Politik der inneren Sicherheit 3518110160


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German Pages 239 [244] Year 1980

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Politik der inneren Sicherheit
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editionsuhrkamp Neue Folge Band 16

Die in diesem Band wiedergegebenen Referate der Sektion Rechtssoziologie auf dem 19. Deutschen Soziologentag in Berlin 1979 analysieren die Wechselwirkung von Protestaktionen und staatlicher Reaktion in Italien und in der Bundesrepublik, sie versuchen, durch historische Vergleiche das Geschehen der sechziger und siebziger Jahre auf Gesetzmäßigkeiten zu bringen und sie analysieren die Entwicklung der Polizei in verschiedenen europäischen Ländern. Damit wird ein Teil der Diskussion auf dem Soziologentag wiedergegeben. Diese befaßte sich auch mit dem technologischen Ausbau von Informationsbürokratien und mit der Reaktion auf Terrorismus in der Welt der Juristen. Diese Themen werden in Rahmen der Diskussion um rechtliche Kontrollmöglichkeiten von Sicherheitsbürokratien weitergeführt werden müssen. Hier, mit diesem ersten Band aus dem Themenbereich, werden solche Beiträge vorgestellt, die sich mit der Reaktion einer Politik der inneren Sicherheit auf Bedrohungen beschäftigen, die als ,bestandsgefährdend, angesehen werden. Verdeutlicht wird, daß man die politische Reaktion in einer Situation der Krise trennen muß von ihrer langfristigen Auswirkung als Veränderung des politischen Systems.

Politik derinnerenSicherheit Herausgegeben von Erhard Blankenburg Mit Beiträgen von Erhard Blankenburg, Albrecht Funk, Udo Kauß, Thomas v. Zabern, Vincenzo Ferrari, Sebastian Scheerer, Susanne Karstedt-Henke

Suhrkamp

edition suhrkamp 1016 Neue Folge Band 16 © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980. Erstausgabe. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Satz: Georg Wagner, Nördlingen. Druck: Ebner, Ulm. Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus. Printed in Germany.

Inhalt Erhard Blankenburg Politik der inneren Sicherheit. Eine Einleitung

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Albrecht Funk, Udo Kauß, Thomas v. Zabern Die Ansätze zu einer neuen Polizei - Vergleich der Polizeientwicklung in England/Wales, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland 16 Vicenzo Ferrari Symbolischer Nutzen der Gesetzgebung zur inneren Sicherheit in Italien 91 Sebastian Scheerer Gesetzgebung im Belagerungszustand Susanne Karstedt-Henke Theorien zur Erklärung terroristischer Bewegungen I 69 Hinweise zu den Autoren

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Erhard Blankenburg Politik der inneren Sicherheit Eine Einleitung Wenn es um die Prognose von sozialen Bewegungen geht, sollten Soziologen ehrlicherweise einen Offenbarungseid leisten. Schaut man sich die soziologische Literatur in den USA oder in der Bundesrepublik zu Beginn der sechziger Jahre an, so deutet nichts auf die Vehemenz einer politischen Protestbewegung, wie sie sich wenige Jahre später zunächst an den großen amerikanischen Universitäten, und wenig später in denjenigen in Europa ausbreitete. Nachträgliche Erklärungen jedoch gibt es zahlreiche, die an Erscheinungsformen sozialer Bewegungen deren soziale Ursachen festzumachen versuchen und die teils sogar den Eindruck erwecken, als ,hätte es gar nicht anders kommen können,. Die mannigfachen Erklärungen der politischen Protestbewegung, die in den sechziger Jahren Sympathien auch über die Universitäten hinaus fand, ihr Rückzug auf Teile der Studentenschaft zu Beginn der siebziger Jahre, ihre Isolierung bis hin zur Bildung terroristischer Gruppen, ist mit der Beschreibung der sozialen Herkunft ihrer Aktivisten und Anhänger, mit Theorien zur Generationsfolge von Nachkriegs-Geborenen und selbst mit Hinweisen auf die soziale Lage der Studenten von Massenuniversitäten und der Akademiker auf einem sich wandelnden Arbeitsmarkt zu erklären versucht worden. Jedoch sind solche Versuche allenfalls einleuchtend, nicht ausreichend. Wie in unseren Alltagstheorien stel-

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len sie plausible Assoziationen zwischen gleichzeitigen Ereignissen her, aber sie sind hilflos, wenn sie angeben sollen, ob in den vor uns liegenden Jahren neue Protestbewegungen möglich sind oder ob wir weiter im Zeitgeist der ,Tendenzwenden< schwimmen werden. Ähnlich wie Historiker werden auch Soziologen zur Bescheidenheit gemahnt, einzugestehen, daß sie singuläre Ereignisse nicht vorhersagen können. Was soziologische Theorien jedoch leisten können, ist, die Ablaufprozesse von sozialen Bewegungen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu bringen. Hierin sind sozialwissenschaftliche Theorien durchaus erfolgreich, und dies sogar im Sinne der Prognosefähigkeit. Oft genug etwa hat man die staatliche Reaktion auf Massenbewegungen beobachten können, um über deren Mischung von physischer Gewalt und Manipulation, über die Bedingungen, unter denen Konflikte eskalieren, und über die Toleranzgrenzen politischer Systeme Aussagen machen zu können. Der Ablauf staatlicher Reaktionen in Krisen erhellt dabei schlaglichtartig den Charakter der politischen Institutionen insgesamt. Traditionen, Grundeinstellungen, Handlungsbereitschaft und Tragfähigkeit von rechtlichen Schranken - sie alle werden in der dramatischen Zuspitzung deutlicher als in der Alltäglichkeit ruhiger Zeiten. Wer die jeweilige ,politische Kultur, eines Systems kennenlernen will, kann keinen besseren Indikator finden, als die Reaktion auf Krisen zu analysieren, die als ,bestandsgefährdend, angesehen werden. Daher ist ein Vergleich der Protestbewegung und der Reaktion auf sie in den sechziger und siebziger Jahren in den verschiedenen Demokratien der westlichen Industrieländer über das zeitgeschichtliche Interesse hinaus von Bedeutung für die Analyse von deren Herrschaftsausübung. Für uns in der Bundesrepublik Deutschland

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bietet sich dazu besonders der Vergleich zu Italien an: Trotz der Parallelität einiger historischer Ereignisse wie der Herausbildung von organisiertem Terrorismus und dessen spektakulären Entführungsaktionen, sind Reaktion und Ablauf der damit ausgelösten Krisen auf charakteristische Weise unterschiedlich gewesen. In Italien kam es zwar noch während der Entführung von Moro zu Ausnahmegesetzen, die dem Innenminister außergewöhnliche Kompetenzen verliehen, die ihn zum ,Souverän über den Ausnahmezustand, machen könnten. Faktisch jedoch hat sich an der Ohnmacht der italienischen Polizeien gegenüber terroristischen Aktivitäten wenig geändert. Besonders in Krisenzeiten zeigt sich allgemein, daß Gesetze nicht immer dazu verabschiedet werden, um effektiven Gebrauch von ihnen zu machen, sondern häufig, um einen symbolischen Ankündigungseffekt zu erzielen. Wirksamer Gebrauch kommt möglicherweise zu einem viel späteren Zeitpunkt, unter ganz anderen Umständen, und ohne die Kontrollchance öffentlicher Aufmerksamkeit. Dieser symbolische Gebrauch von Recht ist für die politische Kultur in Italien insgesamt charakteristisch. Hinzu kommt, daß in diesem Land der politische Terrorismus in einer sehr viel breiteren Gegenkultur verankert ist und daß er sich nahtlos an Traditionen wie den Banditismus und die organisierte Bereicherungskriminalität anschließt. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Reaktion gegen den politischen Terrorismus in zweierlei Hinsicht sehr viel erfolgreicher gewesen: Zum einen wurde ein Kern von aktiven Terroristen sozial isoliert, Sympathiebezeugungen oder auch nur öffentliche Reflexion derselben (wie in der Nach-Mescalero-Diskussion) wurden eingeschüchtert, die Anknüpfung an eine Gegenkultur mißlang, und die Berufung auf eine breite Mobilisierung klassenkämpferischer Interessen war von vornherein

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illusionär. So schmal die terroristische Basis in der Bundesrepublik sich damit erwiesen hat, so breit und auch nachhaltig ist die staatliche Reaktion: Sie reicht vom sichtbaren Objekt- und Personenschutz über den Aufbau von Länderpolizeien und Bundeskriminalamt, und sie bildet ein Element des Meinungsklimas, das in den ,Berufsverboten< nur seine symbolische Verdeutlichung findet. Ziehen wir eine Bilanz sowohl der terroristischen Aktivität in den siebziger Jahren als auch der inneren Sicherheitspolitik dieses Zeitraums, so bleibt das Wachsen und die bessere Ausstattung der Sicherheitsbehörden als langfristiges Resultat. Dem politisch motivierten Terrorismus sind zwar einige wenige spektakuläre Aktivitäten gelungen, die in den Massenmedien zudem bereitwillige Aufmerksamkeit fanden. Geiselnahmen, Sprengstoffanschläge, Banküberfälle und Flugzeugentführungen haben jedoch nur kurzfristig besondere Aufmerksamkeit erregt, langfristig haben sie in erster Linie den Effekt gehabt, Sicherheitsmaßnahmen zu legitimieren. Nicht die augenblickliche Sensation ist es, auch nicht der Ablauf und Ausgang des jeweils einzelnen Ereignisses, der dem Gewaltterrorismus zur Wirkung verhilft. Vielmehr ist es die Reaktion auf die terroristische Drohung, es ist die Abwehrmaßnahme, die unser Leben langfristig verändert hat. In der falschen Erwartung, die Verhältnisse zum Umstürzen bringen zu können, haben einige wenige terroristische Aktivitäten das perfektioniert, was sie zu bekämpfen vermeinten: Es sind die Personenüberprüfungen bei der Einstellung im öffentlichen Dienst wie in der privaten Wirtschaft, die antizipierenden Konformismus erzeugen; es ist der Stacheldraht um das Bürogebäude eines Ministeriums oder um das Gericht, es sind die Barrikaden und Personenkontrollen innerhalb öffentlicher Gebäude, die Gewalt

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im öffentlichen Leben zur ständigen Präsenz gebracht haben. Konformismus und sichtbare öffentliche Gewalt haben zugenommen in einem sehr viel größeren Maße, als wir uns das vor 10 Jahren hätten vorstellen können. An die Körperkontrollen beim Besteigen eines Flugzeugs oder beim Betreten eines Gerichts, an den elektronischen Blick in die Fahndungskartei an der Grenze und den gelangweilten Polizisten vor der Villa im Prominentenviertel oder vor der Synagoge haben wir uns als alltägliche Erscheinungsbilder gewöhnt. Allenfalls haftet dem Aufwand für Objekt- und Personenschutz die Lächerlichkeit des rein Präventiven an, denn die Ereignislosigkeit der vielfältigen Überwachung macht zugleich deutlich, daß die Anforderungen an den Schutz von öffentlichen Einrichtungen beliebig gesteigert werden können, ohne diesen je lückenlos zu machen. Gleichzeitig macht uns der Sicherheitsaufwand unsere Störungsanfälligkeit bewußt. Eine komplizierte, auf kommunikativen Voraussetzungen beruhende Industriegesellschaft ist an Voraussetzungen der Bewegungs- und Erwartungssicherheit gebunden, die durch allgegenwärtigen Schutz und Mißtrauen zerstört werden müßten. Jede soziale Interaktion beruht auf dem ,Vertrauen, in Verhaltenserwartungen an die Gegenüber, und je weniger wir in solchen Verhaltenserwartungen sichergehen können, desto komplizierter und kostspieliger wird diese soziale Interaktion. Die Institutionalisierung von Mißtrauen macht das Leben komplizierter und Interaktionen aufwendiger, ohne zugleich effektive Sicherheit schaffen zu können. In den siebziger Jahren hat die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik auf einige spektakuläre terroristische Aktivitäten mit einer solchen Steigerung des Sicherheitsbedürfnisses reagiert, die Politik der inneren

