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German Pages 822 [818] Year 2022
Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert
Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels herausgegeben von der Historischen Kommission
Band 5: Deutsche Demokratische Republik
De Gruyter
Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Deutsche Demokratische Republik Teil 1: SBZ, Institutionen, Verlage 1 Teilband 1
Im Auftrag der Historischen Kommission herausgegeben von Christoph Links, Siegfried Lokatis und Klaus G. Saur in Zusammenarbeit mit Carsten Wurm
De Gruyter
Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Deutsche Demokratische Republik Teil 1: SBZ, Institutionen, Verlage 1 Teilband 2
Im Auftrag der Historischen Kommission herausgegeben von Christoph Links, Siegfried Lokatis und Klaus G. Saur in Zusammenarbeit mit Carsten Wurm
De Gruyter
Herausgeber: Historische Kommission Ordentliche Mitglieder: Prof. Thedel v. Wallmoden (Göttingen), Vorsitzender; Prof. Dr. Christine Haug (München), stellvertretende Vorsitzende; Prof. Dr. Ernst Fischer (Groß-Siegharts); Prof. Dr. Stephan Füssel (Mainz); Dr. Roland Jaeger (Hamburg/Berlin); Dr. Christoph Links (Berlin); Prof. Dr. Siegfried Lokatis (Leipzig); Prof. Dr. Wulf D. v. Lucius (Stuttgart); Prof. Dr. h. c. mult. Klaus G. Saur (München); Prof. Dr. Reinhard Wittmann (Fischbachau) Korrespondierende Mitglieder: Prof. Dr. Hans Altenhein (Bickenbach); Dr. Achim Bonte (Berlin); Dr. Monika Estermann (Berlin); Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Fabian (Münster); Dr. Bernhard Fischer (Weimar); Susanne Franzkeit (Basel); PD Dr. Johannes Frimmel (München); Prof. Dr. Wilhelm Haefs (München); Prof. Dr. Murray G. Hall (Wien); Florian Hiersemann (Stuttgart); Dr. Stephanie Jacobs (Leipzig); Dr. Caroline Jessen (Leipzig); PD Dr. Thomas Keiderling (Leipzig); Dr. Thekla Kluttig (Leipzig); Dr. Michael Knoche (Weimar); PD Dr. Mark Lehmstedt (Leipzig); Prof. Dr. Steffen Martus (Berlin); Prof. Dr. York-Gothart Mix (München); Dr. Helen Müller (Berlin); Bernd Rolle (Jena); Prof. Dr. Patrick Rössler (Erfurt); Prof. Dr. Wolfgang Schmitz (Köln); Prof. Dr. Carlos Spoerhase (Bielefeld); Dr. Volker Titel (Erlangen); Matthias Ulmer (Stuttgart); Prof. Dr. Peter Vodosek (Stuttgart); Dr. Tobias Winstel (München) Redaktion: Dr. Carsten Wurm
Mit insgesamt 104 Abbildungen und Tabellen ISBN 978-3-11-047003-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047122-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047008-6 Library of Congress Control Number: 2022932371 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Walter Ulbricht mit Kulturminister Klaus Gysi auf der Leipziger Buchmesse 1968, links: Erich Honecker und Lotte Ulbricht, Foto: Siegfried Müller Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark, Deutschland Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Einleitung (Christoph Links/Siegfried Lokatis/Klaus G. Saur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1
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Der Buchhandel in der Sowjetischen Besatzungszone und der Viersektorenstadt Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Der Teil als Ganzes: Der Aufbau des Buchhandels in der Sowjetischen Besatzungszone (Hans Altenhein) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Das Ganze in Teilen 5 – Der Teil als Ganzes: Die Sowjetische Besatzungszone 8 – Zwischen den Teilen: Zweiseitige Beziehungen 17 1.2
Nicht ohne Lizenz: Das Zulassungssystem für Verlage in der Sowjetischen Besatzungszone (Bettina Jütte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Vorbemerkung 27 – Die Kriterien 27 – Die Institutionen 29 – Die Verlage 32 – Das Verfahren 37 – Die Urkunden 38 1.3
Der Kulturelle Beirat für das Verlagswesen (Lisa Schelhas) . . . . . . . . . . .
43
Die Zensurpolitik der Sowjetischen Militäradministration am Beginn der Besatzungszeit 43 – Die Bildung des Kulturellen Beirats und seine Struktur im Jahr 1946 48 – Umstrukturierungen 1947 und die Genehmigung der Titel nach Dringlichkeitsstufen 55 – Die Reformbemühungen im Jahr 1948 58 – Das Ende des Kulturellen Beirates 61 1.4
Der Leipziger Börsenverein und die Entwicklung von Verlagsund Buchhandelsstrukturen in der SBZ (Reimar Riese) . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Das amerikanische Intermezzo 72 – Der Aktionsausschuss 73 – Die Spaltung des Buchhandels 75 – Die zweite Besetzung 79 – Säuberung und Wiederbelebung des Buchhandels 80 – Die Leipziger Parkhotel-Gespräche 81 – Die Weichen waren gestellt 83 – Die Administration 84 – Neue Strukturen: Verlagssystem 87 – Neue Strukturen: Buchvertrieb 91 – Neue Strukturen: Branchenorganisation 96 – Am Ende der Besatzungsjahre: Zwei Staaten in Deutschland 100 1.5
Der Wiederaufbau des Berliner Buchhandels (Eva Schwarz) . . . . . . . . . . 107 Das Verlagswesen 107 – Der vertreibende Buchhandel 109 – Das Problem des Interzonenhandels und die besondere Stellung Berlins 111 – Währungsreform und Berlin-Blockade 117
1.6
Die Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung (Detlef Bluhm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Die Gründung einer Vereinigung im britischen Sektor 125 – Die Gründung einer Vereinigung im amerikanischen Sektor 126 – Die Sektorenverbände beginnen ihre Zusammenarbeit 126 – Die politische Situation in Berlin nach Kriegsende 127 – Die Vorstände-Sitzung vom 22. Juli 1946 128 – Eine einheit-
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I nh a l t liche Verlegervereinigung wird genehmigt 128 – Keine Kohlen fürs Büro! 129 – Die Gründung einer Vereinigung im sowjetischen Sektor 130 – Die Gründung einer Vereinigung im französischen Sektor 131 – Auf dem Weg zu einer Gesamtberliner Vereinigung 132 – Die letzten Vorbereitungen 133 – Die Gründung der Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung e.V. 134 – Die Ausstellung »Das neue Buch« in Berlin 136 – Die ersten Buchhändlertage 1947 in Berlin 137
2
Der DDR-Buchhandel und der Blick nach drüben – eine asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte (Julia Frohn) . . . . . 141 Einleitung und theoretische Verortung 141 – Chance zum Neubeginn 142 – Blockbildung und innere Folgen 144 – Eigendynamik der beiden Staaten 149 – Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung 154 – Relative Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen 157 – Erosionserscheinungen 160 – Der deutsch-deutsche Buchhandel als »asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte«? 163
3
Literatur- und Autorenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
3.1
Kulturpolitische Rahmenbedingungen für die Buchbranche in der DDR 1949–1990 (Gerd Dietrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Kulturpolitik in der Übergangsgesellschaft 1949–1958 175 – Kulturpolitik in der »Bildungsgesellschaft« 1958–1976 183 – Kulturpolitik in der »Konsumgesellschaft« 1977–1990 193 – »Leseland« DDR 198
3.2
Die Überwachung von Schriftstellern und Verlagen durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (Matthias Braun) . . . . . . . . 207 Rahmenbedingungen für die Entwicklung des literarischen Lebens in der DDR 207 – Das MfS und die Grundlagen für seine kulturoperative Arbeit im »Sicherungsbereich Literatur« 210 – Die Überwachung der Schriftsteller und Verlage durch das MfS von den Anfängen bis zur Friedlichen Revolution (1950–1989) 214 – Phase 1 (1950–1963) 214 – Phase 2 (1963–1976) 216 – Phase 3 (1976–1985) 227 – Phase 4 (1985–1989) 232
3.3
Ost-West-Kontakte der Autoren (Konstantin Ulmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
3.4
Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
3.4.1
Die staatliche Literaturbehörde (Siegfried Lokatis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Das Amt für Literatur und Verlagswesen 263 – Die neue Hauptverwaltung 1963 271 – Kriterien der Zensur 282
3.4.2
Das Büro für Urheberrechte (Thomas Keiderling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Rechtliche Rahmenbedingungen 309 – Etablierung und Arbeitsweise des BfU 311 – Die Tätigkeit des BfU aus Verlags- und Autorensicht. Die Fallbei-
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VII spiele Lutz Rathenow, Stefan Heym und Wolfgang Hilbig 319 – Das BfU nach der deutschen Einheit 328
3.4.3
Der Deutsche Schriftstellerverband / Schriftstellerverband der DDR (Thomas Keiderling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Vorgeschichte und Gründung 333 – Struktur und Arbeitsweise 334 – Zum Umgang mit nicht systemkonformen Autoren 345 – Nach der Deutschen Einheit 351
3.4.4
Die DDR-Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN (Dorothée Bores) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Sozialgeschichtliche Einordnung des PEN im Machtbereich der SEDDiktatur 357 – Kampf um Anerkennung: »Rumpfgruppe« oder gesamtdeutsches PEN-Zentrum? 358 – Vom Deutschen PEN-Zentrum Ost und West zum PEN-Zentrum der DDR 361 – Die Ära Brecht (1953–1956) 361 – Das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West unter Arnold Zweig (1956/57– 1968) 364 – Verstärkte parteipolitische Einflussnahme im PEN-Zentrum DDR (1968/1969–1979) 371 – Innere Erstarrung, politische Willfährigkeit und partieller Neuanfang: Das PEN-Zentrum DDR in den 1980er Jahren 376
3.4.5
Die Zentrale Kommission Literatur im Kulturbund in der SBZ/ DDR (Andreas Zimmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Inhalt 4
Die Berufsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
4.1
Vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig zum Verband der Verleger und Buchhändler der Deutschen Demokratischen Republik (Reimar Riese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Transformation und Reorganisation 399 – Der Börsenverein der Buchhändler zu Leipzig in der Übergangsgesellschaft 399 – Das Ende des Provisoriums 401 – Integration und Orientierung (1950–1960) 404 – Wirksamwerden unter neuen Bedingungen 404 – Integration »in den gesamten Kulturaufbau« der DDR 407 – Funktions- und Bedeutungsverlust 411 – »Neuer Kurs« 412 – Grenzen des Wandels 416 – Wiedererwachen des Vereinslebens 418 – Aufbruch 421 – Eine neue ›Mannschaft‹ 424 – Auf neuen Wegen? 425 – Präzisierte Ziele 426 – Förderung der Buchkunsttradition 427 – Die bleierne Zeit (1961–1970) 428 – Zwischen Beharrung und Aufbruch 428 – Ende einer Ära 430 – Eine ›sozialistische Nation‹ hinter Mauer und Stacheldraht 431 – Souverän, national, einheitsfern – neue Rahmenbedingungen 431 – Kybernetik und Systemtheorie – Unterpfand des Erfolges? 433 – Die Gremien 434 – Nicht mehr Börsenverein des deutschen Buchhandels, sondern Verband der Verlage und Buchhandlungen in der DDR 435 – Neue Arbeitsschwerpunkte 436 – Stagnation und Auflösung (1971–1989) 439 – Stagnation 439 – Endzeit 441 – Vorstand, Ausschüsse, Kommissionen 442 – Viele Probleme – kaum Lösungen 443 – Deutsch-deutsche Annäherung 446 – Es wächst zusammen, was zusammengehört (1989–1990) 447 – Der Leipziger Börsenverein am Ende der DDR 447 – Rückbesinnung 448 – Übergangserneuerung 449 – Auf dem Wege zur Wiedervereinigung 450 – Epilog 452
4.2
Buchhändlerische Berufsbildung in der Deutschen Demokratischen Republik (1949–1990) (Reimar Riese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 1949 – das Jahr der doppelten Staatsgründung 457 – Berufsbildungspolitik in der DDR 459 – Das Berufsausbildungswesen im Buchhandel 465 – Die »Ausbildungsordnung des Lehrberufs Buchhändler« von 1949 465 – Die Ausbildungsordnung von 1952/56 467 – Der Ausbildungsrahmenplan von 1962 470 – Berufsbild und Ausbildungsunterlagen für die sozialistische Berufsausbildung in Buchhandel und Verlagswesen 1963 472 – Novellierung von Berufsbild und Ausbildungsunterlagen 1969 473 – Berufsbild Buchhändler in den 1980er Jahren 476 – Einrichtungen buchhändlerischer Aus- und Weiterbildung in der DDR 477 – Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig 477 – Fachschule für Buchhändler 482 – Betriebsakademien des Wirtschaftszweigs Verlage und Buchhandel 486 – Das Institut für Verlagswesen und Buchhandel an der Karl-Marx-Universität in Leipzig 487 – Epilog 491
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Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
5.1
Historischer Überblick (Christoph Links) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Sowjetische Prägungen 495 – Politische Lizenzvergabe 497 – Zentrale Profilierung des Verlagswesens 501 – Grundmerkmale der DDR-Verlagslandschaft 503 – Programmhoheit 504 – Auflagenentscheidung 506 – Preisfestsetzung 507 – Gewinndisposition 507 – Monopolstellung 508 – Die innere Struktur der Verlage 509
5.2
Alltag in den DDR-Verlagen (Christoph Links) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Betriebsaufbau und Entscheidungsstrukturen 513 – Tagesablauf, Arbeitszeiten 516 – Entlohnung, Kollegialität 517 – Kultur- und Freizeitaktivitäten 520
5.3
Verlage nach Sparten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
5.3.1
Belletristikverlage und Taschenbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
5.3.1.1 Aufbau-Verlag (Konstantin Ulmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Die Gründung und die ersten Bücher 523 – Die neue Leitung: Wendt, Schroeder, Janka 524 – Die Verhaftung der »Harich-Gruppe« 527 – Die »Profilierung« und ihre Folgen 530 – Konjunktur im deutsch-deutschen Austausch 533 – Die Ausbürgerung Biermanns und die Folgen 534 – Weltliteratur im politischen Spannungsfeld 536 – Publikationskonflikte für die neue Leitung 537 – Die Wendezeit 540 – Die Entwicklung ab 1991 542 5.3.1.2 Rütten & Loening (Carsten Wurm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Zur Firmengeschichte bis 1945 547 – Die Nachkriegsentwicklung (1945– 1951) 548 – Unter dem Dach von Volk und Welt (1952–1963) 553 – Unter dem Dach des Aufbau-Verlages (1964–1990) 564 – Der Verlag nach der deutschen Einheit 570 5.3.1.3 Volksverlag Weimar (Carsten Wurm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Zur Firmengeschichte 573 – Zum Umfang des Buchverlags 577 – Personalentwicklung im Buchverlag 580 – Das Verlagsprogramm in Umrissen 581 – Das Klassiker-Programm 585 – Arion-Verlag 593 – Die Übernahme durch den Aufbau-Verlag 595 5.3.1.4 Die Leipziger Erbe-Verlagsgruppe als Zusammenschluss der Verlage Gustav Kiepenheuer, Insel, Paul List und Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung (Christoph Links) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Die Bildung der Verlagsgruppe Kiepenheuer 599 – Gustav Kiepenheuer Verlag 601 – Insel-Verlag Anton Kippenberg 606 – Paul List Verlag 613 – Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 616 – Fazit 620
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VII
5.3.1.5 Volk und Welt und die internationale Literatur in der DDR (Siegfried Lokatis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Auf dem Weg zum Leitverlag für internationale Gegenwartsliteratur 625 – Die drei Westlektorate 634 – Die Ostlektorate 638 5.3.1.6 Mitteldeutscher Verlag (Juliane Bonkowski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Wurzeln und frühe Entwicklung 645 – Zwischen »Kahlschlag«-Plenum und Machtwechsel: Nachdenken über Christa T. 649 – Das Intermezzo unter der Leitung von Rudolf Herzog und neue Perspektiven nach dem Amtsantritt von Eberhard Günther 653 – Zahlen und Fakten 655 – Die Biermann-Ausbürgerung und die Folgen für den Verlag 658 – Die Fälle Heiduczek und Loest 659 – Der Verlag am Ende der DDR 660 – Der Mitteldeutsche Verlag nach der deutschen Einheit 662 5.3.1.7 Der Greifenverlag zu Rudolstadt (Carsten Wurm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Zur Frühgeschichte 667 – Der Neustart nach 1945 669 – Zum Programm unter der Leitung von Karl Dietz 671 – Zur Ökonomie eines Privatverlages im Sozialismus 676 – Die Verstaatlichung 679 – Der volkseigene Greifenverlag 682 – Zum Programm des VEB Greifenverlages 683 – Der Verlag nach der deutschen Einheit 689 5.3.1.8 Eulenspiegel Verlag (Hans-Jochen Marquardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 Satire in der DDR 693 – 1946–1954: Die Vorläufer-Zeitschrift Frischer Wind 694 – 1954: Die Gründung von Eulenspiegel und Eulenspiegel Verlag 694 – 1955–1961: Satire-Diskussion und die Chefredakteure Heynowski, Schmidt, Nelken 698 – 1961–1973: Strukturen, Konzeption und Trennung von Zeitschrift und Buchverlag 700 – Der Eulenspiegel Verlag 1973–1989: Lachen und Lachen lassen 703 – 1989–1993: Abwicklung und Neubeginn 706 5.3.1.9 Verlag Das Neue Berlin (Sabine Theiß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 Vom Formulardruck zur Aktionsliteratur 711 – Kriminalliteratur 714 – Abenteuerliteratur 716 – Utopisch-phantastische Literatur 719 – Ende der DDR und der Verlag nach 1990 722 5.3.1.10 Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig (Ingrid Sonntag) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725 Firmengeschichte bis 1945 725 – Vier Lizenzen von 1946 bis 1953 727 – Lizenz Nummer 39 von 1946 727 – Lizenz Nr. 343 von 1947/48 729 – Lizenz Nummer 363 von 1951 730 – Zweite Lizenz Nummer 363 von 1953 732 – Betrieb mit staatlicher Beteiligung von 1953 bis 1990 733 – Turbulenzen in der Eigentumsfrage 734 – Die Firmenentwicklung zwischen 1961 und 1987 738 – Das Programm von 1964 bis 1990 743 – Transformation und Abwicklung von 1990 bis 2006 747
VIII
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5.3.1.11 Das Taschenbuch (Jane Langforth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 Die 1950er Jahre. Die Wiederentdeckung des Taschenbuches 754 – Die 1960er Jahre. Von Verlagsprofilierung und Sortimentserweiterung 761 – Die 1970er Jahre. Vielfalt und Aufschwung 765 – Die 1980er Jahre. Ein gesättigter Taschenbuchmarkt? 768 – Schlussbetrachtung 769 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 Register (Personen, Verlage, Buchhandlungen, Druckereien, Buchinstitutionen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Die Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803
Einleitung Christoph Links / Siegfried Lokatis / Klaus G. Saur Die Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert kennt viele Brüche und Zäsuren. Der größte Einschnitt nach der Kaiserzeit (Band 1) und der Weimarer Republik (Band 2) war die zwölfjährige Herrschaft des Nationalsozialismus (Band 3), womit der von Deutschland ausgehende Zweite Weltkrieg und die Ermordung von Millionen Juden und anderen ausgegrenzten Gruppen verbunden waren. 1945 lag Deutschland nach diesem »Zivilisationsbruch« materiell wie geistig in Trümmern und übernahmen vier Besatzungsmächte die Neugliederung des Staatswesens. Um eine antifaschistische Neuausrichtung einzuleiten, verboten die alliierten Siegermächte gleich im Mai 1945 das Drucken, Vertreiben und Verkaufen von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern und ordneten im Jahr darauf an, alle Buchhandlungen und Bibliotheken von nationalsozialistischem Schriftgut zu säubern. Fortan benötigten Verlage eine Lizenz der jeweiligen Besatzungsmacht, um wieder publizieren zu können, wobei darauf geachtet wurde, dass die Verleger keine nationalsozialistische Vergangenheit hatten. Die unterschiedlichen politischen Vorstellungen der alliierten Siegermächte führten jedoch binnen kurzer Zeit zu einer Spaltung des Landes, sodass 1949 zwei selbstständige Staaten entstanden, die Bundesrepublik Deutschland (Band 4) und die Deutsche Demokratische Republik (Band 5). Wie bei den bisherigen Editionen der Geschichte des deutschen Buchhandels erscheinen die Bände jeweils in mehreren Teilen, so auch hier im Fall der DDR, für die drei Teile vorgesehen sind. Entsprechend der Grundstruktur des Gesamtwerkes geht es stets darum, einen möglichst großen Überblick über die Literaturverhältnisse des jeweiligen Zeitabschnitts zu geben, wobei ein Bogen vom Autor über die vermittelnden Institutionen (Verlage, Buchhandel, Bibliotheken, Verbände) bis hin zum Leser geschlagen werden soll. Der Osten Deutschlands und die DDR beschritten unter sowjetischer Beeinflussung einen anderen Weg als die Bundesrepublik, die aus der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone hervorging und der marktwirtschaftlichen Grundorientierung an die Zeit der Weimarer Republik anknüpfte. Die DDR hingegen wurde am sowjetischen Modell einer zentralistischen Planung und der politischen Kontrolle durch eine staatssozialistische Partei ausgerichtet. Entsprechend verschieden waren die Prägungen des Literaturbetriebes, was nicht nur die dort tätigen Institutionen betraf, sondern auch Auswirkungen auf das Schreiben und die Rezeption der Literatur hatte. Die Weichen dafür wurden bereits in den Jahren der sowjetischen Besatzungszeit zwischen 1945 und 1949 gestellt, wie an den sechs Beiträgen zur SBZ im ersten Teilband deutlich wird. Demnach war von sowjetischer Seite geplant, einen grundlegenden Strukturbruch herbeizuführen und statt der mehr als tausend Privatverlage, die bisher im Osten Deutschlands (speziell in Leipzig) tätig waren, nur Verlage zuzulassen, die staatlichen Einrichtungen sowie politisch kontrollierten Parteien und Organisationen unterstellt waren. Doch schnell zeigte sich, dass dies zur Abwanderung wichtiger Fach- und Wissenschaftsverlage in die Westzonen und damit zu einem ökonomischen Aderlass führte, weshalb ab 1946 auch in der SBZ einzelne private Verlage lizenziert wurden. Die wirtschaftliche Teilung mit verschiedenen Währungen und die zunehmende Abschottung https://doi.org/10.1515/9783110471229-001
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des Ostens führten dazu, dass Verlage, die Zweigniederlassungen im Westen hatten, in der DDR zumeist enteignet und in Volkseigene Betrieb (VEB) umgewandelt oder beschlagnahmt und als halbstaatliche Firmen unter SED-Führung weiterbetrieben wurden. Dies wiederum hatte zur Folge, dass ihnen der Zugang zum bundesdeutschen Markt versperrt wurde und sie teilweise auch nicht an der Frankfurter Buchmesse teilnehmen konnten. Trotzdem wurde in den Firmen versucht, einen arbeitspraktischen Kontakt aufrecht zu erhalten, wovon im Kapitel 2 berichtet wird. Um die Literaturproduktion inhaltlich kontrollieren zu können, organisierte die DDR ein komplexes System, das von der geheimdienstlichen Überwachung der Schriftsteller über die Schaffung einer Zensurbehörde und die gezielte personelle Besetzung der Leitungsfunktionen in den Verlagen und Buchhandelsorganisationen bis hin zu den Berufsverbänden reichte (Kapitel 3 und 4 des ersten Teilbandes). Trotz alledem war der Eigensinn der am Literaturprozess Beteiligten nicht vollständig zu unterbinden, gab es im gesamten Zeitraum der DDR immer wieder Versuche des Aufbegehrens und des Ringens um Freiräume und eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Davon handeln besonders stark die Beiträge zu den belletristischen Verlagen, die den Hauptteil des ersten Teilbandes (Kapitel 5) bilden. Der zweite Teil behandelt sodann das gesamte übrige Spektrum der Verlagslandschaft vom Kinderbuch über Kunst- und Musikeditionen bis hin zum Sach- und Wissenschaftsbuch. Gesondert wird auf die parteieigenen und die kirchlichen Verlage eingegangen, ein Kapitel beschäftigt sich mit den inoffiziellen Verlagen in der Spätphase der DDR. In diesem Band tritt eine Eigenheit der ostdeutschen Buchlandschaft besonders hervor: Durch die rigide Lizenzpolitik – seit Mitte der 1960er Jahre hatten lediglich 78 Verlage eine staatliche Zulassung, während in der Bundesrepublik rund 3.000 Editionshäuser aktiv waren – verfügte beinahe jeder DDR-Verlag über eine thematische Monopolstellung. Dies erlaubte hohe Startauflagen und brachte entsprechend hohe Gewinne, die zum überwiegenden Teil aber an die Eigentümer im Staat oder in den Parteien und Organisationen abgeliefert werden mussten, sodass kaum Mittel für eine eigenständige Wirtschaftsführung zur Verfügung standen und notwendige Investitionen besonders in der Spätzeit der DDR unterblieben. Der dritte Teil hat seine Schwerpunkte bei der Buchherstellung, dem Zwischenbuchhandel, dem Sortimentsbuchhandel und dem Bibliothekswesen. Darüber hinaus werden die Buchgemeinschaften, der Außenhandel, die literarischen Zeitschriften und der Postzeitungsvertrieb vorgestellt. Eine Statistik zum gesamten Buchmarkt rundet den Band ab. Bei der Behandlung dieser Themen tritt ein anderes Spezifikum des DDR-Marktes hervor: der permanente Mangel an Papier und das unzureichende Angebot an besonders gefragten Titeln. Dies alles änderte sich mit der deutschen Vereinigung 1990 und der Überführung sämtlicher Strukturen in die bundesdeutsche Buchlandschaft. Die damit verbundenen Änderungen und zugleich auch Verwerfungen werden in einem abschließenden Kapitel thematisiert. * Bei der systematischen Aufarbeitung der DDR-Buchlandschaft konnte auf vielfältige Vorarbeiten zurückgegriffen werden, auch wenn es bisher keine Gesamtschau gab, sondern vor allem zahlreiche Einzeluntersuchungen sowie Selbstdarstellungen von Unternehmen und Autobiographien. Der Erkenntnisstand zu den jeweiligen Firmen und Insti-
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tutionen erwies sich allerdings als höchst unterschiedlich, da zahlreiche Einrichtungen bei ihrer Abwicklung nach 1990 einen Großteil der Akten vernichtet haben oder diese nach der Übernahme durch die neuen Eigentümer entsorgt worden sind. Wichtige Firmenarchiven sind aber gesichert und öffentlich zugänglich, u. a. im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig, in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, im Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin, im Landesarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg und im Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt. Höchst ergiebig sind die im Bundesarchiv Berlin befindlichen staatlichen Überlieferungen wie etwa zur Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur, deren Gutachten zu belletristischer Literatur inzwischen auch digitalisiert zur Verfügung stehen. Hilfreich waren bei einzelnen Themen zudem Zeitzeugeninterviews, die Anfang der 1990er Jahre im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins mit ehemaligen Akteuren geführt worden sind. Alles in allem ist so eine erste umfassende Überblicksdarstellung des herstellenden wie verbreitenden Buchhandels in der SBZ und DDR sowie seines Umfeldes entstanden. Möge sie eine anregende Grundlage für weitere Forschungen sein.
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Der Buchhandel in der Sowjetischen Besatzungszone und der Viersektorenstadt Berlin Hans Altenhein
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Der Teil als Ganzes: Der Aufbau des Buchhandels in der Sowjetischen Besatzungszone
Am 14. September 1945 schrieb der Verleger Wilhelm Heyne in Dresden an Max Albert Heß, den früheren Generaldirektor des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig: Was wir alles hier durchgemacht haben, darüber wird man am besten garnicht erst reden […]. Ich bin aber weder nach der Bombenkatastrophe noch nach dem Russeneinmarsch von Dresden gewichen. Dadurch habe ich auch bereits seit Ende Mai den Verlagsbetrieb wieder regelmäßig und ohne Unterbrechung in Gang. Ich beliefere aus erhalten gebliebenen Ausweichla1 gern den Dresdner Buchhandel […]
Verlagspläne seien wegen der bekannten Unsicherheitsfaktoren allerdings noch nicht »ganz akut«. Der Leipziger Eingangsstempel datiert vom 24. September. Aber Wilhelm Heyne täuscht sich, seine Verlagspläne wird er in Dresden nicht mehr fortsetzen, er wird mit seiner Familie in den Westen gehen, wo in München der Wiederaufbau des Verlages beginnt. Unter dem 8. Juli 1946 steht auf dem Brief ein weiterer Leipziger Stempel »Adressbuch-Redaktion erledigt«.2 Was dem Zeitzeugen bei seiner fortgesetzten Arbeit in Dresden verborgen bleiben musste, war das komplizierte weltpolitische Kräfteverhältnis, das soeben zur Teilung Deutschlands geführt hatte. Über Nacht beendet war eine beträchtliche Kriegskonjunktur des Verlagswesens sowie eine fortgeschrittene Ausdehnung buchhändlerischer Geschäftstätigkeit im Zuge der Kriegshandlungen des Großdeutschen Reiches, als Verlage in den besetzten Ländern drucken ließen und ein Netz von ›Frontbuchhandlungen‹ sich über Europa ausdehnte. Gerhard Menz, Professor für Buchhandelsbetriebslehre an der Leipziger Handelshochschule, hatte noch 1941 einen europäischen Buchhandel unter deutscher Führung im Blick. Was davor geschehen war und zum Exil eines Teils der Buchbranche geführt hatte, verschwand jetzt unter der Erfahrung des »Zusammenbruchs«.
Das Ganze in Teilen Seit 1944 hatte die Kriegskoalition der USA, der UdSSR und Großbritanniens nach den Ausarbeitungen einer European Advisory Commission in London die Aufteilung Deutschlands, ursprünglich in seinen Grenzen von 1937, in drei Zonen vorgesehen,
1 SStA Leipzig, Bestand 21765 Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, Akte F 3978. 2 SStA Leipzig, Bestand 21765 Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, Akte F 3978. https://doi.org/10.1515/9783110471229-002
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Abb. 1: Die Aufteilung von Deutschland in Besatzungszonen. Archiv Ch. Links Verlag.
zudem die Einrichtung einer Kontroll-Kommission und einen Sonderstatus für Berlin. Innerhalb ihrer Zonen blieb den einzelnen Besatzungsmächten freie Hand. Fläche und Einwohnerzahl der Sowjetischen Besatzungszone und der US-Zone entsprachen einander annähernd, die britische war kleiner, enthielt aber das industrielle Ruhrgebiet. Eine vierte Zone wurde nach 1944 für Frankreich als neuem Koalitionspartner freigemacht. Insgesamt sollte die Entmilitarisierung und Entnazifizierung des Kriegsgegners bewirkt und seine Industriekapazität dezentralisiert und kontrolliert, die Bildung eines gemeinsamen Wirtschaftsgebietes auf Dauer aber nicht verhindert werden. Der Widerspruch bezeichnet das Problem: Da man sich über eine gemeinsame Nachkriegspolitik für Deutschland, anders als für Osteuropa, nicht einigen konnte, beschloss man, wie Tony Judt schrieb, das Problem zur Lösung zu machen, indem man es nach Einflussgebieten aufteilte.3 Durch Law No. 191 vom 24. November 1944 war beim Einrücken der alliierten Armeen den Deutschen jegliche publizistische Tätigkeit verboten. Des Näheren bestimmte dann die Nachrichtenkontrollvorschrift Nr. 1 der Militärregierung Deutschland vom 12. Mai 1945:
3 Judt: Postwar, S. 128.
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Nur auf Grund einer schriftlichen Zulassung der Militärregierung und in Übereinstimmung mit den Vorschriften solcher Genehmigung und den Bestimmungen und Anweisungen der Militärregierung wird zugelassen: a) Das Veröffentlichen von Zeitungen, Magazinen, Zeitschriften, Büchern, Plakaten, Bro4 schüren, Musikalien oder sonstigen Veröffentlichungen.
Es folgen in dieser Bestimmung: Der Betrieb von Rundfunk- oder Fernsehstationen, die Herstellung von Filmen und Schallplatten sowie die Veranstaltung von Schauspielen und Konzerten, schließlich auch das Vertreiben, Verkaufen und gewerbliche Verleihen und das Drucken von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Diese im Namen von General Eisenhower erlassenen Anordnungen werden im Osten ergänzt durch den Befehl Nr. 19 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Marschall Georgi K. Schukow, vom 2. August 1945, der die Registrierung und Auftragsvergabe für alle Druck- und Verlagsbetriebe betrifft.5 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Besatzungsmächte unter den Begriffen »Information« und »Volksbildung« natürlich auch die Medien Presse und Radio verstanden. Bevor noch die Buchproduktion in Gang kommen konnte, erschienen Tageszeitungen, und noch vor Ende des Jahres 1945 waren in der SBZ die Sender Berlin, Leipzig, Dresden und Schwerin in Betrieb genommen worden. Jegliche Kontrolle oblag den Militärregierungen, vor allem der Post- und Reiseverkehr zwischen den Zonen wurde streng kontrolliert. Dieser administrativen Isolierung der Zonenbewohner entsprach zunehmend auch eine Verschiedenheit der materiellen wie der kulturellen Lebensbedingungen unter der jeweiligen Besatzungsmacht, abhängig von deren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit wie von deren nationaler Kultur-, Gesellschafts- und Informationspolitik. Das gemeinsame Vorhaben einer Entmilitarisierung und Entnazifizierung Deutschlands wurde höchst unterschiedlich interpretiert und realisiert, in der Sowjetischen Besatzungszone war es zugleich ein Instrument gesellschaftlicher Umgestaltung. Die Besatzungspolitik der Alliierten, abgesehen vom allen gemeinsamen Sicherheitsbedürfnis, unterschied sich deutlich. Selbst die Unterstützung durch Verfolgte und Vertriebene des Nazi-Regimes, auf die sich alle Militärregierungen angewiesen sahen, wies deutliche Unterschiede auf: Während die deutschen Fachleute in den Westzonen zumeist in der Uniform ihrer jeweiligen Besatzungsarmee auftraten, übernahmen sie in der Sowjetzone unmittelbare Funktionen in der deutschen Zivilverwaltung. Als übergeordnete Behörde aller Besatzungsmächte war zwar im ebenfalls viergeteilten Berlin der Kontrollrat eingesetzt, er erwies sich aber in dieser Rolle zunehmend als wirkungslos. Immerhin blieb Berlin unter seinem Viermächtestatus für eine Weile der einzige Ort internationaler Kommunikation durch Radio, Presse, Film und Literatur, wobei die französische »Mission Culturelle« oft bessere Beziehungen zu Alexander Dymschitz, dem Kulturchef der SMAD unterhielt, als zu den englischen oder amerikanischen Kollegen.6 Die Frage, ob und wie lange auf welcher Seite der Siegermächte die künftige Einheit Deutschlands ein politisches Ziel blieb, beschäftigt die Ge-
4 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 1492. 5 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 1649. 6 Schivelbusch: Vor dem Vorhang, S. 52.
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schichtsschreibung bis heute, eine zunehmende ›Sowjetisierung‹ der SBZ ist dabei nicht zu übersehen. Dass sich die Teilung des Landes mit der zentralen Organisation und Logistik des deutschen Buchhandelssystems auf Dauer nicht vereinbaren ließ, lag auf der Hand. Die Hoffnung auf Wiederherstellung einer territorialen Einheit (von Standorten »unter polnischer Verwaltung« ist nicht mehr die Rede) und damit des allgemeinen »Verkehrs über Leipzig« sollte im Buchhandel aber noch lange virulent sein, schließlich hatte man, auch nach der Zerstörung der Infrastruktur durch den Luftkrieg, dieses System durch die ganze Zeit des Dritten Reiches hindurch arbeitsfähig erhalten können. Jedoch ergab sich sehr bald ein höchst differenziertes Bild. Während in der sowjetischen Besatzungszone die Lizenzierung eines wenn auch veränderten Börsenvereins am 21. Juni 1946, die Lizenzierung von Privatverlagen und die Zulassung von privaten Kommissionären und Buchhandlungen einherging mit dem Aufbau eines zentral organisierten Verlagswesen und eines regional organisierten »Volksbuchhandels« unter der Kontrolle der SMAD wie der KPD (ab 1946 SED), unterstützten die amerikanische sowie die englische Militärregierung die schnelle Wiederbelebung des traditionell privatwirtschaftlichen Buchund Pressewesens, die französische eher die Durchsetzung von eigenen kulturpolitischen und territorialen Interessen. Hier beginnen bereits die Differenzen. Die Vorgaben der einzelnen Militärregierungen orientierten sich an den lokalen Gegebenheiten ihrer Zonen und an ihren nationalen Interessen. Die Versorgungslage war nicht überall gleich: Der gravierende Papier- und Kapazitätsmangel des Graphischen Gewerbes und die daraus resultierende Unterversorgung mit Gedrucktem stellten sich in den Zonen je nach den Standorten unterschiedlich dar, in der SBZ wurde er durch die Reparationsleistungen noch vergrößert. Erst im weiteren Verlauf schlossen sich dann zwei, am Ende drei Westzonen zusammen, vom »Doppelzonen-Abkommen« zwischen der amerikanischen und der englischen Zone vom Herbst 1946 bis zum Beitritt der Franzosen zum »Vereinigten Wirtschaftsgebiet« kurz vor Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949. Für die buchhändlerischen Betriebe galt vorerst in allen Zonen, dass ihre unternehmerischen Entscheidungsmöglichkeiten durch die Anweisungen der Militärregierungen drastisch beschränkt wurden. Ein geographisches Problem kam hinzu. Die letzten Kampflinien entsprachen im Frühjahr 1945 nicht immer den vorgesehenen Zonengrenzen: Die Franzosen waren bis Stuttgart gekommen, ein Gebiet um Aue und Schwarzenberg im Erzgebirge lag unbesetzt und zwangsläufig selbstverwaltet zwischen den Fronten, und Leipzig (mit Teilen von Sachsen und Thüringen) stand bei Ende der Kampfhandlungen nicht unter sowjetischer, sondern unter amerikanischer Militärregierung. Während die alliierten Stellen die Vorläufigkeit dieses Zustandes kannten, war sie den Deutschen zunächst unklar. Die so entstehende Zwischenphase bildete für das Buchhandelszentrum Leipzig den Übergang zur Eingliederung in die SBZ.
Der Teil als Ganzes: Die Sowjetische Besatzungszone Nach dem Einmarsch der Amerikaner am 18./19. April 1945 bemühten sich in Leipzig Verleger und Zwischenbuchhändler um eine Wiederherstellung der buchhändlerischen Institutionen am Ort, als einflussreicher Aktivist erwies sich dabei Heinrich Becker (1891–1971), Pädagoge, Bibliothekar, ehemals Ministerialbeamter der Weimarer Re-
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publik und SPD-Mitglied, ab 1945 Leiter der Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen der Stadt Leipzig, danach in verschiedenen Vorstandsfunktionen im Leipziger Börsenverein und später als Leiter des Bibliographischen Instituts amtierend. Zu seinem Widerpart wurde bald Georg Kurt Schauer in Frankfurt (1899–1984), Verlagsbuchhändler zuletzt bei Goldmann in Leipzig und Rohrer in Brünn, jetzt Beauftragter der amerikanischen Militärregierung, danach lange für den Börsenverein in Frankfurt tätig. Zunächst zeigte sich in Leipzig eine erstaunliche Kontinuität. Frühere Leitfiguren, wie der Geschäftsführer des Börsenvereins Max Albert Heß und dessen langjähriger Berater Professor Gerhard Menz blieben unbehindert, Verleger und Kommissionäre bereiteten sich auf die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit vor: Für den Börsenverein, der nach dem Verschwinden der nationalsozialistischen Vorstandsmitglieder funktionsunfähig geworden war, bildete sich ein Aktionsausschuss, ihm gehörten als bekannte Branchenmitglieder der Verleger Hans Brockhaus sowie Theodor Volckmar-Frentzel vom Buchhandelskonzern Koehler & Volckmar an. Die Mitglieder des Aktionsausschusses hatten es nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen mit einer Sonderkommission der Information Control Division der USMilitärregierung zu tun, die aus sachkundigen Fachleuten, wie dem Bibliothekar Hellmuth Lehmann-Haupt und dem Antiquar Felix Reichmann gebildet worden war.7 Ihr Leiter Douglas Waples, Bibliothekswissenschaftler von der Universität Chicago, ließ die Deutschen bald nicht im Zweifel darüber, dass auf jeden Fall eine Verlagerung von buchhändlerischen Einrichtungen nach Wiesbaden und Frankfurt geplant sei: Als sich die Vertreter des Buchhandels am 1. Mai 1945 zur ersten Besprechung mit einem Beauftragten der Militärregierung getroffen hatten, war davon noch keine Rede gewesen. Beschlossen war die Umsiedlung einiger Verlage nach Wiesbaden, die Errichtung eines Kommissionsplatzes in Frankfurt sowie einer Niederlassung des Börsenvereins in der »Zweigstelle Wiesbaden/Frankfurt a. M.«, also beim Hauptquartier der US-Zone. Als Leiter war auf Wunsch des Hauptquartiers Dr. Wilhelm Klemm (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung in Leipzig und Wiesbaden) bestimmt, als Geschäftsführer Dr. Georg Kurt Schauer. Nach dem Protokoll einer Besprechung des Aktionsausschusses für den Börsenverein vom 5. Juni 1945 sollte die Zweigstelle nicht allein der Verbindung dienen: Die Zweigstelle Wiesbaden soll weiterhin dazu dienen, bestimmte Aufgaben des Börsenvereins weiterzuführen, falls der Börsenverein in Leipzig auch nur vorübergehend durch irgendwelche Umstände ganz oder gebietsweise an der Durchführung seiner Aufgaben verhindert 8 sein sollte.
An dieser Besprechung nahmen Albert Heß als »Generalsekretär des Börsenvereins« und der Verleger Anton Hiersemann als »Schatzmeister« teil. Der Umzug, der am 12. Juni stattfand, kündigte eine Zweiteilung des Buchhandelssystems an: Die Errichtung einer »Deutschen Bücherei im Westen«, der späteren Deutschen Bibliothek, mit zentralbibliographischen Aufgaben in Frankfurt am Main, ebenfalls auf Anordnung der US-Militärregierung im Herbst 1946, sollte die Verdoppelung dann ebenso komplettie-
7 Vgl. Keiderling (Hrsg.): F. A. Brockhaus 1905–2005, S. 219–224. 8 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 137.
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ren wie die Lizenzierung eines westdeutschen Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel in Wiesbaden im August 1946. Am 2. Juli 1945, drei Wochen nach dem Teilumzug des Buchhandels-Zentrums nach Wiesbaden, wurde Leipzig mit dem Einzug der Roten Armee in die Sowjetische Besatzungszone eingegliedert. Schon vor der Übergabe an die Sowjetische Militäradministration hatte in Leipzig ein »Antifaschistischer Block« bestanden, dem unter anderen auch Heinrich Becker angehörte. Auf dessen Vorschlag wurde neben dem bestehenden Aktionsausschuss des Börsenvereins ein »Ausschuss für den Buchhandel in Leipzig« ins Leben gerufen, der sich bald in einen Gründungsausschuss für einen neuen Börsenverein verwandelte.9 Aber die Direktive lag jetzt bei der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), die am Wiederentstehen eines ständischen Berufsverbandes kaum interessiert und jetzt vor allem auf die Neubildung regionaler Verwaltungsstellen bedacht war.10 Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion hatte zwei Ziele mit wechselnder Präferenz: Einerseits forderte die im Krieg besonders hart getroffene Siegermacht größtmögliche materielle Entschädigung durch Reparationsleistungen, andererseits erklärte sie ihr Interesse am Wiederaufbau eines geeinten und funktionsfähigen, aber ihrem Einfluss weiterhin zugänglichen Landes, alleine schon aus Sicherheitsgründen. Die materiellen Ziele verfolgte die Militäradministration mit Unterstützung besonderer Demontage-Kommissionen, die politischen Ziele unter der Kontrolle des Moskauer Apparates, aber mit Hilfe der bald mit der SPD zur SED vereinigten KPD, die wie die früh zugelassenen Blockparteien CDU und LDP in Berlin und in den Ländern und Provinzen tätig wurde.11 Von einer »Kulturrevolution« im allgemeinsten Sinne war jetzt die Rede, ein »besonderer deutscher Weg zum Sozialismus« schien zeitweise das politische Ziel. Für den Bereich des Buchhandels sollte das heißen, die Marktabhängigkeit zu überwinden und »durch Verlagsproduktion die Ideen einer neuen Gesellschaft zu erfassen«,12 so der Lektor des VEB Verlag der Kunst Erhard Frommhold. Dass und warum es bei alldem an der notwendigen intellektuellen Potenz mangelte, hat der Journalist Ernst Richert dargetan.13 Das Organisationsgefüge der SMAD erlaubte eine tiefreichende Kontrolle des kulturellen Lebens, angefangen bei der Sowjetischen Militäradministration mit der »Verwaltung für Propaganda« über die Länder und Kreise bis zu den lokalen »Kommandanturen«. Den militärischen Stellen war der Aufbau deutscher Verwaltungen sowie deren Kontrolle zugeordnet, beginnend bei den an möglichen künftigen Regierungsaufgaben orientierten Zentralverwaltungen in Berlin und den Länderbehörden, beide standen zunächst in einem unbestimmten Verhältnis zueinander. Als 1947 die Oberbehörde »Deutsche Wirtschaftskommission« gebildet wurde, entfiel auch der Begriff »Zentralverwaltung« für einzelne Ressorts.14 Alle deutschen Verwaltungen wurden vorzugsweise von ehemals exilierten, verfolgten oder in der Kriegsgefangenschaft ausgebildeten und zunehmend von neu eingetretenen KPD/SED-Mitgliedern besetzt, aber nach dem Prinzip
9 Riese: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1945–1990, S. 188–195. 10 Petrow: Die sowjetische Besatzungsverwaltung, S. 35–54. 11 Halder: Deutsche Teilung. S. 54–59 und S. 102. 12 Zehn Jahre VEB Verlag der Kunst, S. 5 13 Richert: Das zweite Deutschland, S. 114–135. 14 Bettina Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 124–126.
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der Blockpolitik auch von anderen zuverlässig erscheinenden Fachleuten. (Der Begriff »Selbstverwaltung« trifft die Sache nicht, er wird auch in der russischen Geschichtsschreibung unter Zweifel gestellt.) Bereits im Juli 1945 begann die SMAD mit der Einrichtung beziehungsweise Neubesetzung deutscher Länderverwaltungen in Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern, den (preußischen Rest-) Provinzen Brandenburg und Sachsen-Anhalt, bald mit Gesetzgebungsvollmacht und Ministerien ausgestattet, sowie den Verwaltungen von Kreisen und Kommunen – vom Gesundheitswesen bis zur Propaganda und Volksbildung. Allerdings nahm die SMAD erhebliche Veränderungen an den territorialen Verwaltungsgrenzen vor, was die künftige Arbeit nicht erleichterte. 1946 erfolgten Landtagswahlen in der SBZ mit entsprechenden Regierungsbildungen und der Neu- und Umbesetzung von Amtsstellen. Wie weit die Vollmachten regionaler und lokaler Behörden gingen, zeigt eine russische Detailstudie zum Kreis Zauch-Belzig,15 im speziellen Fall des Verlagswesens auch eine zum Medizin-Verlag Gustav Fischer in Jena. Hier ist die dirigistische Tätigkeit der »Thüringischen Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen« in Jena, die von dem späteren Kölner Verleger Joseph Caspar Witsch geleitet wurde, tageweise zu verfolgen.16 Der Aufbau des deutschen Verlags- und Buchhandelswesens in der SBZ vollzog sich zwar nach den Vorstellungen der SMAD, diese veränderten sich aber im Vorgang der Realisierung unter den deutschen Verhältnissen. Von nun an sollten die wechselseitigen Beziehungen zwischen Ost und West bei allen Entscheidungen eine latente Rolle spielen. Dabei waren Übertritte nicht ausgeschlossen. In der nach Anweisungen der SMAD eingerichteten »Deutschen Verwaltung für Volksbildung« wurde die für das Verlagswesen zuständige Abteilung von Lothar von Balluseck geleitet, der später, wie Witsch, in der benachbarten Bundesrepublik tätig wurde. Eine der ersten Aufgaben der Militär- wie Zivilverwaltung bestand in der Beseitigung aller Hinterlassenschaften des nationalsozialistischen Regimes und hier vor allem der infizierten Buchvorräte. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Deutsche Bücherei in Leipzig mit ihren weitgehend erhaltenen Beständen. Sie konnte mit Hilfe der SMAD bereits im November 1945 ihre Arbeit wieder aufnehmen, wenn auch zunächst als Informationszentrale für die Besatzungsmacht selbst. Als erste und wichtigste Aufgabe oblag ihr die Erstellung der Liste auszusondernder Literatur als Grundlage einer umfassenden Säuberung in Bibliotheken und Buchhandlungen.17 Eine Veröffentlichung erster Verbotslisten wurde in den Westzonen aus naheliegenden Gründen untersagt, während die Deutsche Bücherei in Leipzig eine umfangreiche Liste erarbeitete, die von der Deutschen Verwaltung für Volksbildung nach dem Stand vom 1. April 1946 veröffentlicht und mehrmals ergänzt wurde, sie konnte auch vom Westen bezogen werden.18 Betroffen von der Säuberung waren die Lager der Verlage und Buchhandlungen, aber vor allem die öffentlichen Bibliotheken. (Einige konnten sekretierte Bestände aus der NS-Zeit nun wieder einstellen.)19 Ebenso strikt wurde die Entfernung und Bestrafung von nationalso-
15 Foitzik (Hrsg.): Sowjetische Kommandanturen, S. 319–404. 16 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 238–269 und Anhang. 17 Vgl. Rau: »Nationalbibliothek« im getrennten Land. Die Deutsche Bücherei 1945–1990, S. 153–177. 18 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 113. 19 Göhler: Bildung durch Bücher, S. 31.
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zialistischen Führungskräften betrieben, mit Hilfe des »Volksentscheids über die Enteignung von Kriegs- und Naziverbrechern« am 30. Juni 1946 in Sachsen erfolgte eine umfangreiche Enteignung von Privatbetrieben, unter anfänglichem Widerstand, aber dann mit formaler Beteiligung der Blockparteien. Deutsche, die dem politischen Programm der SMAD im Wege zu stehen schienen, wurden in sogenannte Speziallager verbracht, unabhängig von der generellen Bestrafung von erwiesenen Funktionären der NSDAP oder von Beteiligten an Kriegsverbrechen.20 Im Juli 1945 war die »Deutsche Zentralverwaltung für Erziehung« (dann »Deutsche Verwaltung für Volksbildung«) in Berlin eingerichtet worden. Ihre ständig veränderte Aufgabenverteilung und Stellenbesetzung ist ein Kapitel für sich, aus dieser Verwaltung ging dann der »Kulturelle Beirat für das Verlagswesen« hervor, der für die Papierverwaltung und zugleich für die Vorprüfung der gesamten Verlagsproduktion zuständig war. Ab 1947 überließ ihm die SMAD die Vorzensur nichtpolitischer Bücher ganz. Die Weiterentwicklung der Publikationskontrolle profitierte davon, dass auch der Buchhandel weitgehend in öffentlicher Hand war, und sie verband sich zwanglos mit den Maßnahmen der Planwirtschaft, wie mit außenpolitischen Rücksichten.21 Während dies alles in Berlin entschieden wurde, waren mit der Ausführung auch regionale Stellen beschäftigt, wie am Buchhandelsplatz Leipzig die »Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen«, Instruktionen und Initiativen kamen jedoch nach wie vor aus Berlin und aus Moskau. Dies gilt auch für ein Unternehmen, das sich noch im Sommer 1945 in Berlin, später in Leipzig, etablierte, den SWA-Verlag, benannt nach der russischen Bezeichnung der Militärregierung. Ausgehend von den Reparationsleistungen erhaltener oder notdürftig instandgesetzter Druckereien in der SBZ (im Dezember wurden dem Verlag alle Leipziger Druckereien unterstellt!), waren sowjetische Verlagsleute nach Berlin gereist, um dafür einen eigenen Verlag zu gründen, der sich nebenher zum Vermittler russischer Literatur für deutsche Leser entfaltete. Erster Chefredakteur wurde M. P. Sokolow, der von einer Verlagsleistung von über 200 Titeln in zehn Millionen Exemplaren zwischen 1946 und 1949 und von einer besonderen Arbeit berichtet: Neben der Herausgabe von Büchern für die deutsche Bevölkerung erfolgte auch die Herstellung von Büchern für die Sowjetunion. Ein großer Teil dieser Bücher wurde von Matrizen gedruckt, einige in einer deutschen Druckerei gesetzt. Für diese Arbeit war eine Produktionsabteilung eingerichtet worden, in der die sowjetischen und deutschen Spezialisten Hand in Hand arbeiteten. Die Qualitätskontrolle der Publikationen erfolgt in der Kontrollstelle im Gebäude der Firma Volkmar [!]. Die Kontrolle wurde von deutschen Angestellten durchgeführt, hauptsächlich von Frauen. […] Für die Sowjetunion wurden viele Schulbücher, Wörterbücher, einbändige Ausgaben russischer klassischer Schriftsteller, die gesammelten Werke M. J. Lermontows und A. P. Tschechows, Alben, Plakate, Tafelbilder für Lehrzwecke, Kunst22 drucke und Kunstpostkarten hergestellt.
20 Siehe Florian Achthaler:1930–1996: Die Verlagsentwicklung nach dem Tod von Eugen Diederichs, S. 108 21 Vgl. insgesamt zum Zensurthema Lokatis: Verantwortliche Redaktion sowie Lokatis (Hrsg.): Die Argusaugen der Zensur. 22 Sokolow: Bücher aus Leipzig, S. 472–473.
