf den Einfluss durch seine uralte indische Kinderfrau Ayah auf ihn gegeben. Seine Übersiedlung in ein englisches Internat wurde von ihm hingegen als traumatisch erlebt. Bewusst wandte sich Bion erst spät der indischen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Philosophie zu. Dann erkannte er aber vieles von dem wieder, was ihm durch seine Kinderfrau vertraut war. »Ich las gerade das Mahabharata und wunderte mich, warum es mir so vertraut vorkommt. Dann dämmerte mir, es muss deshalb so sein, weil es die Art von Geschichten ist, die mir meine alte Ayah auch erzählt haben muss« (zit. nach Wiedemann, 2007, S. 127). Wir dürfen davon ausgehen, dass Bion ein guter Kenner der indischen Mythologie war. Die Upanishaden, frühe philosophische Grundtexte der indischen Philosophie, dürften ihm bekannt gewesen sein. Auch wenn er die Schriften nicht im Einzelnen genau studiert hat, so kann davon ausgegangen werden, dass die darin vermittelte Weltanschauung in den ersten acht Lebensjahren in sein Unbewusstes eingegangen ist. Später hat er diese Erinnerungen nachweislich in den Studien des Mahabharata, einem Grundlagentext des Hinduismus, aufgefrischt. Wer das moderne Indien bereist, stellt in den schnelllebigen Großstädten dieses Kontinents selbst heute noch den mächtigen Einfluss der hinduistischen Weltanschauung fest. Um wie viel stärker muss diese in Indien alles durchdringende Philosophie in der damaligen Zeit, der Wende ins 20. Jahrhundert gewesen sein? Hinzu kommt, dass seine Verwandten im christlichen Missionarsdienst standen. Ein Besuch christlicher Kirchen zeigt selbst im heutigen Indien noch, wie weit der Hinduismus dort in die christliche Religion hineinragt. Wenn man sich dazu noch vor Augen hält, dass Bion im Punjab am Fuße des Himalaya, dem »Sitz der indischen Götter« aufwuchs, kann man sich kaum vorstellen, dass er von der hinduistischen Philosophie unberührt war. Es ist aber nicht klar, inwieweit er von diesen Einflüssen bewusst Kenntnis genommen hat. Bewusst hat Bion sich intensiv mit der Bhagavad-Gita auseinandergesetzt, einer der drei Hauptschriften der hinduistischen Philosophie. Die Bhagavad-Gita ist das Kernstück des Mahabharata, eines großen Epos, das sich um den Konflikt zweier Familien dreht. Wir wollen also davon ausgehen, dass Bion Teile der Upanishaden und die Bhagavad-Gita gekannt hat. Er war mit deren weltanschaulichem Hintergrund, der Sein und Werden ganz anders verbindet als unsere okzidentale Weltsicht, vertraut. Auf diese Weltanschauung möchte ich nun kurz eingehen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Die Bhagavad-Gita

In der Bhagavad-Gita, diesem klassischen Haupttext des Hinduismus, werden die Philosophie des Handelns und des Yoga dargelegt. Ihr Inhalt besteht vorwiegend aus einem Dialog, den Arjuna, der Heerführer eines Familienclans, mit Krishna, dem Wagenlenker seines Kampfwagens, führt. Arjuna steht in dem Konflikt, sein Heer gegen eine ehemals befreundete Familie führen zu müssen, in deren Reihen er seine Onkel, Lehrer und ehemalige Freunde weiß. In einem sich nun entfaltenden Gewissenskonflikt erfährt er eine grundlegende Krise. Dabei entwickelt er psychosomatische Symptome wie Schweißausbrüche und Gliederzittern. Er lässt sich von seinem Wagenlenker Krishna, der eine Inkarnation des Gottes Vishnu ist, in die Mitte zwischen beide Heere fahren, um von dort aus, in gleicher Entfernung der Parteien, in die Gesichter der Krieger beider Heere blicken zu können. Er steht in einem Spannungsfeld, das er allein nicht mehr bewältigen kann, und erfährt einen seelischen Zusammenbruch, der ihn verändert. Die Entwicklung findet nach dem psychischen Zusammenbruch statt, nachdem er Krishna um Hilfe gebeten hat. Im Zentrum zwischen den beiden zum Krieg gerüsteten Heeren beginnt nun ein Dialog über den Sinn seiner Handlungen in insgesamt 17 weiteren Kapiteln. Hierbei werden ihm die unterschiedlichen Aspekte von Yoga vor Augen geführt. Man könnte ohne Weiteres auch von einer therapeutischen Situation auf dem Schlachtfeld der inneren Objekte sprechen, in der Arjuna nach seiner Krise und seinem Zusammenbruch im Dialog mit einem transzendenten Objekt den tieferen Sinn seiner Handlungen erfährt. Was erfährt er in diesem Dialog und was könnte dies mit der Auffassung Bions von der analytischen Situation zu tun haben? Hier ein Auszug (Übersetzung H. K.): Arjuna sagte: »Wenn ich diese meine Verwandten sehe, die sich hier zum Krieg versammelt haben, versagen mir die Glieder, o Krishna, und mein Mund ist ausgetrocknet« (Ch. I, 28). »Mein Körper zittert und die Haare stehen mir zu Berge. Gandivas Bogen entgleitet meiner Hand und meine Haut brennt am ganzen Körper« (Ch. I, 29). »Ich kann nicht stehen; in meinem Kopf wirbelt alles durcheinander; und Keshava, ich sehe ungünstige Vorzeichen« (Ch. I, 30). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Arjuna ist das Kriegshandwerk gewöhnt. Seine Angst speist sich nicht aus der Furcht vor Kampf und Krieg, sondern aus einem unlösbaren Konflikt seines Wertesystems. Was ist die Lösung dieser Krise, die bei Arjuna so katastrophal wird? Wie ist diese ausweglose Situation für Arjuna lösbar? Im zweiten Kapitel erfährt er durch seinen Beschützer und Wagenlenker Krishna eine Unterweisung und Aufklärung. Ihm wird empfohlen, eine Haltung der inneren Abstinenz und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit einzunehmen. Hier einige weitere Auszüge: »Suche Deine Aufgabe zu erfüllen, aber fordere nicht deren Früchte ein. Sei du weder der Hersteller der Früchte des Karma, noch neige dich dem Nichthandeln zu« (Ch. II, 47). Zu dieser Haltung gehört die Aufgabe der eigenen Wünsche und Erinnerungen. »Vollziehe Handlung, O Dhananjaya, während du fest in Yoga bist. Gib alles auf, was dich bindet, und sei gleich gestimmt sowohl in Erfolg wie in Misserfolg, (inneres) Gleichgewicht ist wahrhaft Yoga« (Ch. II, 48). »Wenn ein Mann, O Partha, alle seine Herzenswünsche aufgibt und im Selbst durch das Selbst zufrieden ist, dann sagt man von ihm, dass er in Weisheit stabil ist« (Ch. II, 55). Schließlich ist Abwendung der Sinnesorgane von den äußeren Objekten und das Aufsuchen der Dunkelheit ein Weg zur Erkenntnis: »Wenn, wie eine Schildkröte ihre Glieder, er seine Sinnesorgane von den Sinnesobjekten zurückziehen kann, sagt man, ist seine Weisheit sicher« (Ch.  II, 58). Wie bei Bion schon zitiert, wird die Dunkelheit Voraussetzung für diese Art der Wahrnehmung. Das Licht der normalen Sinneseindrücke ist eine Störung und Behinderung für die Wahrnehmung des Yogi: »Das was für alle Lebewesen Nacht ist, darin wacht der disziplinierte Mann. Das was für alle Lebewesen Tag ist, ist Nacht für den Atman-kennenden Muni« (Ch. II, 69). Dann folgt die Empfehlung, seine Wünsche und Vorstellungen aufzugeben, um für die Wahrnehmung frei zu sein: »Den, der in seinen Handlungen von fixierten Vorstellungen und dem Wunsch nach Ergebnissen frei ist und dessen Handlungen vollständig vom Feuer der Erkenntnis verbrannt sind, den nennen die Wissenden ›weise‹« (Ch. IV, 19). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Viele weitere für unsere Untersuchung wertvolle Stellen in der Bhagavad-Gita könnten zitiert werden. Andeutungen und Verweise müssen hier genügen. Im weiteren Verlauf des Dialogs zwischen Arjuna und Krishna wird die hinduistische Haltung des Handelns um der Handlung willen entwickelt, eine Haltung, die den Verzicht auf Kontrolle und konkrete Ergebnisse impliziert. Im Zentrum dieser Philosophie steht die Handlung, die im Vertrauen auf eine nicht kontrollierbare Macht ihre Aufgabe vollbringt. An den zitierten Beispielen wird deutlich, dass die Haltung des Yogi, mit der die katastrophische Krise Arjunas bearbeitet werden soll, strukturelle Ähnlichkeiten mit einer analytischen Haltung aufweist, die uns Bion in der psychoanalytischen Arbeit, so wie er sie versteht, nahelegt. Auch aus der Sicht Bions wird eine Selbstdisziplin erforderlich, Wünsche und Erinnerungen zu vermeiden, da dies die Fähigkeit verbessere, Glaubensakte zu vollziehen (Bion, 2006, S. 44). Notwendig sei ein »bewußter Akt des Verzichts auf Erinnerung und Wunsch« (Bion, 2006, S. 41). Jede Erinnerung, jeder Wunsch hingegen beeinträchtige die analytische Intuition unweigerlich (Bion, 2006, S. 40). Weiterhin geht es bei Bion darum, in der Dunkelheit des nicht Erkennbaren, »den Glauben, dass es eine letzte Realität und Wahrheit gibt – das Unbekannte, Un(er)kennbare […] zu behalten« (Bion, 2006, S. 41). Der Vertex auf das Unerkennbare O sowie der damit einhergehende »Act of Faith« stellen eine Konstante in seinem Denken dar. Hierbei geht es darum, nicht zu urteilen und Vertrauen in eine Entwicklung zu haben, deren letzte Dynamik wir nicht verstehen können, die wir aber als vorhanden annehmen. Yoga

Es ist nun wichtig, darauf hinzuweisen, dass der in der Bhagavad-Gita verwendete Begriff Yoga nicht zu verwechseln ist mit dem zurzeit in Mode geratenen Breitenverständnis von Yoga, das sich vorwiegend auf die gymnastische Anwendung von Körperpraktiken bezieht. In den Yogasutren des Patanjali, dem klassischen Grundlagentext des Yoga aus dem zweiten Jahrhundert, werden körperliche Yogaübungen kaum erwähnt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Yoga im ursprünglichen Sinn heißt Bindung bzw. Beziehung mit einer höheren Wirkmacht. Yoga könnte auch mit dem von Bion gebrauchten Begriff linking übersetzt werden. Die Grundgedanken des Yoga sind in der Philosophie des Samkhya begründet. In dieser Philosophie gibt es die uns so vertraute Trennung zwischen Geist und Materie bzw. Psyche und Körper nicht. Die Psyche, wie wir sie verstehen, wird in diesem System als Materie verstanden. Die Materie (prakritti) ist fortgesetzt in Umwandlung und Veränderung. Die Transformation der Materie findet im Spannungsfeld zwischen drei Grundkräften statt, deren Qualität man als lichten Raum (sattva), lähmende Schwere (tamas) und treibende Energie (rajas) beschreiben könnte. Sattva kann durchaus als der innere Raum verstanden werden, in dem Verstehen (Transformation in K) möglich wird. Rajas ist die Dimension der heftigen Gefühle von Lieben und Hassen. Tamas ist die Ebene des Widerstands gegen Entwicklung und Veränderung. Die Grundidee der Yogaphilosophie wird schon in den ersten drei Versen der Yogasutren des Patanjali dargelegt. Dieser Text ist jedoch hoch kondensiert. Deswegen bedarf er der Interpretation durch jemanden, der in der Tradition des Yoga sicher verankert ist. Zur Auslegung einiger Sutren dieses Textes und ihrer Interpretation lege ich hier einen Dialog zugrunde, den ich mit einem der letzten direkten Nachfahren einer indischen Yogatradition geführt habe (Desikachar u. Krusche, 2007). Demnach bedeutet Yoga so viel wie Beziehung. Grundlage ist die Aufnahme der Beziehung mit einem Lehrer, der in einer Tradition steht. Diese Beziehung wird als eine tiefe emotionale Nähe zwischen Schüler und Lehrer verstanden (Ch. I, Sutra 1), »a heart to heart relationship« (Desikachar u. Krusche, 2007). Erst nachdem diese Beziehung fest etabliert ist, kann so etwas wie Transformation in Yoga stattfinden. Transformation in Yoga heißt dann, dass das Denken als ständige geistige Bewegung zwischen bekannten Objekten zum Stillstand gebracht wird (Ch. I, Sutra 2). Dies wird möglich, sobald es gelingt, eine Beziehung zu einem inneren Objekt herzustellen, bei der alle äußeren Objekte in den Hintergrund treten. Sobald die Abwendung von den äußeren Objekten, die Kanalisierung der Sinneseindrücke und die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ein inneres Objekt mit einer Loslösung von äußeren Sinnesreizen, aber auch von fixierten © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Vorstellungen gelingen, kann etwas Neues stattfinden, das im Yoga als Transformation beschrieben wird (Ch. I, Sutra 3). Dieses Neue ist eine Annäherung an die Quelle des Bewusstseins. Es wird im Yoga als die Erfahrung von Licht und Energie beschrieben, die sowohl die Psyche als auch den Körper durchfluten kann. Hierbei kommt es zu tieferen Erkenntnissen über die eigene Natur und damit einhergehend zu inneren Veränderungen. Wie bei psychoanalytischen Deutungen und Einsichten handelt es sich hierbei nie um einen Endzustand, sondern immer nur um Etappen einer lebenslangen Entwicklung. Bewusstsein und Psyche in der Tradition des Yoga

Das Bewusstsein der Yogaphilosophie zeigt Ähnlichkeiten zu dem auf, was uns Bion mit dem Begriff O nahelegt und was bei den Gnostikern und Mystikern als Gotteserfahrung bezeichnet wird. Bion spricht nie direkt von Gotteserfahrungen. Er betont hingegen die transformierende Wirkung durch die Erfahrung des Neuen. Die hier angedeutete Erfahrung des Neuen wird in der Yogaphilosophie durch das Bewusstsein ermöglicht. Dieses Bewusstsein hat in der Yogaphilosophie aber eine völlig andere Bedeutung als das, was im Westen unter dem Begriff Bewusstsein verstanden wird. Das in diesem Kontext häufig gebrauchte englische Wort consciousness ist irreführend (dies ist eine Quelle häufiger Missverständnisse bei der Rezeption des Yoga). Das Bewusstsein der Yogaphilosophie wird (vergleichbar mit O) als eine aktive und aktivierende Energie, die zugleich Hintergrund aller Aktivitäten ist, verstanden. Es umfasst sowohl das Unbewusste als auch das, was wir als Wissen, Vorbewusstes und Bewusstes bezeichnen. Es kann am ehesten als Überbewusstsein oder ein Bewusstsein, das allen Formen der Wahrnehmung in latenter Weise inhärent und zuvor ist und diesen die Essenz verleiht, verstanden werden. Dieses Bewusstsein hat drei Qualitäten, die in einem Wort zusammengefasst werden: Sat-Chit-Ananda. Sat heißt, es ist real vorhanden. Dieses Bewusstsein ist kein Konzept oder transzendentes Objekt, sondern es ist real vorhanden und wirksam. Chit heißt, es ist immer präsent, auch wenn es nicht über die Sinnesorgane erfassbar ist. Ananda bedeutet, es ist unendlich, unbegrenzt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Wir können auch dies mit Bions Denken in Verbindung bringen: Bion verwendet O, »um zu denotieren, was die letzte Realität ist, die durch Begriffe wie letzte Realität, absolute Wahrheit, die Gottheit, das Unendliche, das Ding an sich, repräsentiert wird« (Bion, 2006, S. 35). Was wird aber aus der Psyche, so wie wir sie sehen? Die Psyche im engeren Sinn, wie wir sie in unserer westlichen Tradition verstehen, ist in der östlichen Tradition des Yoga den Gesetzen ständiger Verwandlung der Materie unterworfen, da sie selbst als ein Teil der Materie verstanden wird. Vergleichbar zur Bewegung PS–D, oszilliert der psychische Apparat zwischen zwei »Aggregatzuständen«, die einmal mehr an den Sinnesorganen orientiert sind, und dann wieder hin zu der dem Bewusstsein zugewandten Seite. Im einen Fall heißt der psychische Apparat Manas, im anderen Fall Chitta. Manas ist ein psychischer Zustand, der eher unkoordiniert den Sinneseindrücken untergeordnet ist, also durchaus der paranoid-schizoiden Verfassung ähnlich. Citta hingegen ist ein psychischer Zustand, in dem die Psyche eher geordnet, fokussiert und klar ist, also eine Verfassung, die eher der depressiven Position zuzuordnen wäre. Innerhalb des Geschehens der fortgesetzten Oszillation und Verwandlung gibt es in der Psyche einen inneren Ort der Stabilität und des nicht Zerstörbaren. Dieser innere Raum wird Purusha oder auch Drastha genannt. Dies ist die im Menschen inkarnierte Form des übergeordneten Bewusstseins, der indischen Mythologie. Die Verbindung zwischen der Psyche und den Sinnesorganen, die in der ständigen Bewegung der sich verwandelnden materiellen Welt gefangen sind, und dem stabilen Kern wird durch ein spezielles psychisches Organ, das Buddhi genannt wird, geschaffen. Buddhi ist in der Theorie des Yoga der intelligente, verstehende Teil der Psyche, der sowohl mit den Sinnesorganen als auch mit dem sogenannten inneren Selbst, dem übergeordneten Bewusstsein in Verbindung steht. (Buddha ist derjenige, der von höherer Einsicht und Verstehen durchdrungen ist.) Buddhi als Organ kann durch günstige Umstände aber auch durch bestimmte meditative Praktiken entwickelt und angeregt werden. Das Ergebnis ist ein leichterer Zugang zum Selbst und damit einhergehend unter anderem eine durchgängige Verringerung der Angst im Individuum und damit die Entfaltung der Intuition und der Einfühlung. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Grotstein zufolge war Bion auf der Suche nach einem Sinnesorgan des Psychischen, das den psychischen Qualitäten direkter zugewandt sei. Aus der Sicht des Yoga ist Buddhi dieses innere nichtsinnliche Wahrnehmungsorgan. Es gibt aber weitere Hinweise auf Gemeinsamkeiten zwischen der indischen Philosophie und dem Denken Bions. Der Einfluss durch die Upanishaden

Die Upanishaden sind frühe philosophische Texte, sogenanntes Geheimwissen, das über Jahrhunderte nur im persönlichen Einzelunterricht mündlich in Form von Liedern tradiert wurde. Diese Texte sind zwischen 2500 und 3000 Jahre alt. In der Taittiriya Upanishad wird zum Beispiel die Konstitution des menschlichen Systems in den fünf Schichten der Maya beschrieben. Diese fünf sogenannten Mayaschichten sind: ȤȤ Das Feld der Materie (Annamaya), ȤȤ das Feld der Energie und der Dynamik (Pranamaya), ȤȤ das Feld des Wissens der Benennungen, der Definitionen und des lexikalischen Wissens (Manomaya), ȤȤ das Feld des Verstehens und der individuellen Erfahrung (Vijnana Maya), ȤȤ das Feld der Emotionen und des Unbegrenzten (Ananda Maya). Diese Felder der Maya sind so ineinandergeschoben, dass jede Ebene von der nächst unteren umfasst wird. Die jeweils äußere Ebene ist Behälter für die nächste innere Ebene. Zugleich durchdringen sich die Ebenen. Sie werden in Form eines Containments beschrieben. Hierin sehe ich eine weitere Übereinstimmung mit den Gedanken Bions. Im dialogischen Kontext der circa 3000  Jahre alten Taittiriya Upanishad wird die Entdeckung dieser fünf Ebenen als eine Geschichte der Erfahrung beschrieben. In dieser Geschichte sucht der Schüler Bhgru die letzte Wahrheit (Brahma) und bittet seinen Vater Varuna um Unterrichtung. Varuna ermuntert ihn, Disziplin zu üben (Tapas) und sich auf die Suche zu machen. Er solle die Antwort durch Übung selbst herausfinden und sie auf diese Weise konkret erfahren. So kommt Bhgru nach der Entdeckung jeder einzelnen Ebene des Mayafeldes zurück und wird von seinem Vater ermuntert, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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die Untersuchung weiter zu treiben, bis er die Erfahrung aller fünf Ebenen und letztendlich Brahmas macht. Hier zeigt sich ein weiterer Aspekt der Gemeinsamkeit mit der indischen Philosophie des Yoga: Wahrheit wird durch gelebte Erfahrung vermittelt, nicht durch vorgefertigtes Wissen. Eine wichtige Voraussetzung ist die Disziplin in der konkreten Praxis (Tapas). Das Pranava

In den Yogasutren wird unter anderem die Bedeutung von Pranava dargelegt. Pranava ist die Anrufung Brahmas mit der Silbe Om. Om besteht aus den drei Buchstaben AUM. Diese sind das A und O des hinduistischen Universums. Om begleitet jede hinduistische Meditation, jede Anbetung an die Kraft, die in allem als waltend vorgestellt wird und alles transformiert. Es ist kaum vorzustellen, dass Bion die Rezitation dieser Anbetung nicht unzählbare Male in Indien gehört hat. Praktische Erfahrungen mit der Yogatradition