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Sicherheit hat mit soviel Institutionalisierung von Mißtrauen geantwortet, daß wir von einer ,inneren Aufrüstung, sprechen können. Man kann dabei jedoch nicht behaupten, daß alleine die Reaktion auf den Terrorismus anfangs der siebziger Jahre die innere Aufrüstung der späten siebziger Jahre hervorgerufen habe. Die These, daß der Ausbau des Bundeskriminalamtes und seiner technologischen Fahndungsmöglichkeiten allein hierauf zurückzuführen wäre, läßt sich widerlegen: Die Anfänge hierzu wurden schon in den sechziger Jahren aufgrund einer Mängelanalyse der bisherigen polizeilichen Fahndungsarbeit gelegt. Eher kann man daraus schließen, daß die Dramaturgie der Terrorismusbekämpfung von der daraus abgeleiteten Legitimation für den Ausbau und die Effizienzsteigerung der Polizei mitbestimmt wurde. Sowohl das Bundeskriminalamt als auch die Polizeibehörden der Länder haben das Bedürfnis von Politikern genutzt, sich als tatkräftig zu erweisen und hatten es daher leichter, die auch ohnedies als nötig angesehenen Budget- und Personalentscheidungen zum Ausbau einer stärker präventiv wirksamen Polizei herbeizuführen. Wir kommen damit zu einem Erklärungsmodell, in dem jegliche Aktion teilweise als Reaktion erklärt wird. Dies gilt für die Erklärungen der Protestbewegung in den sechziger Jahren, die als Reaktion auf gesellschaftliche Verfestigungen interpretiert wird, und es gilt für die Erklärung der Politik der inneren Sicherheit als Reaktion auf die hierdurch hervorgerufene Verunsicherung. Die Formen, in denen beide Reaktionen ablaufen, decouvrieren dabei jeweils spezifische nationale Formen von Herrschaftsausübung und der Opposition gegen diese. Hinzu kommen allerdings Merkmale der Modernität, die nicht national begrenzt sind: Hierzu zählen die technologischen Möglichkeiten der Überwachung

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ebenso wie die Anfälligkeit und Erpreßbarkeit von komplizierten Verkehrs- und Organisationssystemen bei Bedrohungen. Technologien sind keineswegs nur von zentralen Herrschaftsapparaten benutzbar, sondern sie eröffnen auch Möglichkeiten der Gegenorganisation bis hin zu den modernen Formen des Terrorismus. Innere Sicherheitspolitik hat daher ebenso wie die Politik der äußeren Sicherheit Merkmale einer gegenseitigen Aufrüstung, deren Ende wir heute noch nicht absehen können. Angeben lassen sich jedoch drei Ursachenbündel, die zwar im Entstehen voneinander unabhängig sein mögen, deren Zusammentreffen aber die Charakteristik der Politik der inneren Sicherheit in der Bundesrepublik der siebziger Jahre ausmacht: - Die technologische Entwicklung, die auf beiden Seiten zur ,Aufrüstung< beiträgt: Auf der einen Seite sind moderne Verkehrs- und Produktionssysteme kompliziert und damit störanfällig geworden, wodurch sie das Drohpotential einer Zivilisations-Guerilla potenziert haben. Auf der anderen Seite macht elektronische Informationstechnik erstmals möglich, eine große Menge von dezentral erfaßten Daten zu verarbeiten und aus der Masse von irrelevanten Daten die relevanten Kenntnisse über bestimmte Personen zu selektieren. Technisch wäre es möglich, jede Bewegung über Grenzen, jede Registrierung in einem Hotel oder jedes Abheben von Geld bei einer Bank zu überwachen. Technisch wäre es auch möglich, die Daten über Personen, die bei Meldebehörden, Sozial- und Krankenversicherungen gesammelt werden, zusammenzuführen, und damit ein ziemlich vollständiges Bild über beliebige Personen jederzeit zugreifbar zu machen. Solchen Möglichkeiten stehen nur schwache rechtsstaatliche Sicherungen entgegen: Zwar hat in den siebziger Jahren mit Datenschutzgeset-

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zen, Datenschutzbeauftragten und einer mißtrauischen öffentlichen Diskussion der Versuch begonnen, rechtliche Schranken gegen den Ausbau solcher technischen Möglichkeiten zu errichten. Jedoch fragt sich, wieweit die Mittel des Rechts reichen, den Gebrauch von Informationen zu verhindern, wenn sie einmal da sind, geschweige denn, wieweit sie wirksam sind, wenn man sich in einer Krisensituation über sie hinwegsetzen möchte. - Gleichzeitig mit technologischen Veränderungen hat sich auch die Sozialpsychologie der Überwachung verändert. Der Vergleich von Polizeien in verschiedenen Ländern zeigt deren umfassenderen, stärker präventiven Kontrollanspruch. Sie treffen zusammen mit vielfältig verästelten Erscheinungen einer >TendenzwendeGegenkultur, vermitteln. - Letzlich sind für die siebziger Jahre charakteristisch die symbolischen Darstellungen von Protest ebenso wie der Politik innerer Sicherheit. Getreu der Argumentation von Kirchheimer, wonach die Schauprozesse politischer Justiz der Systemopposition symbolische Darstellungschancen bieten, hat die Protestbewegung der siebziger Jahre Ereignisse zu dramatisieren gewußt. Etwa wurden >Berufsverbote< erst spektakulär durch einige Fälle gerichtlicher Nachprüfung und Protestaktionen, die die Institutionalisierung einer bürokratisierten Personalüberprüfung zumindest bei den Ministerpräsidenten sozialdemokratischer Länder problematisiert haben. Kaum skandalisierbar dagegen sind die

unausgesprochenen Diskriminierungen in privaten Betrieben und in Berufsbereichen, in denen sich ein ,Recht auf einen Arbeitsplatz, weniger leicht legitimieren läßt als bei Lehrern oder sonstigen Beamten, die sich mit einer staatlichen Prüfung einen Eintrittsschein erworben haben. Auf der anderen Seite steht die symbolische Gesetzgebung als eilige Reaktion auf terroristische Verunsicherung, die im Bewußtsein einer Krise leicht durchsetzbar war, deren Wirksamkeit im Alltag der Rechtspflege jedoch kaum vorhersehbar und wenig kontrollierbar ist. Insgesamt werden die siebziger Jahre wohl - ähnlich wie die Restauration in Deutschland nach 1850 - als eine Periode des Ausbaues ideologischer Kontrolle gelten müssen - trotz aller Versuche, dies mit Protest und rechtsstaatlichen Mitteln einzudämmen. Gegenüber dem kurzfristigen Themenbedarf symbolischer Politik gilt wohl die Organisations-Überlegenheit von auf Dauer eingerichteten Bürokratien gegenüber Protestbewegungen, die sich immer neu formieren müssen: Symbolische Politik und symbolischer Protest vergehen, einmal errichtete Bürokratien und einmal verabschiedete Gesetze aber haben die Tendenz zu bestehen.

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Albrecht Funk, Udo Kauß, Thomas v. Zabern Die Ansätze zu einer neuen Polizei Vergleichder Polizeientwicklungin England/Wales, Frankreichund der BundesrepublikDeutschland•:Die Polizei der BRD ist seit etwa zehn Jahren in einer permanenten Reform begriffen. Personell wurde der Polizeiapparat aufgestockt, einzelne Teilapparate wie das BKA wurden ausgebaut, der Bundesgrenzschutz zur Bundespolizei umstrukturiert, die Länderpolizeien allesamt organisatorisch umgestaltet. Gleichzeitig wuchsen die rechtlichen wie faktischen Zugriffsmöglichkeiten der Polizei auf den Bürger. Erinnert sei nur an die sich aktuell vollziehende Novellierung der Länderpolizeigesetze im Sinne des Musterentwurfs für ein einheitliches Polizeigesetz, die faktische Durchsetzung neuer polizeilicher Handlungsstrategien (vorsorgliche •· Dieser Ländervergleich entstand im Rahmen des Projekts »Das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit und der liberale Rechtsstaat«, das von der Berghof-Stiftung für Konfliktforschung finanziert wird. Neben den Autoren sind Heiner Busch, Wolf-Dieter Narr und Falco Werkentin an diesem Projekt beteiligt, die auch die Konzeption dieses Ländervergleichs mit entwickelt und verbessert haben. Auf ausführliche Belege und Literaturhinweise wird im folgenden verzichtet. Eine ausführliche Skizze des Modells der Präventionspolizei in der BRD findet sich in dem Endbericht des Projektes Systemanalyse der BRD - Zur Struktur innerer Gewalt, Berlin, Berghof-Stiftung, der 1980/81 in der Druckfassung erscheinen wird. Material über die europäische Polizeientwicklung findet sich fortlaufend in: CILIP, Newsletter on Civil Liberties and Police Development, c/o BerghofStiftung für Konfliktforschung, Winklerstr. 4a, 1000 Berlin 33.

Überprüfung oder Beobachtung von Problemgruppen) und die Schaffung eines leistungsfähigen automatisierten Datenerfassungs- und Verarbeitungssystems. Darüber hinaus lassen sich Anzeichen dafür finden, daß das Gewicht der Polizei innerhalb der Exekutive wie auch innerhalb der Strafverfolgung zugenommen hat. Dies weniger wegen ihrer gewachsenen repressiven Kapazitäten, als wegen ihrer verstärkten vorsorglichen Erfassung, Bearbeitung und Beeinflussung gesellschaftlicher Problemlagen, wobei die Polizei durch ihre Definitionsmacht von gesellschaftlichen Problemen als Sicherheitsprobleme selbst ins Zentrum der Exekutive rückt. Handelt es sich bei dieser Reform der Polizei um einen spezifischen bundesrepublikanischen Vorgang, dessen mögliche Ursachen (steigende Kriminalitätsraten, Auftreten terroristischer Gruppen) vielleicht in den untersuchten Ländern in ähnlicher Form auftreten, dessen politische Verarbeitung jedoch in völlig verschiedene Richtungen weist und nur in der BRD zu einer Sprengung der alten polizeilichen Formen der Bewahrung von Sicherheit und Ordnung geführt hat? Oder sind ähnliche Entwicklungen der Polizeien in Ländern mit vergleichbarer ökonomischer und politischer Struktur, die zudem bis hin zum Sektor Innerer Sicherheit auf vielfältige Weise miteinander verflochten sind, erkennbar? Hält man die in der Bundesrepublik sich abzeichnende Entwicklung für >typisch deutschAufklärunggesellschaftlicher Strukturdefekte< zu gewinnen. Polizeiprävention setzt zum einen den Auf- und Ausbau der automatischen Datenverarbeitung (ADV) voraus, erfordert jedoch gleichzeitig verstärkte »Polizeiforschung« (police science), um neue wissenschaftliche Konzepte polizeilichen Handelns zu erarbeiten. Die englischePolizei war die erste in Westeuropa, die die Möglichkeiten der ADV für sich zu nutzen suchte. Um den Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den vielen voneinander unabhängigen Polizeien zu be-

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gegnen, wurde Anfang der sechziger Jahre das Directorate of Telecommunication eingerichtet. Es befaßt sich nicht nur mit der Entwicklung neuer Datensysteme, sondern betreibt auch zentrale Beschaffung, Installation, Reparatur und Wartung der Systeme. Insgesamt werden ca. 1600 Angestellte beschäftigt. Neben dem Directorate of Telecommunication besteht eine dem Innenministerium zugeordnete wissenschaftliche Polizeientwicklungsstelle (Police Scientific Development Branch). Sie bearbeitet kriminaltechnische Probleme und kooperiert auf dem ADV-Sektor eng mit dem Directorate of Telecommunication. 1967 begannen die Planungen für das »Police National Computer Project«. Mit diesem Projekt sollte für alle Polizeibeamte der rasche Zugriff zu allen Daten, die bisher in dem manuell bedienten Central Criminal Record Office, der Fingerprints Division sowie in den regionalen Criminal Records Offices gesammelt waren, ermöglicht werden. 1970 wurden die Computer angeschafft, seit 1976 ist das System in Betrieb, Über ca. 1000 Terminals haben nun alle lokalen Polizeien Zugriff zu den im Zentralcomputer gespeicherten Daten. Ziel ist es, in dem Datensystem 38 Mill. files aller Art bereitzuhalten. 20 000-25 ooo Anfragen - etwa wie in der Bundesrepublik Deutschland - sollen pro Stunde beantwortet werden können. Die Speicherkapazität des British Police National Computers beträgt ca. 8000 Millionen Merkmale, ein Vierfaches der Speicherkapazität des INPOL-Systems der Polizei in der BRD mit einer Kapazität von ca. 2000 Millionen Merkmalen. Die Gesamtkosten für dieses System inklusive Unterhalt und Personal werden bis 1980 zwischen 30 und 40 Mill. f liegen. Das englischeSystem ist ähnlich wie das deutsche angelegt, mit einer zentralen DV A und neun weiteren regio-