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In seiner Doppelfunktion als Reparations-Instanz und Pflegestätte des ›Kulturellen Erbes‹ blieb dieser Verlag einzigartig. Deutsche bedurften wie in den anderen Zonen für die Wiederaufnahme oder den Neubeginn einer Verlagstätigkeit, nach Überprüfung der beteiligten Personen, einer besonderen Lizenz der SMAD, das galt für private wie für organisationseigene Verlage. Allein in der ersten Zeit konnten nichtlizenzierte Verlage Einzelgenehmigungen zum Ausverkauf von Restbeständen oder zum Druck einzelner Titel erhalten. Lizenziert wurden schon im Sommer 1945, formal gegründet als Firmen nach deutschem Gesellschaftsrecht, der KPD-Parteiverlag Neuer Weg, der Aufbau-Verlag als Literaturverlag des Kulturbundes für die demokratische Erneuerung Deutschlands, der Deutsche Bauernverlag und der Schulbuchverlag Volk und Wissen, alle in Berlin. Ab 1946 wurden dann in einem Auswahlverfahren fünf Leipziger Privatverlage auf Drängen der deutschen Funktionäre von der SMAD lizenziert: Insel, Seemann, Reclam, Breitkopf & Härtel und Kiepenheuer, vier weitere folgten schnell. Für die nicht lizenzierten Verlage bestand der Plan, sie entweder in Arbeitsgemeinschaften wie die neugegründete Arbeitsgemeinschaft der medizinischen Verlage zu »kollektivieren« oder unter dem Dach des Verlags Volk und Wissen weiterzuführen. Um die drohende Abwanderung von Firmen zu unterbinden und damit die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Westen zu erhalten, erfolgten aber bald weitere Lizenzierungen, sodass bis zur Staatsgründung insgesamt über 170 (mit den in Arbeitsgemeinschaften zusammengefassten Firmen an die 200) Verlagslizenzen erteilt sein würden – allerdings nur ein Bruchteil des Vorkriegsbestandes im selben Gebiet. Darunter befanden sich noch zahlreiche Privatfirmen, für deren Erhaltung sich unter anderem die Liberal-Demokratische Partei stark machte. In ihrem Namen veröffentlichten mehrere Unterzeichner die Erklärung Über die Unentbehrlichkeit der Privatverlage für den Neuaufbau des deutschen Kulturlebens, eine vehemente Verteidigung der »verlegerischen Persönlichkeit«, die, unter dem Nazi-Regime unterdrückt, nun vom Zentral- und Massenmarkt bedroht sei. Zu den Unterzeichnern gehören auch zwei bekannte Verleger: Wilhelm Goldmann, der bald darauf in ein sowjetisches Lager kommt,23 und Felix Meiner, der 1947 eine Verlagslizenz erhält, aber 1951 Leipzig verlassen wird.24 Die Zukunft der Verlage, die sich bei Kriegsende an ostdeutschen Standorten befanden, war zunächst unübersichtlich, erste Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse erfolgten schon 1945 im Zuge der Entnazifizierung durch die von der SMAD eingesetzten deutschen Behörden.25 Verlage bemühten sich um eine Sitzverlegung. Vor allem die Wissenschaftsverlage mit ihren wichtigen und oft internationalen Autorenrechten, Zeitschriftenprojekten und institutionellen Beziehungen waren infolge der Kommunikations- und Verrechnungsschwierigkeiten in einer prekären Situation.26 Bedrängt von Zensurmaßnahmen, Steuerforderungen und dem Wettbewerb mit Staatsunternehmen einerseits, der zunehmenden Abwanderung von Eigentümern sowie von Ausgründungen in Westdeutschland und nachfolgenden Rechtsstreiten und Enteignungen andererseits, blieben
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Goldmann Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 1651–1656. Siehe z. B. Wurm: 150 Jahre Rütten & Loening, S. 153–154. Vgl. Seemann: Parallelverlage im geteilten Deutschland, S. 3–4.
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von allen ursprünglichen Privatverlagen am Ende der DDR mit staatlicher Beteiligung oder unter staatlicher Treuhandschaft bzw. Verwaltung noch sechs tätig: Insel-Verlag Anton Kippenberg, Paul List Verlag, Verlag Philipp Reclam jun., B. G. Teubner Verlagsgesellschaft, Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig und S. Hirzel Verlag, alle in Leipzig.27 Mehr und mehr bildet sich ein Verlagssystem heraus, das ein ziemlich vollständiges Abbild der gesellschaftlichen Neuordnung darstellt. Bettina Jütte hat eine alphabetische Liste der irgendwann lizenzierten Verlage und Verlags-Arbeitsgemeinschaften in der SBZ zusammengestellt, die manchen unvermuteten Namen enthält. So finden sich hier zu bestimmten Zeitpunkten der Dresdner Kunstverlag Wolfgang Jess und der Rowohlt Verlag mit seiner Niederlassung im Sowjetischen Sektor von Berlin, der Julius Beltz Verlag in Langensalza und der Verlag Chemie in Berlin (beide bald in Weinheim), der Deutsche Funk-Verlag in Berlin und Eduard Stichnote in Potsdam. Aus der chronologischen Liste geht die Häufung von Lizenzen im Jahr 1947 hervor. Erst mit Beginn der fünfziger Jahre werden die Behörden der DDR in einer Aktion zur Neulizenzierung der Verlage die drastische Kürzung bewirken, die schließlich zu dem reduzierten Bestand von 1990 führt. Offenbar genoss der vertreibende Buchhandel nicht dieselbe Aufmerksamkeit im Aufbauprogramm der SMAD wie das Verlagswesen.28 Hier wurden Firmen nach Überprüfung der Inhaber und leitenden Angestellten durch die örtlichen Stellen, in Leipzig durch die Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen, zugelassen oder gegebenenfalls geschlossen, allerdings konnten auch ehemalige Parteimitglieder die Zulassung erhalten, wenn keine besonderen Beschuldigungen vorlagen. Vor allem dem akuten Bedarf von Parteien und Kommunen dienten lokale Gründungen, die Buchhandlung Franz-MehringHaus in Leipzig, im Besitz der KPD, sollte zum Musterladen werden. 1947 wurden die verstreuten Neugründungen zu regionalen Gesellschaften des Volksbuchhandels zusammengefasst, sie unterstanden den Landesleitungen der SED und später deren Holding VOB Zentrag, erst 1952 kam es zu einer einheitlichen Buchhandelsorganisation in den Händen der Staatspartei. Deren Interesse am Betrieb von Buchhandlungen, Druckereien und Verlagen erwies sich als ebenso umfangreich wie diskret, vieles wurde erst nach 1990 öffentlich gemacht. Neben 755 Volksbuchhandlungen bestanden 1962 noch immer 447 Privatbuchhandlungen, deren Zukunftsaussichten sich jedoch immer mehr verschlechterten. Industriebetriebe, Armee und gesellschaftliche Organisationen organisierten ihren eigenen Buchvertrieb, einige Läden der sowjetischen Meshdunarodnaja Kniga kamen hinzu, sie wurden später als Internationale Buchhandlungen dem Volksbuchhandel angegliedert. Zu einem besonderen Problem geriet der Vertrieb »buchhandelsgängiger« Zeitschriften, er wurde dem Sortiment nach und nach entzogen und bei Post und LKG zentralisiert. Der buchhändlerischen Ausbildung wurde sofort große Aufmerksamkeit zuteil. Schon am 15. Oktober 1945 nahm die 1853 feierlich gegründete Deutsche BuchhändlerLehranstalt in Leipzig den Unterrichtbetrieb in provisorischen Quartieren wieder auf.29 Die Eile war begründet, es galt nicht nur, Nachwuchs für die Zukunft auszubilden,
27 Zu den Enteignungen siehe Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland, S. 241–242. 28 Vgl. Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 211–247, hier S. 211. 29 Vgl. Riese: Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig.
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sondern auch viele im Volksbuchhandel bereits eingesetzte, aber nicht vorgebildete Kräfte zu fördern. Das Lehrinstitut des Börsenvereins wurde anfangs unter die Verwaltung der Stadt und des Landes gestellt und 1972 in die Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels umgewandelt. Wie eng der Traditionszusammenhang in der beruflichen Bildung anfangs noch war, zeigt die Gründung einer »Arbeitsgemeinschaft Jungbuchhandel« im Jahre 1948 ebenso wie die Darstellung der Jungbuchhandelsbewegung durch den DDRAutor Harry Fauth, der auch ein elementares Taschenbuch des Buchhändlers verfasste.30 In einem anderen Fall verdunkelte die Tradition das Gedächtnis der Zeitgenossen: Gerhard Menz, Verfasser eines Kommentars zur »Reichskulturkammergesetzgebung« von 1938, wird als Vordenker eines fortschrittlichen Buchhandels bei Fauth/Hünisch gleich zweimal erwähnt.31 1949 erschien seine Gutenberg-Fibel bei Rütten & Loening in Potsdam. Auch im traditionellen Zwischenbuchhandel am Leipziger Platz blieb es zunächst beim alten Bild, bisherige Firmen, allen voran Koehler & Volckmar, nach 1948 wegen einer Antiquariatsaffäre unter Treuhandschaft, dann VEB, konnten ihre Arbeit wieder aufnehmen, die 1946 gegründete Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel GmbH (LKG) war noch nicht der Monopolbetrieb späterer Jahre. Umgekehrt wirbt die nach Frankfurt am Main umgesiedelte Kommissions-Firma Carl Fr. Fleischer (Inhaber W. Klemm) noch 1947 mit Vertretungen in Berlin und Leipzig.32 Aber natürlich war das Geschäftsfeld des Zwischenbuchhandels gegenüber Vorkriegszeiten deutlich verkleinert. Über die Wiederaufnahme des vor dem Krieg beträchtlichen Außenhandels mit Büchern wissen wir wenig. Quellen beschränken sich auf die Erwähnung einer Vorstandssitzung des Leipziger Börsenvereins zu diesem Thema im Jahre 1947, erst 1953 wurde zu diesem Zweck die Deutsche Buch-Export- und Import GmbH gegründet. Das Ausfuhrgeschäft, oft in Gegenrechnung, blieb weitgehend den Verlagen überlassen. Größtes Hindernis im Außenhandel der SBZ blieb die nicht konvertierbare Binnenwährung, die mit der Währungsreform von 1948 entstanden war. Auch wenn das bibliophile Interesse privater Sammler nicht als förderungswürdig galt, spielte der Antiquariatsbuchhandel in den Nachkriegsjahren als Beschaffungsquelle eine wichtige Rolle. Nach dem Adressbuch von 1948 bestanden in der SBZ 376 Buchhandlungen mit Antiquariat, darunter 79 Neugründungen, die Mehrzahl von ihnen in privater Hand.33 Die Erwerbung geschah nicht selten im Tausch Buch gegen Buch (gelegentlich auch Buch gegen Ware), die Preisbildung blieb dabei ein anhaltend diskutiertes Thema. Der schwer zu kontrollierende Handel mit gebrauchten Büchern, ähnlich wie der Leihbuchhandel, galt als Problem der Aufsichtsbehörden. Auch das Interesse an Buchkunst musste vor den praktischen Bemühungen um den Wiederaufbau von Verlagswesen und Buchhandel zunächst zurückstehen, die Aufmachung der ersten Bücher des Aufbau-Verlages konnte altmodischer nicht ausfallen.34 Aber auch mit veränderten Verhältnissen und erwachendem Exportinteresse verhinderte die neue Kunstauffassung ei-
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Fauth: Zur Geschichte des Jungbuchhandels in Deutschland 1923–1933. Fauth/Hünisch: Zur Geschichte des Buchhandels, S. 86 und S. 108. Handbuch der Lizenzen deutscher Verlage, Anzeigenanhang. Vgl. Karla: Die Entwicklung des Antiquariatsbuchhandels in der SBZ und der DDR bis 1966 sowie Karla: Der Handel mit antiquarischen Büchern aus der DDR in die BRD. 34 Wurm: Gestern, Heute, Aufbau, S. 23 (Abb.).
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nen entschiedenen Rückgriff auf die fortschrittliche »elementare Typographie« der zwanziger Jahre, die Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne deutete der aus dem Westen kommende Albert Kapr, ab 1948 Dozent an der Weimarer Hochschule, ab 1951 Professor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, immerhin an.35 Die Leipziger Verkehrseinrichtungen des alten Börsenvereins, die nach dem Krieg noch vorhanden waren, sowie die Leipziger Kommissionäre ließen das Wiederaufleben des alten Zentralplatzes für eine Weile so erwünscht wie möglich erscheinen. In Leipzig bestand seit der amerikanischen Besatzung der erwähnte Aktionsausschuss für den Börsenverein, damals hatten Theodor Volckmar-Frentzel und Hans Brockhaus als Garanten einer baldigen Wiedererrichtung des Vereins gegolten, aber jetzt gab es Schwierigkeiten. Nachdem Hans Brockhaus der neuen Verlagsgründung in Wiesbaden gefolgt war, hatte man Walter Jäh (Carl Marhold, Halle) und Theodor Volckmar-Frentzel als Abwesenheitspfleger des letzten Vorstandes aus Nazi-Zeiten bestellt, erhebliche Änderungen in der Verbandsstruktur wurden beschlossen, weitere Mitglieder, darunter Heinrich Becker, in den Ausschuss berufen. Trotzdem verweigerte die SMAD eine Lizenzierung des diskriminierten Berufsverbandes. Erst nach dem Votum Anton Ackermanns, der 1945 mit der gleichnamigen Gruppe von Moskau nach Sachsen gekommen war und jetzt im Zentralsekretariat der SED amtierte, gelang es, die Lizenz für Börsenverein und Börsenblatt rückwirkend zum 15. Juni 1946 doch zu erwirken. Der Verleger Ernst Reclam wurde zum Vorsteher, Heinrich Becker zum Stellvertreter bestellt, 1948 rückte Becker als Vorsteher auf, während Reclam 1950 nach Stuttgart übersiedelte. Volckmar-Frentzel wurde 1946 in ein sowjetisches Speziallager verbracht, er verließ nach der Entlassung Leipzig in Richtung Stuttgart, wo sich inzwischen die westdeutsche Niederlassung seines Konzerns befand. Mit dem Titel Über die demokratische Neuordnung des Börsenvereins erschien am 14. Januar 1947 in der Leipziger Zeitung ein Artikel von Heinrich Becker, der diese Umstände nicht ahnen lässt.36 Die Schriftleitung bemerkte dazu: Für Leipzig sind die Ereignisse innerhalb des Börsenvereins noch von besonderer Bedeutung, weil unsere Stadt auch heute noch trotz aller zeitbedingten Schwierigkeiten sowohl institutionell wie personell und technisch die deutsche Buchstadt ist und, wie wir gewiß sind, auch bleiben wird.
Verändert sind in der neuen Satzung nach Becker drei Dinge: Die Mitgliedschaft ist allen Beschäftigten (nicht nur Firmeninhabern) zugänglich, Gewerkschaft und öffentliche Verwaltung sind künftig an Vorstand und Hauptausschuss beteiligt, und der Vorsteher hat bei Stimmengleichheit kein Sondervotum mehr. Zweifler werden um Einsicht gebeten. Spannungen zwischen Börsenverein und SED kulminierten, als der Verleger Hans Wunderlich, Vorstand der Kreisgruppe Leipzig des Börsenvereins, 1948 die weitere Lizenzierung von Privatverlagen forderte.37 Der Börsenverein wurde stillschweigend im Sinne der Partei umorganisiert, Wunderlich ging mit dem Ernst Wunderlich Verlag
35 Kapr: Zur Buchkunst in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 173. 36 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 1657–1660. 37 Bille: Der Börsenverein, S. 187–189. Wunderlich gehörte zu den Unterzeichnern der Denkschrift »Über die Unentbehrlichkeit der Privatverlage …« (S. 7).
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in den Westen. Dort hatte die Etablierung eines überregionalen Börsenvereins allerdings noch größere Widerstände zu überwinden. Zwar schien nach der Einrichtung der Wiesbadener »Zweigstelle« schon im Herbst 1945 das Problem gelöst, und zwar durch die Gründung eines »Börsenvereins der Deutschen Buchhändler« in Stuttgart mit Horst Kliemann und Georg Kurt Schauer an der Spitze, sie wurde aber schon eine Woche später von der amerikanischen Militärregierung OMGUS, die gegen Kliemann Entnazifizierungs-Vorbehalte vorbrachte, widerrufen. So blieb es bei Landesverbänden, erst 1949 gelang in Frankfurt die Gründung eines Frankfurter Börsenvereins, zunächst als Verband der Regionalverbände.
Zwischen den Teilen: Zweiseitige Beziehungen Bei allen kollektiven Vorbehalten bestanden in den ersten vier Nachkriegsjahren nicht wenige persönliche Kontakte. Im Osten gab es biographische Beziehungen aus dem kommunistischen Buchwesen der Weimarer Zeit oder der Verlagsarbeit in Moskau, so zwischen Anton Ackermann, Fritz Schälicke, Michael Tschesno-Hell und Erich Wendt. Es gab aber auch alte Bekanntschaften mit Fachkollegen, die jetzt im Westen tätig waren, wie mit Theo Pinkus in Zürich, Alfred Grade in Frankfurt, den Verleger-Brüdern Johannes und Richard Weiß in Berlin, Curt Weller am Bodensee oder Kurt Desch in München. Darüber hinaus gab es neue Gelegenheiten. Die Bielefelder Tagung vom Februar 1947 anlässlich einer Ausstellung »Deutsches Buchschaffen – 1945/46« war eine der ersten öffentlichen Begegnungen im Westen, an der auch Delegierte aus Leipzig teilnahmen. In einem Punkt sollte sie sogar zu einem Ergebnis führen. Das Adreßbuch des Deutschen Buchhandels, immer schon ein Garant der Einheit der Branche, war zuletzt 1942 erschienen. Eine Neuausgabe war daher mehr als ein Arbeitsmittel, sie wurde anlässlich der Tagung in Bielefeld erörtert und bald darauf in Leipzig vorbereitet. Der Band erschien im Herbst 1948 mit der Angabe »105. Jahrgang 1948« im Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig und im »Hochspannungskraftfeld der Weltmächte-Auseinandersetzungen« (Börsenblatt, Frankfurt, 24/1948, S. 917). Allerdings stieß der Bezug für westdeutsche Besteller auf Schwierigkeiten, die erst im Frühjahr 1949 beseitigt waren. Ebenso umständlich waren Beratungen über die Fortführung der Nationalbibliographie verlaufen. Nachdem die letzten Folgen des Leipziger Deutschen Bücherverzeichnisses Anfang 1945 erschienen waren, stockte nun der Versand der dazu benötigten Belegexemplare aus den West-Zonen an die Deutsche Bücherei in Leipzig, während die neugegründete »Deutsche Bücherei im Westen« (bald Deutsche Bibliothek) in Frankfurt ihrerseits auf der Sammlung aller Neuerscheinungen bestand. Auch dieses Problem wurde durch Zweiteilung gelöst: Von 1946 und bis 1985 gab es zwei deutschsprachige Bibliographien an zwei Standorten. West-Verleger, die weiterhin auch Belege nach Leipzig schickten, konnten später eine Plakette aus Meissner Porzellan mit der Prägung »Gesamtarchiv des deutschsprachigen Schrifttums« von der Deutschen Bücherei erhalten. Diese hinwiederum befand sich anfangs im Interessenkonflikt zwischen der Zentralverwaltung in Berlin, dem Land Sachsen und dem Standort Leipzig, entwickelte aber im Außenverkehr eine zunehmende Gegenposition zu Frankfurt. Im Laufe der Jahre entstand hier so etwas wie eine »sozialistische Nationalbibliothek«.38 38 Rau: »Nationalbibliothek«, Kap. IV.
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Während der Frühjahrsmesse fand im März 1947 ein Treffen in Leipzig statt, an dem die Verantwortlichen des Börsenvereins, unter ihnen Heinrich Becker und der Oberbürgermeister von Leipzig, Verleger und Buchhändler aus der ganzen SBZ, einige Vertreter westdeutscher Landesverbände, unter ihnen Alfred Grade, sowie neben Kulturoffizieren der SMAD auch der Chef der amerikanischen Information Control teilnahmen. Besprochen wurden in dieser ungewöhnlich zusammengesetzten Runde verschiedene Themen des Buchhandels, Oberstleutnant W. A. Koltypin von der SMAD verkündete die Aufhebung der Vorzensur durch seine Behörde. Bessere Möglichkeiten für Herstellungsaufträge aus dem Westen wurden versprochen, was wiederum neue Verrechnungsmöglichkeiten für den Interzonenhandel implizierte, auch eine Zusammenarbeit in der Bibliographie und bei buchhändlerischen Hilfsmitteln stand zur Beratung. Bestehende Differenzen wurden zwischen Heinrich Becker und Alfred Grade diskutiert. Der Tagungs-Bericht von Vorsteher Ernst Reclam ließ den Eindruck entstehen, dass die Aufhebung der Zonengrenzen und damit die überregionale buchhändlerische Zusammenarbeit in absehbarer Zeit erwartet, jedenfalls aber immer noch gewünscht worden seien.39 Nicht zufällig hatte am Vortag eine öffentliche Veranstaltung »Deutsche Einheit und Buchhandel« in Leipzig stattgefunden, mit hoffnungsvollen Ansprachen von Felix Meiner und Professor Theodor Litt, allerdings auch mit kulturrevolutionären Untertönen.40 Alfred Grade (1899–1984), der hier den Hessischen Buchhändler-Verband vertrat, kannte sich im linken Milieu aus, er war vor 1933 im damaligen »Volksbuchhandel« Halle tätig gewesen, 1920 Mitglied der KPD geworden und nach KZ-Haft 1945 der SPD beigetreten. Sein Engagement in den Verhandlungen mit dem Osten fand im Westen nicht immer Beifall. Später gehörte er zu den Mitorganisatoren der Frankfurter Buchmesse. Die ersten Geschäftsbeziehungen zwischen ost- und westdeutschen Verlagen bestanden im Austausch von Verlags- und Vertriebsrechten, wie zwischen dem Aufbau-Verlag in Berlin und dem aufsteigenden Verlag von Kurt Desch in München – zwei Neugründungen. Unter anderem gingen Lizenzen für Anna Seghers (Das siebte Kreuz) und Theodor Plievier (Stalingrad) an Desch, für Günther Weisenborn (Memorial) und Wolfgang Langhoff (Die Moorsoldaten) an Aufbau.41 Eine Lizenz für Stalingrad hatte Aufbau, je nach Vertriebsgebiet, auch an Globus in Wien, an RoRoRo in Hamburg und an Werner Wulff in Überlingen vergeben. Wie Desch konnten sich die Gebrüder Weiß auf alte Verbindungen berufen, als sie mit Brecht-Rechten und mit Lizenzen aus dem AufbauVerlag, ausgestattet mit einer amerikanischen Lizenz vom Dezember 1945, in Berlin ein linkes Verlagsprogramm eröffneten. Ähnliches hatte Ernst Rowohlt im Sinn, als er im November 1947 eine Ost-Berliner Verlagslizenz erhielt, sogar an eine »Interessengemeinschaft« mit dem Aufbau-Verlag dachte er.42 Er und Klaus Gysi nahmen am Ersten Deutschen Schriftstellerkongress in Berlin teil.
39 Zitiert bei Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 1275. 40 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 1278–1283. 41 Siehe Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt, S. 172, sowie Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland, S. 84–85. 42 Siehe auch Janka: Exposé zwecks Beschlussfassung über die Gründung einer Filiale des Aufbau-Verlages in Hamburg (1955). In: Janka: … bis zur Verhaftung, S. 150–155.
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Der unkörperliche Verkehr über Lizenzen, wie er im internationalen Verkehr üblich ist, war für das geteilte Land ein Ausweg. Eine besondere Bedeutung nach Umfang und Problematik bekam der Lizenzverkehr zwischen Verlagen mit neu gegründeten Niederlassungen in Westdeutschland. So hatten der Reclam Verlag in Leipzig und seine Stuttgarter Niederlassung bereits 1947 einen Vertrag geschlossen, nach dem Stuttgart für alle westlichen Besatzungszonen Lizenzen aller bestehenden und künftigen Verlagsrechte des Leipziger Verlages zugesprochen erhielt – gegen Abtretung der Hälfte aller daraus erwirtschafteten Gewinne.43 Ernst Reclam, der diesen Vertrag in Leipzig unterschrieb und bis 1948 Vorsteher des Leipziger Börsenvereins war, hatte so versucht, eine Lösung für das entstehende Problem von Parallelverlagen zu finden, aber die SMAD verdächtigte ihn illegaler Transaktionen. 1950 kehrte er von einer Kur in Bayern nicht nach Leipzig zurück und blieb nun auch dem Stuttgarter Verlag fern. Der Leipziger Verlag wurde unter Treuhandverwaltung gestellt. Neben dem Lizenzverkehr entstanden in beschränktem Umfang auch Handelsbeziehungen zwischen den Zonen.44 Über den Umfang dieses viel diskutierten Interzonenhandels mit Büchern und Zeitschriften zwischen West und Ost bis 1949 wissen wir wenig. Obwohl die Besatzungsmächte ab Ende 1945 einen geordneten, aber vielfach beschränkten allgemeinen Interzonenhandel für alle vier Zonen erlaubt hatten, ab 1947 ausdrücklich auch für den Handel mit der SBZ, spricht Umlauff von einem »Tabu«, das für das Börsenblatt wie für Sitzungsprotokolle galt. In einem Bericht von Alfred Grade als Vorsitzendem des Hessischen Verleger- und Buchhändler-Verbandes, 1948 erstattet, heißt es: Nachdem der Bücheraustausch zwischen Berlin und Leipzig und den Westzonen mühselig angelaufen war, erfolgte im Juni 1946 ein Verbot der Einfuhr aller Schriften aus der Ostzone. Als es erfreulicherweise schon im Oktober 1946 aufgehoben worden war, setzte sofort ein lebhafter Bücheraustausch ein. […] Es ist nicht mehr in erster Linie politische Literatur, die vom Osten nach dem Westen flutet, sondern täglich treffen hier große Mengen wissenschaftli45 cher, schöngeistiger, technischer und sonstiger Bücher aus dem Osten ein.
Umlauff berichtet von praktischen Vorschlägen für die Einschaltung von Kommissionären auf beiden Seiten, die der Buchhändler Otto Dausien (Halle) 1948 im Leipziger Börsenblatt machte. Dass zunächst ein beträchtlicher irregulärer Tausch-, Geschenkund Schleichhandelsverkehr mit Büchern und Zeitschriften stattfand, war allen bekannt. Im regulären Handel gab es bald nach Titeln und Einfuhrgebieten wechselnde Bezugsverbote durch Militärregierungen. Immerhin hatte die SBZ schon ab 1946 Vorschriften für die Lieferung von Büchern in andere Zonen erlassen, so ist die Rede von anfänglichen Bezügen westdeutscher Buchhandlungen über »ihren« Kommissionär Volckmar in Leipzig.46 Grossisten im Westen spezialisierten sich auf den Bezug aus der SBZ/DDR, wie KAWE in Berlin oder Santo Vanasia GmbH in Köln, aber auch Globus Verlag in
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Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen des Möglichen, S. 55. »Versendungsmöglichkeiten« in die West-Zonen. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 1209–1210, im Folgenden Sp. 1335. Sarkowski: Die Anfänge des deutsch-deutschen Buchhandelsverkehrs, S. 92.
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Wien und Pinkus & Co in Zürich.47 Erst mit der Währungsumstellung von 1948 wurde aus dem Interzonenbuchhandel ein durch Quoten regulierter Warenaustausch zwischen West und Ost nach Verrechnungseinheiten. Noch im Oktober 1947 hatte es Ansätze zu einer überzonalen Zusammenarbeit der verschiedenen Buchhandelsorganisationen gegeben, ein »Arbeitsausschuß Deutscher Buchhandels-Verbände« sollte die Aufgabe übernehmen, der Leipziger Börsenverein, die Arbeitsgemeinschaft der britischen Zone und die Berliner Verleger- und Buchhändler-Vereinigung waren dazu in Berlin zusammengetreten, die Vertreter aus der französischen Zone durften nur beobachtend teilnehmen, die aus der amerikanischen hatten Reiseschwierigkeiten.48 Wirkungen hatte das Unternehmen nicht. Der Übergang von den zweiseitigen Verhandlungen und Absprachen innerhalb der getrennten Buchhandelssysteme zur politischen Konfrontation lässt sich an den beiden Börsenblättern ablesen. Während das Leipziger Börsenblatt seit 1946 einen kooperativen Kurs verfolgte und auch über den westdeutschen Buchhandel berichtete, und die Frankfurter Ausgabe (seit 1945) sich aller Polemik enthielt, änderte sich das Verhältnis, »ausgelöst durch die Währungsreform und die Verkündung des ersten Zweijahresplanes« (Umlauff) mit einem Artikel von Heinrich Becker im Leipziger Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 42 von 1948: Die Ostzone zwingt zur Entscheidung: nicht zur Entscheidung für eine Partei – das ist eine der böswilligen Sinnverdrehungen, mit denen unsere Gegner stets bei der Hand sind –, aber zur Entscheidung für oder gegen eine Haltung, die bereit ist, den allgemeinen Erfordernissen den Vorrang zuzuerkennen vor den privaten Interessen des Einzelnen, und die den wirklichen Bedarf des am Wiederaufbau tätigen Menschen für wichtiger halten, als die Pflege »geistiger« 49 Interessen einer dünnen Schicht bürgerlicher Intellektueller und Ästheten.
Der westdeutsche Börsenverein beantwortete diesen klassenkämpferischen Aufruf mit einer Sperre des Frankfurter Börsenblatts für Beiträge aus Leipzig. Die sich verschärfende Konfrontation betraf dann vor allem Realgüter, so das Restvermögen des alten Börsenvereins, die Buchmessen und, zunehmend, die Existenz der Parallelverlage, die auf ihren Rechtsansprüchen bestanden und auch den Frankfurter Börsenverein in Konflikte brachten: Martin Giesecke vom Teubner Verlag, ab 1952 in Stuttgart, war einer ihrer Wortführer.50 Noch vor solchen Frontenbildungen hatte im Juni 1947 im britischen Sektor von Berlin eine Vierzonen-Ausstellung »Das neue Buch« stattgefunden, sie war mit einer Tagung von 600 Verlegern und Buchhändlern verbunden, die mühevoll aus allen Zonen anreisten, und ließ auf weitere persönliche Begegnungen hoffen, wie sie die Buchmessen der Vergangenheit geboten hatten.51 Während der Aufbau einer Buchmesse im Westen eine längere Vorbereitung brauchte – 1949 fand die erste in der Frankfurter Paulskirche
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Vgl. Saur: Der innerdeutsche Handel. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 265–266. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 1317–1318. Seemann. Parallelverlage, S. 453–454 und öfter. Den Eindruck einer eher restaurativen Veranstaltung vermittelt Krause: Buch und Buchproduktion in der Viersektorenstadt, S. 136–140.
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statt – bot Leipzig mit der schon seit 1946 wiedereröffneten Mustermesse die Möglichkeit, auch Verlagserzeugnisse auszustellen, ab 1947 erschien eine Messe-Ausgabe des Leipziger Börsenblatts. Ab 1949 fand die Buchmesse, bei zunehmender Beteiligung westdeutscher Verlage, ihr eigenes Quartier im Hansahaus, ab 1974 nur noch während der Frühjahrsmesse.52 Die zuvor zweimal jährlich stattfindenden Buchmessen boten dem Buchhandel der SBZ die Möglichkeit des direkten Bestellverkehrs, bald auch den westdeutschen und ausländischen Ausstellern und Kommissionären die Möglichkeit direkter Kontakte. Vereinfachte Einreise- und Unterkunftsbedingungen machten die Buchmesse zum beliebten Treffpunkt ost- und westdeutscher Verlagsleute und Literaturfreunde, auch wenn die Warenkontrolle immer wieder für Ärger sorgte. Nach der doppelten Staatsgründung und dem nun unübersehbar gewordenen ›Kalten Krieg‹ wurden die Buchmessen in Frankfurt wie in Leipzig (und später am ›dritten Ort‹ in Warschau) zum halboffiziellen Treffpunkt der geteilten Branche, aber auch zum bevorzugten Austragungsort schwerer diplomatischer Auseinandersetzungen. Zwischen 1945 und 1949 gab es immer wieder Beschwörungen der (schon seit 1933 beschädigten) Vergangenheit der Buchstadt Leipzig mit der Ruine des wilhelminischen Deutschen Buchhändlerhauses als Emblem, aber nur in dieser Metageschichte war Leipzig noch ein Zentrum. Alle grundsätzlichen wie praktischen Anweisungen zum Buchwesen kamen jetzt aus Berlin, das betraf den Buchhandel ebenso wie die Organisation der Schriftsteller 53 oder den Aufbau des Bibliothekswesens,54 und darüber hinaus den gesamten Umgang mit Kultur. Damit verloren auch die Spekulationen über eine wiederherzustellende Einheit des Buchhandels ihren Bezugspunkt. Allein als Messestandort blieb Leipzig von Bedeutung. Es ist der lange Traditionsschatten der Buchstadt, der dieses Faktum immer wieder vergessen ließ.55 Wie ging die Geschichte zweier Buchwirtschaften weiter? Mit zunehmendem Abstand vom Kriegszustand und mit der sich spätestens seit 1948 ankündigenden Zweistaatlichkeit wurden die Beziehungen formeller und die konjunkturellen Unterschiede immer deutlicher.56 Während in der Bundesrepublik um 1949 eine »Krise des Buchhandels« ausgerufen wurde, die in Wirklichkeit den Übergang vom Produzentenmarkt der Kriegs- und Nachkriegszeit zum Konsumentenmarkt des Aufschwungs bedeutete,57 stellte sich das Buchwesen der DDR nach dem 3. Parteitag der SED von 1950 und der staatlichen »Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur« von 1951 auf eine politische wie organisatorische Neuordnung ein, die in der Gründung des »Amts für Literatur und Verlagswesen« bei der Regierung der DDR ihren institutionellen Ausdruck fand. So verfestigte sich im Osten das Kontroll- und Planungssystem zu einer »unendlichen Verlängerung der Nachkriegsperiode«,58 während der Buchhandel im Wes-
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Saur: Die Leipziger Buchmesse 1946 bis 1989. Vgl. Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, S. 40–44. Vgl. Göhler: Bildung durch Bücher. Keiderling: Aufstieg und Niedergang der Buchstadt Leipzig, S. 157–159. Vgl. Altenhein: Der geteilte Buchhandel 1945–1990. Umlauff: Der Buchhandel in der Krise. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag 1945–1961, S. 237.
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ten – nicht zuletzt mit Hilfe des Taschenbuchs und der Buchgemeinschaften – durch Modernisierung und Internationalisierung diese Periode hinter sich ließ. Damit blieb die Entwicklung der beiden Buchwirtschaften während der Zeit der Zweistaatlichkeit und bis zu deren Ende asymmetrisch und asynchron.
Literatur- und Quellenverzeichnis Der Aufbau des Buchhandels in den Besatzungszonen ist früh beschrieben und dokumentiert worden. Schon 1967/68 erschienen die ersten beiden Teile der umfangreichen, wiewohl unvollendet gebliebenen Darstellung von Ernst Umlauff (1896–1976) als Beilage zum Frankfurter Börsenblatt, 1970 folgte der dritte Teil Der Buchhandel im geteilten Deutschland und schließlich die Buchausgabe Der Wiederaufbau des Buchhandels. Beiträge zur Geschichte des Büchermarktes in Westdeutschland nach 1945 im AGB XVII (1977/78). Der frühere Geschäftsführer des Frankfurter Börsenvereins nahm dabei allerdings Rücksicht auf die kontroverse politische Lage. Ein redaktionelles Nachwort in der Buchausgabe gibt dazu einen Kommentar und erklärt den Bezug auf »Westdeutschland« im Untertitel. Perspektivische Einschränkungen gelten für die hier zitierten zeitgenössischen Arbeiten aus der DDR ebenso, wie für im Westen erschienene Erinnerungsschriften. Erst nach der Vereinigung und mit der allgemeinen Zugänglichkeit der ostdeutschen und der russischen Archive konnte eine unbefangene Forschung zu diesem Thema in Gang kommen, die sich in der Sekundärliteratur niederschlägt. Übersicht über die zunehmend verbesserte Quellenlage findet sich bei Jan Foitzik, Christoph Links und Bettina Jütte. Die inzwischen umfangreiche geschichtswissenschaftliche Literatur zur Teilung Deutschlands mit ihren divergierenden Ansichten zur sowjetischen Besatzungspolitik ist hier nur mit ausgewählten Arbeiten genannt, denen sich der Verfasser besonders verpflichtet fühlt.
Archivalische Quellen Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (StA-L) Bestand 21765 Börsenverein der Deutschen Buchhhändler zu Leipzig, Akte F 3978
Gedruckte Quellen Handbuch der Lizenzen deutscher Verlage. Berlin: Walter de Gruyter 1947. JANKA, Walter: … bis zur Verhaftung. Erinnerungen eines deutschen Verlegers. Berlin: Aufbau 1993. SOKOLOW, Michail Petrowitsch: Bücher aus Leipzig. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED / Kulturbund der DDR (Hrsg.): … einer neuen Zeit Beginn. Erinnerungen an die Anfänge unserer Kulturrevolution 1945–1949. Berlin: Aufbau 1980. WOLFF, Andreas (Bearb.): Das neue Buch. Katalog der Neuerscheinungen 1945–1947. Berlin: Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung 1947. »Versendungsmöglichkeiten« in die West-Zonen. In: Börsenblatt (Leipzig) 113 (1946) 1/2 vom 25. 8., S. 6. Zehn Jahre VEB Verlag der Kunst. Dresden: VEB Verlag der Kunst 1962 (Dezennium 1).
Forschungsliteratur ACHTHALER, Florian: 1930–1996: Die Verlagsentwicklung nach dem Tod von Eugen Diederichs. In: Gangolf Hübinger (Hrsg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. München: Diederichs 1996.
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Bettina Jütte 1.2
Nicht ohne Lizenz: Das Zulassungssystem für Verlage in der Sowjetischen Besatzungszone
Vorbemerkung Eines der großen Ziele der Alliierten im geteilten Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die sogenannte Entnazifizierung, die Zerschlagung des Nationalsozialismus. Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 hatte eine ganze Reihe von Maßnahmen zur »Umerziehung« der deutschen Bevölkerung vorgesehen. Für den Buchhandel bedeutete das zum einen, dass die im Umlauf befindliche Literatur überprüft und belastete Werke aus dem Verkehr gezogen werden mussten, und zum anderen sollte verhindert werden, dass neue Literatur dieser Art veröffentlicht werden konnte. Wie in den anderen drei Besatzungszonen auch, wurde dafür in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ein Lizenzierungssystem eingeführt, das heißt Verlage benötigten Arbeitsgenehmigungen. Zudem waren für einzelne Publikationen Druckgenehmigungen einzuholen. Ohne eine Verlagslizenz zu publizieren war nur Verlagen möglich, deren Lizenzanträge noch in der Schwebe waren. Sie konnten in der Anfangsphase mit einer Druckgenehmigung zumindest Neuauflagen und Restbestände bereits früher publizierter Titel verkaufen. Für die Veröffentlichung jeder Zeitschrift waren Zeitschriftenlizenzen zu beantragen.1
Die Kriterien Für Privatverlage, die bereits vor oder während der NS-Zeit existierten, war es in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nicht einfach, nach Kriegsende ihre Arbeit weiterzuführen bzw. neu aufzunehmen. Die Sowjetische Militäradministration Deutschlands (SMAD) wollte zunächst gar keine Privatverlage zulassen. Erst nach Gesprächen mit Vertretern der neuen deutschen Verwaltungen erklärte sie sich bereit, fünf Privatverlagen Arbeitsgenehmigungen zu erteilen. Was überzeugte sie, doch eine Handvoll Privatverlage zu lizenzieren und welche sollten das sein? Und was führte später dazu, dass neben den neu gegründeten Verlagen von Parteien, Organisationen und Institutionen letztlich doch um ein Vielfaches mehr Privatverlage lizenziert wurden, als dies ursprünglich geplant war? Es waren ihr internationales Ansehen und die bei ihnen liegenden Verlagsrechte, die den ersten Verlagen in der SBZ zu ihrer Lizenz verhalfen. Zwischen den Besatzungszonen entwickelte sich ein Konkurrenzkampf. Auch die Besatzungsmächte und Fachleute der anderen Besatzungszonen wollten die deutschen Traditionsverlage, die größtenteils in Sachsen ansässig waren, für sich gewinnen. Schon kurz nach Kriegsende hatten Vertreter der amerikanischen Besatzungsmacht vor ihrem Rückzug aus Gebieten der zukünftigen SBZ mehrere Verlage eingeladen, mit nach Wiesbaden in der zukünftigen
1 Der Beitrag basiert auf der im Jahr 2010 veröffentlichten Dissertation Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949) von Bettina Jütte. https://doi.org/10.1515/9783110471229-003
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amerikanischen Besatzungszone zu kommen, um dort Zweigstellen zu errichten. Ein neues Zentrum des deutschen Buchhandels sollte entstehen. Während die fünf Verlage Brockhaus, Breitkopf & Härtel, Insel, Thieme und Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung sogleich überzeugt waren und das Angebot annahmen,2 folgten ihnen andere Privatverlage erst später nach. Die Behörden in der amerikanischen und der britischen Besatzungszone luden in der SBZ ansässige Verlage weiterhin zu sich ein und stellten ihnen schnelle Lizenzen in Aussicht. Für die Verlage war das ein durchaus verlockendes Angebot, zumal ihre Situation in der SBZ lange unklar blieb. Dabei drohte nicht nur eine Filialgründung in einer der anderen Besatzungszonen oder einem westlichen Sektor Berlins, sondern eine vollständige Abwanderung, was auch einen Verlust der bei ihnen liegenden Verlagsrechte bedeutete. Insbesondere den Fachleuten in den neuen deutschen Verwaltungen der SBZ, wie Heinrich Becker, dem Leiter der Leipziger Zentralstelle für Buchund Bibliothekswesen, war sehr daran gelegen, Leipzig als traditionelles Zentrum des Buchhandels zu erhalten. Sie waren die Lizenztreiber in der SBZ. Zusammen mit den Verlagen übten sie massiv Kritik an den schleppenden Verfahren und verwiesen darauf, dass die Lizenzierungen in den westlichen Besatzungszonen schneller vorangingen. Die SMAD dagegen bremste zunächst. Wollte sie jedoch nicht riskieren, die großen Traditionsverlage gänzlich an die anderen Besatzungsmächte zu verlieren, musste sie handeln. Sie war im Zugzwang. Mit wenigen Ausnahmen waren die Privatverlage, die die SMAD dann im März und April 1946 lizenzierte, dieselben, mit denen bereits vorher die amerikanischen Besatzer erfolgreich Kontakt aufgenommen hatten und die bereits Zweigstellen in deren Besatzungszone gegründet hatten. Bestimmend für das Verlagswesen in der SBZ waren in erster Linie die Befehle, die die SMAD erließ. Für die Lizenzierungen relevant waren nur zwei Befehle, die jedoch beide hinsichtlich ihrer Durchführung unkonkret waren: SMAD-Befehl Nr. 19 vom 2. August 1945 und SMAD-Befehl Nr. 90 vom 17. April 1947. Der SMAD-Befehl Nr. 19 »Zur Verbesserung der Arbeit der Verlage und Druckereien und der Regelung der Kontrolle ihrer Tätigkeit« schrieb unter anderem vor, dass Bücher und Zeitschriften nur in Verlagen herausgegeben werden durften, denen dafür eine spezielle Genehmigung von der SMAD erteilt worden war. Für jede geplante Publikation war zudem eine Druckgenehmigung der SMA einzuholen. Nähere Angaben zum Verfahren oder den Kriterien für Verlagszulassungen fanden sich in dem Befehl nicht. Den zuständigen Institutionen wurde hier also ein großer Handlungsfreiraum gelassen, und sie konnten die Vorgehensweise weitgehend selbst bestimmen. Auch im SMAD-Befehl Nr. 90 vom 2. August 1945, mit dem der SMAD-Befehl Nr. 19 aufgehoben wurde, standen nicht die Lizenzierungen im Vordergrund. Er regelte vorrangig die Aufhebung der Vorzensur durch die SMAD für wissenschaftliche und schöngeistige Literatur, die stattdessen zukünftig Druckgenehmigungen vom im Sommer 1946 gegründeten, der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVV) angegliederten Kulturellen Beirat erhielten.3 Mit dem Befehl
2 Eingeladen waren ursprünglich auch die Verlage Reclam und Rauch, die jedoch ablehnten. Siehe auch Riese: Der Börsenverein, S. 180; Altenhein: Bemerkungen zum Verlagswesen der DDR, S. 6–14; Bille: Buchstadt ohne Filetstücke?, S. 37; Bille: Börsenverein, S. 167 und Umlauff: Wiederaufbau, Sp. 1221. 3 Siehe Kapitel 1.3 Kultureller Beirat für das Verlagswesen (Lisa Schelhas).
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Nr. 90 wurde jedoch die Unumgänglichkeit von Lizenzen hervorgehoben. Zum einen wurde wie schon in Befehl Nr. 19 bestimmt, dass Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und andere Publikationen nur in von der SMAD lizenzierten Verlagen veröffentlicht werden durften, zum anderen wurde angeordnet, dass Verlage ohne eine Lizenz keine Tätigkeit aufnehmen durften.4 In den ausgestellten Lizenzen sollte zukünftig festgelegt werden, welche Art von Literatur die Verlage herausgegeben durften. Konkrete Angaben zum Lizenzierungsverfahren enthielt auch der SMAD-Befehl Nr. 90 nicht.5
Die Institutionen Es war die Verwaltung der Sowjetischen Besatzungsbehörde, die Sowjetische Militäradministration Deutschlands, die in der SBZ Verlags- und Zeitschriftenlizenzen erteilte. Die »demokratische Neugestaltung des geistig-kulturellen Lebens« war Teil ihrer Aufgaben.6 Bis zum Sommer 1947 war zunächst allein die zentrale SMAD mit Sitz in BerlinKarlshorst und innerhalb dieser die Verwaltung Propaganda bzw. Propagandaleitung, später umbenannt in Informationsverwaltung für die Lizenzerteilungen zuständig. Die Urkunden trugen in der Regel die Unterschrift des Leiters, der von Oktober 1945 bis zu seiner Abberufung im September 1949 Oberst Sergej Iwanowitsch Tulpanow war. Sein Nachfolger wurde Oberstleutnant Alexej Alexandrowitsch Abramow. Die verantwortliche Verwaltung gehörte zum Bereich Politik der SMAD und war dem Politischen Berater unterstellt.7 In allen fünf Ländern bzw. Provinzen sowie im Sowjetischen Sektor Berlins hatte die SMAD zudem jeweils eine regionale Verwaltung mit ihr unterstellten Kommandanturen in den Bezirken, Kreisen und Orten. Die Struktur war der Gliederung der deutschen Verwaltungen angeglichen. Diese regionalen Verwaltungen sorgten dafür, dass die SMAD-Befehle und Anordnungen vor Ort umgesetzt bzw. eingehalten wurden und erließen zu diesem Zweck mitunter selbst Befehle und Anordnungen. Zudem genehmigten sie Verordnungen und Organisationsbestimmungen der deutschen Länder- und Provinzialverwaltungen bzw. -regierungen. Genauso wie in der zentralen SMAD in BerlinKarlshorst gab es auch in den SMA-Verwaltungen auf Landes- bzw. Provinzialebene
4 Eine Definition der Verlagstätigkeit fehlte, was mitunter zu Fehlinterpretationen führte. Nach dem Entwurf neuer Richtlinien aus dem Frühjahr 1948, mit denen aufgekommene Fragen zu den ursprünglichen Richtlinien geklärt werden sollten, bedeutete dies, dass Verlage nur dann ihre Produktion aufnehmen und als Verlage in Erscheinung treten durften, wenn sie eine Verlagslizenz hatten. Mit diesen neuen Richtlinien sollte auch die Erteilung der Lizenzen an die DVV übertragen werden. Erlassen wurden diese neuen Richtlinien genauso wie ein geplanter neuer SMAD-Befehl zum Thema jedoch nicht. 5 Ein Abdruck des SMAD-Befehls Nr. 19 vom 2. 8. 1945 und der Richtlinien zum Befehl Nr. 90 vom 17. 4. 1947 sowie eine detaillierte Analyse der Befehle finden sich bei Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 133 ff. Siehe auch Umlauff: Der Wiederaufbau, Sp. 1217, 1234, 1649–1650 und 1655 ff. sowie Möller/Tschubarjan: Politik der Sowjetischen Militäradministration, S. 136 ff. 6 Foitzik: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). In: SBZ-Handbuch, 1993, S. 9. 7 Zu den kurzzeitigen Vorgängern und dem Prozess der Entstehung, Umstrukturierung und Besetzung sowie den Unterabteilungen der Verwaltung siehe Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 18 ff.
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und in der Sowjetischen Zentralkommandantur Berlins Propaganda- bzw. Informationsabteilungen. An Verlagslizenzierungen waren sie zunächst insofern beteiligt, als sie – je nach Handhabung in dem entsprechenden Land oder der Provinz – Lizenzanträge von Verlagen oder deutschen Verwaltungen entgegennahmen und diese, teilweise mit einer Stellungnahme, an die zuständige Stelle der Landes- bzw. Provinzialverwaltung, die DVV oder die zentrale SMAD weiterleiteten. An größerer Bedeutung gewannen die SMA auf Länderebene, nachdem sie ab Sommer 1947 zum Teil ebenfalls Verlags- und Zeitschriftenlizenzen erteilten.8 Am gesamten Prozess der Lizenzierungen war jedoch eine Vielzahl von Behörden beteiligt – auch zentrale und regionale deutsche Verwaltungen. Nach dem Potsdamer Abkommen der Alliierten vom 2. August 1945 war für Nachkriegsdeutschland eine zentrale deutsche Regierung nicht vorgesehen, einige zentrale Verwaltungen hingegen doch. Schon sechs Tage vorher, am 27. Juli – während die Potsdamer Konferenz lief – ordnete die SMAD mit ihrem Befehl Nr. 17 neben zehn anderen deutschen Zentralverwaltungen auch die Gründung der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung an. Sie war die deutsche zentrale Behörde, die sich auch mit Verlagslizenzierungen befasste und der SMAD zuarbeitete. Zwar verfügte sie nicht über die Rechte eines Ministeriums, konnte aber administrative Verordnungen und Dienstanweisungen erlassen und koordinierte die Tätigkeiten der Landes- und Provinzialverwaltungen bzw. -regierungen. Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, die ab 1946 Deutsche Verwaltung für Volksbildung (DVV) hieß, war der KPD-Politiker Paul Wandel, der viele Jahre im Moskauer Exil zugebracht hatte. Die Zuständigkeit des Verlagswesens fiel jedoch zunächst in den Zuständigkeitsbereich des zweiten Vizepräsidenten, Emil Menke-Glückert, ab März 1946 dann in den Zuständigkeitsbereich des dritten Vizepräsidenten, Erich Weinert. Bearbeitet wurden die Verlagslizenzierungen im Referat Verlagswesen, das zunächst von Lothar von Balluseck, ab August 1947 von Alfred Frommhold geleitet wurde. Bis Ende 1947 gehörte das Referat innerhalb der DVV zur Abteilung Allgemeine Volksbildung, die im Februar 1946 in Abteilung Kulturelle Aufklärung umbenannt wurde. Am 2. Januar 1948 wanderte es in die Abteilung Kunst und Literatur, wo es spätestens im September 1949 mit dem Referat Literatur zum Referat Verlagswesen und Literatur zusammengelegt wurde.9 In den ersten Monaten seines Bestehens waren die Mitarbeiter des Referats Verlagswesen in erster Linie mit der Strukturbildung des Referats, mit der Festlegung der Arbeitsbereiche und mit Absprachen zu Arbeitsabläufen beschäftigt. Hier liegt vermutlich auch einer der Gründe, warum die Verlagslizenzierungen in der SBZ – insbesondere die Lizenzierungen von Privatverlagen – verzögert in Gang kamen. Die DVV-Mitarbeiter
8 Geplant war eine vollständige Übertragung der Lizenzerteilungen auf die Informationsverwaltungen der SMA in den Ländern und der Militärkommandantur im sowjetischen Sektor Berlins. Tatsächlich aber wurden Lizenzen nun parallel von der Informationsabteilung in BerlinKarlshorst und ihren Unterabteilungen in den Ländern und im sowjetischen Sektor Berlins erteilt. Zumindest die Informationsabteilungen in Sachsen, Thüringen und Berlin machten Gebrauch von der Möglichkeit der eigenen Lizenzerteilungen. 9 Zu den Vorläufern des Referats Verlagswesen und zu weiteren Beschäftigten des Referats sowie zu Mitarbeitern der genannten Abteilungen siehe Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 30– 31.
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spielten bei den Lizenzierungen von Verlagen eine erhebliche Rolle. Sie überprüften die in der Regel über die Provinzial- und Landesverwaltungen bzw. -regierungen eingereichten Lizenzanträge und gaben sie zusammen mit Stellungnahmen an die SMAD weiter. Zudem erfassten die Mitarbeiter des Referats Verlagswesen sämtliche in der SBZ vorhandenen Verlage einschließlich der bei ihnen liegenden Verlagsrechte, überprüften die politische Gesinnung des Personals der Verlage (»Entnazifizierung«) und besprachen mit der SMAD das Vorgehen bei Lizenzierungen. Nach Plänen aus dem ersten Quartal 1948 sollte die DVV auch die Lizenzerteilung von der SMAD übernehmen. Über ein Planungsstadium kam dieses Vorhaben, genauso wie die damit im Zusammenhang stehende Änderung des SMAD-Befehls Nr. 90 vom 17. April 1947, jedoch nicht hinaus. Anfang 1949 entwickelte die DVV einen konkreten Plan zur Errichtung einer Deutschen Verlagskommission, die nach Erlass eines entsprechenden SMAD-Befehls auch den Aufgabenbereich Verlagslizenzierungen übernehmen sollte. Doch auch dieser Plan wurde nicht verwirklicht. Die ersten Ansprechpartner in Sachen Lizenzierungen waren für die Verlage in der Regel die Beschäftigten der fünf Anfang bis Mitte Juli 1945 von der SMAD eingerichteten deutschen Provinzial- und Landesverwaltungen bzw. -regierungen. Ihre Struktur war sehr unterschiedlich und wurde insbesondere in der Anfangsphase häufig geändert. Das Verlagswesen gehörte in allen fünf Verwaltungen zum Bereich Volksbildung, wofür je nach Land bzw. Provinz ein sogenanntes Landesamt, ein Ressort oder eine Abteilung mit unterschiedlicher Bezeichnung zuständig war. Allen gemeinsam war, dass sie das Wort »Volksbildung« in der Bezeichnung trugen. Unterteilt waren diese Landesämter, Ressorts oder Abteilungen in Unterabteilungen, Ämter oder Gruppen, in denen sich das für das Verlagswesen zuständige Referat befand. Auch die Bezeichnung dieser Referate war je nach Land bzw. Provinz unterschiedlich und reichte von Referat Buchhandel und Bibliothekswesen (Sachsen bis Oktober 1945) bis Referat Volksaufklärung (Brandenburg).10 Etwas einheitlicher wurde die Struktur im Dezember 1946, als infolge der ersten Landtagswahlen vom Oktober 1946 die Landesämter, Ressorts oder Abteilungen für Volksbildung in Ministerien für Volksbildung umgewandelt wurden. Die Mitarbeiter der Volksbildungsverwaltungen bzw. -ministerien informierten die Verlage unter anderem über die Regelung der Lizenzierungen, nahmen Lizenzanträge entgegen, bearbeiteten diese und reichten sie weiter. Sie hielten die Verlage über ihre Lizenzierungsverfahren auf dem Laufenden, stellten Kontakte zwischen Verlagen und anderen Institutionen her und führten Statistiken zu lizenzierten und nicht lizenzierten Verlagen, zu Verlagsproduktionen und Verlagsrechten. Zudem vermittelten sie auch bei Angelegenheiten der Papierbeschaffung, Druckgenehmigungen und bei der Vergabe von Lebensmittelkarten. In Sachsen war neben dem Ministerium für Volksbildung bzw. seinem Vorgänger, dem Ressort Volksbildung, auch die zur Stadtverwaltung Leipzig gehörende Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen für das Verlagswesen zuständig. Eine ihrer Hauptaufgaben war die Aussonderung faschistischer und militaristischer Literatur, wozu sie ge-
10 Zu den für das Verlagswesen zuständigen Abteilungen und Referaten in den einzelnen Landes- und Provinzialverwaltungen bzw. -regierungen von 1945 bis 1949 siehe Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 50–104.