Im traditionellen Unterricht, wie ich ihn mit dem Sohn von Krishnamacharya, dem »Vater des modernen Yoga«, wie er genannt wird, erfuhr, gibt es nur den Einzelunterricht im Rahmen einer Beziehung. Die Beziehung ist das Zentrum der gemeinsamen Arbeit. Jedes Mal, wenn ich nach einigen Monaten Unterbrechung nach Indien wiederkehrte, wurde zunächst lange geschwiegen. Während des Schweigens, hatte ich den Eindruck, fand eine tiefere Beziehungsaufnahme statt, als sie mit Worten möglich gewesen wäre. Anschließend wurden traditionelle Texte, zum Beispiel Teile der Upanishaden, auf Sanskrit gesungen, die die gemeinsame Arbeit zwischen Schüler und Lehrer zum Inhalt haben. Bei diesen Liedern sang zunächst der Lehrer und ich wiederholte, bis es zu einem Dialog kam und er und ich abwechselnd die einzelnen Strophen der Lieder sangen. Nie wurde etwas geplant. Es war unmöglich, sich auf etwas vorzubereiten. Jede Stunde war eine neue spontane Begegnung. Nach langen Pausen des Schweigens tauchte häufig etwas auf, das sich als bedeutsam erwies. Die Beziehung zum Lehrer wurde während meiner langen Pausen der Abwesenheit in Europa durch Körperübungen aufrechterhalten, die in der Tradition verankert waren. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Mir war bei den täglichen Übungen klar, dass mein Lehrer ähnliche Übungen machte und seine Lehrer in den früheren Generationen ähnliche Übungen gemacht hatten. Bei den Übungen ging es darum, so genau wie möglich dem Lehrer zu folgen, um auf diesem Weg auch der Tradition nahe zu bleiben. Hierbei wurden unter anderem Atemtechniken eingesetzt, um frühe Objektbeziehungen zu transformieren. So besteht eine Technik zum Beispiel darin, dass der Lehrer die Strophe eines traditionellen Textes singt, während der Schüler einatmet, und eine andere, während er ausatmet. Der Atem ist das erste und das letzte Objekt, mit dem wir in unserem Leben in Kontakt sind. Im klassischen Yogaunterricht ging es zunächst um ein Mitmachen und Nachmachen dessen, was der Yogalehrer zeigte und lebte. Die Authentizität und Verankerung in der Tradition waren die wichtigsten Säulen, auf denen der Unterricht fußte. Es ist bedeutsam zu erwähnen, dass die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer immer auf das Erlernen von Yogatechniken beschränkt ist. Ziel ist die Befähigung, die Praxis auch allein so ausführen zu können, dass der Schüler die Auswirkungen seiner eigenen Übungen direkt erfahren kann. Mich hat bei aller Nähe und Intensität der Zusammenarbeit mit T. K. V. Desikachar immer seine innere Abstinenz und Zurückhaltung beeindruckt, die für mich einer fortwährenden analytischen Haltung vergleichbar war. Das Ergebnis dieser Erfahrung ist eine zunehmende Fokussierung auf einen Zustand, den beide, Lehrer und Schüler anstreben. Dieser Zustand ist einem Energiefeld vergleichbar, das zugleich inneren Raum vermittelt. Es scheint so, als sei dies ein Prozess, der sich nach epigenetischen Mustern selbst steuert. Das Ergebnis besteht in einem Blick auf ein schwer in Worten beschreibbares inneres Feld, in dem es Energie, Licht, aber auch immer wieder aufscheinende neue Ordnungen gibt. Der Prozess geht einher mit einem Gefühl der tiefen Verbundenheit der inneren Welt mit dieser Energie. Dieses Feld kann mit den Worten Grotsteins als chaotisch, umwälzend, aber auch neu ordnend beschrieben werden. Es öffnet das Denken auf neue Erfahrungen hin und lässt neue Gedanken aufscheinen. Insofern ist es chaotisch und kreativ zugleich. Dennoch wird der Prozess durch das tradierte Vorgehen in festen Bahnen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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gehalten und ist auch reproduzierbar, sofern dieselben beteiligten Personen die in der Tradition verankerten Übungen praktizieren. Herr A. und Herr B. versuchten, die Erfahrung des psychischen Zusammenbruchs und die damit verbundene Gefahr einer als chaotisch erlebten Transformation abzuwehren, indem sie einen auf vermeintlich logischen Regeln aufgebauten Denkapparat entwickelten. Für sie bedeutet Sicherheit kontrolliertes Wissen innerhalb ihres Gedankensystems. Aus der Perspektive des Yoga könnte man sagen: Sie beziehen sich auf die geistigen Bewegungen (Manas/Chitta) ihrer psychischen Struktur. Das ist die Ebene, auf der das Wissen als knowing im Sinne Bions im Vordergrund steht. Die Stilllegung der Gedankenströme und das Freilegen eines offenen inneren Raumes, in dem Neues entstehen könnte – im Yoga Voraussetzung für eine Transformation –, wird von diesen Patienten als eine Bedrohung katastrophischen Ausmaßes erlebt. Erst über die Erfahrung ihrer körperlichen Verfasstheit, die über eine unbewusste Identifizierung mit der körperlichen Verfasstheit des Analytikers ermöglicht wurde, wird die Möglichkeit des Nichtdenkens eröffnet. Dies war die Grundlage für entscheidende weitere Entwicklungen. Es zeigt sich, dass bei diesen Patienten die Annäherung an körpernahe Prozesse, ähnlich wie im Yoga, einen wesentlichen Beitrag zur strukturellen Veränderung leisten kann.

Die Integration im Denken Bions Vieles deutet darauf hin, dass einige der hier vorgetragenen Gedanken der indischen Tradition und deren Umgang mit dem Fremden bzw. Namenlosen in Bions Perspektive auf die Funktionen von O erkennbar sind. Ich möchte an dieser Stelle die Vermutung äußern, dass Bion kreativ auf seinen Kindheitserfahrungen in Indien aufbaut und die darin enthaltene indische Philosophie mit den westlichen Philosophien amalgamiert. Wie er das macht, illustriert ein Beispiel, das Bion uns selbst gibt: »Diese Idee [vom Sehen durch Blindheit] ist sehr alt; im Mahabharata […] drängt Arjuna den Krishna, sich zu offenbaren. Krishna stimmt zu, das zu tun, mit dem Ergebnis, dass Arjuna durch das, was er sieht, geblendet wird, aber er überlebt […] das ist wohl etwas, was Menschen zu allen Zeiten erfahren haben. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Die religiösen Mystiker wie Meister Eckhart, Dichter wie Dante und viele andere hatten dieselbe Erfahrung, obwohl sie durch Jahrhunderte, durch Nationalität, durch Rasse und durch Sprache getrennt waren« (Bion, 1987, zit. nach Wiedemann, 2007, S. 300). Meine These ist nun die Folgende: Bion ist durch den frühen und möglicherweise schwer zu verarbeitenden Schock nach dem Verlust seiner Heimat in einem englischen Internat in einen traumatischen Zustand versetzt worden. Schilderungen seines Verhaltens in dieser Zeit bestätigen diese Vermutung. Ich denke, dass er Erinnerungen an seine frühen Erfahrungen in Indien festhalten und einkapseln konnte. Später, nach den teilweise schmerzhaften Erlebnissen im Krieg und dann im Studium, war er in der Lage, diese Erinnerungen mit den unterschiedlichen Weltanschauungen und philosophischen Systemen, mit denen er sich intensiv beschäftigte, kreativ zu verbinden und daraus eine eigene Gestalt zu machen, in der er seine Vergangenheit aufbewahren und später auch lebendig werden lassen konnte. Auf diese Weise verbindet Bion in seiner Innenwelt seine frühen und späteren Erfahrungen und schafft dabei einen originellen Weg, die innere Welt im Lichte dieser vielfältigen Gesichtspunkte neu zu explorieren. Aus Bions Biografie wissen wir, dass er die griechischen Philosophen gut kannte. Er hatte vor seinem Medizinstudium in Oxford Geschichte studiert und sich dabei gründlich mit der abendländischen Philosophie beschäftigt. Die Rede ist von Plato und den Neuplatonikern wie zum Beispiel Plotin. Direkt bezogen hat er sich auf Kant, aber auch auf die Romantiker, insbesondere den englischen Romantiker Keats. Wiederholt taucht die Erwähnung des mittelalterlichen Mystikers und Philosophen Meister Eckhart auf. Wenn wir unsere Hypothese des Einflusses durch die indische Philosophie aufrechterhalten, dann ist Transformation in K das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit der westlichen Philosophie und Weltanschauung, während das Konzept Transformation in O die Einwirkung durch seine östlichen und von der indischen Philosophie beeinflussten Gedanken repräsentiert. Zur ungemeinen Weite der Bion-Rezeption kann auf Wiedemann 2007 (S. 324 f.) verwiesen werden. Wiedemann stellt in diesem Kontext die Behauptung auf, dass Bion hier ein Beispiel für ein »linking« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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zwischen Psychoanalyse, Mystik und Wissenschaft gebe (S. 300). Die in dieser Arbeit formulierte These der indischen Wurzeln in Bions Denken legt eine Verbindung zwischen westlicher und östlicher Philosophie nahe, die dabei die Basis der natürlichen Religiosität des Menschen wieder freilegt.

Die Erweiterung des psychoanalytischen Blickwinkels Der in Deutschland ausgebildete indische Psychoanalytiker S. Kakar ist als Mittler zwischen den östlichen und westlichen Kulturen ein gefragter Experte. Er beschäftigt sich in einer Arbeit (2008) mit der Ambivalenz der Psychoanalyse der romantischen Seite der Imagination gegenüber. Hierbei bringt er die Fähigkeit, sich in das Gegenüber einzufühlen, mit traditionellen östlichen Behandlungstechniken in Verbindung. Insbesondere sieht er in der spirituellen Praxis der indischen Yogis eine Technik, die die Fähigkeit zur Einfühlung in den Patienten systematisch entwickeln kann. Kakar beschreibt die immer wieder zu beobachtende Wirkung der indischen Heiler, die vorwiegend die Einfühlung zum Instrument ihrer Behandlung machen. Das sogenannte höhere diskriminierende Wahrnehmungsorgan wird, wie schon wiederholt erwähnt, in der Tradition des Yoga Buddhi genannt. Auch Kakar bezieht sich auf die hier beschriebene Yogapraxis und bringt diese mit der von Bion gesuchten Wahrnehmungsfunktion zusammen: »Buddhi ist im Yoga das Pendant des Wahrnehmungsorgans der psychischen Qualitäten des Psychoanalytikers und Mystikers Wilfred Bion, das den Botschaften des Senders, der in der inneren Welt wohnt, antwortet und für das der Psychoanalytiker seine Empfänglichkeit entwickeln sollte. Bion war der Auffassung, dass Psychoanalytiker den Lärm des sinnlichen Lebens abblenden sollten, um auf diese Weise für die anderen Botschaften des psychischen Lebens aufnahmefähiger zu werden« (Kakar, 2008, Übersetzung H. K.). Das Bedürfnis nach religiöser Erfahrung ist von der Psychoanalyse bisher eher als Symptom der Persönlichkeitsstruktur des Patienten verstanden worden. Dies führt nicht selten dazu, dass die Patienten sich esoterischen Theorien und Systemen zuwenden, die ihre Suche nach dem Spirituellen befriedigen können, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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da sie den Eindruck haben, in der psychoanalytischen Praxis hierfür keinen Raum zu finden. Ralf Zwiebel und Gerald Weischede haben sich mit diesem Thema in einer Diskussion zwischen Zen-Buddhismus und Psychoanalyse auseinandergesetzt, indem sie beide Praktiken als Wege für Heilung und Selbsterkenntnis beschreiben, die sich befruchten und unterstützen können (Zwiebel u. Weischede, 2009). Bion als ein Pionier der Integration von westlichem mit östlichem Denken könnte durchaus dazu beitragen, die Psychoanalyse noch einmal auf eine breitere philosophische Basis zu stellen, um damit auch den aktuellen Zeitfragen, die sich um die Suche nach einem transzendenten Objekt bewegen, eine psychoanalytisch fundierte Antwort geben zu können, die den Boden des psychoanalytischen Denkens nicht aufgibt. Literatur Bion, W. (1965/1991). Transformations. London: Karnac. Bion, W. (2006). Aufmerksamkeit und Deutung. Tübingen: Edition diskord. Blass, R. B. (2011). Introduction to »On the value of ›late Bion‹ to analytic theory and practice«. Int. J. Psychoanal., 92, 1081–1088. Desikachar, T. K. V., Krusche, H. (2007). Das Verborgene Wissen bei Freud und Patanjali: Beziehung, Heilung und Wandlung in Yoga und Psychoanalyse. Stuttgart: Theseus Verlag. Engel, U.; Gast, L.; Gutmann, J. B. (Hrsg.) (2000). Bion. Aspekte der Rezeption in Deutschland. Tübingen. Edition diskord. Grotstein, J. S. (1981). Wilfred R. Bion: The man, the psychoanalyst, the mystic: a perspective on his life and work. Contemporary Psychoanalysis, 17, 501–536. Grotstein, J. S. (2012). Bion’s »Transformation in ›O‹« and the Concept of the »Transcendent Position«. Zugriff am 27. 4. 2012 unter http://www.sicap.it/ mercial/bion/papers/grots.htm Kakar, S. (2008). The resurgence of imagination. Symposion on spirituality and depth psychology. Stuttgart: Breuninger Foundation. Krejci, E. (1992). Vorwort. In W. Bion, Lernen durch Erfahrung (S. 9–33). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Steinbrecher, M. (2010). Die Auslagerung des Dritten als therapeutisch hilfreiches Element? Psychoanalyse und Yoga. Teil 2: Fallgeschichte. In: Die Figur des Dritten. Frankfurt a. M.: Tagungsband der Arbeitstagung der DPV. Taylor, D. (2011). Commentary on Vermote’s »On the value of ›late Bion‹ to analytic theory and practice«. International Journal of Psychoanalysis, 92, 1099–1112.

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Vermote, R. (2011). On the value of »late Bion« to analytic theory and practice. International Journal of Psychoanalysis (92), 1089–1098. Weischede, G., Zwiebel, R. (2009). Neurose und Erleuchtung. Anfängergeist in Zen und Psychoanalyse: Ein Dialog. Stuttgart: Klett-Cotta. Wiedemann, W. (2007). Wilfred Bion: Biografie, Theorie und klinische Praxis des »Mystikers der Psychoanalyse«. Gießen: Psychosozial.

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Innere und äußere Realität im Spiegel von Kunsterfahrungen Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist, als die Welt des Traumes. (Salvador Dalí)

Der Fahrstuhl Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen Fahrstuhl durch die geöffneten silberglänzenden Edelstahltüren und »fahren« mit den anderen Anwesenden circa zwei Dutzend Stockwerke auf und ab. Tatsächlich fährt der Aufzug nicht, sondern suggeriert Ihnen ein reales Fahrerlebnis durch die an allen vier Wänden gleichzeitig auf und abfahrenden Bilder. Sie erhalten so Einblicke in die verschiedenen Stockwerke, Flure, Zimmer, Ausblicke auf die Stadt aus den oberen Stockwerken sowie in Kellergeschosse und Tiefgaragenebenen etc. Dabei imponieren die entsprechenden Körpersensationen: »Fährt« der Fahrstuhl in den Keller, steigt der Druck im Kopf, Ihre Beine federn unter Umständen den abrupten Halt beim Stopp auf der nächsten Etage mit ab; »fährt« der Fahlstuhl nach oben, sackt das Blut in Ihre Beine, der Druck im Kopf nimmt wieder ab. Die Türen des Aufzugs bleiben permanent geöffnet und Ihre Mitfahrer steigen ständig ein und aus, egal ob der Aufzug gerade anhält oder nicht. So läuft neben diesem als real wahrgenommenen Fahrerlebnis ständig die Wahrnehmung parallel mit, dass es sich um etwas Irreales oder Gemachtes handelt. Der indische Künstler Gigi Scaria (geboren 1973 in Kothanalloor) präsentiert auf der Bienale in Venedig 2011 seine Arbeit »Elevator from the Subcontinent«. Es handelt sich um eine begehbare Installation, die den Betrachter in einen scheinbar real existierenden Fahrstuhl einlädt. Tatsächlich fühlt er sich nunmehr auf seinen eigenen »Subcontinent« zurückgeworfen, sobald sich der »Fahrstuhl« in

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Bewegung setzt. Der Besucher erlebt wie in einem Übergangsbereich, nicht entscheiden zu müssen oder zu können, ob es sich um etwas Reales oder Irreales handelt, etwas Vorgefundenes oder selbst Hergestelltes. Im nächsten Schritt liegt der Gedanke nahe, dass es der eigene Körper ist, der diese Irritation produziert. Es bewegt sich lediglich ein Film an der Wand, aber der Körper erschafft über seine sensorischen Einschreibungen und den Abruf von Erinnerungsspuren ein reales Erlebnis. Neu ist diese Erfahrung keineswegs, oftmals beschrieben als bekanntes Phänomen des vermeintlich anfahrenden Zuges am Bahnhof, obwohl sich lediglich der benachbarte Zug in Bewegung setzt, während man sich selbst keinen Meter von der Stelle bewegt. Der imaginäre Fahrstuhl spielt mit der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmungen und eröffnet darüber die Chance eines gedanklichen Raums, um die eigene Aktivität im Prozessgeschehen zu reflektieren. Ich werde später noch auf dieses Beispiel zurückkommen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich die innere und äußere Realität des Menschen als eine voneinander getrennt wahrnehmbare Welt entwickelt. Anhand von Beispielen aus der Kunst soll dargestellt werden, wie sich diese Grenze im ästhetischen Erleben verwischen oder wieder aufheben kann. Schließlich möchte ich am Beispiel der Auseinandersetzung mit Realistischer Kunst die These veranschaulichen, dass gerade das naturgetreue Abbild der Welt die Reflexion über den prinzipiell konstrukthaften Charakter der menschlichen Aneignung von Wirklichkeit befördern kann.

Innere und äußere Realität im wissenschaftlichen Diskurs Die Verortung von innerer und äußerer Realität bezeichnet eine erkenntnistheoretische Problemstellung, um die sich stets verschiedene wissenschaftliche Disziplinen bemüht haben. Die jeweiligen Gegenstandsbildungen lassen sich jedoch nicht scharf voneinander trennen. So beschäftigen sich mit dem Thema zum Beispiel die Philosophie, die Medizin, die Psychoanalyse und die Kunstwissenschaft in zahlreichen, sich überschneidenden Bereichen. Die frühesten Arbeiten zur Unterscheidung von innerer und äußerer Welt gehen auf Platon und Aristoteles zurück, die zwischen der »Sache selbst« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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und dem Wahrnehmbaren der Erscheinung unterschieden. Kant beschäftigte sich mit den »Gegenständen des reinen Verstandes« im Gegensatz zu denen der »sinnlichen Anschauung«. Für Hegel bildeten dann Wesen und Erscheinung eine dialektische Identität. Bei Schopenhauer und Nietzsche lassen sich bereits Ansätze zu Freuds Konzeption der psychischen Realität finden. Ich möchte zunächst einmal Waldvogel (2000, S. 343 ff.) folgen, der einen breit angelegten Überblick zum Thema gibt, um drei Bedeutungsebenen voneinander zu unterscheiden. Die erste Ebene bildet die objektive äußere Welt, die unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt gegeben ist. Die naturwissenschaftlichen Disziplinen untersuchen traditionell die Vorgänge unserer Wirklichkeit1, die als objektiv messbar angesehen werden, das heißt die Realität ist hier zunächst einmal nicht davon abhängig, ob ich sie beachte oder verstehe. Wenn man davon ausgeht, dass die äußere Welt als objektiv Gegebene anzusehen ist, stellt sich jedoch das Problem der Erkenntnismöglichkeit über diese Realität. In der Erkenntnistheorie wird die Existenz einer solchen Außenwelt durch den Idealismus verneint, durch den Realismus bejaht. Der kritische Realismus nimmt an, dass es keine unmittelbaren Wahrnehmungsund Erkenntnismöglichkeiten gibt, sondern lediglich Annäherungen. Prinzipiell bildet die sinnliche Wahrnehmung die Außenwelt im Innern des Subjekts ab, so dass keine darüber hinausgehende Aussage über die äußere Realität getroffen werden kann. Kritische Theoretiker erkennen mit dieser Sichtweise an, dass dem Menschen aufgrund seiner selektiven Wahrnehmung Erkenntnisprozesse über die äußere Welt prinzipiell nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur annäherungsweise möglich sind. Die zweite Ebene bezieht sich auf das Verhältnis von innerer und äußerer Wirklichkeit. Die menschliche Wahrnehmung der phänomenalen Welt konstituiert eine als innerhalb oder außerhalb erlebte Welt. Die Wahrnehmung hat einen konstrukthaften Charakter, der mittels der fünf Sinne aus der äußeren Welt abgeleitet wird. Damit basiert 1

Die Begriffe Wirklichkeit und Realität bzw. innere und äußere Realität werden in diesem Beitrag nicht scharf getrennt. Um dieser Unschärfe zu entgehen, hätte es einer eigenen Arbeit bedurft.