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nalen Anlagen mit eigenen Dateien, die gegenseitig austauschbar und abrufbereit sind, sowie Datenstationen (Terminals) in der Polizeistationen. In England ist darüber hinaus die Testphase mobiler Datenterminals in Streifenwagen bereits abgeschlossen. In der BundesrepublikDeutschlanderfolgte die Einführung elektronischer Datenverarbeitungssysteme etwas später. Mit dem Aufbau des INPOL-Systems wurde 1972 begonnen. Entsprechend der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland wurde ein System verbundener Datenbanken (Datenverbund) geschaffen. Die Zentralstelle für den elektronischen Datenverbund zwischen Bund und Ländern zu polizeilichen Zwecken ist das Bundeskriminalamt. Dieser Zentralstelle obliegt, den Datenaustausch im Verbund zwischen den Zentralstellen der Länder zu koordinieren. Die Datenverarbeitungsanlagen oder Netzknoten der Länder können über die zentrale DV-Anlage miteinander verbunden werden. Die Datenstationen in den Polizeidienststellen sind über die DV-Anlage des Landes an das Verbundsystem angeschlossen. Diese »untere Netzebene spielt für den Datenverbund auch die wichtige Rolle des Zubringers«. ' 8 Sowohl in der zentralen DV A wie in den regionalen DV A werden Dateien geführt, z. B. Personenauskunftsdatei, Fahndungsdatei. Durch die Form des Verbundes und die parallele Bestandsführung werden Bestandsänderungen, die von einer Datenstation vorgenommen werden, automatisch über die zentrale DV A in den Verbund an alle regionalen DVA-Dateien weitergegeben. Das INPOL-System war 1977 mit 800 Terminals ausgestattet. Im Endausbau soll über 8000 Datenst~tionen der Zugriff zu dem Verbundssystem möglich sem. Demgegenüber ist die französische Entwicklung auf

dem Gebiet der polizeilichen Datenverarbeitung weder vom Umfang noch von der technischen Ausstattung her mit den anderen Ländern vergleichbar. Dem französischen Typ der Zentralisation entsprechend werden alle polizeirelevanten Daten bei der Pariser Zentralverwaltung mit ihren zwei Hauptdateien dem C. E. G. E. T. 1. (Centre electronique de gestion et de traitement de l'information) und dem C. T. 1. (Centre de traitement de l'information) verarbeitet. Die zuerst genannte Instanz ist bei der Präfektur von Paris eingerichtet und steht seit 1975 unter der Aufsicht des Innenministers; sie befaßt sich primär mit der Sammlung von Daten aus dem Bereich der Strafverfolgung. Auf diese Weise wird die historisch-traditionelle Domäne der Präfektur von Paris auch in diesem Bereich fortgesetzt. Das C. T. I. ist direkt beim Innenministerium angesiedelt und ist vor allem für die Tätigkeit der Geheimdienste (RG, DST) zuständig. Angesichts dieser Konzentration der Daten im Polizeibereich stellt sich insbesondere das Problem des Informationsflusses. Dieser ist im französischen System aus einem doppelten Grunde weit weniger gewährleistet als in den Verbundsystemen Englands und der BRD. Da das Verhältnis von Gendarmerie und Police Nationale noch immer von Konkurrenz bestimmt ist, betreibt jeder Apparat ein eigenes Informationssystem. Polizei und Gendarmerie tauschen zwar jährlich ihre Daten per Magnetband aus, da die EDV-Systeme jedoch nicht miteinander h~rmonisiert sind, ist die wechselseitige Benutzung der jeweils gespeicherten Daten nur beschränkt möglich. Zudem fehlt den Informationssystemen ein dichter regionaler Unterbau. Innerhalb der Police Nationale waren nur ca. 200 Terminals direkt an das C. E. G. E. T. 1. angeschlossen (Stand Ende 1977). Diese Zahl nimmt

47 sich als gering aus, wenn man die weit darüber hinausgehende Zahl von Grenzstationen, Flughäfen und den ca. 400 polizeilichen Territorialbezirken in Rechnung stellt. Diesem Mangel soll behelfsmäßig durch ein Ende 1977 noch im Experimentierstadium stehendes Mikrofilm-Fahndungsbuch-Verfahren abgeholfen werden, dessen Kapazität bei etwa 10 ooo suspekten Personen liegen wird. Darüber hinaus besitzt die französische Polizei weder ein automatisiertes Fingerabdruckvergleichssystem noch ein auf EDV basierendes System, mit dessen Hilfe man Täter- und Handlungsprofile zusammenstellen kann. Letzteres wird jedoch im Peyrefitte-Rapport aus dem Jahre 1977 gefordert. Gesicherte Aussagen über die Kapazitäten der Datenverarbeitungssysteme in den verschiedenen Ländern lassen sich angesichts der Geheimhaltungspraxis der Polizeien nicht treffen. Die Zahl der gespeicherten Personaldatensätze, die für England angegeben werden, schwankt zwischen 3 und 5 Millionen. Für die Bundesrepublik Deutschland wurde in jüngster Zeit die Zahl von 3 Mill. genannt. Daneben existieren in Englandund in der Bundesrepublik Deutschland umfangreiche Fingerabdruckdateien, 1,6 Mill. Zehnfingerabdrucksätze in der Bundesrepublik Deutschland, in England 3 Mill. Frankreich,das eine lange Tradition der manuellen Datenerfassung hat, steht im Polizeisektor erst am Anfang der Automatisierung. Noch rd. 6 Mill. personenbezogenen Akten (dossiers) und ca. 10 Mill. Personendaten (fiches) des Pariser Zentralregisters befinden sich in der alten Akten- bzw. Karteiform. Eine 1968 unternommene Untersuchung hat ergeben, daß allein im Pariser Raum ca. 400 verschiedene Karteien mit insgesamt rund 130 Mill. erfaßten Personen vorhanden sind, die vorläufig noch einem systematischen automatisierten Zugriff entzogen sind. ADV-erfaßt werden bisher nur Kfz-

Diebstähle (F. V. V.) und zur Fahndung ausgeschriebene Personen (F. P. R.). Die Potenz der Informationssysteme mißt sich nun nicht alleine an der Kapazität der polizeilichen Systeme. Zentral für die umfassende polizeiliche Datenerfassung und -verarbeitung sind darüber hinaus die Zugangschancen zu anderen Dateien, etwa der Sozialversicherung, der Gesundheitsfürsorge, der Krankenkasse etc. In der Bundesrepublik Deutschland befindet sich die Polizei in einem Informationsverbund mit den Einwohnermeldebehörden, dem juristischen Datensystem (JURIS), den Bundeszentralregistern, dem Ausländerzentralregister, der Kfz-Zulassung und in Teilbereichen (Terroristenfahndung) mit dem geheimdienstlichen Informationssystem (NADIS). Um den Zugriff auszudehnen, hat Herold schon 1968 vorgeschlagen, regionale Polizeidateien an die kommunalen Rechenzentren anzulagern. Auf diese Weise sollte die Polizei direkt an die dort gespeicherten Sozialdaten herankommen können. Da England und Frankreichein Meldewesen wie in der Bundesrepublik Deutschland nicht kennen, in England darüber hinaus amtliche Personalausweise nicht existieren, ist das Interesse der Polizeien an Zugriffen zu Dateien, in denen Personaldaten mit Wohnadresse gespeichert werden, in den Vergleichsländern wohl noch größer als bei uns. In England werden diese Dateien von den Sozialversicherungen und den Gesundheitsbehörden geführt, beides staatliche Institutionen. Eine Datenschutzgesetzgebung, die die Weitergabe von personenbezogenen Daten regelt, gibt es in England nicht. Gesicherte Aussagen über den faktischen Zugriff der Polizei auf oben genannte Dateien können nicht gemacht werden. Sicher ist jedoch, daß die Polizei die zentralgespeicherten Daten über Kraftfahrzeugzulas-

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sungen und Führerscheininhaber für ihre Zwecke nutzen kann. In Frankreichkann das Manko eines fehlenden polizeilichen Meldewesens über das Institut National de la Statistique et des Etudes Economique (INSEE) ausgeglichen werden. Das INSEE hat die zentrale Aufgabe, demographische, wirtschaftliche und soziale Daten zu sammeln. Mit Hilfe der Wählerverzeichnisse und der numerischen Systeme im Sozialversicherungsbereich (Versicherungsnummer) liefert INSEE die Möglichkeit der personenbezogenen Auswahl aller vorhandenen Daten. Perfektioniert werden sollte dieses System für die interministerielle Datenkommunikation durch die Einführung der Personenkennziffer im Rahmen des Projektes SAFARI (Systeme automatise pour les fichiers administratifs et le repertoire des individus). Dieses Projekt wurde - ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland das Projekt Personenkennziffer - infolge des öffentlichen Protestes vorerst offiziell nicht weiterverfolgt. Durch Anweisung der Regierung wurde den Ministerien sogar der Austausch ihrer personenbezogenen Daten verboten. Damit ist jedoch nur wieder der Status quo hergestellt, der dadurch gekennzeichnet war, daß - im Sicherheitsbereich - durch geheime interministerielle Absprachen der Datenaustausch ermöglicht und praktiziert wurde. Wie weit hat sich nun der Traum der Sicherheitsexperten von der vollständigen Erfassung und kybernetischen Verarbeitung von Sicherheitslagen schon erfüllt? Für die BundesrepublikDeutschlandläßt sich in bezug auf die Struktur der gespeicherten Daten zunächst festhalten, daß sie weit über den traditionellen Rahmen der Fahndungsbücher und Fingerabdruckkarteien hinausgeht. Gesammelt wird umfassend. Zumindest in Teilbereichen dürfte die pointierte Formel des Datenschutzex-

perten Steinmüller zutreffen, daß man zum »Prinzip der antizipierenden generellen Erfassung auf Vorrat« übergegangen ist. 19 Einzelne Merkmale dieser Präventionsmentalität sind in den letzten Monaten auch öffentlich kritisiert worden: etwa die Erfassung suspekter, jedoch nicht konkret verdächtiger Individuen, von denen alle polizeibekannten Bewegungen gespeichert werden; die Anlegung einer Wohngemeinschaftsdatei; die Speicherung aller im September-November 1977 von 20- 3 5jährigen getätigten Grenzübertritte im Zuge der Terrorismusfahndung. Sicher ist jedoch, daß es sich bei diesen Fällen nicht um bloße Annahmen, sondern um einen Ausdruck der skizzierten Präventionslogik handelt. 20 Sehr viel deutlicher treten die Konturen der neuen, über die ADV ermöglichten Formen polizeilicher Prävention in England am sogenannten Thames Valley Project hervor. 1974 wurde in England mit dem Aufbau eines weiteren, stärker nachrichtendienstlich orientierten Computersystems begonnen, das vor allem der Special Branch, der Criminal Investigation Branch und anderen Spezialeinheiten der Polizei zur Verfügung stehen soll. Eingespeichert werden nicht nur alle von den Beamten dieser Einheiten im täglichen Dienst gemachten Beobachtungen und gesammelten Informationen. Darüber hinaus werden auch die in den »note books« der Streifenbeamten enthaltenen Informationen in diese Datenverarbeitungsanlage eingegeben. Als »automatischer Detektiv« wertet das Datensystem die über Monate eingegebenen Informationen zu verwertbaren Datenrastern bis hin zu Persönlichkeitsprofilen aus. Verarbeitet werden die Daten auch zu kriminalgeographischen Prognosen, »die in gewissem Umfange Bezirke aufzeigen, in denen bestimmte Verbrechen oder Formen abweichenden Verhaltens zu erwarten sind«. 21 Ein solches Konzept setzt die wissenschaftlich-opera-