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meinsam mit der Deutschen Bücherei in Leipzig eine Liste verbotener Bücher erstellte. Als laufend ergänzte Liste der auszusondernden Literatur wurde diese dann von der DVV als Grundlage zur »Reinigung« öffentlicher und privater Bibliotheken in der gesamten SBZ herausgegeben.11 Daneben war die Zentralstelle unter anderem auch für die Lizenzangelegenheiten von Leipziger Verlagen zuständig. Von ihrem ersten Leiter und späteren Vorsteher des Leipziger Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Heinrich Becker, gingen mehrere für die gesamte SBZ relevante Initiativen im Verlagswesen aus. Spätestens im März 1946 wurde die Zentralstelle zunächst in Abteilung Buch- und Bibliothekswesen und im September 1947 in Amt für Buch- und Bibliothekswesen umbenannt. In Berlin wurden Verlagsangelegenheiten innerhalb der Abteilung für Volksbildung des Magistrats der Stadt Berlin vom Referat Verlage bearbeitet. Das Besondere daran war, dass bis zur Spaltung Berlins 1948 hier die Angelegenheiten aller Berliner Verlage bearbeitet wurden, egal in welchem Sektor sie ansässig waren. Bei der Bearbeitung richteten sich die Mitarbeiter nach den Anordnungen der zuständigen Militärregierung. Für Lizenzangelegenheiten war jeweils die Militärregierung zuständig, in deren Sektor die Verlage ihren Sitz hatten. Im Herbst 1948 teilte sich die Verwaltung, und es bildete sich für den sowjetischen Sektor ein eigener Magistrat.
Die Verlage Die ersten Lizenzen in der SBZ gingen ausschließlich an Parteien, Organisationen und Verwaltungen, die mit dem SMAD-Befehl Nr. 2 vom 10. Juni 1945 zugelassen worden waren. Bis Anfang Dezember waren das insgesamt 14 Lizenzen – überwiegend für Berliner Tages- und Verbandszeitungen. Nur fünf der Lizenzen waren Buchverlagslizenzen. Sie wurden erteilt an den SMAD-eigenen Verlag SWA, an den Aufbau-Verlag des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, an den Verlag Neuer Weg der KPD, an den Deutschen Bauernverlag der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe bzw. deren Vorläufern und an den Volk und Wissen Verlag der DVV und des Rats der Stadt Leipzig. Die Lizenzierung von Privatverlagen dagegen kam erst Ende 1945, Anfang 1946 in Gang. Vorangetrieben wurde sie von den deutschen Verwaltungen, vor allem von der DVV und der Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen der Buchstadt Leipzig. Über die Verwaltungen der Länder und Provinzen waren bei der DVV zahlreiche Anfragen und Anträge eingegangen. Die Genehmigung zumindest eines Teils der Anträge wurde von den deutschen Verwaltungen für notwendig erachtet. Die SMAD jedoch wollte Privatverlage zunächst grundsätzlich nicht zulassen oder die Zahl ihrer Lizenzierung zumindest möglichst gering halten. Fünf Privatverlage sollten nach gemeinsamen Überlegungen von Vertretern der deutschen Verwaltungen und der sowjetischen Besatzungsmacht im Januar 1946 schließlich eine Lizenz erhalten. Die SMAD erbat sich von den Gesprächspartnern der DVV und der Leipziger Zentralstelle eine Vorauswahl der dafür in Frage kommenden Kandidaten. 25 Privatverlage kristallisierten sich in dem Auswahlverfahren heraus, das zum großen Teil auf den Verlagsgutachten der Länder und Provin-
11 Deutschen Verwaltung für Volksbildung (Hrsg.): Liste der auszusondernden Literatur.
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zen basierte. 24 Privatverlage standen schließlich auf den beiden Vorschlagslisten, die die DVV am 9. Februar 1946 der SMAD einreichte – unterteilt in Liste der vordringlich zu genehmigenden Verlage (mit 9 Privatverlagen) und Liste von Verlagen, deren Zulassung in zweiter Linie zu erwägen ist (mit 15 Privatverlagen). Die fünf Privatverlage, für die sich die SMAD im März 1946 entschied, waren mit Lizenzierung am 1. März 1946 zunächst die beiden Leipziger Verlage Insel und E. A. Seemann und am 14. März die Leipziger Verlage Reclam und Breitkopf & Härtel sowie der Kiepenheuer Verlag in Weimar. Bis auf Reclam gehörten diese ersten von der SMAD lizenzierten Privatverlage zu denen, die auf der Liste der in erster Linie zu berücksichtigenden Verlage standen; Reclam stand auf der zweiten Liste. Die Entscheidung, nur fünf Privatverlage zuzulassen, währte nur kurz. Bereits wenige Wochen nach deren Lizenzierung gab es eine zweite Lizenzierungswelle. Schon das Auswahlverfahren für die ersten fünf Lizenzierungen hatte gezeigt, dass in der SBZ weit mehr, teils international bekannte Verlage mit bedeutenden Verlagsrechten ansässig waren, deren mögliche Abwanderung ein Verlust für die SBZ bedeutet hätte. So erhielten am 12. April 1946 vier weitere Privatverlage eine Lizenz der SMAD: das Leipziger Bibliographische Institut, der Weimarer Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, der Leipziger Brockhaus Verlag sowie am 18. April 1946 der Rostocker Carl Hinstorff Verlag. Das Bibliographische Institut und der Brockhaus Verlag hatten schon im Februar auf der Liste der in zweiter Linie zu berücksichtigenden Verlage gestanden. Neun Privatverlage verfügten somit knapp ein Jahr nach Kriegsende in der SBZ über eine eigene Verlagslizenz. Dazu kamen vier private medizinische Fachverlage, die zwar keine eigene Verlagslizenz hatten, aber gemeinsam unter der Lizenz einer Arbeitsgemeinschaft für Verleger gleicher Fachrichtung publizieren konnten. Dazu gehörten die vier Verlage Johann Ambrosius Barth in Leipzig, Dr. Werner Saenger in Berlin, Theodor Steinkopff in Dresden und Georg Thieme in Leipzig. Die Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verleger wurde am 21. März 1946 mit den einzelnen Verlagen, der DVV und der Deutschen Verwaltung für Gesundheitswesen als Gesellschafter gegründet und einen Tag später – kurz nach den ersten Zulassungen von Privatverlagen – von der SMAD unter der Lizenznummer 37 genehmigt. Bis Anfang 1949 schlossen sich nach und nach acht weitere Verlage der Arbeitsgemeinschaft an.12 Die Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verleger war die zunächst versuchsweise Umsetzung der Idee, Verlage gleicher Fachrichtungen in einer Organisation zusammenzuschließen. Sie entsprang nicht aus den Reihen der SMAD, sondern kam von den für das Verlagswesen zuständigen Mitarbeitern der deutschen Verwaltungen in Sachsen – namentlich von Heinrich Becker, dem Leiter der Leipziger Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen, der zusammen mit Ministerialdirektor Herbert Gute und Hans Naundorf vom Ressort Volksbildung der Landesverwaltung Sachsen ein Konzept für eine solche Arbeitsgemeinschaft entwickelt hatte. Becker konnte sowohl die Mitarbeiter der DVV in Berlin, die ihn ohnehin in ihre Planungen im
12 Das waren in alphabetischer Reihenfolge: Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig (Leipzig), Gustav Fischer Verlag (Jena), Verlag H. Heinecke (Berlin), Verlag S. Hirzel (Leipzig), Verlagsbuchhandlung Carl Marhold (Halle), Verlag Dr. Willmar Schwabe (Leipzig), Verlagsbuchhandlung Elwin Staude (Osterwieck) und Verlag des Deutschen Hygiene-Museums (Dresden).
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Umgang mit Privatverlagen einbezogen, als auch die Vertreter der SMAD von dem Modell der Arbeitsgemeinschaften überzeugen. Der Gedanke, auch Privatverlage anderer Fachrichtungen kontrolliert in Arbeitsgemeinschaften zusammenzuschließen, war naheliegend. Konkret geplant wurden gleich nach der Bildung der Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verleger je eine Arbeitsgemeinschaft für Musikverleger, für Verleger evangelischer Literatur und für Verleger wissenschaftlicher Literatur. Wie bei der Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verleger war auch bei diesen geplant, zum Beispiel eine Verwaltung, Kirchenbehörde, zugelassene Organisation oder deren Verlag in die Gesellschafterstruktur zu integrieren, was ein gewisses Maß an Kontrolle versprach. Obwohl die Vorbereitungen hierfür zum Teil gut voranschritten, kamen diese Arbeitsgemeinschaften dennoch nicht zustande. Die beiden Formen der Lizenzierungen – Privatverlage mit eigener Verlagslizenz und in lizenzierten Arbeitsgemeinschaften zugelassene Privatverlage – schienen sich gegenseitig im Weg zu stehen. So hatte zum Beispiel der Leipziger Musikverlag Breitkopf & Härtel wie erwähnt am 14. März 1946 eine Verlagslizenz erhalten, sollte aber eigentlich im Zentrum der geplanten Arbeitsgemeinschaft der Musikverleger stehen. Auf eine Mitgliedschaft war der Verlag Breitkopf & Härtel aber durch die eigene Verlagslizenz nicht angewiesen. Als weitere Arbeitsgemeinschaft von Verlagen gleicher Fachrichtung kam im Dezember 1946 nur noch die Arbeitsgemeinschaft der Fachbuch- und FachzeitschriftenVerleger zustande, die am 19. Dezember 1946 – kurz nach der Gründung – unter der Nummer 136 lizenziert wurde. Bis zum März 1947 hatten sich der Arbeitsgemeinschaft, deren Lizenzträger Die Freie Gewerkschaft Verlagsgesellschaft war, elf Verlage angeschlossen. Im Januar 1949 ging aus der Arbeitsgemeinschaft der Fachbuch- und Fachzeitschriften-Verleger der Fachbuchverlag hervor, der am 7. Mai 1949 unter derselben Lizenznummer wie vorher die Arbeitsgemeinschaft lizenziert wurde.13 Die Arbeitsgemeinschaft selbst wurde aufgelöst. Eine Ausnahme bildete die am 2. April 1947 lizenzierte Arbeitsgemeinschaft Thüringischer Verleger mit Sitz in Jena. Sie war ein Zusammenschluss von eher kleineren Verlagen in Thüringen, die kaum eine Aussicht auf eigene Verlagslizenzen hatten, und war auf Initiative der Thüringischen Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen entstanden. Anders als bei den vorgenannten Arbeitsgemeinschaften handelte es sich hier aber nicht um Verlage gleicher Fachrichtung, sondern um einen regionalen Zusammenschluss. Während die Bildung von Arbeitsgemeinschaften von Verlagen gleicher Fachrichtung regelmäßig ins Stocken geriet, schritt die Lizenzierung von Privatverlagen entgegen den ursprünglichen Plänen, langsam voran, denn es drohten weiterhin Abwanderungen namhafter Verlage in eine der drei westlichen Besatzungszonen. Einige Verlage hatten dort bereits Zweigstellen errichtet und parallel einen Lizenzantrag gestellt. Eine verstärkte Abwanderung von Verlagen gefährdete Leipzigs Ruf als Zentrum des Buchhandels, was neben wirtschaftlichen Folgen auch mit einem Prestigeverlust der SBZ verbunden war.
13 Die Gründung des Fachbuchverlags erfolgte gemeinsam durch die DVV, den Volk und Wissen Verlag und die Freie Gewerkschaft Verlagsgesellschaft.
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Abb. 1: Lizenzurkunde Nr. 244 der SMAD für den Alfred Holz Verlag Berlin vom 25. Februar 1947. Landesarchiv Berlin, Magistrat von Berlin, Abt. Volksbildung (C Rep. 120, Nr. 3220).
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Nicht weiter verfolgt wurde eine Idee von Anfang 1946, nach der Privatverlage, die weder zu den wenigen Lizenzierten noch zu denen gehörten, die für Arbeitsgemeinschaften vorgesehen waren, mit lizenzierten Verlagen der Parteien, Verwaltungen und Organisationen fusioniert werden sollten. Vorgesehen waren hierfür in erster Linie Fusionen von privaten Verlagen verschiedener Fachrichtungen mit dem Volk und Wissen Verlag, der mit SMAD-Befehl Nr. 70 vom 25. September 1945 angeordnet, am 12. Oktober 1945 von der DVV gegründet und am 4. März 1946 nachträglich lizenziert worden war. Für belletristische Verlage waren zudem Fusionen mit dem am 18. August 1945 vom militärischen Rat der SMAD zugelassenen und am 18. November 1945 nachträglich lizenzierten Aufbau-Verlag des Kulturbundes sowie mit dem am 23. November 1945 gegründeten und am 16. März 1946 lizenzierten Volk und Buch Verlag des Rats der Stadt Leipzig vorgesehen gewesen. Jedoch befürchteten die zuständigen Behörden, dass die Westzonen Fusionen dieser Art als Zwangssozialisierung brandmarken könnten, die Verlage einen weiteren Grund für eine Abwanderung hätten oder deren in anderen Besatzungszonen ansässige Autoren unter diesen Umständen zu West-Verlagen wechseln würden. Die Bildung von Arbeitsgemeinschaften rückte im August 1948 noch einmal verstärkt in den Blick. Hintergrund war der vom Zentralvorstand der SED vorgeschlagene Zweijahresplan für die wirtschaftliche Entwicklung der Jahre 1949 und 1950. Zur Diskussion darüber kamen im August 1948 die Volksbildungsminister der SBZ zu einer Konferenz auf Hiddensee zusammen. In der Folge beschloss die DVV eine komplette Umstrukturierung des Verlagswesens. Dazu gehörte der Plan, sämtliche in Frage kommenden Verlage, die noch nicht lizenziert waren, in neue Arbeitsgemeinschaften zu integrieren.14 Vorgesehen war auch der Entzug von Einzellizenzen für Verlage, die einer Arbeitsgemeinschaft zugeordnet werden sollten. Aber gerade vor der Anwendung solch drastischer Methoden schreckte die DVV zurück. Weitere Einzellizenzen für Privatverlage sollte es allerdings nicht mehr geben. Tatsächlich erteilte die SMAD seit dem Sommer 1948 kaum noch neue Lizenzen. Neue Arbeitsgemeinschaften wurden jedoch auch nicht geschaffen. Teil der geplanten Umstrukturierung war zugleich die vollständige Übertragung der Regelung von Verlagsangelegenheiten an die DVV. In Erwartung der Neuregelung waren bereits seit dem Frühjahr 1948 Lizenzanträge zurückgestellt worden. Die Mitarbeiter der DVV führten die Stagnation bei der Umsetzung der Neuregelung auf die sich überschlagenden politischen Ereignisse zurück, dem Beginn des Kalten Krieges, der Währungsreform in den Westzonen und der Berlin-Blockade. Zwar wurden die Pläne zur Umstrukturierung bis ins Jahr 1949 beibehalten und sogar noch weiter ausgebaut, umgesetzt wurden sie bis zur Gründung der DDR jedoch nicht. Insgesamt wurden in der SBZ bis zum Oktober 1949 173 Buchverlage lizenziert, sei es durch eine eigene Verlagslizenz oder durch ihre Mitgliedschaft in einer der Arbeitsgemeinschaften.15 Die meisten Lizenzierungen erfolgten im Jahr 1947, oftmals zu-
14 Außer den bereits genannten Arbeitsgemeinschaften waren auch solche für folgende Themengebiete geplant: Belletristik, Pädagogik, Briefmarken und Adressbücher. 15 Acht der zwölf Mitgliedsverlage der Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verleger hatten zum Beispiel auch eine eigene Verlagslizenz für Publikationen nichtmedizinischen Inhalts. Eine alphabetische und eine chronologische Liste aller lizenzierten Buchverlage findet sich bei Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 272 ff.
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sammen an einem Tag. Allein im Februar 1947 erteilte die SMAD rund 40 Verlagen eine Lizenz.
Das Verfahren Das Verfahren zur Lizenzierung von Verlagen und Zeitschriften war in der SBZ nicht von Anfang an durch die sowjetische Besatzungsbehörde vorgegeben. Vielmehr entwickelte es sich eigendynamisch und wurde erst später offiziell vorgegeben. Noch bevor Vertreter der SMAD und der deutschen Verwaltungen Anfang 1946 erste gemeinsame Vereinbarungen über das Vorgehen trafen, hatten zahlreiche Verlage Lizenzanträge bei den Landes- und Provinzialverwaltungen, beim Magistrat der Stadt Berlin oder bei der Leipziger Zentralstelle für das Buch- und Bibliothekswesen eingereicht. Im Laufe des ersten Halbjahres 1946 vereinheitlichte sich ein System, das im Wesentlichen bis zur Gründung der DDR beibehalten wurde. Zunächst überprüften die Mitarbeiter der Landes- und Provinzialverwaltungen bzw. -regierungen die bei ihnen eingereichten Anträge unter anderem auf Vollständigkeit, Notwendigkeit, Dringlichkeit und auf eine mögliche nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Antragsteller hin. Gemeinsam mit einem in der Regel formlos verfassten Gutachten leiteten sie die Anträge anschließend an die DVV nach Berlin weiter. Von dort wurden sie mit einem weiteren Gutachten an die SMAD in Berlin-Karlshorst oder – ab Sommer 1947 – auch an die Verwaltungen der SMA in den Ländern weitergegeben, wo letztlich über die Lizenzerteilungen entschieden wurde. Im April 1946 konkretisierte die DVV die Formalitäten zu den Anträgen und forderte von den Provinzial- und Landesverwaltungen, ausführliche Verlagsprogramme, Lebensläufe der Inhaber, Geschäftsführer und Prokuristen mit einzureichen und Angaben zu Druckmöglichkeiten der Verlage zu machen. Eine erste Information für Verleger zum inzwischen eingespielten Lizenzierungsverfahren fand sich am 25. August 1946 in der ersten Ausgabe des Börsenblatts mit dem Artikel »Der Weg zur Lizenz«: Grundvoraussetzung ist die politische Gegebenheit: Mitglieder der NSDAP oder Verlage, die betont dem Nationalsozialismus gedient haben, sind grundsätzlich ausgeschlossen. Erst nach Belegung dieses Tatbestandes kann – unter Beifügung des Lebenslaufes – der Antrag gestellt werden. Er gewinnt an Gewicht, wenn ihn ein gut durchgearbeiteter, ernsthafter Entwurf für die beabsichtigte Verlagsplanung begleitet. Diese Schriftstücke sind über die zuständige Landes- oder Provinzialverwaltung in jedem Fall zu richten an die Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone, Verlagswesen, Berlin W 8, Leipziger Straße 5–7. Hier wird der Antrag geprüft und, falls keine Gegenargumente geltend gemacht werden müssen, befürwortend der Sowjetischen Militär-Administration, Berlin-Karlshorst, 16 eingereicht, die nun ihrerseits die Lizenz erteilt oder ablehnt.
Einen großen Einfluss auf die Verlagslizenzierungen hatten die Mitarbeiter der deutschen Verwaltungen nicht nur aufgrund der von ihnen erstellten Gutachten und Empfehlungen, sondern auch aufgrund des Lizenzierungssystems an sich. Denn nicht alle von den Verlagen gestellten Anträge wurden auch bis zur SMAD durchgereicht. Verleger,
16 Becker: Weg zur Lizenz. Über das ähnliche Lizenzierungsverfahren für Zeitschriften siehe Die Zeitschriften in der sowjetischen Besatzungszone.
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die zum Beispiel bereits an den Landes- bzw. Provinzialverwaltungen als erster zu überwindender Hürde scheiterten, hatten kaum eine Aussicht, trotzdem eine Lizenz zu erhalten.
Die Urkunden Mit der Lizenzerteilung erhielten die Verlage von der Sowjetischen Militäradministration eine Lizenzurkunde. Diese wurden den Lizenzinhabern persönlich übergeben – oftmals im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung. Diese Urkunden wurden chronologisch durchnummeriert. Jeder Verlag bzw. jede Zeitung und jede Zeitschrift hatten eine eigene Lizenznummer. Zumindest ein Teil der Urkunden war vorgedruckt. In der Anfangsphase war das lediglich der Urkundenkopf, während der Text zur Genehmigung der Verlagsgründung bzw. zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der Verlagstätigkeit maschinenschriftlich eingefügt wurde. Ergänzt wurde die eigentliche Genehmigung mit einem Hinweis darauf, dass für jede Publikation eine gesonderte Erlaubnis der SMA einzuholen war. Bei Zeitungen und Zeitschriften wurden auch das Format, der Umfang, die Auflagenhöhe und die Erscheinungsweise festgelegt. Mitte Juni 1946 führte die SMAD Lizenzurkunden ein, auf denen fast der gesamte Text vorgedruckt war. Handschriftlich auszufüllende Lücken gab es vor allem für individuelle Angaben des Verlags wie Verlagsname und Name des Verlagsinhabers. Diese standardisierten Urkunden waren insgesamt umfangreicher, forderten die Einhaltung rechtlicher Regelungen und legten die Anzahl der an die Propagandaleitung abzugebenden Pflichtexemplare fest. Eine weitere Änderung erfuhren die Urkunden im Sommer 1947. Wesentlicher Punkt der erweiterten Urkunden war, dass die SMAD den Verlagen die Lizenz von nun an nur noch für die Publikation bestimmter Fachgebiete erteilte. Bei Zeitungen und Zeitschriften wurde entsprechend der Inhalt festgelegt. Eine solche Einschränkung der Lizenz hatte es bereits in der frühen Phase bis Mitte Juni 1946 gegeben, allerdings nur für wissenschaftliche Verlage und für Verlage, die sich zu Arbeitsgemeinschaften zusammengeschlossen hatten – von nun an betraf es alle. Ende 1947 fand insofern eine Anpassung der Lizenzen statt, als dass die frühen formlosen Lizenzurkunden Nr. 1 bis 71 von der Informationsverwaltung der SMAD für erloschen erklärt wurden. Die betroffenen Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsverlage konnten sich um die Ausstellung neuer Lizenzen bemühen. Allein die Löschung und Neuerteilung dieser Lizenzen – in der Regel unter neuer Nummer – lässt es nur bedingt zu, von der Lizenznummer eines Verlages auf dessen Erstlizenzierung zu schließen. Ein Verlag mit einer hohen Lizenznummer ist also nicht unbedingt erst spät lizenziert worden, sondern kann durchaus schon früher lizenziert worden sein. Genauso lassen die hohen Lizenznummern der Verlage aus den Jahren 1948/1949 nicht auf die Gesamtzahl der insgesamt erteilten Lizenzen schließen. Die höchste nachgewiesene Nummer einer Verlagslizenz war die 497 für den Verlag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Berlin und Potsdam. Eine Besonderheit waren die Lizenzurkunden, deren Lizenznummer aus einer Kombination eines Großbuchstaben mit einer Zahl bestanden, zum Beispiel die Lizenznummer C-001 vom 21. Juli 1947 für den Urania-Verlag in Jena. Diese Urkunden waren vereinzelt ab Sommer 1947 regional von den SMA der Länder bzw. des sowjetischen
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Abb. 2: Lizenzurkunde Nr. 149 der SMAD für die Herausgabe der Zeitschrift Berufsausbildung der Volk und Wissen G.m.b.H. vom 8. Februar 1947. Landesarchiv Berlin, Magistrat von Berlin, Abt. Volksbildung (C Rep. 120, Nr. 1193).
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Sektors Berlins erteilt worden. Dabei stand das A für Berlin, B für Sachsen und C für Thüringen. Von den SMA in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und SachsenAnhalt wurden nach bisherigem Erkenntnisstand keine Lizenzen erteilt. Die letzte nachgewiesene Verlagslizenz erteilte die Informationsverwaltung der SMAD mit der Lizenznummer 136 am 7. Mai 1949 rückwirkend zum März 1949 dem Bundesvorstand des FDGB für den Fachbuchverlag in Leipzig und Berlin. Die letzte nachgewiesene Zeitschriftenlizenz erhielt am 14. September 1949 mit der Nummer C-011 der Thüringer Volksverlag in Weimar von der Informationsabteilung der SMA Thüringen für das Mitteilungsblatt des Ministeriums für Volksbildung des Landes Thüringen.
Literatur- und Quellenverzeichnis Gedruckte Quellen BECKER, Heinrich: Der Weg zur Lizenz. In: Börsenblatt (Leipzig) 113 (1946) 1/2 (25. 8.), S. 3. BECKER, Heinrich: Zwischen Wahn und Wahrheit. Autobiographie. Berlin: Verlag der Nation 1972. Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone (Hrsg.): Liste der auszusondernden Literatur. Berlin: Zentralverlag 1946. Nachträge 1948–1953. Die Zeitschriften in der sowjetischen Besatzungszone. In: Börsenblatt (Leipzig), 113 (1946), Nr. 6 (25. 10.), S. 89–90. Handbuch der Lizenzen deutscher Verlage. Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage. Berlin: de Gruyter 1947. Lizenzen-Handbuch Deutscher Verlage. Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage. Berlin: de Gruyter 1949.
Forschungsliteratur ALTENHEIN, Hans: Bemerkungen zum Verlagswesen der DDR. In: Börsenblatt (Frankfurt) 45 (1989) 1, S. 6–14. BILLE, Thomas: Buchstadt ohne Filetstücke? In: Neuanfang 1945. Sonderdruck aus dem Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel anlässlich der Buchhändlertage in Stuttgart 1995. Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1995, S. 36–41. BILLE, Thomas: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1945–1948. Aspekte der Verlagspolitik in der sowjetischen Besatzungszone. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 2 (1992), S. 165–208. BONWETSCH, Bernd / BORDJUGOV, Gennadi / NAIMARK, Norman M. [Hrsg.]: Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung/Informationsverwaltung der SMAD unter Sergej Tjul’panow. Bonn: J. H. W. Dietz 1998. (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 20). BROSZAT, Martin / WEBER, Hermann [Hrsg.]: SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949. 2., unveränd. Aufl. München: Oldenbourg 1993. FOITZIK, Jan: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Struktur und Funktion. Berlin: Akademie Verlag 1999 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 44). JÜTTE, Bettina: Lizenzen und Listen. Grundlagen staatlicher Zeitschriftenpolitik in der SBZ. In: Simone Barck / Martina Langermann / Siegfried Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«. Zeitschriften in der DDR. Berlin: Ch. Links 1999, S. 560–568.
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JÜTTE, Bettina: Das Problem der »zweigleisigen Verlage« als Folge der Lizenzierungspolitik in der SBZ am Beispiel des Gustav Fischer Verlags (1945–1953). In: Mark Lehmstedt / Siegfried Lokatis (Hrsg.): Das Loch in der Mauer. Der innerdeutsche Literaturaustausch. Wiesbaden: Harrassowitz 1996 (Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte 10), S. 185–197. JÜTTE, Bettina: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949). Berlin/ New York: De Gruyter 2010 (Archiv für Geschichte des Buchwesens, Studien 8). LOKATIS, Siegfried: Das Verlagswesen der SBZ. In: Monika Estermann / Edgar Lersch (Hrsg.). Buch, Buchhandel und Rundfunk 1945–1949. Wiesbaden: Harrassowitz 1997, S. 112–124. LOKATIS, Siegfried: Vom Plan zur improvisierten Kontrolle. Der Aufbau eines zentral gesteuerten Verlagswesens in der SBZ. In: Börsenblatt 162 (1995), 10. 3., S. 16–20. MÖLLER, Horst / TSCHUBARJAN, Alexandr O.: Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD): Kultur, Wissenschaft und Bildung 1945–1949. Ziele, Methoden, Ergebnisse, Dokumente aus russischen Archiven. München: Saur 2005 (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte 15). Neuanfang 1945. Sonderdruck aus dem Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel anlässlich der Buchhändlertage in Stuttgart 1995. Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1995. PIKE, David: The Politics of Culture in Soviet-Occupied Germany 1945–1949. Stanford: Stanford University Press 1992. RIESE, Reimar: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1945–1990. Stationen seiner Entwicklung. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 10 (2000), S. 175–248. STRUNK, Peter: Pressekontrolle und Propagandapolitik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD). Der politische Kontrollapparat der SMAD und das Pressewesen im sowjetischen Besatzungsgebiet Deutschlands (1945–1947). Diss. masch. Freie Universität Berlin 1989. STRUNK, Peter: Zensur und Zensoren. Medienkontrolle und Propagandapolitik unter sowjetischer Besatzungsherrschaft in Deutschland. Berlin: Akademie 1996 (Edition Bildung und Wissenschaft 2). STRUNK, Peter: Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und ihr politischer Kontrollapparat. In: Hans Lemberg (Hrsg.): Sowjetisches Modell und nationale Prägung. Kontinuität und Wandel in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Marburg/Lahn: J.-G.-Herder-Institut 1991 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 7), S. 143–176. UMLAUFF, Ernst: Der Wiederaufbau des Buchhandels. Beiträge zur Geschichte des Büchermarkts in Westdeutschland nach 1945. Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1978 (Archiv für Geschichte des Buchwesens 17).
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Der Kulturelle Beirat für das Verlagswesen
Die Zensurpolitik der Sowjetischen Militäradministration am Beginn der Besatzungszeit Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 lagen große Teile Europas in Trümmern, Holocaust und Raubkrieg hatten das Ansehen Deutschlands nachhaltig beschädigt. Auch Deutschlands Städte und Industrieanlagen waren durch die Kampfhandlungen zerstört worden. Ein Viertel der deutschen Bevölkerung war dem Krieg zum Opfer gefallen,1 ein Großteil auf der Flucht, die Führungselite tot oder in Haft. Die Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion übernahmen die Kontrolle über Politik, Wirtschaft und Militär und betrieben eine strikte Entnazifizierungspolitik, um die Ideologie des Nationalsozialismus zu beseitigen und demokratisch zuverlässige Strukturen aufzubauen.2 Zur Kontrolle der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde die Sowjetische Militäradministration Deutschlands (SMAD) gebildet, die bis zur Gründung der DDR 1949 die Regierungsgewalt innehatte.3 Bis 1947 war die Deutschlandpolitik der sowjetischen Besatzer von widersprüchlichen Zielen gekennzeichnet und verlief abwartend und reaktiv, was vor allem an dem schwelenden Konflikt der Sowjetunion mit den Westmächten lag, der sich 1948 zum Kalten Krieg ausweitete.4 Die Deutschen auf dem Gebiet der SBZ mussten »massive Demontagen in Branchen reiner Friedensindustrie«5 in Kauf nehmen. »Insgesamt wurden die Westdeutschen durch die Reparationspolitik der Westalliierten so stark begünstigt, die Ostdeutschen dagegen so benachteiligt, daß man von heute aus zweifeln mag, ob beide denselben Krieg verloren hatten.«6 Das gedruckte Wort nahm bei der Umerziehung der Deutschen eine tragende Rolle ein. Auch die westlichen Besatzungsmächte erlaubten die Verlagsarbeit nur nach Lizenzierung der einzelnen Firmen und kontrollierten die Produktion durch Vor- und später Nachzensur. Die SMAD begann zusätzlich damit, das Verlagswesen umzubauen und
1 Vgl. Wittmann: Verlagswesen und Buchhandel 1945–1949, S. 34. 2 Dabei wandten die Vier Mächte die Taktik der »Vier D’s« an: Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung. vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 27–31. 3 Die SMAD wurde am 6. Juni 1945 unter der Leitung von Generaloberst Georgi Schukow gegründet und verfügte über etwa 32.000 Mitarbeiter. Ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle Regierungsgewalt übte sie durch Befehle und Anordnungen aus. Sie verfolgte das Konzept, das geistige Erbe des Nationalsozialismus auszumerzen und ein kommunistisches Wertesystem zu verbreiten. Ihr oblag die Kontrolle der politisch-ideologischen Prozesse innerhalb der SBZ, sie leitete und koordinierte die Kulturpolitik und förderte das kulturelle Leben. Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 28–34; Naimark: Die Russen in Deutschland, S. 19; Naimark: Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland, S. XVII; Hartmann/Eggeling: Sowjetische Präsenz, S. 147–148. 4 Vgl. Hartmann/Eggeling: Sowjetische Präsenz, S. 13. 5 Glaser: Deutsche Kultur, S. 71. 6 Glaser: Deutsche Kultur, S. 71. https://doi.org/10.1515/9783110471229-004
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den kreativen und organisatorischen Prozess von Autoren und Verlagen dauerhaft durch Zensurmaßnahmen zu kontrollieren. Dafür schuf sie als deutsche Instanz die Deutsche Verwaltung für Volksbildung (DVV). Am 2. August 1945 veröffentlichte die SMAD Befehl Nr. 19, »nach dem die Herstellung, Vervielfältigung oder Veröffentlichung jedweder gedruckter Informationsmedien nur in solchen Verlagen oder Druckereien oder auf solchen Vervielfältigungsapparaten durchgeführt werden durfte, denen eine spezielle Genehmigung durch die Militärverwaltung erteilt worden war.«7 Die Eigentümer von Druckereien und Verlagen mussten sich bei den zuständigen Stellen registrieren lassen, wenn sie nicht die Beschlagnahmung ihrer Betriebe und Einrichtungen sowie eine kriegsgerichtliche Bestrafung erleiden wollten.8 Am 23. Oktober 1945 wurde innerhalb der SMAD die Verwaltung für Propaganda (später Information) errichtet, die ab 1946 an allen grundlegenden Entscheidungen innerhalb der SBZ beteiligt war.9 Ihr unterstand auch die Kontrolle über die Zensur und das Verlagswesen. Die dafür zuständige Abteilung Verlags- und Pressewesen war unter anderem für die Lizenzierung von Verlagen, die Zensur und die Papierzuteilung an Verlage und Druckereien zuständig.10 Neben der Verwaltung für Information existierte die Abteilung Volksbildung, die ab dem 17. Juli 1945 den Aufbau der DVV11 leitete und als zweite sowjetische Institution für die Kontrolle der Verlage und des Buchhandels anzusehen ist.12 Die Zensurpolitik der SMAD gestaltete sich zunächst zäh, und die Erteilung von Genehmigungen zog sich oft in die Länge, da sowohl eine Vor- als auch Nachzensur bestand. Probedrucke, Korrekturabzüge und Pflichtexemplare mussten geprüft werden, und die SMAD-Mitarbeiter schienen, oft auch aufgrund fehlender Deutschkenntnisse, heillos überfordert mit der Masse an zu kontrollierenden Werken.13 Die ersten Firmen, die offiziell eine Lizenz erhielten, waren am 30. Juli 1945 der Verlag Neuer Weg – später Dietz Verlag –, am 18. August 1945 der Aufbau-Verlag für schöngeistige Literatur
7 Frohn: Literaturaustausch, S. 28. 8 Vgl. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, S. 1217. 9 Vgl. Perkow: Verwaltung Information, S. 243. 10 Vgl. Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 80; Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 21. 11 Die DVV wurde noch unter der Bezeichnung Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung im Laufe des Augusts 1945 eingerichtet. Sie unterstand der Leitung von Paul Wandel, Vizepräsidenten waren Erwin Marquardt, Theodor Brugsch und Erich Weinert. Letzterer sollte später auch die Leitung des Kulturellen Beirats übernehmen. Zunächst ohne gesetzgeberische Befugnis war die DVV ein Hilfsorgan unter deutscher Führung, das der SMAD unterstützend zur Seite stehen sollte. Ihre Befugnisse stiegen von 1945 bis 1949, sodass die Behörde eigenständig agierte. Allerdings erhielt die DVV nie die Erlaubnis, Verfügungen zu erlassen. Trotz ihrer zunehmenden Verantwortung war sie chronisch unterbesetzt. Sie befand sich im jahrelangen Kampf mit der SMAD um einen verbesserten Stellenplan, der der Behörde nicht gewährt wurde. Die DVV ging nach Gründung der DDR im Ministerium für Volksbildung auf. Vgl. Dietrich: Politik und Kultur, S. 38, 111–112; Welsh: Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung, S. 230; Hartmann/Eggeling: Sowjetische Präsenz, S. 185; Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 25, 33; Buchbinder: Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, S. 11. 12 Riese: Der Börsenverein, S. 123. 13 Möller/Tschubarjan: Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, S. 88.
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Abb. 1: Feierstunde zum Tag des freien Buches am 8. Mai 1947 im Haus der Kultur der Sowjetunion, Berlin: Oberst Sergej Tulpanow (am Rednerpult), Fritz Erpenbeck, Wolfgang Langhoff, Major Alexander Dymschitz, Anna Seghers, Bernhard Kellermann, Oberstltn. Fjodor Schemjakin, Paul Merker, Friedrich Wolf, Günther Weisenborn. Zentralhaus der DSF/ Privatbesitz.
und am 12. Oktober 1945 der Schulbuchverlag Volk und Wissen.14 »Es handelte sich dabei um Verlage, deren Zielsetzungen auf sowjetische Emigranten zurückgingen und die in kulturpolitischer Hinsicht mit den Interessen der SMAD abgestimmt waren.«15 Verlagslizenzen an private Verleger wollte die SMAD zunächst nicht vergeben. Nach zahlreichen Vorhaltungen von kommunistischen Politikern, Autoren und Verlegern gestatteten die Sowjetoffiziere dann doch die Lizenzierung von deutschen Traditionsverlagen wie Insel und Reclam.16 Die Selbstständigkeit der lizenzierten Verlage war allerdings stark eingeschränkt, da in vielen Unternehmen die Leiter Angehörige von Parteien und Massenorganisationen waren. Die Kontrolle der Verlage durch staatliche Institutionen wurde somit erleichtert. Für Verlage, die keine Lizenz erhielten, wurde die Möglichkeiten eingeräumt, sich zu Arbeitsgemeinschaften zusammenzuschließen.17 Damit sollte verhindern werden, dass diese Firmen in die Westzonen abwanderten. So gründete sich
14 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 168. Siehe auch Kapitel 1.2 Nicht ohne Lizenz (Bettina Jütte) in diesem Band. 15 Prodöhl: Die Politik des Wissens, S. 211. 16 Dietrich: Politik und Kultur, S. 45. 17 Mortier: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen, S. 67–69.
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unter anderem die Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verlage.18 Die Arbeitsgemeinschaften sind als eine weitere restriktive Instanz anzusehen, welche die Arbeit der ihr zugehörigen Verleger kontrollierte und zugleich erschwerte. Manuskripte mussten erst einer Prüfung durch die Dachgesellschaft unterzogen werden, bevor sie zur eigentlichen Prüfung an die Zensur – ab Juni 1946 dem Kulturellen Beirat – weitergeleitet wurden.19 Sobald der Verleger die Lizenz und damit die Möglichkeit zur Publikation seiner Titel hatte, stand er vor neuen Problemen. Für jeden geplanten Titel musste einzeln eine Genehmigung beantragt werden. Vor der Gründung des Kulturellen Beirats waren die Manuskripte mit zusätzlichen Angaben bei der DVV einzureichen, die daraufhin ein Gutachten erstellte und bei positiver Bewertung eine Genehmigung bei der SMAD beantragte. Wenn der Verlag eine positive Entscheidung erhielt, konnte er mit den Herstellungsarbeiten beginnen. Doch die Kapazitäten der Druckereien waren häufig durch den SMAD-eigenen SWA-Verlag20 ausgelastet. Vor dem Beginn des Drucks musste das Werk dann noch einmal der zuständigen sowjetischen regionalen Zensurbehörde vorgelegt werden, die nun die endgültige Druckerlaubnis erteilte.21 Auf Grund dieser Verhältnisse waren Verlage trotz Lizenz häufig nicht in der Lage, ihre Titel planmäßig zu publizieren. Anfang 1946 übertrug die SMAD der DVV die Zuständigkeit für Presse, Rundfunk und Verlagswesen.22 Nun wurde die Zensur zu einer Hauptaufgabe der DVV, die jedes Verlags- und Druckerzeugnis vor der Freigabe einzeln kontrollierte.23 Dafür wurde die Abteilung Verlage und Presse eingerichtet, die dem Amt für Kulturelle Aufklärung innerhalb der DVV unterstand und von Lothar von Balluseck geleitet wurde. Die SMAD verfügte im Januar 1946, dass »sämtliche Anträge für Einzellizenzen [von Verlagsproduktionen] nach Einholung ihrer Befürwortung an die Zentralverwaltung f. Volksbildung […] [zu] leiten [seien], von wo aus der Genehmigungsbescheid erteilt werden kann.«24 Die endgültige Bestätigung der Verlagslizenzen und Druckgenehmigungen für Verlagserzeugnisse erfolgte dennoch weiterhin durch die SMAD. Weitere Aufgaben des
18 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 218–219. 19 Vgl. BArch, DQ 1/4, Bl. 214: Bergmann (AMV) an Georg Thieme – Betr. Prof. Dr. C. Hegler – Praktikum der wichtigsten Infektionskrankheiten, 3. 12. 1946. 20 Nur der im Dezember 1945 lizenzierte SWA-Verlag konnte innerhalb der SBZ unbehelligt von Zensur und Papierkontingentierung agieren. Ihm wurden umfangreiche Druckereikapazitäten zur Verfügung gestellt. Er gab klassische sowjetische Werke und politische Literatur für die deutsche Bevölkerung heraus und stellte innerhalb der SBZ russische Bücher als Reparationsleistungen für die UdSSR her. Ein Ziel des Verlags war, den herrschenden Antisowjetismus zu beseitigen und über das unbekannte sowjetische Land aufzuklären. Die sowjetische Literatur sollte außerdem erzieherisch auf das deutsche Volk einwirken und den Einfluss der westeuropäischen und amerikanischen Literatur abwehren. Der SWA-Verlag wurde 1949 aufgelöst. Vgl. Hartmann: »Erneuerung der deutschen Kultur?«, S. 48; Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 83; Foitzik: Sowjetische Militäradministration in Deutschland, S. 201; Foitzik: SMAD-Handbuch, S. 237; Keiderling: Aufstieg und Niedergang der Buchstadt Leipzig, S. 149. 21 Vgl. BArch, DR 2/896, Bl. 66: DVV – Arbeitsplan, 4. 4. 1946. 22 Vgl. Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 215–217. 23 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 28–31. 24 BArch, DR 2/896, Bl. 25: Balluseck an die Landes- und Provinzialverwaltungen – Sondergenehmigungen für Einzelverlagswerke, 28. 1. 1946.
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Referats waren die Erfassung sämtlicher Verlage, die Ermittlung der Verlagsrechte, die Entnazifizierung des Verlagspersonals und eine damit einhergehende Überprüfung der literarischen Restbestände von Verlagen, der Wiederaufbau des Verlagswesens, die Prüfung und Begutachtung von Lizenzanträgen, die Vermittlung zwischen Autoren und Verlegern, die Ermittlung der benötigten Papiermengen und eine Papierzuteilung an die Verleger sowie die Prüfung und Begutachtung der Verlagsprogramme.25 Eine Lockerung der Zustände trat erst mit Befehl Nr. 356 vom 24. Dezember 1946 ein. Fortan mussten die Verlage monatlich, später vierteljährlich Produktionsberichte an die SMAD senden, jeweils 50 Exemplare jedes Druckwerks unentgeltlich abliefern und sämtliche bis zur Befehlsausgabe erschienene Veröffentlichungen nachträglich bei der Propagandaverwaltung einreichen.26 Dies leitete den Übergang zum Planungssystem in der Verlagsproduktion und die vermehrte Beteiligung deutscher Instanzen an der Zensur ein.27 Der Buchmarkt in der SBZ hatte unabhängig von den Zensurregelungen in der Nachkriegsphase mit massiven Problemen zu kämpfen. Im Krieg waren schätzungsweise 50 Millionen Bücher bei Bombenangriffen auf Leipzig vernichtet worden, darunter die Verlagsproduktionen mehrerer Jahrzehnte, aber auch viele fremdsprachige Werke. Das Graphische Viertel der Stadt war zu 80 % zerstört worden, darunter auch Verlagshäuser wie Reclam und F. A. Brockhaus.28 Der Luftangriff auf Leipzig vom 4. Dezember 1943 hatte die Druckkapazitäten auf teilweise 25 % reduziert.29 Der Verlust an Büchern konnte kaum ersetzt werden, auch wenn die SBZ über die restlichen, noch funktionierenden 75 % der Druckereien und Buchbindereien des Landes verfügte.30 Erschwerend kam hinzu, dass die sowjetische Besatzungspolitik Reparationsmaßnahmen zugunsten der Sowjetunion verfolgte und intakte Produktionsanlage sowie große Bibliotheksbestände in ihr eigenes Land überführte.31 In Leipzig wurden insgesamt zwölf Druckereien und Verlage teilweise oder komplett demontiert.32 Die Zerstörungen und Reparationsleistungen führten zu einem massiven Papiermangel, der ein Charakteristikum des Buchwesen in der SBZ/DDR bis zum Ende der deutschen Teilung 1989 bleiben sollte.33 Die anlau-
25 BArch, DR 2/896, Bl. 38: Arbeitsplan der DVV, 4. 4. 1946; Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 36–37. 26 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1626, Bl. 3: An die Landratsämter, den Rat der Stadt Dresden, Leipzig, Chemnitz, Plauen, Zwickau, Görlitz, die Stadträte der übrigen kreisfreien Städte, 21. 1. 1947. 27 Vgl. Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 218. 28 Vgl. Keiderling: Aufstieg und Niedergang der Buchstadt Leipzig, S. 139–142; Knopf/Titel: Der Leipziger Gutenbergweg, S. 39. 29 Vgl. Schulz: Demontagen in Leipzig, S. 407. 30 Vgl. Wittmann: Verlagswesen und Buchhandel 1945–1949, S. 36. 31 Insgesamt wurden über zwei Millionen Bücher in die Sowjetunion überführt. Es waren größtenteils Werke von wissenschaftlichem und kulturellem Wert. So eignete sich die Sowjetunion unter anderem wertvolle Kunstbücher, Noten berühmter Komponisten und auch eine Gutenberg-Bibel von 1455 aus der Hofbibliothek der preußischen Könige an. Sie stockten damit ihren eigenen Bibliotheksbestand auf. Möller/Tschubarjan: Die Politik der Sowjetischen Militäradministration, S. 350–354. 32 Schulz: Demontagen in Leipzig, S. 409. 33 Bartels: Papierherstellung in Deutschland, S. 440.
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fende Buchproduktion konnte mit ihren wenigen Titeln und geringen Auflagen zunächst kaum Abhilfe bringen.34 Im Dezember 1946 wurde den Verlagen lediglich 45 % ihres benötigten Papierkontingents zur Verfügung gestellt.35 Der Bücherhunger der Bevölkerung in der SBZ war groß, Angebot und Nachfrage in den ersten Nachkriegsjahren unüberbrückbar weit auseinander liegend. Papier wurde von der Bevölkerung auch in anderen Lebensbereichen als wertvolle Mangelware angesehen, die oft zweckentfremdet verwendet wurde.36 Der Papiermangel bot anderseits für die SMAD ein ideales Mittel, um nach und nach eine planwirtschaftliche Organisation mit einer intensiven Zensur des Buch- und Verlagswesens einzuführen.37 Diese Faktoren beeinflussten den Wiederaufbau des Verlagswesens massiv und erschwerten es vielen Verlegern, auf dem Buchmarkt der SBZ Fuß zu fassen. Die Abwanderung in die Westzonen war groß, weil die Verlage dort leichter eine Lizenz erhielten.38 In der Folge sank Leipzigs Bedeutung als Buchstadt. Dennoch gab es Verleger, die sich vehement für eine Lizenzierung ihrer Firma einsetzten und mitbestimmend für die Buchproduktion in der SBZ wurden.
Die Bildung des Kulturellen Beirats und seine Struktur im Jahr 1946 Die SMAD und DVV waren auf Grund von Personalmangel mit der Ausübung der Zensur überfordert. Zur Abhilfe wurde deshalb eine eigene Behörde geschaffen. Im Mai 1946 ordnete die SMAD die Bildung eines Kulturellen Beirats für das Verlagswesen an, der am 3. Juni des Jahres seine Tätigkeit unter dem Vorsitz von Erich Weinert aufnahm.39 Er tagte zunächst zweiwöchentlich. Laut Weinert wurde der Beirat als Institution gegründet, die den deutschen Verlegern beratend zur Seite stehen sollte »und sie anregt, ihre Verlagsarbeit zu koordinieren«.40 Er sollte ein »überparteiliches Gremium«41 darstellen. Die Zensurbehörde war zunächst in der Lage, diesen Anschein zu erzeugen, da sie sich aus 25 Vertretern der Zentral-, Landes- und Provinzialverwaltungen, des Magistrats
34 BArch, DR 2/896, Bl. 5: Balluseck an die SMAD – Papierkontingente für den Kultursektor 1946, 30. 12. 1945. 35 Vgl. BArch, DQ 1/675: Bergmann – Aktennotiz, 10. 12. 1946. 36 Dies lag unter anderem auch daran, dass Papier als wichtiges Zündmittel verwendet wurde. Der Winter 1946/47 war hart, es herrschte Mangel an Kleidung, Nahrung, Unterkünften und Heizungen. Viele Menschen erfroren, die Suizidrate im zerstörten Deutschland war hoch, und so gut wie kein Haushalt konnte sich ausreichend versorgen. Die Produktion der Industrie erreichte 1947 nicht das Niveau von 1946, und das Vertrauen der Bevölkerung in die SED sank. Dies führte auch bei vielen linken Künstlern zu Schaffenskrisen. Vgl. Dietrich: Politik und Kultur, S. 86–87. 37 Die SBZ hatte dadurch allerdings ein massives Abwanderungsproblem. Viele Autoren und Verleger lehnte die strikte Zensurpolitik ab und gingen in die Westzonen. Kulturoffiziere der SMAD versuchten, deutsche Autoren in der SBZ zu halten und zu akquirieren, darunter auch Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Hans Fallada und Bernhard Kellermann. Vgl. Bille: Der Börsenverein, S. 170; Hartmann/Eggeling: Sowjetische Präsenz, S. 154–155. 38 Vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 28. 39 Vgl. BArch, DR 2/896, Bl. 46: Balluseck, Aktennotiz, betr.: Kultureller Beirat, 24. 5. 1946. 40 o.V.: Lizenzierung neuer Verlage und Zeitschriften, S. 77. 41 BArch, DR 2/1132, Bl. 231: Balluseck an Yella Lepman, 31. 1. 1947.
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Abb. 2: Erich Weinert, Vizepräsident der Deutschen Verwaltung für Volksbildung und Vorsitzender des Kulturellen Beirates, im Gespräch mit sowjetischen Offizieren in der Tageszeitung Tägliche Rundschau, 1946. Foto: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek/ Abraham Pisarek.
der Stadt Berlin, der wissenschaftlichen Bibliotheken, der Volksbüchereien, des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, der demokratischen Parteien und Massenorganisationen, des Films, Rundfunks und Theaters, des Gelehrten- und Künstlerrates sowie des Schutzverbandes Deutscher Autoren (SDA) zusammensetzte.42 Der Beirat sollte als eine »vertrauensbildende Maßnahme«43 für Verleger gesehen werden. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass die SMAD mit der Zulassung von Privatverlagen eine Instanz haben wollte, die eine verstärkte Kontrolle der Verlagsproduktion ausübte. Der Beirat rechtfertigte seine Arbeit damit, dass sich durch den Papiermangel »die Notwendigkeit einer Überwachung der gesamten geistigen Arbeit durch die Besatzungsmächte«44 und der gerechten Papierzuteilung ergeben habe. Bis Ende 1946 übte der Beirat nur beratende Funktionen aus, erst dann machte die SMAD die Überprüfung von Manuskripten durch die Behörde zur Pflicht.45 Ab diesem Zeitpunkt hatte der Beirat die Aufgabe, alle in der Ostzone geplanten Bücher zu begutachten. Er ist somit als »erstes
42 o.V.: Lizenzierung neuer Verlage und Zeitschriften; Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 218. 43 Bille: Der Börsenverein, S. 176. 44 Becker: Der Weg zur Lizenz. 45 Vgl. Strunk: Zensur und Zensoren, S. 148.
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deutsches zentrales Koordinations- und Lenkungsorgan für das Verlagswesen in der SBZ«46 zu sehen. Schon 1946 wurde Kritik laut, dass durch die Errichtung des Beirats eine Einseitigkeit in der Verlagsproduktion entstehen und die Ausschaltung der Opposition zur Folge haben könne. Weinert dementierte diese Aussagen und plädierte dafür, dass der Beirat keine Zensurinstanz darstelle, sondern lediglich die Verlagsproduktion lenke.47 Diese noch zahme Kritik war erst der Beginn einer Flut von Vorhaltungen, die dem Kulturellen Beirat über die Jahre gemacht werden sollten. Letztendlich wurde er für die SBZ/DDR zur Keimzelle der staatlichen Zensur, mit der vor allem Privatverlage klein gehalten wurden. Er kann als Institution in der Hand von SED-Funktionären gesehen werden, die vorrangig die staats-, partei- und organisationseigenen Verlage bevorzugten. Allerdings sollte sich zeigen, dass auch linientreue Schriftsteller und Verleger Opfer der strikten Kontrolle des Kulturellen Beirats wurden.48 Der Beirat beanspruchte für sich, »keinerlei Zwang, Kontrolle, Beaufsichtigung oder Beeinflussung«49 auszuüben, doch die Praxis sah anders aus. Setzten Privatverleger die Änderungsvorschläge des Beirats nicht um, hatten sie kaum Aussichten, von der SMAD eine Genehmigung für ihr Werk zu erhalten.50 Das vorrangige Ziel des Kulturellen Beirats bestand in der Entnazifizierung. Der Beirat sollte faschistische Tendenzen in der Literatur ausmerzen51 und »Wege zur Förderung der allgemeinen Bildung«52 finden. Dies erreichte er, indem er vor allem für Bücher Papier bereitstellte, die als erzieherisch wertvoll galten.53 Er sollte das kulturelle Leben mitbestimmen und das Bindeglied zwischen Verlagen, Autoren und Lesern sein.54 Seine Hauptaufgaben waren die Genehmigungsanträge von Einzelwerken zu bearbeiten, die Verlagsplanungen zu prüfen und die Papierzuteilung zu koordinieren.55 In den ersten Monaten seiner Existenz war er jedoch lediglich eine »Befürwortungsstelle«,56 bei der Verleger ihre Manuskripte und Programmplanungen einreichten. Die Referenten des Beirats prüften die Verlagsprogramme, befürworteten oder bemängelten Manuskripte und stellten die Priorität der Veröffentlichung von bereits genehmigten Titeln fest. Allerdings konnte das Gremium keine finale Entscheidung über die Produktionserlaubnis von Werken treffen. Diese Macht lag weiterhin bei der SMAD.57
46 Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 218. 47 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1212, S. 21: Arbeitsbesprechungen des Volksbildungsamtes vom 3. 1. 1947 – Bl. 22: Bericht über die Sitzung des Kulturellen Beirates am 19. 12. 1946 aus Anlass der Verteilung neuer Lizenzen. 48 Vgl. Dietrich: Politik und Kultur, S. 75. 49 Becker: Der Kulturelle Beirat. 50 Vgl. Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 183. 51 Vgl. Lokatis: Das Verlagswesen in der Sowjetisch Besetzten Zone, S. 120. 52 BArch, DR 2/896, Bl. 61: Balluseck, Entwurf: Aufgaben des Kulturellen Beirats, 12. 4. 1946. 53 Vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 31. 54 Vgl. BArch, DR 2/896, Bl. 61: Balluseck, Entwurf: Aufgaben des Kulturellen Beirats, 12. 4. 1946. 55 Vgl. BArch, DR 2/1055, Bl. 12: Der Kulturelle Beirat: Gesamtaufgabe, 26. 2. 1947. 56 Becker: Planmäßige Buchproduktion. 57 Mortier: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen, S. 73.