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das allgemeine Erleben im Alltag auf dem Gefühl des Getrenntseins von Innen und Außen. Man orientiert sich an einer äußeren Realität, die man sinnlich wahrnehmen kann, die es folglich geben muss, egal ob man ihr Bedeutung verleiht oder nicht. Die Erscheinungen wirken dabei allerdings nicht, als ob sie uns bloß erscheinen würden, sondern die phänomenale Welt erscheint uns als Wirklichkeit, als ob sie tatsächlich die Realität sei. Demgegenüber stehen Phänome der inneren Realität: Vorstellungen, Erinnerungen, Tagträume, Phantasien etc. Das menschliche Gehirn ist in der Lage, die äußere und die innere Welt zu unterscheiden, allerdings ohne dabei objektive Kriterien zur Verfügung zu haben. Krisenhafte Zuspitzungen oder Zusammenbrüche erlebt der Mensch in der Regel, wenn diese Unterscheidungsfähigkeit im Alltag nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Dann droht der psychotische Zusammenbruch mit dem katastrophischen Gefühl von Realitätsdiffusion, Fragmentierung und Identitätsverlust. Wahrnehmungen und Vorstellungen können aber auch im Alltagsgeschehen einen diffusen Bereich im »Dazwischen« beleben, wozu Träume und Halluzinationen interessante Untersuchungsfelder liefern. Die neuropsychoanalytische Forschung hat vor allem in den letzten Jahren beeindruckende Ergebnisse in diese Debatte eingebracht. Die dritte Ebene bilden die aus der phänomenalen Welt abgeleiteten gedachten Welten des Menschen, also hypothetische Konstruktionen über zugrunde liegende Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der phänomenalen Außen- und Innenwelt. Die Psychoanalyse geht in praktisch allen neueren Konzepten von einer Wechselwirkung zwischen der inneren und der äußeren Realität aus, die sich gegenseitig beeinflussen und strukturieren. Die jeweiligen Gewichtungen sind allerdings sehr unterschiedlich. Freud nahm einer kritischen Sichtweise folgend eine äußere Realität gegenüber einer inneren an, die jedoch beide letztlich nur unvollständig erfasst werden können. Die psychische Realität bezeichnet bei Freud die Tatsache, dass Phantasien nicht nur real erscheinen können, sondern darüber hinaus reale Auswirkungen auf psychische und somatische Vorgänge haben können. Der Einbruch des Realen kann demnach genauso traumatisierende Folgen haben, wie Eindrücke aus der psychischen Welt des Individuums. Das Werk Freuds lässt sich dementsprechend auch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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unter der Fragestellung der Verbindung zwischen innerer und äußerer Realität, von Trieb und Trauma lesen.

Realität beginnt zu zweit Bei Freud beginnt die »Realität« mit Unlusterfahrungen, die das Individuum zwingen, seinen autoerotischen Zustand zu verlassen und sich auf die Suche nach befriedigenden Objekten zu begeben. Später war es vor allem Melanie Klein, die sich mit dem Aufbau und der Bedeutung des Realitätsgefühls beschäftigte. Sie konzentrierte sich auf die Erforschung der inneren Welt, der inneren Objekte und unbewussten Phantasien, die aus internalisierten Objektbeziehungen entstehen. Diese Innenwelt ist nach kleinianischer Auffassung so unmittelbar erlebbar, als wäre sie physisch existent. Klein geht von einem anfänglich rudimentären Ich aus, das in interpersonaler Bezogenheit auf ein mütterliches Objekt ausgerichtet ist. Die Mutter wird in dieser Phase noch nicht als ganzes Objekt wahrgenommen, sondern in ihren Teilaspekten, als Teilobjekt oder Verlängerung des eigenen Selbst. Mit Hilfe von projektiven und introjektiven Mechanismen müssen sich in einer kreisförmigen Bewegung die Erfahrung von innerer und äußerer Realität erst herausbilden. Die Grundlage für diese Entwicklung bilden frühe Spaltungsprozesse, mit deren Hilfe alles Unlustvolle und Unerträgliche von den befriedigenden Erfahrungen getrennt werden kann. Es wird angenommen, dass sich auch das Erleben von Kontinuität und Konstanz, das Gefühl der eigenen Identität von diesen frühesten Entwicklungsphasen an entwickelt. Bion untersuchte diese Aspekte weiter im Zusammenhang mit emotionalen und kognitiven Prozessen bei psychotischen Patienten und führte seine Theorie in Überlegungen zum Containment weiter aus (Bion, 1988). Darauf aufbauend entwickelt er eine Theorie des Denkens und Fühlens, die auf der Fähigkeit eines mütterlichen Objekts beruht, unerträgliche Reize (β-Elemente), die der Säugling mittels projektiver Prozesse in die Mutter verlagert, in verarbeiteter Form dem Säugling zurückzugeben, so dass dieser mit diesen neuen Erfahrungen, den α-Elementen, die Alphafunktion zum Halten und weiteren Bearbeiten von Gefühlen und Gedanken entwickeln © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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kann. Weitere Vertreter der neokleinianischen Schule, insbesondere H. Rosenfeld, B. Joseph, H. Segal und D. Meltzer, beschäftigten sich damit, wie die Welt der inneren Objektbeziehungen eine Struktur des Selbst hervorbringt, die mittels Symbolisierungsprozessen in der Lage ist, Affekte zu verarbeiten und selbstreflexiv zu denken. Ausgehend von der Überlegung, dass sich das Selbst nie unvermittelt erfahren kann, sondern stets eines bedeutungsvollen Anderen bedarf, um eine Reflexionsbeziehung zu sich selbst herstellen zu können, liegen in der weiteren Theoriebildung Verbindungen zu verschiedenen psychoanalytischen Konzepten nahe: dem Konzept des »intermediären Raums« nach Winnicott (1971), Überlegungen zur »projektiven Identifizierung« (Frank u. Weiss, 2007) oder der »allgemeinen Verführungstheorie« nach Laplanche (1988) sowie neueren Überlegungen von Fonagy und seinen Mitarbeitern (2002) zu »Mentalisierungsprozessen«, die dann möglich werden, wenn das Kind sein Selbst durch die Spiegelung der Mutter erkennen kann. Fonagy beschreibt, wie sich langsam eine mentale Vorstellung davon herausbilden kann, welche inneren emotionalen und kognitiven Prozesse in anderen Menschen vor sich gehen. Er geht davon aus, dass der Säugling zunächst nur wenig differenzierte emotionale Zustände erlebt, die von den Bezugspersonen durch ihre emotionale Antwort in verbaler und nonverbaler Form zurückgespiegelt werden. Die Affektspiegelung ist dabei häufig eine übertriebene Akzentuierung (Markierung) des Ausdrucks, so dass eine Verdeutlichung stattfindet. Allmählich kann der Säugling realisieren, dass die Bezugspersonen auf seinen eigenen Zustand reagieren und diesen widerspiegeln, dass es jedoch nicht exakt sein eigener Zustand ist, solange für ihn eine Ähnlichkeit erkennbar bleibt. So lernt er langsam, dass Pflegepersonen nicht ihre eigenen, identischen Zustände wiedergeben, sondern Zustände mit einer Als-ob-Qualität. Wenn zunächst innere und äußere Welt als identisch erlebt werden, also der Äquivalenzmodus vorherrscht und unter Umständen erschreckende innere Bilder Realitätscharakter haben, so können mit fortschreitender Entwicklung Affekte allmählich psychisch repräsentiert und als Brücke zur Außenwelt genutzt werden. Die Mutter identifiziert sich mit den Affekten des Kindes und demonstriert gleichzeitig, dass sie sich von dem Gefühl wieder distanzieren kann und die Fähigkeit © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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besitzt, auch schwierige Affektzustände zu bewältigen. Eine Ähnlichkeit mit Bions »entgiftender« Funktion des Containers liegt auf der Hand. Könnte der »verrückte« Fahrstuhl im Sinne einer Markierung für den Besucher funktionieren, der in der übertriebenen Akzentuierung erleben kann, dass seine eigenen Zuschreibungen und Erwartungen lediglich Versuche darstellen, eine mentale Vorstellung von der Welt zu kreieren? Eng verbunden mit dem Thema der Affektspiegelung ist in der neueren Theoriebildung der Begriff der Identität. Bohleber betont in verschiedenen Arbeiten zur Identität, dass diese stets intersubjektiv begründet ist und als ein »spiegelnder Dialog verinnerlicht« wird (Bohleber, 1992, 2000). Der Spiegelungsprozess durch den frühen Kontakt zur Mutter oder anderen wichtigen Bezugspersonen stellt insofern die Basis der Identitätsentwicklung dar. Reguliert wird das Identitätsgefühl durch die Fähigkeit, trotz aller Veränderungen gleich zu bleiben, und das Bemühen um die Erhaltung von innerer Konstanz, Kohärenz und Integrität des Selbst. Sodré schreibt dazu: »Das Identitätsgefühl entspringt gleichzeitig aus der Differenzierung des Selbst von seinen Objekten und aus verschiedenen Identifizierungen mit unterschiedlichen Aspekten der Objekte. Alle Objektbeziehungen hängen von der Fähigkeit ab, man selbst zu bleiben, während man in der Lage ist, vorübergehend die Sichtweise des anderen zu übernehmen« (Sodré, 2007, S. 52). Auch Bollas (1987) betont, dass es stets eines Objekts oder bedeutungsvollen Anderen bedarf, um sich selbst in seinem Kern-Selbst (»Idiom«) zu erleben. Das »Verwandlungsobjekt« ist in seiner Theorie sehr weit gefasst. So kann auch die materielle Umgebung im weitesten Sinne zur Transformation des Identitätsgefühls benutzt werden. Die Einheit des Selbst wird damit auch für Bollas zur Illusion. Demnach ist vielmehr von einem Beziehungsgleichgewicht auszugehen, das auf der Fähigkeit der Selbstreflexion in Verbindung mit der Nutzung eines inneren mentalen Raums beruht. Erste Modi des emotionalen Erlebens, die auf sensorischen Eindrücken beruhen, erweitern sich mit der Aktivität und Reifung zahlreicher angeborener neuropsychischer Potenziale und Funktionen, die die sensorische Wahrnehmung vermitteln und mit dem Kontakt mit der Außenwelt zunehmend in Austausch gebracht werden. Die © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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neurowissenschaftlichen Befunde aus der letzten Zeit gehen davon aus, dass sich Proto-Repräsentationen mit zunehmender Reifung zu konkreten Interaktionserfahrungen integrieren und zu allgemeinen Beziehungsrepräsentanzen verdichten. Zustände des Einsseins mit sich und des Erlebens von Getrenntheit markieren in einem kontinuierlichen Prozess die Sonderung von Figur und Hintergrund. Zeichen, Wörter und Symbole vermitteln die verschiedenen Bereiche. Die fortschreitende Entwicklung des Kindes ermöglicht ihm zu erkennen, dass Bedeutungen den Gegenständen und Objekten seiner Umgebung nicht per se anhaften und objektiv gegeben sind, sondern subjektiv verliehen werden. Als Paradigma in diesem Zusammenhang mag der wütende Säugling dienen, der die ihm angebotene Nahrung der Mutter in einem Zustand von höchster Erregung und Wut nicht genussvoll aufnehmen kann, sondern als etwas Verdorbenes und Schlechtes zurückweist. Die unbewussten Phantasien stellen fortan als verinnerlichte Erfahrungen eine Art persönlicher Erinnerung dar, die Melanie Klein mit »Erinnerung der Gefühle« (Klein, 1962/1983, S. 132) bezeichnet hat. Resümierend möchte ich festhalten, dass Bedeutungen intersubjektiv erworben werden. Sie werden den Objekten der äußeren Welt kontinuierlich zugeschrieben und sind keine festgelegten Eigenschaften der Dinge an sich. In der spannungsvollen Wechselwirkung projektiver und introjektiver Prozesse handelt jeder Mensch seine persönliche Grenze von innerer und äußerer Realität aus.

Kunstschaffen und Kunstbetrachtung als psychoanalytischer Grenzbereich Die Idee, dass kulturelle Phänomene in besonderer Weise dazu geeignet sind, etwas über psychische Prozesse und die Innenwelt des Menschen in Erfahrung zu bringen, ist keineswegs neu. Schließlich nimmt man heute eine enge Verzahnung zwischen der allgemeinen Entwicklung der Menschheit und der Fähigkeit, kulturelle Phänomene hervorzubringen, an. In Krisenzeiten kann unter Umständen gerade der Rückgriff auf diese basale Fähigkeit des Menschen zu seinem psychischen Überleben beitragen, wie der Film »Der Pianist« von Roman Polanski (2002) eindrucksvoll exemplarisch belegt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Kunst und Psychoanalyse lassen sich auf der Basis von ästhetischem Erleben als Bereich menschlicher Wirklichkeitsauffassung beschreiben. Seit den Anfängen der Psychoanalyse bilden künstlerische Gestaltungen neben den Krankenbehandlungen eine Grundlage der Erkenntnisbildung. Die Vorgänge des künstlerischen Schaffens sowie die Betrachtung von Kunstwerken stellen zwei Hauptschwerpunkte in der psychoanalytischen Theoriebildung zur Kunst bereit. Ich möchte im Folgenden beide Bereiche nur kurz beleuchten, um gewissermaßen einige lose Enden in Bezug auf das Thema von innerer und äußerer Realität einzukreisen. Die Psychoanalyse beschäftigte sich von Beginn an mit Themen der Kunst. War Freud noch vorwiegend an unbewussten Konflikten des Künstlers interessiert, paradigmatisch in der Arbeit zur »Gradiva« (1907a) oder der »Leonardo«-Studie (1910c) beschrieben, wurde das Kunstwerk später als Ausdruck des Unbewussten gesehen, das die Psychoanalyse als Hinweis auf noch unbekannte Mechanismen des seelischen Erlebens nutzbar machen kann. Der Künstler wird hierbei lediglich als jemand betrachtet, der in der Lage ist, universelle Konflikte auszudrücken. Er wird also als Medium oder Übersetzer bedeutsam. Das Unbewusste des Betrachters bildet dann das Werkzeug, das die Erforschung des Werks ermöglicht. In neuerer Zeit erscheinen verschiedene Arbeiten, die sich auf analoge Strukturen von Traum und Kunstwerk und die darin verborgenen Gesetzmäßigkeiten unbewusster Seelentätigkeit beziehen. Bei diesem Zugang wird nach Unbewusstem im Werk gefahndet, das wie ein manifester Inhalt zur Untersuchung bereit steht (vgl. Reiche, 2001). Die Analogie zum Traum markiert hierbei die Verbindung zwischen der vermeintlich realen Welt und der als irreal erlebten Welt der Phantasie und Imagination. Meltzer sieht im Traumleben den Kern von Sinnbildungsstrukturen. Er schreibt: »Denn schließlich geben wir damit, dass wir das Traumleben als ›Theater zur Erzeugung von Sinn‹ bezeichnen, deutlich zu verstehen, dass die Außenwelt so lange sinnleer ist, bis er erzeugt und nach außen getragen worden ist« (Meltzer, 1988, S. 112). Diese neueren Interpretationsansätze betonen vor allem die relative Freiheit, über die der Betrachter eines Kunstwerks verfügt. Er kann mit dem Werk eine Illusion von Allmacht wiederbeleben, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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indem er es sich aneignet und damit macht, was er will, oder darin sieht, was er sehen will. Der normative Aspekt entfällt hier genauso wie die Frage nach der richtigen oder wahren Deutung. Duchamp formulierte bereits in den 1970er Jahren hierzu, dass es die Betrachter sind, die die Bilder machen. In neuerer Zeit taucht der Begriff der »Benutzeroberfläche« (Havekost, 2007) im kunstwissenschaftlichen Diskurs auf, der die Annahme beschreibt, dass der Betrachter mit einem Bild wie mit der Bildschirmoberfläche eines Computers nach seiner eigenen Vorstellung verfahren kann. Ich denke, diese Überlegungen sind mit der Vorstellung Freuds von der Ubiquität der Übertragungsphänomene kompatibel, wobei die künstlerische Bühne wie das Analysezimmer dazu einlädt, eigene Erfahrungen zu bearbeiten. Der künstlerische Schaffensprozess zeigt für Freud eine Verwandtschaft mit dem kindlichen Spiel (Freud, 1908e). Die spätere Regression im Phantasieren des Erwachsenen hat ein kreativ-künstlerisches Moment, wobei der Künstler anders als der Tagträumer in der Lage ist, Allgemeingültiges zu schaffen. Dem Betrachter bereitet der Künstler einen »ästhetischen Lustgewinn« und eine Abfuhr von Spannungen, ähnlich dem Lustgewinn bei der Aufwandsersparnis, den Freud für den Humor und den Witz angenommen hat. Die klassische freudianische Auffassung wird von Kris (1952) zusammengefasst und weitergeführt. Unintegrierte und destruktive Regungen zu bewältigen als Funktion von Kunstschaffen und -betrachtung wird später vor allem von postkleinianischen Autoren ins Zentrum des Interesses gerückt. In »Frühkindliche Angstsituationen im Spiegel künstlerischer Darstellungen« (Klein, 1929) begründet Melanie Klein den künstlerisch-schöpferischen Impuls in einem Reparationsbedürfnis der durch destruktive Angriffe verletzten primären Objekte. Später verdeutlicht sie (Klein, 1937), dass die Beziehung zu den liebenden und schöpferischen Anteilen des elterlichen Paares zur Quelle der Erfahrung des Schönen werden und zur künstlerischen Produktion beitragen kann. Dagegen führt sie aus (Klein, 1957), dass exzessiver Neid auf die mütterlich-nährende Kreativität die schöpferischen Fähigkeiten beeinträchtigen kann. Die unbewussten Phantasien aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung bilden damit die Grundlage für spätere kreative und rezeptive Prozesse. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Ganz allgemein lassen sich künstlerische Schaffensprozesse als eigene Sprachform der sinnhaften Kommunikation mit der Welt verstehen. Das Bemühen um Antworten auf die Frage, wie der künstlerische Schaffensprozess zu verstehen ist, fällt unter den analytischen Theoretikern je nach Grundorientierung sehr unterschiedlich aus. So vertritt Kris als Vertreter der Ich-Psychologie das Konzept der »Regression im Dienste des Ich« (1952). Hanna Segal betrachtet den künstlerischen Schaffensimpuls als Lösungmöglichkeit von depressiven Konflikten. Zur Grundlage ästhetischen Erlebens wird das Durcharbeiten depressiver Ängste, ihre Symbolisierung und Strukturierung. Dabei gründet sich dieser Prozess mit auf die unbewusste Erinnerung an eine harmonische innere Welt mit den primären Objekten und deren Zerstörung. Der künstlerische Impuls kann bei der Bewältigung dieses Verlusts helfen. Er wird aus der Sehnsucht nach der verlorenen inneren Welt gespeist. Segal (1992) entwickelt eine Theorie, die auf den Ideen Kleins fußend den Wunsch nach Wiedergutmachung als Ausdruck der depressiven Position ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Der Künstler reagiert auf den Kontakt mit den eigenen zerstörerischen Impulsen mit der Angst, den inneren Objekten einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt zu haben. Daraus resultiert der Wunsch, den Schaden zu reparieren, der den Künstler antreibt, ein neues Werk zu schaffen. Der Schaffensprozess wird von der Angst begleitet, dabei erfolglos zu sein oder zu resignieren, was einer katastrophischen Angst entsprechen kann. Nach Segal beruht die Wirkung eines Kunstwerks auf der Fähigkeit des Künstlers, unbewusste archaische Gefühle zu mobilisieren, die in ihrer symbolischen Bedeutung auf einer präverbalen Ebene des Betrachters widerhallen. Schneider betont, dass sich für den Künstler die materielle Gesamtheit all seiner künstlerischen Mittel wie ein »Container« (Schneider, 1999) im Sinne Bions betrachten lässt, mit dessen Hilfe er unverarbeitete Facetten seiner Innenwelt bearbeiten kann. Diese Idee ist in neueren Untersuchungen von T. Stork (2010) aufgegriffen und ausgearbeitet worden. Der notwendig knappe Überblick deutet vielleicht die komplexen Strukturen an, nach denen Bilder heute auf verschiedene Perspektiven hin auslegbar werden: die Subjektivität des Künstlers, des Bildes, des Betrachters, zwischen denen sich vielfältige Wirklichkeiten entfalten. In diesem Grenzbereich bewegt sich der künstlerisch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Schaffende ebenso wie der Betrachter, der in seiner Aneignung das Kunstwerk immer wieder neu entstehen lässt.

Der »Fahrstuhl« als Übergangsraum Ich möchte mich jetzt noch einmal dem »Fahrstuhl« und damit Aspekten der Kunstbetrachtung zuwenden, also dem, was im Betrachter durch ein Werk ausgelöst wird. Ich denke, die innere Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk2 kann Aspekte der Welt oder der eigenen inneren Realität verdeutlichen, kann bewegen, etwas ordnen oder beunruhigen, kann Antworten provozieren, Widerstände oder Entwicklungen in Gang setzen. Die Konfrontation mit einem künstlerischen Werk kann Konstruktionen von Wirklichkeit erfahrbar machen oder paradoxe Verhältnisse unserer Wirklichkeit spürbar werden lassen (vgl. Salber, 1977), die sich im Gegenüber des Kunstwerks widerspiegeln und unter Umständen so zuspitzen, dass eine Brechung im selbstverständlichen Modus des In-der-Welt-Seins möglich wird. Gattig weist demgemäß auf ein neues Paradigma der modernen Kunstwissenschaften hin: »Bilder geben keine inneren oder äußeren Wirklichkeiten wieder, sie organisieren im Moment ihrer Betrachtung vielmehr szenisch neue Wirklichkeiten von großer, dabei undeutlich oder genauer gesagt: mehrdeutig bleibender Komplexität, in denen der Betrachter seine Stellung zu sich und der Welt aufsuchen und ›auslegen‹ kann« (2009, S. 26). So wie die analytische Behandlung eigene innere Konstruktionserfahrungen zutage fördern kann, kann der Betrachter eines Kunstwerks zeitweilig den eigenen Standpunkt in der Wirklichkeit verorten und auf seine Fragilität als Konstrukt hin erleben. Er spürt dann unter Umständen für einen Moment lang aufblitzen, dass er selbst es ist, der sich in paradoxen Verhältnissen zu seinen Objekten der Umgebung oder seinen inneren Beziehungen eingerichtet hat. Doch zurück zum Erlebnis des imaginären Fahrstuhlfahrens: Der Künstler stellt uns mit seiner Arbeit ganz offensichtlich eine Erfah2 Hierbei wird das Kunstwerk als Sonderfall eines Objekts in der äußeren Realität betrachtet. Auf die Diskussion einer möglichen Abgrenzung wird hier verzichtet. Was ein Kunstwerk ist, muss offen bleiben.