tionelle Verarbeitung gespeicherter Daten voraus. Die Entwicklung von Programmen, die eine analytischprognostische Interpretation der gesammelten Daten möglich machen, gehört zu den Schwerpunkten der Polizeiwissenschaft neuer Prägung. Police Science ist in England, beginnend mit der Einrichtung der Police Scientific Development Branch in den fünfziger Jahren, der Police National Computer Unit 1970, in den letzten Jahren stark ausgeweitet worden. Zwei ständige Komitees mit Vertretern der vier Forschungseinrichtungen (Forensic Science Service, Directorate of Telecommunication, Police Science Development Branch und der Computer Unit) unter Leitung eines Unterstaatssekretärs des Innenministeriums sollen die Forschungen koordinieren. Auch in der BundesrepublikDeutschlandmacht sich ein Wandel in der Reflexion über die polizeiliche Tätigkeit bemerkbar. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde vor allem eine am Einzeltäter bzw. der Einzeltat orientierte Kriminalistik und eine am traditionellen militärischen Modell orientierte Einsatz- und Führungslehre betrieben. In beiden Sektoren - der Kriminologie/ Kriminalistik und der Organisierung polizeilichen Handelns - ist im Zusammenhang mit der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung eine Neuorientierung festzustellen, die sich vor allem auch in einer zunehmenden polizei-eigenen Forschung ausdrückt. In beiden Bereichen werden Ansätze angewandt, die nicht den Individualtatbestand (die einzelne Straftat, den einzelnen Einsatz) in den Vordergrund stellen, sondern Kriminalität und polizeiliches Handeln als Gesamtprozeß zu erfassen suchen. Kriminalgeographie, Analyse der Tathergangssituation und deren Typisierung, Viktimologie, Operations research und Entscheidungstheorie sollen jetzt als Bestandteile einer Polizeiwissenschaft

zu einer optimalen Anpassung von Polizeiorganisation und Handlungskonzeptionen an die jeweilige Sicherheitslage führen. Dieser Entwicklung entsprechen die Forderungen nach einer Generaldirektion innerer Sicherheit, nach der Einrichtung einer kriminalistisch-kriminologischen Forschungsstelle u. ä. m. Im Vergleich zu England und vor allem auch den USA (National Institute of Law Enforcement and Criminal Justice etc.) steht die Bundesrepublik Deutschland beim Aufbau einer Polizeiwissenschaft noch am Anfang dieser Entwicklung. In Frankreich haben sich diese neueren Entwicklungen noch nicht durchgesetzt. Das Polizeikonzept basiert noch auf Präsenz und Schlagkraft. Sowohl was die Übernahme der angloamerikanischen >policescienceordre public< geworden, ein Begriff, über den der Einfluß der Zentralregierung in Paris via Präfekten als deren Repräsentanten sich auf die Gemeinden fortsetzt. Deren Vertreter sind nicht nur gewählte Repräsentanten der Kommunen, sondern gleichzeitig auch Vertreter der Zentralregierung. Versuche der Dezentralisierung und damit auch der Demokratisierung - als deren Relikt insbesondere die oben genannten Ordnungsformeln zu sehen sind - blieben nur von nomineller Bedeutung. Diese Ansätze, nämlich: in der Dritten Republik das Kommunalverwaltungsgesetz von 1884 und nach dem Kriege die Wiedereinsetzung der Bürgermeister in ihre alten, d. h. von der Vichy- Regierung beseitigten Positionen von 1884, sind heute durch die Überweisung der Sicherheitsfunktionen an den Präfekten durch den Code des Communes (Art. r 3 1- r 3) beseitigt. Der Polizei als Staatsangelegenheit entspricht auch die zentralisierte Organisation der französischen Polizei. Zentralisierung bedeutet jedoch innerhalb des französischen innerstaatlichen Sicherheitssystems nicht viel mehr als eine äußerlich-institutionelle Kategorie. Denn in dem seit Jahrhunderten zentralistisch regierten Frankreich verläuft der Ausbau der Apparate in der

Spannung von Konzentration oder Dekonzentration. Weiterhin ist mit dem Begriff Zentralisierung nicht die Existenz zweier klar geschiedener lnstanzenzüge der Sicherheitsorganisation erfaßt: der zivile Sicherheitszug der Police Nationale und der militärische der Gendarmerie Nationale. Die letztere ist Teil der französischen Armee, d. h. ihre Mitglieder sind Berufssoldaten und Wehrpflichtige; sie müssen der militärischen Befehlshierarchie gehorchen, sie können sich nicht gewerkschaftlich organisieren und unterliegen der Militärgerichtsbarkeit. Die Gendarmerie ist seit dem 16. Jahrhundert voll integrierter Teil des innerstaatlichen Sicherheitssystems, zuständig für die Wahrnehmung der Polizeiaufgaben außerhalb der vornehmlich von der Police Nationale versehenen Stadtpolizei. Gendarmerie ist noch heute Ausdruck der historischen Herrschaftsfunktion des Militärs, die nur teilweise von einer zivilen und polizeilichen Organisation der inneren Sicherheit - der Police Nationale - abgelöst worden ist. Im Gegensatz zur bereits Jahrhunderte alten Institution der Gendarmerie besteht die Police Nationale in ihrer heutigen Form erst seit 1966, als die bisher getrennten zivilen Teile der Surete Nationale (von Paris gesteuerte Stadtpolizei außerhalb von Paris) und der Präfektur von Paris (die Pariser Polizeiorganisation) unter einem einheitlichen Statut zusammengefaßt wurden. Frankreich folgt dem Konzept einer dualen Sicherheitsorganisation, das sich allein unter örtlichem Aspekt gegenseitig ergänzt, funktional jedoch in einer parallelen Ausbildung der wesentlichen polizeilichen Untergliederungen bis hin zu den spezialisierten Sondereinheiten besteht. Der Effekt von Doppelarbeit und gegenseitiger Überlappung ist damit institutionalisiert, aber im Sinne der Sicherheitsstrategie akzeptiert: Illoyalitä-

ten des einen Teils der Polizei werden durch den Einsatz des anderen Teils kompensiert. (Deutlich wurde dies, als Beamte der Police Nationale in Paris demonstrierten und die Sicherheitsaufgaben von der Gendarmerie übernommen wurden.) Der militärische Ursprung des innerstaatlichen Sicherheitskonzepts findet seinen Ausdruck in der nach wie vor starken Beibehaltung von truppenpolizeilichen Abteilungen. Die Ansätze zur Schaffung von Truppenpolizeien, dem Rhythmus der Krisenpunkte des 19. Jahrhunderts folgend (1830, 1848, 1871), mündeten 1921 in die Aufstellung der Gendarmerie Mobile. Seit der Periode der Vichy-Regierung im 2. Weltkrieg kommen auch zivile Truppenpolizeien hinzu, die C. R. S.. 1970 erfolgte die Bildung dezentraler ziviler Einheiten (compagnies d'intervention), die den Prozeß einer allmählichen Integration der C. R. S. in den normalen Polizeibereich andeuten. Die C. R. S. nehmen heute auch Aufgaben der Straßenpolizei, der Grenzpolizei, der Jugendpolizei (ca. 200) und eines nationalen Saison-Bademeisters (ca. 800) wahr. Sie verstärken zusätzlich von Fall zu Fall das Personal der städtischen Polizeien. Noch jeder fünfte Polizist Frankreichs ist heute Teil der permanenten Ordnungsreserve und damit auf die Aufgaben reaktiver Ordnungswahrung im Sinne des klassischen Repressionsmodells verpflichtet. Wie in der Bundesrepublik Deutschland ist zentraler Leitbegriff der Exekutive der Begriff des »ordre public«, der nahezu alle administrative Tätigkeit des Staates abdeckt. Eine gesetzliche Umschreibung polizeilicher Eingriffsbefugnisse und damit ein eigenständiges >Polizeirecht< erscheint den französischen Juristen geradezu als widersinnig: »Der Begriff des ordre public in seiner Bindung an das Leben, an die Bewegung des sozialen Milieus, ist essentiell dynamisch; ihn in

einer formalen Fassung festzulegen, ist gleichbedeutend mit seiner Erstarrung und seiner Versteinerung. Er wird dann unbrauchbar. Der ordre public besteht vor aller Suche nach dessen Anpassung an unterschiedliche Erfordernisse in der Lösung konkreter Konflikte.«'3

Die Grenzen des polizeilichen Handelns werden auf der juristisch-interpretatorischen Ebene gefunden: in der ,conciliation< (Versöhnung, Vermittlung) des exekutiven Handlungsbedürfnisses mit den Freiheitsrechten des einzelnen nach dem Grundsatz »die Freiheit ist die Regel, die Beschränkung die Ausnahme« und in den ,principes generaux du droitNotrecht« zu übernehmen.« 24 Die Wirkung der französischen Konzeption ist eine doppelte: Zum einen werden der Exekutive erweiterte Handlungsspielräume zugestanden, zum anderen aber wird die Verrechtlichung der Illegalität von abstrakten Gefahrenlagen verkleinen. Eine konkrete Eingrenzung des polizeilichen Handlungsspielraums erfolgt im französischen Rechtssystem über eine detaillierte Aufteilung der Befugnisse: - im präventiven Bereich werden Anordnungen von Zwangsmaßnahmen und ihre Exekution getrennt. Im Normalfall ist allein der Richter die Entscheidungsinstanz darüber, ob die Zwangsdurchsetzung einer administrativen Entscheidung angeordnet werden soll. (Dies wirkt sich etwa bei Betriebsbesetzungen aus: Die Polizei ist nicht verpflichtet, der Aufgabe des Schutzes privater Rechte ohne richterliche Anordnung nachzukommen.) - im repressiven Bereich wird die strafprozessuale Ermittlungstätigkeit in poursuite und instruction unterteilt, und innerhalb des Verfahrensstadiums der poursuite bestehen gestaffelte Befugnisse. Poursuite (enquete preliminaire) ist das rein polizeiliche Ermittlungsstadium im Gegensatz zur instruction des Ermittlungsrichters. Beide schließen sich gegenseitig aus. Zwangsbefugnisse sind im poursuite-Stadium prinzipiell nicht

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gegeben, während bei der instruction der Untersuchungsrichter die Polizei zur gesamten Palette der herkömmlichen Zwangsmaßnahmen befugen kann (commission rogatoire). Außer im Verfahren des flagrant delit (etwa als aktuell andauernde Tathandlung zu umschreiben) kann die Polizei in der poursuite Personen nur festnehmen, wenn sie sich bereits auf der Wache befinden; hier neben Tatverdächtigen auch Zeugen unter generellem Ausschluß jeglicher Verteidigungsrechte bis zu normalerweise 24 Stunden (eine Verbesserung der Verteidigungsrechte befindet sich z. Z. im Gesetzgebungsverfahren). Die eigentliche rechtsstaatliche Begrenzung der polizeilichen Ermittlungsbefugnisse innerhalb dieses Verfahrens liegt jedoch in der Begrenzung der zu strafprozessualen Handlungen befugten Polizisten: Polizei ist nicht quasi-total »Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft« wie in der Bundesrepublik Deutschland. Das französische Strafprozeßrecht unterscheidet zwischen den >Offizieren der Justizpolizei< und den >Agenten der Justizpolizei< und knüpft an die unterschiedliche Stellung auch unterschiedliche Befugnisse. So ist die Befugnis zur Verhängung der Polizeihaft bis zu 24 Stunden (garde a vue) allein den Offizieren der Justizpolizei eingeräumt. Allerdings scheinen die Gerichte nicht allzu bereitwillig aus entsprechenden Verfahrensfehlern die gesetzlich angeordnete Konsequenz der Annulierung der Ermittlungshandlung zu ziehen. So wenig die Eingriffsrechte der französischen Polizei im präventiven Bereich geregelt sind, so detailliert sind sie es im strafprozessualen Bereich. Das Strafprozeßrecht, seit seiner ersten Formulierung 1810 (C. I. C.), ist die eigentliche Handlungsdomäne der Polizei und gleichzeitig das Schutzgesetz des Bürgers gegen die Polizei. Seine Aushöhlung durch originäre exekutivpo-

lizeiliche Handlungskompetenzen ist nicht erfolgt. Allerdings deuten sich solche originären Sicherheitskompetenzen in bestimmten präventivpolizeilich wendbaren strafprozessualen Rechtsfiguren (Verdacht, flagrant delit) an. 3.2. England/Wales

Während in den kontinentalen Systemen durchgängig die Entstehung von besonderen polizeilichen Formationen auf einen Prozeß der Ablösung aus den militärischen Gewaltapparaten zurückgeführt werden kann, hat die englische Polizei ihren Ursprung in der privaten Verpflichtung jedes einzelnen Bürgers, an der Sicherheitsbewahrung teilzunehmen. Obwohl heute eigenständige Polizeiapparate diese Funktion wahrnehmen und die private Wahrnehmung der Sicherheitsaufgaben nicht mehr Kern der Verpflichtung zur Aufrechterhaltung des »Queen's Peace« ist, schlägt sich die Differenz zu den kontinentalen Systemen deutlich nieder. Polizei ist auch heute noch keine staatliche Aufgabe. In der Person des jeweils die Aufgabe der Sicherheitswahrung ausübenden, zum Polizisten bestellten Bürgers findet die Polizei ihre institutionelle Legitimation. Diese eigenartige Konstruktion geht zurück auf einen Kompromiß, der bürgerliche Sicherheitsinteressen mit denen der staatlichen Zentralgewalt in London ausbalancierte. Die Wurzeln des Konfliktes reichen jedoch tiefer. Schon im 18. Jahrhundert verhinderten die Auseinandersetzungen zwischen Krone und einer starken Gruppe der Landlords und des entstandenen Bürgertums, die der Zentralgewalt mißtrauten, die Ausbildung eines mit den absoluten Staaten des Kontinents vergleichbaren staatlichen Gewaltmonopols. Das Fehlen einer organisierten und koordinierten Si-