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Ein immer wieder benanntes Merkmal des Kulturellen Beirats war, dass er angeblich nicht durch andere Behörden beeinflusst werden konnte und Mitglieder aus der gesamten Zone im Plenum vertreten sein sollten.58 Dass die oft gepredigte Unabhängigkeit und Überparteilichkeit des Beirats von der DVV und SMAD allerdings nicht gegeben war, lässt sich allein schon daran erkennen, dass der Geschäftsführer der neuen Zensurbehörde, Lothar von Balluseck, auch die Abteilung Verlagswesen innerhalb der DVV leitete. Der Beirat sei »zu keinem Zeitpunkt, erst recht jedoch nicht bis Frühjahr 1947 (zentral)verwaltungsfern, überparteilich oder unabhängig von der SMAD« gewesen. Der Beirat machte seine Arbeit zudem nicht transparent. Die Anonymität seiner Lektoren wurde gewahrt, und Verleger waren sich über die Größe der Institution nicht im Klaren. Er war für Außenstehende ein »höchst undurchsichtiges Gebilde«,59 das für seine langen Arbeitsprozesse berüchtigt wurde.60 Die Behörde war zunächst relativ übersichtlich strukturiert. Sie bestand aus einem Sekretariat, einem Plenum und einem Stab freier Lektoren.61 Es gab zunächst keine direkten Einschränkungen der Verlage durch die Instanz, sondern eher eine Kontrolle ihrer Planungen. Dass die Einschränkung durch die SMAD letztendlich auf den Einschätzungen des Beirats beruhte, ignorierten seine Mitarbeiter in der Öffentlichkeit geflissentlich.62 Bis zu seiner Umstrukturierung Anfang 1947 hatte der Kulturelle Beirat keine eigenen Arbeitskräfte, sondern bezog diese von der DVV. Dies führte zu einer massiven Unterbesetzung und einer daraus resultierenden Verminderung von Qualität und Quantität seiner Arbeit. Dieser Zustand wurde offensichtlich, nachdem sich zwischen Ende 1946 und der ersten Hälfte des Jahres 1947 die Manuskripteinsendungen aufgrund der vermehrten Lizenzierung von Privatverlagen verdoppelten.63 Verleger hatten mit monatelangen Verzögerungen ihrer Druckgenehmigungen zu kämpfen64 und kri-
58 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 104: Kielmeyer – Vorbereitende Ausschüsse des Kulturellen Beirats bei den Landesregierungen, 26. 11. 1947. 59 Bille: Der Börsenverein, S. 176, 178. 60 So ließ der Kulturelle Beirat das Werk »Die Jagd nach dem Stiefel« von Max Zimmering mehrmals abändern. Zimmering, der das Werk mehrmals nach den Anforderungen umarbeitete, wurde mit immer neuen Kritikpunkte überzogen. Das Buch erschien letztlich erst 1953. Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 26. 61 Das Sekretariat war für die Organisation und Öffentlichkeitswirkung des Beirats zuständig, das wöchentlich tagende Plenum entschied über die Erteilung von Druckgenehmigungen und die Zuteilung von Papier, während die Lektoren Gutachten zu Manuskripten anfertigten, die dann im Plenum besprochen wurden. Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 40–41. 62 Vgl. BArch, DR 2/896, Bl. 60: Balluseck, Entwurf: Aufgaben des Kulturellen Beirats, 12. 4. 1946. 63 Bille: Der Börsenverein, S. 177; Pike: The Politics, S. 357. 64 Der Verlag J. A. Barth zeigte in einem Beschwerdebrief vom Januar 1947 auf, wie lange das Verfahren andauerte. Im Juni 1946 hatte er nach Erhalt seiner Verlagslizenz seine Planung eingereicht. Im September des Jahres wurde ihm vom Beirat bekannt gegeben, dass seine Unterlagen verlorengegangen seien – diese wurden kurz darauf wiedergefunden, aber noch nicht an die SMAD weitergeleitet. Einen weiteren Monat später war die Planung noch nicht bearbeitet, und Ende Oktober teilte der Beirat dem Verlag mit, dass weitere Unterlagen nicht mehr auffindbar seien. Ende November benannte die Behörde acht Werke des Verlags, über die im Dezember entschieden werden sollte. Bis Ende des Jahres erhielt Barth keine Rückmel-
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tisierten die Zensurbehörde deshalb scharf. Die anhaltende Kritik und die Tatsache, dass die Sowjetregierung den deutschen Behörden mehr Eigenverantwortung übertragen wollte, sollten letztlich zu einer Reorganisation des Kulturellen Beirats im Jahre 1947 führen. Bereits im Dezember 1946 lassen sich erste Hinweise auf eine geplante Umstrukturierung finden, nachdem der Beirat seine Tätigkeit kurzzeitig einstellte.65 Die Mitarbeiter des Beirats, allen voran Erich Weinert, stimmten zu, dass die Bearbeitung, die zu diesem Zeitpunkt sechs bis neun Monate Wartezeit pro Manuskript betrug, beschleunigt werden musste. Der Grund wurde auf den Mangel an Mitarbeitern zurückgeführt.66 Im Januar 1947 gab Weinert bekannt, dass er die Schwierigkeiten des Beirats der SMAD vorgetragen habe und vom zuständigen Kulturoffizier das Versprechen eines »umfangreichen personellen und finanziellen Etats«67 erhalten habe. Er erklärte außerdem, dass der personelle Apparat des Kulturellen Beirats an das rasche Wachstum des Verlagsmarktes und daher auch der eingesandten Druckgenehmigungsanträge angepasst und Lektoren regelmäßiger honoriert werden müssten, um eine kompetente Arbeit zu gewährleisten.68 Die Umstrukturierung des Beirats begann am 25. Januar 1947 mit Befehl Nr. 25 der SMAD, durch den er zum »Rat für ideologische Fragen des Verlagswesens in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands« wurde.69 Außerdem wurde bekannt gegeben, dass den Verlagen ab dem zweiten Quartal 1947 ein begrenztes, aber festes Papierkontingent zugewiesen werden solle,70 das »planmäßig mit Hilfe des Kulturellen Beirates […] zugeteilt wird«.71 Der Befehl sah eine Personalerweiterung auf insgesamt 40 Mitarbeiter, Büros und ein angemessenes Budget vor. Die Aufgabe der Verlagslizenzierung verblieb bei der SMAD. Als neue Aufgabe des Kulturellen Beirats wurde ein Generalverlagsprogramm vorgesehen, das Werke der Welt- und Schulliteratur enthalten sollte, für die Verleger gefunden werden sollten. Dafür durften besondere Papierkontingente bereitgestellt werden.72 Es ist wahrscheinlich, dass die meisten dieser Aufträge den Verlagen Aufbau und Volk und Wissen zufielen.
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dung zu seinen geplanten Publikationen. Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 44–45: J. A. Barth an Balluseck, 6. 1. 1947. Aufgrund der eintretenden Kältewelle und mehreren Umzügen wurden die Arbeiten noch weiter gehemmt, weswegen der Kulturelle Beirat bis Februar 1947 nur sehr wenige Befürwortungen aussprach. Dagegen waren die damals vorliegenden Verlagsvorhaben auf das Dreifache angestiegen. Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 109: Unger – Aktenvermerk: Arbeitsbedingungen, 27. 6. 1947. Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 101: Weinert an Verleger, 15. 3. 1947. BArch, DQ 1/675: Bergmann an Saenger – Aktennotiz, Betr.: Sitzung des KB am 27. 1. 1947, 29. 1. 1947. Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 224: Weinert, Protokoll der 27. Sitzung des Kulturellen Beirats im Klub der Kulturschaffenden Berlin, 27. 1. 1947. Pike: The Politics, S. 358–362. o.V.: 41 Verlage und 52 Zeitschriften lizenziert. o.V.: Verleger-Tagung am 19. Dezember 1946 in Berlin. Vgl. BArch, DR 2/1132: Balluseck, Der Kulturbeirat: Vorschläge und Feststellungen, 29. 2. 1947.
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Die neue Struktur des Beirats sah weiterhin ein Plenum und ein Sekretariat vor. Hinzu kamen ein Hauptausschuss und einzelne Fachkommissionen. Innerhalb des Beirats hatte ursprünglich das wöchentlich tagende Plenum existiert, das über die Verlagsvorhaben entschied. Es war jedoch nur begrenzt handlungsfähig, da die Teilnahme freiwillig und dadurch sporadisch war und Entscheidungen nicht zustande brachte.73 Seine Aufgaben wurden nach und nach den neuen Fachkommissionen übertragen, während das Plenum sich zu einem Ausschuss entwickelte, der nur noch zweimal jährlich tagte und letztlich dazu diente, den demokratischen Schein der Zensurbehörde zu wahren. Aus dem Plenum heraus bildete sich im Herbst 194774 der wöchentlich tagende Hauptausschuss, bestehend aus etwa 40 Mitgliedern,75 der über die Gutachten der Fachkommissionen entschied, Druckgenehmigungen ausstellte sowie die Entscheidung über die Papierzuteilung fällte. Seine Beschlüsse waren bindend.76 Den 16 geplanten Fachkommissionen kam die Aufgabe zu, die Manuskripteinsendungen zu prüfen und zu bewerten.77 Dadurch sollte gewährleistet werden, dass die Anträge der Verlage schneller bearbeitet wurden und die Lektoren ihre Honorare erhielten. Der Beirat war überzeugt, dass sich »auf diese Weise […] weitere Beschwerden von Verlagen vermeiden lassen«.78 Die wahre Macht des Kulturellen Beirats lag jedoch beim Sekretariat. Er wurde bis März 1948 in drei Bereiche unterteilt: die Geschäftsführung, die Literarische Abteilung und die Technische Abteilung. In die Zuständigkeit des Sekretariats fiel unter anderem die Zuteilung der verfügbaren Papierkontingente und die Prüfung der Vierteljahrespläne der lizenzierten Verleger.79 Die Reorganisation des Kulturellen Beirats gestaltete sich schwieriger als erwartet. Der Befehl Nr. 25 konnte erst im Herbst 1947 vollständig umgesetzt werden. Bis zum 1. August 1947 arbeitete er weiterhin innerhalb der DVV. Erst danach war er eine eigenständige Behörde.80 Bereits im Frühjahr 1947 beschloss die SMAD, die geplanten 40 Stellen auf 29 herabzusetzen. Doch die DVV schaffte es nicht einmal, diese zu besetzen.81 Im Frühjahr 1948 waren nur noch 18 feste Mitarbeiter innerhalb des Kulturellen Beirats tätig.82 Von den geplanten 16 Fachkommissionen wurden lediglich neun eingesetzt, da die SMAD nicht den nötigen Etat bereitstellte.83 Für das zweite Quartal 1947
73 Vgl. Lokatis: Das Verlagswesen in der Sowjetisch Besetzten Zone, S. 121. 74 Vgl. BArch, DQ 1/675: Bergmann, Aktennotiz, Betr.: Sitzung des KB am 13. 8. 47, 15. 8. 1947. 75 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 146: Heß, Am 13. Oktober 1947 Vortrag Dr. Kielmeyer in der Kreisgruppe Leipzig, 16. 10. 1947. 76 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 42. 77 Pike: The Politics, S. 363. 78 BArch, DQ 1/675: Bergmann an Saenger – Aktennotiz, Betr.: Sitzung des KB am 27. 1. 1947, 29. 1. 1947. 79 Vgl. Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 42–45. 80 Am selben Tag löste Otto Kielmeyer Lothar von Balluseck als Geschäftsführer des Kulturellen Beirats ab. Pike: The Politics, S. 362–363. 81 Lokatis: Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur, S. 305. 82 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 50. 83 Vgl. Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 219; Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 41.
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wurde der Finanzetat des Kulturellen Beirats zwar vollständig von der SMAD bewilligt,84 doch die sowjetischen Stellen weigerten sich, die versprochenen finanziellen Mittel bereitzustellen oder zahlten sie teilweise viel zu spät.85 Zudem fehlten der Zensurbehörde fachlich qualifizierte Lektoren,86 da diese zur Wahrung der Unparteilichkeit nicht gleichzeitig als Verlagslektoren arbeiten sollten.87 Sie agierten anonym und durften nicht direkt von den Verlagen kontaktiert werden.88 Das machte die Suche nach qualifizierten Mitarbeitern schwierig, denn die meisten Lektoren waren bei Verlagen angestellt. So beauftragte der Beirat zunächst hauptsächlich freie Lektoren und andere spezialisierte freiwillige Fachkräfte auf Honorarbasis.89 Nach und nach war er jedoch in der Lage, sich einen kleinen Stab an Hauslektoren aufzubauen, was das Begutachtungsverfahren etwas beschleunigte.90 Dennoch war die Umstrukturierung entsprechend Befehl Nr. 25 nur teilweise erfolgreich und erreichte nie das angestrebte Stadium. Der Personalmangel führte zu Verzögerungen, die der Kulturelle Beirat nicht wieder wettmachen konnte.91 Gleichzeitig machte ihm und den Verlagen der Papiermangel schwer zu schaffen. Bereits im Februar 1947 wurde darauf hingewiesen, dass bewilligte Werke nicht gedruckt werden könnten, weil das benötigte Papier schlichtweg nicht zu erhalten sei.92 Weinert bat die SMAD im darauffolgenden Sommer und Herbst mehrfach um mehr Papier, weil die Zensurbehörde vor der Arbeitsunfähigkeit stand. Versprochene Papierkontingente seien von der SMAD »bisher noch nicht ein einziges Mal voll ausgeliefert«93 worden. Im Oktober hätte der Beirat 3.000 Tonnen zusätzliches Papier benötigt, damit die Verlage ihre bereits lizenzierten Werke hätten drucken können.94 Deshalb stellte die Zensurbehörde ihre Tätigkeit kurzzeitig ein.95 Somit konnten auch bewilligte Titel aufgrund des Papiermangels »abgelehnt werden«, da es keine Möglichkeit zum Druck gab.96 84 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 230: Besprechung mit Major Mischin, Etat des Kulturellen Beirats, 31. 1. 1947. 85 Dies lag wohl am politischen Kalkül gegenüber den anderen Alliierten. Die Sowjetunion wollte nicht eingestehen, dass in der SBZ alles zentralisiert wurde, weswegen sich die zuständigen Stellen bei der Mitarbeit am Kulturellen Beirat bedeckt und unwillig verhielten. Pike: The Politics, S. 360–361. 86 Vgl. Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 306. 87 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 146: Heß: Am 13. Oktober 1947, Vortrag Dr. Kielmeyer in der Kreisgruppe Leipzig, 16. 10. 1947. 88 Pike: The Politics, S. 373. 89 Vgl. Heidschmidt/Marschall-Reiser: Ministerium für Kultur, S. 6. 90 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 44. 91 Ein Mitarbeiter des Beirats bemerkte im Juni 1946, dass die neuen Verlagsvorhaben seit Oktober des vorigen Jahres um das Sechsfache angestiegen seien, ohne dass dem Beirat genügend Personal bereitgestellt worden sei, um diesen Anstieg zu bewältigen. Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 109: Unger – Aktenvermerk. Arbeitsbedingungen, 27. 06. 1947. 92 Vgl. BArch, DQ 1/675: Bergmann an Saenger, Aktennotiz, Betr.: Sitzung des KB am 3. 2. 1947, 7. 2. 1947. 93 BArch, DR 2/1091, Bl. 144: Weinert an Tjulpanow, 15. 9. 1947. 94 Pike: The Politics, S. 371–372. 95 Vgl. BArch, DR 2/1091, Bl. 143: Weinert an Tjulpanow, 16. 10. 1947. 96 Selbst wenn der Beirat ein Werk in Dringlichkeitsstufe I eingeordnet hatte, konnte das versprochene Papier manchmal nicht zugeteilt werden, weswegen ein großer Papier-Schwarzmarkt entstand, der von vielen Verlagen genutzt wurde. Der Kulturelle Beirat versuchte nur
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Umstrukturierungen 1947 und die Genehmigung der Titel nach Dringlichkeitsstufen Während Befehl Nr. 25 den Kulturellen Beirat zu einer eigenständigen Stelle erhob, regelte ein anderer Befehl der sowjetischen Stellen im Frühjahr 1947 das Lizenzierungsund Genehmigungsverfahren komplett neu.97 Bereits am 27. Februar 1947 hatte die SMAD bekannt gegeben, dass die Firmen nur noch ihre Verlagspläne zur Prüfung einreichen müssten und eine explizite Manuskriptkontrolle nicht mehr erfolgen solle.98 Daraufhin erklärte der Börsenverein, »dass damit jegliche Zensur aufhöre, denn eine andere als die Zensur der Sowjetischen Militär-Administration habe es nicht gegeben«.99 Mit Befehl Nr. 90 vom 17. April 1947100 wurde die sowjetische Vorzensur beendet und die Zensurgewalt vorrangig dem Kulturellen Beirat übergeben. Er ersetzte Befehl Nr. 19 vom 2. August 1945, mit dem den Druckern und Verlegern, die Werke ohne Genehmigung druckten, militärgerichtliche Bestrafung angedroht worden war.101 Entgegen der Hoffnung der Betroffenen entfiel die sowjetische Vorzensur nicht vollständig, sondern lediglich die für schöngeistige und belletristische Werke privater Verleger. Weiterhin von der SMAD kontrolliert wurden »soziale und politische Literatur, Broschüren im Umfang [von] bis zu 16 Seiten, Flugblätter und Plakate der politischen Parteien, der Gewerkschaften und öffentlichen Organisationen sowie die Werbung für diese Ausgaben und die Werbung für Bühnenunternehmen«,102 und auch bei den übrigen Werken behielt sich die Sowjetadministration ein Vetorecht vor.103 Verleger mussten sich durch den Befehl auf bestimmte Fachgebiete beschränken. Sie durften nur »Ausgaben veröffentlichen, die in den ihnen ausgestellten Lizenzen vorgesehen und im Verlagsplan bestätigt« waren.104 Weiterhin mussten die Verleger ihre Planungen und eine gewisse Anzahl an Leseexemplaren bei den Sowjetstellen abliefern.105 Bei Nichteinhaltung dieser Vorgaben
halbherzig, den illegalen Handel zu unterbinden. Die Fachkommission Wissenschaft sicherte den wissenschaftlichen Verlagen beispielsweise zu, ihre Werke zur sofortigen Drucklegung zu befürworten, wenn sie das benötigte Papier selbst beschafften. Dies befeuerte den Schwarzmarkt nur weiter, da die meisten Verlage keine eigenen Papierbestände vorweisen konnten. Vgl. BArch, DQ1 24023: Mendel an Thieme Verlag – Martius »Die gynäkologischen Operationen«, 11. 10. 1947; Bille: Der Börsenverein, S. 178. 97 Mortier: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen, S. 74. 98 Vgl. Heidschmidt/Marschall-Reiser: Ministerium für Kultur, S. 3. 99 StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 77: Börsenverein an DVV, 12. 3. 1947. 100 Er wurde allerdings erst im November 1947 veröffentlicht; o.V.: Über die Tätigkeit der Verlage und Druckereien / Befehl Nr. 90. 101 Pike: The Politics, S. 359. 102 Möller/Tschubarjan: Die Politik der Sowjetischen Militäradministration, S. 137 (Befehl Nr. 90 des Obersten Chefs der SMAD über die Tätigkeit der Verlage und Druckereien mit Ausführungsbestimmungen, 17. 4. 1947). 103 Vgl. Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 220; Prodöhl: Die Politik des Wissens, S. 229. 104 Möller/Tschubarjan: Die Politik der Sowjetischen Militäradministration, S. 137 (Befehl Nr. 90 des Obersten Chefs der SMAD über die Tätigkeit der Verlage und Druckereien mit Ausführungsbestimmungen, 17. 4. 1947). 105 Vgl. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, S. 1238.
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drohten hohe Geldstrafen, die Konfiszierung der jeweiligen Werke, der Verlust der Verlagslizenz und sogar Gefängnisstrafen. Entsprechend Befehl Nr. 90 erteilte also fortan der Kulturelle Beirat die Druckgenehmigungen106 und stufte die Projekte nach Dringlichkeit ein.107 Manuskripte mussten zunächst nicht mehr eingereicht werden, da die Einzelprüfung zu einer »Verstopfung der Arbeitskanäle«108 geführt hatte. Werke der vorgelegten Vierteljahresplanungen wurden nach vier Dringlichkeitsstufen eingeteilt: I II III IV
Befürwortung mit Papierzuteilung Befürwortung ohne Papierzuteilung Nicht befürwortet Manuskriptvorlage erforderlich109
Durch Dringlichkeitsstufe IV blieb die Möglichkeit der Manuskriptprüfung erhalten, »damit Pannen vermieden werden«.110 Wurde ein Manuskript angefordert, so musste es bei fragwürdigem Inhalt mehrere Instanzen durchlaufen, bevor es mit einer Genehmigung oder Ablehnung an den Verlag zurückgesandt wurde. Damit wurde eine planwirtschaftliche Steuerung und politische Lenkung der Produktion gewährleistet. Eine Grenze zwischen Zensur und reiner Begutachtung von Manuskripten war nur noch schwer zu ziehen.111 Durch seine Umorganisation war der Kulturelle Beirat »zu einem Planungsinstitut phantastischen Ausmaßes«112 geworden. Weinert hatte bereits im Februar 1947 mit Verweis auf die bevorstehende Aufhebung der Vorzensur darauf hingewiesen, dass der Beirat die »Verlagsproduktion in die rechten Bahnen lenken«113 wolle. Die Vorzensur wurde somit lediglich von der SMAD auf den Kulturellen Beirat übertragen. Die riesige Zensurinstanz, zu der er geworden war, hätte ihre Aufgaben und den langen Arbeitsprozess, den die Verlagsplanungen durchlaufen mussten, eventuell bewältigen können – wenn die sowjetischen Behörden sie in ihrer Größe und Konstruktion angemessen unterstützt hätten. Die offensichtliche Entwicklung des Kulturellen Beirats zu einer Hauptzensurbehörde verstärkte auch die Kritikerstimmen erneut. Es wurde gefordert, die Programme der Verleger nicht zu zensieren und ihnen »die Verantwortung für die gewissenhafte Verwendung der ihn[en] zugeteilten Mittel« zu überlassen. Die Arbeit des Kulturellen Beirats
106 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1477, Bl. 20: Reclam, Heilmann – Niederschrift über die Sitzung vom Vorstand und Hauptausschuß des Börsenvereins am 2. April 1947 10 Uhr im Buchhändlerhaus, 6. 4. 1947. 107 Vgl. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, S. 1235. 108 StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 77: Börsenverein an DVV, 12. 3. 1947. 109 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 119: Protokoll der 40. Sitzung des Kulturellen Beirats im Klub der Kulturschaffenden Berlin, 5. 5. 1947. 110 StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 77: Börsenverein an DVV, 12. 3. 1947. 111 Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 316; Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, S. 1235. 112 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, S. 1237. 113 Weinert zit. nach o.V.: Kulturarbeit statt Vorzensur.
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sei eine »planmäßige Unterbindung der geistigen Produktion«, hieß es im Börsenblatt.114 Die Kritik der Verleger ließ nicht nach. Um ihnen entgegenzukommen und die Wogen zu glätten, richtete die Zensurbehörde Mitte des Jahres 1947 den Blick auf Leipzig und planten dort die Errichtung einer Außenstelle.115 Denn die Leipziger Verleger waren fest davon überzeugt, dass die DVV und der Kulturelle Beirat versuchten, Leipzig den Rang als Buchstadt abzulaufen und Berlin zum Mittelpunkt des Verlagsgeschehens zu machen.116 Ab Mai 1947 bereitet der Kulturelle Beirat eine Zweigstelle in Leipzig vor, die den dortigen Verlegern die Möglichkeit geben sollte, Beschwerden und Anfragen ohne eine umständliche Reise nach Berlin vorzubringen.117 Die Zweigstelle sollte ein Bestandteil des Kulturellen Beirats in Berlin sein und wichtige Vorarbeiten für ihn leisten, wie das »Einsammeln der Manuskripte, Vorbesprechungen mit Verlagen, Verteilung an örtliche Lektoren, die vom Kulturellen Beirat genehmigt sind«.118 Sowohl der Beirat als auch die Verleger erhofften sich hiervon eine Beschleunigung des Arbeitsprozesses.119 Außerdem sollte sie gleichzeitig als Beratungsstelle für die Verleger dienen.120 Nach langer Planung wurde sie schließlich im Februar 1948 eingerichtet.121 Doch der Leipziger Außenstelle war keine lange Zukunft beschieden. Bereits am 31. Juli 1948 wurde sie wieder aufgelöst. Angeblich waren ihre Sprechzeiten zu schlecht besucht, wobei dies aufgrund der vorherigen starken Nachfrage vonseiten der Verleger fraglich erscheint.122 Das Tätigkeitsgebiet der Stelle sei außerdem sehr begrenzt gewesen, und aufgrund des Personalmangels habe der Beirat keine Vollzeitkraft in der Verbindungsstelle einsetzen können. Eine Sprechstunde mit dem Geschäftsführer sollte zunächst erhalten bleiben, obwohl angedeutet wurde, dass auch diese bei einer Verschlechterung des Besuches nicht weitergeführt werden würde.123 Während der Einrichtung der Leipziger Zweigstelle wurde außerdem über die Einbindung der Verleger in einem Verlegerausschusses des Kulturellen Beirates nachgedacht. Der Aufbau entwickelte sich allerdings nur schleppend, da der Beirat kein Interesse an dem Gremium hatte und ihn kaum in seine Entscheidungsprozesse einbezog.124 Letztendlich kam die Gründung des Ausschusses nie zustande.125 114 Hohlfeld: Zur Frage einer planmäßigen Buchproduktion. 115 Vgl. Bille: Der Börsenverein, S. 186. 116 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 40: Börsenverein und Verleger an Wandel, 10. 1. 1947. 117 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 44. 118 BArch, DQ 1/675: Bergmann an Saenger, Napieralski – Aktennotiz der 44. Sitzung des KB am 9. 6. 1947, 11. 6. 1947. 119 StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 131: Ausschnitt aus der Niederschrift über die Sitzung von Vorstand und Hauptausschuß des Börsenvereins am 11. Juni 1947 10 Uhr im Buchhändlerhaus. 120 StA-L, Börsenverein II, 1478, Bl. 17: Weiß, Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes des Börsenvereins am 4. Juni 1947 10 Uhr im Buchhändlerhaus, 9. 6. 1947. 121 Riese: Der Börsenverein, S. 130. 122 Bille: Der Börsenverein, S. 187. 123 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 177: Kultureller Beirat an Börsenverein – Betr.: Leipziger Verbindungsstelle des Kulturellen Beirates, 12. 7. 1948. 124 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1213, Bl. 17: Abschrift aus der Niederschrift über die Arbeitsbereichs-Versammlung Verlag und Musikverlag der Kreisgruppe Leipzig am 6. 7. 1948. 125 Vgl. Bille: Der Börsenverein, S. 187–189.
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Die Reformbemühungen im Jahr 1948 Die Arbeit des Kulturellen Beirats zog massive Auswirkungen auf Verleger und Autoren der SBZ nach sich. Sie waren einer ungewissen literaturpolitischen Situation ausgesetzt. Noch kurz vor der Gründung der DDR wanderten viele Verleger in den Westen ab, da für sie das Schreiben und Verlegen von Werken im Osten von »dogmatischer Enge«126 geprägt war. Die Buchstadt Leipzig dezentralisierte sich in die westlichen Städte Konstanz, Bielefeld, Mainz und Hamburg, was auch der Kulturelle Beirat erkannte.127 Dennoch stand er dieser massiven Abwanderung machtlos gegenüber. Von 1946 bis 1948 erschienen in den westlichen Besatzungszonen insgesamt 19.811 Bücher, während es in der SBZ lediglich 3.825 gewesen waren.128 Laut einer Mitteilung des Kulturellen Beirats verabschiedete dieser allein 1947 mehr als 3.700 Titel, von denen 65 % mit einer Gesamtauflagenhöhe von über 30 Millionen Exemplaren die Dringlichkeitsstufe I oder II hatten.129 Viele dieser Werke konnten aufgrund des Papiermangels aber nie in Druck gehen. Besonders bevorzugt wurden weiterhin organisationseigene und staatliche Verlage wie Aufbau und Volk und Wissen.130 Sie hatten einen nicht einzuholenden Vorsprung gegenüber privaten Verlegern – vor allem in Bezug auf die Papierzuteilung und Herstellungskapazitäten.131 Die wirtschaftlichen Probleme, die der Kulturelle Beirat bei den Verlegern verursachte, bezogen sich damit meist auf die kleinen Privatverlage, die sich im kulturpolitischen Rahmen sowieso in einer prekären Lage befanden.132 Die Verlage verlangten, dass eine Wandlung eintreten müsse – vor allem in Bezug auf die Dringlichkeitsstufen: Sonst »geraten wir restlos in die Sackgasse und wir werden kaum noch ein Buch herauszubringen vermögen«.133 Der Verleger Rudolf Marx war laut Victor Klemperer beispielsweise »offenherzig erbittert gegen den
126 Abusch: Mit offenem Visier, S. 222. 127 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 167: Protokoll der 33. Sitzung des Kulturellen Beirats im Klub der Kulturschaffenden Berlin, 10. 3. 1947. 128 Mortier: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen, S. 72. 129 Kultureller Beirat: Mitteilungen »Jahresbericht 1947«. 130 Mortier: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen, S. 79. 131 So durfte Aufbau beispielsweise einen Verlagsvertreter zu den Sitzungen des Hauptausschusses schicken. Volk und Wissen war der einzige Verlag, der einen Mitarbeiter in den Kommissionen des Kulturellen Beirats hatte. Er wurde auch durch inoffizielle Mitteilungen vorzeitig über Druckgenehmigungen informiert. Manuskripte des Akademie-Verlags wurden ab 1949 sogar generell genehmigt. Aufbau, Volk und Wissen und Dietz erhielten außerdem eigene Papierkontingente, die unabhängig von der Zuteilung durch den Kulturellen Beirat waren. Damit erhielten sie pro Quartal in etwa so viel Papier wie alle anderen Verleger in der SBZ zusammengenommen. Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 119: Kultureller Beirat – Aktenvermerk, 10. 2. 1947; BArch, DR 2/1027, Bl. 11–12: Naas, Vermerk: Die Arbeit des Akademie-Verlages, 13. 1. 1949. 132 Etwa 85 % der Gesamtzahl an publizierten Titeln in der SBZ sind in nicht-privaten Verlagen erschienen, da der Kulturelle Beirat den privaten Verlegern kaum bedeutende und vor allem nicht-auflagenstarke Titel genehmigte. Vgl. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, S. 1258. 133 BArch, DQ 1/4, Bl. 14: Thieme an AMV, Betr.: Bauer »ABC der Röntgentechnik« 3. Aufl., 16. 11. 1948.
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kulturellen Beirat, […], das Zukurzkommen klassischer Werte, das Rotanstreichenmüssen der Bücher«.134 Verleger mussten darum fürchten, ihre Autoren an Westverlage zu verlieren. Einige versuchten angesichts der Probleme die Identität der anonymen Lektoren des Beirats herauszufinden, um sie zu bestechen. Aus vertraulichen Berichten zwischen Mitarbeitern des Beirats geht hervor, dass dies einigen Verleger gelungen sein muss.135 Es gab immer wieder Versuche, die Kritik an der jungen Zensurbehörde zu unterbinden oder zu entkräften. So erwiderte beispielsweise Otto Kielmeyer häufig, dass auch die Verleger an den Verzögerungen beteiligt seien, weil sie mangelhafte und unleserliche Manuskripte einsandten.136 Vertreter des Beirats und Parteiintellektuelle äußerten sich außerdem in der Öffentlichkeit mehrfach demonstrativ positiv über die Zensurbehörde: »Die fortschrittliche Verlegerschaft wird es nur begrüßen, durch eine solche beratende und helfende Instanz unterstützt zu werden, erspart sie ihr doch viel zeitraubende Arbeit und bewahrt sie vor Fehlschlägen.«137 Doch die Bemühungen des Kulturellen Beirats führten letztendlich aber nicht dazu, dass der Strom an Kritik abriss, die Abwanderung aufgehalten wurde oder dass sich die Situation der Verleger innerhalb der SBZ verbesserte. Der Unmut der Verleger und vieler Autoren führte ab 1948 dazu, dass die zuständigen deutschen und sowjetischen Behörden an eine erneute Umstrukturierung oder sogar Auflösung des Kulturellen Beirats dachten. Der Anfang vom »Ende« des Beirats wurde damit eingeläutet. Im März 1948 wurde eine erneute Reduktion des Personals des Kulturellen Beirats vorgenommen. In dieser Zeit gingen monatlich 400 bis 500 Manuskripte im Sekretariat ein. Im ersten Quartal des Jahres hatte der Beirat lediglich 20 % der Genehmigungsanträge in Dringlichkeitsstufe I einsortiert. Außerdem zeichnete sich ein weiterer Anstieg an Manuskripteinsendungen ab.138 Es wurde neben der langen Bearbeitungsdauer auch weiterhin die Qualifikation der Lektoren bemängelt und die Regelung der Anonymität 139 angezweifelt. Dem Beirat wurde vorgeworfen, willkürlich zu verfahren und sein bürokratisches Verfahren bewusst zu verschlimmern.140 Der Schriftsteller Ehm Welk nannte den Kulturellen Beirat gar eine »literarische Geheimpolizei«,141 was zu großer Empö-
134 Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, S. 44. 135 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 112: Unger an Hartung, Lehmann, Vertraulicher Bericht, 30. 6. 1947. 136 Vgl. BArch, DQ 1/675: Kielmeyer: Rundschreiben! Betr. Manuskripte, 8. 10. 1948. 137 StA-L, Börsenverein II, 1212, Bl. 96: Becker in der Täglichen Rundschau, Selbstverantwortliche Buchproduktion, 21. 3. 1947. 138 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 90: Bericht über vom Hauptausschuss des Kulturellen Beirats ausgesprochene Druckgenehmigungen I. Vierteljahr 1948, März/April 1948. 139 Es wurde bemängelt, dass den Verlegern durch fehlende Transparenz nicht klar sei, ob ihr Manuskript überhaupt von einer qualifizierten Person lektoriert werde. Auch wurde immer wieder bemängelt, dass die Anonymität der Lektoren in einem demokratischen System nicht vertretbar und dass der Beirat dadurch korruptionsgefährdet sei. Ob dies der Fall war, lässt sich aufgrund der Aktenlage nicht vollständig klären. Schröder: National-Forum. Kultureller Beirat: Beckmesser der Literatur. 140 Vgl. Heidschmidt/Marschall-Reiser: Ministerium für Kultur, S. 7. 141 BArch, DR 2/1055, Bl. 49: Protokoll betr. Aufgaben des Amts für Verlagswesen (KB), 1. 12. 1949.
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rung in der Zensurbehörde führte. Eine erneute Reorganisation fand jedoch zunächst nicht statt. Zeitgleich wurde in der SBZ die erste deutsche Regierungsinstanz – die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) – eingerichtet. Ihr wurden am 12. April 1948 zentrale Koordinierungs-, Kontroll- und Weisungskompetenzen von der SMAD übertragen.142 Sie wurde von SED-Funktionären angeführt und bevorzugte staatseigene Unternehmen und Organisationen,143 was für viele Angehörige der Intelligenz eine schwierige Situation innerhalb der SBZ bedeutete, wenn sie nicht mit dem propagierten System konform gingen. Die Stimmung in der Zone wurde auch aufgrund des beginnenden Kalten Krieges immer angespannter. Selbst parteinahe Intellektuelle begannen, über eine Umsiedlung nachzudenken, da Gerüchte über die Schließung der Westgrenze kursierten.144 Am 12. Mai 1948 wurde von der DWK der Zweijahrplan für 1949 und 1950 beschlossen.145 Er wurde im Zuge einer Einführung der Planwirtschaft organisiert und sollte unter anderem die »Grundlage für eine erweiterte, verbesserte Kulturarbeit« und eine »Steigerung der Arbeitsproduktivität«146 schaffen. Der Zweijahrplan war das Ergebnis der »einseitige[n] politische[n] und kulturelle[n] Identifikation mit der UdSSR«.147 Das Börsenblatt berichtete, dass bei der Papierzuteilung hauptsächlich Verlage unterstützt würden, die im Sinne des Zweijahrplans produzierten, was im Prinzip eine ausschließliche Unterstützung von sowjetischer und sozialistischer Literatur befürchten ließ. Gleichzeitig wurden die Verleger beschwichtigt, dass sie keinerlei Einschränkung ihrer Tätigkeit zu befürchten hätten und im Sinne des Zweijahrplans eine vielfältige Verlagsproduktion angestrebt werde. Sie sollten dennoch ihre Verlagspläne für zwei Jahre im Voraus beim Börsenverein einreichen, was kaum spontane oder neue Produktionen zuließ. Außerdem sollte innerhalb der DWK eine neue Instanz errichtet werden, die für die Papierzuteilung und die Lenkung des graphischen Gewerbes zuständig gewesen wäre.148 Dies hätte die Kompetenzen des Kulturellen Beirat geschmälert, der im Zusammenhang mit der Propagierung des Zweijahrplans seine Autorität als Zensurbehörde festigen wollte. Er verstärkte die Zensur der sozialwissenschaftlichen, aber auch der naturwissenschaftlichen Literatur.149 Am 24. Juni 1948 sperrten die Sowjets alle Landverbindungen zwischen Berlin und den Westzonen und unterbrachen die Strom- und Kohleversorgung Westberlins.150 Nachdem die Westzonen kurz zuvor eine eigene Währungsreform durchgesetzt hatten, die ihre prekäre wirtschaftliche Lage stabilisieren sollte, wurde auch in der SBZ eine Währungsreform von Juni bis Juli 1948 durchgeführt. Die separaten Reformen bedeute-
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Vgl. Brunner: Einleitung, S. 13. Vgl. Zschaler: Die vergessene Währungsreform, S. 222. Vgl. Foitzik: Weder »Freiheit« noch »Einheit«, S. 50. Vgl. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland, S. 640. o.V.: Vor welchen Aufgaben steht der Buchhandel? Foitzik: Weder »Freiheit« noch »Einheit«, S. 41. o.V.: Vor welchen Aufgaben steht der Buchhandel?; o.V.: Buchhandel vor wichtigen Aufgaben. Mortier: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen, S. 77. Hartmann/Eggeling: Sowjetische Präsenz, S. 21.
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ten die unabänderliche Spaltung Deutschlands.151 Mit der ostdeutschen Reform wurde die Planwirtschaft endgültig eingeführt. Privatverleger mussten ab September 1948 ihre Verlagsarbeit an die Wirtschaftsplanung anpassen, und der Börsenverein wurde verstärkt in die literarische Bedarfsermittlung und die Erstellung von Verlagsplänen eingebunden.152 Auch der Kulturelle Beirat geriet durch die angespanntere politische Situation vermehrt ins Kreuzfeuer. Am 23. August 1948 wurden vom Zentralsekretariat der SED eine Reorganisation der Behörde und eine Erweiterung ihrer Vollmachten verkündet. Der Beirat wurde zu einer direkten Unterabteilung der DVV, was die bestehende Farce seiner Unabhängigkeit zunichte machte. Der Hauptanteil der Arbeit des Beirats wurde auf die Fachkommissionen verlagert, während der Hauptausschuss wieder ins Plenum integriert wurde, das wie zuvor nur selten aus besonderen Anlässen tagte. Das Sekretariat bekam noch mehr Macht, indem es nun auch die Protokolle der Lektoren bestätigte. Otto Kielmeyer und andere Zuständige versprachen sich davon eine Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens. Zu den erweiterten Vollmachten des Kulturellen Beirats gehörten unter anderem die Kontrolle der politischen nichtperiodischen Literatur, die Übergabe von Verlagslizenzen und die Verteilung aller Verlagsmaterialien außer Papier. Auch die Befugnis der Papierzuteilung erhielt der Beirat schließlich, da die dafür geplante Stelle innerhalb der DWK nicht geschaffen wurde. Er konnte nun die Papierkontingentierung koordinieren und musste nicht auf zusätzliche Genehmigung durch die SMAD warten.153 Der Beirat sollte durch SED-Kader verstärkt werden, doch die weiterhin langen Bearbeitungsprozesse und die anhaltende Kritik an der Behörde lassen Zweifel aufkommen, wie viel Personal ihm tatsächlich zugestanden wurde. Der Kulturelle Beirat kritisierte unterdessen, dass zu viele Verlagslizenzen vergeben worden seien und kündigte an, dass die DVV alle Lizenzen erneut prüfen würde. Schon im November 1948 war bekannt gegeben worden, dass keine neuen Lizenzen erteilt werden sollten.154 Die Zensurbehörde und die DVV rechneten nicht mit einem Ende des Papiermangels und wollten aus diesem Grund nur eine begrenzte Anzahl an Verlagen als selbstständige Einrichtungen zulassen.155
Das Ende des Kulturellen Beirates Im Jahr 1949 hatte der Kulturelle Beirat trotz massiver Kritik eine stetige Produktionszunahme zu verzeichnen.156 Diese kurze Erfolgsphase sollte jedoch nicht andauern. Die Behörde hatte erneut Personalschwierigkeiten, weil sich ihr Geschäftsführer Otto Kiel-
151 Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland, S. 654. 152 Riese: Der Börsenverein, S. 130. 153 Vgl. BArch, DR 2/1092: Kielmeyer an Engels (DVV), 8. 2. 1949. 154 Zur Lizenzierungspraxis siehe den Beitrag von Bettina Jütte in diesem Band. 155 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 21: Volkmann an Wandel, Besprechung im Zentralsekretariat über den Kulturellen Beirat vom 18. 6. 1949, 23. 6. 1949. 156 Von Juli bis September 1949 erschienen insgesamt 476 Bücher und viele andere Druckwerke mit einer Gesamtauflage von etwa 12 Millionen Exemplaren. Innerhalb dieser Angaben ist die Produktion des Dietz Verlages nicht erfasst. Vgl. BArch, DR 2/1049, Bl. 28: Kultureller Beirat an Wandel, September/Oktober 1949.
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meyer in den Westen abgesetzt hatte. Die Geschäftsführung der Behörde übernahm Ludolf Koven.157 Am 7. Oktober 1949 wurde offiziell die DDR gegründet. Drei Tage später folgte die Erklärung, dass die SMAD zur Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) umgeformt werde. Die bisher von der SMAD wahrgenommenen Verwaltungsfunktionen wurden vollständig auf die Regierung der DDR übertragen. Die SKK fungierte weiterhin als Kontrollinstanz, die sich das Recht zu Anweisungen vorbehielt.158 Bis zum Januar 1950 mussten die Produktionsmeldungen für Bücher an die SKK weitergeleitet werden. Danach wurden sie dem Kulturellen Beirat übergeben.159 Die Verstaatlichung des Verlagswesens schritt voran. Es gab sogar Überlegungen, die Verlage unter einer Dachgesellschaft zusammenzufassen und zugleich Privatfirmen abzuschaffen.160 Trotz aller Bemühungen und Reorganisationsstrategien des Kulturellen Beirats war er nicht in der Lage, die Masse an eingehenden Manuskripten in einem zumutbaren Zeitrahmen zu bearbeiten. Das angestrebte Vertrauensverhältnis zwischen ihm und den Verlegern war nicht gegeben, das Verhältnis zu den Autoren angespannt und die neu erhobene Aufgabe der Förderung junger Autoren nicht zu leisten. Immer mehr Stimmen auch auf Seiten der SED und der von ihr kontrollierten Behörden verlangten die Umstrukturierung beziehungsweise Auflösung der Zensurbehörde. Bereits Ende 1948 wurde ein Vorschlag zur Ersetzung des Beirats gemacht: Der Entwurf für die Deutsche Verlagskommission sollte der wichtigste in einer Reihe von Umstrukturierungsideen von 1949 bis 1951 sein und den Fall des Kulturellen Beirats einläuten.161 Die Zensurbehörde wurde als faktisch gescheitert und sowohl technisch als auch ideologisch überfordert angesehen.162 Die neue Verlagskommission sollte erhebliche personelle Erweiterungen erfahren163 und ein homogenes Verlagswesen in der SBZ errichten, um den Zweijahrplan erfolgreich durchführen zu können.164 Die neue Deutsche Verlagskommission sah die Auflösung der Befehle Nr. 25, 90 und 356 vor und sollte alle das Verlagswesen betreffende Aufgaben übernehmen.165 Die Bildung der Instanz zog sich allerdings hin, auch weil die zuständigen Behörden zu keiner Einigung über Funktion und Struktur gelangten. Verleger begannen, sich für den Kulturellen Beirat einzusetzen, weil sie von der kommenden Verlagskommission weitere Beschränkungen ihrer Arbeit befürchte-
157 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1213, Bl. 57: Unbekannt an Koven, 4. 9. 1949. 158 Vgl. Brunner: Einleitung, S. 22–23. 159 Vgl. StA-L, Börsenverein II, 1213, Bl. 60: Eisler an alle Verlagsleitungen, Betr.: Produktionsmeldungen und Verlagsplanung, 30. 1. 1950. 160 Vgl. BArch, DR 2/1055, Bl. 49: Besprechungsprotokoll betr. Aufgaben des Amtes für Verlagswesen (KB), 1. 12. 1949. 161 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 33: Begründung für die Notwendigkeit zur Errichtung einer deutschen Verlagskommission, Ende 1948/Anfang 1949. 162 Vgl. Heidschmidt/Marschall-Reiser: Ministerium für Kultur, S. 7. 163 Vgl. Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 163. 164 Vgl. BArch, DR 2/1132, Bl. 33: Begründung für die Notwendigkeit zur Errichtung einer deutschen Verlagskommission, Ende 1948/Anfang 1949. 165 Vgl. BArch, DR 2/1092: Errichtung und Aufgabenbereich der Deutschen Verlagskommission, Frühjahr/Sommer 1949.
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ten.166 Schließlich wurde die Gründung der Verlagskommission nach Etablierung der DDR-Führungsriege aus nicht ersichtlichen Gründen aufgegeben. Befehl Nr. 90 wurde erst am 27. Februar 1950 aufgehoben und die Aufgaben der DVV dem Amt für Information und dem Ministerium des Innern der DDR übertragen.167 Von Oktober 1947 bis März 1950 waren insgesamt 12.125 Anträge auf Druckgenehmigung vom Kulturellen Beirat bearbeitet worden. 8.752 wurden genehmigt, 3.373 abgelehnt.168 Seine Arbeitsweise wurde von den meisten Stellen als nicht befriedigend angesehen. Im Arbeitsplan der DVV für 1949/1950 war die Reorganisation des Beirats als eines der wichtigsten Vorhaben vermerkt.169 Mortier schreibt: »Von den fünf Aufgaben – der Prüfung der Manuskripte, der Durchsicht und Bestätigung der Verlagspläne, der Überprüfung des Verlagspersonals, der Bearbeitung längerfristiger Vorschläge für die Verlagstätigkeit, der Förderung des Schriftstellernachwuchses – hat er tatsächlich nur die erste, und diese nur sehr unvollkommen, erfüllt.«170 Dennoch sollte eine Veränderung noch auf sich warten lassen. Die erneute Umstrukturierung wurde nach hinten verschoben. Im August 1949 bewilligte die DWK den vollständigen Stellenplan des Beirats. Ab 1. Dezember 1949 führte die Zensurbehörde den neuen Namen »Amt für Verlagswesen (Kultureller Beirat)«.171 Die Vergabe von Verlagslizenzen wurde am 27. Februar 1950 dem Amt für Information übertragen und zugleich der Befehl Nr. 90 aufgehoben.172 Die Zuständigkeit für Bücher und Broschüren verblieb zunächst beim Kulturellen Beirat, der allerdings im September 1950 in einer selbstkritischen Einschätzung einräumte, grobe Fehler gemacht zu haben und eine strukturelle Änderung seiner Arbeit anstrebe.173 Diese Deklaration folgte auf einen Eklat, in den der Kulturelle Beirat und F. A. Brockhaus involviert waren und der im Mai 1950 in der literarischen Öffentlichkeit Wellen geschlagen hatte. Jahrelang hatte Brockhaus versucht, einen neuen Volks-Brockhaus herauszugeben. 1948 hatte er vom Kulturellen Beirat einen negativen Bescheid erhalten, da das Werk »nicht dem neuesten Stand der Wissenschaften und der demokratischen Erneuerung Deutschlands«174 entsprochen habe. Der Chefredakteur des Verlags, Michael Hochgesang, bat den Kulturellen Beirat daraufhin um Mithilfe bei der Umarbeitung des Werks, was aufgrund der Anonymität der Lektoren unmöglich hätte sein sollen. Doch der Beirat willigte wider Erwarten ein und stellte Hochgesang zwei Zensoren zur Seite. Vor allem die Zensorin Carola Gärtner-Scholle beteiligte sich intensiv an der Neubearbeitung. Nach einem langen Bearbeitungsprozess genehmigte der Beirat das Werk. Die Ausliefe-
166 Vgl. BArch, DR 2/1132: Bl. 49–50: Strafbestimmungen zu dem vorgesehenen Befehl der SMAD über die Errichtung und den Aufgabenbereich der deutschen Verlagskommission, Ende 1948/Anfang 1949. 167 Vgl. Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 167. 168 Vgl. Heidschmidt/Marschall-Reiser: Ministerium für Kultur, S. 7. 169 Pike: The Politics, S. 648. 170 Mortier: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen, S. 77. 171 Vgl. Pike: The Politics, S. 649, 653. 172 Vgl. Strunk: Pressekontrolle und Propagandapolitik, S. 221. 173 Vgl. Heidschmidt/Marschall-Reiser: Ministerium für Kultur, S. 8. 174 StadtAL, StVuR 8936, Bl. 141: Bericht über die am 10. Juli durchgeführte Überprüfung der Firma F. A. Brockhaus in Leipzig C1 Querstr. 16, 11. 7. 1950.
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rung begann am 15. Mai 1950.175 Doch zwölf Tage später fordert der Beirat vom Verlag, die Auslieferung zu beenden.176 Knapp einen Monat später, am 18. Juni 1950, erschien in der Leipziger Volkszeitung ein Artikel von Hermann Ley, der den Volks-Brockhaus scharf verurteilte und den Kulturellen Beirat angriff. Er hielt den Lektoren vor, dass sie das »reaktionäre, fortschrittfeindliche Gedankengut«177 des Werkes hätten bemerken müssen. Welche Punkte Ley im Einzelnen meinte, ließ er ebenso offen wie die Behörde, die vom Verlag einen Rückruf verlangt hatte. Der Rückruf war eher eine inszenierte Legitimation für die erneute Umstrukturierung des Kulturellen Beirats sowie für das Enteignungsverfahren gegen F. A. Brockhaus.178 »In Zukunft würde der K.B., der auch einen anderen Namen erhalten solle, nicht nur durch Ausfertigung von Druckgenehmigungen wirken, sondern unmittelbar in die Buchproduktion durch Anregungen, Auswahl von Mitarbeitern usw. helfend und fördernd eingreifen.«179 Der Wunsch des Kulturellen Beirats nach einer Verbesserung durch eine Reorganisation wurde von den zuständigen Behörden damit nicht umgesetzt. Drei Tage vor Auslieferung des Volks-Brockhaus hatte sich die Kulturabteilung des ZK mit dem Literaturwesen und der Zensurbehörde beschäftigt und die Weichen für eine Nachfolgeeinrichtung, das Amt für Literatur und Verlagswesen, gestellt. Der zeitliche Ablauf zeigt deutlich, dass der »Skandal« um den Volks-Brockhaus eine inszenierte Farce war. Der Beirat wurde im August 1950 der Hauptabteilung Literatur im Ministerium für Volksbildung unterstellt.180 Die Erteilung der Druckgenehmigungen für nichtlizenzierte Druckerzeugnisse wurde 1951 dem Ministerium für Leichtindustrie, Hauptverwaltung Polygraphische Industrie übergeben,181 das in den folgenden Jahren in einer Art Konkurrenz zum Amt für Literatur und Verlagswesen stand. Der Kulturelle Beirat stellte am 25. Juli 1951 seine Tätigkeit ein, nachdem er sich »als unbeweglich im Arbeiten«182 erwiesen hatte und wurde offiziell am 16. August 1951 mit Wirkung vom 1. September des Jahres durch die »Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur«183 aufgelöst und seine Zuständigkeiten dem Amt für Literatur und Verlagswesen übertragen.184
175 Vgl. Prodöhl: Die Politik des Wissens, S. 230–231. 176 Vgl. StadtAL, StVuR 8936, Bl. 132: Telegramm des Kulturellen Beirats an Brockhaus, 27. 5. 1950. 177 Ley zit. nach Keiderling: F. A. Brockhaus, S. 300. 178 Vgl. Prodöhl: Die Politik des Wissens, S. 236. 179 StadtAL, StVuR 8936, Bl. 168: VB 11. Aufl.; Reise nach Berlin, 4. 7. 1950. 180 Prodöhl: Die Politik des Wissens, S. 229, 233. 181 Vgl. Heidschmidt/Marschall-Reiser: Ministerium für Kultur, S. 8. 182 BArch, DR 2/1242, Bl. 25: Aktenvermerk, 25. 7. 1951. 183 Grotewohl: Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur. 184 Vgl. BArch, DR 2/1137, Bl. 104: Apelt an Wandel, 10. 1. 1952.
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Reimar Riese 1.4
Der Leipziger Börsenverein und die Entwicklung von Verlagsund Buchhandelsstrukturen in der SBZ
Am 7. und 8. Mai 1945 unterschrieben Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht in Reims und Berlin-Karlshorst Urkunden über die bedingungslose Kapitulation HitlerDeutschlands. Damit endete der bis dahin furchtbarste aller Kriege. Und es endete eine in beispielloser Verblendung vieler Deutscher errichtete Gewaltherrschaft. Deutschland war zerstört, wurde besetzt und hatte über sechs Millionen Kriegstote zu beklagen. Von denen, die das ›Tausendjährige Reich‹ überlebt hatten, erlebten viele das Ende ihrer Illusionen auf der Flucht oder in Gefangenschaft, einige die Befreiung aus Gefängnissen und Konzentrationslagern, die meisten die Fortsetzung ihres Überlebenskampfes in einer schier ausweglosen Nachkriegssituation. Die Situation im Buchhandel beschreibt ein Bericht aus der Geschäftsstelle des Börsenvereins vom Dezember 1945, der, da es keine anderen Informationswege mehr gab, maschinenschriftlich vervielfältigt an einzelne Mitglieder versandt wurde: Mit dem militärischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch wurde die katastrophale Lage für alle Zweige des Buchhandels genau wie für die gesamte Wirtschaft handgreiflich […]. Viele Millionen fertiger und in Herstellung befindlicher Bücher waren bei Luftangriffen insbesondere auf die Buchhandelszentren Leipzig, Berlin, München und Stuttgart, aber auch bei vielen Buchhandlungen anderwärts und […] auf den Ausweichlagern vernichtet worden. Ein großer Teil der Kapazität des graphischen Gewerbes und damit unersetzliches Material an Papiervorräten, Schriftlettern und Druckstöcken war zugrunde gegangen […]. Es wird jahrzehntelanger harter Arbeit bedürfen, um diese Lücken wieder aufzufüllen; vom weiteren Schicksal Deutschlands aber wird es abhängen, wie weit Buchgewerbe und Buchhandel über1 haupt dazu imstande sein werden.