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rung zur Verfügung, die die innere Welt als eng verzahnt mit den äußeren Phänomenen erscheinen lässt. Ähnlich wie in der Welt des Traums bestimmen mit Betreten des Fahrstuhls die Mechanismen des Primärprozesses das Geschehen. Der Besucher erlebt in besonderer Weise einen ästhetischen Prozess der Verdichtung. Körperliche Sensationen treten gleichzeitig in Bezug zur aktuellen Wahrnehmung und eigenen Erinnerungen. Oder erinnert sich der Körper? Es stellt sich unmittelbar die Frage, ob der Aufzug tatsächlich fährt oder dieses nur erinnert wird. Die Menschen steigen während der Fahrt ein und aus, so dass sich die Frage aufdrängt, wer ist drinnen, wer ist draußen? Dabei mag den einen oder anderen für einen Moment durchaus die Sorge beschleichen, dass er verrückt werden könnte, die Realität wirkt verzerrt und verschoben. So hörte ich einen »Mitfahrer« im Aufzug zu seinem Nebenmann sagen: »Das ist ja irre!« Die Fahrstuhlfahrer fühlen sich hineingezogen in eine Welt, die wackelt und sich verschiebt. Alles wirkt plötzlich unbeständig und beliebig verhandelbar. Kann man sicher sein, dass der Aufzug wieder anhält, wenn man nicht sicher sein kann, dass er sich bewegt? Welcher Standpunkt ist real? Sind die Sinneseindrücke verlässlich oder dominieren sie gar zu sehr? Ist alles nur ein Trugbild der Realität? Ähnlich der sekundären Bearbeitung, die bei der Traumarbeit die unbewussten Gedanken entstellt und zugleich für eine anschauliche Struktur sorgt, lassen sich so auch im Aufzug Prozesse feststellen, die darauf drängen, eine kohärente Sinngebung wieder herzustellen. So werden unmittelbar eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die den eigenen Standpunkt zurückgewinnen sollen. Wer bewegt sich? Wenn ich mich nicht bewege, warum fühlt es sich dann trotzdem so an? Ist das real oder bilde ich mir nur ein zu fahren? Wenn ich fahre, warum können dann trotzdem andere Menschen ein- und aussteigen? Gleichsam, um mich zu beruhigen oder wieder festen Boden unter den eigenen Füßen zu spüren, kommt mir folgendes Gedicht in den Sinn: Dunkel war’s, der Mond schien helle, auf die grün beschneite Flur, als ein Wagen blitzesschnelle, langsam um die Ecke fuhr, drinnen saßen stehend Leute … Am Ende bleiben all diese andrängenden Fragen unbeantwortet. Ich denke, spätestens jetzt bietet sich dem Besucher des Fahrstuhls die Chance, diesen Zustand als Übergangsraum zu betrachten und © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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sich dem damit verbundenen Lustgewinn und der psychischen Entlastung im Sinne Winnicotts anheimzugeben. Winnicott beschäftigt sich mit der Erfahrung einer primärnarzisstischen Einheit, die den Beginn des Lebens kennzeichnet. Er geht davon aus, dass ein Kind zunehmend die Fähigkeit erlangen wird, seinen eigenen Wirklichkeitsbereich auszubilden, den er den »potentiellen Raum« (vgl. den Beitrag von Thomas Auchter in diesem Band) nennt. Das Kind muss eine von schmerzhaften Gefühlen begleitete Anpassung an die Realität leisten, indem eine Trennung von Ich und Nicht-Ich realisiert wird, wodurch die Loslösung aus dem Verschmolzensein mit dem primären Objekt und die dazugehörige totale Abhängigkeit relativiert wird. Übergangsobjekte (zum Beispiel sein Teddybär, der die Mutter repräsentiert) bilden für das Kind einen eigenen phantasmatischen Wirklichkeitsbereich und dienen zugleich dazu, Ängste des Verlassenseins abzuwehren. Winnicott schreibt: »Hinsichtlich des Übergangsobjektes herrscht sozusagen eine Art Übereinkunft zwischen uns und dem Kleinkind, dass wir nie die Frage stellen werden: ›Hast du dir das ausgedacht, oder ist es von außen an dich herangebracht worden?‹« (1971/1995, S. 23). Diese Alternative beantworten zu müssen hieße, das Übergangsobjekt einem inneren oder äußeren Bereich zuordnen zu müssen. Bei Winnicott ist es die versagende Mutter, die das Kind in angemessener Weise frustrieren muss, um es zu der kreativen Leistung anzuregen, einen intermediären Raum auszubilden. Die Fähigkeit zu symbolisieren, die allmählich aus dem Übergangsraum erwächst, bedeutet einen enormen Entwicklungsfortschritt, denn die Symbole gewähren dem Individuum Unabhängigkeit von äußeren Objekten und inneren Bedürfnissen. Die Verfügbarkeit von Symbolen schafft damit Sicherheit und Ruhe in der Auseinandersetzung zwischen den subjektiven und objektiven Gegebenheiten. Diese kreativen Konfliktlösungen für die Zumutungen einer potenziell bedrohlichen Welt, über die das Individuum keine Macht hat, bezieht Winnicott auf das gesamte Kulturschaffen. Der Übergangsraum verliert im Alltag nach Winnicott im Laufe der Zeit allerdings an Bedeutung, weil »die Übergangsphänomene unschärfer werden und sich über den gesamten intermediären Bereich zwischen ›innerer psychischer Realität‹ und ›äußerer Welt, die von zwei Menschen gemeinsam wahrgenommen wird‹ ausbreiten« (Winnicott, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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1971/1995, S. 15). Der Übergangsbereich der Kunst kann, wie der imaginäre Fahrstuhl verdeutlicht, die vorübergehende Befreiung von der Notwendigkeit ermöglichen, innere und äußere Realität in Beziehung setzen zu müssen. Bei Winnicott ist es eine Schöpfung, die an der Schwelle zur inneren Getrenntheit vom Objekt entsteht. Die Fähigkeit zur paradoxen Kreation, gleichsam Vorgefundenes in Selbsterschaffenes zu verwandeln, ist damit die Voraussetzung für sinnhafte Lebendigkeit, die zwischen dem Erleben des Verschmolzenseins mit dem Objekt und dem Gewahrwerden des Objekts als äußerem, getrenntem Wesen angesiedelt ist. Es entsteht eine Sphäre, in der die harten Konturen der Realität sozusagen weichgezeichnet werden. Das Gefühl einer ursprünglichen Bezogenheit in der Einheit mit der Mutter kann aufrechterhalten bleiben, ohne dass ein Anspruch auf die omnipotente Kontrolle über die Realität beansprucht würde. So besteht eine anstrengende Aufgabe für jedes Individuum darin, lebenslang »innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten« (Winnicott, 1971/1995, S. 11). Ich denke, der imaginäre Fahrstuhl kann den Besucher zeitweilig von dieser anstrengenden Aufgabe entlasten, nachdem er zunächst verängstigt oder verwirrt einen Zustand der Konfusion durchlebt hat. Diese Entlastung schafft gegebenenfalls auch Raum, um über die komplexen und paradoxen Modalitäten des Erlebens im Alltag nachzudenken. So lässt sich vielleicht auch manche psychoanalytische Sitzung als eine imaginäre Fahrstuhlfahrt betrachten. Insbesondere Bions Ausführungen zur »reversiblen Perspektive« (Bion, 1992, S. 92 f.) verdeutlichen, dass im Behandlungszimmer häufig nicht klar ist, wer wem was mitteilt. In einer analytischen Situation, die von dem Wunsch getragen ist, depressiven Konflikten im Zusammenhang mit Trauer, Wut oder Schuld aus dem Weg zu gehen, kann in diesem Modus der Kommunikation Zuflucht gesucht werden. Es entsteht dann ein Austausch beider Beteiligter, der wie eine »Kippfigur« aufzufassen ist. Visuell lässt sich dies im Kippen von Figur und Hintergrund, zum Beispiel von Vase und Gesicht, demonstrieren. In der Behandlungssituation kann dadurch zum Beispiel ein intellektueller Pseudokontakt entstehen, können Deutungen zerschnitten, das Gefühl einer allwissenden Verzweiflung oder Zeitlosigkeit aufrecht© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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erhalten werden oder andere »Rückzugsräume« (Steiner, 1993) den analytischen Prozess zum Stillstand bringen. Auch Projektionen des Patienten, die im Analytiker abgespalten bleiben oder aber unter Umständen zu früh zurück an den Patienten herangetragen werden, können zu einem massiven Gefühl der Konfusion im Patienten führen. Übertragung und Gegenübertragung und deren innere und äußere Realität sind dann für den Patienten und den Analytiker kaum noch unterscheidbar.

Invarianz – was bleibt, wenn die Realität wackelt? Die innere Entwicklung der Realität hat ihren Ursprung in einem Prozess früher emotionaler Erfahrungen des Wahrnehmens und Wahrgenommenwerdens. Das Kind spiegelt sich im »Glanz im Auge der Mutter«, wie Kohut es so wunderbar poetisch ausdrückte. Allmählich lernt das Kind mit Hilfe einer liebevoll verstehenden Mutter, seinen eigenen Impulsen einen Sinn zu geben, über sie nachzudenken und die innere und äußere Realität zu erkunden. Der visuellen Wahrnehmung kommt im Bereich der Sinneseindrücke eine besondere Stellung zu, weil sie mit Begriffen von Objektivität, Vernunft und damit, den Überblick zu haben, in Verbindung gebracht wird. Sehen ist oft gleichbedeutend damit, mit den Augen zu berühren, und suggeriert, die Dinge richtig erfassen zu können. Doch was wir als Wirklichkeit erleben, ist immer an unsere Interpretation gebunden, zum Beispiel verändert sich mit dem Wissen über etwas auch die Wahrnehmung der Dinge. Das Auge überträgt lediglich Lichtreize an unser Gehirn, das diese dann zu Bildern verarbeitet. Heute weiß man, dass jedes Bild dort mit bereits vorhandenen Bildern abgeglichen und entsprechend manipuliert wird. Das Auge tastet die Dinge der äußeren Realität ab, erforscht den Raum und sucht hinter den Dingen eine ordnende Struktur, die Halt und Orientierung in der Welt bietet. Dem Augensinn kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Stellung zu, denn das Begreifen mit dem Auge setzt Getrenntheit voraus. Ohne genug Abstand kann man nicht scharf wahrnehmen. Dieser Sinn entwickelt sich auch erst nach der Trennung des Babys vom Mutterleib, anders als der Hör- oder Tastsinn, die viel früher Reifungsprozesse durchlaufen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Die visuelle Erkundung der Realität wird insbesondere für die kindliche Entwicklung wichtig im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren. Piaget (1978) nennt diese Entwicklungsphase »konkret-operationales Stadium«, in der das heranwachsende Kind lernt, mit konkreten Objekten oder ihren Vorstellungen zu operieren. Das Denken wird vornehmlich von der direkten Wahrnehmung beeinflusst und ist dabei auf konkrete, anschauliche Erfahrungen beschränkt, im Gegensatz zum formal-operationalen, abstrakten Denkraum des älteren Kindes. Mittels Dezentrierung, Reversibilität und der Realisierung von Invarianz lernt das Kind in dieser Phase, dass gewisse Eigenschaften eines Objekts konstant sind und erhalten bleiben. Obwohl sich zum Beispiel die Form oder das Aussehen eines Gegenstands verändert, bleibt das Gewicht oder die ursprüngliche Substanz gleich. Ich denke, dass die imaginäre Fahrstuhlfahrt heftig an dieser einmal etablierten Fähigkeit rüttelt. Die im Alltag erlebte Möglichkeit, sich auf bestimmte Unveränderbarkeiten zu beziehen, wird ausgehebelt und zwar sehr basal, indem die Erinnerung als Einschreibung in den Körper angegriffen wird. So ist das Ich dann gerade vor allem »kein körperliches«, um Freud zu paraphrasieren. Der Mensch konstruiert aus den Sehdaten seine eigene Geschichte, eine Stimmung oder Atmosphäre und baut so eine innere Beziehung zu dem Gesehenen auf. Es bleibt jedoch eine permanente Unsicherheit, eine klare Unterscheidung zwischen den von außen kommenden Empfindungen und den inneren zu treffen. Die Kriterien bleiben fragil, insbesondere bei Müdigkeit oder Erkrankung. Es droht der Rückfall in die Welt der Halluzination und des traumhaften Erlebens. Bion (1988) betont, dass das Scheitern der Halluzination ursprünglich das Denken und die Symbolbildung angestoßen hat. Seine Formel »keine Brust – ein Gedanke« bringt dies auf den Punkt. Er betont, dass die ersehnte, abwesende Brust, die vom Säugling dringend benötigt wird, zunächst als Vorstellung von etwas Bösem oder Schmerzhaften empfunden werden mag. Später, wenn ein gewisses Maß an Frustration ertragen werden kann, kann sich aus dieser Erfahrung die erste Denktätigkeit des Kindes entwickeln. Die gute anwesende Erfahrung wird dann unterscheidbar von einer guten Erfahrung, die momentan abwesend ist und ersehnt wird. Der erste Gedanke ist damit an die Vorstellung von Abwesenheit und die Erinnerung © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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an eine vormals erlebte Befriedigung gebunden. Bion betont, dass die Sinnesorgane psychisch auch dazu dienen können, unerträgliche innere Zustände und Bilder wieder auszuscheiden. Mit Hilfe einer Richtungsumkehr von deren normaler Funktion werden zum Beispiel durch Halluzinationen katastrophische emotionale Zustände »sinnes-fähig« (Bion, 1997, S. 150). In der Regel werden frühe, omnipotent-halluzinatorische Wunscherfüllungen zunehmend ersetzt durch die Realisierung unlustvoller Realitätswahrnehmungen, die mit lustvollen Erinnerungsspuren abgeglichen werden. Die Bildung von Objektkonstanz und einer inneren Repräsentanz guter Beziehungen ermöglicht so eine zunehmende Integration der Persönlichkeit, die Gesetz, Abwesenheit und Mangel ertragen kann. Doch der Mensch bewegt sich fortan in einem Zustand der vermeintlichen Klarheit, was Außen ist und was Innen. Der ästhetische Prozess spitzt diese alltägliche Erfahrung häufig zu. Er entspricht, wie Danckwardt (2007, S. 72 ff.) ausführt, einem Ineinanderwirken von primär- und sekundärprozesshaftem Denken. Die Verschränkung einer sinnlich-ästhetischen Erfahrung mit kognitiv-diskursiven Aspekten liegt diesen Prozessen zugrunde. Dieses Ineinanderwirken kann als zentral für jegliche Erfahrung im Alltag angesehen werden, allerdings mit wechselnder Zentrierung. Weitschweifig unzentrierte, den Mechanismen der Traumarbeit folgende Aspekte oszillieren mit formal logischen und realitätsgerechteren Formen. Die Durchlässigkeit beider Bereiche erscheint notwendige Voraussetzung einer ästhetischen Erfahrung. Bollas spricht auch von »ästhetischen Momenten« (Bollas, 1987). Götzmann beschreibt gelungene ästhetische Prozesse als eine Erfahrung in O, die sich auf Bions Theorie des Denkens bezieht. Er zitiert Bion und schreibt: »Entsprechend ließe sich der Gedanke Bions (1997, S. 191): ›Realität kann man nicht erkennen: Realität muss man sein‹, auf die Kunst übertragen: ›Kunst kann man nicht erkennen, Kunst muss man sein‹« (Götzmann, 2012, S. 1148). Diese Erfahrung bringt den Menschen in Berührung mit einer Schicht in seiner inneren Welt, die das Nicht-Repräsentierbare, aber immer Gegenwärtige trägt. So kann die quasi Normalverfassung des Inder-Welt-Seins mittels Kunstbetrachtungen eine zeitweilige Neuzentrierung erfahren. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Auf die Idee einer Unveränderbarkeit oder Invarianz bezieht sich auch Bion3 in seiner Arbeit »Transformationen« (1997). Invarianten und Transformationen beschäftigen ihn, indem er um den Vergleich von künstlerischen und psychoanalytischen Zusammenhängen kreist. So wirft er die Frage auf, was das Mohnfeld, das der Maler sieht, mit dem fertigen Bild auf seiner Leinwand später verbindet. Der Betrachter des Bilds muss durch seine Reaktion ebenfalls dazu beitragen, das Mohnfeld auf dem fertigen Bild trotz der Unterschiede als solches wiederzuerkennen. Dieses Wiedererkennen bezieht Bion auf das Phänomen der Übertragung, denn auch da gibt es invariante Elemente, die in neuen Zusammenhängen, Beziehungen oder Objekten wieder auftauchen. Aber wie lassen sie sich identifizieren? Welche Elemente bleiben bei einer Projektion invariant und wie stehen die inneren Beziehungen zueinander? Wo liegen die konstanten Verbindungen, die jeder Transformation zugrunde liegen müssen? »In der analytischen Beziehung entwickelt sich immer aus dem emotionalen Angebot des Analytikers ein emotionales Echo des Analysanden. Dieses emotionale Echo enthält die Reste und trägt die Spuren der Gäste, die am einst frisch gedeckten Tisch des Kindes, das der Analysand einmal war, gesessen, gegessen, gefressen, gewütet, gefastet, verachtet, verschlungen, gespuckt, gestohlen und getrunken haben. […] Als Analytiker bin ich der verspätete Gast, der von all dem, was da einst vorging, nichts weiß und nichts versteht. Ich beginne eine Bestandsaufnahme dessen, was ich beobachten kann.« Mit diesem so wunderbar anschaulichen Bild beschreibt Morgenthaler (1991, S. 90) seine Idee von Übertragung. Er verdeutlicht, dass in der Analyse die verschiedenen Aspekte psychischer Figuren und emotionaler Eindrücke der Vergangenheit auf die aktuelle Figur des Analytikers wie auf eine Leinwand übertragen werden, projiziert nach der Klein’schen Theorie, so dass sie dort mehrdimensional und vielschichtig auftauchen. Bion betont: »Invarianten im Kontext der Photographie sind nicht dasselbe wie Invarianten im Kontext der impressionistischen Malerei« (Bion, 1997, S. 24). Darüber hinaus sind die Invarianten methodisch und technisch von der Intention des Subjekts abhängig. Und so bedarf es im Zusammenhang mit 3 Ich danke Herrn Matejek für die interessanten Hinweise zu diesem Thema.

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einer analytischen Behandlung anderer Transformationen als die, die der Maler oder Fotograf vornimmt. In der Analyse kann mittels Deutungen oder anderer Wirkfaktoren eine emotionale Transformation im Erleben des Patienten herbeigeführt werden, so dass dieser seine eigenen konstanten Verbindungen aus einer anderen Perspektive wahrnehmen und erleben kann. Bion unterscheidet starre und projektive Transformationen. Er schlägt vor, diejenigen Aspekte im Material des Patienten zu beachten, die seine ursprüngliche Erfahrung in O repräsentieren, und das Material zu betrachten, »als ob es das Gemälde eines Künstlers wäre« (S. 37). Eine ursprüngliche, sinnliche Erfahrung in O kann in ganz unterschiedliche Realisierungen transformiert werden, zum Beispiel als Porträt, Karikatur oder Cartoon. Bion betont, dass es nicht darum geht, eine bestimmte Absicht zu verfolgen, wie zum Beispiel ein Plakatmaler es tut, der etwas anpreist. Vielmehr schreibt er: »Die Position des Analytikers ähnelt der des Malers, der mit seiner Kunst die Erfahrung seines Publikums bereichert« (S. 62). Eine Erfahrung in O lässt sich nicht – ähnlich wie »das Ding an sich« – direkt erfassen, sondern nur durch die emotionale Erfahrung, durch das, was man fühlt, realisieren. Veränderndes Geschehenlassen führt zu einem anderen Punkt als intellektuelles Begreifen im Sinne von »Wissen über«, so wie die Betrachtung einer Fotografie eines Gemäldes zu »Wissen über« führt, aber die Möglichkeit, sich dem Gemälde auszusetzen, nicht ersetzen kann. Das »Gemälde-Werden« lässt sich nicht herstellen, es kann nur geschehen. Für den Künstler und Betrachter bietet das fertige Werk eine ähnliche Möglichkeit, eigene innere unverdaute Aspekte zu transformieren. Diese Dimensionen des kreativen Prozesses verbindet das Thema der ästhetischen Erfahrung mit dem des analytischen Prozesses. Auch hier geht es weniger darum, letzte objektive Wahrheiten zu finden, wohl aber darum, einer subjektiven Wahrheit zu einer fassbaren Gestalt zu verhelfen. Die absichtslose Herangehensweise, die sich unbewussten Schwingungen anvertraut, führt in beiden Bereichen zu einer Transformation mittels regressiv-kreativer Prozesse. Die ästhetische Ungesättigtheit erscheint als Kennzeichen beider Bereiche. In einem Grenzbereich wird das Oszillieren zwischen innerer und äußerer Realität möglich, ein Bereich, der inter© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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subjektive Austauschprozesse genauso beinhaltet wie die subjektive Geschichte des Künstlers und die Geschichte der Malerei. In der Analyse treffen ebenfalls die intersubjektiven Prozesse auf die geschichtlich gewachsenen Aspekte der jeweiligen Realitäten beider Beteiligter vor dem Hintergrund der gewachsenen analytischen Methode. Das Kunstwerk entfaltet, wie das »analytische Dritte« (Ogden, 2001), eine eigene Subjektivität, indem es durch verschiedene Betrachter eine jeweils andere, jedoch nicht willkürliche Wirkung ausübt. Es vereinigt die unbewusste Subjektivität zweier Subjekte miteinander. Dabei werden »Metaphern« (vgl. Soldt, 2007, S. 347–369) gleichnisartig verwendet, um grundlegende Verhältnisse der menschlichen Existenz zu verdeutlichen und zu bewältigen.