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cherheitsinstanz führte unter Einbeziehung des erwachten bürgerlichen Sicherheitsinteresses 1829 zu einer Institutionalisierung von Polizei. Diese Einrichtung ist geprägt von dem Mißtrauen gegenüber einer exekutivstaatlichen Sicherheitswahrnehmung. Polizei bleibt nichtstaatliche Aufgabe, allein für den Bereich der Organisation der Polizei, die Rahmenbedingungen des polizeilichen Handelns, können der Innenminister bzw. die lokalen Police Authorities ihren Einfluß geltend machen. In welcher Weise die Polizei die allgemein umschriebene Aufgabe, wie sie im Police Act von 1829 festgelegt ist, ausführt, unterliegt nicht der Kontrolle der Regierung. Die Exekutive kann also in England und Wales nicht durch Weisungen bestimmen, wie die Polizei ihre Aufgabe konkret ausfüllt. Doch auch die Police Authorities haben nur einen beschränkten Einfluß auf die Art und Weise, wie die Polizei ihren Sicherheitsauftrag erfüllt. Die lokalen Police Authorities, vor 1964 Watch Committee oder Police Committee genannt, setzen sich zu einem Drittel aus Richtern und zu zwei Dritteln aus Vertretern der lokalen Parlamente (councils) zusammen. 2 5 Sie sind nur für die effiziente formale Polizeiorganisation zuständig sowie für die Ernennung des Chiefconstabler als dem Leiter der lokalen Polizei bzw. dessen Stellvertreter und die personelle und apparative Ausstattung der Polizei. Infolge der sehr eingeschränkten Kontrollmöglichkeiten durch demokratisch legitimierte Institutionen wie Regierung und Gemeindeparlament wird die Instanz des ,Law, zum grundlegenden Bezugspunkt der Polizei: »Der Schlüssel zum Verständnis des Wesens von >policing, in unserem Land liegt eher in der Identifikation der Polizei mit der Gemeinschaft und dem Gesetz als in der Identifikation mit der Gewalt einer partei-begründeten Regierung.« 26

Truppenpolizeiverbände oder kasernierte Polizei als Eingreifreserve existieren in England nicht. Die Existenz solcher Verbände gilt als typischer Ausdruck kontinentaler militärisch-exekutiver Sicherheitsbewahrung. Der Vergleich würde jedoch verzerrt, würde man die wichtige Rolle des Militärs als letzte staatliche Gewaltreserve unterschlagen. Auch nach der Institutionalisierung der New Police blieb das Militär die Instanz, die zur Wiederherstellung von Eigentum und Freiheit gerufen wurde, wenn diese durch die Aktionen der sich organisierenden Arbeiterklasse gefährdet erschienen. Die innere Ordnung des englischen Staats gründete sich also nie ausschließlich auf eine waffenlose, zivile Polizeimacht. Doch blieb die Reserve des Bürgertums gegenüber dem Militär, die Furcht vor einem Ausufern der Staatsmacht und einer Bedrohung der eigenen bürgerlichen Freiheit erhalten. Das Militär als innerer Machtfaktor wurde als zwar notwendige, jedoch lästige Instanz auf englischem Territorium apparativ wie organisatorisch weitgehend eingeengt. Darüber hinaus hatte die harte, teilweise brutale Form, in der das Militär die Polizeifunktion in den Kolonien wahrnahm, selbst noch eine abschreckende Wirkung in bezug auf etwaige Einsätze von Militär im Mutterland. Militäreinsätze im Innern mit relativ niedriger Einsatzschwelle, die mit den »Emergency Power Acts« von 1921 und 1964 für Notstandsfälle geregelt sind, weisen dem Militär zunächst nur die Funktion zu, die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern aufrechtzuerhalten. Was in den Kolonien als angemessen und legitim erachtet wurde, galt im Mutterland England als Bedrohung der bürgerlichen Freiheiten. Diese Zweiteilung im Denken setzt sich in gewisser Weise noch bis heute fort, wie das Nordirlandproblem zeigt. Der Militäreinsatz in

Nordirland und der Erlaß von Gesetzen, die die bürgerlichen Freiheiten empfindlich beschneiden, wird in Teilen der bürgerlichen Offentlichkeit Englands als externes Problem betrachtet, das die eigenen Freiheitsrechte unberührt läßt. Doch hat das Nordirlandproblem mit dazu beigetragen, daß in der liberalen Offentlichkeit verstärkt die Frage aufgeworfen wird, inwieweit mit der Aufgabe der Rolle als Kolonialmacht, und dem damit verbundenen Einströmen von Commonwealth-Angehörigen in England nicht auch spezifische Formen der Bedrohung reimportiert werden und dadurch die eigenen liberalen Traditionen auf dem Spiel stehen. Die dezentrale und nicht exekutivstaatliche Wahrnehmung der Sicherheitsfunktion in England hat jedoch in den letzten 30 Jahren eine Veränderung in Richtung auf eine stärkere Einflußnahme durch die Zentralregierung erfahren. In dem Maße, wie die Polizei von einer >Personal,-Polizei sich zu einer >Ausstattungs,-Polizei entwickelt hatte, wuchs der Einfluß der Zentralgewalt. Die finanzielle und apparative Abhängigkeit der 4 3 formal unabhängigen Polizeien vom mittelvergebenden Innenministerium in London ist beträchtlich (50% der Ausgaben werden vom Innenministerium getragen). Dieser Prozeß hat aber bis heute keine Formen entstehen lassen, die der durchgehend exekutivstaatlichen Bestimmung kontinentaleuropäischer Länder vergleichbar wäre. Aus der spezifischen Distanz der Exekutive und der allgemeinen Common Law Tradition erklärt sich auch, weshalb England kein eigenständiges Recht der Polizei besitzt. Die englische Polizei entbehrt dieser Komponente und wird seit der positiven Formulierung von 1829 nur in diesem indirekten Herrschaftsbezug tätig. Public order hat trotz der vorhandenen Wortgleichheit - ordre public, öffentliche Sicherheit - als genereller

Bezugspunkt nie den weiten Bedeutungsrahmen der Nachbarländer erreicht. Die englische Polizei hat sich eben nicht aus dem zentralstaatlichen Gewaltpotential des Militärs abgesondert und ist immer schon auf ihren Kernbereich beschränkt gewesen: Polizei im modernen Sinne. Die Polizei mußte sich nicht erst von der allgemeinen Verwaltung und ihren Strukturen lösen und konnte sich von vornherein auf >ihreruleof Lawmoderne< Präventionslogik im Ansatz schon vorhanden war. Neben der vordemokratischen Zuweisung der Aufgaben und der exekutiven Verankerung der Polizei gilt es, die Begrenzung der Polizeigewalt über das Polizeirecht als dritte Besonderheit des traditionellen deutschen Polizeimodells zu skizzieren. Im Vergleich der rechtlichen Fassung der Probleme präventivpolizeilicher Maßnahmen wurde schon deutlich, daß in der rechtlichen Normierung von Maßnahmen, die nicht mehr konditional an individualisierbare Tatbestände gebunden sind, die Bundesrepublik am weitesten vorgedrungen ist. Dieser Prozeß findet vor allem innerhalb des Polizeirechts statt. Historisch hatte das Polizeirecht in Deutschland eine Doppelrolle: nämlich exekutive Eingriffsermächtigungen zu normieren, gleichzeitig jedoch durch eine rechtliche Kontrolle und Bindung des polizeilichen Han-

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delns an bestimmte Eingriffsvoraussetzungen einen von staatlichen Eingriffen freien Raum zu garantieren. Durch die neuere Entwicklung im Polizeirecht, wie sie im »Musterentwurf« zum Ausdruck kommt, zeichnet sich nun eine immer stärkere Betonung der exekutivstaatlichen Komponente ab. Seinen Ausdruck findet dies zum einen in dem wachsenden Umfang von weit formulierten, jedoch positiv-rechtlich ausdifferenzierten Einzelbefugnissen (vergleicht man etwa die Standardmaßnahmen des »Musterentwurfs« mit früheren Gesetzen), zum anderen in der Auflösung des traditionellen Gefahrenbegriffs. Demgegenüber verliert die in der Entstehungsgeschichte des Polizeirechts so wichtige Intention, durch Verwaltungsgerichte Schranken für die Eingriffe in die Freiheiten der Bürger zu setzen, an Gewicht. Die Gewichtsverschiebung innerhalb des Polizeirechts spiegelt sich auch deutlich in dem derzeitigen Spannungsverhältnis von Polizeirecht und Strafprozeßordnung wider. Die in der StPO verankerten Befugnisse (Durchsuchung etc.) waren als äußerste Grenze konzipiert worden, die der Polizei auch in Verfolgung exekutiver Zwecke der Gefahrenabwehr keineswegs zu überschreiten erlaubt sein sollte. Heute geht die Regulierungsfunktion der StPO sichtbar verloren: Die StPO wurde nach den exekutiven Zweckmäßigkeitserwägungen, wie sie von den Verfassern des »Musterentwurfs« angemeldet wurden, novelliert (vgl. sogenannte Razziengesetze). Im organisatorisch-institutionellen Bereich zeigt sich bei dem Verhältnis von Exekutive und Justiz eine ähnliche Gewichtsverlagerung: Die faktisch immer schon schwache Institution des Staatsanwaltes verliert weiter an Gewicht, während die Exekutive die Aufgabe der Strafverfolgung als Teilauftrag ihres eigenen umfassenden Sicherheitsauftrages definiert.

Auf der Ebene der Grundrechtsjurisdiktion steht angesichts der exekutivstaatlichen Überformung des Polizeirechts außer Frage, daß ihr die Aufgabe zufällt, die Schranken der staatlichen Eingriffe zu bestimmen. Die Frage, inwieweit sie dieser Funktion gerecht wird, kann hier nicht beantwortet werden. Anzumerken bleibt jedoch, daß in mehreren zentralen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts die Tendenz deutlich wurde, wie in der polizeirechtlichen Tradition üblich, gerichtlicherseits auf den unmittelbaren, vorrechtlichen Sicherheitsauftrag des Staates in abgewandelter Form zurückzugreifen, indem ein abstrakt-allgemeiner Wert »Sicherheit«, »Staatssicherheit«, »Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung« neben, wenn nicht über die Grundrechte gestellt wird. Mit einer solchen juristischen ,Güterabwägung< droht die Festigkeit der »unverbrüchlichen« Freiheitsrechte des Bürgers zu zerbröseln.

4. Polizei und Prävention in England, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland - Der Versuch einer Einordnung -

Der Vergleich der Polizeisysteme anhand der Indikatoren und der Organisation ließ für alle untersuchten Länder, unabhängig von den nationalen Eigentümlichkeiten der Grundstrukturen der Polizeien, erhebliche Gemeinsamkeiten erkennen. Innerhalb der Polizeien wurden die Entscheidungs- und Leitungsstrukturen verstärkt, ihre Organisation standardisiert und Teilapparate organisatorisch integriert. Gleichzeitig zeigt sich in allen drei Systemen eine Tendenz, die Aufgaben dezentral wahrzunehmen. Auf Repression spezialisierte Einheiten und - wenn auch unterschiedlich stark - Informationen und Milieukenntnisse erschließende, auf

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präventive Handlungsstrategien ausgerichtete Gliederungen werden gesondert eingerichtet. Die Qualität der Veränderungen in den Polizeien kann nur erschlossen werden, wenn man die Prozesse der gezielten Ausdifferenzierung von repressiven und präventiven Funktionen, den Ausbau von integrierenden Informationsverarbeitungs- und Verteilungssystemen und von zentralen Leitungsfunktionen als Glieder einer einheitlichen Entwicklung sieht. Ohne daß die traditionelle repressive Eingriffskompetenz der Polizei verlorenginge, wird der gesamte Bereich der Vorfelderfassung von abweichendem Verhalten im weitesten Sinne Gegenstand der polizeilichen Handlungsstrategie. Seinen Ausdruck findet dies im Modell einer Präventionspolizei, die selbsttätig und frühzeitig gesellschaftliche Gefahrenlagen oder das, was sie dafür hält, wahrnimmt und durch eigenes aktives Eingreifen oder durch Anregung anderer behördlicher Maßnahmen diesen zu begegnen oder sie steuernd zu beeinflussen sucht. Polizeiliche Präventionsphilosophie vermag auf diese Weise alle gesellschaftlichen Lebensbereiche zu infiltrieren: »Das Präventionskonzept ist zu einem Teil des polizeilichen Denkens geworden und zeitigt seine Konsequenzen in fast jedem Lebensbereich: in der ,Philosophie, der Polizei, ihren Operationen, ihren Trainingsmethoden, im Verhältnis der Polizeiaufgaben zu den Aufgaben anderer Institutionen der Fürsorge und Kontrolle: Schule, Jugendhilfe und Sozialarbeit ... «H

Die polizeiliche Prävention hat aber selbst noch Rückwirkungen auf den engeren Bereich repressiver Tätigkeit: Die innerhalb der Polizei beklagte Unmöglichkeit, individualisierbare Straftäter ausfindig zu machen und damit der Verlust der Chance, Kriminalität als sozialpathologisch-individualisierbares Problem zu begreifen, wird durch die vorzeitige Erfassung abweichender Problemgruppen kompensiert.