Die Buchstadt Leipzig war durch Luftangriffe schwer getroffen, das Graphische Viertel in der Ostvorstadt zu 80 %, das Gesamtpotential des Buchgewerbes zu nahezu 40 % vernichtet. Vor dem Krieg existierten in Leipzig etwa 100 Druckereien, über 300 Verlage, 48 Kommissionäre und ca. 800 Sortimentsbuchhandlungen. Nach Entnazifizierung durch die Besatzungsbehörden konnten im August 1945 13 graphische Groß- und im September 37 weitere graphische Betriebe ihre Arbeit wieder aufnehmen. Darüber hinaus wird im Tätigkeitsbericht des Volksbildungsamtes der Stadt Leipzig für das Jahr 1946 erwähnt, dass »auf Grund einer Ermächtigung der russischen Kommandantur« wieder zugelassen wurden: 151 Sortimenter, 32 Zwischenbuchhändler, 97 Musikalienhändler und 77 Leihbüchereien.2
1 StA-LStA-L, Börsenverein II 1786, Bl. 76–80 recto u. verso: Walther Jäh: Zur Lage im Buchhandel (Stand Anfang Dezember 1945). 2 StadtAL, StVuR 2125, Bl. 223: Tätigkeitbericht 1946 der Abt. Buch und Bibliothekswesen des Volksbildungsamtes der Stadt Leipzig. https://doi.org/10.1515/9783110471229-005
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Abb. 1: Das zerstörte Verlagshaus von Breitkopf & Härtel in Leipzig, 1945. Foto: StA-L.
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Trotz Mangels an Papier wurden in der SBZ von »August 1945 bis August 1946 rund 9,6 Millionen Bücher, 1,8 Millionen Broschüren und 3,5 Millionen Ausgaben von Zeitschriften« gedruckt – z. T. als Reparationslieferungen für die Sowjetunion. Damit konnten die nach Krieg und Zusammenbruch besonders großen Lesebedürfnisse zu Orientierungs- und Unterhaltungszwecken zwar nur zu einem geringen Prozentsatz befriedigt werden, aber »es war ein verheißungsvoller Beginn«, wie in einem Abriss Zur Geschichte des Buchhandels der DDR betont wird.3 Bis in die letzten Kriegstage hinein – häufig in notdürftig geflickten Räumen – waren Bücher und Zeitschriften gedruckt, gelagert, versandt und verkauft worden. Auch Geschäftsstelle und Verlag des Börsenvereins betrieben bis zuletzt ›business as usual‹. Als letztes Heft des Börsenblattes erschien am 24. März 1945 die Nr. 9 des 112. Jahrgangs.4 Drei Wochen später war die Stadt eingenommen. Der Sitz des Börsenvereins, das 1887 erbaute repräsentative Buchhändlerhaus an der ehemaligen Hospitalstraße (heute Prager Straße) war am 4. Dezember 1943 ausgebombt worden, doch die Geschäftsstelle hatte in einem erhalten gebliebenen Seitenflügel am Gerichtsweg 26 Platz gefunden – dort sollte ihr Domizil bleiben über 40 Jahre DDR hinweg bis 1996 zum zeitweiligen Umzug in das an alter Stelle neu errichtete ›Haus des Buches‹.5 Dort, wo der Krieg zu Ende ging, Truppen der Anti-Hitler-Koalition das Land besetzten und die Verwaltungshoheit übernahmen, untersagte Verfügung Nr. 191 des Alliierten Oberkommandos vom 24. November 1944 deutschen Unternehmen das »Drucken, Erzeugen, Veröffentlichen, Vertreiben, Verkaufen und gewerbliche Verleihen von Zeitungen, Magazinen, Zeitschriften, Büchern, Broschüren, Plakaten, Musikalien und sonstigen gedruckten oder mechanisch vervielfältigten Veröffentlichungen«. Damit war dem deutschen Buchhandel, der sich nach 1933 zu großen Teilen der Politik der Nationalsozialisten blind angeschlossen, untergeordnet und sich ihrer Propaganda selbst in den letzten Kriegsmonaten kaum verweigert hatte, in den ersten Nachkriegswochen die Existenzgrundlage zunächst entzogen. Nur mit Genehmigung der Besatzungsmächte konnten nach Überprüfung der handelnden Personen und der Bestände Druck, Verkauf und Verleih von Büchern, Broschüren und Zeitschriften wieder aufgenommen werden.6 Von ungebrochenem Wiederaufbauwillen aber zeugt ein von Heinrich Becker entworfenes Rundschreiben an die Mitglieder des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. Ermutigend heißt es darin:
3 Fauth/Hünich: Zur Geschichte des Buchhandels in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 83. 4 Darin tönte der nachmals viel gerühmte Professor für Buchhandelsbetriebslehre an der Leipziger Handelshochschule Gerhard Menz noch immer in blindem Opportunismus: »Das deutsche Volk steht im unerschütterlichen Vertrauen hinter seiner Führung, fest zusammengeschlossen in dem Willen sich zu behaupten und […] weiter kämpfend.« Vgl. Menz, Gerhard: Zur Wirtschaftslage. In: Börsenblatt (Leipzig) 112 (1945) 9, S. 26. 5 Auf von der Stadt Leipzig dem Buchhandel geschenkten Grundstück errichteten Börsenverein und Kuratorium Haus des Buches fünfzig Jahre nach Zerstörung der Buchhändlerbörse ein neues attraktives Gebäude für Verlage, Büchermacher und Veranstaltungen des Literaturhauses Leipzig, das 1996 eröffnet wurde. Börsenblatt (Frankfurt/Leipzig) 163 (1996) 23, S. 29 ff. 6 StA-L, Börsenverein II 1468, Bl. 24: An den Buchhandel im Stadt- und Landkreis Leipzig vom 12. Juni 1945.
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1 De r B uc h ha n de l i n d e r S B Z u n d Be r li n Bei allem Schweren aber, daß diese Zeit mit sich bringt, ist es immerhin erfreulich, daß Leipzig trotz der zerstörenden Angriffe, die es während der Kriegsjahre auszuhalten hatte, als Stadt des Buchhandels und des Buchgewerbes noch über beachtliche Leistungsmöglichkeiten verfügt, und daß die Besatzungsmächte (seine) Bedeutung […] als Buchstadt ausdrücklich 7 anerkannt haben […].
Man hoffte, dass sich diese Umstände für den Börsenverein günstig auswirken und er wieder zu alter Bedeutung aufsteigen wird. Das drückt sich in einem weiteren Rundschreiben, einem Aufruf zu Spenden für die Angestellten der Geschäftsstelle des Börsenvereins aus, wodurch die Zeit bis zu seiner Wiederzulassung – und damit zur Wiedererhebung von Mitgliedsbeiträgen – überbrückt werden sollte: »Nachdem mit dem nationalsozialistischen Regime auch die Reichsschrifttumskammer verschwunden ist, stellt der Börsenverein wieder die Standesvertretung des deutschen Buchhandels in allen seinen Sparten dar.« Zu gegebener Zeit werde eine neue Satzung verabschiedet, werden Wahlen »und sonstige Formalitäten durchgeführt werden«. Bis dahin werde der Verein durch einen Aktionsausschuss verwaltet, den Walter Jäh (Verlagsbuchhandlung Carl Marhold, Halle/ Saale) leitet.8
Das amerikanische Intermezzo Für Leipzig begann die Nachkriegszeit am 19. April 1945. Auf dem Neuen Rathaus im Stadtzentrum kündete das Sternenbanner von der Einnahme der Stadt durch amerikanische Truppen. Aus vielen Fenstern, eben noch hakenkreuzbeflaggt, hingen nun weiße Fahnen. Es war ein frühlingshafter Tag, sonnig und warm. Die in der Stadt verblieben waren, wagten sich zögernd aus Schutzkellern ans Licht, erschöpft, erlöst, gespannt. Stille herrschte. War das die ›Stunde Null‹? Diese oft gebrauchte Metapher widerspiegelt die Stimmung, nicht aber die Realität im Frühjahr 1945. Unter Buchhändlern und Verlegern war die Stimmungslage geprägt von Vorstellungen eines totalen Zusammenbruchs, vom Zweifel an geschichtlichen Traditionen wie auch von Suche nach und Hoffnung auf Neuanfang. Viele Institutionen des Alltagslebens folgten wie die Straßenbahn ihrer Eigendynamik und funktionierten, so gut es ging, weiter, erwiesen sich als stabil und wirkten stabilisierend. Auch die Geschäftsstelle des Börsenvereins blieb Anlaufpunkt für Verleger und Buchhändler. Eine ›Stunde Null‹ gab es 1945 ebenso wenig wie 1990 ein »Ende der Geschichte«.9 Über die Zäsur des Frühjahres 1945 hinweg bestimmten disparate soziale Kontinuitäten den beginnenden Wiederaufbau. Die alliierten Siegermächte verfolgten vom ersten Tag der Waffenruhe an ihre vorgefassten, von unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Konzeptionen bestimmten Zu-
7 StA-L, Börsenverein II 1623, Bl. 83–84 rect u. verso: Rundschreiben der Geschäftsstelle vom November 1945. 8 LStA-L, Börsenverein II 1623, Bl. 79 recto u. verso: Walter Jäh: Rundschreiben vom 29. Oktober 1945. 9 Fukuyama: Das Ende der Geschichte.
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kunftspläne für das besetzte Land. Am 5. Juni 1945 unterzeichneten die alliierten Oberbefehlshaber in Berlin die »Deklaration über Deutschland«, die die Übernahme der zentralen Regierungsgewalt durch einen Alliierten Kontrollrat mit Sitz in Berlin vorsah. Dass die Amerikaner als Besatzungsmacht schon bald von der Roten Armee abgelöst würden, ahnten die Leipziger, wussten und erfuhren es aber nicht. Die Mächte der Anti-Hitler-Koalition hatten sich bereits 1944 in London auf das »Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von Groß-Berlin« geeinigt, das auf der Krimkonferenz in Jalta Anfang 1945 auch von der Sowjetunion unterzeichnet worden war.10 Danach war Sachsen, also auch Leipzig, der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen worden, wogegen Berlin einen Viermächtestatus erhalten sollte. Zum 1. Juli 1945 sollte notwendiger Gebietsaustausch erfolgen. Die amerikanische Besatzungsmacht tat daher nur das Nötigste dafür, dass das zivile Leben in der Stadt wieder in Gang kam. Intensiver fahndeten Sonderkommissionen nach Konstruktionsunterlagen, nach Patenten und der verbliebenen geistigen Elite, um dieses Potential vorsorglich in die amerikanische Besatzungszone zu verlagern.11 Mit den amerikanischen Einheiten traf deshalb ein Sonderstab der Information Control Division ihres Oberkommandos in Leipzig ein. Sein Leiter, Major Douglas Waples, als Chief Publications Section verantwortlich für Presse- und Buchwesen in der amerikanischen Besatzungszone, im Zivilberuf Professor an der Graduate Library School der Universität Chicago, war mit der Leipziger Verlagsszene durch häufige Vorkriegsaufenthalte vertraut. Auch seine Mitarbeiter, der Bibliothekar Dr. Helmuth Lehmann-Haupt, seit 1929 an der Columbia University Library in New York tätig, Felix Reichmann, Buchhändler und Antiquar aus Wien, und Daniel Penham, beide nach 1933 in die USA emigriert, wie auch Cpt. Haimoff, kannten den deutschen Buchhandel gut. Sie sollten namhafte Verlage und den Börsenverein dazu bewegen, die Stadt zu verlassen, ehe sie in die Hände der Russen fallen würde, und sich in der Nähe des amerikanischen Hauptquartiers in Wiesbaden neu zu etablieren.
Der Aktionsausschuss Zahlreiche Firmen waren zerstört, die Gremien des Börsenvereins nach Kriegsende nicht mehr funktionsfähig. Der nationalsozialistische Vorsteher, Wilhelm Baur, und sein Stellvertreter, Martin Wülfing, waren nicht mehr in Erscheinung getreten. Aber der Verband bestand fort. Am 6. Juli 1945 wurden vom Amtsgericht Leipzig Verlagsbuchhändler Walter Jäh (Verlag Carl Marhold, Halle/S.) für das Amt des Vorstehers und Theodor Volckmar-Frentzel (Fa. Koehler & Volckmar, Leipzig) für das seines Stellvertreters zu Abwesenheitspflegern bestellt.12 So gut es ging, liefen die Fäden in der Geschäftsstelle bei Dr. Albert Heß, seit 1923 Geschäftsführer des Börsenvereins, zusammen. Er war
10 Feststellung seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sowie der Provisorischen Regierung der Französischen Republik über die Besatzungszonen in Deutschland vom 5. 6. 1945. In: documentArchiv.de (abgerufen am 02. 10. 2018). 11 Huth/Kirste/Oehme: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, S. 271–272. 12 StA-L, Börsenverein II 1790, Bl. 178: Entwurf eines Schreibens an alle Firmen des Gesamtbuchhandels vom 26. Juli 1945.
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kein Mitglied der NSDAP gewesen und hatte die »vorläufige Führung des deutschen Buchhandels«13 übernommen. In unzerstörten Wohnungen und im Gerichtsweg 26 trafen sich gleich nach Kriegsende Verleger und Buchhändler, um zu beratschlagen, wie es am ›Leipziger Platz‹ weitergehen könnte. Der Verleger Hans Brockhaus wurde zeitweise als Sprecher, ja sogar als Quasi-Vorsteher angesehen. Auf Vorschlag von Anton Hiersemann, ehemals Schatzmeister des Börsenvereins, wurde im April 1945 ein Ausschuss gebildet, der vorläufig die Geschäfte des nicht mehr rechts- und handlungsfähigen Vorstands übernahm. Diesem von der Handelskammer am 5. Juni 1945 bestätigten »Aktionsausschuss des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig« gehörten an: neben Anton Hiersemann und Albert Heß (als Generalsekretär des Börsenvereins), Hans Brockhaus (F. A. Brockhaus Verlag), Edgar Bielefeldt (Musikalienhandlung Otto Jünne), Georg Petermann (Otto’sche Buchhandlung) und Theodor Volckmar-Frentzel (Koehler & Volckmar).14 Sie alle waren nicht Mitglieder der NSDAP gewesen; »Georg Petermann, vor 1933 Mitglied der SPD, war selbst Opfer der NS-Rassentheorie und -praxis geworden«.15 Im Auftrag des Aktionsausschusses entwarf Albert Heß »Vorschläge für Sofortmaßnahmen, um die buchhändlerischen Betriebe aller Art in Leipzig baldigst wieder eröffnen und fortführen zu können«.16 Am 30. April 1945 erschienen zwei Offiziere der amerikanischen Besatzungsmacht in der Geschäftsstelle des Börsenvereins. Sie gehörten der Abteilung für psychologische Kriegsführung mit Sitz zuerst in Paris, später in Frankfurt am Main an.17 Sie verlangten eine Übersicht über »Pg« im Buchhandel, speziell im Börsenverein sowie eine Skizze zur Lage im gesamten Buchhandel mit Wünschen und Zukunftsvorstellungen.18 Heß sollte binnen acht Tagen eine Denkschrift dazu zusammenstellen sowie Vertreter einzelner Bereiche des Buchhandels zu einer vertraulichen Besprechung am 1. Mai 1945 zusammenrufen. In seiner Skizze schilderte Heß, unterstützt von Mitgliedern des Aktionsausschusses, die katastrophale Lage des Buchhandels in den letzten Kriegsjahren sowie Rolle und Funktion des Börsenvereins; zur Lösung der dringendsten Probleme wünschten sie vor allem die »Auflockerung des Gesetzes Nr. 191 Ziff. 1« für Verlag, Zwischenbuchhandel und Sortiment.19 Tatsächlich erreichte der Aktionsausschuss beim amerikanischen Stadtkommandanten Major Richard J. Eaton eine Lockerung des verhängten Publikations- und Vertriebsverbots: Personen, die nach Überprüfung ihres Verhaltens während der NS-Herrschaft
13 StA-L, Börsenverein II 1788: Beratung vom 2. 5. 1945. 14 StA-L, Börsenverein II 1862, Bl. 27: Schreiben von Dr. Heß an Dr. Wilhelm Klemm, 5. 6. 45 (Entwurf). 15 Seifert: »Falle der eiserne Vorhang …«, S. 144. 16 StA-L, Börsenverein II 1790, Bl. 2–7. 17 StA-L, Börsenverein II 1788: Brief von Haimoff an Dr. Heß vom 5.51945 mit Notiz: PPW Det.12AGP 0 655. US Army, Haimoff. 18 StA-L, Börsenverein II 1788: Protokoll über eine Besprechung am 30. 4. und 2. 5. 1945. 19 StA-L, Börsenverein II 1788, Bl. 8 ff.: Denkschrift vom 8. Mai 1945, überarb. Version, verfaßt von Edgar Bielefeldt, Hans Brockhaus, Georg Petermann und Theodor Volckmar-Frentzel. Abschrift. Abgedruckt bei Seifert: »Falle der eiserne Vorhang …«, S. 155–161.
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von der Information Control Division eine Lizenz erhielten, durften wieder buchhändlerisch tätig sein. Zur Überprüfung des Buchhandels und der gewerblichen Leihbibliotheken gemäß Befehl Nr. 4 des Alliierten Kontrollrats, der die Einziehung von Literatur nationalsozialistischen und militaristischen Charakters verfügte, gab die Geschäftsstelle etwa 700 Fragebögen aus. Die Aktion verlief wegen des Abzugs der Amerikaner Ende Juni im Sande. Genauso ein erlaubter Verkauf vorhandener Bestände durch das Sortiment »unter dessen Selbstverantwortung«.20 An der Besprechung an 1. Mai 1945 nahmen teil: Hans Brockhaus (für den Buchverlag), Edgar Bielefeldt (für den Musikalienverlag), Karl Voerster und Dr. Jeremias (für den Zwischenbuchhandel) sowie Edgar Petermann (für den Bucheinzelhandel). Cpt. Haimoff betonte, das deutsche Buchschaffen habe ab 1933 keinen guten Eindruck in den USA hinterlassen. Mit Nachdruck verlangte er ungeschminkte Information über das Verhältnis des Buchhandels zum NS-Schrifttum.21
Die Spaltung des Buchhandels »Nachdem die westlichen Alliierten intern auf höchster Ebene den Kurs für die Zukunft festgeschrieben hatten, entwarfen der Stab der US-Armee in Paris, die amerikanische Militärregierung wie auch das Department für psychologische Kriegsführung Anfang Mai 1945 veränderte Konzepte. Dazu gehörte im Vorfeld des Kalten Krieges eine Neuordnung der Medienlandschaft.«22 Experten führten im Mai 1945 Gespräche mit Mitgliedern des Börsenvereins, mit Buchhändlern und Verlegern in den Westzonen Deutschlands und besonders im Leipziger Raum, wo eine Übergabe an die sowjetische Besatzungsmacht bevorstand. Dass Leipzigs zentrale Stellung kaum zu wahren, eine Spaltung des deutschen Buchhandels kaum zu verhindern sein würde, wurde in zwei Besprechungen deutlich, die Albert Heß mit der amerikanischen Sonderkommission am 30. und 31. Mai 1945 in den Räumen der Geschäftsstelle führte. Sie fanden, wie W. M. Schulz, Mitarbeiter der Geschäftsstelle, in einer Niederschrift anmerkt, in »ungewöhnlichem Ernst« statt. In der Aktennotiz, die er unter dem unmittelbaren Eindruck der Gespräche angefertigt haben muss, heißt es über die Zusammenkunft am 30. Mai: Dr. Lehmann-Haupt berichtete im Auftrage von Waples, man habe beim Nachdenken über die Lage gefunden, Leipzig sei zum übrigen amerikanisch verwalteten Gebiet zu ungünstig gelegen und deshalb den Plan erwogen, in der Gegend Frankfurt/Main das Instrument zu errichten, das gebraucht wird, besonders hinsichtlich der Verteilung von Büchern, aber auch der Organisation, der Ankündigungen (Börsenblatt) und der Bibliographie wegen. Es sei deshalb zu überlegen, man wolle uns dafür bis 31. 5. Zeit geben, ob es sich nicht empfehle, in Frankfurt/Main Zweigstellen zu errichten, vom BV, einem Kommissionär und einigen noch zu bestimmenden Verlagen. […] Man müsse damit rechnen, dass der Verkehr auf absehbare Zeit sich nicht bessert. […] Zudem bestünde durchaus die Möglichkeit der Besetzung Leipzigs durch die Russen. Waples sagt wörtlich: Wenn die Russen nach 3 oder 6 Tagen anrücken,
20 StA-L, Börsenverein II 1118, Bl. 27: Wiederingangsetzung des Leipziger Buchhandels. 21 StA-L, Börsenverein II 1788, Bl. 10: Vertrauliche Aktennotiz vom 1. 5. 1945. 22 Seifert: »Falle der eiserne Vorhang …«, S. 148.
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1 De r B uc h ha n de l i n d e r S B Z u n d Be r li n sei zur Überführung nicht mehr genügend Zeit. Man müsse deshalb vorher planen. […] Die Amerikaner tragen ihre Gedankengänge […] bewusst zurückhaltend vor. […] Major Waples erklärte ausdrücklich, dass die Erwägungen nicht über den gegenwärtig versammelten kleinen 23 Kreis hinausgelangen dürfen.
Eine zweite Unterredung zwischen Heß, Major Douglas Waples, Lehmann-Haupt und Wilson fand am folgenden Tag vormittags statt. Auf besorgte Einwände von Heß »betonen die Herren, es handele sich lediglich um eine Not- und Vorsichtsmaßnahme, wenn man einen Teil der Leipziger Einrichtung (Verleger, Kommissionär, Börsenblatt, kleine Mitgliedsabteilung und Bibliographie) durch die Überleitung nach Frankfurt sichert«. Schulz, der auch über dieses Gespräch eine Aktennotiz anfertigte, merkt an: Den Herren wird vorgeführt, dass – selbst wenn es nicht zu einer russischen Besetzung käme – bei ihrer Planung ein Aussterben des Leipziger Platzes und der Leipziger Verlage sich nicht verhindern lasse. Sie erwidern jedoch, dass man selbstverständlich in Leipzig werde weiterarbeiten können und zwar für ein kleineres Gebiet als früher […], also in einem erheblich beschränkteren Umfang. Das ist mit anderen Worten nach meinem Eindruck dasselbe wie ein Aussterben. Es werden in diesem Zusammenhang den Herren von Dr. Heß die Schwierigkeiten vorgehalten, in denen sich der Börsenverein finanziell befindet, weil sie meinen, die […] Zweigstelle müsse von hier aus finanziert werden. Die Herren geben zu, sie wollen – obwohl unter ganz anderen Verhältnissen – dem Börsenverein die Chance geben, historisch weiterzubestehen. Waples meint u. a. an anderer Stelle, es sei wohl auch möglich, 24 dass bei russischer Besetzung der Börsenverein weiter tätig sei.
In Voraussicht künftiger Entwicklungen war die Aktion »Börsenvereinsumsiedlung« von den Amerikanern mit dem Frankfurter Verleger Georg Kurt Schauer von langer Hand vorbereitet worden. Er war als Geschäftsführer der künftigen Zweigstelle ausersehen. In Leipzig fand die Sonderkommission bei dem Kommissionär, Verleger und Lyriker Wilhelm Klemm Unterstützung. Als Opfer des Nationalsozialismus genoss er »das besondere Vertrauen der Amerikaner«.25 Er wurde von den Amerikanern als Leiter der Zweigstelle in Frankfurt eingesetzt und berief seinerseits am 1. Juni 1945 Schauer offiziell zu deren Geschäftsführer. Mit Vollmachten der Amerikaner ausgestattet, kam am 2. Juni Schauer nach Leipzig und verlangte von der Geschäftsstelle sämtliche Unterlagen und von der BörsenblattRedaktion eine Aufstellung der Papierbestände sowie Matern und Klischees. Wörtlich erklärte er: »Er lege Wert darauf alles zu wissen, was man in der Geschäftsstelle Leipzig weiß«, da »auch im Falle einer Nichtbesetzung Leipzigs durch die Russen an einer Teilung des Börsenvereins Leipzig – Frankfurt a. M. festgehalten werde.« Man müsse daher wohl besser von ›Parallelstelle‹ statt von ›Zweigstelle‹ sprechen. Diese Äußerung wie auch die Bemerkung, dass die Verlagerung wegen der »zentrale[n] Lage Frankfurts«
23 StA-L, Börsenverein II 1785, Bl. 15: Bericht über die Sitzung des Aktionsausschusses am 5. Juni 1945. 24 StA-L, Börsenverein II 1785, Bl. 23 ff.: Protokoll der Sitzung des Aktionsausschusses am 5. 6. 1945. 25 Friedrich Michael: In memoriam Wilhelm Klemm. In: Börsenblatt (Frankfurt) 24 (1968) 17, S. 420.
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erfolge, da »die Alliierte Militärregierung ihren Sitz in Frankfurt a. M. hat und das Schrifttum unmittelbar in der Hand haben wolle«,26 dürfte die Leipziger an den jahrhundertelangen Konkurrenzkampf zwischen beiden Buch- und Messestädten erinnert haben, zumal Schauer und Klemm keineswegs als Freunde des Leipziger Börsenvereins galten.27 Die Amerikaner veranlassten sowohl die Herausgabe von 2.500 kg Papier, kostbare Reserve für das Leipziger Börsenblatt, die nun das raschere Erscheinen einer Frankfurter Ausgabe ermöglichte, als auch eine Anschubfinanzierung durch die Leipziger Zentrale. Hans Brockhaus übergab Wilhelm Klemm einen Reichsbankscheck über 50.000 RM.28 Zum Ausweichen in die amerikanische Zone wurden die Verlage Insel, Thieme, Brockhaus, Reclam, Karl Rauch und die Dietrichʼsche Verlagsbuchhandlung aufgefordert. Mit dem Aufbau eines Kommissionsplatzes in Frankfurt a. M. wurde die Firma C. F. Fleischer betraut, die Wilhelm Klemm, dem auch die Dieterichʼsche Verlagsbuchhandlung gehörte, 1919 übernommen hatte. Eine Beteiligung von Koehler & Volckmar lehnten die Amerikaner ab. Am 5. Juni 1945 unterzeichneten in Berlin die alliierten Oberbefehlshaber jene »Deklaration über Deutschland«, die die Übernahme der Regierungsgewalt durch einen Alliierten Kontrollrat vorsah, und gleichzeitig in Leipzig Heß, Klemm und Schauer das »Protokoll über die Einrichtung einer Zweigstelle des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler in Wiesbaden«. Am 11. und 12. Juni brachte ein amerikanischer Militärkonvoi 20 Personen – Verlagsinhaber, Leitende Angestellte und deren Familien sowie wichtige Geschäftspapiere – nach Wiesbaden. Zu den Auserwählten, denen Plätze in bereitgestellten Bussen eingeräumt wurden, gehörten Dr. Bruno Hauff (Thieme), Dr. Friedrich Michael (Insel), Dr. Wilhelm Klemm (Dieterich) und Hans Brockhaus (Brockhaus). Der Verlag Breitkopf & Härtel folgte eine Woche später. Karl Rauch und Dr. Ernst Reclam lehnten das Ansinnen der Amerikaner ab. Sie glaubten, wie die Mitglieder des Aktionsausschusses auch, Börsenverein und ›Leipziger Platz‹ in traditioneller Form erhalten zu können. Auch Hans Brockhaus hatte sich sehr spät und erst »nach reiflicher Prüfung aus familiären Gründen« entschlossen, dem Angebot der Amerikaner zu folgen.29 Er wollte quasi als Treuhänder die Interessen des Leipziger Aktionsausschusses in Wiesbaden vertreten – ein Vorhaben, das sich nicht erfüllte: In einem Brief an den Leipziger Vorsteher Ernst Reclam vom Januar 1947 bemerkte Brockhaus, dass er »seit dem Herbst 1945 mit den Vereinsangelegenheiten nichts mehr zu tun habe«.30 Zehn Tage nach Ankunft in Wiesbaden wurde die Zweigstelle eröffnet, von den Besatzungsmächten allerdings als ›zentralistisch‹ verdächtigt und bald wieder geschlossen. 1948 sollte aus ihr die Geschäftsstelle des Börsenvereins Deutscher Verleger- und
26 StA-L, Börsenverein II 1862, Bl. 12 ff.: Aktennotiz: Besprechung der Herren Dr. Heß und W. M. Schulz mit Herrn Schauer am 2. 6. 45. 27 Bille: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, S. 167. 28 StA-L BV II 1862, Bl. 41: Bericht über die Sitzung des Aktionsausschusses am 5. Juni 1945 in der Wohnung von Herrn Karl Voerster. 29 StA-L, Börsenverein II 1862, Bl. 38: Bericht über die Sitzung des Aktionsausschusses am 5. Juni 1945 in der Wohnung von Herrn Karl Voerster. 30 StA-L, Börsenverein II 1862, Bl. 178: Schreiben an Ernst Reclam.
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Buchhändler-Verbände hervorgehen. Erst 1955 schlossen sich die Verleger und Buchhändler der Bundesrepublik wieder zum heutigen Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. zusammen. Die erfolgte Trennung des gesamtdeutschen Buchhandels ging der politischen und wirtschaftlichen Spaltung Nachkriegsdeutschlands voraus. Sie lässt ahnen, was die Besatzungsmächte in West und Ost, zunächst noch wortreich die deutsche Einheit beschwörend, tatsächlich beabsichtigten: die Aufteilung Deutschlands nach Einflusszonen. Die endgültige Spaltung erfolgte 1948 als US-Präsident Truman das Marshallplan-Gesetz erließ, Amerikaner und Briten ihre Besatzungszonen zur Bizone zusammenschlossen und eine eigene Währung einführten, woraufhin die Sowjets den Alliierten Kontrollrat in Berlin verließen und als wirtschaftliche Schutzmaßnahme für den Ostteil der Stadt und die anschließende SBZ ab 23. Juni 1948 zuerst Aufkleber auf bisherige RM-Scheine und einen Monat später neu gedruckte Mark, Vorläuferin der DDR-Mark, einführten sowie eine Blockade der Westsektoren Berlins verfügten. Bereits im Juli 1945 hatte Albert Heß jene »Vorschläge für Sofortmaßnahmen (unterbreitet) um die buchhändlerischen Betriebe aller Art in Leipzig baldigst wieder eröffnen und fortführen zu können«.31 Wie wenig realistisch allerdings und aus welch engem Blickwinkel die Situation im Jahre 1945 im Gerichtsweg 26 trotz Erfahrung mit den Amerikanern immer noch beurteilt wurde und wie konkret hingegen politisch aktive Kräfte bereits für die Zukunft planten, zeigen eine Anfrage Erich Zeigners, zu diesem Zeitpunkt noch Stadtrechtsrat im Leipziger Kulturamt, und die Antwort des Börsenvereinsgeschäftsführers Albert Heß vom 2. Juli 1945. Heß nahm darin Bezug auf ein Gespräch, um das ihn Zeigner gebeten hatte, als abzusehen war, dass eine Abtrennung der östlichen von den westlichen Besatzungszonen nicht mehr auszuschließen war: […] in der Besprechung am 22. Juni haben Sie folgende Fragen an mich gestellt: Vorausgesetzt, dass es zu einer Abriegelung Leipzigs von den westlichen Teilen des Reiches kommt und dass der buchhändlerische Absatz auf die östliche Zone einschließlich Berlin mit näherem Umkreis beschränkt bleibt 1.) wieviel Arbeitskräfte werden Verlag und Zwischenbuchhandel in Leipzig benötigen, 2.) welcher Raumbedarf wird bestehen, 3.) wie groß wird der Bedarf an Büromaterial, insbesondere Schreib- und Rechenmaschinen, sein, 4.) auf wie lange Zeit werden die buchhändlerischen Firmen in Leipzig mit eigenen Mitteln auskommen oder werden sie bis zur Wiedererlangung voller Leistungsfähigkeit Subsidien beanspruchen? […] Wenn ich mich persönlich noch dazu äußere, so geschieht es, um […] grundsätzlich (zu) betonen, dass es sehr schwierig ist, sich ein Bild darüber zu machen […], wie sich unter den angegebenen Bedingungen der Verlag und der Zwischenbuchhandel in Leipzig entwickeln können oder werden. Man kann es sich kaum vorstellen, dass das deutsche Reichsgebiet in zwei oder mehr Teile zerschnitten wird. Wir haben in Deutschland […] einen geographisch über das ganze Gebiet zerstreuten Verlag […], und es ist schwer ausdenkbar, dass beispielsweise Werke aus dem Verlag Teubner nicht gleichzeitig im ganzen Gebiet, sondern eben nur in der östlichen Zone verkauft werden können, während gleichzeitig ein Verlag im Westen
31 StA-L, Börsenverein II 1468, Bl. 65–70: Heß: Vorschläge für Sofortmaßnahmen.
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das gleiche oder ein ähnliches Werk für die westliche Zone herausbringen müsste. Ebenso ist es schwer vorstellbar, dass der Leipziger Zwischenhandel, dessen Bedeutung gerade in seiner zentralen Leistung für das gesamte deutsche Gebiet liegt, vom westlichen Teil abgeschnitten sein soll, während dort eine eigene Zentraleinrichtung geschaffen werden müsste, die nun beide, da sie entsprechend kleineren Umsatz hätten, wesentlich unrentabler arbeiten würden. Weil man sich eine solche Regelung nicht denken kann, lässt sich aber zu den von Ihnen 32 gestellten Fragen schwer Stellung nehmen.
Dem Schreiben war eine von dem Aktionsausschussmitglied Theodor Volckmar-Frentzel erarbeitete Bedarfsübersicht auf der Grundlage von Erhebungen beigefügt, auf die sich Heß stützte.33 Sie sollte sich für die Stadtverwaltung als nützlich erweisen, nachdem der Übergang in sowjetisches Besatzungsgebiet tatsächlich erfolgte. Damit wurde eine 40 Jahre währende deutsche Teilung im Buchhandel de facto vollzogen.
Die zweite Besetzung Mit Panzern und Panjewagen rückten am 1. und 2. Juli 1945 sowjetische Truppen in Leipzig ein, nachdem am Tag zuvor die amerikanischen die Stadt verlassen hatten. Leipzig erlebte eine zweite Besetzung. Sozialdemokraten und Kommunisten, traditionell starke politische Kräfte in Sachsen, begrüßten den 2. Juli 1945 als eigentlichen Tag der Befreiung. Sie glaubten mit Hilfe der neuen Besatzungsmacht Lehren aus der Vergangenheit ziehen und eigene Vorstellungen von einer antifaschistisch-demokratischen Erneuerung realisieren zu können. Gleich im April 1945 hatten sich eine provisorische KPD-Leitung mit Fritz Selbmann und Helmut Holtzhauer, einen Monat später ein SPD-Ausschuss mit Dr. Erich Zeigner an der Spitze konstituiert. Ebenfalls noch in amerikanischer Besatzungszeit bildeten Nazigegner den Antifaschistischen Block, nachdem die amerikanische Militärregierung das ›Nationalkomitee Freies Deutschland‹, eine schon 1943 in der Sowjetunion durch Zusammenschluss deutscher Kriegsgefangener mit kommunistischen Emigranten gebildete antifaschistische Widerstandsorganisation, verboten hatte. Der Antifaschistische Block verstand sich als überparteiliche Sammlung demokratisch gesinnter Bürger, wobei die Kommunisten Selbmann, Holtzhauer und Lindner die dominierende Rolle spielten. In seinem Zentralausschuss vertraten neben den Genannten Zeigner, Hartig, Engewald, Rauch und Timm den Buchhandel. Der Antifa-Block hatte »keine Vollmachten, bestimmte Maßnahmen durchzuführen«, sondern war eher als Überwachungs- und Beratungsorgan gedacht. Mit seinem Einverständnis konnte die Geschäftsführung »für den geplanten neuen Leipziger Verein« – gemeint war der Leipziger Börsenverein – bei Dr. Hess verbleiben.34 Diese wiedererwachten politischen Kräfte waren zur Zusammenarbeit mit der sowjetischen Besatzungsmacht bereit.
32 StA-L, Börsenverein II 1468, 78–79 auch StadtAL, StVuR 9157, Bl. 5–6: Schreiben von Dr. Heß an Stadtrechtsrat Dr. Zeigner, 2. Juli 1945. 33 StA-L, Börsenverein II 1468, Bl. 75–79, auch StadtAL, StVuR 9156, Bl. 46–50: Th. Volckmar-Frentzel: Zum Problem der Wiederbelebung Leipzigs als Buchstadt vom 22. Juni 1945. 34 StA-L, Börsenverein II 1118, Bl. 13: Aktennotiz vom 16. Juli 1945.
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Die Sofortmaßnahmen der sowjetischen Stadtkommandantur Leipzigs unter Generalleutnant N. I. Trufanow verfehlten ihre Wirkung selbst auf Skeptiker nicht. Entschiedener als ihre Vorgänger kümmerten sich ›die Russen‹ um nazistische Hinterlassenschaften in Verwaltung, Buch- und Bildungswesen und um kulturellen Neubeginn: So erteilte der Stadtkommandant schon am 5. Juli 1946 die Erlaubnis, dass Theater und Kinos, das Gewandhaus- und andere Orchester sowie die Städtischen Bücherhallen wieder in der Öffentlichkeit wirken durften.35 Auf Vorschlag des Antifa-Blocks löste Erich Zeigner am 16. Juli 1945 den von den Amerikanern eingesetzten konservativen Anwalt Dr. Hans Vierling als Oberbürgermeister ab.
Säuberung und Wiederbelebung des Buchhandels Um den Buchhandel von Nazi-Büchern zu säubern und wieder in Gang zu setzen, war bereits im Juli 1945 auf Vorschlag Heinrich Beckers – bis 1933 sozialdemokratischer Ministerialrat im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, nach 1945 wichtiger kulturpolitischer Akteur und Berater OBM Erich Zeigners, schließlich Erster Vorsteher des Börsenvereins36 – neben dem Aktionsausschuss des Börsenvereins ein eigener »Ausschuss für den Leipziger Buchhandel« ins Leben gerufen worden, »um die Interessen des Leipziger Gesamtbuchhandels […] zu wahren«. Er sollte bis zur Wiederzulassung des Börsenvereins »und zur Durchführung von Wahlen« den Leipziger Buchhandel »gegenüber den Behörden« vertreten. Dazu setzte er sich zusammen aus – – – –
für den Verlag: Karl Rauch, Felix Meiner, Edgar Bielefeldt, Heinrich Becker, Hans Köster (Koehler & Volckmar) und Siegfried Weber (Verlag J. J. Weber) für den Zwischenbuchhandel: Theodor Volckmar-Frentzel, Karl Jäger (F. A. Brockhaus), Hans Albert Förster (Einkaufshaus für Büchereien) für das Sortiment: Georg Petermann (Otto’sche Buchhandlung), Kurt Engewald, Rolf Arnst (Roßbergʼsche Buchhandlung) für den Leihbuchhandel: Max Kurze, Woldemar Heilbach, Henry Ferling.
Im Dezember 1945 wurde dieser Ausschuss verkleinert und umgebildet zum Gründungsund Mitgliederausschuss des Börsenvereins, der u. a. Anträge auf Wiederzulassung von Verlagen prüfen sollte. Er bestand nun nur noch aus Hans Wunderlich, Kurt Engewald, Hans-Albert Förster, Georg Petermann sowie den Mitarbeitern der Geschäftsstelle Albert Heß, Paul Heilmann und W. M. Schulz. Noch glaubte man, wie aus einer Besprechung mit Fritz Selbmann, damals Minister in der Landesverwaltung Sachsen, hervorgeht, der Börsenverein, wenn wieder zugelassen, werde »wie früher eine Unternehmer-Organisation« bleiben. 37 Zunächst nahm man in der Geschäftsstelle auch an, die während der amerikanischen Besatzungszeit begonnene Überprüfung des Leipziger Buchhandels in eigener Regie unter Leitung des Antifa-Blocks fortführen zu können. Albert Heß und der Verleger
35 StadtAL, StVuR 2126, Bl. 24: Kulturamt, Aktennotiz vom 5. Juli 1945. 36 Bähring/Rüddiger (Hrsg.): Lexikon Buchstadt Leipzig, S. 18–19. 37 StA-L, Börsenverein II 1118, Bl. 25–26: Aktennotiz vom 16. Juli 1945.
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Heinrich Timm, im Antifa-Block neben Kurt Engewald und Karl Rauch für Buchhandelsfragen zuständig, waren sich einig: es müsse »alles geschehen, um die Stellung Leipzigs und des Börsenvereins […] zu erhalten«. Deshalb müssten Sortiments- und Kommissionsbuchhandel so schnell wie möglich ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Allerdings irrte Timm, wenn er meinte, die sowjetischen Behörden überließen dem AntifaBlock »die Regelung des gewerblichen Lebens und so auch den Buchhandel«.38 Gemäß Befehl Nr. 5 des Stadtkommandanten Nikolai Iwanowitsch Trufanow vom 16. Juli 1945 beauftragte Oberst Wassili Iwanowitsch Morosow, Stellvertreter des Stadtkommandanten, am 10. Juli 1945 das von Stadtrat Helmut Holtzhauer (KPD) geleitete Erziehungs- und Kulturamt der Stadt Leipzig, den Buchhandel zu überprüfen und der Militärverwaltung kommentierte Anträge auf Wiedereröffnung der einzelnen Firmen einzureichen.39 In einer Besprechung mit Heinrich Becker, der inzwischen die Abteilung Buch- und Bibliothekswesen des städtischen Dezernats Volksbildung leitete, und dem Börsenvereinsgeschäftsführer Heß am 11. September wies der mit der nur schleppend vorankommenden Überprüfung unzufriedene sowjetische Oberst an: 1. Die Prüfungsaktion für den Leipziger Buchhandel muss schnellstens durchgeführt werden und die einwandfreien Firmen sind schnellstens zu eröffnen […] 2. Voraussetzung für die Eröffnung ist die absolute Gewähr, dass keine nazistische Literatur vertrieben wird. Dafür tragen die deutschen Stellen Verantwortung. Es müssen Kommissionen gebildet werden, die sich aus Vertretern zugelassener Parteien (Kommunisten, Sozialdemokraten, Demokraten) zusammensetzen, die die Buchhandlungen kontrollieren. 3. An Oberst Morosow ist durch Stadtrat Holtzhauer ein Antrag zu richten, in dem um 40 Erlaubnis zur Eröffnung der einwandfreien Betriebe gebeten wird.
Die Geschäftsstelle des Börsenvereins sollte ein Verzeichnis Leipziger Buchhandelsfirmen einreichen, »aus dem sich genau ergibt, wie viel Firmen in den einzelnen Zweigen vorhanden sind und wie viele von ihnen eröffnet werden sollen«.41
Die Leipziger Parkhotel-Gespräche Besondere Bedeutung kam einem Besuch des Leiters der Zentralen Verwaltung Volksbildung der Sowjetischen Militär-Administration in Deutschland (SMAD), Prof. Pjotr Wassilewitsch Solotuchin, in Leipzig zu. Er war mit seinem Stellvertreter, Prof. Juri Michailowitsch Smirnow, am 25. Juli 1945 überraschend gekommen und ließ zuerst den Generaldirektor der Deutschen Bücherei, Heinrich Uhlendahl, ins Parkhotel bitten, um mit ihm die Situation der Deutschen Bücherei vor der Wiederaufnahme ihres Betriebes zu besprechen, die gut sechs Wochen später, am 16. September, durch die SMAD angeordnet wurde. In einem zweiten Gespräch am 26. Juli, an dem Heinrich Becker, seit Mitte Juli 1945 kommissarischer Direktor der Stadtbibliothek und Leiter der Städtischen Bücherhallen, Stadtdirektor Ott, Stadtrat Bauer und, später hinzukommend, auch OBM
38 39 40 41
StA-L, Börsenverein II 1790, Bl. 26: Aktennotiz. StA-L, Börsenverein II 1468, Bl. 128: Aktennotiz vom 18. Juli 1945. StadtAL, StVuR 2126, Bl. 31–32: Besprechung mit Oberst Morosow am 14. Juli 1945. StadtAL, StVuR 2126, Bl. 31–32: Besprechung mit Oberst Morosow am 14. Juli 1945.
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Dr. Zeigner teilnahmen, wurden Maßnahmen zur ›Reinigung‹ der Bibliotheken, Leihbüchereien und des Buchhandels von nazistischer Literatur besprochen. Ott notierte: Leipzig als Buchstadt und Sitz der Deutschen Bücherei sei berufen, die Fundamente für das geistige Leben im neuen Deutschland zu legen. Die Stadtverwaltung erhält den Auftrag, eine 42 Zentralstelle für die Reinigung des Schrifttums von nazistischem Geist zu bilden.
Die ›Parkhotel-Gespräche‹ fanden nicht zufällig während der Konferenz in Potsdam statt. Vom 17. Juli bis 2. August 1945 handelten die Regierungschefs der UdSSR, USA und Großbritanniens das Potsdamer Abkommen aus, das die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und seine Entwicklung zu einem entnazifizierten, demokratischen Staat vorsah. Die zweitägigen Besprechungen betonten die zentrale Rolle Leipzigs für den Wiederaufbau des Buchhandels: a) Leipzig als Buchstadt und als Sitz der Deutschen Bücherei ist berufen, die Fundamente für das geistige Leben im neuen Deutschland zu legen; b) Die Stadt ist als Sitz der Zentralstelle für die Reinigung vom faschistischen und militaristischen Ungeist erkoren; c) Die Stadtverwaltung erhält den Auftrag zur Schaffung und Führung dieser Stelle; d) Die lokalen Maßnahmen auf dem Gebiete des Buch- und Schulwesens sind so anzulegen, dass sie für das gesamte 43 deutsche Gebiet jederzeit ausgebaut werden und verbindlich gemacht werden können.
Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und ihre deutschen Verbündeten in den Arbeiterparteien SPD und KPD, die am 22. April 1946 zur SED zwangsvereinigt wurden, schwankten in dieser frühen Phase, in der eine Wiedervereinigung der Besatzungszonen durchaus noch möglich schien, sowohl in der Kultur- als auch in der Bildungspolitik zwischen demokratisch-sozialistischen Leitvorstellungen im Sinne der SPD und sowjetsozialistischen Positionen, die die KPD-Führung im Anschluss an das Stalinsche Zentralkomitee der KPdSU vertrat. Bei der Deutschen Bücherei sollte gemäß des Alliierten Kontrollratsbefehls Nr. 4 vom 13. Mai 1945 über die »Einziehung von Literatur und Werken nationalsozialistischen und militaristischen Charakters« eine »Liste der auszusondernden Literatur« zusammengestellt und die ausgesonderten Bücher abgeliefert werden. Diese Liste, die zwischen 1946 und 1953 erschien und in vier Bänden 38.700 Titel nachweist, wurde Grundlage umfassender Säuberungen der Buch- und Zeitschriftenbestände in Bibliotheken und Buchhandel der SBZ/DDR, wogegen sie in westlichen Besatzungszonen kaum Beachtung fand, eher totgeschwiegen wurde.44 42 StA-L, Börsenverein II 21766, Bl. 198: Niederschrift über Besprechungen mit dem sowjetischen Minister Solotuchin am 25. und 26. 7. 1945. 43 Deutsche Nationalbibliothek, Archiv 152/1/5: Ott, Erich: Bericht über die Besprechung mit den Herren Kultusminister Solotuchin und Professor Smirnow am 27. 7. 1945. 44 Der dem Befehl des Obersten Chefs der SMAD, Marschall Georgi Schukov, vom September 1945 entsprechende Kontrollratsbefehl Nr. 4 vom 13. Mai 1946 über die Einziehung nationalsozialistischer, rassistischer und militaristischer Werke aus Beständen von Bibliotheken und Buchhandels war Anlass für die von der Deutschen Bücherei, Leipzig zusammengestellte und von der DVV herausgegebene »Liste der auszusondernden Literatur«. Sie erschien mit 3 Nachträgen 1946–1953 im Berliner Zentralverlag. Sie war für die SBZ verbindlich und öffentlich zugänglich. In den westlichen Besatzungszonen war sie dagegen nicht verbindlich.
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Zur Durchführung umfassender Revisionen wurde im Leipziger Erziehungs- und Kulturamt (später Volksbildungsamt) auf Vorschlag Heinrich Beckers am 1. August 1945 die »Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen«, eine Abteilung des Dezernats Volksbildung im Rat der Stadt Leipzig, geschaffen und im Gerichtsweg 26 in enger Nachbarschaft zur Geschäftsstelle des Börsenvereins untergebracht. Ihre »hauptsächlichste Aufgabe« bestand in der »Prüfung und Bereinigung im gesamten Leipziger Buchhandel in sachlicher und personeller Hinsicht«. Konkret sollte sie während seiner Nichtlizenzierung eine Art Gegen-Börsenverein bilden und für Genehmigungen zur Wiedereröffnung von Kommissions- und Sortimentsbuchhandlungen, für Anträge auf Lizenzierung oder Neugründung von Verlagen, für Preiskontrolle, für »Überwachung und Pflege der Qualität des veröffentlichten Schrifttums« (Zensur) und die »Heranbildung des buchhändlerischen Nachwuchses« zuständig sein.45 Ihre Leitung übernahm mit Heinrich Becker ein engagierter ›Volksbildner‹ alter Schule, der für die sowjetische Militärverwaltung eine Liste »wissenschaftlicher Verlage der Ostzone, deren Weiterarbeit dringend erwünscht ist«, zusammenstellte, in der sich alle bedeutenden Leipziger Verlage von Barth und Brockhaus bis Tauchnitz und Teubner, ferner Steinkopff in Dresden, Gustav Fischer in Jena, Herm. Böhlau Nachf. in Weimar, Marhold und Niemeyer in Halle sowie Justus Perthes in Gotha wiederfanden.46 Sie sollte eine Grundlage künftiger Lizenzierungspolitik bilden. Im Januar 1946 meldete die Zentralstelle, dass in Leipzig nach Überprüfung 192 Verlagsbuchhandlungen, 26 Zwischen- und 355 Sortimentsbuchhandlungen (einschließlich Buchverkaufsstellen) sowie 103 Musikalienhandlungen (einschl. Musikverlage) und 109 Leihbüchereien wieder alte Bestände verkaufen bzw. verleihen dürfen.47
Die Weichen waren gestellt Im Herbst 1945 war nicht mehr zu übersehen, dass sich der Buchhandel und seine Branchenorganisation auf divergierende Entwicklungsbedingungen in den Westzonen und der Ostzone einstellen mussten, die von den Besatzungsmächten bestimmt wurden. Ließ sich die Deutschlandpolitik der Westmächte vom »Appeasement« mit mehr oder minder gründlich entnazifizierten traditionellen Funktionseliten und einer Restauration wirtschaftlicher Vorkriegsstrukturen in ihren Besatzungszonen leiten, so liefen die Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht auf einen Paradigmenwechsel hinaus, auf eine Umwälzung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen in SBZ/DDR mit weitreichenden Folgen für das Buchwesen wie für den Leipziger Börsenverein und seine künftige Rolle.
Sie wurde weder beachtet noch vertrieben. Dass sie genutzt wurde, ist kaum anzunehmen. Nur in der britischen Besatzungszone existierte 1947 eine »Liste unerwünschten Schrifttums«, die aber »Nur für den Dienstgebrauch« bestimmt war. 45 StadtAL 2125, Bl. 113 u. 177: Struktur des Volksbildungsamtes. 46 StadtAL, StVuR 2125, Bl. 250–251: Liste wissenschaftlicher Verlage der Ostzone, deren Weiterarbeit dringend erwünscht ist. 47 StadtAL, StVuR 2125, Bl. 256–259 (257): Tätigkeitsbericht der Zentralstelle für Buch und Bibliothekswesen vom 15. 1. 1946.
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Die Weichen dafür waren schon 1944 in Moskau gestellt, entsprechende Pläne mit der stalintreuen KPD-Führung unter Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht beraten worden: Nach sowjetischem Vorbild sollten neue Verlage in Trägerschaft politischer Parteien und Massenorganisationen gegründet und die Herausgabe fortschrittlicher Literatur von »gesellschaftlichen Kräften« kontrolliert werden. Am 30. April 1945, dem Tag, an dem Hitler in der Reichskanzlei Selbstmord verübte, waren drei Initiativgruppen der KPD, aus Moskau kommend, auf einem Feldflugplatz »zwischen Frankfurt an der Oder und Küstrin«48 gelandet: die »Gruppe Ulbricht«, zuständig für Berlin, die »Gruppe Sobottka«, zuständig für Mecklenburg, und die »Gruppe Ackermann«, zuständig für Sachsen. Sie sollten der Roten Armee beim Neuaufbau von Verwaltungen helfen. Die Gruppen seien gut vorbereitet gewesen, schrieb Ulbricht später, die Organisierung der Verwaltungen und des kulturellen Lebens sei bis ins Detail geplant worden. Geführt von der SMAD praktizierten die deutschen Exilkommunisten eine Strategie schleichender Machtübernahme. Ulbricht kleidete sie in die Direktive: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben«.49 Neue Eigentumsstrukturen der Verlage neben nur zögernd wieder zugelassenen Privatverlagen, neue Vertriebsstrukturen neben traditionellen Kommissions- und Sortimentsbuchhandlungen sowie die schrittweise Transformation des Leipziger Börsenvereins zum »Verband der Verleger und Buchhändler in der DDR« – alle diese Schritte bedeuteten eine Revolution auf dem Gebiete von Wirtschaft und Kultur. Sie folgte jenen Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, die Lenin schon 1905 entworfen hatte.50 Zu verstehen ist die mehrheitliche Akzeptanz dieser Prozesse freilich nur, wenn man sie im Zusammenhang mit der Suche nach einem Ausweg aus der »deutschen Katastrophe« (Meinecke) im Geist sozialistischer Utopie begreift. »Überlegungen zur Ausgestaltung der Gesellschaft mit sozialistischen Komponenten«51 waren nach dem Krieg so ungewöhnlich nicht. Zu erinnern ist, dass selbst das Ahlener Programm der CDU (West) vom 3. Februar 1947 von einem christlichen Sozialismus52 sprach und sogar der Bertelsmann-Verleger Reinhard Mohn eine Zeit lang sozialistische Strukturen als Alternative für die Neugestaltung des Buchwesens erwog. Dass sich dieser Weg am Ende als Sackgasse erweisen, die Befreiung von der Diktatur des Mehrwertgesetzes nur zu einer noch bornierteren des »verkirchten« (W. F. Haug) ideologischen Dogmatismus führen sollte, war 1945 noch kaum abzusehen.