Im Bildbereich des Realismus Schließlich möchte ich mich noch einem ganz anderen Bereich der Kunst zuwenden: dem Realismus. Meine Hypothese ist, dass gerade die realistische Kunst dem Betrachter ermöglichen kann, die Rolle des Künstlers als Gestalter und Interpret der Wirklichkeit zu reflektieren, und dabei auch die eigene aktive Rolle beim Herstellen von Wirklichkeit erfahrbar werden kann. Abschließend möchte ich dies beispielhaft an einem Bild von Franz Gertsch erläutern. Sicher kennen Sie alle die Erfahrung der spontanen oder auch nachhaltigen Irritation bei der Betrachtung realistischer Kunstwerke, wenn Sie zum Beispiel täuschend echte Handwerker von Duane Hanson sehen, die scheinbar im Museum verweilen, oder Abbildungen, die sich im Grenzbereich von Fotografie und Malerei bewegen, so dass zunächst unklar bleibt, worum es sich handelt. Die PopArt weist den Künstlern der 1960er Jahre den Weg zur Motivwelt der Alltagsrealität. Indem die Bilder des Hyperrealismus sich auf eine medialisierte Wirklichkeit beziehen, stellen sie nicht nur die Frage nach der Wirklichkeit, sondern auch nach dem Abbild und der Repräsentation von Wirklichkeit im gesellschaftlichen Prozess von Bildproduktion und Bildkonsum. Die Realistische Kunst, die sich scheinbar darum bemüht, die Wirklichkeit eins zu eins einzufangen, besticht den Betrachter durch eine besonders glaubwürdige, objektive und detailgenaue Imitation der sichtbaren Wirklichkeit. Das © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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kulturwissenschaftliche Paradigma eines radikalen Konstruktivismus geht heute jedoch davon aus, dass Wirklichkeit nicht objektiv erkennbar ist, sondern ein »subjektabhängiges Konstrukt der Welt erzeugt«. In dem Moment, wo der Fotograf die Wirklichkeit mit Hilfe seiner Kamera ablichten möchte, wählt er aus: das Motiv, den Ausschnitt, die Belichtung, den Moment des Bildes etc. Der als Motiv gewählte Zustand wird aus dem Raum-Zeit-Kontinuum herausgehoben. Das Vorübergehende verwandelt sich damit in etwas Bedeutsames, wird zur »ausgewählten Tatsache«, wie Bion (1962, S. 126) diesen Prozess des Hervorbringens von Sinnzusammenhängen im analytischen Prozess bezeichnet hat. Angesichts virtueller Welten und unendlicher Möglichkeiten der Bildmanipulation ist die Annahme einer objektiven Wirklichkeitsdarstellung schon lang zum Paradox geworden. Doch offenbar treibt das Wissen um diese permanente Infragestellung einer objektiven Sicht auf die Welt den Wunsch voran, sich immer wieder ein neues, möglichst genaues Bild eben dieser Wirklichkeit machen zu wollen. Dabei wird die vermeintlich unverrückbare äußere Erscheinung der Wirklichkeit mit der fortschreitenden Raffinesse des Mediums jedoch immer unwahrscheinlicher. Es gibt zahlreiche Beispiele in der aktuellen Kunst, die genau diesen Gedanken vermitteln und damit besonders betonen, dass das realistische Abbild immer ein Konstrukt dessen ist, was man für das Reale hält. Der Künstler greift ordnend in die Wirklichkeit ein, betont, lässt weg, retuschiert, legt Ordnungen frei oder stellt deren Fehlen heraus. Der wertfreie Blick auf die Welt wird als Konstrukt entlarvt und erinnert an die Debatte vom objektiven Chirurgen als Position, die Freud zeitweilig idealerweise dem Analytiker zuschrieb. Doch traditionell machen realistische Darstellungen von Innenräumen, Landschaften, Stadtansichten, Alltagsgegenständen, Beziehungsszenen etc. uns glauben, ein unverfälschtes und naturgetreues Abbild der Wirklichkeit zu zeigen. So und nicht anders sei es gewesen! Es wird eine Objektivität ganz unabhängig von den Perspektiven der zahlreichen Betrachter suggeriert. Tatsächlich wird immer eine individuelle Erinnerung mit biografischer Färbung und persönlicher Wirklichkeit zusammengefügt. Bereits Magritte betonte die Repräsentation des gemalten Gegenstands, indem er zum Ausdruck © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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brachte, dass er die Pfeife, die er malte, nicht stopfen könne. Daraus folgte: »Das ist keine Pfeife.« Das gesprochene Wort repräsentiert ein »Nicht-Ding«, wie Bion (1997, S. 109) ausführt, und das visuelle Bild verweist in ähnlicher Weise auf etwas, es ist unhörbar. Die gemalte Augentäuschung beruht auf der Möglichkeit, mittels der eingenommenen Perspektive die Illusion realer Objekte im dreidimensionalen Raum zu erschaffen. Die Beschäftigung mit der Frage, wie sich das Abbild zur Realität verhält, ist seit der Antike von Bedeutung. In der Literatur wird immer wieder das berühmte Beispiel zweier Maler zitiert, die sich im Wettstreit darüber befunden hätten, wer nun die Wirklichkeit besser darstellen könne. Der eine habe Trauben so echt malen können, dass die herbeifliegenden Vögel daran herumgepickt hätten, der andere habe einen Vorhang so täuschend echt gemalt, dass selbst Kennern der Malerei schließlich frische Farbe an den Händen geklebt habe, weil sie den Vorhang neugierig entfernen wollten. Es heißt, letzterer habe den Lorbeer des Siegers erhalten. Das Stillleben hatte während seiner Blütezeit im 17. Jahrhundert mit der perfekten Täuschung der Wahrnehmung im Trompe-l’œil seinen Höhepunkt. In diesen Bildern erscheint das Vergängliche dauerhaft und beherrschbar. Dies bleibt nach mittelalterlich-religiöser Auffassung jedoch ein Schein, weil sich das Wesentliche und Lebendige nicht festhalten lasse. Im Barock ist Vanitas (lat.: leerer Schein, Vergeblichkeit) ein bedeutendes Motiv in Literatur, Kunst und Musik. Eine wichtige Rolle bei bildnerischen Vanitas-Motiven spielt das Paradox, dass das Vergängliche darin dauerhaft festgehalten ist, dass es zum Greifen nah erscheint, jedoch trotzdem unwirklich bleibt. Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich bemerkt dazu: »Je raffinierter die Illusion, desto eindringlicher die Moral vom Gegensatz zwischen Schein und Sein« (1978, S. 187). Je nach historischem und gesellschaftlichem Zusammenhang wechseln die Maßstäbe, die zur Bestimmung von Funktion, Bedeutung und Wert eines Kunstwerks Gültigkeit haben. In der Moderne haben sich althergebrachte Kunstbegriffe weitestgehend aufgelöst. Heutige Klassifizierungen verlaufen quer zu den ehemals bestehenden Kategorien Malerei, Fotografie, Skulptur, aber auch abstrakt oder realistisch etc. Vielmehr wird immer häufiger nach den Konzepten und Strategien eines Künstlers oder Werks gefragt. Ist das © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Ziel zum Beispiel Irritation, Provokation, Ironisierung, Politisierung, Spiegelung oder Narration? Was löst es beim Betrachter aus? Kunstwissenschaftler beschäftigen sich aber auch nach wie vor mit der Kontroverse, ob Kunstwerke eine gesellschaftliche Wirklichkeit enthüllen oder zur Selbsttäuschung beitragen. Die Ansicht, dass Kunst nicht ernst genommen werden könne als gewaltsamer und aussichtsloser Versuch, das Leben festzuhalten oder zu erzeugen, entspricht einer im Grunde sehr alten Debatte. Diese diskutiert, ob Kunst Verschleierung und bloßer Schein sei (Plato) oder helfe, die Wahrheit hervorzubringen (Aristoteles). Diese Debatte im Bereich der Kunstwissenschaft schließt sich an die neueren neurowissenschaftlichen Befunde an, die betonen, dass die äußere Welt lediglich als neuronales Korrelat im Gehirn repräsentiert ist. Die Wahrnehmung der äußeren Welt basiert auf einem Vorgang, der im Langzeitgedächtnis kontextabhängige Informationen abruft, diese mit der aktuellen Situation abgleicht und eine entsprechende Bedeutungszuschreibung vornimmt. Bei diesen Prozessen werden gleichzeitig die Gedächtnisinhalte aktualisiert, was an Freuds Modell der Umschriften psychischer Inhalte erinnert. So wird in der neueren Debatte um die Frage des Selbst- bzw. Icherlebens angenommen, dass das Gefühl der eigenen Identität oder des eigenen Selbst eine Illusion sei, die das Gehirn gleichsam immer wieder neu herstellt, weil es funktional ist und eine Orientierung in der Welt erleichtert (vgl. Waldvogel, 2000, S. 348). Erliegt der Mensch womöglich einer Realitätswahrnehmung, der ein permanenter Täuschungsprozess zugrunde liegt, der darin besteht, dass das Individuum seine Wirklichkeit erschafft oder konstruiert und diese Eigenkonstruktionen als fest und unverrückbar erlebt? Damit basierte das Selbstgefühl auf einer fehlenden absoluten Selbst-Identität, wobei die Ich-Aktivitäten eine Kohärenz und Kontinuität der eigenen Identität bloß suggerierten. Freuds Untersuchungen zur Nachträglichkeit und seine Arbeit zur Deckerinnerung (Freud, 1904) betonen das nachträgliche Retouchieren von Erinnerungen durch Wunsch und Abwehr und geben Anlass, der eigenen Wahrnehmung zu misstrauen. Demgegenüber kommt dem Betrachten von Fotos in der Regel bis heute die Aussage einer real existierenden Wirklichkeit im Sinne einer Beweiskraft zu. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Die Frage, ob etwas wahr oder falsch, existent oder ausgedacht ist, stellt sich hier viel weniger. Erst mit der Entwicklung der neueren Medientechnologie wächst das Bewusstsein, dass auch diese Wahrnehmungen in Frage zu stellen sind. Heute ist jedes Foto potenziell auf dem Computer zurechtgemacht. Aber immer noch ist dieses Bewusstsein von einer Denkaktivität abhängig, die sich vom Wahrgenommenen distanzieren muss. So betrachten wir heute immer häufiger Abbildungen unter der Fragestellung: Wie ist das gemacht? Ist es ein Foto oder gemalt?

Silvia Im Kontext der medial ausgerichteten zeitgenössischen Kunst erscheint das Werk des schweizerischen Malers Franz Gertsch (geboren 1930 in Möringen) in der Beschränkung auf Porträts und Naturstücke eher unspektakulär. In seiner Arbeit wird jedoch die medial vermittelte Welt mit einer inneren Welt besonders sichtbar aufgeladen. Das Bild »Silvia« (1998) entstand wie alle Porträts des Künstlers nach der Vorlage einer Fotografie, die er selbst aus einer Reihe eigens für diesen Zweck angefertigter Aufnahmen auswählte. Die junge Frau mit ernsten braunen Augen, einem freundlich-forschenden, doch insgesamt ruhigen Gesichtsausdruck, zurückgebundenen mittelbraunen Haaren und einem dunkelgrünen T-Shirt, von dem nur der obere Rand und der Schulteransatz zu sehen sind, ist vor einem monochromen, azurblauen Hintergrund abgebildet. Das Bild besticht in der unmittelbaren Präsenz vor allem durch seine Größe: Es misst 2,90 × 2,80 Meter. Der perfekte fotorealistische Malduktus erlaubt dem Betrachter die genaue Inaugenscheinnahme aller Details, von der Wahrnehmung der aufspringenden Haarlocke, der Abschattung kleiner Grübchen am Mundwinkel bis hin zur Faserstruktur ihrer Kleidung. Sie ist sozusagen täuschend echt. Der Betrachter kann sich beim Nähertreten in der genauen Wahrnehmung der Details regelrecht verlieren. Dann fühlt er sich gedrängt, einen größeren Abstand zum Bild herzustellen, und tritt unwillkürlich einige Meter zurück, um den Gesamteindruck wieder herzustellen, quasi um die Einzelheiten wieder in einem Ganzen zu strukturieren. Diese Bewegung erfolgt nach meiner Beobachtung bei interessierten Museums© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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besuchern in der Regel mehrfach, als wollte man so dem Geheimnis der jungen Frau näherkommen, sie in ihrer Identität genau erfassen. Das Bild verspricht in der Detailschärfe sozusagen eine tiefe Einsicht in die innerste Wesenheit dieser Frau. Die Betrachtung des Werks kann als eine rhythmische Vor- und Zurückbewegung beschrieben werden, ein Hinein ins Bild und wieder Heraustreten. In dieser komplexen Bewegung sind sowohl die formale Struktur als auch die innere Realität des Betrachters enthalten. Sehnsucht nach Nähe und respektvolle Distanz zum Sujet oszillieren. Die Arbeiten von Franz Gertsch setzen ein Gedächtnis ins Werk. Er selbst bemerkt, dass er »Wesenheiten« darstellen möchte. Sein Werk geht vom langsamen Herstellungsprozess aus, Punkt für Punkt scheinen die Figuren den Raum hervorzubringen und umgekehrt der farbige Raum die Figuren. Alltagsszenen, Landschaften, Porträts, bewegtes Wasser, Stein und Gräser stellen bei ihm die Motivpalette dar – Bilder, die so und nicht anders in keinem anderen Moment präsent sind, weder vorher noch nachher sein werden. Die Fotografie scheint der Garant der Repräsentation zu sein, doch die Zeitlichkeit gewinnt in seiner Arbeit eine eigene Dimension. »Nicht nur im äußerst langwierigen Prozess des Herstellens, sondern auch im fertigen Bild wird Gedächtnis ins Werk gesetzt. Gedächtnis als erinnerte Zeit findet in diesem Werk einen adäquaten bildnerischen Ausdruck als nicht messbare Dauer« (Affentranger-Kirchrath, 2004, S. 188). Die unauffälligsten Regungen werden in den Bildern durch seine Bearbeitung zu eben diesen Wesenheiten transformiert. Die Motive der unmittelbaren Umgebung gewinnen in der Schlichtheit ihrer alltäglichen Gegenwart eine paradigmatische Kraft von größter Allgemeingültigkeit. In der intensiven Annäherung bleibt jedoch trotz der direkten Ansprache seiner Bilder ein unauflösbares Paradox bestehen. Der Zugriff auf alle Details und das Gesamt des Bildes kann zwar mittels des Auges hergestellt werden, aber die Bilder verharren nach längerem Betrachten schließlich in einem geheimnisvollen, unabgeschlossenen Schweigen. Der Betrachter spürt, dass die Realität des Faktischen eine bloße Annäherung bleiben muss, die ihn einsam zurücklässt. Diese kann er jedoch mit dem Rest der Menschheit teilen. Der Verlust mag ihm verdeutlichen, dass jedes Begreifen immer nur in der Nachträglichkeit des bereits Vergange© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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nen erfolgt, im Gewahrwerden des Vorbei. So kann der Betrachter unter Umständen darüber reflektieren, dass das Spiegelbild genauso wirklich ist wie das Wirkliche und dass die Illusion wirklich ist, weil sie wirkt. Am Ende ist die Sehnsucht das, wonach sie sich sehnt. Das »Nicht-Ding« als Verweis, so betont Bion (1997, S. 109), muss von »nichts« unterschieden werden. Das Nichts verweist auf einen Ort, der gesucht, aber nicht gefunden wurde. Das Nicht-Ding steht dagegen als Symbol vielmehr in einer zeitlichen Dimension, indem auf einen Ort verwiesen wird, »wo die Gegenwart zu sein pflegte« (S. 118), also wo eine bedeutsame emotionale Wahrnehmung oder Erfahrung stattfand. Bion schreibt: »Tatsächlich hängt die Bewußtheit einer inneren, psychischen Realität davon ab, ob die Person zu tolerieren vermag, daß sie an eine innere Realität erinnert wird« (S. 118). Innere Bilder als Repräsentanz des abwesenden Objekts führen beim Menschen allmählich zur Herstellung eines symbolischen Raums. Symbolisierungen eröffnen eine Differenz zum konkret anwesenden Objekt, sie repräsentieren es. Ausgehaltene Abwesenheit schafft schließlich innere Struktur. Allmählich festigt sich diese Struktur in einem inneren Gefüge aus Subjekt, Symbol und Symbolisiertem. Mittels projektiver Identifizierungen werden intensive Verhandlungen darüber geführt, wer wir selbst sind und wer der andere, das heißt, es werden permanent die Grenzen zwischen dem Selbst und den Objekten zerstört und neu konstituiert. Die erste Wahrnehmung der Realität einer das Kind ausschließenden sexuellen, zunächst oral phantasierten Beziehung zwischen den Eltern erschüttert die omnipotente Phantasie, die Mutter ausschließlich und ständig besitzen zu können, und löst Schmerz und unerträgliche Eifersucht sowie katastrophische Einsamkeit aus. Das Kind versucht dann, eine Vorstellung von guten Eltern und liebevolle Gefühle von den bösen Eltern und der eigenen Zerstörungswut abzuspalten. Später entwickelt sich der Wunsch, Wiedergutmachung zu leisten für den Schaden, den es der Mutter in der Phantasie zugefügt hat. Hierin sah Klein einen wichtigen Faktor beim Erwerb schöpferischer Impulse, die auf gelungener Symbolisierung beruhen und die Fähigkeit zum Trauern über Verluste voraussetzt, den Symbole kompensieren sollen. Damit kann ertragen werden, dass das Symbol nicht identisch mit dem ursprünglichen Objekt ist (vgl. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Segal, 1957). Mit fortschreitender Selbstreflexion lernt das Kind, die ödipale Struktur anzuerkennen und sich als Teil davon zu begreifen sowie Lebenstatsachen (»Facts of Life«, vgl. Money-Kyrle, 1971) zu verschmerzen. Die Fähigkeit, sich selbst als Teil einer triangulären Situation wahrzunehmen und die damit zusammenhängenden Affekte auszuhalten, ermöglicht schließlich zunehmend, über sich selbst und andere als getrennte Wesen nachzudenken. Der Rahmen der analytischen Behandlung mag diesen Hintergrund innerhalb des Settings repräsentieren: ein Stück Realität, das Analytiker und Analysand miteinander teilen und bewerkstelligen müssen. Raum und Zeit, An- und Abwesenheit als Komponenten der inneren und äußeren Realität werden im Prozessgeschehen verhandelt. Trauer setzt die Wahrnehmung von Getrenntheit voraus, die Rücknahme eigener Projektionen. Seit Freuds Arbeit »Trauer und Melancholie« (1917) ist davon auszugehen, dass ein wesentlicher Teil der Trauerarbeit die Realitätsprüfung darstellt, die die libidinösen Bindungen vom Objekt löst und schließlich anerkennt, dass es nicht mehr existiert. Die Suche nach den Erinnerungsspuren vergangener Befriedigungserlebnisse, nach »Wahrnehmungsidentität« (Freud, 1900a, S. 571) kann im sinnlichen Ersatz der äußeren Realität wieder heraufbeschworen werden. Sie ist aber auch geeignet, nach empfundener Ent-Täuschung die Trauer über das abwesende Objekt oder auch dessen Vergänglichkeit herauf zu beschwören. Die Suche nach dem Objekt der verlorenen Liebe kann dann als endgültig verloren empfunden werden. Das realistische Abbild vermittelt den Genuss am Wiederfinden oder dauerhaften Festhaltenkönnen im Kräftespiel von An- und Abwesenheit, Festhalten und Verlust. Der Lustgewinn könnte im Sieg der visuellen Wahrnehmung über die bloße Repräsentation als Erinnerung liegen, der sozusagen spielerisch mit einem Auge zugleich die Illusion verbucht. Die Einübung in die Trauerarbeit oder realistische Resignation verbindet sich dann mit einem tröstlichen Gefühl, das die Repräsentation als Symbol zu bieten in der Lage ist. Kunst hilft in diesem Moment dem Betrachter wiederzufinden, was als verloren galt. Das symbolische Erleben setzt dabei Getrenntheit vom Objekt voraus, aber es bietet neben dem Ereignis selbst auch die Verfügbarkeit über ein Konzept des Ereignisses. Die ästhetische Erfahrung kann dann wie der analytische Prozess zu einer © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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produktiveren Wahrnehmung der inneren Welt führen und so die Auseinandersetzung mit der äußeren Welt befördern.