Prävention ist Teil der gesellschaftlichen Realität und breitet sich in alle Lebensbereiche aus: Gesundheits-, Unfall-, sozialtherapeutische Prävention. Ist es nicht besser, sich präventiv auf Flughäfen kontrollieren zu lassen, denn als Geisel durch die Luft zu schweben? Ist es nicht empfehlenswerter, Jugendlichen im kriminellen Milieu durch präventiv-polizeiliche und sozialfürsorgerische Maßnahmen zu helfen, als dem einzelnen liberal die Freiheit als eine bloße Freiheit zum Scheitern zu lassen und ihn dann ins Gefängnis zu stecken? Jeder Bürger wird zunächst diese Frage uneingeschränkt mit »Ja« beantworten. Doch der Verweis auf die unmittelbar einsichtigen Fälle verdeckt die Probleme, die hinter dem allgemeinen Modell der Präventionspolizei stehen. Zunächst gilt es, daran zu erinnern, daß Prävention und Repression insgesamt - also auch in den sozialstaatlichen Bereichen - keineswegs eine klar getrennte Alternative darstellt zwischen herrschaftsfreier vorsorglicher Hilfe einerseits und zwanghafter Durchsetzung andererseits. Gesellschaftliche Prävention erweist sich vielmehr für denjenigen Bürger, der einer solchen Präventionsmaßnahme unterzogen wird, vielfach als schmerzlicher und zwanghafter Eingriff. Repressiv wird dieser Zwang dort, wo der Zweck der Maßnahmen, nämlich reale Vorsorge gegenüber einer besonderen, angebbaren Gefahr zu leisten, gar nicht erfüllt wird und wo die externen Effekte der Maßnahme, die Verletzung persönlicher und kollektiver Integrität, zum hauptsächlichen Effekt werden. Eine systematische Analyse vieler polizeilicher Präventionsmaßnahmen würde u. E. das Ergebnis zu Tage fördern, daß der öffentlich benannte Präventionszweck nicht erreicht wird. Doch selbst wenn man die Effektivität einer Präven-

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tionsmaßnahme unterstellte, sie kann - dies gilt für alle Bereiche - nicht ausschließliches Kriterium für die Zulässigkeit solcher Maßnahmen sein. Die Liquidierung von Mördern, Räubern mag als ,effektiv< betrachtet werden, verhindert sie doch den Rückfall von Straftätern. Trotzdem wird eine solche Art der Prävention in einer Gesellschaft, die die Rechte des einzelnen Bürgers, die lrrtumsfähigkeit des Staates und die gesellschaftliche Verursachung von Kriminalität ernst nimmt, ausgeschlossen sein. In allen Fällen, auch dort, wo eine Präventionsmaßnahme zunächst einleuchtend scheint, muß diese konkret. und en detail daraufhin untersucht werden, ob sie die politisch-soziale Handlungskompetenz des einzelnen im Kern berührt. Eine explizite und spezifische Güterabwägung ist jeweils erforderlich. Selbst die Prozedur der Flughafenkontrolle verliert dann ihre Harmlosigkeit, wenn man sich daran erinnert, daß sie gleichzeitig für alle möglichen staatlichen Präventionszwecke wie der Ablichtung von Visa und der Speicherung von Grenzübertritten in der beobachtenden Fahndung dient. Prävention in einem Bereich, der sich durch seine Mittel zur Anwendung unmittelbaren Zwanges auszeichnet, muß eine zusätzliche Qualität erhalten. Die klassische polizeiliche Prävention im Sinne des englischen watchman-style beruhte auf der Annahme der generalpräventiven Wirkung der Strafrechtsnormen. Polizeiliche Prävention war an Normen gebunden, wenn die Polizei auch schon immer in der Auslegung dieser Normen einen erheblichen Spielraum hatte, gerade in den angloamerikanisch strukturierten Polizeien (police discretion). Die moderne Präventionspolizei geht über diese Form der Prävention hinaus. In ihrem Bezugspunkt ist sie nur noch abstrakt an die Zielsetzung der Verhinderung von Normbrüchen gebunden. Es ist nicht mehr

80 der konkrete, personenbezogene Verdacht, sondern das jeweils polizeilich bestimmte Risiko der Verletzung von Normen und der Störung staatlicher Ordnung. Sicherheitsprävention muß deshalb auch über den Schutz eng definierter Strafrechtsnormen hinausgehen, muß einen globalen Charakter annehmen. Präventiv-polizeiliches Handeln wird am Risikovon Störungen festgemacht, an der Gefährdung von Objekten, nicht an konkreten, gegen Normen verstoßenden Handlungen. Kennzeichnend für die Polizeientwicklung Englands und der Bundesrepublik - in abgeschwächter Form gilt dies auch für Frankreich - ist, daß sich der Übergang vom Verdacht zum Risiko, vom normfixierten Sicherheitsbegriff zum situativ bestimmten, globalen Sicherheitsbegriff in einem wahren Informationshunger niederschlägt. Die polizeiliche Durchdringung von gesellschaftlicher Wirklichkeit ist, unterstützt und ermöglicht durch die ADV, schon Realität geworden. Eine Veränderung erfährt dadurch auch die Qualität des polizeilichen Handlungsspielraums. Dieser wird nun weit stärker eine Eigenschaft der Instanzen, die aus den systematisierten Einzelinformationen Entscheidungen ableiten, denn ein Merkmal des einzelnen Polizisten an der Ecke. Die polizeiliche Entscheidung verlier:t vollends ihr Offentlichkeitsprofil und damit auch ihre Kontrollierbarkeit. Ob die Einspeisungen individuell gesammelten polizeilichen Wissens über potentielle Delinquenten - etwa randständige Jugendliche in einem bestimmten Bezirk - im Endresultat als unspezifische Daten gesammelt, oder aber von anderen Teilen des Apparates als Handlungs- und Eingriffsgrundlage genutzt werden, entzieht sich der Verfügungsmacht des einzelnen Polizisten. In dem Prozeß der Straffung der Entscheidungsstrukturen löst sich polizeiliches Präventionswissen gerade nicht von dem Spezifikum der Poli-

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zei, dessen repressiver Kompetenz, ab, sondern eröffnet gerade auch deren gezielten Einsatz. Erkenntnisvorsprung der Polizei, Loslösung vom reaktiven Handlungsmuster, bewußte Beeinflussung des gesamten staatlichen Handelns unter dem Sicherheitsaspekt, diese drei Merkmale des modernen Präventionsmodells machen die impliziten politische Gefahren deutlich. Die Loslösung polizeilichen Handelns von prinzipiell reaktiven, normfixierten Handlungsstrategien eröffnet zunächst die Chance zur situationsgebundenen Definition und Bestimmung von Sicherheits- und sozialen Kontrollproblemen. Wie gesagt: Nicht mehr der einzelne Täter oder Störer, sondern die antizipierten Gefahren, die durch ganze Problemgruppen entstehen, werden zum Ansatzpunkt. Die Polizei wiederum repräsentiert innerhalb des gesamten staatlichen Systems die Instanz, die durch ihre Basisnähe und ihre umfassende Verarbeitung von sicherheitsrelevanten Informationen zur Spitzenbehörde regierungsamtlicher Analyse wird. Die Gefahr dieser Entwicklung liegt auf der Hand. Präventionswissen ist immer auch Herrschaftswissen; es gibt der Polizei als Instanz der Definitionsmacht von gesellschaftlichen Gefahrenlagen und deren Bekämpfung ein immenses Gewicht. Die Polizei wird - wie Herold dies schwärmerisch fordert - zum Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung. Wie aber bleibt gesellschaftliche Kontrolle der Polizei möglich? Wie werden diese Gefahren in den untersuchten Ländern gesehen? Die Antwort auf diese Fragen ist schwierig, weil die hier zunächst idealtypisch gezeichnete Logik der polizeilichen Prävention in den Polizeien Englands, Frankreichs und der Bundesrepublik selbst schon in unterschiedlicher Weise in die bestehenden Systeme integriert wurde. Kritische Ansatzpunkte der neueren Polizeientwicklung lassen sich spezifisch wie-

derum nur im Kontext der jeweiligen Länder ausmachen. Die Frage nach Möglichkeiten zur Kontrolle der Apparate ist je nach der unterschiedlichen Präventionsrezeption in den verglichenen Ländern zu beantworten. Deutlich ist der unterschiedliche Grad der Realisierung der Präventionskonzepte in England, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland. Hierbei mögen Momente eine Rolle spielen, die sich als nur zeitliche Verzögerungen qualifizieren lassen. Typisch hierfür ist die im Vergleich zu England später (1972) erfolgte Installation des INPOL-Systems in der Bundesrepublik Deutschland. Im Vergleich fällt auf, daß England mit seinen Techniken der Prävention deutlich vor Frankreich und auch der Bundesrepublik Deutschland rangiert. England, sprichwörtliches Mutterland der europäischen Demokratien, ein Land, das ohne die in Frankreich und der Bundesrepublik undenkbaren klassischen und militärisch beeinflußten Mittel der Truppenpolizeien auskommt, dessen Polizisten ohne martialische Verkleidung bei Demonstrationen tätig sind, hat in seiner bürgernahen Polizeikonzeption gerade auch die >bürgernahesten< Formen der polizeilichen Informationssammlung und Kontrolle entwickelt. »Sein Wachstum wurde«, und damit bezieht sich E. P. Thompson auf die Sicherheitsapparate Englands, »widersprüchlicherweise dadurch unterstützt, daß nationale Sicherheit und ihre polizeiliche Gewährleistung nicht populär waren. Infolge dieses Mangels an Popularität mußten sich die Sicherheitsinstanzen der geringstmöglichen Sichtbarkeit befleißigen; sie lernten unsichtbar zu beeinflussen und zu kontrollieren.«H Die Entstehung eines ausgebauten, auch in seinen Gewaltpotenzen verstärkten Polizeiapparats scheint sich bis heute weitgehend problemlos

unter dem Schutzschild der traditionellen Ideologie der bürgernahen New Police zu vollziehen. Betrachtet man allein die englische Polizeistruktur, ihre in sich geschlossene, von außen nur schwer kontrollierbare Form der Organisierung und die zunehmende Konzentration aller Polizeien unter der zentralen Aufsicht des Innenministeriums, so scheint England geradezu prädestiniert dafür zu sein, der Polizei zu ermöglichen, in die Rolle eines bestimmenden Akteurs zu schlüpfen. Die Frage ist keineswegs von außen an die englische Situation herangetragen. Could it happen here? - Kann auch in England ein von den Sicherheitskräften dominierter Staat entstehen? Diese Frage stellte W. Gutteridge, selbst zwar Politikprofessor und kein Polizist, in der führenden englischen Polizeizeitschrift und beantwortete diese Frage keineswegs mit einem eindeutigen Nein.35 Die Stärke der in der englischen Polizei nach wie vor lebendigen Philosophie der basisnahen, kommunal bezogenen, auf Vertrauen mit dem Bürger gründenden Handhabung der Polizeifunktion mag ein Gegengewicht bilden. Dies wird jedoch in weit stärkerem Maße von den gesellschaftlichen Widerstandspotentialen abhängen. Wie stark diese sind, auch gegenüber dem Versuch, das Polizei-Bürger- Verhältnis im Sinne eines public relations-Konzeptes umzugestalten, kann von uns aus nicht beantwortet werden. Doch auch ein so guter Kenner der englischen Geschichte wie E. P. Thompson scheint vor allem auf die traditionell libertäre Tradition zu setzen: »Immer erneut, in einer nicht unterbrochenen Serie von Fällen hat sich die Off entlichkeit für die Rechte des Individuums stark gemacht gegen den übermächtigen Staat. Ich glaube nicht, daß das Erbe dieser außerordentlichen Gesinnung aufge-