Die Administration Am 5. Juni 1945 hatte sich in Berlin der Alliierte Kontrollrat konstituiert. Vier Tage später, am 9. Juni, wurde die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) für die SBZ gebildet. Für einzelne Ressorts wie Reparationen, Industrie, Landwirtschaft,
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Leonhard: Die Revolution, S. 303. Leonhard, Die Revolution, S. 340. Lenin: Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution. Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 26. John: Ahlener Programm und Bonner Republik.
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Handel und Versorgung entstanden in Berlin-Karlshorst Zentralverwaltungen und -ausschüsse. Für Informations- und Kulturpolitik, und damit auch für Verlage und Buchhandel, waren zwei Zentralverwaltungen zuständig: die Verwaltung Propaganda bzw. Information unter Leitung des promovierten Wirtschaftswissenschaftlers Sergei I. Tulpanow und die Verwaltung Volksbildung unter Pjotr W. Solotuchin, vor seiner Berliner Zeit Professor, Rektor der Leningrader Universität und stellvertretender Minister für Volksbildung der RSFSR. Die Verwaltung Information kontrollierte den gesamten Bereich von Presse, Rundfunk, Publikations- und Verlagswesen. Innerhalb dieser Zentralverwaltung sollte eine eigene Abteilung Kultur, geleitet von Alexander L. Dymschitz, einem hochgebildeten promovierten Germanisten, die »Wiederherstellung des kulturellen Lebens« fördern.53 Ihr oblag die Vergabe von Lizenzen für Verlage und einzelne Druckerzeugnisse. Sie hatte auch über eine Wiederzulassung des Börsenvereins zu entscheiden. Tulpanow schrieb rückblickend, die Sowjetregierung habe »keine ausgearbeitete ›Theorie der Besatzungsadministration‹« gehabt; »sie ließ sich in ihrer von der SMAD ausgeübten Tätigkeit von den allgemeinen Grundsätzen der marxistisch-leninistischen Theorie leiten, vom Charakter des zweiten Weltkrieges, der ein antifaschistischer Befreiungskrieg auch gegenüber dem deutschen Volke war.«54 Noch während in der Halle des Schlosses Cecilienhof die Potsdamer Konferenz tagte, begann die sowjetische Besatzungsmacht mit dem dort beschlossenen parallelen Aufbau deutscher Zentralverwaltungen. Nach Befehl Nr. 17 vom 27. Juli 1945 sollten sie beratende Funktion für die SMAD übernehmen. Sie bildeten Keimzellen einer künftigen deutschen Zentralregierung. Den SMAD-Verwaltungen für Information und für Volksbildung wurde eine Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung (DZVV) zugeordnet, aus der die Deutsche Verwaltung für Volksbildung (DVV) und 1949 das Ministerium für Volksbildung der DDR hervorgingen. Ihnen waren Buchhandel und Verlage wie auch der Börsenverein bis 1951, bis zur Bildung des Amtes für Literatur (ALV), unterstellt. Präsident der DZVV wurde Paul Wandel (KPD), einer der Vizepräsidenten der Schriftsteller Erich Weinert. Er übernahm die Leitung des Bereichs ›Kunst, Literatur und kulturelle Massenarbeit‹, dem die Abteilung Verlagswesen angegliedert wurde. Sie hatte Anträge auf Zulassung von Verlagen sowie für den Druck vorgesehener Manuskripte zu prüfen und mit einer Stellungnahme an die Verwaltung Information der SMAD weiterzuleiten. Anfang 1946 wurde ihr ein Kultureller Beirat 55 zur Seite gestellt, der als »unabhängiges Gremium von Fachleuten« DZVV und SMAD bei Verlagslizenzierungen und bei der Vorzensur unterstützen, zugleich über die Zuteilung von kontingentiertem Papier »die reichlich planlose Spontaneität, mit der die lizenzierten Verlage zu produzieren begannen, durch planmäßiges Koordinieren der Verlagsprogramme« ersetzen sollte.56
53 Tjulpanow: Deutschland nach dem Kriege, S. 287. 54 Tjulpanow, Sergej Iwanowitsch: Die Rolle der SMAD bei der Demokratisierung Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 15 (1967) 2, S. 243. 55 StA-L, Börsenverein II 1212, Bl. 7–11: Börsenverein, Vorstand und Geschäftsführung: Betr. Kultureller Beirat vom 15. Februar 1947. Siehe auch Kapitel 1.3 Der Kulturelle Beirat für das Verlagswesen (Lisa Schelhas) in diesem Band. 56 Heinrich Becker: Planmäßige Buchproduktion. In: Börsenblatt (Leipzig) 114 (1947) 8, S. 109.
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Seine Organisation und Arbeitsweise waren heftig umstritten. Tatsächlich war der Kulturelle Beirat eher eine Einrichtung zur Kontrolle der Privatverlage, weder überparteilich noch unabhängig, sondern mit der Abteilung Verlagswesen der DZVV verbunden. Ihr Leiter, Lothar von Balluseck, übernahm anfangs auch die Geschäftsführung im Kulturellen Beirat bis er zum 1. August 1947 von Otto Kielmeyer abgelöst wurde.57 Dem Beirat gehörten u. a. die Schriftsteller Johannes R. Becher, Paul Wiegler, Günther Weisenborn, Friedrich Wolf, Hedda Zinner, ferner der Leiter der Zentralstelle für Buch- und Bibliothekwesen Heinrich Becker sowie Vertreter der Gewerkschaften und der Verwaltungen für Industrie, Volksbildung und Wissenschaft an. Das Verlagswesen fiel bis Ende 1947 auch in den Aufgabenbereich der Abteilung Allgemeine Volksbildung, die im Februar 1946 in Abteilung Kulturelle Aufklärung umbenannt wurde. Sie wurde zuerst von Wilhelm Heise, ab November 1945 von Wilhelm Girnus und ab September 1946 von Hans Mahle geleitet und unterstand der Aufsicht des zweiten Vizepräsidenten der DVV, Emil Menke-Glückert, ab März 1946 Erich Weinert. Mit SMAD, DZVV und Kulturellem Beirat waren die Verwaltungen entstanden, die bis zur Gründung des Staates DDR den Neu- und Wiederaufbau des Verlagswesens in der SBZ in vorgezeichnete Bahnen lenken sollten.58 Mit der Anweisung über die Aufgaben der Abteilung Presse und Verlagswesen in der DZVV vom 1. November 1945 begann die Institutionalisierung deutscher Kontrollund Lenkungsorgane. Mit ihrer Hilfe verwirklichten KPdSU und KPD/SED das Leninsche Prinzip der »Parteiliteratur«. Danach sollte »literarische Tätigkeit [auch verlegerische und buchhändlerische; R. R.] keine Quelle des Gewinns von Gruppen oder Einzelpersonen […], überhaupt keine individuelle Angelegenheit« mehr sein, sondern zu »einem ›Rädchen und Schräubchen‹ des einen einheitlichen […] Mechanismus werden, der von dem […] politisch bewussten Vortrupp der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird.« Im Klartext hatte Lenin schon 1905 gefordert: »Verlage, Lager, Läden, Leseräume, Bibliotheken und Literaturvertriebe – alles dies muss der Partei unterstehen und ihr rechenschaftspflichtig sein«.59 Nach diesem ›Bauplan‹ wurde durch die SMAD im Verein mit der von ihr 1949 mit politischer Macht belehnten Staatspartei SED die für deren Erziehungsdiktatur zentrale Sphäre des Buchwesens neu gestaltet, planwirtschaftlicher Lenkung und politischer Kontrolle unterworfen. Nicht selten erschwerten Kompetenzdifferenzen zwischen sowjetischen und deutschen Behörden auf kommunaler, Landes- und zentraler Ebene bei Planung, Papierzuteilung und Zensur die Wiederbelebung der Verlagsproduktion, weshalb die Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen, nicht zuletzt im Interesse Leipziger Verlage, eine Zentralisierung vorschlug – natürlich in Leipzig, wo der Börsenverein nach seiner Wieder-
57 Balluseck hatte 1946 ein Buch Deutsche über Deutschland vorgelegt, das aber noch vor Auslieferung eingestampft wurde. Offensichtlich fiel er in Ungnade, ging nach dem Westen und wurde später Mitarbeiter des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen der bundesrepublikanischen Regierung in Bonn. 58 Kielmeyer: Der Kulturelle Beirat und das Verlagswesen. 59 Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur, S. 29 ff.
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zulassung einheitliche Regelungen für die gesamte Branche durchsetzen könne.60 Die Vorschläge wurden jedoch nicht realisiert.
Neue Strukturen: Verlagssystem Die Umgestaltung begann mit der Gründung neuer Verlage und von Volksbuchhandlungen. Erste Verlagslizenzen erhielten die mit SMAD-Befehl Nr. 2 vom 10. Juni 1945 zugelassenen Parteien und Massenorganisationen:61 die KPD für den am 10. Oktober 1945 gegründeten Verlag Neuer Weg GmbH (Berlin), die SPD für die Vorwärts-Verlag und Druckerei GmbH, Berlin (aus beiden ging nach der Vereinigung zur SED der Dietz Verlag hervor), der FDGB für die Freie Gewerkschaft-Verlagsgesellschaft mbH, Berlin (nachmals Verlag Tribüne); die Vereinigung für gegenseitige Bauernhilfe für den Deutschen Bauernverlag, Berlin; der von Johannes R. Becher im Juni 1945 gegründete Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands für die Aufbau-Verlags GmbH, Berlin; die Freie Deutsche Jugend (FDJ) für den Verlag Neues Leben, Berlin; die Deutsche Akademie der Wissenschaften für den Akademie-Verlag, Berlin; und die DZVV zusammen mit der Stadt Leipzig für den gemäß SMAD-Befehl 70 vom 25. September errichteten Volk und Wissen Verlag zur Produktion von Schulbüchern für die 1946 eingeführte Einheitsschule in der SBZ/DDR.62 Mit diesen Verlagsgründungen waren neben dem ebenfalls seit Frühjahr 1946 in Berlin tätigen SWA-Verlag der SMAD63 die Stützpfeiler für ein von Grund auf erneuertes Verlagssystem geschaffen und zugleich maßgebliche Editionsbereiche festgelegt, die gemäß Umerziehungsauftrag von den entsprechenden politischen bzw. kulturellen Organisationen wahrgenommen werden sollten. 1946 wurden auf Initiative der Zentrag64 in den Ländern der SBZ Landesverlagsleitungen gegründet, die Druckereien, Verlage und später auch Buchhandlungen, also einen parteieigenen Apparat für Produktion und Vertrieb von Büchern und Zeitschriften, aufbauen sollten. Die Unternehmen firmierten als GmbH und wurden anfangs von je einem Vertreter der KPD und SPD geleitet. So entstanden in Sachsen der Sachsenverlag, Dresden, in Thüringen der Thüringer Volksverlag, Weimar, in Sachsen-Anhalt die Mitteldeutsche Druckerei und Verlags GmbH, Halle, in Brandenburg die Märkische Druck- und Verlagsanstalt, Potsdam, und in Mecklenburg die Mecklenburgische Landesdruckerei, Schwerin.65
60 StadtAL, StVuR 2125, Bl. 244–246: Abt. Buch und Bibliothekswesen. Betr. Planung und Prüfung (Zensur) bei neuer Verlagsproduktion. 61 Selle: Zur Geschichte des Verlagswesens der Deutschen Demokratischen Republik, S. 24–28; Jütte: Verlagslizenzierungen. Siehe auch Kapitel 1.2 Nicht ohne Lizenz (Bettina Jütte) in diesem Band. 62 Der Volk und Wissen Verlag erhielt die Lizenz der SMAD am 25. 9. 1945 und wurde am 25. 10. 1945 als GmbH in das Handelsregister des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg eingetragen. Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 36. 63 Der Verlag der SMAD bestand 1946 bis 1951. Riese: Vor 75 Jahren. 64 Zentrale Einkaufs- und Revisionsgesellschaft mbH war ein direkt der Abteilung Finanzen des ZK der KPD/SED unterstelltes Leitungs- und Kontrollorgan für Parteibetriebe. 65 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 35.
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Alle diese Neugründungen basierten auf dem SMAD-Befehl Nr. 19 vom 2. August 1945 über die Regelung der Druckerei- und Verlagsarbeit. Skeptisch verhielt sich die SMAD gegenüber Anträgen auf Wiederzulassung privater Verlage. Dass Privatverlage für den Neuaufbau des Kulturlebens unentbehrlich seien, davon waren nicht nur die in der Arbeitsgemeinschaft Buchhandel im Kulturausschuss der Liberal-Demokratischen Partei vertretene Verleger und Buchhändler wie Felix Meiner, Hans Wunderlich oder Wilhelm Goldmann überzeugt, sondern auch die Geschäftsführung im Börsenverein.66 Für den Kulturbund drängte u. a. Theodor Plievier in Weimar auf Lizenzierung der Verlage Justus Perthes in Gotha, Gustav Fischer in Jena und Gustav Kiepenheuer in Weimar. Für die alteingesessenen Leipziger Verlage wie Barth, Breitkopf & Härtel, Brockhaus, Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Hirzel, Insel, Reclam, Seemann, Thieme setzte sich Heinrich Becker als Leiter der städtischen Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen ein. Aber noch im Januar 1946 meinte die SMAD-Verwaltung Information, man könne die Struktur des sowjetischen Verlagswesens direkt auf Deutschland übertragen. Becker berichtet von einem Gespräch in Berlin-Karlshorst, in dem er zu erklären suchte, »weshalb dieser Weg […] nicht gangbar sei, unter anderem schon deshalb nicht, weil die bedeutenden Verlage ihre Autoren in allen Besatzungszonen haben«. Diese könnten ›abwandern‹, was einem nicht vertretbaren »Verlust für das geistige Leben« in der SBZ gleichkäme. Auch sei es »im Interesse einer wirkungsvollen Bündnispolitik, wertvolle Verlagstraditionen, soweit vertretbar, zu bewahren.«67 Danach zeichnete sich eine Wende ab: Sie erleichterte die Wiederzulassung privater Verlage wie auch des sich neu organisierenden Börsenvereins. Die Zahl lizenzierter Privatverlage sollte sich ursprünglich auf fünf beschränken, ausgewählt nach Ansehen und der bei ihnen liegenden Verlagsrechte.68 Dass ihre Inhaber bzw. leitenden Angestellten keine ehemaligen NSDAP-Mitglieder sein durften, versteht sich von selbst. Bis 1946 wurden sieben Leipziger Privatverlage zugelassen (Bibliographisches Institut, Breitkopf & Härtel, Brockhaus, Insel, Reclam, E. A. Seemann), ferner der Hinstorff Verlag in Rostock sowie Böhlau und Kiepenheuer in Weimar. Außerdem fassten die Provinzial- bzw. Landesverwaltungen von Sachsen-Anhalt und Thüringen weniger bekannte Verlage ihrer Region zu Arbeitsgemeinschaften zusammen, die eine gemeinsame Lizenz erhalten sollten. In Thüringen erreichte der Leiter der Thüringischen Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen, Joseph Caspar Witsch, Mitbegründer des Verlags Kiepenheuer & Witsch, dass eine Arbeitsgemeinschaft von 13 thüringischen Verlegern gegründet und am 2. April 1947 zugelassen wurde. Ebenfalls 13 Verlage schlossen sich im Herbst 1947 in Sachsen-Anhalt zur Verlagsgemeinschaft Sachsen-
66 StA-L, Börsenverein II 1795, Bl. 93–97: Über die Unentbehrlichkeit der Privatverlage für den Neuaufbau des deutschen Kulturlebens. Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Buchhandel im Kulturausschuss der Liberal-Demokratischen Partei, Bezirk Leipzig vom 21. 11. 45. Abschrift. / StA-L, Börsenverein II 1799, Bl. 136: Zusammenstellung »Wesen und Bedeutung des deutschen Verlagsbuchhandels«. 67 Becker: Zwischen Wahn und Wahrheit, S. 355. 68 StA-L, Börsenverein II 1626, Bl. 67: Goldammer: Bericht über die Besprechung des Vorstandes am 22. Januar 1946.
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Anhalt mit Sitz in Halle/Saale zusammen, die jedoch von der SMAD nicht lizenziert wurde. In Berlin wurde am 28. August 1946 die Verlagsgemeinschaft Jugend und Welt lizenziert, zu der die Verlage Alfred Holz, Rudolf R. Zech und der Altberliner Verlag Lucie Groszer gehörten. Gegen Versuche, auch in Sachsen solche Verlagsgemeinschaften zu bilden, wandte sich u. a. der Leiter der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig, Rudolf Marx. Er fasste seine Bedenken in einem Brief vom 19. März 1946 an den Vizepräsidenten der DZVV, Erich Weinert, zusammen: […] in dieser Arbeitsgemeinschaft muss er [der Verleger, R. R.] jeden Monat seine Pläne, d. h. seine ungeborenen Kinder, mit denen der anderen Mitglieder seiner Arbeitsgemeinschaft durchsprechen und ausknobeln. Dies gestattet wiederum Einblicke in seine Werkstatt, die sich jeder Künstler (und der wirkliche Verleger ist so etwas wie ein Künstler) verbitten würde, weil sie die Ruhe und Besonnenheit seines Schaffensprozesses ständig stören. Die Erzeugnisse einer Arbeitsgemeinschaft werden sich dadurch unvermeidlich uniformieren, die Initiative der Verlage wird abnehmen, und der angestrebte Eindruck der Vielfältigkeit und Buntheit des 69 Verlagsschaffens unserer Zone wird verloren gehen«.
Seine Verlagsbuchhandlung erhielt die Lizenz reichlich spät, erst am 8. Februar 1947. Die SMAD wollte die Zahl an Lizenzen für private Verlage möglichst gering halten. Darum ging sie auf den Vorschlag von Heinrich Becker ein, auch wissenschaftliche und Fachverlage zu überregionalen fachlichen Arbeitsgemeinschaften zusammenzufassen. Die erste solcher Arbeitsgemeinschaften wurde am 21. März 1946 gebildet und einen Tag später von der SMAD lizenziert: die Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verleger. Ihr gehörten an: Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, Johann Ambrosius Barth, Leipzig, Gustav Fischer, Jena, H. Heinecke, Berlin, S. Hirzel, Leipzig, Carl Marhold, Halle, Dr. Werner Saenger, Berlin, Dr. Wilmar Schwabe, Leipzig, Elwin Staude, Osterwieck, Theodor Steinkopff, Dresden, Georg Thieme, Leipzig und der Verlag des Deutschen Hygiene-Museums, Dresden. Den Aufsichtsrat dieser Arbeitsgemeinschaft bildeten neben Verlegern Vertreter der Deutschen Verwaltung für Gesundheitswesen und der DVV, später der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK), die »gesellschaftliche Kontrolle« ausüben sollten. Die Herausgabe von »berufsbildendem Fachschrifttum« sollte anfangs allein dem Verlag des FDGB vorbehalten sein. In Verhandlungen kam es aber zu dem Entschluss, eine Arbeitsgemeinschaft der Fachbuch- und Fachzeitschriftenverleger zu gründen. Sie wurde am 19. Dezember 1946 von der SMAD lizenziert. Lizenzträger war Die Freie Gewerkschaft Verlagsgesellschaft, der Verlag des FDGB. Dieser Arbeitsgemeinschaft schlossen sich elf Verlage an, darunter der A. Ziemsen Verlag, Wittenberg. Die Arbeitsgemeinschaft wurde 1948 komplett umstrukturiert und am 12. Januar durch die Gründung einer zentralen Fachbuchverlag GmbH in Leipzig ersetzt, die am 7. März 1949 lizenziert wurde. Weitere Arbeitsgemeinschaften für Verlage evangelischer, pädagogischer, wissenschaftlicher und Musikliteratur sind über das Planungsstadium nicht hinausgelangt.
69 StA-L, Börsenverein II 1212, Bl. 18: Schreiben von Rudolf Marx an Erich Weinert, 19. März 1946.
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Abb. 2: Titelblatt der ersten Nachkriegsausgabe des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel (Leipzig) vom 25. August 1946.
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Von 1945 bis 1949 wurden von der SMAD in Berlin-Karlshorst und den Informationsabteilung der SMA in Ländern und Provinzen insgesamt 170 Lizenzen einzelnen Verlagen und fünf an Verlagsgemeinschaften erteilt. Unter dieser Zahl befanden sich aber auch Doppelungen, weil einige Verlage sowohl unter einer Verlagsgemeinschaft als auch einzeln lizenziert worden waren. Deshalb ist sie nur als Näherungswert zu verstehen. Die Lizenzen der SMAD behielten bis 1951 ihre Gültigkeit. Ab 3. Oktober 1951 erfolgte eine Neulizenzierung durch das neu gegründete Amt für Literatur der DDR, das eine Nachfolgeeinrichtung des Kulturellen Beirats darstellte. Bis zum 31. Dezember 1951 erhielten nur noch 65 Buchverlage in der DDR eine erneute Zulassung. Nach einer Zusammenstellung des Börsenvereins wurden 1947 für die SBZ bereits wieder 1.308 erschienene Titel registriert (ohne Zeitschriften). Davon waren 1.155 Neuerscheinungen, 153 Neuauflagen.70
Neue Strukturen: Buchvertrieb Am 17. April 1946 richtete Heinrich Becker eine vertrauliche Denkschrift an OBM Erich Zeigner: Mit Wiederbeginn der verlegerischen Arbeit in der Ostzone bedürfen Fragen der buchhändlerischen Organisation dringend einer Lösung. I. Buchverteilung. Die ausgefahrenen Kanäle der privaten Kommissions- und Grossohäuser wirken sich zwangsläufig so aus, dass die Hauptmasse der verlegerischen Neuproduktion den »alten Kunden« zufließt, während die neuen Firmen, meist von Antifaschisten gegründet, schwer zu Büchern kommen. Da wir dringendes Interesse daran haben, dem bürgerlich-liberalistischen Sortimenter mit ästhetisch reaktionärer Gesamttendenz einen neuen Buchhändlertyp (Volksbuchhändler) entgegenzusetzen, muss ein Verteilerapparat geschaffen werden, welcher unserer Lenkung unterliegt. Zu diesem Zweck ist ein Kommissionshaus in Leipzig erforderlich, dass 1. die Verteilung der Verlagsproduktion der gemeinwirtschaftlichen Verlage übernimmt und 2. von allen lizenzierten Verlagen einen angemessenen Produktionsteil bekommt. II. Heranbildung buchhändlerischen Nachwuchses. Wenn wir durch eine uns gehörende Großvertriebsorganisation die Buchhändler in Stadt und Land an uns binden, so haben wir dann auch die Gelegenheit, auf die geistig politische Formung des heranzubildenden neuen Buchhändlerstandes entscheidend einzuwirken. […] Man muß sich dabei klar machen, daß es in Zukunft nicht auf den […] Typ des großstädtischen Sortimenters ankommen wird, sondern daß wir den Buchhändler brauchen, der in den Arbeitervierteln […] in engster Fühlung mit unseren politischen Organisationen zu arbeiten 71 weiß […].
Neue Maßstäbe für den Buchvertrieb sah Becker in Volksbuchhandlungen, die auf lange Sicht private Sortimentsbuchhandlungen verdrängen sollten und als nichtkommerzielle
70 Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 217 ff. 71 StadtAL, StVuR 9157, Bl. 48 ff.: Vertrauliche Denkschrift Heinrich Beckers an Erich Zeigner.
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Unternehmen nach Vorbild des Literaturvertriebs der Arbeiterbewegung organisiert werden müssten. Solche Buchhandlungen wurden 1945/46 von Verbänden der KPD und SPD, vom Gewerkschafts- und Kulturbund, bisweilen auch von Kommunen und Einzelpersonen spontan gegründet. Als primär kulturpolitische Einrichtungen mit erzieherischem Anspruch leiteten sie Namen und Selbstverständnis von der Volksbuchhandlung Hottingen-Zürich her, die in der Zeit des Sozialistengesetzes Zentrum des Literaturvertriebs der SPD war. Einen Buchhandel frei von Profitstreben zu schaffen, der in der Tradition des Literaturvertriebs der KPD vor 1933 das flächendeckende Netz des bürgerlichen Buchhandels ergänzen, schließlich ersetzen sollte, das erkannten Heinrich Becker sowie zahlreiche andere politische Funktionäre mit Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik als notwendige Voraussetzung für das Wirksamwerden der neuen Verlage in der Kulturrevolution, die in der SBZ angestrebt wurde. In Sachsen wurde die erste Volksbuchhandlung als ein auf nicht mehr privatem Eigentum beruhender Buchhandelstyp am 1. August 1945 in Nossen bei Dresden durch die Kommune geschaffen. Am 15. August 1945 gründete die Leipziger Kreisleitung der KPD die Buchhandelsgesellschaft »Wissenschaft und Literatur«. Sie sollte anfangs aktuelle politische Literatur herausgeben, dann aber vor allem für den Vertrieb von Literatur aus den neu geschaffenen Verlagen sorgen. Hinter dem neutralen Namen verbarg sich die Auslieferung des KPD-Verlages Neuer Weg. Aus ihr ging die größte Leipziger Buchhandlung, die Buchhandlung Franz-Mehring-Haus, hervor, deren Umsatz bis 1949 schon auf über 2 Mio. Mark anstieg. Eine der ersten Buchhandlungen übrigens, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Juni 1945 als Volksbuchhandlung eröffnet wurde, befand sich nicht in der sowjetischen, sondern in der französischen Besatzungszone, und zwar in Singen (Hohentwiel). Gründer war eine KPD-Ortsgruppe, »die in Ost und West zu den ersten Aktivisten gehörte«.72 Noch im August 1945 eröffnete die SMA mit Unterstützung der KPD in Berlin und Leipzig Vertriebsstellen für Literatur aus der Sowjetunion. Daraus ging 1946 die »Meshdunarodnaja Kniga« hervor, die Angehörige der Sowjetarmee versorgen sollte. 1951 übernahm diese Läden der inzwischen etablierte Volksbuchhandel als »Internationales Buch«. Das Importgeschäft wurde an LKG übertragen. Ende 1946 begann auch der FDGB ein eigenes Netz von Buchhandlungen in mehreren Städten aufzubauen. Seine elf Ladengeschäfte hießen überall »Bücherstube Gutenberg«. Das erste Geschäft wurde am 2. Januar 1947 in Leipzig eröffnet. Nach 1951 wurden auch sie vom Volksbuchhandel übernommen. Um Spontaneität und Planlosigkeit zu überwinden, gründeten die Landesleitungen der SED in Verbindung mit dem Parteiunternehmen Zentrag im Jahre 1947 Buchhandelsgesellschaften, die die Leitung der Volksbuchhandlungen übernahmen: – – – – –
Welt im Buch, Schwerin für Mecklenburg, Unterhaltung und Wissen, Potsdam für Brandenburg, Das gute Buch, Halle für Sachsen-Anhalt, Buch und Kunst, Dresden für Sachsen und die Thüringische Buchhandelsgesellschaft, Erfurt für Thüringen.
72 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 19.
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Da auch die Buchhandelsgesellschaft »Vertrieb für Wissenschaft und Literatur« in Leipzig am 22. April 1949 der Landesleitung Dresden der SED unterstellt wurde, gab es von da an in Sachsen zwei Buchhandelsgesellschaften. In Berlin hatte im Juni 1945 Irma Tamm im Auftrage der KPD die »Bücherstube Köpenick« als erste Volksbuchhandlung gegründet. Von 1946 an wurden die SEDKreisleitungen auch in anderen Stadtteilen des sowjetischen besetzten Sektors aktiv. Ab 1. September 1950 ging die zentrale Leitung an die auf Beschluss der SED-Landesleitung geschaffene »Berliner Buchhandels-Gesellschaft« (BBG) über. Volksbuchhandlungen waren nur in der Anfangszeit selbständig. Nach bis 1949 geltendem Recht als GmbH von ›Strohmännern‹ im Auftrag von KPD, später SED gegründet, gehörten alle diese Volksbuchhandlungen zum Parteieigentum. Wie Verlage und Druckereien halfen sie bei der Finanzierung des wachsenden Parteiapparats, zu dem nahezu 2.000 hauptamtliche Mitarbeiter gehörten. Die Verwaltung der Volksbuchhandlungen übernahm die Zentrag. Als der Abteilung Finanzen und Parteibetriebe im ZK der SED nachgeordnete Einrichtung hatte sie von 1946 an bei den Landesleitungen der SED für »die Entwicklung eines parteieigenen Apparates für Produktion und Vertrieb grafischer Erzeugnisse« gesorgt.73 Die einzelnen Unternehmen wurden einem zentralen Bestell- und Abrechnungssystem unterworfen. 1952, als die dann schon bestehende DDR in 14 Bezirke gegliedert und die Länder aufgelöst wurden, wurden auch die Ländergesellschaften aufgelöst und Bezirksbetriebe geschaffen, die zunächst als Abteilung innerhalb des Parteibetriebes LKG verwaltet wurden. Zwei Jahre später, 1954, wurden die Buchhandlungen aus dem LKG wieder herausgelöst und mit einer Zentralen Verwaltung des Volksbuchhandels verselbständigt, die zu dem neugegründeten SED-eigenen Druckerei- und Verlagskontor (DVK) gehörte. Erst 1958 wurden juristisch selbstständige, dem Volkseigentum zugerechnete Bezirksbetriebe gebildet und einer Zentralen Leitung des Volksbuchhandels in Leipzig unterstellt. Weil sie die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllten, waren die Parteibetriebe Volksbuchhandel und LKG auf dem 14. Plenum des ZK der SED Juli 1958 in die Kritik geraten. Sie löste nach Entstalinisierung, Mauerbau und anderen innenpolitischen Veränderungen einen grundlegenden Wandel aus: zahlreiche Verlage (Fachbuchverlag, Leipzig; Verlag für Bauwesen, Berlin; Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin; Hinstorff Verlag, Rostock; Edition Peters, Leipzig; Volk und Welt, Berlin; Mitteldeutscher Verlag, Halle; Rütten & Loening, Berlin; Volksverlag Weimar; Kinderbuchverlag, Berlin; Eulenspiegel Verlag, Berlin; Henschelverlag, Berlin; Verlag der Kunst, Dresden u. a. m.) sowie Volksbuchhandel und LKG wurden aus SED-Eigentum entlassen, in Volkseigentum74 überführt und einer neu geschaffenen
73 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 35. 74 Dieser juristisch nie geklärte Eigentumsbegriff sollte nicht einfach gleichgesetzt werden mit Staats- oder Parteieigentum. Der Staat fungierte de jure nur als Verwalter des dem Volke Gehörenden, denn er durfte nicht, was Eigentümer dürfen: verkaufen, beleihen, verpfänden usw. Dieser unklare Zustand legt nahe, ›Volkseigentum‹ als ideologisch verbrämte Bezeichnung für Staatseigentum aufzufassen. Denn in praxi waren die Grenzen zwischen Partei- und Staatseigentum, gar Volkseigentum tatsächlich fließend. Das Volk konnte über sein Eigentum niemals verfügen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass volkseigen eigentlich Eigentum des Staates bedeutete. Vgl. Dahn: Wir sind der Staat!, S. 61; Löffler: Buch und Lesen, S. 66.
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Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur unterstellt (HV).75 Aus Gründen des Mangels wurden in den ersten Nachkriegsjahren Bücher den Buchhandlungen zugeteilt. Erst im Juli 1948 wurde das Zuteilungsverfahren endgültig aufgehoben und funktionierte das Bestellverfahren wieder. Da trotzdem die Auflagen begehrter Bücher aus Gründen andauernden Papiermangels unter dem Bedarf blieben, wurden sie als sog. Bückware gehandelt, die für gute Kunden unter dem Ladentisch hervorgeholt werden musste. Trotz zeitweiser Zuteilung war am gebundenen Ladenpreis zu keiner Zeit ernsthaft gerüttelt worden. Am 6. August 1948 wurde mit den Preisanordnungen Nr. 129 und 130 der Ladenpreis für Bücher und Zeitschriften staatlich festgeschrieben. In der DDR hat das privatrechtliche Preisbindungssystem nie eine ernsthafte Rolle gespielt: ab 1958 wurden durch das Amt für Preise für alle Waren, Bücher eingeschlossen, Einzelhandelsverkaufspreise (EVP) gesetzlich festgelegt. Der Anteil von Volksbuchhandlungen an den insgesamt rund 1.600 Buchhandelsbetrieben und 1.300 Buchverkaufsstellen in den Jahren zwischen 1945 und 1949 war anfangs noch bescheiden.76 Gleich nach dem Krieg sollte vor allem der Zwischenbuchhandel durch die KPD ›erobert‹ werden. Becker sondierte zuerst Möglichkeiten im Traditionshaus Koehler & Volckmar. »Wie erwartet«, resümierte er, »kam in mehreren Verhandlungen nur das eine heraus: daß Volckmar-Frentzel zwar ein scharfer Gegner des Hitlerstaates gewesen war […], dass es ihm aber weltenfern lag, grundlegend neue Gedanken mitzudenken.« Dann wollte sich Becker »der nach Befehl 124 sequestrierten Kommissionsfirma Carl Fr. Fleischer bedienen«, deren Inhaber, Wilhelm Klemm, den Amerikanern nach Wiesbaden gefolgt war. Auch dieser Plan scheiterte, zumal Klemm als Hitlergegner galt. Deshalb favorisierte Becker am Ende eine Neugründung: Im Einvernehmen mit den verantwortlichen Leipziger Instanzen [Rat der Stadt und Kreisleitung der KPD; R. R.] veranlasste ich einige Genossen, […] eine GmbH ›Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel‹ zu errichten […]. Im Garten unseres Freundes Hans Albert Förster 77 in Holzhausen wurde die neue Firma gegründet.
Sie sollte sich von einer SED-eigenen Neugründung zum volkseigenen Monopolbetrieb des Zwischenbuchhandels in der DDR entwickeln,78 der über eine gesteuerte Verteilungspolitik den immer noch erheblichen Anteil privater Buchhandlungen benachteiligte und planmäßig dazu beitrug, dass das Netz des Volksbuchhandels bis Ende 1952 auf
75 Lokatis: Mechanismen der Anpassung und Kontrolle in einer differenzierten Verlagslandschaft, S. 180–181. 76 Fauth /Hünich: Zur Geschichte des Buchhandels in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 83. 77 Becker: Zwischen Wahn und Wahrheit, S. 358. 78 Petry: Das Monopol. Siehe auch Kapitel Zwischenbuchhandel (Thomas Keiderling) in Band 5/3.
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49679 und bis Ende 1989 auf über 700 Buchhandlungen erweitert werden konnte. Als GmbH gegründet, ging LKG in das Eigentum der SED über und wurde der Zentrag unterstellt, die als Aktiengesellschaft gegründet worden war, dann als Vereinigung Organisationseigener Betriebe (VOB) u. a. den parteieigenen Buchhandelsbetrieben vorstand. Die Gründungsurkunde des LKG wurde am 14. Juni 1946 im Beisein eines Notars von Heinrich Becker und Hans Albert Förster im Gerichtsweg 26 unterzeichnet. Damit hatte Heinrich Becker die Richtung entscheidend beeinflusst, die die Entwicklung sowohl des Zwischen- wie auch des Sortimentsbuchhandels in der nachmaligen DDR einschlagen sollte. Die gewachsenen Strukturen des Leipziger Platzes mit 1947 über 4.000 Groß- und Sortimentsbuchhandlungen bzw. Buchverkaufsstellen und über 50 Kommissionären, die insgesamt 8.846 Firmen vertraten, wurden deformiert und zerschlagen. Entscheidenden Anteil daran hatte eine Parteiinstitution, die die Reglementierung der Buchwirtschaft in der SBZ/DDR weitgehend beeinflusste: die bereits erwähnte Zentrale Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft mbH (Zentrag). Sie sicherte als KP-eigener Konzern die materielle Basis für das Buch- und Pressewesen, denn ihr waren auch die Papier- und Druckereibetriebe unterstellt, sofern sie nicht als Reparationsbetriebe oder Demontageobjekte sowjetischer Besatzungshoheit unterstanden. Sie wurde am 24. Oktober 1945, also ein halbes Jahr vor der Zwangsvereinigung mit der SPD, durch ›Strohmänner‹ – gemäß dem noch geltenden Bürgerlichen Gesetzbuch – als GmbH gegründet. Als Gesellschafter fungierten drei maßgebliche Genossen der KPD: Karl Huth (Leiter der Druckereien und Verlage beim Zentralvorstand der KPD), Alfred Oelßner (Hauptkassierer der KPD) und Fritz Schälicke (Leiter des KPD-Verlages Neuer Weg).80 Die Eintragung ins Handelsregister erfolgte am 26. November 1945. Nach Vereinigung der KPD mit der SPD wurde die Zentrag dem ZK der SED unterstellt. Aus ihrer Abteilung V ging 1950 die VOB Zentrag hervor, die u. a. die Ländergesellschaften des Volksbuchhandels zusammenführte. Der Zentrag unterstanden auch die SED-eigene graphische Industrie sowie bis 1963 die Betriebe des Volksbuchhandels und Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG). Über die Monopolstellung der Zentrag im grafischen Sektor hatte die SED immer auch Einfluss auf Druckbetriebe anderer Blockparteien (LDPD, CDU, NDPD, DBD). Das änderte sich auch mit der Gründung der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur der DDR (HV) 1963 kaum, obwohl sie für eine formale Überwindung der »Dominanz des Parteieigentums im Buchhandel und Verlagswesen« steht.81 Noch »anderthalb Jahre nach Kriegsende war das Bild des künftig dominierenden Buchhandelsbetriebes kaum erkennbar, es gab nicht einmal ein Unternehmen, das den Namen ›Volksbuchhandel‹ trug.«82 Doch im Laufe der Jahre ging der Anteil des privaten
79 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 56. 80 Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 37. 81 Lokatis: Vom Amt für Literatur und Verlagswesen zur Hauptverwaltung Verlagswesen im Ministerium für Kultur, S. 21. 82 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 24.
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Buchhandels als Folge von Benachteiligungen, aus Konkurrenz- oder Altersgründen immer mehr zurück. Am Ende der DDR dominierte das Netz des Volksbuchhandels. Grundlage seiner Arbeit und Zusammenarbeit mit anderen Bereichen der Buchbranche war die »Ordnung für den Literaturvertrieb«, die am 1. Juli 1969 vom Ministerium für Kultur (MfK) erlassen worden war. Sie ersetzte die 1889 vom Börsenverein unter seinem Vorsteher Adolf Kröner angenommene »Buchhändlerische Verkehrsordnung«, die in der DDR niemals offiziell außer Kraft gesetzt, »wohl aber durch die Reorganisation des LKG 1952 und die damit verbundenen gravierenden Veränderungen in den Geschäftsbeziehungen ausgehebelt« worden war. In einer Neufassung vom 1. Juli 1976 mit einer Änderung vom 4. Mai 1981 blieb sie bis zum Ende der DDR gültig.83
Neue Strukturen: Branchenorganisation »Bis der Börsenverein seine Tätigkeit offiziell wieder aufnehmen konnte, verging einige Zeit. Zunächst standen die Vertreter der SMA einem vereinsmäßigen Zusammenschluss von Inhabern und Firmen eines bestimmten Produktions- und Handelszweiges zur Regelung der Verkehrs- und Verkaufsmethoden […] skeptisch gegenüber«, erinnert sich Heinrich Becker. »Dieser Verein erschien ihnen eher verdächtig als fördernswert.«84 Auch innerhalb der KPD galt der Börsenverein als »Interessenvertretung kapitalistischer Art«, die nicht mehr gebraucht werde. Aber es gab divergierende Meinungen: Unverzichtbar galt er einigen als Träger bewährter Einrichtungen für den buchhändlerischen Geschäftsverkehr (Bestellanstalt, Paketaustauschstelle), als Herausgeber des Börsenblattes und als Verlag der von der Deutschen Bücherei bearbeiteten Deutschen Nationalbibliographie. Politisch wichtig blieb er für andere in den ersten Jahren im Hinblick auf eine noch mögliche deutsche Einheit. Umstritten aber war, ob er noch organisatorische Aufgaben wahrnehmen könne, ob er zu einem Berufsverband umgebildet oder ganz aufgelöst werden sollte. Einigkeit bestand jedoch darin, ihn als Bedingung seines Fortbestehens für alle Mitarbeiter des Buchhandels zu öffnen. Diese Auffassung unterstützte auch die am 27. September 1945 in Leipzig gegründete Fachgruppe Buchhandelsangestellte im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), vor allem deren parteiloser Leiter, Paul Heilmann, seit 1925 Mitarbeiter in Geschäftsstelle und Verlag des Börsenvereins, sowie Karl Klaehr (KPD), langjähriger Mitarbeiter in der Redaktion des Börsenblatts. Für beide, wie auch für Zeigner und Becker, »bestand kein Zweifel daran, daß künftig jeder Buchhändler Mitglied des Börsenvereins werden könne und dass die leitenden Gremien völlig andere Aufgaben als bisher haben müssten«. Am 22. Januar 1946 berichtete Becker dem Vorstand über eine Aussprache mit dem Leiter des Amtes für Verlagswesen in der DZVV, Lothar von Balluseck, zum Stand des Antrags auf Wiederzulassung: »Eine Inhaber-Organisation werde von den Russen und den ihnen nahestehenden Parteien abgelehnt«.85
83 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 114–115. 84 Becker: Zwischen Wahn und Wahrheit, S. 367. 85 StA-L, Börsenverein II 2782, Bl. 36: Niederschrift über die Vorstandssitzung vom 22. Jan. 1946.
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Innerhalb des Börsenvereins waren mittlerweile Veränderungen erfolgt. Nach dem Ausscheiden von Hans Brockhaus, der den Amerikanern nach Wiesbaden gefolgt war, trat der Hallenser Verleger Walter Jäh, Inhaber des Carl Marhold Verlages, an dessen Stelle. Am 6. Juli 1945 wurde Jäh vom Amtsgericht Leipzig zum Abwesenheitspfleger für den bisherigen Vorsteher Wilhelm Baur, eine Woche später Theodor Volckmar-Frentzel für Baurs Stellvertreter Martin Wülfing bestellt. Am 27. November 1945, wurde Jäh vom Amtsgericht Leipzig gemäß § 29 BGB als Vorsteher und Volckmar-Frentzel als sein Stellvertreter eingesetzt, wogegen die ehemaligen Vorstandsmitglieder Baur und Wülfing im Genossenschaftsregister gelöscht wurden. Die letzte Sitzung des Aktionsausschusses am 31. Oktober 1945 war zugleich die erste des vorläufigen (weil nicht gewählten) Vorstands und eines neu gebildeten Hauptausschusses. Dem Vorstand gehörten an: Dr. Walter Jäh als Verleger (Vorsteher), Georg Petermann als Sortimentsbuchhändler (Schatzmeister), Hans Albert Förster für den Zwischenbuchhandel und Heinrich Becker für die Stadt Leipzig. Im Hauptausschuss vertraten den Buchhandel: Theodor Volckmar-Frentzel, Edgar Bielefeldt, Dr. Felix Meiner und Kurt Engewald; die politischen Parteien: Hasso Grabner (KPD, Schriftsteller, Direktor des Jugendamtes Leipzig), Heinz Mißlitz (KPD, Leiter der Franz-Mehring-Buchhandlung); die Gewerkschaften: Karl Klaehr (KPD) und Hans Kurze (SPD). Mit diesen Veränderungen war der Börsenverein Wünschen von DZVV, Stadtverwaltung und Gewerkschaft nachgekommen. Damit sollten Beschlussmehrheiten der ›Traditionalisten‹ verhindert und der schrittweise Umbau dieser Branchenorganisation ermöglicht werden. Dennoch blieb eine Lizenzierung durch die SMAD weiter aus. Albert Heß erwog sogar Alternativen für den Fall, dass der Börsenverein keine Zulassung erhielte. Auch Heinrich Becker, noch Leiter der Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen im städtischen Kulturamt, dachte über die Zukunft des Börsenvereins nach und gab am 17. April 1946 OBM Zeigner zu bedenken: Nun scheint es, als habe der Börsenverein in der bisherigen Form keine rechte Zukunft mehr. […] In der östlichen Zone liegt der Antrag auf Wiederingangsetzung des Börsenvereins seit Monaten bei den zuständigen Dienststellen […]. Um die Vorbedingungen für eine Genehmigung […] zu schaffen, ist eine Umformung der Satzung vorgenommen worden, welche den Charakter des Börsenvereins notwendigerweise so entscheidend verändert, dass nach etwaiger Aufhebung der Zonentrennung nicht damit zu rechnen ist, dass die liberalistisch gesonnenen Kreise des Buchhandels diese Organisation als ihren Börsenverein anerkennen werden. […] Wichtig für den Augenblick aber ist, dass wir die Leipziger Geschäftsstelle, welche unentbehrliche Arbeit für den Gesamtbuchhandel leistet, unverzüglich auf eine tragfähige Grundlage stellen. Diese Grundlage fehlt ihr zur Zeit, da mangels Betätigungsgenehmigung keine Beiträge erhoben werden können und mit Ende April die Angestellten zum letzten mal ihr übrigens erheblich reduziertes Gehalt bekommen können.
Becker schlug als Alternative »eine den heutigen Verhältnissen angepasste Organisation« unter der Bezeichnung »Deutsches Buchhändlerhaus« vor, die »die Bearbeitung aller den Gesamtbuchhandel angehenden Fragen« übernehmen müsste. Wenn die geplante Körperschaft des öffentlichen Rechts sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Verwaltungsangestellten, der Gewerkschaft und des Buchhandels zusammensetzt, so haben wir hier eine Organisation, mit der sich arbeiten läßt und die dank der traditionellen
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1 De r B uc h ha n de l i n d e r S B Z u n d Be r li n Bedeutung Leipzigs auf buchhändlerischem Gebiet bei kluger Lenkung und wirksamer Arbeit wahrscheinlich sehr rasch die tatsächliche Führung des Buchhandels für Leipzig bezw. die 86 Ostzone sichern könnte.
Doch OBM Zeigner zögerte, hoffte immer noch auf eine mögliche gesamtdeutsche Rolle des Börsenvereins und wandte sich am 17. Juni 1946 an Anton Ackermann, KPDVertreter im Zentralsekretariat der am 22. April 1946 aus dem Zusammenschluss von KPD und SPD hervorgegangenen SED: Ich […] habe meine Auffassung bestätigt gefunden, daß es ein ernster Fehler wäre, wenn wir jetzt nicht alles daran setzen würden, [den Börsenverein] so rasch wie möglich wieder in Tätigkeit zu bringen. Wenn man hier und da die Auffassung vertreten hört, daß es sich beim Börsenverein um eine Unternehmerorganisation handele, so geht das von völlig falschen Voraussetzungen aus. Ist doch in ausführlichen Verhandlungen zwischen Vertretern der öffentlichen Verwaltung, der Gewerkschaft und den Buchhändlern eine neue Satzung aufgestellt worden, welche erstens den Arbeitnehmern im Buchhandel die Mitgliedschaft ermöglicht und zweitens der Gewerkschaft und der öffentlichen Verwaltung vollen Einfluß auf die Tätigkeit des Börsenvereins sicherstellt. Damit ist der Börsenverein fest in der Hand der öffentlichen Instanzen. Wenn wir ein Instrument, das sich in langjähriger Benutzung als so brauchbar erwiesen hat, wie der Börsenverein, jetzt zerschlagen würden, wo wir den Buchhandel als einen der wichtigsten Faktoren für den Neuaufbau in die Hand bekommen müssen, so wäre das nach meiner Auffassung ein schwerer politischer Fehler. Den Nutzen eines solchen Fehlers würde ausschließlich die Westzone haben, […] wo man z. B. in Frankfurt am Main und Stuttgart nur darauf wartet, die buchhändlerische Funktion Leipzigs zu übernehmen. Aus diesem Grunde bitte ich dringend, sich so rasch wie möglich in Karlshorst dafür einzusetzen, daß der dort eingereichte Antrag genehmigt wird, dem Börsenverein die Wiederaufnahme 87 seiner Tätigkeit zu gestatten.
Wenig später erteilte die SMAD dem Börsenverein die Erlaubnis, »seine Tätigkeit als Organisation des Buchhandels rückwirkend zum 15. 6. 1946 wieder aufzunehmen«.88 Am selben Tag wurde auch die Lizenz Nr. 65 für das Börsenblatt ausgestellt. In einer von der DVV in Berlin vorgeplanten Feierstunde im Leipziger Neuen Rathaus am 5. August 1946 wurde die von Tulpanow unterzeichnete Lizenzurkunde an den Börsenverein der Deutschen Buchhändler übergeben.89 Walter Jäh, der gerichtlich eingesetzte Vorsteher, hat den Ausgang des Überlebenskampfes des Börsenvereins nicht mehr erlebt. Nach langer Krankheit, die seine Amtsführung behinderte, war er am 22. Mai 1946 verstorben. Am 3. Juni 1946 wurde Heinrich Becker vom Amtsgericht Leipzig zum amtierenden Vorsteher bestellt. Doch nicht er, sondern ein über die Zonengrenzen hinaus bekannter Verleger war als Gallionsfigur
86 StadtAL, StVuR 9157, Bl. 64 ff.: Schreiben Becker an Zeigner. 87 StadtAL, StVuR 9157, Bl. 7 ff.: Brief Erich Zeigners an Anton Ackermann vom 17. Juni 1946. 88 Reclam: Zur Genehmigung des Börsenvereins. In: Börsenblatt (Leipzig) 113 (1946) 1/2, S. 1–2. 89 StA-L, Börsenverein II 1473, Bl. 10–19: Ernst Rüdiger: Prokollarischer Bericht über die feierliche Lizenz-Übergabe am 5. August 1946.
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Abb. 3: »Leipzig muss wieder zur Stadt des Buches […] werden«. Wahlplakat der SED 1946. Quelle: Siegfried Müller.
erwünscht. Den zu finden, erwies sich schwieriger als erwartet. Deshalb wandte sich der Präsident der DZVV, Paul Wandel, am 8. Juli 1946 an OBM Zeigner: […] aus Ihrem, an den Genossen Ackermann gerichteten Schreiben vom 17. 6. 46 spricht Besorgnis über die Entwicklung der Angelegenheiten des Börsen-Vereins. Dieser ist inzwischen von der SMA lizenziert, aber es ergeben sich gewisse Schwierigkeiten bei der Besetzung der Stelle des Vorstehers. Die Bedeutung des Börsen-Vereins bedingt an erster Stelle eine Persönlichkeit, die über die Zonengrenzen hinaus bei dem deutschen und dem internationalen Buchhandel bedeutendes Ansehen genießt. Diese Erkenntnis förderte den Entschluß der SMA zur Lizensierung des Börsen-Vereins.
Da bislang von Heinrich Becker geführte Gespräche ergebnislos geblieben waren – die angesprochenen Verleger Steinkopff und Reclam blieben bei ihrer Ablehnung – sollte Zeigner persönlich versuchen, einen der Genannten umzustimmen. Nach einer Unterredung mit den Abgesandten Wandels, den Herren Bartels und Koven aus der Verlagsab-
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teilung der DZVV, die Zeigner dabei unterstützen sollten, notierte der auf der Rückseite jenes Briefes:90 Auf jeden Fall halten es beide Herren schon mit Rücksicht auf Berlin-Karlshorst für außerordentlich wichtig, einen der großen Verleger, die auch in der Westzone und im Ausland einen anerkannten Namen tragen, zu gewinnen; Berlin-Karlshorst würde höchstwahrscheinlich dem betreffenden Verleger auch jede Unterstützung hinsichtlich Lizensierung, hinsichtlich Papier91 zuteilung und auf dem Gebiete der Zensur Entgegenkommen gewähren.
Steinkopff blieb bei seiner Ablehnung, doch der 72-jährige Seniorchef des Hauses Reclam, Dr. Ernst Reclam, ließ sich umstimmen, »unter der Prämisse, dass er durch den Vorsitz nicht zu schwer belastet werde und dass ihm deshalb Herr Ministerialrat Becker als diejenige Person zur Seite gesetzt werde, die ihn entscheidend entlastet«.92 Als designierter Vorsteher bedankte sich Ernst Reclam mit einer von Heinrich Becker vorbereiteten Rede bei der Besatzungsmacht. Er wies auf den veränderten Charakter des Verbandes hin: Wenn in früheren Zeiten der Börsenverein vorwiegend eine Organisation der Inhaber und leitenden Angestellten des Buchhandels war, so ist darin jetzt eine Umwandlung eingetreten, die der Gesamtentwicklung unserer Lage entspricht. Die buchhändlerische Arbeitnehmerschaft wird künftig in die Leitung des Börsenvereins durch Vermittlung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes maßgebend mit eingeschaltet sein. […] Desgleichen werden die Vertre93 ter der amtlichen Stellen an der Arbeit des Börsenvereins teilnehmen.
Allerdings sollten die so vornehm umschriebenen Parteigremien an der Arbeit des Verbandes nicht nur teilnehmen, sie sollten sie fortan lenken!
Am Ende der Besatzungsjahre: Zwei Staaten in Deutschland Die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion verschärften sich. Von 1947 an teilten Truman-Doktrin und Marshall-Plan im Westen, ›Volksdemokratische Revolutionen‹, Auszug der Sowjets aus dem Alliierten Kontrollrat für Deutschland und die Blockade West-Berlins im Osten die Welt in zwei Lager. In Deutschland führte der Abgrenzungskurs 1948 über Marshall-Plan, Bizone und Währungsreform auf der westlichen, Planwirtschaft, Volkskongressbewegung und Deutsche Wirtschaftskommission auf der östlichen Seite zur doppelten Staatsgründung im Jahre 1949. Im Spannungsfeld des beginnenden Kalten Krieges setzten sich in der SBZ die ›Stalinisten‹ durch, die ›Sozialdemokratismus‹ bekämpften, Anton Ackermanns deutschen ›Sonderweg zum Sozialismus‹ revidierten, Gleichschaltung ›bürgerlicher‹ Parteien via Blockpolitik betrieben, Shdanovs Thesen vom sozialistischen Realismus zum Dogma in der Kulturpolitik erhoben und den Umbau der Verlags- und Buchhandelslandschaft forcierten. Hinter pro-
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StA-L, Börsenverein II 1473, Bl. 67. StadtAL, StVuR 9175, Bl. 74. StadtAL, StVuR 9157, Bl. 79: Ernst Reclam an Erich Zeigner. Reclam: Zur Genehmigung des Börsenvereins. In: Börsenblatt (Leipzig) 113 (1946) 12, S. 2.