Abschließende Bemerkungen Die Möglichkeiten im Internet erlauben es heutzutage, jederzeit einen virtuellen Rundgang durch die bedeutendsten Museen der Welt zu unternehmen, Kunstwelten in Sekunden aus den eigenen vier Wänden heraus zu erobern. Auch in der Alltagswelt hat die ästhetische Präsentation heute einen festen Platz inne, beispielsweise in öffentlichen Räumen, Szenelokalen, Restaurants und Designshops. Außergewöhnliches und exklusive käufliche Kreationen werden gern mit einem Anstrich von kunstvoll designtem Ambiente präsentiert. Doch das darüber hinausgehende anhaltende Interesse an einem leibhaftigen Museumsbesuch bleibt davon weitestgehend unbeeinflusst. Man pilgert gern ins Museum, und die elektronische Vervielfältigung hält nicht davon ab, das Original zu suchen. Wahr zu sein scheint nur das Original, das nichtreproduzierbar ist. Denkbar ist, dass diese ungebrochene Suche nach der Begegnung mit dem Original grundlegend in die menschliche Struktur eingeschrieben ist. Im unmittelbaren Austauschprozess gewinnt der Mensch das Gefühl einer eigenen Identität, gleichbedeutend mit dem Gefühl, in Beziehung zu sein und dabei selbst lebendig zu sein. Darüber stellt sich die Gewissheit her, einen Platz im Inneren eines bedeutungsvollen Anderen inne zu haben. Diese dialogische Struktur, die Bion prototypisch als »Containment« beschrieben hat, verwirklicht sich als gegenseitiger Austauschprozess überall dort, wo der Mensch sich sinnlich-wahrnehmend auf seine Umgebung im weitesten Sinne bezieht. In der psychoanalytischen Praxis und Theoriebildung findet seit langer Zeit eine Verschiebung von der ehemals subjektbezogenen Perspektive Freuds auf die sogenannte Zwei-Personen-Psychologie statt. Die Entwicklung des Selbst beginnt zu zweit und schlägt sich in der psychischen Struktur des Individuums nieder. Innen und Außen sind damit auf das Engste vernetzt. Unsere einzigartige, unverwechselbare Identität wird im Zusammenspiel mit den verinnerlichten Beziehungserfahrungen erst hergestellt. Ohne die Bezogenheit zu © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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anderen lässt sich keine psychische Individualität entwickeln und aufrechterhalten. Auch im späteren Leben benötigt der Mensch die Erfahrung dieser Bezogenheit. In der erfahrungsbedingten Vorstellung, in der geistig-seelischen Welt eines bedeutsamen Anderen auch in seiner Abwesenheit kontinuierlich präsent zu sein, stellt sich dieses Gefühl stets aufs Neue her. Damit einher geht die Gewissheit der eigenen konstanten Selbstrepräsentanz. Literatur Affentranger-Kirchrath, A. (2004). Franz Gertsch. Die Magie des Realen. Wabern/Bern: Benteli. Bion, W. R. (1962). Lernen durch Erfahrung. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Bion, W. R. (1988/1995). Eine Theorie des Denkens. In: Melanie Klein Heute. Bd. I. Hrsg. von E. Bott-Spillius. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse. Bion, W. R. (1992). Elemente der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bion, W. R. (1997) Transformationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bohleber, W. (1992). Identität und Selbst. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 46, 4. Bohleber, W. (2000). Identität. In W. Mertens, B. Waldvogel (Hrsg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart: Kohlhammer. Bollas, C. (1987). Der Schatten des Objekts. Stuttgart: Klett-Cotta. Dankwardt, J. F. (2007). Paul Klees »traumhaftes«: Von der psychoanalytischen zur ästhetischen Erfahrung. Ein Beitrag zur Macht der Bilder. In P. Soldt (Hrsg.), Ästhetische Erfahrungen. Neue Wege zur Psychoanalyse künstlerischer Prozesse (S. 63–95). Gießen: Psychosozial. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2002/2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Frank, C., Weiß, H. (Hrsg.) (2007). Projektive Identifizierung. Ein Schlüsselkonzept der psychoanalytischen Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Frank, H. (2004). Aussichten ins Unermessliche. Berlin: Akademie Verlag. Freud, S. (1900). Die Traumdeutung. G. W. Bd. II/III. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1904). Zur Psychopathologie des Alltagslebens. G. W. Bd. IV. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1907a). Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva. G. W. Bd. VII. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1908e). Der Dichter und das Phantasieren. G. W. Bd. VII. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1910c). Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. G. W. Bd. VIII. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1917). Trauer und Melancholie. G. W. Bd. X. Frankfurt a. M.: Fischer. Gattig, E. (2009). Arbeit der Bilder. In P. Soldt, K. Nitzschmann (Hrsg.), Arbeit der Bilder (S. 15–28). Gießen: Psychosozial. Gombrich, E. H. (1978). Das Stillleben in der europäischen Kunst. Zur Ästhetik

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»The Truman Show« von Peter Weir – oder: Die Wiederbelebung von innerer und äußerer Welt

Im Rahmen dieses Buchs haben wir uns dem, was man unter innerer und äußerer Realität verstehen kann, aus verschiedenen Blickrichtungen genähert. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, welche Entwicklungschance sich einem Individuum eröffnet, das sich weder in seiner inneren noch in der äußeren Realität aufhalten kann. Aus den Umweltbedingungen, in die es geboren wurde, und seiner daran anschließenden Entwicklung heraus hat es sich stattdessen in einem Raum dazwischen eingerichtet, spürt aber zunehmend die Konfrontation mit dem Innen und dem Außen. Um dieser Frage nachgehen zu können, habe ich als Beispiel den Film »The Truman Show« (1998) ausgewählt. Es ist die Geschichte des Jungen, der von seinen Eltern ungewollt zur Welt kam. Er wächst, ohne es zu wissen, als Adoptivkind einer Filmgesellschaft auf, welche ihn in einem eigens zu diesem Zweck hergestellten riesigen, als Insel angelegten Filmstudio aufwachsen lässt. Mehr als 5000 Kameras nehmen rund um die Uhr sein Leben auf. Alle Personen um ihn herum sind Schauspieler, deren Aufgabe es ist, Truman als einzig Unwissenden in seinem Alltag zu begleiten und dafür zu sorgen, dass er unwissend bleibt. Denn nur so kann die Show, deren Hauptdarsteller Truman ist, weitergehen und im Fernsehprogramm ausgestrahlt werden. Der Film setzt an der Stelle ein, an welcher Truman erste Ungereimtheiten auffallen und sein durch die Filmgesellschaft unterdrückter Entdeckergeist wieder auflebt. Er erscheint mir gut geeignet, mögliche Wechselwirkungen zwischen Innenleben und Außenleben zu erkunden. Denn er spielt sich in einem abgeschlossenen Terrain ab, in welchem sich das gesamte äußere Leben des Protagonisten ereignet. Truman wird darin als naiver und ahnungsloser Versicherungsvertreter gezeigt. Scheinbar befinden sich alle Beteiligten in einem Stadium zufriedener Koexistenz miteinander und mit dem, was und wie es sich ereignet. Ins-

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besondere werden keine Fragen gestellt, die zum Erforschen von Unbekanntem erforderlich wären. Denn es soll sich nichts Unvorhergesehenes, Unbekanntes ereignen; deshalb sind die äußeren Wege dahin Truman verstellt worden: Eine im Verlauf seiner Entwicklung durch die Filmgesellschaft in ihm ausgelöste Brücken- und Bootsphobie hindern ihn daran, die Insel zu verlassen. Hinzu kommt eine Hundephobie, die über den täglich auftauchenden Nachbarshund dazu beiträgt, dass sein Angstpegel auf einem gewissen Niveau gehalten wird und Trumans Neugier sich in engen Grenzen bewegt. Das Ausmaß seiner seelischen Verletzung und deren Auswirkungen auf seine psychische Entwicklung vermittelt sich dem Zuschauer von Anfang an unter anderem durch subtile, allgegenwärtige filmische Hilfsmittel wie den sogenannten Fake-Effekt, den ich in der Zusammenfassung genauer beschreibe. In Verbindung mit der teilweise emotionalisierenden musikalischen Untermalung sorgen sie für ein permanentes, den Zuschauer zunehmend irritierendes emotionales Grundrauschen, wodurch dieser auch seine eigene Wahrnehmung potenziell infrage gestellt sieht. Dennoch interessiert mich in diesem Zusammenhang, wie es dazu kommt, dass Truman über 30 Jahre hinweg unwissend bleibt. Ist er es wirklich durch und durch? Wenn ja, dann hieße das, dass das Innenleben von äußeren Bedingungen vollends gesteuert werden kann. Die Handlung dieses Films, auf die ich im Folgenden genauer eingehen möchte, richtet sich auf eben diese vollständige Kontrolle, die mit Hilfe der allgegenwärtigen Kameras gewährleistet werden soll. Sie sind die Grundvoraussetzung dafür, dass Christof, der Regisseur der Show, unmittelbaren Einfluss auf das Geschehen ausüben kann. Jederzeit kann er auf alle Eventualitäten reagieren und seinerseits eigene Impulse setzen. Bei ihm laufen alle Kamerabilder zusammen; darüber hinaus sind die Schauspieler per Mikrofon permanent mit ihm verbunden, so dass er auch sie punktgenau steuern kann. Vor diesem Hintergrund zeigt die Serie Trumans Tagesablauf rund um die Uhr, mit Ausnahme der sexuellen Szenen, welche – wie sich einer der Männer aus dem Kameraüberwachungsteam beschwert – zum Beispiel über wehende Schlafzimmervorhänge nur indirekt angedeutet werden. Andere Intimbereiche wie seine morgendliche © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

»The Truman Show« von Peter Weir209

Toilette unterliegen keiner derartigen Begrenzung und werden en détail übertragen. Während dieser Szenen gibt Truman unter anderem Einblicke in sein Phantasieleben, wo er sich interessanterweise als Captain eines Raumschiffs, abgekapselt von der Erde, in seiner ganz eigenen Trumania-Galaxie bewegt, worüber er dem imaginierten – und realen! – Zuschauer berichtet. Die entsprechende Szene zu Filmbeginn wird durch die Stimme seiner Frau beendet, die ihn an die Zeit erinnert und zur Arbeit ruft. Der Film wechselt deshalb die Kameraperspektive, woraufhin der Zuschauer ihn aus der Tür treten sieht. Jetzt zeigt Truman eine andere Facette seiner selbst und begrüßt, vermutlich zum 1000- und x-ten Mal, eine Nachbarsfamilie von gegenüber, mit der er lachend die immer gleiche Floskel austauscht. Auf dem anschließenden Weg zum Auto taucht der bereits erwähnte Nachbarshund auf, der ihn anspringt und erst danach von seinem Herrchen zurückgerufen wird. Im weiteren Filmverlauf wird der Zuschauer immer wieder mit Teilaspekten aus Trumans Alltag vertraut gemacht, in welche offenkundige oder subtil platzierte Werbespots eingeflochten sind. Deren Inhalte sind teilweise in den Dialog der jeweils betroffenen Personen mit Truman integriert, der auf deren künstliche Sprache erst im fortgeschrittenen Filmverlauf aufmerksam wird. Der Film lebt in diesem Kontext zunehmend von Plots, die das Gleichgewicht zwischen dem beobachtenden Truman bzw. seiner erlebenden Innenwelt einerseits und seiner Umgebung andererseits erschüttern. Als erstes fällt ein Bühnenscheinwerfer zu Boden, worauf ich später eingehe. Wichtig ist mir an dieser Stelle zu zeigen, wie unmittelbar das Kontrollsystem auf derartige unvorhergesehene Ereignisse reagiert: Während der auf das Ereignis folgenden Autofahrt zur Arbeit berichtet der Nachrichtensprecher im Radio, ein Flugzeug habe den Scheinwerfer verloren – nicht ohne den Zusatzhinweis einfließen zu lassen, wie gefährlich das Fliegen und wie sicher dagegen die vertraute Umgebung sei. Das System reagiert also nicht nur prompt, sondern versteht es, die eigentliche Gefahrensituation für seine Zwecke auszunutzen! Und es scheint der Situation erfolgreich begegnet zu sein, denn Truman lässt sich an dieser Stelle noch beruhigen. In späteren Situ© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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ationen allerdings reagiert er zunehmend misstrauisch, weshalb Christof zu drastischeren Maßnahmen greifen muss. Als Truman kurz vor der Aufdeckung der Wahrheit zu stehen scheint und der in Trumans Kindheit scheinbar während eines gemeinsamen Bootsunfalls ertrunkene Schauspieler-Vater eigenmächtig wieder in der Show auftaucht, inszeniert Christof ein regelrechtes Happening und lässt Trumans besten Freund Vater und Sohn zusammenführen. Alle mit der Organisation verbündeten Beteiligten feiern dieses Spektakel als Höhepunkt und Meisterleistung der Regieführung Christofs, auch die Zuschauer sind von den Ereignissen mitgerissen und emotional berührt durch sie. Alle sind erleichtert darüber, dass der Status quo ante wiederhergestellt ist – zu sein scheint. Später werde ich weitere Details erwähnen, während derer Truman zunehmend auf Ungereimtheiten reagiert, wodurch er das System und Christof herausfordert. An dieser Stelle möchte ich vorab auf einen zusätzlichen, für den Spannungsbogen im Film relevanten Aspekt hinweisen. Er verdeutlicht uns als Metazuschauer außerhalb des Films, dass etwas in Truman vorgehen muss, was die Kameras zu enthüllen nicht in der Lage sind. Denn Truman kauft offenbar seit Jahren täglich am Kiosk Frauenzeitschriften. Aus den darin abgelichteten Frauengesichtern reißt er unterschiedliche Gesichtsausschnitte heraus. Er versucht dies heimlich zu tun, indem er beispielsweise im Büro hustet, um das Reißgeräusch zu übertönen. Alle scheinbar Wissenden im Film belächeln diese Marotte ihres Hauptdarstellers. Wir ahnen allerdings, was er im Sinn hat, als er später aus den vielfältigen Einzelteilen ein Gesicht zusammenstellt, das er auf diese Weise im Verlauf der Jahre immer weiter differenziert hat. Es wird uns klar, dass er das Gesicht seiner großen Liebe Sylvia zu rekonstruieren versucht. Sie ist die Einzige, die es ernst meint mit ihm und sich wiederholt in die Show einschleuste, um ihm, anders als der Schauspieler-Vater, die Augen zu öffnen. Allerdings setzte die Organisation regelmäßig und erfolgreich ihre Abwehrspezialisten ein, die sie entfernten. Auch hierzu später mehr. Jetzt aber zurück zu der Frage, ob Truman wirklich durch und durch unwissend ist. Mein bisheriger Filmbericht zeigt auf, dass es bereits zu Filmbeginn Hinweise dafür gibt, dass er – zunächst ohne bewusst zu wissen – doch als unbewusst Wissender bzw. zumin© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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dest Ahnender spricht. Insbesondere die Szenen im Badezimmer, während derer er sein Spiegelbild sprechen lässt und als Spiegelbild die Zuschauer anspricht, von deren Existenz er ja eigentlich nichts weiß, lassen dies vermuten. Dem entsprechend irritiert oder gar erschrocken reagieren die Männer des Überwachungsteams, als sie ihn auf eine Weise sprechen hören, dass sie sich persönlich von ihm angesprochen fühlen. Wir als Metazuschauer erhalten dadurch den Eindruck, dass etwas in ihm weiß, was gespielt, vor allem dass gespielt wird. Diese Idee impliziert allerdings auch, dass er mitspielt! Dieses Etwas in ihm weiß mehr als alle Mitbeteiligten, also auch mehr als Christof, der scheinbare Macher der Show, ihr Regisseur. Etwas hat Truman, den Unwissenden, genau nach den Erfordernissen des Showdrehbuchs und der Regieanweisung kreiert und befindet sich in einem permanenten Wechselspiel mit der Außenwelt. Wir sehen hier die Verbindung zu Winnicotts Gedanken zum Wahren und Falschen Selbst. Das Falsche Selbst, das den inneren Kern des Individuums wie ein Schutzmantel vor der bedrohlich erlebten Umwelt/äußeren Realität schützt und ihr genau das zeigt, was sie erwartet. Trumans Phantasie vom Astronauten in der Raumkapsel trägt dieser Idee des Schutzes bzw. der Abkapselung Rechnung und eröffnet zugleich einen Einblick in seine unermessliche innere Welt! Allerdings möchte ich noch einen Schritt weitergehen und frage mich, wie es überhaupt zu diesem Wechselspiel kommen kann. Wer verhält sich wie Truman und richtet sein gesamtes Leben nach den Ansprüchen anderer aus? Warum schlägt er diesen Weg ein, statt seiner Lust, sich und die Welt zu entdecken, nachzugehen? Gibt es nicht bereits früh genügend Hinweise auf Brüche innerhalb Trumans Beziehungen, die eigentlich einer Konfrontation bedürften? Man denke nur an die ersten Szenen im Film, als er aus dem Haus geht und auf seinem Weg zur Arbeit diverse, immer gleiche Begrüßungsrituale durchläuft; oder an die von seiner Frau abgespulten Werbespots, wenn sie nach Hause kommt – das Künstliche und Unechte starrt uns in all diesen Szenen entgegen und schreit nach Auflösung! Ganz offenbar ist Trumans Wahrnehmung über weite Strecken getrübt. Um es genauer auszudrücken, sollten wir sagen: Vermutlich wegen seiner unsicheren Bindungserfahrungen ist seine Sinneswahrneh© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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mung getrübt, gewissermaßen skotomisiert und großflächig ausgeschaltet. Denn wir wissen andererseits, dass dieses Etwas in ihm sehr genau wahrnimmt und den Schauspieler Truman erschaffen hat, der sich mit den anderen Schauspielern in der Studioshow bewegt. Wir können deshalb einen inneren Anlass vermuten, der Truman zu dieser radikalen Maßnahme führt. Der bislang fokussierte Schutzaspekt wirkt dabei als wichtiger Motor. Dass er allein nicht ausreicht, um ein derart differenziertes Wechselspiel über mehr als 30 Jahre aufrechtzuerhalten, liegt auf der Hand. Später wird deutlich werden, dass dem Falschen Selbst eine entscheidend wichtige, zweite Funktion zukommt, die im Film etwas mit der Bedeutung Sylvias für Truman zu tun hat. Vorab möchte ich auf die verdichtende Funktion des Films eingehen, genauer gesagt auf das Studio als Projektionsfläche für das Wechselspiel zwischen Innen und Außen. Es wurde, wie erwähnt, eigens für die Show hergestellt und, nach allen Seiten hermetisch abgeschlossen, als Insel mit Namen Seahaven konzipiert. Offenbar repräsentiert das Studio mit allen in ihm stattfindenden Szenen und Figuren verdichtet mehrere Ebenen. Eine davon ist die der Überwachung und Kontrolle des sogenannten gläsernen Menschen und die Auseinandersetzung des Individuums mit dieser Überwachung. Der Fokus ist darauf gerichtet, was sich in der sogenannten äußeren Realität ereignet. Die innere Welt wird, wenn sie sich bemerkbar macht, bestaunt und belächelt, wenn man sie für unbedeutend hält. Dafür stehen die Badezimmerszenen und das Bild des Mosaikgesichts. Wirkt sie sich allerdings störend auf das Drehbuch aus, geht es dem Regisseur Christof nur insoweit darum zu verstehen, was in dem Individuum Truman wirklich vor sich geht, als es ihm erforderlich erscheint, um Truman wieder in die ihm zugedachte Rolle zurückzuführen. Der Regisseur ist letztlich von der Allmachtsphantasie geleitet, die Gedanken und Empfindungen seines Truman-Individuums bereits zu kennen, sie gar für es entwerfen und nach Belieben lenken zu können. Es ist, wie Christof am Ende äußert, seine Kreation, sein Geschöpf und somit durchsichtig wie Glas für ihn! Mehrere Arbeiten zu diesem Thema ziehen »Die Truman Show« als Beispiel für diese aktuelle Thematik heran, zum Beispiel A. Gerlach in seinem Artikel »Intimität als Gegenwehr und die Tyrannei der © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Intimisierung« (2008) oder Michael Brearley und Andrea Sabbadini in »The Truman Show: How is it going to end?« (2008). Gerlach zitiert im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Films aus einem Interview mit Peter Weir, dieser habe durch den Golfkrieg Interesse an dem Film gefunden: Eine sehr genau kontrollierte Berichterstattung habe damals ein keimfreies Videospiel vorgeführt, anstatt zu berichten, was sich vor Ort ereigne. Eine sehr umfassende Auseinandersetzung mit der Sicht des gläsernen Menschen und der manipulativen Kontrolle führt auch Stefan Munaretto in seiner Filmanalyse »The Truman Show«. Unter anderem weist er auf das sogenannte »Truman Syndrome« hin, das vom British Journal of Psychiatry 2008 als Folgeerscheinung des Films erwähnt wurde: Die Betroffenen erlebten sich darin gläsern-durchsichtig und glaubten, ihr Leben werde gefilmt und zur Belustigung der Zuschauer im Fernsehen übertragen (S. 50).1 Während die genannten Arbeiten ihren Schwerpunkt auf die äußere Konfliktsituation und Erfahrungen richten, die zu Veränderungen der inneren Welt führen und sich mit Hilfe entwicklungsgeschichtlicher Theorien verstehen lassen, fasziniert mich die Vorstellung, dass Andrew Niccol als Drehbuchautor und Peter Weir als Regisseur – offenbar unwissend oder besser: unwissend ahnend – das Studio als Ort darstellen, in dem sich sowohl die innere als auch die äußere Welt mit ihren szenisch dargestellten Konflikten offenbaren. Ja, man kann den Eindruck gewinnen, dass die äußeren Konflikte den inneren entsprechen, wir würden sagen: deren Projektionen, und zumindest phasenweise deckungsgleich mit ihnen sind. Und genau darin liegt auch ein den Zuschauer streckenweise irritierendes, beinahe verwirrendes, im Vergleich zu den bereits erwähnten filmischen Hilfsmitteln inhaltlich wirksames Element dieses Films, dessen Spannungsbogen durch diese allgegenwärtige Doppeldeutigkeit aufrechterhalten wird. Wir als Zuschauer sind gewissermaßen einem Vexierbild ausgesetzt, welches uns zeitweise den Blick nach innen, zeitweise den nach außen eröffnet, ohne dass wir uns dessen vollends bewusst wären. 1

Dieser Thematik widmet sich auch der Film von R. W. Fassbinder: »Welt am Draht« (1973).