braucht ist. Und ich meine, wir sollten es mit Respekt betrachten.« 36 Die Entwicklung in Frankreichscheint, verglichen mit England und der Bundesrepublik, atypisch zu sein. Deutlich läßt sich dies daran ablesen, daß auf der internationalen Präventionskonferenz 1978 gerade von französischer Seite das Problem der Veränderung der Qualität des polizeilichen Handlungsspielraumes thematisiert und problematisiert worden ist: »Die eigentliche Frage lautet: kann von der Bevölkerung als Preis ihres Schutzes verlangt werden, bereitwillig Einschränkungen der individuellen Freiheitsrechte zuzustimmen? Die andere dazu komplementäre Frage heißt: ist dieses Entscheidungsstadium nicht schon erreicht?« 37 Der Bürger ist hier nicht von vornherein in die Position gedrängt, dem Staat seinen Konsens zu dessen erweitertem und rechtseinschränkendem Handlungsmuster zu schulden, sondern ist noch zu befragendes Subjekt. Selbst in dem sich ansonsten klar einem Konzept der Beeinflussung der ,sozialen Umwelt, verpflichteten Peyrefitte-Rapport von 1976 finden sich Überlegungen, die darin wurzeln, daß Polizei sich nicht mit der Rolle der sozialen Prävention verträgt. Polizeilich wahrgenommene Prävention als gesellschaftssanitäre Maßnahme erscheint gar als Verletzung der individuellen Freiheiten. Die Nennung und Problematisierung der neuen Präventionsstrategien durch die Vertreter der Police Nationale in Cranfield hat in einem wesentlichen Punkt selbst noch außergewöhnlichen Charakter für die französische Präventionsdiskussion. Prävention wird in Frankreich von seiten der Polizei selbst vornehmlich im traditionellen Sinne der Polizeipräsenz in der Öffentlichkeit als Mittel der generellen Abschreckung verstanden. Die Distanzierung der französischen Polizeiführung sollte

jedoch nicht schlicht als Ausdruck einer traditionell demokratisch-liberalen Grundhaltung interpretiert werden. Eine solche ist vielmehr innerhalb der französischen Polizeigeschichte nur bedingt zu finden. Unter anderem dürfte die traditionell militärisch-hierarchische Tradition zu einer distanziert-kritischen Sichtweise innerhalb der Polizei beitragen. Diese Reserve in der Polizeiführung stellt jedoch nur einen schwachen Widerstand gegen die in der zentralen Staatsverwaltung eindeutig bestehenden Tendenzen zur Reformierung der Polizei im Sinne einer Präventionspolizei dar. Weit eher stellen die starke gewerkschaftliche und nicht immer regierungsloyale Organisation der zivilen französischen Polizei und der Widerstand in der Justiz Hindernisse dar, an denen solche Tendenzen scheitern könnten.38Dies gilt vor allem auch deshalb, weil in der Presse kritische Polizei- und Justizberichterstattung zu festen Bestandteilen gehören; Polizei wird so ,veröffentlichtproletarischer< Vergehen gegen das Eigentum (verschiedene Formen von Diebstahl werden in sehr detaillierter Form aufgeführt);5 die

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schwere Bestrafung von Schwangerschaftsunterbrechungen, die als »Verbrechen gegen die Integrität und Gesundheit des Menschengeschlechts« 6 bezeichnet werden; eine starke virilistische Ausrichtung;7 das offene Verbot von Streik und Aussperrung; 8 und zum Schluß eine beeindruckende Reihe von Definitionen von Vergehen gegen den Staat, seine »Persönlichkeit«, seine »Sicherheit«, seine Alliierten, Institutionen, Symbole (wie die Fahne), seine öffentliche und soziale Ordnung und seine offizielle Philosophie. 9 Die Strafprozeßordnung legt von ihrer Struktur wesentlich weniger fest. Ihre Vorschriften sind teilweise konfus oder künstlich schwierig gestaltet. Sie wurde vom ideologischen und politischen Standpunkt lediglich als Ergänzung zum Strafgesetzbuch angesehen. Je mehr das letztere als unbeugsam, streng und unvermeidbar erscheint, desto mehr ist die Strafprozeßordnung flexibel, manipulierbar und freiem Ermessen anheim gegeben. Ihr Kernprinzip - im Rahmen des inquisitorischen Systems - war bis vor kurzem die allerstrengste Geheimhaltung der Untersuchungen. Auf Grund dieser Geheimhaltung gab es drei verschiedene Behörden mit der Befugnis zur Durchführung von Untersuchungen, die nach freiem Ermessen und in unvorhersehbarer Weise erfolgten. - Prozesse konnten, und können noch, ohne erkennbaren Grund beschleunigt oder verzögert werden, ohne daß für die Richter hierüber eine Rechenschaftspflicht besteht; - Verhaftungen konnten, und können teilweise noch, plötzlich angeordnet werden, bevor der Beschuldigte von einer Anklageerhebung in Kenntnis gesetzt wird; 10 - die Untersuchungshaft konnte und kann vor Ausspruch des abschließenden Urteils stark verlängert werden;"

- die Verteidigung muß sich mit Hindernissen verschiedener Art auseinandersetzen 12 in bezug auf Fristen, Verwirkungen etc.; - einige Vorschriften beinhalten sehr weitgehende Kontrollen von oben in bezug auf das Verhalten der Richter: Verfahren können einem höherrangigen Staatsanwalt zugeordnet werden, 13 es kann in einigen Fällen die Zuständigkeit geändert werden, 14 sogar Interventionen des Justizministers sind in wichtigen Fällen schon seit Jahrzehnten vorgekommen. Verständlicherweise betrachtete das faschistische Regime diese Gesetzgebung mit Stolz und sah sie nicht nur als Symbolwert. Der damalige Justizminister Alfredo Rocco hatte sicher recht, als er erklärte, während er seine Untergebenen dem König vorstellte, daß die neuen Gesetze die »verweiblichten Mythen von Liberalismus und Demokratie« 15 verurteilten. Diese Zwillinge der Repression waren unter faschistischer Herrschaft dreizehn Jahre lang an der Macht. Sie haben mit einer Anzahl von ,Verwandten, derselben Güte ihre Leistungen dann unter dem demokratischen System noch mehr als verdoppelt. Dies, obwohl das italienische Parlament seit dem Ende des Krieges zu neun Zehnteln aus demokratischen oder ,anti-faschistischen, Parteien zusammengesetzt ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die beiden erfreuten sich nicht durchgehend guter Gesundheit. Das Strafgesetzbuch hat, nach der Amputation einiger schwacher Glieder (wie des Streikverbots), tapfer allen Kritikern, Reformprojekten und sogar jüngeren Versuchen zur Aufhebung seiner schlimmeren Aspekte widerstanden. Die Strafprozeßordnung begann jedoch in den sechziger Jahren zu kränkeln. Ihre technischen Schwächen erleichterten es liberalen Anwälten und Richtern, dieses Gesetz teilweise erfolgreich zu bekämpfen. Im Ergebnis

97 wurden einige wesentliche Teile verändert, in der Regel auf indirektem Wege..Dabei sind Neuerungsvorschläge jahrelang nicht vom Parlament ausgegangen, sondern die stärksten Angriffe erfolgten durch das Oberste Verfassungsgericht. Diese Tendenzen wurden vom Gesetzgeber seit den frühen siebziger Jahren durch eine Anzahl von Reformvorschlägen unterstützt: - die Dauer der Untersuchungshaft vor Beginn des Prozesses wurde 1970 begrenzt; 16 - 1974 wurde ein Grundlagengesetz erlassen, das der Regierung ermöglichte, neue Vorschriften mit einem anderen, mehr demokratischen Charakter zu erlassen;' 7 - neue, organische Vorschriften für die Vollzugsanstalten wurden 1975 eingeführt, obwohl diese nicht von den notwendigen Infrastrukturen begleitet sind, die ihre angemessene Durchsetzung erfordern würde. 18 Im Ergebnis hat also das italienische Strafrechtssystem in einem magischen Augenblick zwischen 1974 und 1975 eine unerwartete Öffnung erfahren. Neben den oben erwähnten Neuerungen sollten vielleicht einige weitere Veränderungen angeführt werden: - der Beschuldigte muß sofort von der Tatsache seiner Anklage informiert werden;' 9 - keine Untersuchung oder Befragung durch die Polizei oder den Richter kann in Abwesenheit eines Rechtsbeistandes des Beschuldigten durchgeführt werden; - die Herstellung einer bestimmten Form von öff entlichkeit für einige Verfahren. Kurz, eine begrenzte Art von Fairneß, um nicht zu sagen Demokratie wurde in den Strafprozeß eingeführt. Es ist nicht zufällig, daß neue Strategien zum Schutz von Recht und Ordnung während des >magischenZeitraums< zwischen 1974 und 1975 eingeführt wurden. Terrorismus von rechts und links war zu dieser Zeit bereits ein verbreitetes Phänomen. Obwohl 1974/75

einige besonders ernste Vorfälle stattfanden, wurden sie von den Gemäßigten, der ,freien< Presse und den Massenmedien geschickt ausgebeutet. Dabei treten besonders die zwei Massaker in Brescia und in dem Eisenbahnzug ,Italicus< hervor, die der extremen Rechten zugeordnet werden, während der anderen Seite die Entführung des Richters Sossi durch die roten Brigaden und die Flucht der Führer der roten Brigaden aus dem Gefängnis zugerechnet werden. Terroristische Anschläge hatten jedoch schon seit mehr als fünf Jahren stattgefunden. Das Massaker auf der Piazza Fontana datiert vom Dezember 1969, und die zweijährigen Untersuchungen resultierten als wesentliche Entwicklung darin, daß die Urheber danach nicht mehr bei der extremen anarchistischen Linken, sondern bei der extremen Rechten gesucht wurden. Von 1969 bis 1975 war eine bemerkenswerte Anzahl von Verbrechen begangen worden, im wesentlichen Entführungen politischer oder nicht-politischer Natur (die ersteren wurden oft von »proletarischen Prozessen und Verurteilungen« mit nachfolgender Urteilsverkündung in Form von Körperverletzungen begleitet). Paradoxerweise erreichte die Rate von terroristischen Verbrechen ihren Höhepunkt nicht 1974-75, sondern im folgenden Zeitraum, in dem Sondergesetze bereits in Kraft getreten waren, und kulminierten im Jahre 1978 in dem symbolischsten aller Fälle, der Mora- Entführung. Es gibt also, chronologisch gesehen, eine ausgesprochene Nicht-Koinzidenz zwischen der Ausbreitung von organisierter Gewalt und dem Erlaß von Sondergesetzen: eine Tatsache, die zweifelos berücksichtigt werden sollte, weil sie andeutet, daß nicht nur Kriminalität und Terrorismus, sondern auch andere Gründe als Quellen der neuen Strafrechtspolitik in Betracht gezogen werden sollten. Die oben erwähnten demokratischen Re-

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formen des Strafprozesses wurden in der Tat gegen ernste Schwierigkeiten und die konstante, wenn auch nicht immer motivierte Opposition der Gemäßigten eingeführt. Besonders die Polizeichefs hatten einige der neuen Regelungen stark kritisiert, vor allem solche, die die Macht der Polizei bei Untersuchungen einschränkten: ganz besonders das Prinzip, wonach ein Verteidiger bei der polizeilichen Befragung des Beschuldigten anwesend zu sein hat. 1974-75 fand in der Wählerschaft ein beeindruckender und unvorhergesehener Ruck nach links statt. 20 Diese Tatsache überzeugte verständlicherweise die Gemäßigten davon, daß etwas getan werden müsse, prinzipiell in bezug auf eine obligatorische Beteiligung der kommunistischen Partei an der Regierung. In diesem Zeitraum wurde die italienische Strafgesetzgebung von zwei entgegengesetzten Faktoren beeinflußt, so daß sie im Ergebnis nahezu schizophren wurde. Ein Grund dafür kann in der verbreiteten Verwirrung gesucht werden, in der sich das politische System in Italien zu dieser Zeit befand. Die Sozialistische Partei, die die meisten der demokratischen Reformen beeinflußt oder begründet hatte, war immer noch einflußreich und bei der Mehrheitsbildung entscheidend. Die Kommunistische Partei definierte ihre Strategie erst schrittweise, zunächst durch die Übernahme der lokalen Verwaltung der größten Städte, dann auf nationaler Ebene durch die Entwicklung des >historischen Kompromisses< mit der Christdemokratischen Partei. Die Christdemokraten versuchten atemlos, ihr öffentliches Ansehen nach ihren Wahlniederlagen neu aufzubauen und schwankten vage zwischen progressiven und trivial konservativen Äußerungen hin und her. Die extreme Linke befand sich plötzlich in einer tiefen Krise durch ihren Versuch, eine abweichende marxistische