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pagandistisch aufgebauschtem ›Kampf für Einheit und gerechten Frieden‹ verbarg sich politisches Kalkül im Poker zwischen den Großmächten. Bemühungen des Leipziger Börsenvereins um Erhalt des ›Konnexes‹ im deutschen Buchhandel wurden abgedrängt oder instrumentalisiert. SMAD-Verfügungen und Volksentscheid in Sachsen hatten für eine wachsende nicht-private Wirtschaft gesorgt. Der »gesellschaftliche Sektor« im Buchhandel, partei- oder organisationseigene sowie volkseigene Verlage und Volksbuchhandlungen, steigerte seinen Anteil am Gesamtumsatz dank bevorzugter Papier- bzw. Buchzuteilungen immer schneller. Die lizenzierten privaten Verlage sahen sich durch Vorzensur und knappe Papierzuteilungen bevormundet und benachteiligt. Das Wirtschaftsgebiet im Osten mit eigener Binnenwährung war zum Experimentierfeld zentraler Planwirtschaft nach politischen Vorgaben geworden. Die gegen Vorbehalte des noch amtierenden Vorstehers Walter Jäh durchgesetzte neue Satzung sowie die Zusammensetzung von Vorstand und neu eingefügtem Hauptausschuss wurden am 23. Oktober 1946 von der SMAD gebilligt. Im Buchhandel brachen in dieser Umbruchzeit latente Widersprüche auf. Heinrich Becker versuchte den Buchhandel seit 1947 auf Planwirtschaft einzustimmen. Seine harsche Polemik gegen »liberalistische Auffassungen« unter Verlegern löste jedoch eine Debatte aus, hinter der sich der Streit zweier entgegengesetzter Berufs- und Gesellschaftsauffassungen verbarg. Der Leipziger Kreisgruppenvorsitzende Ernst Wunderlich enthüllte auf einem Buchhändlertreffen im Leipziger Lokal »Felsenkeller« das politische Doppelspiel, dem sich der Börsenvereinsvorstand unterordnete: »Einheit fordern – Teilung praktizieren!« In der Verweigerung von Lizenzen für private Verlage sah er eine Politik, die sich gegen jede private Initiative richtet. Deshalb sei es ihm nicht länger möglich, »Wege gehen zu helfen, die sich von anderen Zonen entfernen und ein späteres Zusammenwachsen verhindern, mindestens erschweren«.94 Noch deutlicher wurde er auf einer Aussprache Leipziger Buchhändler in der Industrie- und Handelskammer am 6. Juli 1946: Man dürfe gegenüber dem Ruf nach politischer Einheit Deutschlands nicht die Notwendigkeit und Voraussetzungen seiner wirtschaftlichen Struktur übersehen. Gerade die Verschiedenheit der Auffassungen über Grundfragen wirtschaftlicher Art hätten nicht zum wenigsten zur Entfremdung zwischen Ost und West beigetragen. Jeder einzelne müsse hier klare Stellung beziehen und sich entscheiden, wo er hingehöre. Und insbesondere die gewählten Vertreter (des Börsenvereins, R. R.) müssten hier eine klare Position beziehen. Er für seinen Teil lehne es entschieden ab, einen Weg zu gehen, der zur Erstarrung und zur Öde führe und der mit der Freiheit des Geistes nicht zu vereinbaren sei. Die Auffassung über den Begriff Demokratie gingen weit auseinander, um so mehr müsse gefordert werden, daß eine Organisation wie der Börsenverein sich nicht einseitig einstelle, sondern die Interessen aller seiner Mitgliederbe95 triebe vertrete.
Wunderlichs Äußerungen, von demonstrativem Beifall begleitet, fassten SED-Funktionäre als gefährliche Provokation auf, woraus dem gesamten Buchhandel in der SBZ
94 StA-L, Börsenverein II 592, Bl. 53. 95 StA-L, Börsenverein II 1212, Bl. 142 ff.: Kreisgruppe Leipzig: Abschrift des Protokolls einer Besprechung Leipziger Buchhändler in der Industrie und Handelskammer am 6. Juli 1948.
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Schwierigkeiten erwüchsen. Sie verlangten: »Der Börsenverein muss alles unternehmen, um zu verhindern, dass sich Situationen, wie sie sich durch das Referat des Herrn Wunderlich […] ergeben haben, wiederholen«.96 Pflichteifrig erklärte Becker im Bericht an den Vorstand vom 1. Dezember 1948: »Der BV. muß alles unternehmen, um zu verhindern, daß Elemente, die nicht bereit […] sind, an dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbau mitzuwirken, Einflußmöglichkeiten erhalten«. Deshalb sei eine Umorganisation des Orts- und Kreisgebietes wie auch der Hauptversammlung unumgänglich.97 Wunderlich wurde seines Amtes enthoben, und der Vorstand der Kreisgruppe suspendiert. Am 9. Dezember 1948 erfolgte eine nie veröffentlichte Änderung98 der Börsenvereinssatzung in drei wesentlichen Punkten: 1. Die Festlegung, dass die Börsenvereinsmitglieder in fachliche und örtliche Gruppen zusammengefasst werden, wurde von einer Soll- in eine Kann-Bestimmung abgeändert, was de facto eine Ausschaltung der Orts- und Kreisgruppen bedeutete; 2. die Funktionen der Hauptversammlung wurden beschnitten; 3. der Hauptausschuss, der den Vorstand wählt, sollte sich künftig aus einem Drittel Behördenvertreter, einem Drittel FDGB-Vertreter und nur noch einem Drittel Vertreter des Buchhandels zusammensetzen; nur die durften von der Hauptversammlung gewählt werden, alle übrigen wurden bestimmt. Der Hauptversammlung, die ohnehin noch nie einberufen worden war, wurde zudem die Befugnis zur Auflösung des Börsenvereins entzogen, »um übereilte Beschlüsse von opponenten Gruppen zu verhindern«.99 Den Fall Wunderlich und die Suspendierung des Kreisgruppenvorstands umschrieb Vorsteher Heinrich Becker harmlos als »Veränderung des bisherigen Vorstandes der Leipziger Kreisgruppe und Umwandlung von dessen Funktionen«.100 Damit war Parteiräson endgültig anstelle von Vereinsräson getreten. Das waren deutliche Signale! Zu einem Zeitpunkt, da Ackermann seine Theorie vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus – Konzession an antisowjetische Stimmungen in Teilen der deutschen Bevölkerung101 – auf Weisung der SMAD zurücknehmen musste und die SED als »Partei neuen Typus« nach der 13.Tagung ihres Vorstandes am 15. und 16. September 1948 jede Zurückhaltung gegenüber »Klassenfeinden« hüben wie drüben aufgab, war der Weg Deutschlands aus der Besatzungszeit in die Zweistaatlichkeit deutlich abzusehen. Denn mit der auf amerikanische Entscheidung durchgeführten Währungsreform in den Westzonen und den Westsektoren von Groß-Berlin wurde nicht nur der bis dahin leidlich funktionierende Interzonen-Buchhandel unterbrochen, sondern damit war in der Tat der
96 StA-L, Börsenverein II 592, Bl. 342: Niederschrift der Vorstandssitzung vom 1. Dezember 1948. 97 StA-L, Börsenverein II 1481: Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes am 1. Dezember 1948. 98 Becker, Heinrich: Das deutsche Schrifttum braucht die Einheit. In: Börsenblatt (Leipzig) 115 (1948) 52, S. 483. Darin bemerkte Becker sybillinisch, dass die Funktion des Hauptausschusses, in dem die gewählten Vertreter des Buchhandels Sitz und Stimme haben, erweitert und der bisherige Vorstand der Leipziger Kreisgruppe verändert worden sei. 99 StA-L, Börsenverein II 1627: Protokoll der Sitzung des Vorstandes vom 9. Dezember 1948. 100 Becker: Das deutsche Schrifttum braucht die Einheit. 101 Schumann (Hrsg.): Anton Ackermann.
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eigentliche Nerv jeder Form staatlicher Einheit getroffen. Am 8. Mai 1949 wurde in den westlichen Besatzungszonen der erste deutsche Teilstaat, die Bundesrepublik Deutschland, gegründet. Als Gegenbewegung »wurde in der SBZ die Volkskongreßbewegung organisiert«,102 eine Verfassung angenommen und am 7. Oktober 1949 der Staat DDR proklamiert. Im Rahmen begrenzter Souveränität gingen zentrale Leitungsfunktionen auf deutsche Verwaltungen über, denen die SMAD schon vorher einen großen Teil ihrer Aufgaben überlassen hatte. Auch entfiel nun die lange geübte Rücksichtnahme auf die traditionell gesamtdeutsche Rolle des Börsenvereins. Noch Anfang 1949 hatte der Börsenvereinsvorstand in Leipzig in einem »offenen Brief an die westdeutschen Kollegen«103 die Einheit des deutschen Buchhandels beschworen. Doch der Buchhandel konnte in West wie in Ost nicht gegen den Strom der Politik schwimmen. Der geschäftsführende Vorsteher in Leipzig, Heinrich Becker, begrüßte die Gründung der DDR als »wichtigste Entscheidung in der deutschen Geschichte« nach 1945. Zugleich forderte er ein neues, volkserzieherisches Selbstverständnis des Buchhändlers und erläuterte die veränderte Rolle des Börsenvereins im neuen Staat: An die Stelle der Marktordnungsfunktion sei die kulturpolitische getreten, an die Stelle von Entscheidungen die Beratung einerseits zentraler staatlicher Leitungsorgane, andererseits seiner Mitglieder.104 Verlage und Buchhandel, zumal der Leipziger Börsenverein, wandelten sich immer mehr zu kulturpolitischen Instrumentarien in den Händen von Staat und Staatspartei SED. Der Vorstand dieses ehemals stolzen und unabhängigen Vereins erklärte, dass er künftig seine Tätigkeit nach den Weisungen des Ministeriums für Volkbildung der DDR, später des Ministeriums für Kultur, als deren fachliche Außenstelle durchführen werde. Damit ordnete sich der Verband folgsam ein in die sich entfaltende ideologische Erziehungsdiktatur im Staate DDR.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Deutsche Nationalbibliothek, Leipzig Verwaltungsarchiv Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (StA-L) Bestand 21765 Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig II Stadtarchiv Leipzig (StadtAL) Bestand Stadtverwaltung und Rat der Stadt Leipzig (StVuR)
102 Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung, S. 188. 103 Heinrich Becker: Offener Brief an die Buchhändler der westlichen Besatzungszonen. In: Börsenblatt (Leipzig) 116 (1949) 28, S. 229. 104 Becker, Heinrich: Der Buchhandel in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Börsenblatt (Leipzig) 116 (1949) 50, S. 413–415.
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Gedruckte Quellen BECKER, Heinrich: Zwischen Wahn und Wahrheit. Autobiographie. Berlin: Verlag der Nation 1972. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Leipzig), 112 (1946) – 117 (1950). LENIN, Waldimir I.: Parteiorganisation und Parteiliteratur. In: Lenin: Werke. Bd. 10. Berlin: Dietz 1967. LENIN, Wladimir I.: Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution. Berlin: Dietz 1974. LEONHARD, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956. TJULPANOW, Sergej I.: Deutschland nach dem Kriege (1945–1949). Berlin: Dietz 1986.
Forschungsliteratur BÄHRING, Helmut / RÜDDIGER, Kurt (Hrsg.): Lexikon Buchstadt Leipzig. Von den Anfängen bis 1990. Taucha: Tauchaer Verlag 1990. BILLE, Thomas: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1945–1948. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 2 (1992), S. 165–208. BÖRNER, Heinz / HÄRTNER, Bernd: Im Leseland. Die Geschichte des Volksbuchhandels. Berlin: Das Neue Berlin 2012. DAHN, Daniela: Wir sind der Staat! Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2017. FAUTH, Harry / HÜNICH, Hans: Zur Geschichte des Buchhandels in der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Abriß der Entwicklung des Buchhandels 1945–1970. In: Karl-Heinz Kalhöfer / Helmut Rötzsch (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. Bd. V. Leipzig: Fachbuchverlag 1972, S. 73–170. FUKUYAMA, Francis: Das Ende der Geschichte. München: Kindler 1992. HUTH, Detlef / KIRSTE, Peter / OEHME, Ursula: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit (1945– 1961). In: Klaus Sohl (Hrsg.): Neues Leipzigisches Geschicht-Buch. Leipzig: Fachbuchverlag 1990. JOHN, Antonius: Ahlener Programm und Bonner Republik, Vor 50 Jahren: Ideenwettlauf und Rivalitäten. Bonn: Bouvier-Verlag 1997. JÜTTE, Bettina: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949). Berlin: de Gruyter 2010 (= Archiv für Geschichte des Buchwesens – Studien 8). KLEßMANN, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945 bis 1955. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 1991. LEHMANN, Wolfgang: SWA-Verlag. In: Herbert Greiner-Mai (Hrsg.): Kleines Wörterbuch der Weltliteratur. Leipzig: Bibliographisches Institut 1983, S. 274–275. LÖFFLER, Dietrich: Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick. Berlin: Ch. Links 2011. LOKATIS, Siegfried: Mechanismen der Anpassung und Kontrolle in einer differenzierten Verlagslandschaft. In: Simone Barck, Simone / Martina Langermann / Siegfried Lokatis (Hrsg.): Jedes Buch ein Abenteuer. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin: Akademie Verlag 1997. LOKATIS, Siegfried: Vom Amt für Literatur und Verlagswesen zur Hauptverwaltung Verlagswesen im Ministerium für Kultur. In: Simone Barck / Martina Langermann / Siegfried Lokatis (Hrsg.): Jedes Buch ein Abenteuer. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 19–60. PETRY, Jürgen: Das Monopol. Die Geschichte des Leipziger Kommissions- und Großbuchhandels. Leipzig: Faber & Faber 2001. RIESE, Reimar: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1945–1990. Stationen seiner Entwicklung. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 10 (2000), S. 175–248.
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Eva Schwarz 1.5
Der Wiederaufbau des Berliner Buchhandels
Die Entwicklung des Buchhandels in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg ist in vielerlei Hinsicht als außergewöhnlich zu bezeichnen. In der ehemaligen deutschen Reichshauptstadt bildeten sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs komprimiert alle Entwicklungen und die damit einhergehenden Probleme und Konflikte des Landes, aber auch der alliierten Besatzungsmächte untereinander, ab. Der Historiker Peter Bender bezeichnete Berlin deshalb als Hohlspiegel der deutschen Nachkriegsgeschichte.1 Die besondere politische und wirtschaftliche Situation Berlins resultierte grundlegend aus der Aufteilung der Stadt in vier Sektoren. Befand sich ganz Berlin nach Kriegsende zunächst unter Kontrolle sowjetischer Truppen, bildete sich im Juli 1945 die Alliierte Kommandantur, und die Stadt wurde in vier Sektoren gegliedert, die jeweils von einer Besatzungsmacht verwaltet wurden. Zwar sollten in der Theorie Entscheidungen über die Neuregelung der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, und damit auch des Buchhandels, im Alliierten Kontrollrat, der obersten interzonalen Kontrollinstanz, gemeinsam getroffen werden, in der Praxis aber wurden die Beschlüsse von den Besatzungsmächten oft sehr unterschiedlich umgesetzt. Ein weiterer Aspekt, der den Neuaufbau der Berliner Wirtschaft erheblich beeinflusste, war die Tatsache, dass die Stadt geografisch gänzlich von der sowjetischen Besatzungszone umgeben war. Neben der komplizierten politischen Lage waren auch die Folgen des Zweiten Weltkriegs selbst in Berlin deutlich spürbarer als in den meisten anderen Gegenden Deutschlands. Die Reichshauptstadt erlitt durch die alliierten Bombardements und die Kämpfe bei Kriegsende besonders große Schäden. Insbesondere die Zerstörung der Gebäude und der Infrastruktur behinderten den Wiederaufbau der Wirtschaft. Außerdem war das Ausmaß der Demontage in Berlin nach Kriegsende höher als in den meisten anderen Teilen Deutschlands. Unter diesen schwierigen Voraussetzungen vollzogen sich ganz eigene Entwicklungen, die in dieser Form nur in Berlin stattfanden. Auch der Buchhandel in der Stadt entwickelte sich, zwar nicht völlig losgelöst, aber doch inselgleich abgegrenzt vom Buchschaffen in den »Festlandzonen«.
Das Verlagswesen In allen Besatzungszonen und den Sektoren Berlins mussten Verlage nach dem Krieg neu lizenziert werden. Für die Durchsetzung dieser Regelung war in Berlin neben den alliierten Besatzungsmächten der bereits im Mai 1945 neugegründete Berliner Magistrat verantwortlich. Die Zuständigkeit für Fragen des gesamten Buchhandels lag bei der Abteilung für Volksbildung. Bis zum Frühjahr 1946 formte sich aus den zunächst einzeln für (verbreitenden) Buchhandel, Verlagswesen und Leihbüchereiwesen zuständigen Referaten innerhalb der Abteilung ein Referat Verlage, Buchhandel, Leihbüchereien.2 Im
1 Vgl. Bender: Berlin als Brücke zwischen Ost und West, S. 475. 2 Zur Entwicklung des Referats siehe Jütte: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone, S. 104–109. https://doi.org/10.1515/9783110471229-006
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sowjetischen Sektor wurden die ersten Lizenzen an die Verlage Neuer Weg (30. Juli 1945), Aufbau (18. August 1945) und Volk und Wissen (12. Oktober 1945) vergeben.3 Im britischen Sektor Berlins erhielten die ersten Verlage im September beziehungsweise Oktober 1945 eine Lizenz. Zu den ersten lizenzierten Verlagen zählten hier der Deutsche Kunstverlag, die Verlagsbuchhandlung F. A. Herbig (beide 26. September 1945) und der Rechtsnachfolger des S. Fischer Verlags unter dem Namen Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer (16. Oktober 1945). Etwa zur selben Zeit erteilte auch die amerikanische Besatzungsmacht den Verlagen Gebrüder Mann (16. Oktober 1945), Karl Heinz Henssel (12. Dezember 1945) und Lothar Blanvalet (5. Januar 1946) die Genehmigung, die Verlagsarbeit aufzunehmen. Im französischen Sektor wurden die ersten Berliner Verlage mit etwas Abstand nach dem Jahreswechsel 1945/1946 genehmigt. Dazu gehörten der Wedding-Verlag (19. Januar 1946), der Verlag Hermann Luchterhand (18. Mai 1946) und der A-B-C-Fachbuchverlag (1. Juni 1946).4 Bis zum Ende des Jahres 1946 wurden von den zuständigen Behörden 126 Verlagslizenzen für Unternehmen und Vereinigungen mit Standort in Berlin erteilt.5 38 Lizenzen entfielen auf den sowjetischen, 40 Lizenzen auf den britischen, 34 auf den amerikanischen und 14 auf den französischen Sektor.6 Noch vor dem Zweiten Weltkrieg verzeichnet das Adreßbuch des Berliner Buchhandels mit Stand vom 1. Januar 1937 764 Verlage, davon 664 reine Verlagsunternehmen.7 Mit Blick auf diese Zahl wird deutlich, dass der Wiederaufbau des Verlagswesens geradezu einem zaghaften Neuanfang glich. Einige der neu lizenzierten Verlage waren Traditionshäuser, die in der Stadt bereits vor 1939 verlegerisch tätig waren wie die Verlage Duncker & Humblot, Julius Springer und Axel Juncker. Andere Unternehmen waren Neugründungen wie der Aufbau-Verlag und der Verlag Neuer Weg (später Dietz Verlag). Vor allem im Ostteil der Stadt waren die ersten Verlage mit einer politischen Motivation gegründet und auch zugelassen worden. Sie sollten politische und bildende Schriften verlegen. Welcher Ort war dafür besser geeignet als Berlin, wo sich zeitgleich auch die politischen Kontrollinstanzen strukturierten? Ein zentrales Problem des Berliner Verlagsbuchhandels war der akute Papiermangel. Da sich in der Stadt nie eine nennenswerte Papierindustrie angesiedelt hatte, musste Papier seit jeher herangeschafft werden, was schon alleine wegen der schlechten Infrastruktur nach Kriegsende ein schwieriger Import war. Die Papierfrage rückte erst Ende des Jahres 1945 in den Fokus, als die ersten Verlage lizenziert waren und mit der Neuproduktion begannen. Die Papierfrage war kein spezielles Berliner Problem, sondern erschwerte die ganze deutsche Nachkriegsproduktion. Die bereits zu Kriegszeiten eingeführte Papierbewirtschaftung musste auch nach dem Kriegsende zunächst weiter auf-
3 Vgl. Links: Das Schicksal der DDR-Verlage. 4 Vgl. Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels. 5 In der SBZ wurden nicht nur Unternehmen Lizenzen erteilt, sondern auch der Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verleger und der Arbeitsgemeinschaft der Fachbuch- und Fachzeitschriften-Verlage, beide mit Sitz in Berlin, letztere außerdem mit Sitz in Leipzig. Unter deren Lizenzen konnten die ihnen angeschlossenen Verlage publizieren (Jütte: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone, S. 213–238). 6 Vgl. für den sowjetischen Sektor Jütte, S. 272–294, und für die westlichen Sektoren Umlauff, Sp. 1683–1720. 7 Adreßbuch des Berliner Buchhandels 1939, S. 200.
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rechterhalten werden. So wurden, angepasst an die Produktionskapazitäten der Zonen, von den Besatzungsmächten Versorgungspläne erarbeitet. Diese sahen vorrangig die eigene Bewirtschaftung mit dem wichtigen Werkstoff vor. Die Besatzungssektoren Berlins, nicht in der Lage sich selbst zu versorgen, waren damit auf die knappe Kontingentierung ihrer jeweiligen Besatzer angewiesen.
Der vertreibende Buchhandel Im vertreibenden Buchhandel benötigten die Unternehmen eine Gewerbegenehmigung. Diese wurde den Firmen des vertreibenden Buchhandels durch die Abt. Handel und Handwerk, später Abt. Wirtschaft, in den Bezirken bzw. beim Magistrat erteilt. Vor der Ausstellung musste das Referat Verlage/Buchhandel/Leihbüchereien um Stellungnahme ersucht werden. Nach der »Anordnung zur Bereinigung der Handels- und Handwerksbetriebe« vom 17. Mai 1945 war eine Zulassung der Betriebe abhängig von der politischen Zuverlässigkeit der Inhaber und Angestellten, deren fachlicher Eignung und der Bedürfnisfrage.8 Das Adreßbuch des Berliner Buchhandels verzeichnet für das Jahr 1937 472 Sortimenter, darunter 171 reine Sortimentsbuchhandlungen.9 Einen ersten verlässlichen Anhaltspunkt für die quantitativen Entwicklungen der Nachkriegszeit liefert die Anzahl der Buchhändler, die Ende 1946 von den Sektorenverbänden in die Berliner Verleger- und Buchhändler-Vereinigung (BVB) übernommen wurden. 249 Buchhändler wurden Mitglied in der ersten sektorenübergreifenden Buchhandelsvereinigung der Stadt.10 So sind auch hier, wie bereits im Verlagsbuchhandel, die ersten Nachkriegsjahre als Jahre des langsamen Wiederaufbaus buchhändlerischer Betriebe in der Stadt zu sehen. Trotz des detaillierten Genehmigungsverfahrens finden sich immer wieder Klagen von Berliner Buchhändlern und den überwachenden städtischen Stellen über den wachsenden »unseriösen« Buchhandel in der Stadt. Zum einen wuchs vor allem 1945 und 1946 der Handel mit antiquarischen Büchern. Dabei sollen auch verschiedentlich wertvolle, in den Nachkriegswirren oft zu Unrecht als herrenlos angesehene Bücher, aber auch Frühdrucke in Buchhandlungen und Antiquariaten in den Verkauf gelangt sein.11 Ebenso nahm die Anzahl der Leihbüchereien in Berlin stark zu. Prägend für die Zeit waren auch Buchhandlungen mit angeschlossenen Leihbüchereien, die mehr Bücher verliehen als verkauften. Diese Entwicklungen resultierten folgerichtig aus der Tatsache, dass die Verlagsproduktion weit hinter dem Bedarf der Bevölkerung an Büchern zurückblieb. Ein weiteres Problem, dass sich vor allem in frühen Protokollen der Sitzungen der Buchhändler- und Verlegervereinigungen der Sektoren wiederfindet, ist die zunehmende
8 Bereinigung der Handels- und Handwerksbetriebe sowie Schroll: Ost-West-Aktionen im Berlin der 1950er Jahre, S. 14. Insgesamt gab es in den ersten Jahren viele Parallelen zwischen Buchund Kunsthandel, vor allem was die Probleme im Bereich des interzonalen Handels betraf. 9 Adreßbuch des Berliner Buchhandels 1939, S. 200. 10 Umlauff, Sp. 194. 11 LAB: Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Büchereiwesen an das Generalreferat der Abteilung für Volksbildung: Mitteilung betr. Sicherstellung von unrechtmässig erworbenen Büchern.
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Abb. 1: Im Juni 1945 eröffnete Irma Tamm in der Köpernicker Bahnhofstraße die erste Nachkriegsbuchhandlung in Ost-Berlin, die zugleich als Antiquariat fungierte. Foto: Archiv Joachim Fischer.
Unterwanderung des Buchhandels durch fach- und sachunkundige Angestellte.12 Hier wird erstmals der Unterschied zwischen Theorie und Praxis sichtbar: Obwohl das Genehmigungsverfahren so strikt wirkt, scheint es in der Praxis nicht immer eins zu eins umgesetzt worden zu sein. Überhaupt änderte sich die Struktur des Berliner Buchhandels im Vergleich zur Vorkriegszeit auffallend. Die in den nach und nach entstehenden buchhändlerischen Sektorenvereinigungen13 organisierten Buchhändler beklagten in den ersten Nachkriegsjahren ein Überhandnehmen des Grossobuchhandels in der Stadt. 1947 gab es mehr als hundert Grossobuchhandlungen,14 während 1937 nur elf Kommissionsund Grossobuchhandlungen tätig waren, wie das Adreßbuch des Berliner Buchhandels ausweist, allerdings nicht weiter untergliedert.15 Diese Zahlen machen deutlich, dass der Zwischenbuchhandel vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin nicht nennenswert ausgeprägt war.16 Das änderte sich nach 1945 durch die Vierteilung der Stadt und die Insellage.
12 Vgl. zusammenfassend Umlauff, Sp. 196. 13 Zur Entstehung der buchhändlerischen Vereinigungen in den einzelnen Sektoren siehe Bluhm: Keine Kohlen fürs Büro und Kapitel 1.6 Die Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung (Detlef Bluhm) in diesem Band. 14 Umlauff, Sp. 196. 15 Adreßbuch des Berliner Buchhandels 1939, S. 200. 16 Vgl. insbesondere zur Entwicklung des Kommissionsbuchhandels nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin Keiderling, Der Zwischenbuchhandel, S. 294–296.
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Vor der Aufteilung Deutschlands wurde Berlin aufgrund der Nähe zu Leipzig von den dort ansässigen Kommissionären versorgt. Erst die Trennung machte es nötig, Berlin über Zwischenbuchhandelsunternehmen in der eigenen Stadt zu versorgen. Die Formen des Zwischenbuchhandels, insbesondere der Kommissions- und der Grossobuchhandel, lassen sich in dieser Phase für die Berliner Entwicklungen nicht immer trennscharf gegeneinander abgrenzen, auch weil einige Unternehmen diese Geschäftszweige unter einem Dach vereinten und die Statistiken dieser Zeit beide in einer Kategorie zusammenfassten. Die Unternehmensbezeichnung »Kommissionsbuchhandlung« wurde in Berlin in dieser Zeit vor allem von Unternehmen verwendet, die Verleger- und weniger Sortimenterkommissionäre waren. Des Weiteren bauten Verlage in der Stadt eigene Auslieferungen auf. Insgesamt scheint es folgerichtig, zu vermuten, dass sich der notwendigerweise erstarkende Zwischenbuchhandel der Stadt vor allem aus den oben genannten Verlegerkommissionären, den Auslieferungslagern der Verlage und dem traditionell in der Stadt verstärkt vertretenen Grossobuchhandel zusammensetzte.17 Viele der neuen Zwischenbuchhandelsunternehmen spezialisierten sich auf den interzonalen Handel mit Büchern. Sie sorgten dafür, dass die Berliner Bevölkerung über die Produktion der Verlage der Stadt beziehungsweise der sowjetischen Zone hinaus auch mit Lesestoff aus den anderen Besatzungszonen versorgt wurde. Durch die oft umständliche Beschaffung trugen sie maßgeblich zur Teilhabe der »Insel Berlin« am kulturellen und intellektuellen Leben des Landes bei. Während die Versorgung des sowjetischen Sektors Berlins mit Büchern aus der sowjetischen Zone kein Problem darstellte, waren die Versorgung der westlichen Sektoren Berlins mit Büchern aus der sowjetischen Zone sowie die Einfuhr von Büchern aus den westlichen Zonen in die westlichen Sektoren Berlins zu einigen Zeiten zentraler Gegenstand des buchhändlerischen Diskurses und ein höchst sensibles Thema.
Das Problem des Interzonenhandels und die besondere Stellung Berlins »Über all dem, was auf dem Gebiet des Interzonenhandels mit Verlagserzeugnissen damals praktiziert wurde, liegt ein schwer zu durchdringendes Halbdunkel; als sicher ist nur anzunehmen, daß mancherlei Gelegenheiten, im trüben zu fischen, bestanden und auch weidlich ausgenutzt wurden.«18 Wie bereits Ernst Umlauff in seinem Grundlagenwerk zum Wiederaufbau des Buchhandels nach dem Zweiten Weltkrieg darlegt, ist eine lückenlose Darstellung der unsteten rechtlichen Regelungen zum Interzonenhandel der ersten Nachkriegsjahre und ihrer praktischen Umsetzung nicht möglich. Dennoch wird nach dem Studium des spärlichen Quellenmaterials deutlich, dass Berlin in der Frage des interzonalen bzw. intersektoralen Buchhandels eine Sonderstellung einnahm. Sicher ist, dass es bis mindestens Ende 1945 keinen regulären legalen Handel mit Druckerzeugnissen über Zonengrenzen hinweg gab.19 Dabei stellte auch Berlin keine
17 Die Quellenlage zum Zwischenbuchhandel Berlins in dieser Zeit ist mangelhaft. Auch aufgrund dessen fehlen bisher weitergehende Forschungsarbeiten zu diesem Thema. Vgl. hierzu jedoch die knappe Ausführung von Umlauff, Sp. 683–685. 18 Umlauff, Sp. 1334. 19 Vgl. Seemann: Parallelverlage im geteilten Deutschland, S. 110; Umlauff, Sp. 1194.
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Ausnahme dar. Zum einen fehlte es an einer ausreichenden Menge an Büchern zum Handeln. Zum anderen war der Handel über Zonengrenzen hinweg unmittelbar nach Kriegsende verboten. »Da die Wirtschaft in allen Zonen aber auf eine funktionierende Zusammenarbeit angewiesen war, ließen die Besatzungsmächte den Interzonenhandel unter ihrer Aufsicht bald wieder zu.«20 Dabei waren Bücher als Handelswaren nicht nur den regulierenden Maßnahmen für den Handel, sondern auch den Regelungen der Kommunikationskontrolle unterworfen. Grundsätzlich galten alle von den alliierten Besatzungsmächten erlassenen Regelungen auch für die jeweiligen Sektoren Berlins. Oftmals sahen sie allerdings Ausnahmen für die Viersektorenstadt vor. So einigten sich die Westmächte am 16. September 1946 auf einen freien Austausch von Büchern, Zeitschriften und anderen Publikationen zwischen den westlichen Zonen, der Berlin jedoch ausdrücklich ausschloss, »weil dort allseitige Austauschabkommen [bereits – Anm. d. Verf.] in Kraft sind.«21 Das erwähnte Berliner »Austauschabkommen« scheint nicht nur für einen Handel zwischen den Sektoren der Stadt gegolten zu haben, sondern auch für die Lieferung von und nach Berlin. Dabei dürften zunächst weniger die rechtlichen Restriktionen als vielmehr die logistischen Möglichkeiten des Versands problematisch gewesen sein. Straßen und Bahnstrecken waren durch den Krieg zu großen Teilen zerstört. In der sowjetischen Zone, durch die auch die Transporte aus den westlichen Zonen in die westlichen Sektoren Berlins mussten, erschwerte außerdem die Demontage von Gleisanlagen den Warenverkehr. Während vor dem Krieg die Post die erste Wahl für den Versand gewesen war, war dies in den frühen Nachkriegsjahren nicht der Fall. Zwar hatte sich der Postverkehr bis Mitte 1946 schon wieder so weit entwickelt, dass ein Versand von Briefsendungen sowie von Presseerzeugnissen unter Kreuzband 22 bis zu 500 g über die Zonengrenzen hinweg möglich war,23 aber der Postweg blieb für den gewerbsmäßigen Versand von Büchern aufgrund der hohen Kosten zunächst unattraktiv. Eine Erleichterung brachte, zumindest für die Lieferung von den westlichen Zonen nach Berlin, die Zulassung von 15 kg schweren Paketen im August 1946. Das Börsenblatt für die westlichen Besatzungszonen erläuterte in der Ausgabe vom 29. August 1946 das Verfahren: 1. Wir haben die offizielle Mitteilung erhalten, daß von licensierten Verlegern herausgegebene Veröffentlichungen in 15-kg-Paketen über Frankfurt nach Berlin versandt werden können. 2. Registrierte Kommissionäre müssen zuerst die Genehmigung der Reichspost einholen und dann die abzusendenden Pakete mit »DUS 23 für den Zug Frankfurt-Berlin (Abfahrt 16,00)« beschriften. 3. Alle Pakete müssen die nachfolgende Anschrift tragen: »Deutscher Verlag, 24 Berlin-Tempelhof, Berliner Str. 105/106«.
Dennoch scheint selbst die Lieferung aus den westlichen Besatzungszonen in die westlichen Sektoren Berlins problematisch gewesen zu sein. Im Börsenblatt finden sich im
20 Seemann, S. 109. 21 Freier Dreizonenaustausch. 22 So wurde z. B. das Leipziger Börsenblatt in den ersten Jahren unter Kreuzband nach Berlin und in die westlichen Besatzungszonen versandt. 23 Versendungsmöglichkeiten mit Post – Bahn – Spediteur sowie Versandvorschriften (a). 24 Versand nach Berlin.
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Sommer 1946 gehäuft Anzeigen von Berliner (Zwischen-)Buchhändlern, die westdeutsche Verleger um Zuteilung von Neuveröffentlichungen bitten und für die Zustellung eine Ausweichadresse in den westlichen Zonen anbieten. So schreibt etwa der Buchvertrieb Elwert, Meurer & Co. aus Berlin-Schöneberg in einer Anzeige: Wir bitten alle Verlage der 3 Westzonen uns über Neuerscheinungen regelmäßig zu unterrichten. Während des Andauern[s] der Schwierigkeiten des Interzonenverkehrs nennen wir allen 25 Verlagen auf Wunsch, f. Zuteilungen an uns, eine Ausweichadresse in Hessen.
Zum interzonalen Postversand von Berlin in die »Festlandzonen« findet sich für 1947 ein Hinweis im Leipziger Börsenblatt: »Ab Berlin können jetzt 7-kg-Pakete im Interzonenverkehr aufgegeben werden.«26 Deutlich ist, dass die Regelungen zum interzonalen Postversand je nach Zone sehr unterschiedlich waren. Außerdem änderten sich die Vorschriften rasch. Dies scheint vor allem mit den regionalen und zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandenen Transportkapazitäten der Post zusammenzuhängen. Berlin wurde in den Postvorschriften und auch in den gesetzlichen Regelungen zum Interzonenhandel der westlichen Besatzungsmächte nicht wie die jeweilige Zone, sondern im Gegenteil wie die sowjetische Zone behandelt.27 Das war für die Lieferung aus den westlichen Besatzungszonen problematisch, brachte aber Vorteile bei der Einfuhr von Büchern aus der sowjetischen Besatzungszone. So informiert der Vorstand der Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor Berlins seine Mitglieder aus dem Sortiment, dass in Berlin ohne Einschränkung alle Bücher und Zeitschriften vertrieben werden [dürfen], die in Berlin oder in der Sowjetischen Besatzungszone erschienen sind, soweit sie nicht gegen die allgemeinen Bestimmungen der amerikanischen Kontrollbehörden verstoßen. Dagegen ist es nicht statthaft, Zeitschriften und Bücher, die unter einer Lizenz der sowjetischen Kontrollbehörde oder überhaupt in der sowjetischen Besatzungszone [also auch im sowjetischen Sektor Berlins – Anm. d. Verf.] erschienen sind, in die amerikanische Besatzungszone, also Bayern, Gross-Hessen, Württemberg (Baden) zu versenden und zwar gleichgültig, ob die 28 Versendung an Buchhandlungen oder an Einzelkunden erfolgt.
25 Anzeige Buchvertrieb Elwert, Meurer & Co. 26 Paketversand im Interzonenverkehr. 27 Formaljuristisch gehörten die Sektoren Berlins auch nicht zu den jeweiligen Besatzungszonen Deutschlands. Wie mit dem Londoner Protokoll vom 12. September 1944 und dessen Ergänzung um ein zusätzliches Abkommen am 1. November 1944 zwischen den Alliierten vereinbart, sollte Berlin von den Besatzungsmächten gemeinsam verwaltet werden. Dafür wurde die Alliierte Kommandantur gegründet. Dennoch trafen die Besatzer oft unabhängig voneinander wichtige Entscheidungen für ihre Berliner Sektoren (die West-Mächte und die sowjetischen Besatzer konnten sich oft nicht auf eine gemeinsame Lösung für Groß-Berlin einigen). Im Buchhandel, wie auch in vielen anderen Bereichen, spiegelte sich grundsätzlich die Tendenz wider, Regelungen im Berliner Sektor so zu gestalten, wie in der jeweiligen Zone der Besatzungsmacht. Daher sind die Regelungen der westlichen Besatzungsmächte zum Interzonenhandel hervorzuheben, welche die westlichen Berliner Sektoren wie die SBZ behandelten. 28 BAB, Vorstand der Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor Berlins: Brief an die Sortimenter-Mitglieder (Nr. S 1). 30. 9. 1946.
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Auch beim Studium des Anzeigenteils des Börsenblatts für die westlichen Besatzungszonen29 wird deutlich, dass sich die Lieferung aus den westlichen Zonen nach Berlin als Problem erwies, das nach einer neuen Lösung verlangte. Es finden sich vor allem in den Jahren 1946 bis 1948 viele Anzeigen von Zwischenbuchhandelsunternehmen in den westlichen Zonen, aber vor allem auch in den westlichen Sektoren Berlins, die sich auf den Vertrieb von Büchern in der sowjetischen Zone und Berlin spezialisiert hatten. So entwickelte sich in Berlin ein ausgeprägter Zwischenbuchhandel, der vor allem auch für die Befriedigung der Bedürfnisse der eigenen Stadt durch die Einfuhr von Büchern aus den »Festlandzonen« zuständig war. Dagegen scheint sich der umgekehrte Weg von Lieferungen Berliner Verlage an den Buchhandel der »Festlandzonen«, zumindest von West-Berlin nach den westlichen Besatzungszonen, von 1946 bis zur Währungsreform im Juni 1948 eingespielt zu haben, denn hierüber finden sich kaum Klagen. Da die Post für den gewerbsmäßigen Versand von Büchern in dieser Zeit zu teuer war, schalteten sich bald Spediteure ein, die den Frachtverkehr übernahmen. Bereits im Sommer 1946 nahm ein bedarfsweise wöchentlich verkehrender Bücherwagenverkehr zwischen Leipzig und Berlin den Betrieb auf.30 Damit war Berlin eine der ersten Städte, die am organisierten überregionalen Handel mit Druckerzeugnissen teilnahm. Hierbei wie auch im interzonalen Handel war die Reichsbahn das Transportmittel. So scheint ein Verkehr auch zwischen den westlichen Zonen und der sowjetischen Besatzungszone und Berlin, mit teils komplizierten Genehmigungsverfahren, möglich gewesen zu sein.31 Zum Handel von den westlichen Sektoren Berlins in die westlichen Besatzungszonen informierte die Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor Berlins am 13. August 1946 ihre Mitglieder, dass der Transport durch die Bahn und über einen Berliner Spediteur erfolgt.32 Die Kosten wurden, wie dieses Schreiben und auch eine Information aus dem Leipziger Börsenblatt zeigen, jeweils bis zur Zonengrenze von Absender und Empfänger bezahlt.33 Das Verfahren war kompliziert und oft von der Willkür einzelner Befehlshaber der Besatzungsmächte geprägt. Jedoch wurde es in Kauf genommen, da der Bedarf an Büchern in der Bevölkerung enorm war. Umgekehrt war der logistische und rechtliche Aufwand beim Verkauf von Verlagen aus den westlichen »Festlandzonen« nach Berlin genauso groß. Hier sahen die Verleger angesichts der Mangelwirtschaft oft nicht die Notwendigkeit, die bürokratischen Hürden zu überwinden. Sie konnten viel an Buchhändler in den westlichen »Festlandzonen« verkaufen. Daher überrascht es nicht, dass sich verschiedene westdeutsche Verleger weigerten, nach Berlin zu liefern, auch in die
29 Von der Wiederaufnahme des redaktionellen Betriebs 1945 bis zum Herbst 1946 wurde das Börsenblatt der westlichen Besatzungszonen noch in Wiesbaden erstellt und gedruckt. Danach folgte der Umzug nach Frankfurt am Main. 30 Vgl. Versendungsmöglichkeiten mit Post – Bahn – Spediteur, Versandvorschriften (a); Sarkowski: Die Anfänge des deutsch-deutschen Buchhandelsverkehrs, S. 92. 31 Vgl. für das Genehmigungsverfahren der sowjetischen Besatzungsmacht: Versendungsmöglichkeiten mit Post – Bahn – Spediteur sowie Versandvorschriften (a und b). 32 Vgl. BAB, Vorstand der Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor Berlins: Brief an die Verleger-Mitglieder (Nr. V. 1.), 13. 8. 1946. 33 Vgl. dazu auch Versendungsmöglichkeiten mit Post – Bahn – Spediteur sowie Versandvorschriften (a).
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westlichen Sektoren. Dies führte zu Diskussionen in den Sektorenvereinigungen. In einem Protokoll über eine Sitzung der Sortimenter im amerikanischen Sektor Berlins am 1. November 1946 wird festgehalten: Betr. der Weigerung verschiedener Verleger in den westlichen Zonen nach Berlin zu liefern, bat Herr Paeschke [Vorsitzender der amerikanischen Sektorenvereinigung – Anm. d. Verf.], diesbezügliche Schreiben an die Vereinigung zu geben, damit sie geschlossen weitergereicht werden können; denn Berlin wäre nicht russische Zone, sondern nähme eine Sonderstellung innerhalb der russischen Zone ein. […] Unsere Berliner Verleger hätten sich bemüht, in den Westen zu liefern, um die Verbindung mit ganz Deutschland zu halten. Sie verlangten nun 34 aber, dass auch unsere Sortimenter nunmehr Bücher aus dem Westen herein-bekämen.
Insgesamt wurde mehrfach von Buchhändlern und Verlegern der westlichen Sektoren Berlins beklagt, dass sich der Berliner Buchhandel bemühe, den Handel mit den westlichen Zonen aufrechtzuerhalten, die Verlage in den westlichen Zonen jedoch nicht in gleichem Maße den Berliner Buchhandel mit ihren Neuerscheinungen bedächten. So wird in den Mitteilungen der BVB beanstandet, »Berlin habe in der Zeit vom 1. Mai 1946 bis jetzt [August 1947 – Anm. d. Verf.] für 3,5 Millionen Bücher und Zeitschriften nach dem Westen geschickt, aber aus dem Westen nur für 58.000,– RM Bücher und für 111.000,– RM Zeitschriften erhalten.«35 Erst im Juni 1947 legte der Alliierte Kontrollrat mit der Direktive Nr. 55 den freien Austausch von Druckerzeugnissen zwischen allen Zonen fest, und Berlin verlor in der Theorie seinen Sonderstatus im interzonalen Handel mit Büchern. Dies bedeutete aber nicht, dass die Besatzungsmächte nicht weiterhin Kontrolle über die Lieferungen von und in ihre Zonen ausübten. Im Herbst 1947 wurde anschließend ein standardisierter Warenbegleitschein eingeführt, der für alle Zonen inklusive Berlin gültig war. Dieser musste für die Ein- und Ausfuhr von Büchern aus und nach Berlin auch eine Befürwortung des Berliner Magistrats beinhalten. Sollte ein Postversand erfolgen, war die Abteilung Volksbildung Referat Verlage, Buchhandel, Leihbüchereien in der Mauerstraße 53 zuständig. Sollte die Lieferung per Bahn oder Schiff erfolgen, lag die Zuständigkeit ebenfalls bei dieser Abteilung. Zusätzlich musste eine Befürwortung von der Abteilung Wirtschaft, Hauptreferat für Transport und Verkehr (Universitätsstraße 2/3a) eingeholt werden.36 Neben den rechtlichen und logistischen Problemen und Unklarheiten beim Versand von Büchern nach und von Berlin war die Frage nach den interzonalen Zahlungsmodalitäten auch vor der Währungsreform nicht unproblematisch. Auch in dieser Hinsicht finden sich vermehrt Hinweise, dass Berlin von Seiten des Westens zeitweise abermals wie sowjetisches Terrain behandelt wurde. Das galt weniger für den privaten Bezug,
34 BAB, Niederschrift über die Sortimenter-Versammlung am 1. November 1946, S. 2. 35 BAB, Mitteilungen der Berliner Verleger- und Buchhändler-Vereinigung vom 25. 8. 1947, S. 2. 36 LAB: Magistrat von Gross-Berlin: Rundschreiben an die Berliner lizenzierten Verlage und genehmigten Grosso- und Versandbuchhandlungen, 1. 11. 1947.
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sondern vielmehr für den gewerblichen Handel mit Büchern in größeren Massen.37 In einem Rundschreiben des Norddeutschen Buchhändler-Verbandes vom September 1947 wird mitgeteilt, dass aus Berlin und der Ostzone eingeführte Bücher und im Abonnement bezogene Einzelexemplare von Zeitungen ohne Einholung einer besonderen Genehmigung über das Konto des Berliner Stadtkontors bei der Reichsbank bezahlt werden [konnten], während dagegen die Bezahlung in Mengen – insbesondere von Händlern – bezogener Zeitungen und Drucksachen auf diesem Wege bis auf weiteres nicht statthaft sei. Die in Aussicht gestellten weiteren Anweisungen über den Zahlungsverkehr mit der Ostzone [und Berlin – Anm. d. Verf.] blieben 38 aus.
Regelungen zum Zahlungsverkehr für den gewerblichen Handel mit der Ostzone und Berlin fehlten zeitweise nicht nur in der 1947 durch den Zusammenschluss der britischen und amerikanischen Besatzungszone entstandenen Bizone, sondern auch in der französischen Zone. Immer wieder kam es zur Beschlagnahmung von Bücherlieferungen durch die sowjetische Militärregierung. Dieses Recht hatten sich die Besatzungsmächte mit der Direktive Nr. 55 für »Einzelfälle« eingeräumt. 1947 und in der ersten Hälfte von 1948 machten die Sowjets von dieser Möglichkeit jedoch systematisch Gebrauch. So berichtet der amerikanische General Lucius D. Clay: Im Januar und Februar [1948] wurde mir wiederholt berichtet, daß Druckerzeugnisse aus Westdeutschland in Berlin und in der Sowjetzone beschlagnahmt wurden. Dies widersprach unserem Abkommen über einen freien Austausch von Publikationen. Am 17. und 18. Februar konfiszierte die sowjetische Polizei in Berlin eine Reihe von Exemplaren des Buches unseres früheren Außenministers Byrnes »In aller Offenheit«, das in unserer Zone erschienen war. […] Proteste über Proteste wurden den Sowjets zugestellt; sie nahmen sie höflich entgegen, 39 ohne daß die geringste Wirkung festzustellen gewesen wäre.
Am 6. April 1948 wurde der Bezug von westlichen Zeitungen in der sowjetischen Zone und dem sowjetischen Sektor Berlins gesetzlich verboten.40 Dies nahmen die amerikanische und die britische Militärregierung zum Anlass, ihrerseits die Einfuhr und Verbreitung von Druckerzeugnissen jeglicher Art aus der Sowjetzone sowie aus dem sowjetischen Sektor Berlins, also auch von Büchern, in ihren Zonen zeitweise zu untersagen.41 Wie sich diese temporären Regelungen auf die Situation in Berlin auswirkten, lässt sich anhand der Quellen nicht sagen, doch dürfte das Verbot den Handel zwischen Berlin und den »Festlandzonen« weiter erschwert haben. Wissenschaftsverlage, von denen
37 Der private Ankauf von Büchern in und aus anderen als der eigenen Zone war vor dem Mauerbau dagegen unproblematisch, was Berlin für Bibliophile in dieser Zeit attraktiv machte. 38 Rundschreiben des Norddeutschen Buchhändler-Verbandes Nr. 11 von September 1947, zit. nach: Umlauff, Sp. 1204. 39 Clay: Entscheidung in Deutschland, S. 392. 40 Umlauff, Sp. 1207–1208. 41 Umlauff, Sp. 1207–1209.
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zahlreiche traditionell in Berlin ansässig waren, profitierten von Zugeständnissen und Ausnahmen der Militärregierungen, die niemals systematisch, sondern immer punktuell die strikten Regelungen umgingen.42 Auf fundierte wissenschaftliche Schriften aus den anderen Zonen konnte und wollte man auf keiner Seite verzichten.
Währungsreform und Berlin-Blockade Auch im größeren politischen Rahmen war keine Einigkeit der westlichen Besatzungsmächte mit der Sowjetunion zu erzielen. Zwar war man sich einig, dass es zur Stabilisierung der Wirtschaft einer Reform des Währungssystems bedurfte, doch konnte man sich letzlich nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen, und die westlichen Alliierten entschlossen sich zu einem Alleingang. Die Umsetzung erfolgte eilig: Die Währungsreform wurde am Abend des 18. Juni 1948 verkündet und trat bereits am 21. Juni 1948 in Kraft. Die Deutsche Mark (West) wurde eingeführt. Dennoch zögerte man bei der Einführung der neuen Währung in Berlin. In der Stadt an der Spree wurde die DM (West) erst nach weiteren gescheiterten Verhandlungen mit den Sowjets am 23. Juni eingeführt. Die Scheine waren mit einem kleinen B gekennzeichnet. Schnell musste die sowjetische Militärregierung reagieren und realisierte übereilt nun ihrerseits auf ihrem Gebiet eine Währungsreform. Da entsprechende Banknoten noch nicht gedruckt waren, wurden am 24. Juni 1948 Reichsmarkscheine mit einem Aufkleber ausgegeben. Die Mark (Ost) wurde auch für Groß-Berlin eingeführt. Die Frage, welche Währung nun für Berlin gelten sollte, stellte die wirtschaftliche Einheit der Stadt auf die Probe. Das wirtschaftliche Überleben der Stadt hing ultimativ davon ab, dass ein Miteinander von Ost und West stattfand. Deshalb musste auch in Bezug auf die Währung ein Kompromiss gefunden werden. So waren im Westteil der Stadt zunächst beide Währungen parallel gültig. Im Ostteil dagegen war die Mark (Ost) das einzige Zahlungsmittel. Die Annahme von DM (West) wurde von den Sowjets verboten. Für den Buchhandel der Stadt bedeutete die Währungsreform den Beginn der größten Zäsur in der unmittelbaren Nachkriegszeit. [D]er vertreibende Buchhandel in Berlin brauchte die Produktion der westdeutschen und – wie man damals noch vorbehaltsloser annahm als wenige Jahre später – die der ostdeutschen Verlage, und auf der anderen Seite konnten die Verlage in Berlin die Absatzmöglichkeiten in West- und Ostdeutschland nicht entbehren. Vom westdeutschen Standpunkt aus betrachtet, ergaben sich die reziproken Notwendigkeiten hinsichtlich der Bezugs- und Absatzmöglich43 keiten.
Die Lage des Berliner Buchhandels war auf vielen Ebenen problematisch. Allgegenwärtig war die Frage der West-Berliner Buchhändler, in welcher Währung sie fortan Verlage und Zwischenbuchhandel bezahlen sollten. Viele Verlage der westlichen Sektoren bestanden darauf, gänzlich oder zumindest in großen Teilen in DM (West) bezahlt zu
42 Zusammenfassend Umlauff, Sp. 1378. 43 Umlauff, Sp. 200.
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werden.44 Sie selbst mussten die Werkstoffe für die Herstellung ihrer Bücher, insbesondere Papier, ebenfalls in Westwährung entrichten. Auch hier hatten die wissenschaftlichen Verlage Berlins, zumindest theoretisch, einen kleinen Vorteil: Viele von ihnen, unter anderem der Springer-Verlag, ließen traditionell in Betrieben im Osten Deutschlands drucken, da diese seit jeher die entsprechende Expertise im Bereich des naturwissenschaftlichen und technischen (Formel-)Satzes besaßen und konnten diese in Mark (Ost) bezahlen. Bei den Verlagen der westlichen Zonen war es selbstverständlich, dass sie eine Bezahlung in Westwährung verlangten, zumal eine Zahlung in Ostwährung nach den westlichen Zonen 1948 noch gar nicht möglich war. Es gab schlicht noch keinen Verrechnungskurs. Dem gegenüber standen die West-Berliner Buchhändler, die zu großen Teilen ihren Umsatz in Mark (Ost) machten. Ein Großteil der Berliner Bevölkerung, und damit auch der West-Berliner Einwohner, wurde für ihre Arbeit zumindest teilweise in Mark (Ost) entlohnt. West-Berliner Arbeitgeber waren zunächst lediglich angehalten, mindestens 25 Prozent, oft war es nicht mehr, des Gehalts in der Westwährung auszuzahlen. Eisenbahner, ob aus West oder Ost, wurden, weil die Reichsbahn unter sowjetischer Obhut stand, vollständig in der Ostwährung entlohnt.45 Außerdem war wichtige Kundschaft des Buchhandels, nämlich viele wissenschaftliche Institutionen und Behörden, im Ostteil der Stadt ansässig und zahlte dementsprechend auch zu großen Teilen in Mark (Ost). Nach und nach etablierte sich im West-Berliner Sortimentsbuchhandel ein festes Verhältnis von West- und Ost-Währung, von zuerst 1 : 9, in dem die Bezahlung erfolgen sollte. Der Anteil von Westgeld erhöhte sich zuletzt auf 50 Prozent.46 West-Berliner Buchhändler ergriffen jede Chance, einen möglichst großen Teil ihres Gewinns in DM (West) zu erwirtschaften. Dies war nicht leicht, aber immer wieder fanden sich Möglichkeiten. So beschreibt die ehemalige Berliner Verlagsvertreterin Ursula Sobottka einen Trick, das festgelegte Verhältnis von Ost- und Westwährung in der Bezahlung hintergehen zu können: Wer noch eine eigene Privatbibliothek über den Krieg hinaus gerettet hatte, legte einige Bände in seinem Geschäft aus und konnte den Verkaufspreis und den Westanteil selbst bestimmen. Das aktivierte die Kollegen aus dem Ostteil Berlins, dem Buchhändler-Freund im Westen seine Privatbücher gegen Westgeld in Kommission anzubieten. Auch Privatleute aus Ost und West suchten Westberliner Buchhandlungen auf, um gebrauchte Bücher zu verkaufen oder auch einzukaufen. So kam wieder etwas mehr Leben in die Westläden und ohne vorherige 47 Absicht entwickelten sich viele Sortimenter zu tüchtigen Antiquaren.
Alltagswährung im vertreibenden Buchhandel war dennoch faktisch die Ostwährung. So konnte das West-Berliner Sortiment in vielen Fällen den Forderungen der Verlage nach der überwiegenden Bezahlung in Westwährung nicht nachkommen. Die Folge war, dass das Sortiment viele Bücher nicht einkaufen konnte.
44 BAB, Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung: Rundschreiben an alle Sortimenter im amerikanischen, britischen und französischen Sektor. o. D. [Juli 1948]. 45 Strumpfgeld. Wie ein Seismograph. 46 Sobottka: Die Blockadezeit in Berlin, S. 56. 47 Sobottka, S. 57.