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Verallgemeinernd könnte man die folgende Hypothese aufstellen: Der Film impliziert ein Individuum, welches sich im Verlauf seines Lebens aufgrund seiner inneren Konflikte (die wiederum Ausdruck seiner Interaktion mit der Umwelt sind) sein eigenes, virtuelles Außenstudio erschafft und sich hierfür geeignete andere Individuen in der Außenwelt sucht, die ihm natürlich mit ihrem eigenen Studio und ihrem dem entsprechend eigenen Erfahrungshintergrund begegnen. Diese Studios mit ihren jeweils spezifischen Hintergründen müssen auf bestimmte Weise zusammenpassen, damit die einzelnen Individuen miteinander in Kontakt bleiben. Ich stelle mir vor, dass der Prozess, der dazu beiträgt, entscheiden zu können, ob die jeweiligen Studios in einem gewissen Zusammenhang zusammenpassen und interagieren können, mit Hilfe der projektiven Identifikation stattfindet. Das Subjekt erkundet das Objekt anhand von dessen Reaktionen auf seine Projektionen auf das Objekt. Zugleich versucht es über dieses Vorgehen, Passstellen zwischen sich und dem Objekt zu schaffen, um sich mit ihm verständigen zu können. Meine Gedanken darüber, wie dies im Einzelnen vor sich geht, habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt (Steinbrecher, 2002, 2008). Einen ähnlichen Blickwinkel nimmt Antonino Ferro (2009) in seiner Arbeit »Transformations in dreaming and characters in the psychoanalytic field« ein. Er schlägt vor, Szenen, die sich zwischen Analytiker und Analysand bzw. dem, was der Analysand berichtet, ereignen, mit dem Zusatz: »Ich hatte einen Traum …« zu belegen (S. 5). Dadurch bedingt entstehe ein Zugang, der zuvor eingerichtete Grenzen der Wahrnehmung öffne und einen Spielraum mit zunehmender Bedeutungsvielfalt entstehen lasse. Indem aus einer solchen Perspektive heraus Mitteilungen nicht mehr ausschließlich konkret verstanden würden, erhielten die einzelnen Inhalte den Charakter mehrdeutiger Szenen und Personen die Bedeutung von Figuren im Sinne von insbesondere emotionalen – ich möchte sagen: inneren – Bedeutungsträgern. Innere Figuren und äußere Szenen stehen dann miteinander in Verbindung und sind somit Teil des psychoanalytischen Beziehungsfelds. Erweitern wir diese Sicht des psychoanalytischen Felds auf das Feld im Kino, beispielsweise »Die Truman Show«, dann können wir mit Hilfe der Aussage: »Ich sehe einen Traum-Film« die konkrete © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Welt der äußeren Manipulation verlassen und tauchen in Trumans innere Welt, sein inneres Studio ein. Jeder Aspekt im Film wird nun Teil seiner Psyche bzw. seines Austauschs mit seiner Umgebung und offenbart zugleich, auf welche Weise sich seine innere Welt in der Außenwelt repräsentiert. Darauf will ich später exemplarisch eingehen. In Vorbereitung darauf möchte ich die Gedanken Georg Matejeks (2011) wachrufen, der sich im Rahmen eines Vortrags mit Bions Gedanken zum Thema »Innen und Außen in der analytischen Beziehung« befasst hat. Im Mittelpunkt seiner, Matejeks, Überlegungen stand der Gedanke, der Mensch gestalte sein Leben »gemäß seiner ureigenen Katastrophen«. Ich möchte an dieser Stelle lediglich die Aspekte aufgreifen, die mir für den zur Diskussion stehenden Film wichtig erscheinen. Insbesondere weist er darauf hin, dass die Bearbeitung emotionaler Erfahrung überwiegend unbewusst geschieht, wobei den Träumen grundlegende Bedeutung zukommt. Ob die Erfahrung so moduliert werden kann, dass sie Transformationen ermöglicht, oder ob sie deformiert und zerstört werden muss, hängt ganz offensichtlich vom Funktionieren der paranoid-schizoiden (PS) und der depressiven Position (D) ab. Die dabei stattfindenden Vorgänge beschreibt R. Britton (1998) in seiner Arbeit »Psychische Entwicklung und psychische Regression«. Einige Aspekte der Arbeit scheinen mir für das Verständnis der Entwicklung Trumans von Bedeutung, weshalb ich sie kurz skizzieren möchte. Britton greift auf W. Bion zurück, der das Konzept M. Kleins von PS → D in Richtung PS ↔ D erweitert habe. Die eher hierarchische Vorstellung der Entwicklung von einem Zustand mit Partialobjektbeziehungen, projektiver Identifizierung, Spaltung und Verfolgungsangst (PS) in einen Zustand mit ganzen Objekten, Ambivalenz, Schuld- und Verlustgefühlen (D) bei M. Klein ergänzt Bion um den Gedanken der gleichberechtigten Wechselbeziehung zwischen den beiden Zuständen. Demzufolge vermag ein Individuum einerseits im Zustand (D) Gedankenfragmente aus dem Zustand (PS) zu ordnen. Mit Hilfe des Containments erhält der dabei entstehende Gedanke, den Bion in Anlehnung an Poincaré als ausgewählte Tatsache (selected fact) bezeichnet, seine bedeutungsstiftende Funktion. Anderer© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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seits weist Bion, so Britton, darauf hin, dass es sich hierbei um einen »intuitiven und unerwartet auftauchenden Vorgang handele, der durch das Eindringen bereits festgelegter Gedanken oder durch die Unfähigkeit zu warten gestört werden kann«. Dies impliziert die Fähigkeit, lange genug in der (PS-)Position verweilen zu können, »bis die besondere Tatsache auftauchen […] kann« (R. Britton, 1998, S. 24). Von Bedeutung erscheint mir hierbei, dass die besondere Tatsache letztlich aus der Position der Ungewissheit und Fragmentierung, also (PS) entsteht, die allerdings getragen ist von einem vorausgegangenen Zustand der Integration (D). Denn in diesem (D-)Zustand kommt es zu einer erneuten Wissensaneignung, welche über die Konfrontation mit dem Neuen, Fremden, den vorherigen (D-)Zustand wieder infrage stellt. Britton zufolge handelt es sich bei diesem Vorgang nicht um einen Ankunftspunkt wie (D), sondern um eine Reise mit unbekanntem Bestimmungsort. Der jeweils künftige (D-)Zustand entsteht aus einer integrativen Bewegung in (PS) und erfordert meines Erachtens eine immanent auch in diesem Zustand der Fragmentierung bestehende Hoffnung auf Integration. Wenn diese Hoffnung gefährdet ist, kommt es zur Regression, die sich, so Britton, entweder als organisierte Desintegration oder als falsche Kohärenz manifestiert (Britton, 1998, S. 29). Einige der sich aus diesem Konzept ergebenden Reaktionsmöglichkeiten lassen sich bei Truman erkennen, angefangen vom nicht mehr zu hinterfragenden Wissen um die Richtigkeit der SeahavenWelt, über die Gefahr der völligen Fragmentierung bis hin zum Hoffnung schöpfenden Glauben/Vertrauen auf die Möglichkeit zur Integration und dem sich Einlassen auf das Ungewisse. Diesem Prozess, an dessen Ende eine bewusst denkbare emotionale Erfahrung, angestiftet durch die ausgewählte Tatsache, steht, liegt eine besondere Herausforderung zugrunde: Er geschieht unbewusst und kann nicht erzwungen werden. Das ist um so schwieriger, als der ungerichtete Zustand nicht lange ertragen werden kann. Es entsteht ein Wechselspiel zwischen einer Tendenz, die zur Katastrophe führt, und einer Tendenz, die eine Erfahrung machen, etwas entdecken will und von Bion als angeborener Wisstrieb bezeichnet wird. Entscheidend für dieses Kräftespiel ist wohl, dass der grundsätzlich zusammenbringende Wisstrieb uns nur dann aus der letztlich tren© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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nenden, zerstreuenden Katastrophe befreien kann, wenn er seinen drängenden Charakter verliert. So verstehe ich Bion, wenn er in diesem Zusammenhang Faith einführt, das Vertrauen. Er meint damit das Vertrauen in die Gutartigkeit und Kreativität einer Haltung, aus der heraus wir zwar notwendigerweise etwas erfahren möchten, ohne es aber greifen oder erzwingen zu wollen; aus der heraus wir alles dafür tun, dass der katastrophische Zustand sich ändert, und gleichzeitig akzeptieren, im wörtlichen Sinne hinnehmen, dass wir den dafür notwendigen Prozess nicht steuern können – eben weil er sich unbewusst ereignet. Das bedeutet gleichermaßen größte Wachheit, Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur Veränderung und gleichzeitig Verzicht auf Verlangen, Verstehen und rationale Logik. Solange dies nicht möglich ist, dominiert das Verlangen nach Kontrolle, wie es von Christof gelebt wird. Umgekehrt setzt sich Truman genau dieser von Ungewissheit geprägten Erfahrung aus: Das Katastrophengefühl und sein Bedürfnis danach, emotionale Wahrheit zu erfahren, arbeiten gewissermaßen Hand in Hand, bedingen sich gegenseitig. Beide Tendenzen haben vielfache Bühnenbilder für sein inneres Studio entstehen lassen, die sich im Filmverlauf sukzessive verändern: Im ersten Plot, als der Scheinwerfer vom Studiodach herabstürzt, nähert sich Truman ganz im Zeichen des Spannungsfelds zwischen Aufriss und Synthese diesem Gegenstand – erschrocken/entsetzt im Sinne der Katastrophe und gleichermaßen angezogen im Sinne seines Bedürfnisses, genaueres, letztlich die Wahrheit über seine Existenz zu erfahren, umkreist er den Scheinwerfer wie einen Gegenstand aus einer anderen Welt. Zwar wird er auf seiner anschließenden Autofahrt von der Regieanweisung Christofs per Nachrichtensprecher wieder beruhigt bzw. auf Kurs gebracht; die volle Wahrheit wäre zu diesem Zeitpunkt für Truman noch unerträglich, aber wie der Scheinwerfer beginnt nun auch das Licht der Manipulation allmählich seinen Geist aufzugeben. Von jetzt an entsteht ein Wechselspiel zwischen Katastrophe und deren Tendenz, Zusammenhänge auseinanderzuhalten oder zu trennen bzw. falsche Verknüpfungen herzustellen einerseits und den integrativen, Entdeckungen zulassenden Kräften in ihm andererseits. Er gerät dabei in einen Zustand, den Bion als Halluzinose bezeichnet. Matejek weist darauf hin, dass die Halluzinose weniger © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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mit dem pathologischen Begriff Halluzination verbunden ist als vielmehr einen Grundzustand beschreibt, dem jedes Individuum immer wieder ausgesetzt ist. Es ist nur so, »dass ihn andere Phänomene überlagern und verdecken. Wenn man sie reduzieren oder zeitweilig aufheben kann, wird die Halluzinose demonstrabel. Ihre vollständige Tiefe und ihr Reichtum sind nur über Akte des Glaubens zugänglich« (Matejek, 2011, S. 6). Truman überlässt sich im Film allmählich diesem Zustand, wobei ihm seine unmittelbare Verbundenheit zu Laureen/Sylvia als Orientierung dient2: Er ahnt, dass er sie am anderen Ende der Seahaven-Welt suchen muss, symbolhaft auf der äußeren Landkarte durch Fidschi repräsentiert. Dort geht es weder um Kontrolle noch um Steuerung, sondern darum, emotionale Erfahrungen zu machen und sich mit ihrer Hilfe zu entwickeln. Um dieses Fidschi erreichen zu können, braucht er weder ein Flugzeug noch eine äußere Landkarte; die dazu erforderliche innere Landkarte fertigt er an, indem er Sylvias Gesicht aus unterschiedlichen Mosaikstücken erstellt, die er diversen Frauenzeitschriften entnimmt. Interessant ist, dass er sich in dem Moment auf den Weg machen kann, als er die am ehesten passende Augenpartie findet und das Gesicht damit komplettiert. Erst die Augen beleben das Gesicht und ermöglichen es Truman, das Strahlen Sylvias aus seiner früheren Begegnung mit ihr auf das Bild zu projizieren3. Gerade Szenen wie diese zeigen besonders deutlich die Arbeit im inneren Studio und deren sichtbare Entsprechung im äußeren Studio. Wir können davon ausgehen, dass Sylvia trotz der unechten, gespielten Beziehungserfahrungen mit seinen frühen Bezugspersonen nicht die einzige Person in seinem bisherigen Leben war, mit der er offene und zugewandte Augenblicke teilen konnte. Das Mosaik stellt eher die Verdichtung aller guten Begegnungen dar. Er hat sie in sich aufgenommen und in sich wirken lassen, bis eine Vielzahl von Teilaspekten jeder Einzelbegegnung das Mosaikgesicht als Ganzes entstehen lässt (siehe oben)! 2 In diesem Zusammenhang sei auf den Beitrag von Th. Auchter in diesem Band verwiesen, der W. Lochs Begriff der konsensuellen Wahrheit zitiert. Loch bezieht sich dabei auf Nietzsche, dem zufolge mit zweien die Wahrheit beginnt. 3 Kohut verweist darauf, dass es für den Säugling essenziell wichtig ist, sich im Glanz der Augen der Mutter erkennen zu können.

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Diese Szene dokumentiert nach meiner Einschätzung zugleich den traumatischen Zerfall des guten Objekts und dessen geheime Wiederherstellung auf Trumans eigene Weise, auch wenn das Objekt nicht permanent für eine Begegnung zur Verfügung steht. Truman hat offenbar in sich etwas entstehen lassen, was D. W. Winnicott als potential space oder Übergangsraum beschreibt4, in welchem sich das von Britton beschriebene Kreislaufgeschehen von Trennen (PS) und Zusammenfügen (D) ereignen kann. Im Unterschied zum Psychotiker, der sich in der Halluzinose verliert, in ihr einfriert/erstarrt, wächst Truman an dieser Herausforderung, was in der Schlussszene deutlich wird. Darin ist er in der Lage, durch die in der Studiowand5 sichtbare Tür aus der Helligkeit des Studioretreats ins Dunkle, Ungewisse hinauszutreten und seine bisherige starre Welt zu verlassen, nachdem er in diesen Zustand der Halluzinose eingetaucht ist und ihn durchlebt hat. Getragen von der Vorstellung oder auch der Realisierung seines inneren guten Objekts, das er nun in Gestalt von Sylvias Mosaikgesicht wie eine orientierungsgebende Landkarte in seiner Hosentasche mit sich führt, kann er diesen katastrophischen Zustand überwinden, ähnlich wie Tamino in Mozarts Zauberflöte. Man erinnere sich: »Dies Bildnis ist bezaubernd schön, wie noch kein Auge je geseh’n. Ich fühl’ es, ich fühl’ es, wie dies Götterbild mein Herz mit neuer Regung füllt«. Es ist die Realisierung des inneren guten Objekts, das Tamino auf seiner Reise durch die emotionalen Untiefen führt, notwendigerweise begleitet und vorübergehend aufgehalten durch Papageno, der sich am konkret Greifbaren festzuhalten versucht und dann angesichts der auftauchenden Untiefen in Panik gerät. Tamino muss darauf Rücksicht nehmen, nur gemeinsam gelangen sie ans Ziel. Umgekehrt heißt es in Schuberts »Winterreise« (1828, Lied Nr. 4: Erstarrung): »Mein Herz ist wie erstorben, kalt starrt ihr Bild darin: schmilzt je das Herz mir wieder, fließt auch ihr Bild, ihr Bild dahin.« Dem jungen, zurückgewiesenen Jüngling war es nicht möglich, dieses gute Objekt in sich lebendig zu halten. Als Folge der traumatischen 4 5

Hierzu siehe Th. Auchters Beitrag in diesem Band. Sie wird im Film sichtbar, nachdem die Bootsspitze auf sie gestoßen ist und sie durchbohrt hat, s. u.

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Trennung ist es ihm lediglich gelungen, eine gefühllose, betäubte Erinnerungsspur von ihm in sich zu bewahren. Was ihn noch verzweifelter sein lässt, ist die Vorstellung, dass die Erinnerung verblassen wird, sobald er den Zustand seiner depressiven Erstarrung verlässt. Und diese Vorstellung ist ihm unerträglicher als sein aktueller Zustand, in dem er sich kalt und unbeweglich fühlt, weshalb er darin verharren muss. Dem Konzept Brittons zufolge hat sich in dem Jüngling eine falsche Kohärenz gebildet, die im weiteren Verlauf des Zyklus ihre Bestätigung sucht. Noch hoffnungsloser stellt sich die Situation Captain Ahabs in dem von Gerlach ebenfalls erwähnten Film »Moby Dick« dar6. Er befindet sich im Zustand der malignen Regression, denn ihm fehlt jede Zuversicht, sich mit einem guten Objekt verbinden und somit Bedeutung entstehen und vieles andere wirken lassen zu können. Er kann es auch nicht starr in sich bewahren und sich an ihm festklammern. Sein Objekt, der weiße Wal, ist stattdessen monströs deformiert, verzerrt und bösartig. Es hat eine Eigendynamik entwickelt, nachdem die Liebe sich in Hass verkehrt hat. Von ihm ist auch Ahab durchzogen, der nun besessen von der Rache ist. Deshalb bleibt er an das Ungeheuer gefesselt und versinkt mit ihm in den psychotischen Untiefen, wohingegen Trumans Fesseln sich lösen. Im Gegensatz zu Ahabs innerem Regisseur kapituliert Christof als Regisseur der Truman Show angesichts der Ernsthaftigkeit Trumans, dessen Bootsspitze nun erstmals die Grenzen seiner bisherigen Welt, innen wie außen, erreicht – und durchbohrt. Ganz offenbar setzt Christof jetzt auf seine bisher wirksamen Überredungskünste als letztes Mittel, um Truman zum Umlenken zu bewegen und nun wenigstens bewusst in der Show zu bleiben. Selbst Gefangener seiner Studiowelt, wo er sich rund um die Uhr aufhält und sogar schläft, kann er sich ein Leben außerhalb nicht vorstellen – im Gegensatz zu Truman, der am Filmende auch Christofs massive verbale Manipulationsversuche pariert. Er tut dies mit Hilfe des Satzes, der bislang die Fassade seines bisherigen Lebens dokumentierte, indem er ihm wie der Nachbarfamilie zu Filmbeginn, jetzt aber deutlich ironisch 6 Im Film spielt einer der Mitarbeiter Christofs darauf an, als er den Orkan mit der Bemerkung erzeugt: »Da bläst er.«