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Meinung zu organisieren. Eine starke radikale Bewegung entwickelte die ersten Strategien auf dem Gebiet des Zivilrechts und hatte den Mut, traditionelle Tabus in das Rampenlicht zu rücken, darunter Gefängnisse, Drogen und Schwangerschaftsunterbrechungen. Das war die Atmosphäre, die den letzten liberalen Neuerungen zum Leben verhalf und gleichzeitig die erste ernsthafte Bedrohung der demokratischen Ordnung entstehen ließ. Die Regierungsverordnung vom 2. April 1974 führte eine Verdoppelung der erlaubten Dauer der Untersuchungshaft vor Prozeßbeginn ein; das Gesetz vom 14. Oktober 1974 schließt einige schwere Verbrechen (Raub, Erpressung, Entführung, Waffenhandel und Waffenbesitz) in die Anzahl der Fälle ein, die dem Eilverfahren unterworfen werden können. Aber in erster Linie wurde 1975 (Gesetz Nr. 1 52 v. 22. Mai) ein komplexes neues Gesetz erlassen, das als Symbol der Wandlung zur erneuten Repression betrachtet werden kann. Es hebt einige der neueren Reformen auf und wirft das System des Strafprozesses zurück in eine Finsternis, die sogar hinter dem faschistischen Erbe liegt. Dieses Gesetz, nach dem damaligen republikanischen Justizminister als >LexRealeSchlupflöchern< des Prozeßrechts: Diese >Schlupflöcher< werden angeblich von »organisierten Kriminellen mit Scharfsinn ausgenutzt« und sind zufällig gerade die wenigen Gesetzesänderungen, durch die im vorangegangenen Zeitraum die schlimmsten Aspekte des Systems verändert worden waren. 27 Ein anderes Kernstück ist der >Zeitbezugguten italienischen Werte< in die Diskussion der neuen Kultur. Auf dieser Grundlage ist es nicht erstaunlich, daß die Sondergesetze vom August 1977 unter Anwendung der Juni- Vereinbarung vom Justizminister Bonifacio und den offiziellen Sprechern in ihrem juristischen, technischen Aspekt vorgestellt wurden. Teilweise wurden sie aber auch wieder mit Erörterungen angereichert, die sich auf die Ineffektivität von Recht und die Wirkungen der bestehenden Gesetze beziehen: d. h. mit »soziologischen« Erwägungen. Dieser Angriff richtete sich direkt gegen jene Rechtsvorschriften, die nach Meinung des Gesetzgebers die »Maschinerie« der Strafjustiz verstopfen und sie daran hindern würden, ihre Zielsetzung schnell und wirksam zu erreichen. Es sollte betont werden, daß dabei allgemein von der Annahme ausgegangen wurde, daß die Strafjustiz gerade auf Grund derjenigen Rechtsvorschriften ineffektiv arbeitete, die die autokratische Natur des faschistischen Verfahrens leicht verändert hatten. Kein einziges Mal wurde in den offiziellen Erklärungen die Vermutung ausgesprochen, daß die Ineffektivität auch auf anderen Faktoren beruhen könne, z.B. der schlechten Organisation der Polizei. Der Gesetzgeber allein trug die Verantwortung: »Es ist mehr und mehr zutage getreten«, erklärte der Minister, »daß die gegenwärtigen Bestimmungen für die bezeichneten Institutionen sich in einigen Aspekten als die Gründe erwiesen haben, die die Definition von strafrechtlichen Fällen behindern und verzögern. Sie bringen eine verzweifelte Langsamkeit in die Voruntersuchungen und verschlimmern noch die sich dahinschleppenden Verfahren durch ihre beinahe bösartige Berücksichtigung der Prinzipien der >streitigen Verhandlung< und der Verteidigerrechte« (Bericht

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von Bonifacio zum Gesetz Nr. 534 vom 8. August 1977).37Diese Argumente rechtlichen oder rechtssoziologischen Charakters werden wie üblich begleitet von Hinweisen auf die »Gefahren des Augenblicks«, die Situation des »Notstandes«, der »Ausbreitung« der Kriminalität. Was jedoch fehlt, ist das Bewußtsein - im vorangegangenen Fall der Lex Reale noch vorhanden -, daß in der parlamentarischen Debatte die Auseinandersetzung mit der Opposition über die Gesetzesvorlage geführt werden muß. Daher erklärt sich in diesen Gesetzestexten auch das völlige Fehlen einer politischen Einschätzung der Gründe von Kriminalität und einer möglichen Verantwortlichkeit. Auch andere Taktiken wurden offensichtlich von den Machthabern benutzt. Wie schon angedeutet, war die Entscheidung zur Errichtung eines besonders gesicherten Gefängnissystems ohne vorherigen parlamentarischen Beschluß von der Regierung getroffen worden. Der Bezug hierauf ergibt sich aus der Ministerverordnung vom 4. Mai 1977, wonach ein »äußerer Sicherheitsdienst« um die Gefängnisse einzuführen sei unter dem Kommando eines Generals der Karabinieri.38 Die drei Minister erklären in diesem Zusammenhang, daß »das schwerwiegende Phänomen der Flucht aus Vollzugsanstalten dem Erhalt der öffentlichen Ordnung abträglich ist« und es daher notwendig sei, »im wesentlichen Interesse der Sicherheit besondere Maßnahmen zur Neustrukturierung der Gefängnisse« zu ergreifen. Deshalb gibt es in Italien zwei Arten von Gefängnissen: diejenigen von vorrangigem Interesse in bezug auf die Sicherheit, aus denen man nicht ausbrechen darf, weil dies die öffentliche Ordnung stören würde, und die von minderem Interesse, aus denen man vielleicht ausbrechen darf, weil dies nicht die öffentliche Ordnung beeinträchtigt. Die Absicht, »politische Gefangene« der

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ersteren Kategorie zuzurechnen, ist mehr als offensichtlich.

5. Abschließende Bemerkungen zu Rechtssicherheit und Naturrecht Im Zusammenhang einer Analyse der »sozialen Funktionen« des Radikalenerlasses in Westdeutschland 39 habe ich erklärt, daß eine rechtssoziologische Analyse sich nicht auf die Unterscheidung von manifesten und latenten Funktionen einer Institution beschränken darf, gemäß der klassischen Formel von Merton. 40 Es ist meiner Meinung nach unabdingbar, zu unterscheiden zwischen »Funktionen« (d. h. hier Zielsetzungen), wie sie von den Machthabern erklärt und angekündigt werden, »Funktionen«, die nicht erklärt, aber eigentlich gewollt sind, und den »latenten Funktionen«, mit denen die tatsächlichen Wirkungen des Gesetzes gemeint sind, wie sie für die Regierung sowohl positiv als auch negativ durch die Durchführung einer Vorschrift entstehen. Letztere sind die vom Gesetzgeber weder erklärten noch beabsichtigten Folgen. Die >erklärtenexpliziten< Funktionen sollten dabei gesondert behandelt werden, weil sie sich mehr allgemein auf den symbolischen Gebrauch von Recht beziehen. Recht ist als ein politisches Symbol anzusehen mit dem Zweck, den Willen der Machthaber ex ante oder ex post zu legitimieren. Dieses Ziel kann nicht nur durch die tatsächliche Koinzidenz zwischen dem Recht und den Absichten der Machthaber erreicht werden, sondern auch auf der Ebene von Propaganda. Dabei wird der Offentlichkeit (oder den betroffenen Gruppen) eine fiktive Übereinstimmung zwischen dem Willen der Machthaber und dem Inhalt der Rechtsvorschriften vorgeführt. ,Propa-

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ganda< bedeutet hier - wie Lasswell und Kaplan definiert haben - »die Manipulation politischer Symbole zu dem Zweck, die öffentliche Meinung zu kontrollieren«.41 Unsere Überlegungen zu den Sondergesetzen in Italien zeigen erneut auf, daß diese Art von Analyse zu produktiven Ergebnissen führen kann. Die Unterschiede zwischen den Argumenten zur Rechtfertigung der Lex Reale im Jahr 1975 und denjenigen zur Rechtfertigung der Ausnahmevorschriften von 1977 zeigen eine offensichtliche Unvereinbarkeit zwischen den erklärten und tatsächlich beabsichtigten Zielen oder ,Funktionen< auf. In der Lex Reale ist der rhetorische Bezug auf die faschistische Subversion lediglich ein Propagandasymbol, mit dem die eigentliche Zielsetzung des Gesetzes verdeckt wurde und mit dem die stillschweigende, wenn auch nicht formale, Unterstützung des politischen Gegners auf Grund des historischen Kompromisses erlangt wurde. Die Verschiedenartigkeit zwischen erklärtem und wirklichem Ziel scheint dadurch verringert. Ähnliche Beobachtungen könnten bei einem Vergleich der deutschen Notstandsgesetze von 1967 mit dem Radikalenerlaß von 1972 gemacht werden. Die Zuhilfenahme von Propagandamitteln bei der Manipulation von Recht als politischem Symbol scheint sich umgekehrt proportional zu der politischen Stärke der Regierung zu verhalten. Zumindest dann, wenn starke Minderheiten existieren, die die Exekutive zu Verhandlungen über ihre stillschweigende Unterstützung zwingen können. Dies führt zu einigen Schlußfolgerungen, die auf den ersten Blick paradox erscheinen. Die Rechtssicherheit im engeren Sinne ist höher, wenn totalitäre Machthaber das Recht kontrollieren, im weiteren Sinne ist sie natürlich niedriger. Faktische, und nicht nur formale Rechtssicherheit aber ist das höchste Ziel im

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Kampf gegen die rohe Gewalt der Willkür: nicht nur gegen die Willkür des Richters, sondern in erster Linie gegen die Willkür des Gesetzgebers. Oder wie ein bekannter italienischer Wissenschaftler der dreißiger Jahre ausgedrückt hat: »Die Willkür derer, die das Recht anwenden, und die Willkür derer, die das Recht machen.«42 Eine totalitäre Macht, die sich nicht mit einer offiziellen Opposition auseinandersetzen muß, tendiert zu einem willkürlichen oder frei ermessenden Gebrauch von Recht. Dies geschieht in erster Linie durch den Erlaß von Gesetzen, die technisch perfekt sind und keinen Raum für Interpretation lassen. Nichtsdestoweniger ist diese Art von Recht willkürlich. Man denke an die »perfekten« Gesetze des faschistischen Italien. Unsere Überlegungen führen zu einer weniger formalen Auffassung von den Beziehungen zwischen Recht und Macht. Wenn positives Recht eine Funktion von Macht ist oder vom politischen Willen bestimmt wird, dann muß der Prozeß der politischen Willensbildung analysiert werden, wenn man zu einer demokratischen Analyse der politischen Anwendung von Recht gelangen will. Gibt es Vorschriften, die kein Machthaber in die Diskussion bringen könnte, ohne daß er dadurch seine Legitimität verlöre? Das ist die ewige Frage nach dem Naturrecht, das sich fortwährend aus sich selbst erneuert und sich jenseits der Frage nach der bloßen Legalität befindet!43

(übersetzt von Barbara Wesel, Berlin)

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Anmerkungen 1 V. Ferrari, II diritto in funzione de! potere: il ,Berufsverbot, nella Repubblica Federale Tedesca, in: Sociologia de! diritto, 1977, I, S. 75 ff.; V. Ferrari, Politicade! lavoro e politica de! consenso:ipotesi sull'efficaciadella !egge sull'occupazionegiovanile, in: Sociologiade! diritto, 1978, II, S. 375 ff. (Zu der letzten Untersuchung wurde bei der Konferenz der ,Forschungsgruppe Rechtssoziologie