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mit übertriebener Verbeugung entgegenruft: »Und falls wir uns nicht mehr sehen: guten Tag, guten Abend und gute Nacht!« Es ist ja der Satz, der kurz und bündig die Beliebigkeit einer Welt dokumentiert, in der sich nichts verändert, nichts verändern darf. So kann man sich ohne viel Federlesens bereits am Morgen eine gute Nacht wünschen! Insgesamt lebt der Film also von diesem Kräftespiel zwischen einer Bedeutung suchenden und einer sie verhindernden Instanz und von den Entdeckungen, die Trumans erstarkendes Wahres Selbst dabei macht. Indem er Schritt für Schritt die Machenschaft der Organisation rund um den Regisseur Christof in sich entlarvt, offenbart er zugleich deren Raffinesse. Man denke an die vielen Rollen der Komparsen, deren letztlich stumpfsinnige Wiederholungen er beobachtet, als er im Auto auf seine Frau wartet und erlebt, wie die Regieanweisung geschäftiges Alltagsleben demonstrieren lässt. Oder als er wenig später zusammen mit ihr das Studiogelände verlassen will und ein Verkehrsstau vorgetäuscht wird, der sich auflöst, sobald er zu erkennen gibt, dass er sein Vorhaben aufgeben will. Ist das nicht Ausdruck für den Widerstand in uns, der sich situationsabhängig aufbaut, sobald eine Veränderung spürbar wird? Die Regie wird dadurch unmittelbar alarmiert, und sie reagiert prompt. Besonders deutlich wird das im Film, als es Truman erstmals vorübergehend gelingt, das Studiogelände in Begleitung seiner Frau zu verlassen: Zunächst wird ein Waldbrand vorgetäuscht und schließlich sogar ein GAU inszeniert. Die Fernsehgesellschaft fühlt sich im Sinne des Größten Anzunehmenden Unfalls maximal bedroht und reagiert in voller Härte, indem sie Truman, der die gesamte Organisation zu sprengen droht, umzingelt und als psychotisch entgleisten Randalierer dingfest macht. Übertroffen wird dieses Verhalten nur im Filmfinale, als es Truman trotz aller Gegenwehr und Vorsichtsmaßnahmen der Organisation geschafft hat, seine Panik vor dem Wasser zu überwinden und sich mit dem Boot auf den Weg zu machen. Jetzt ist es Christof als Chef der Organisation persönlich, der sogar Trumans Tod in Kauf nimmt, um ihn an seiner Entdeckungsreise zu hindern, indem er einen Orkan mit haushohen Wellen erzeugt. Wir kennen dieses destruktive, die Selbstzerstörung in Kauf nehmende Verhalten aus Analysen, in denen ausgehend vom Wahren Selbst erste Veränderungen erkennbar werden. Der Teil des Falschen Selbst, der keine © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Veränderung zulassen kann und deshalb eine Überwachungsinstanz geschaffen hat, wie wir sie auch in Steiners Konzept der pathologischen Organisation wiederfinden können, versucht unmittelbar, die alten Verhältnisse wieder herzustellen. Ihre Existenz hat Wurzeln, die bis in die früheste Kindheit zurückreichen. Im Film wird das neben dem Hinweis auf seine Geburt als ungewolltes Kind und seiner gleichermaßen traumatisch wirkenden Adoption7 durch das willkürlich und unempathisch-missbräuchlich agierende Elternpaar namens Filmgesellschaft in Gestalt von Trumans Hundephobie gezeigt, die später mit der Phobie vor Wasser und Brücken ergänzt wird. Allerdings weist der Film auch darauf hin, dass die Organisation zu jeder Zeit hellwach sein muss, um den Status quo aufrechterhalten zu können – zu stark ist sonst der Veränderungswunsch, der vom Wahren Selbst ausgeht. Sobald die Organisation im Film nachlässig wird, gelingt es Truman, sich auf den Weg zu machen; dies ist neben seiner Landkarte von Sylvias Gesicht die zweite Bedingung dafür, dass sein Befreiungsschlag gelingen kann. Er ist jetzt in der Lage, die Organisation mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, und täuscht vor, als funktioniere er ganz nach den Regeln des vorgegebenen Drehbuchs. Ich meine, dass bereits seine Tränen bei der Wiederbegegnung mit seinem Schauspieler-Vater vorgespielt sind. Mit Gerlach könnte man sagen, er intimisiert, schauspielert seine Rührung, um alle Instanzen in Sicherheit zu wiegen wie Odysseus die Trojaner mit Hilfe des als Opfergabe getarnten Holzpferds. Dadurch bedingt werden sie unaufmerksam; sie denken, sie kennen ihn. Aber, so erinnert Truman Christof am Ende: »Sie hatten nie eine Kamera in meinem Kopf.« Diesen Raum hat er genutzt, um seine Fähigkeit, intime Gefühle zu spüren und geheime Gedanken zu denken, zu bewahren und für seine psychische Geburt zu nutzen (zu Recht bemerkt Gerlach die Verbindung des Fluchttunnels zu einem Geburtskanal!). Vollends sichtbar wird an dieser Stelle des Films seine Fähigkeit zur Täuschung, als er eine Attrappe von sich als Schlafenden drapiert 7 G. Matejek weist in diesem Band darauf hin, dass dem Kind desaströse Folgen sowohl für seine Beziehungen zu seinen Objekten als auch für seine Einstellung zur Realität erwachsen, wenn das mütterliche Objekt nicht seiner Funktion dem Säugling gegenüber gerecht wird.

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und ein Tonband mit Schnarchgeräuschen aufstellt. So wiegt er die Organisation in Sicherheit und bereitet seinen Abgang vor. Nun wird deutlich, worauf auch Brearly und Sabbadini hinweisen: Das Falsche Selbst ist nur zum Teil Ausdruck einer primitiven Abwehr; zum anderen Teil sichert es mit seiner Schutzfunktion den Raum für Hoffnung. Denn in diesem Raum kann das Wahre Selbst überleben, wachsen und sich zeigen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Sie zitieren Winnicott, der das Falsche Selbst wie folgt zu Wort kommen lässt: »I will be a good boy/girl at least until I find someone who will recognize the real me« (2008, S. 436). Im Film offenbart sich dieser Moment, als Truman die Mosaikteilchen hinter dem Passepartout der Fotografie seiner Frau hervorholt und zusammenfügt. Das Passepartout mit dem sichtbaren falschen Objekt Ehefrau diente unbemerkt als Schutz und Aufbewahrungsort für die Einzelteile des Sylvia-Objekts, dem er nun die Bedeutung eines guten Objekts zuschreiben kann. Nach meinem Dafürhalten ist die von Truman verwendete Form der Intimisierung von derjenigen, wie sie Gerlach beschreibt, insofern zu unterscheiden, als Gerlach darunter den Zwang zur Offenbarung der intimen Welt meint. Truman dagegen intimisiert schauspielernd, um seine ureigene Intimität zu bewahren und seine psychische Geburt vorbereiten zu können. Er spielt gewissermaßen den abwehrenden Teil seines Falschen Selbst, das er dann als tote Attrappe schlafen lässt.8 Auf diese Weise verlässt er seine kapselgleiche Hülle und entzieht sich dem Zugriff der Organisation. Ganz im Sinne des Winnicott-Zitats steht das Falsche Selbst nun eindeutig im Dienst einer gesunden Selbstempfindung, den Zeitpunkt abzuwarten, um seine Geburt so lange unerkannt zu gestalten, bis das Wahre Selbst stark genug ist, sich zu zeigen wie Truman auf dem Meer als Bootskapitän – im Gegensatz zu dem Zuschauer als Badewannenkapitän. Letzterer ist noch nicht in der Lage, sich selbst auf den Weg zu machen, er braucht Truman als Vorreiter! Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Film auf die Existenz eines ganz bestimmten psychischen Raums hinweist; Seahaven ist 8 Sicherlich haben A. Niccol und P. Weir auch in dieser Szene nicht rein zufällig den Schneemann mit der Karotte gewählt: Er steht für die emotionale Kälte, aus der Truman kommt, und zeigt Christof zugleich eine lange Nase.

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eine Welt in der Welt. Initiiert durch anhaltende traumatische Ereignisse, denen Truman von Geburt an in der äußeren Realität ausgesetzt war, ist er in einen Zustand hineingewachsen, der es ihm weder erlaubt, sich ungezwungen in der äußeren Welt zu bewegen, noch in eine hilfreiche Beziehung zu seinen inneren Objekten zu treten. Er ist in eine Abwehrformation geflüchtet, die J. Steiner (1985, 1987) als pathologische Organisation bezeichnet hat. Demzufolge ist Truman letztlich ein schwerkranker Mann. Das Ausmaß seines psychosenahen Zustands wird im Filmverlauf ebenso nachvollziehbar wie sein Versuch, sich damit auseinanderzusetzen und ihn zu überwinden, wie es in einem psychoanalytischen Prozess möglich sein kann. Ferro schreibt in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit, die Erkrankung sich im psychoanalytischen Feld entfalten zu lassen: »The field must contract the patient’s ›illnesses‹, and it is only once this happens that genuine transformation will be possible« (Ferro, 2009, S. 22 f.). Als Zuschauer ist man vom Filmbeginn an mit Hilfe des bereits erwähnten Fake-Effekts (Munaretto, 2010, S. 84) mit dem Falschen konfrontiert. Die Filmsprache sorgt dafür unter anderem durch die unnatürlich helle Ausleuchtung, die Vermeidung von Schatten sowie die übertriebene Reinheit und Intensität des Himmelblaus. R. Britton (1994) setzt sich in seinem Aufsatz »The blindness of the seeing eye. Inverse symmetry as a defence against reality« mit diesem Phänomen ausführlich auseinander und sieht in der Verleugnung seinen wesentlichen Abwehrmechanismus. Dabei greift er auf H. Deutsch (1942) zurück, die eine Als-ob-Persönlichkeit postuliert, welche dem Charakter Trumans sehr nah zu kommen scheint und gleichermaßen an Winnicotts Falsches Selbst erinnert. Sie sieht in der Verleugnung eine allgemeine Haltung dieser Persönlichkeit und nicht einen zeitweilig von ihr eingesetzten Modus, weshalb sowohl ihre Beziehung zur Welt als auch die zu sich selbst von Unwirklichkeit geprägt sind. Britton betont, dass es deshalb in diesem Zustand keinerlei Konflikte zu geben scheint – ganz so, wie Truman zu Beginn des Films geschildert wird. In ihrer sich ausbildenden eigenen Welt herrscht nicht nur Konfliktfreiheit, sondern auch Bedeutungslosigkeit. Der dynamische Vorgang der Bedeutungsgebung, der auf dem Kreislauf zwischen projektiver Identifizierung und Reintrojizierung beruht, wird durch ein statisches Oszillieren ersetzt, welches von © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Britton mit dem Auf-der-Stelle-Treten verglichen wird. So entstehen immer gleiche Rituale, Begegnungen und Floskeln, die der Film von Beginn an zeigt. Neben dem Begrüßungsritual, das die Bedeutung der Zeit ausblendet, sei auf die täglich gleichen Bewegungsabläufe der Komparsen hingewiesen, die Truman allmählich zu erkennen in der Lage ist. Von da an gelingt es ihm Schritt für Schritt, Bedeutungen in sich entstehen zu lassen. Allerdings ist dieser Prozess mit Konsequenzen verbunden, die es in seiner bisherigen Welt nicht zu geben schien. Indem sich die Blindheit seines sehenden Auges (Britton, 1994) verliert und er nicht mehr verleugnet, muss er sich den draußen wie auch drinnen bestehenden Konflikten stellen. Im Gegenzug verliert er seine phobische Symptomatik und kann sich nun auf den Weg in die bislang ausgesparten Welten machen. Je eindeutiger er sich bewegt, desto klarer erlebt er dabei die von der Organisation vorgenommene Pervertierung, in der er bislang gefangen war. Seine Wahrnehmung war bis dahin mit Hilfe von Verleugnung und Erblindung (Britton, 1994) von einer Atmosphäre geprägt, die das Leben in dieser Zwischenwelt mit der Stimme seiner Schauspieler-Frau Meryl sogar als »gesegnet« anpreist und das in der äußeren und inneren Realität als perspektivlos bezeichnet. Durch sein beharrliches und suchendes Forschen verwandelt sich dieser starre Raum, der Truman die Luft zum Atmen nimmt und ihn seelisch an den Rand des Erträglichen geführt hat9, allmählich und scheinbar wie von selbst in den für die Entwicklung so notwendigen oben erwähnten potential space. Sein kaum sichtbares unspektakuläres Lächeln, verbunden mit dem ebenso sacht angedeuteten Kopfnicken in dem Moment, als er sein (Sylvia-)Gesicht gefunden hat, verdeutlichen, was dadurch letztlich ermöglicht wird: Indem er den Übergangsraum hat entstehen und zur Wirkung kommen lassen, kommt Truman als true man in der Realität an – sowohl in der äußeren als auch in der inneren. Denn für beide ist der potential space das Bindeglied, das ihre Differenzierung erst ermöglicht! Interessant ist in diesem Kontext die Rolle der Zuschauer im Film. Sie stehen für den beobachtenden, miterlebenden Teil der Persönlichkeit. Zwar hypnotisiert und zeitweise eingeschläfert während 9 Sein erster Satz im Film lautet: »Ich kann nicht mehr.«

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der seit 30 Jahren andauernden Show, ist ihre Aufmerksamkeit mit Hilfe der Werbespots, unterstützt durch ihre Sensationslust, doch auf die Sendung fixiert. Die Schleichwerbung ist, darauf weist auch Gerlach hin, ebenso sichtbares Zeichen der perfiden Aufmerksamkeitslenkung durch die Organisation wie deren Aufforderung an die Zuschauer, die Sendung mitzugestalten. Die Kontrolle ist gerade nicht nur auf Truman beschränkt; vielmehr wird dem beobachtenden Teil der Persönlichkeit suggeriert, außerhalb der Show zu stehen, aber dies ist nur Mittel zum Zweck. Auch und gerade er, der beobachtende Teil des Ich, sollen beeinflusst, gesteuert werden. Die Sendung scheint nur nebenher mitzulaufen und doch richten die Zuschauer ihren Alltag nach ihr aus. Man denke an die Szenen an der Bartheke bzw. im Wohnzimmer der beiden alten Damen oder des badenden Mannes. Das ändert sich allerdings schlagartig, als sie die Ernsthaftigkeit des erlebenden Teils der Persönlichkeit, verkörpert durch Truman, spüren. In dem Moment, als er aufgrund seines erstarkten Selbst sich traut, in Aktion zu treten, sind sie auf seiner Seite und ergriffen von seinem – ihrem? – Schicksal: Auch wenn sie nicht wissen, wie es ausgehen wird, sind sie jetzt eindeutig mit ihm identifiziert. Die Damen liegen sich in den Armen und der Mann in der Badewanne zieht sich an einem zum Tau umfunktionierten Bettlaken aus dem Wasser, als Truman in Seenot gerät; dabei feuert er Truman leidenschaftlich mit den Worten an: »Du schaffst es!« Auffallend ist die Ähnlichkeit dieser Ereignisse mit der Szene zu Filmbeginn, als Truman vor dem Spiegel die ausweglose Situation der beiden Bergsteiger spielt, und doch sind sie grundlegend von ihr unterschieden. Denn die in Not geratenen Bergsteiger debattieren über etwas Sinnentleertes; es geht darum, ob sie mit aller Macht und ohne wirkliches Ziel einen Berggipfel erreichen wollen. Nur der Ich-Anteil Trumans, der das Krankmachende an dieser Situation spürt, gibt zu verstehen, dass er die Sinnlosigkeit dessen nicht mehr ertragen kann. Aber da steht er noch unter der Herrschaft des sadistischen Christof-Aspekts, getragen von einer ironisch sarkastischen, die Bedeutungslosigkeit einer solchen Atmosphäre unterstreichenden Haltung der Organisation, der er vorsteht. Als Truman aber in Seenot gerät, ist die Christof-Figur dem gegenüber durch das innere Objekt Sylvia ersetzt, wodurch Truman sich getragen fühlt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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Ganz offenbar hat Trumans Odyssee tief verborgene Ängste, Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte in den Zuschauern auslöst, als er sich schließlich auf den Weg macht. Und wir, die Metazuschauer des Films, fühlen uns vielleicht mit ihnen und deshalb auch mit ihm verbunden. Ahnen wir vielleicht, dass einiges an und in uns verzerrt, ja falsch ist, wie Trumans Buddy Marlon es treffend formuliert, und dass wir uns deshalb auf den Weg machen müssen, ohne zu wissen, wie es ausgeht? Ein Wechsel der Perspektive lässt jetzt erkennen, dass die pathologische Organisation sich nicht nur innerhalb eines Individuums ausbildet und dieses dominieren kann. Vielmehr begegnen uns solche Strukturen vielfach in der Gesellschaft, sei es im beruflichen, politischen oder sozialen Kontext. Die Szene des Badewannenkapitäns zeigt allerdings ebenso wie die Frage eines Mitarbeiters des Wachpersonals, was sie jetzt gucken sollen, als Truman das Studio verlassen hat und die Show zu Ende ist, dass Trumans Entwicklung beileibe nicht selbstverständlich ist. Die Organisation kann uns ein Leben lang dominieren, wenn es uns nicht gelingt, uns aus ihrer Umklammerung zu lösen; dann bleibt es bei der Show und wir suchen nach immer neuen Inszenierungsmöglichkeiten. Umgekehrt müssen sich uns die entsprechenden zur Transformation führenden Figuren (Ferro, 2009) erschließen, wir können ihr Erscheinen nicht bestimmen. Wir können uns lediglich darauf einstellen wie der Schauspieler aus der Metapher Ferros: Er muss sich ganz auf eine bestimmte Rolle vorbereiten, kann aber nicht bestimmen, ob und wann sie ihm übertragen wird. Ferro weist in diesem Zusammenhang auf die Wandelbarkeit der Figuren hin (2009, S. 37). Man könnte sagen, dass die Figuren sich über die Jahre hin entwickeln, bis sie die von ihnen angestrebte Rolle auch ausfüllen können. Er greift dabei auf James Grotstein zurück, der in Anlehnung an Bion auf die Gefahr zu großer Neugierde für den von ihm postulierten Wahrheitstrieb aufmerksam macht: Die Funktionsfähigkeit der Kontaktschranke, durch die bedingt narrative Derivate entstehen können, werde gefährdet. Deshalb (Ferro, 2009, S. 35) sei Geduld erforderlich; ich meine Geduld, wie sie von Truman gezeigt wird, indem sein Mosaikgesicht der Repräsentanz Sylvias in © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401903 — ISBN E-Book: 9783647401904

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ihm von Jahr zu Jahr ähnlicher wird, bis es passt. Und zwar passt es nun im Sinne der Passung, nicht mehr im Sinne der Anpassung! Nach meinem Verständnis drücken Ferro und Bion damit aus, dass ein zu direkter, dranghafter Vorstoß des Wisstriebs bzw. Wahrheitstriebs von unserer Psyche nicht verarbeitet werden kann, weil wir die dann auftauchenden Elemente und Zeichen nicht einschätzen können und deshalb in dem oben von Matejek erwähnten katastrophischen Zustand verbleiben. Wir haben dann keine andere Möglichkeit, als Verknüpfungen zu negieren, zu zerstören oder falsche Verknüpfungen herzustellen, um überleben zu können. Wenn es im Gegensatz dazu gelingt, auftauchende Figuren zu erkennen und ihre inhärenten Mitteilungen zu verstehen, dann können sie sich im Feld und wir uns mit ihnen weiterentwickeln. Literatur Brearley, M., Sabbadini, A. (2008). The Truman Show: How is it going to end? Int. J. Psychoanal. 89, 433–440. Britton, R. (1994). The blindness of the seeing eye. Inverse symmetry as a defence against reality. Psychoanal. Inq., 14, 365–378. Britton, R. (1998). Psychische Entwicklung und psychische Regression. In C. Frank, H. Weiß (Hrsg.), Identifikation als Abwehr. Beiträge der Westlodge Konferenz II (S. 17–39). Tübingen: Edition diskord. Ferro, A. (2009). Vortrag gehalten auf dem 46. Jahreskongresses der IPA in Chicago. Gerlach, A. (2008). Intimität als Gegenwehr und die Tyrannei der Intimisierung. Psychoanalytische Anmerkungen am Beispiel des Films Die Truman Show von Peter Weir. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 62, 1068–1076. Huston, J. (1956) Moby Dick. Lexikon internationaler Film. Matejek, G. (2011). Innen und Außen in der analytischen Beziehung. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten am Institut der psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf. Mozart, W. A. (1791/1980). Die Zauberflöte. Oper in zwei Akten. The RCA Victor Opera Series. Munaretto, St. (2010). The Truman Show (Filmanalyse). Königs Erläuterungen Spezial. Hollfeld: C. Bange Verlag. Schubert, F. (1828). Winterreise. In: Schubert, F. Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung (S. 54–121). Edition Peters Nr. 20d. Frankfurt a. M. u. a.: C. F. Peters. Steinbrecher, M. (2002). Bannen und Gebannt werden im psychoanalytischen

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Prozess. Arbeit, vorgelegt zum Erwerb der Ordentlichen Mitgliedschaft der DPV. Unveröffentlichtes Manuskript. Steinbrecher, M. (2008). Die Rolle des Analytikers im Prozess von Projektiver Identifizierung und Intersubjektivität. Vortrag anlässlich der EPF Tagung in Wien. Unveröffentlichtes Manuskript. Steiner, J. (1985). Turning a blind eye. The coverup for Oedipus. Int. J. PsychoAnal., 12, 161–172. Steiner, J. (1987). The interplay between the paranoid-schizoid and the depressive position. Int. J. Psycho-Anal., 68, 69–80.

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Die Autorinnen und Autoren

Thomas Auchter, Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker (DPV/ IPA/DGPT) in eigener Praxis in Aachen sowie als Dozent, Lehranalytiker und Supervisor an der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf tätig. Thomas Hartung, Dr. med., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, ist als Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker in eigener Praxis sowie als Lehranalytiker (DPV/IPA), Lehrtherapeut, Supervisor und Dozent an der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf tätig. Hellfried Krusche, Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker in eigener Praxis sowie als Lehranalytiker (DPV/IPV/DGPT), Supervisor und Dozent an der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf tätig. Georg Matejek, Dr. rer. nat., Diplom-Psychologe, ist als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Bensberg bei Köln sowie als Lehranalytiker (DPV/IPA), Lehrtherapeut, Supervisor und Dozent an der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf tätig. Klaus Röckerath, Dr. med., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist als Psychoanalytiker (DPV/IPV) in eigener Praxis sowie als Lehranalytiker und Supervisor (DPV) tätig. Michael Steinbrecher, Dr. med., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Arzt für Psychotherapeutische Medizin, ist als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Köln sowie als Lehranalytiker (DPV/IPA), Lehrtherapeut und Supervisor an der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf tätig.

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Die Autorinnen und Autoren

Laura Viviana Strauss, Dr. phil., ist als Psychoanalytikerin in eigener Praxis sowie als Lehranalytikerin, Supervisorin (DPV/IPA), Dozentin und Lehrtherapeutin an der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf e. V. in Köln tätig. Angelika Voigt-Kempe, Diplom-Psychologin, ist als Psychoanalytikerin (DPV/IPV) in eigener Praxis sowie als Lehranalytikerin und Supervisorin tätig.

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