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Das Westsortiment hat für die Währungsschwierigkeiten des westlich lizenzierten Verlages Verständnis. Es ist bereit, diese Verlage an den D-Mk-Einnahmen teilhaben zu lassen. Die einseitige Forderung vieler Verlage, an das Westsortiment nur in D-Mk auszuliefern, ist untragbar. […] Es wurde [in einer Vorstandssitzung der BVB am 16. Juli 1948 – Anm. d. Verf.] beschlossen den Verlegern der westlichen Sektoren zu empfehlen, den Sortimentern möglichst entgegenzukommen. Von den Vertretern des Sortiments wurde eine Bezahlung der Lieferun48 gen der westlich lizenzierten Verlage Berlins bis zu 10 % in D-Mk als möglich bezeichnet.
Der amtierende Vorsitzende der BVB, Dr. Erich Schmidt, rief im Oktober in einer Sondernummer des westlichen Börsenblatts sodann zur Solidarität des westdeutschen Buchhandels mit dem Berliner Buchhandel auf: »Berlin ruft den deutschen Buchhandel!«49 Dabei blieb er jedoch die Antwort auf die Frage nach Hilfe der Verlage für das Berliner Sortiment schuldig. Vage stellte er den Weg über einen Berliner Kommissionär, der vom Sortiment in Mark (Ost) bezahlt wird und für die Verlage in den amtlichen Wechselstuben in DM (West) wechselt oder den Betrag zurückhält für eine Ausgleichslieferung von Ost nach West, zur Debatte, wie er ähnlich im Zeitschriftenwesen zu dieser Zeit Anwendung fand. Ähnliches schlug im Leipziger Börsenblatt ein Buchhändler in einer Zuschrift vor: Der Austausch zwischen Verlagen und Kommissionären in Ost und West [könnte sich] fast völlig bargeldlos abspielen […]. Die westlichen Verlage könnten nach wie vor die den einzelnen Buchhandlungen zugedachten Sendungen auf dem Wege über die Leipziger und Berliner Kommissionäre abfertigen und erhielten dafür eine entsprechende Gutschrift. Durch umgekehrte Lieferung der Verlage aus der Ostzone und aus Berlin entstünden Guthaben bei den Kommissionären der westlichen Zonen. Eine Arbeitsgemeinschaft der Verleger aller Zonen könnte dieses Guthaben soweit ausgleichen, daß verbleibende Spitzenbeträge jeweils entweder innerhalb der Kommissionäre in der Ostzone oder in der Trizone beglichen würden. Das setzte allerdings voraus, daß die Lieferungen zwischen Ost und West sich die Wage halten. Soweit das aber bisher noch nicht der Fall war, wäre dieser Ausgleich […] leicht zu erreichen, entweder dadurch, daß man die Verleger der im Rückstand gebliebenen Zone veranlaßte, mehr zu liefern, oder durch entsprechende Kürzung von Bestellung oder auch durch Übernah50 me von Werkaufträgen für die »guthabenden« Verleger.
Diese Lösung hätte jedoch einer staatlichen oder institutionellen interzonalen Lenkung bedurft und wurde so nie systematisch realisiert, auch wenn in Einzelfällen sicher nach diesem Schema gehandelt wurde. Im westdeutschen Börsenblatt wurde indes Solidarität versprochen. »Nach Lage der Dinge heißt das nichts anderes, als daß die westdeutschen Verleger Opfer bringen müssen, indem sie, wenigstens zunächst, auf einen Teil des Erlöses für ihre Lieferungen nach Berlin verzichten. Soweit dieser Verzicht […] aufgewogen wird durch die Erwartung, sich den Bezieherkreis in Berlin zu erhalten, wird er verhältnismäßig leicht zu
48 BAB, Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung: Rundschreiben an alle Sortimenter im amerikanischen, britischen und französischen Sektor. o. D. [Juli 1948]. 49 Schmidt: Berlin ruft den deutschen Buchhandel. 50 Dausien: Der Vorschlag des Lesers: Interzonaler Buchhandel.
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tragen sein.«51 Konnte zumindest dieses Problem zu diesem Zeitpunkt nicht gelöst werden, so schien es jedoch möglich, zumindest das Westsortiment dazu zu bringen, den Absatz der West-Berliner Verlage in den Westzonen zu steigern und den Verlagen damit zu höheren Einnahmen in DM (West) zu verhelfen. Das westdeutsche Sortiment sollte ihre Buchkäufer zum Beispiel durch die Ausgestaltung besonderer »Berlin-Schaufenster« auf Bücher Berliner Verlage verstärkt hinweisen.52 Inwieweit dieser Aufruf erfolgreich war, lässt sich jedoch nicht sagen. Bei der Vermittlung zwischen West-Berliner und westdeutschem Buchhandel war die Berliner Verleger- und Buchhändler-Vereinigung seit ihrer Gründung im November 1946 von besonders großer Bedeutung. Wenngleich die Einbindung der Buchschaffenden des sowjetischen Sektors Berlins missglückte, so war die BVB doch die erste interzonale Branchenorganisation Deutschlands und gewährte einen Kontakt der Branche über die Zonengrenzen hinweg, an einem Ort, wo es vielleicht wichtiger war als anderswo. Damit war Berlin Vorreiter für eine Entwicklung, die in Westdeutschland erst Jahre später einsetzte. Hier war an die Gründung einer interzonalen Vereinigung in dieser Zeit noch nicht zu denken.53 Ein weiteres mit der Währungsreform verbundenes Problem war der deutliche Unterschied der Buchpreise in Ost und West. In der sowjetischen Zone, und damit auch im sowjetischen Sektor Berlins, waren Bücher, wie auch später in der DDR, wesentlich billiger als im westlichen Buchhandel. Insbesondere für den West-Berliner Buchhandel wurde dies zum Problem, da in der Spreemetropole der interzonale Austausch durch die offenen Grenzen leichter war als andernorts. »Wären [die Bücher West-Berliner Verlage] im ostdeutschen Buchhandel in größerer Zahl verfügbar gewesen, hätte die Gefahr des Reimports und des Verkaufs im Westen zu Schleuderpreisen bestanden.«54 Diese Art des Devisenschmuggels war natürlich illegal, blühte aber in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre auf und endete erst mit dem Mauerbau. So berichtet der ehemalige Buchhändler Heinz Sarkowski aus seiner Zeit bei Hugendubel in München, dass »von 1949 bis 1951 regelmäßig ein Buchhändler zu uns kam und Bücher aus der DDR mit einem Rabatt von mehr als 50 % lieferte. […] Es wurde zum Beispiel darüber geklagt, daß sich auf diesem Weg selbst die Bayerische Staatsbibliothek Bücher aus der DDR beschaffte. Es nahmen auch ganze Bibliotheken ihren Weg über Ostberlin nach Westberlin und wurden hier für Westmark verkauft.«55 Umgekehrt gab es aber auch einen illegalen Handel von West nach Ost, wenn auch in viel geringerem Ausmaß. Auch hier war Berlin, als Geltungsbereich beider Währungen, Dreh- und Angelpunkt der Geschäfte. Immerhin fuhren […] Buchhändler aus Mitteldeutschland nach Westberlin, […] um hier wissenschaftliche Literatur […] einzukaufen. In großen Westberliner Wissenschaftsverlagen wie Springer, de Gruyter oder Parey konnten sie, solange in Berlin beide Währungen galten,
51 Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verleger- und Buchhändler-Verbände: Der westdeutsche Buchhandel antwortet. 52 Schmidt: Berlin ruft den deutschen Buchhandel. 53 Dazu auch die Schilderungen von Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels sowie Bluhm: Keine Kohlen fürs Büro! 54 Sarkowski: Die Anfänge des deutsch-deutschen Buchhandelsverkehrs, S. 95. 55 Sarkowski, S. 95–96.
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bestimmte Bücher auch mit Ostmark bezahlen. Eine Liste des Springer-Verlags weist für Mai 1950 noch 54 Titel aus, die auch für Ostmark verkauft wurden. Mit einem Stempelaufdruck 56 untersagte z. B. de Gruyter die Wiedereinfuhr in die Bundesrepublik.
Dabei waren Währungs- und Preisprobleme nicht die einzigen Schwierigkeiten, die den Berliner Buchhandel besonders hart trafen. Als Reaktion auf die Einführung der DM (West) im Westteil Berlins sperrten sowjetische Truppen in der Nacht zum 24. Juni 1948 alle Land- und Wasserzufahrtswege nach West-Berlin ab. Strom- und Gaslieferungen von der SBZ wurden stark reduziert. Schnell wurde jedoch deutlich, dass der Plan der Sowjets, durch die Blockade die alleinige Macht in Groß-Berlin zu erzwingen, nicht aufging. Die amerikanischen Besatzer, später mit Hilfe der Briten, richteten eine Versorgung der Bevölkerung über den Luftweg ein: die Berliner Luftbrücke. Durch die BerlinBlockade verschärfte sich die ohnehin schwierige Lage im Buchhandel der Stadt nochmals deutlich. Das betraf zunächst die Lieferung von Material, das zur Buchherstellung benötigt wurde. »Mit fast 200.000 Flügen während der Berlin-Blockade w[u]rden rund 1,5 Millionen Tonnen lebenswichtiger Güter nach Berlin transportiert.«57 Dabei konnte aufgrund der aufwändigen Logistik »Lesestoff« nicht beziehungsweise nicht im bisher gewohnten Umfang zu den »lebensnotwendigen Gütern« gehören. So wurde zunächst nur Zeitungspapier nach Berlin eingeflogen.58 Aber auch der Import und Export von Büchern von und nach Berlin über die Luftbrücke war beschwerlich und spielte sich erst Ende 1948 ein. Die Westberliner Verlage waren [zunächst – Anm. d. Verf.] gezwungen, ihre Bücher und Zeitschriften gegen Ostmark oder mit einem geringen Westmarkanteil zu verkaufen, da sich der Transport der Bücher über die Luftbrücke nach Westdeutschland erst um die [Jahres]wende 1948/49 einspielte. Während der Blockadezeit und Mischwährungszeit sind die Westberli59 ner Buch- und Zeitschriftenverlage finanziell ausgeblutet.
Die Blockade veranlasste ihrerseits wiederum die westlichen Alliierten, (Sanktions-) Maßnahmen gegen die Sowjets einzuleiten. Im September wurde der Verkauf von sowjetischer Literatur in der amerikanischen Zone verboten.60 Wenig später folgte die britische Zone dem Verbot. Am 20. März 1949 wurde offiziell bekanntgegeben, dass die DM (West) in WestBerlin ab nun alleiniges Zahlungsmittel sei. Nun war Berlin, vormals der letzte Schauplatz wirtschaftlicher Einheit mit Kompromissen von West und Ost, ebenso gespalten wie das übrige Land. Auch politisch vollzog sich eine Spaltung. Der gemeinsame Berliner Magistrat zerfiel im Dezember 1948 und der West- und Ostteil der Stadt bauten eigenständige Verwaltungen auf. In einem Schreiben des Berliner Magistrats, Referat Verlage, Buchhandel, Leihbüchereien, an den Regierenden Oberbürgermeister von Groß-Berlin, de facto der Bürger-
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Sarkowski, S. 96. Grau/Haunhorst/Würz: Berlin-Blockade 1948. Mahlke: Berlin als Verlagsort, S. 89. Cornelsen: Berlin als Verlagsstadt, zit. nach Mahlke, S. 89. Russisch lizenzierte Publikationen in der amerikanischen Zone verboten.
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meister von Ost-Berlin, wurde über den (Wieder-)Aufbau des Buchhandels in GroßBerlin Bericht erstattet. Bis zum 30. November 1949 wurden etwa 2.000 Anträge zur Lizenzierung von Verlagen gestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren in ganz Berlin 169 Buchverlage aktiv. Davon waren die meisten (60) im britischen Sektor ansässig. Im amerikanischen Sektor waren 35, im französischen 22 und im sowjetischen Sektor 50 Verlage tätig. Im Bereich des vertreibenden Buchhandels zählte der Magistrat 431 Sortimentsbuchhandlungen, 163 Sortimentsbuchhandlungen mit angeschlossener Leihbücherei, 297 Buchverkaufsstellen und 146 Buchverkaufsstellen mit angeschlossener Leihbücherei. Darüber hinaus wurden 83 Grossobuchhandlungen und 76 Reise- und Versandbuchhandlungen registriert.61 Stellt man diese Zahlen denen aus dem Adreßbuch des Berliner Buchhandels von 1939 entgegen, wird deutlich, dass im Bereich der Verlage gerade noch etwa ein Siebentel von einst arbeiteten. Im Bereich des Sortiments ist ähnliches festzustellen. Hier kann man von einem Schwund von etwa drei Vierteln der ehemaligen Anzahl der Betriebe sprechen. Der einzige Bereich, der in der Nachkriegszeit erstarkte, war der Zwischenbuchhandel. Wenngleich dies nicht quantitativ nachzuweisen ist, dürfte nicht der Krieg selbst zu diesem »Ausbluten« des Berliner Buchhandels geführt haben. Vielmehr war es die schwierige politische Lage nach Kriegsende, die einen Wiederaufbau so massiv erschwerte. Nicht zuletzt der Vergleich mit einer Insel, losgelöst von den »Festlandzonen«, verdeutlicht die besondere Lage Berlins in dieser Zeit auch im Buchhandel. Obwohl alle Regelungen der einzelnen Besatzungszonen grundsätzlich auch in den jeweiligen Sektoren Berlins galten, war die Umsetzung dort oft abweichend. Wie anhand einiger Beispiele gezeigt werden konnte, war die Stadt in bestimmten Situationen gegenüber den »Festlandzonen« im Vorteil, viel öfter aber im Nachteil. Nicht zuletzt stellte die Währungsreform Berliner Buchschaffende vor zum Teil unlösbare Aufgaben. Nicht wenige von ihnen gaben spätestens an diesem Punkt auf. Die Folgen dieser Zeit vom Kriegsende bis zum Ende der Berlin-Blockade hinterlassen ihre Spuren im Berliner Buchhandel bis in die Gegenwart.62
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Landesverband Berlin-Brandenburg e.V., Berlin (BAB) Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung: Rundschreiben an alle Sortimenter im amerikanischen, britischen und französischen Sektor. o. D. [Juli 1948]. Mitteilungen der Berliner Verleger- und Buchhändler-Vereinigung vom 25. 8. 1947. Niederschrift über die Sortimenter-Versammlung am 1. November 1946. o.D. Vorstand der Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor Berlins: Brief an die Sortimenter-Mitglieder (Nr. S 1). 30. 9. 1946.
61 LAB: Magistrat Abteilung Volksbildung, Referat Verlage, Buchhandel; LAB: Leihbüchereiwesen: Schreiben an den Regierenden Oberbürgermeister, 20. 1. 1949. Kommissionsbuchhandlungen wurden nicht separat ausgewiesen. 62 Für einen Überblick über die Entwicklung des Verlagsbuchhandels in Berlin von seinen Anfängen bis in die Gegenwart Schwarz: Die Entwicklung der Verlagsstadt Berlin.
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Vorstand der Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor: Rundschreiben der Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor Berlins (Nr. V. 1.). 13. 8. 1946. Landesarchiv Berlin (LAB) Magistrat von Gross-Berlin: Rundschreiben an die Berliner lizenzierten Verlage und genehmigten Grosso- und Versandbuchhandlungen. 1. 11. 1947. Sign.: C Rep. 120 Nr. 523, Bl. 2. Magistrat von Gross-Berlin, Abteilung Büchereiwesen an das Generalreferat der Abteilung Volksbildung: Mitteilung betreffs der Sicherstellung von unrechtmässig erworbenen Büchern. 11. 2. 1946. Sign.: C Rep. 120 Nr. 521, Bl. 45. Magistrat von Gross-Berlin, Abteilung Volksbildung, Referat Verlage, Buchhandel, Leihbüchereiwesen: Schreiben an den Regierenden Oberbürgermeister. 20. 1. 1949. Sign.: C Rep. 120 Nr. 45, Bl. 49.
Gedruckte Quellen Adreßbuch des Berliner Buchhandels 1939. Berlin: Verlag des Wirtschaftsverbandes der Berliner Buchhändler 1939. Anzeige Buchvertrieb Elwert, Meurer & Co., Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 101. In: Börsenblatt (Wiesbaden), 2 (1946), Nr. 16, S. 134. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verleger- und Buchhändler-Verbände: Der westdeutsche Buchhandel antwortet. In: Börsenblatt (Frankfurt), 4 (1948), Nr. 23, S. 802. Bekanntmachung des Magistrats von Gross-Berlin, Abteilung Handel und Handwerk betr. Bereinigung der Handels- und Handwerksbetriebe. 17. 5. 1945. In: Verordnungsblatt der Stadt Berlin 1 (1945), Nr. 4, S. 49. CLAY, Lucius D.: Entscheidung in Deutschland. Frankfurt a. M.: Verlag der Frankfurter Hefte 1950. DAUSIEN, Otto: Der Vorschlag des Lesers: Interzonaler Buchhandel. In: Börsenblatt (Leipzig), 115 (1948), Nr. 32, S. 309. Freier Dreizonenaustausch. In: Börsenblatt (Frankfurt), 2 (1948), Nr. 20/21, S. 193. Paketversand im Interzonenverkehr. In: Börsenblatt (Leipzig), 114 (1947), Nr. 25, S. 280. Russisch lizenzierte Publikationen in der amerikanischen Zone verboten. In: Börsenblatt (Frankfurt), 4 (1948), Nr. 23, S. 802–803. SCHMIDT, Erich: Berlin ruft den deutschen Buchhandel. In: Börsenblatt (Frankfurt), 4 (1948), Nr. 23, S. 801–802. Strumpfgeld. Wie ein Seismograph. In: DER SPIEGEL, 3 (1948), Nr. 38, S. 19–20. Versand nach Berlin. In: Börsenblatt (Wiesbaden), 2 (1946), Nr. 16, S. 121. Versendungsmöglichkeiten mit Post – Bahn – Spediteur sowie Versandvorschriften (a). In: Börsenblatt (Leipzig), 113 (1946), Nr. 1/2, S. 6. Versendungsmöglichkeiten mit Post – Bahn – Spediteur sowie Versandvorschriften (b). In: Börsenblatt (Leipzig), 113 (1946), Nr. 3, S. 28.
Forschungsliteratur BENDER, Peter: Berlin als Brücke zwischen Ost und West. In: Gerd Langguth (Hrsg.): Berlin. Vom Brennpunkt der Teilung zur Brücke der Einheit. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1990, S. 473–478. BLUHM, Detlef: Keine Kohlen fürs Büro! Die Gründungsgeschichte des Verbandes 1946–1947. In: Aufgeblättert. Gemischte Partie. 1946–1996. Berlin: Verband der Verlage und Buchhandlungen Berlin-Brandenburg e.V. 1996, S. 5–22.
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GRAU, Andreas / HAUNHORST, Regina / WÜRZ, Markus: Berlin-Blockade 1948. In: Lebendiges Museum Online (LeMO). URL: https://www.hdg.de/lemo/kapitel/nachkriegsjahre/doppeltestaatsgruendung/berlin-blockade-1948.html [7. 7. 2018]. JÜTTE, Bettina: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949). Berlin/ New York: De Gruyter 2010 (Archiv für Geschichte des Buchwesens, Studien 8). KEIDERLING, Thomas: Der Zwischenbuchhandel. In: Ernst Fischer/Stephan Füssel (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 2: Die Weimarer Republik 1918–1933, Teil 2. Berlin/Boston: De Gruyter 2012, S. 283–334. LINKS, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. 2. aktual. Aufl. Berlin: Ch. Links 2010. MAHLKE, Regina: Berlin als Verlagsort. Tendenzen und Entwicklungen nach 1825 (Hausarbeit zur Prüfung für den höheren Bibliotheksdienst an der Fachhochschule für Bibliotheks- und Dokumentationswesen Köln). Köln 1982. SARKOWSKI, Heinz: Die Anfänge des deutsch-deutschen Buchhandelsverkehrs (1945–1955). In: Mark Lehmstedt/Siegfried Lokatis (Hrsg.): Das Loch in der Mauer. Der innerdeutsche Literaturaustausch. Wiesbaden: Harrasowitz Verlag 1997 (Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte 10), S. 89–108. SCHROLL, Heike: Ost-West-Aktionen im Berlin der 1950er Jahre. Potentiale und Grenzen behördlicher Überlieferungen zum Kunsthandel in der Viersektorenstadt und in der jungen Hauptstadt der DDR. Berlin: Duncker & Humblot 2018. SCHWARZ, Eva: Die Entwicklung der Verlagsstadt Berlin von 1989/1990 bis 2017. Masterarbeit, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig 2017. SEEMANN, Anna-Maria: Parallelverlage im geteilten Deutschland. Entstehung, Beziehungen und Strategien am Beispiel ausgewählter Wissenschaftsverlage. Berlin/New York: De Gruyter 2017 (Schriftmedien/Written Media 6). SOBOTTKA, Ursula: Die Blockadezeit in Berlin. In: Aufgeblättert. Gemischte Partie. 1946–1996. Hrsg. vom Verband der Verlage und Buchhandlungen Berlin-Brandenburg e.V. Berlin: Verband der Verlage und Buchhandlungen Berlin-Brandenburg e.V. 1996, S. 55–60. UMLAUFF, Ernst: Der Wiederaufbau des Buchhandels. Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung Frankfurt a. M. 1978.
Detlef Bluhm 1.6
Die Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung
Die Alliierten verhinderten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Neugründung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels auf nationaler Ebene. Stattdessen beförderten sie die Gründung regionaler Buchhändler- und Verleger-Vereinigungen. In der Viersektorenstadt Berlin war dies ein komplizierter Prozess.
Die Gründung einer Vereinigung im britischen Sektor Am 5. Mai 1946, einem Sonntag, trafen sich vormittags um 10.30 Uhr zahlreiche Verleger und Buchhändler im großen Sitzungssaal des Minerva-Verlages in der Kurfürstenstraße 57, um die Deutsche Verleger- und Buchhändlervereinigung für den britischen Sektor von Berlin zu gründen. Die »Niederschrift über die Gründungssitzung (Generalversammlung) der Deutschen Verleger- und Buchhändlervereinigung für den Britischen Sektor von Berlin«1 ist erhalten, eine darin erwähnte Teilnehmerliste scheinbar nicht. Zum ersten Vorsitzenden der Vereinigung wurde der Verleger Dr. Erich Schmidt gewählt, der auch die erste Fassung der Satzung ausgearbeitet hat. Die sah übrigens noch vor, dass die Ausdehnung der Vereinigung, »auf die gesamte britische Zone [Deutschlands] angestrebt wird.«2 Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen wurde zunächst nur die Verleger-Abteilung der Vereinigung gegründet. In der Satzung steht deshalb eine Übergangsbestimmung, die das Procedere der Vorstandswahlen regelt, »solange die Buchhändler-Abteilung nicht gebildet ist«.3 Die Geschäftsstelle der Vereinigung fand Unterkunft im Erich Schmidt Verlag, Berlin W 30, Woyrschstraße 30g (heutige Genthiner Straße). Neben den Gründungsregularien wurde inhaltlich diskutiert über Papierkontingente, Zensur, Lebensmittelkarten und Interzonenpässe. Bereits zwei Wochen später, am 21. Mai 1946, fand am gleichen Ort die konstituierende Versammlung der Buchhändler-Abteilung der Deutschen Verleger- und Buchhändlervereinigung für den Britischen Sektor von Berlin statt. Auch hier ist (wie bei vielen weiteren Protokollen) die Teilnehmerliste nicht überliefert. Auf dieser Versammlung gab die spätere Schriftstellerin Annemarie Weber als Vertreterin der Berlin Information Control Unit bekannt, dass in einem Schreiben der Britischen Militärregierung »das Einverständnis zur Gründung der Deutschen Verleger- und Buchhändlervereinigung für den Britischen Sektor von Berlin erklärt wird«.4 Nach Satzungsabstimmungen wurde Gustav Warneck zum Vorsitzenden gewählt. Anschließend diskutierte man ausführlich über die Aussonderung nazistischer und militaristischer Literatur und über Preisfragen des Buchhandels.
1 BAB, Dok 1: Niederschrift über die Gründungssitzung (Generalversammlung) der Deutschen Verleger- und Buchhändlervereinigung für den Britischen Sektor von Berlin, 6. Mai 1946. 2 BAB, Dok 1: Niederschrift über die Gründungssitzung […], Anhang: Satzung, § 1. 3 BAB, Dok 1: Niederschrift über die Gründungssitzung […], Anhang: Satzung, § 8. 4 BAB, Dok 2: Niederschrift über die konstituierende Versammlung der Buchhändler-Abteilung der Deutschen Verleger- und Buchhändlervereinigung für den Britischen Sektor von Berlin, S. 4. https://doi.org/10.1515/9783110471229-007
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Die Gründung einer Vereinigung im amerikanischen Sektor Am Freitag, dem 31. Mai 1946, kam es auch im amerikanischen Sektor von Berlin zu einer Verbandsgründung. Die Gründungsversammlung fand in den Räumen der Bestellanstalt, Berlin W 35, Winterfeldtstraße 36, statt. Zum Vorsitzenden wurde der Gustav Paeschke, der Inhaber des Axel Juncker Verlages, gewählt. Einer Notiz im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel ist zu entnehmen: »Es wurde zunächst eine Verlegervereinigung geschaffen, eine Buchhändlerabteilung soll sich in Kürze anschließen.«5 Am 8. Juni 1946 unterzeichneten Wilhelm Moosdorf (Gsellius’sche Buchhandlung) und Andreas Wolff (Wolff’s Bücherei) für den Vorbereitenden Ausschuss für die Bildung der Buchhändler-Abteilung im amerikanischen Sektor Berlins eine Einladung zur Gründungsversammlung am 19. Juni 1996. Der Einladung lag ein entsprechender Satzungsentwurf bei. Ein Protokoll dieser Gründungsversammlung liegt nicht vor. Aber beide versendeten Anfang August 1946 eine Information der Buchhändler-Abteilung an das Sortiment mit diesen Hinweisen: Am 31. Mai 1946 wurde im amerikanischen Sektor Berlins eine Vereinigung der Verleger und Buchhändler gegründet. […] Wir würden uns freuen, auch Sie in unseren Reihen begrüßen und uns Ihrer tätigen Mitarbeit versichern zu dürfen. Die Höhe des Beitrages ist aus technischen Gründen noch nicht festgesetzt. Da dieser jedoch ausschließlich auf den dringen6 den Bedarf der Vereinigung abgestellt ist, wird er sich in erträglichem Rahmen halten.
Mit der Gründung einer zweiten Vereinigung in der Vier-Sektoren-Stadt wurde der Grundstein für eine intersektorale Zusammenarbeit gelegt.
Die Sektorenverbände beginnen ihre Zusammenarbeit Am 15. Juli 1946 tagten die Vorstände der Amerikanischen und Britischen VerlegerVereinigung in den Räumen des Erich Schmidt Verlages. Dr. Erich Schmidt drückte den Wunsch beider Vereinigungen aus, baldmöglichst zu einem organisatorischen Zusammenschluss zu kommen. Falls dies politisch noch nicht gewünscht sei, möchten die Vereinigungen wenigstens eine Bürogemeinschaft unter einheitlicher Geschäftsführung begründen. Damit stach er, das Protokoll deutet es nur an, in ein politisches Wespennest. Major Steward von der Britischen Militär-Regierung führte zwar aus, dass die Bildung einer einheitlichen Vereinigung für ganz Berlin anzustreben wäre und die Alliierte Kommandantur zur Zeit mit dieser Frage beschäftig sei. Dem Antrag des Magistrats auf Bildung einer solchen Vereinigung unter seiner Regie wurde jedoch nicht stattgegeben. Vielmehr wurde entschieden, dass in jedem der Sektoren eine Vereinigung gegründet werden solle, die dann zu einem späteren Zeitpunkt miteinander verschmolzen werden könnten. Eine endgültige Entscheidung darüber wäre aber von der Alliierten Kommandantur noch nicht getroffen worden.7
5 Zum Aufbau der Verbände – Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor Berlin. In: Börsenblatt (Leipzig) 113 (1946) 13, S. 101. 6 BAB, Dok 43. 7 BAB, Dok 5: Niederschrift über die Sitzung der Vorstände der Amerikanischen und Britischen Verleger-Vereinigung am Montag, den 15. Juli 1946.
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Deshalb hielt es Major Steward derzeit nicht für ratsam, den Zusammenschluss der Vereinigung im amerikanischen und britischen Sektor zu vollziehen. Auch die gewünschte Bürogemeinschaft könne deshalb nicht begründet werden. Die Selbständigkeit beider Vereinigungen solle vielmehr zunächst bestehen bleiben. Hingegen sei gegen eine Zusammenarbeit der beiden Vereinigungen nichts einzuwenden. Um den von Major Steward angedeuteten Dissens zwischen den drei westlichen Vertretern in der Alliierten Kommandantur und dem Berliner Magistrat verstehen zu können, müssen hier einige Anmerkungen zur allgemeinen politischen Situation im Berlin dieser Zeit angefügt werden.
Die politische Situation in Berlin nach Kriegsende Noch vor der deutschen Kapitulation in Berlin landete am 30. April 1945 eine aus Moskau anreisende Gruppe deutscher Kommunisten hinter Frankfurt (Oder), die sogenannte Gruppe Ulbricht. Sie fuhr sofort nach Berlin, um dort in sowjetischem Auftrag eine neue Verwaltung aufzubauen. Ein Mitglied dieser Gruppe, Wolfgang Leonhard, beschreibt in seinem Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder 1955 die taktischen Dimensionen des Auftrages so: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.«8 In Berlin angekommen, wurde ein Mitglied der Gruppe Ulbricht offiziell beauftragt, die Magistratsbildung vorzubereiten. Bereits am 17. Mai 1945 konnte der neue Oberbürgermeister Berlins, der parteilose Arthur Werner, den ersten Nachkriegsmagistrat der Öffentlichkeit vorstellen. Von den insgesamt siebzehn Magistratsmitgliedern gehörten neun der KPD, zwei der SPD und zwei der CDU an, vier galten als parteilos. Damit wurde der demokratische Schein gewahrt. Bis auf den Posten des Oberbürgermeisters waren alle Schlüsselressorts mit KPD-Mitgliedern besetzt, auch das wichtige Amt für Volksbildung, dem der spätere Außenminister Otto Winzer vorstand. Als im Juli 1945 die Westmächte in Berlin einrückten, waren vollendete Tatsachen in der Berliner Verwaltung geschaffen. Auf allen Ebenen setzte nun ein verbissener Kleinkrieg zwischen der Alliierten Kommandantur und dem Berliner Magistrat ein, in dem sich die sowjetischen Vertreter in der Kommandantur oft scheinbar neutral verhielten. Dieser Zustand änderte sich erst am 20. Oktober 1946, als erstmals seit 1933 wieder freie Wahlen in Berlin durchgeführt wurden. Die SPD wurde mit 48,7 Prozent Wahlsieger, gefolgt von der CDU (22,2 Prozent), der SED (19,8 Prozent) und schließlich der LDP (9,3 Prozent). Daraufhin wurden die Schlüsselpositionen in Magistrat und Verwaltung neu besetzt: An Stelle der Kommunisten traten Sozialdemokraten, auch Otto Winzer wurde von einem SPD-Mann abgelöst. Doch dieser Prozess dauerte einige Zeit, die SED versuchte mit allen Mitteln, ihre Positionen zu verteidigen. Otto Winzer erklärt zwei Tage nach der Wahl in einer Mitarbeiterbesprechung: »Es gibt grundsätzlich keinerlei Fahnenflucht aus der Arbeit, freiwillig verläßt keiner seinen Posten. Unter Anwendung aller Mittel müssen wir es verstehen, im Apparat zu bleiben [...]. Wir müssen alle Maßnahmen jetzt noch durchführen, um zu verhindern, daß unsere Leute hinausgeworfen werden können.«9 Am 5. Dezember 1946 wählte dann die neue Stadtverordnetenver-
8 Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 365. 9 Zit. nach Schivelbusch: Vor dem Vorhang, S. 147.
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sammlung den neuen Magistrat. Bis dahin war der Einfluss der SED faktisch noch ungebrochen. Die im Sommer 1947 folgende Magistrats- und Oberbürgermeisterkrise interessiert in diesem Zusammenhang nicht mehr. Wichtig aber ist festzuhalten, dass die hier geschilderte politische Konstellation auch die Geschichte der Gründung eines einheitlichen Verbandes erheblich tangierte.
Die Vorstände-Sitzung vom 22. Juli 1946 Die nächste Sitzung der Vorstände der Vereinigungen der Verleger und Buchhändler im amerikanischen und im britischen Sektor von Berlin fand am 22. Juli 1946 statt. Auf ihr berichtete Dr. Erich Schmidt von den weiterhin bestehenden Bedenken gegen einen organisatorischen Zusammenschluss der beiden Vereinigungen. Seiner Meinung nach war aber »zu erwarten, dass in nächster Zeit von der Alliierten Kommandantur entschieden wird, ob eine einheitliche Vereinigung für Gross-Berlin gegründet werden soll oder nicht«.10 Dem Protokoll ist ferner zu entnehmen, dass die Vereinigung im amerikanischen Sektor bereits einen Geschäftsführer hatte: Dr. Wilhelm Moosdorf. Auf die Bitte von Erich Schmidt erklärte sich Herr Moosdorf bereit, sofort Aufgaben von der Vereinigung im britischen Sektor gegen entsprechende Honorarzahlungen zu übernehmen. Dabei scheint es sich hauptsächlich um Verhandlungen mit dem Preisamt und dem Autorenschutzverband gehandelt zu haben. Weiter wird der von Erich Schmidt vorbereitete Satzungsentwurf einer gemeinsamen Berliner Vereinigung besprochen. Das Protokoll vermerkt dazu: »Die Sitzungsteilnehmer nehmen den Satzungsentwurf zur Kenntnis. Sie sind jedoch übereinstimmend der Auffassung, dass dieser Entwurf verfrüht erscheint, da im Augenblick noch nicht abzusehen ist, auf welcher Ebene sich der Zusammenschluss in Gross-Berlin vollziehen wird!«11 So hoch die Wertschätzung für Erich Schmidt im Kreis der beiden Vorstände auch war, die von ihm vehement vorangetriebene Idee der Gründung einer Gross-Berliner Vereinigung wurde als vorläufig unrealistisch abgetan. Doch die Damen und Herren sollten sich irren.
Eine einheitliche Verlegervereinigung wird genehmigt Bereits einen Tag später, am 23. Juli 1946, schrieb Dr. Erich Schmidt dem Vorsitzenden der Vereinigung im Amerikanischen Sektor, Gustav Paeschke, einen Brief, um ihn von einem am gleichen Tag stattgefundenen, persönlichen Gespräch mit Major Steward in dessen Büro zu informieren: »Er erklärte mir, die Kommandantur Berlin habe die Gründung einer einheitlichen Verlegervereinigung für Berlin genehmigt. Ich würde von ihm ein entsprechendes Schreiben mit dieser Mitteilung erhalten.«12 Dieses Schreiben erfolgte dann am 31. Juli 1946. Aus ihm geht hervor, dass die Genehmigung zur Gründung einer Gross-Berliner Vereinigung bereits auf einer Sitzung vom 16. Juli 1946 ausgesprochen wurde. Am 6. August 1946 luden Erich Schmidt und Gustav Paeschke als »Der
10 BAB, Dok 5a: Protokoll über die Sitzung der Vorstände der Vereinigungen der Verleger und Buchhändler im Amerikanischen und im Britischen Sektor von Berlin, ohne Datum, S. 1. 11 BAB, Dok 5a: Protokoll über die Sitzung der Vorstände der Vereinigungen der Verleger und Buchhändler im Amerikanischen und im Britischen Sektor von Berlin, ohne Datum, S. 2–3. 12 BAB, Dok 6a: Erich Schmidt an Gustav Paeschke, Brief vom 23. Juli 1946.
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vorbereitende Ausschuss für die Gründung einer einheitlichen Berliner BuchhändlerOrganisation«13 zu einer gemeinsamen Buchhändlerversammlung ein, die am 12. August 1946 im Kinosaal des Hauses Schlüterstraße 45 stattfand, in dem die Vereinigung im britischen Sektor inzwischen ihre Geschäftsstelle hatte. Das Gebäude, bis Kriegsende Sitz der Reichskulturkammer, beherbergte nach 1945 verschiedene Kultureinrichtungen, u. a. den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Zu dieser Sitzung waren alle Verleger von Gross-Berlin und zehn Buchhändler aus jedem Sektor eingeladen. Ebenfalls anwesend waren die Vertreter der britischen und amerikanischen MilitärRegierung, Major Steward und Mr. Bleichstein. Dr. Erich Schmidt eröffnete die Sitzung mit einer Grundsatzrede und gab darin bekannt, dass in einer nicht näher datierten Vorbesprechung zu dieser Sitzung auch die Vertreter aus dem russischen und französischen Sektor die Gründung einer Gross-Berliner Vereinigung befürwortet hatten. Im ausführlichen Sitzungsprotokoll ist festgehalten: »Durch Erheben der Hand gaben die Sitzungsteilnehmer einmütig ihrer Auffassung Ausdruck, dass sie einer einheitlichen Gross-Berliner Buchhändler-Organisation zustimmen und sie für begrüßenswert halten.«14 Anschließend trug Erich Schmidt einen von ihm vorbereiteten, acht Punkte umfassenden Beschluss vor. Gegen die Abstimmung über diesen Beschluss regte sich Widerstand aus dem französischen und russischen Sektor. Deren Vertreter sahen in dem Beschluss bereits die Vorwegnahme der Entscheidung über eine zukünftige Satzung. Dr. Erich Schmidt ließ daraufhin laut Sitzungsprotokoll über die acht Punkte nicht abstimmen, legte sie aber dem Protokoll unter der Überschrift »Beschlüsse« als Anlage bei und leitete diese Anlage mit folgender Bemerkung ein: »Die am 12. August 1946 versammelten Verleger und Buchhändler Berlins haben folgende Beschlüsse gefasst.« Die Beschlüsse regelten die Zusammensetzung eines vorläufigen Vorstandes, der aus je drei Vertretern der vier Sektoren bestehen sollte. Ferner wurde dieser vorläufige Vorstand ermächtigt, den Satzungsentwurf des einheitlichen Vereins aufzustellen. Ferner war darin festgehalten, dass die Satzung durch eine Delegiertenversammlung endgültig genehmigt werden sollte, die als konstituierende Generalversammlung des Vereins zusammenzutreten habe. Zu dieser für den 2. September 1946 vorgesehenen Delegiertenversammlung sollten die Vereinigungen der Verleger und Buchhändler in den vier Sektoren je 25 stimmberechtigte Delegierte entsenden. Der letzte Beschlusspunkt regelte, dass die Sektorenvereinigungen nach Gründung des einheitlichen Vereins zu Sektoren-Abteilungen des Vereins werden sollten. Obwohl Erich Schmidt ohne eine Abstimmung über die acht Punkte nach Hause gehen musste, handelten er und seine Vorstandsmitglieder ab sofort nach diesem Fahrplan.
Keine Kohlen fürs Büro! Verschiedene Verbandsmitteilungen aus dieser Zeit spiegeln die Probleme der Branche ein Jahr nach Kriegsende wider. Ausführlich werden darin beispielsweise offizielle Transportmöglichkeiten im Interzonenverkehr beschrieben. Ein immer wiederkehrendes
13 BAB, Dok 7.2: Einladung zur gemeinsamen Buchhändlerversammlung vom 6. August 1946. 14 BAB, Dok 8: Niederschrift über die gemeinsame Buchhändler-Versammlung aller Berliner Sektoren, ohne Datum, S. 3.
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Thema war der in Entwicklung befindliche Normal-Verlags-Vertrag, der zwischen den Vereinigungen und dem Schutzverband Deutscher Autoren (SDA) ausgehandelt wurde. Hinweise auf Zeitschriften, die Buchbesprechungen veröffentlichten, zeugten von der langsam beginnenden Pressearbeit in den Verlagen. Die Buchhandlungen wurden darauf hingewiesen, dass alle Verlage im britischen Sektor die Anweisung erhalten hatten, bei allen zur Auslieferung gelangenden Werken, die für Leihbüchereien geeignet sind, zunächst die Leihbüchereien zu beliefern. Die Besitzer von Leihbüchereien, die gleichzeitig ein Sortiment führen, sind ihrerseits verpflichtet, dass sie die für die Leihbüchereien geeigneten Werke in ihre Leihbüchereien einstellen. Nur wenn darüber hinaus von den Verlagen Exemplare geliefert werden können, darf der Verkauf im Sortiment erfolgen. In erster Linie muss also dafür gesorgt werden, dass durch das Einstellen der Werke in die Leihbücherei die Werke 15 einem möglichst breiten Leserkreis zugänglich gemacht werden.
In diesem Rundschreiben vom 29. August 1946 wurde weiter darauf hingewiesen, dass im kommenden Winter nicht damit zu rechnen war, dass Büros, Läden usw. mit Kohlen beliefert werden. Es sollte sich also jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst versorgen. Die Verlegermitteilungen informierten die Mitglieder über Versuche, für lizenzierte Verleger eine bessere Einstufung bei der Lebensmittelkartenausgabe zu erreichen. Ferner beabsichtigt man Verhandlungen über die Beschaffung von ehemaligen Pulverkisten zu führen, die dann als Transportkisten eingesetzt werden können.16
Die Gründung einer Vereinigung im sowjetischen Sektor Am 30. August 1946 erging schließlich auch ein Aufruf zur Gründung eines Berliner Verleger- und Buchhändler-Vereins im sowjetischen Sektor an die dortigen Buchhändler und Verleger. Der Einladung zu einem Treffen am 11. September 1946 war ein Satzungsentwurf beigefügt. In der Einladung hieß es: Da die Gründung unseres Sektorenvereins nach demokratischen Grundsätzen erfolgen soll, bitten wir Sie, den Satzungsentwurf zu prüfen und Ergänzungs- und Abänderungsvorschläge, die auf der Gründungsversammlung zur Diskussion gestellt werden können, spätestens bis Montag, dem 9. September 1946, in der Altberliner Bücherstube Lucie Großer, Berlin C 2, 17 Neue Schönhauser Straße 8, abzugeben.
Die Sitzung war sehr gut besucht. Die Tägliche Rundschau berichtete in ihrer Ausgabe vom 12. September 1946, dass »einige hundert Verleger, Sortiments- und Grossobuchhändler sowie Inhaber von Leihbüchereien aus dem sowjetischen Sektor Berlins«18 zusammengetroffen waren, um die Vereinigung zu gründen. Für das weitere Geschehen
15 BAB, Dok 34: Rundschreiben der Deutschen Verleger- und Buchhändlervereinigung vom 29. August 1946. 16 BAB, Dok 9a, S. 2 und (unpaginiert) S. 5: Rundschreiben der Vereinigung der Verleger und Buchhändler im amerikanischen Sektor Berlins vom 11. Oktober 1946. 17 BAB, Dok 10: Einladung vom Vorbereitenden Ausschuss zur Gründung des Berliner Verleger- und Buchhändlervereins vom 30. August 1946. 18 BAB, Dok 10a: Tägliche Rundschau vom 12. September 1946.
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ist bemerkenswert, dass sich die auf dieser Gründungsversammlung angenommene Satzung in einem sehr wichtigen Punkt von den Satzungen der bisher gegründeten beiden anderen Sektorenvereinigungen unterschied. Ernst Umlauff stellt dazu fest: Nur in einem, freilich äußerst wichtigen Punkte wich sie von jenen ab, sie lehnte sich insoweit vielmehr an die Satzung an, die in jenem Zeitpunkt der Börsenverein in Leipzig sich zu geben im Begriffe war: einer Verankerung nämlich des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) und der Abteilung für Volksbildung des Magistrats der Stadt Berlin in der Vereinigung durch Entsendung von Vertretern in den aus sieben ›Beiräten‹ bestehenden ›Hauptausschuss‹, der de facto ein wichtigeres Organ der Vereinigung bildete als der Vorstand, denn dieser war gehalten, in allen wichtigen Angelegenheiten die Zustimmung des Hauptausschus19 ses einzuholen.
Damit hatte der Magistrat von Berlin zunächst ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg zur Einflussnahme auf die Politik einer Gesamtberliner Vereinigung erreicht. Zumindest in einer der bisher existierenden Sektorenvereinigungen waren er und der FDGB mit Sitz und Stimme im entscheidenden Gremium vertreten.
Die Gründung einer Vereinigung im französischen Sektor Der weiteren Chronologie etwas vorgreifend, soll hier auch kurz die Gründung einer Verleger- und Buchhändlervereinigung im französischen Sektor Berlins skizziert werden. Mehr als eine Skizze kann tatsächlich nicht gegeben werden, da im Unterschied zu den Gründungen in den drei anderen Sektoren hierzu kaum Dokumente vorliegen. Am 9. November 1946 schrieb Wilhelm Daene aus Tegel an Erich Schmidt einen Brief mit diesem Wortlaut: Nachdem sich der größte Teil unserer Berufskollegen für die Gründung unserer Fachorganisation im französischen Sektor Berlins schriftlich erklärt hat, haben wir erneut einen entsprechenden Antrag bei der französischen Kommandantur gestellt. Da jedoch noch nicht abzusehen ist, wann die Genehmigung erteilt wird und die Bildung der Berliner Gesamtorganisation nun endlich erfolgen kann, benennen wir Ihnen nachstehend, vorbehaltlich der späteren Genehmigung durch die Generalversammlung der Sektorenvereinigung, drei Herren zur Beset20 zung der im Vorstand für uns vorgesehenen Positionen.
Danach folgt eine namentliche Aufstellung der insgesamt fünfundzwanzig Personen, die als Delegierte des französischen Sektors an der Bildung einer Gesamtberliner Vereinigung mitwirken sollen. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wer diese Delegierten ernannt hatte. Unter ihnen fanden sich immerhin drei Frauen, der Einfachheit halber wurden aber alle fünfundzwanzig Delegierten als Herren tituliert. Wann es zur Gründung einer Verleger- und Buchhändlervereinigung im französischen Sektor kam (und ob überhaupt), scheint ungewiss. Auch Umlauff formuliert hierzu in seiner umfassenden Monographie sehr vage: »Im französisch besetzten Sektor kam
19 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 192. 20 BAB, Dok 17: Wilhelm Daene an Dr. Erich Schmidt, Brief vom 9. November 1946.
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es erst Jahre später [also Jahre nach Oktober 1946] zur Bildung einer Sektoren-Vereinigung, die zudem handelnd kaum in Erscheinung getreten ist.«21
Auf dem Weg zu einer Gesamtberliner Vereinigung Auf drei intersektoralen Treffen wurde nach dem Sommer 1946 die Gründung einer einheitlichen Vereinigung zügig vorangetrieben. Am 26. September 1946 traf sich der Vorbereitende Ausschuss zur Gründung einer einheitlichen Verleger- und Buchhändlervereinigung für Gross-Berlin in der Schlüterstraße 45. Dieser Sitzung folgte am 3. Oktober 1946 ein Treffen der Vorsitzenden der drei Sektorenverbände mit Wilhelm Daene als Vertreter der Buchhändler und Verleger aus dem französischen Sektor, in dem es immer noch keine eigene Vereinigung gab. Schließlich fand am 17. Oktober 1946 eine Vorstände-Konferenz aller Sektoren-Abteilungen statt. In allen Sitzungen ging es hauptsächlich um Satzungsfragen, hinter denen sich allerdings auch die bereits beschriebenen politischen Richtungskämpfe verbargen. Der kommunistisch dominierte Berliner Magistrat agierte auf zwei Ebenen. Zunächst versuchte er, eine Gesamtberliner Vereinigung zu verhindern bzw. deren Gründung zu verzögern. Deshalb wurde Dr. Erich Schmidt mitgeteilt, dass der Beschluss der Alliierten Kommandantur vom 16. Juli 1946 so auszulegen sei, dass eine Gross-Berliner Vereinigung erst etabliert werden könne, wenn in allen vier Sektoren Buchhändler-Vereinigungen gegründet worden seien. Man wollte sich damit die umständliche Vorgehensweise der französischen Administration zunutze machen, deren Gewohnheit es war, alle administrativen Entscheidungen mit der Regierung in Paris abzusprechen. Dies verzögerte lange Zeit die Gründung einer BuchhändlerVereinigung im französischen Sektor. Die Alliierte Kommandantur wies diese Interpretation jedoch zurück.22 Da sich die Bildung einer Gross-Berliner Vereinigung offensichtlich kaum noch verhindern ließ, setzte der Magistrat den Vorstand der Vereinigung im sowjetischen Sektor unter Druck. Er sollte darauf hinwirken, dass ein Vertreter des Magistrats von Berlin, Abteilung Volksbildung, einen Sitz in einem zu schaffenden Beirat oder Aufsichtsrat zusammen mit Vertretern des FDGB erhielt, wie es in der Satzung der Vereinigung im sowjetischen Sektor geregelt war. In einer Sitzung am 17. Oktober erklärte Herr Wegener aus dem sowjetischen Sektor, »dass es für die Verleger und Buchhändler im russischen Sektor unbedingt erforderlich sei, die Frage des Beirats in die Satzung hineinzubringen, zumal für die Kollegen aus dem russischen Sektor eine engere Bindung zum Magistrat bestehe als in den übrigen Sektoren Berlins. Schon in der Papierfrage bestehe eine gewisse Abhängigkeit vom Magistrat, da von der russischen Militärverwaltung nichts unternommen werde ohne die Befürwortung des Magistrats.«23 Zahlreiche andere Satzungsänderungsvorschläge belegen den Versuch der Abteilung Volksbildung des Magistrats, Einfluss auf die einheitliche Vereinigung zu nehmen. Dazu gehören die Anträge, Angestellten die Mitglied-
21 Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, Sp. 192. 22 BAB, Dok 24, S. 3: Niederschrift über die Besprechung des vorbereitenden Ausschusses zur Gründung einer einheitlichen Verleger- und Buchhändlervereinigung für Gross-Berlin vom 26. September 1946. 23 BAB, Dok 12a, S. 2: Niederschrift über die Vorstände-Konferenz der vier Sektoren-Abteilungen am 17. Oktober 1946.
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schaft zu ermöglichen, als Grundlage für die Satzung der Gross-Berliner Vereinigung die der Vereinigung im sowjetischen Sektor zu nehmen usw. In der Frage des Beirates wurde schließlich ein Kompromiss gefunden. In einer nicht zur Satzung gehörenden Geschäftsordnung der Vereinigung sollte geregelt werden, dass der Vorstand einen Beirat zum Zwecke der Beratung bilden kann. Diese weiche Kannbestimmung bediente die Interessen der Vertreter aus dem sowjetischen Sektor jedoch nicht ausreichend. Eine Abstimmung darüber fand mit 16 gegen 5 Stimmen statt. Die anderen Vorschläge wurden abgelehnt. Als Tag der Generalversammlung wurde der 21. November 1946 festgelegt, als Name Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung (BVB). Es wurde ferner besprochen, dass Erich Schmidt als Erster Vorsitzender kandidieren solle. Schließlich wurde bekräftigt, dass zur Generalversammlung je 25 stimmberechtigte Vertreter aus jedem Sektor Berlins einzuladen seien. Mit diesen Sitzungen endete die inhaltliche Phase der Vorbereitung der Generalversammlung.
Die letzten Vorbereitungen In den folgenden Wochen gingen in der Schlüterstraße 45 die Listen der Delegierten aus den vier Sektoren ein. In einer Sortimenterversammlung der Vereinigung im amerikanischen Sektor vom 1. November 1946 wurde neben der Delegiertenwahl zur bevorstehenden Gründungsversammlung der BVB die Weigerung verschiedener westdeutscher Verleger diskutiert, Bücher nach Berlin zu senden. Begründet wurde diese Weigerung mit dem Hinweis, Berlin läge in der russischen Zone. Gustav Paeschke kritisierte als Vertreter der Verleger im amerikanischen Sektor diesen Zustand und versprach solidarische Unterstützung und schriftliche Information der westdeutschen Kollegen.24 Dieses Thema wurde auch auf einer Versammlung der Vereinigung im britischen Sektor in der Schlüterstraße 45 am 7. November 1946 diskutiert. Zwei Delegierte der Vereinigung hatten eine Verlegerversammlung in Hannover besucht. Das Protokoll der Mitgliederversammlung schildert deren Eindrücke: Während wir uns in Berlin schwer darum mühen müssten, eine einheitliche Fachorganisation auf die Beine zu stellen, arbeite man dort in der britischen Zone mit den britischen Besatzungsbehörden und den deutschen Dienststellen im besten Einvernehmen. Allerdings habe diese Tatsache offenbar dazu verführt, nur noch innerhalb der eigenen Zonengrenze zu denken. Es sei allgemein zu beobachten gewesen, dass man den deutschen Osten einschl. Berlin abgeschrieben habe, was auch aus der Unterhaltung mit einem namhaften Verleger hervorge25 gangen sei. Für die Schwierigkeiten, die in Berlin bestanden, fehle jedes Verständnis.
Erich Schmidt erklärte in diesem Zusammenhang, »dass das Bestreben der Berliner Verlage dahin gehe, ins ganze Reich zu liefern, dass man aber andererseits dafür auch als Gegenleistung Lieferungen aus dem übrigen Reich nach Berlin verlangen müsse«.26 Später wurde festgestellt, dass innerhalb eines Jahres Bücher im Wert von RM 3,5 Millionen von Berliner Verlagen in den Westen verkauft werden, hingegen nur Bücher für
24 BAB, Dok 14, S. 2: Niederschrift über die Sortimenter-Versammlung am 1. November 1946. 25 BAB, Dok 16 c, S. 4: Niederschrift über die Mitgliederversammlung am 7. November 1946. 26 BAB, Dok 16 c, S. 6: Niederschrift über die Mitgliederversammlung am 7. November 1946.
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RM 170.000,– ihren Weg nach Berlin fanden. Am 9. November 1946 benannte, wie oben schon erwähnt, auch der französische Sektor seine Delegierten. Am 12. November 1946 konnte schließlich der vorbereitende Ausschuss für die Gründung einer einheitlichen Berliner Buchhändlerorganisation alle Delegierten zur Gründungs-Generalversammlung am Donnerstag, dem 21. November 1946, um 18.30 Uhr in den Kinosaal der Schlüterstraße 45 einladen. Mit der Einladung wurden der Satzungsentwurf und eine Delegiertenkarte versandt. Ein letzter Versuch des Magistrats, die Gründung einer einheitlichen Vereinigung zu verhindern, scheiterte am 14. November 1946. Zu diesem Tag lud die Gewerkschaft der kaufmännischen, Büro- und Verwaltungsangestellten im FDGB fünfhundert Betriebsräte und Angestellte zur Gründung einer Fachgruppe für die Angestellten im Buchhandel in die Volksgaststätte Blochwitz, Rosenthaler Straße 40–41, ein. Während die Tagesordnung die Sicherung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Angestellten und Lehrlinge im Buchhandel in den Vordergrund stellte, belegt das Gedächtnisprotokoll eines Teilnehmers, dass die Versammlungsleitung den Zusammenschluss aller Buchhandelsfirmen in Berlin in einem Verband hauptsächlich als eine »ganz reaktionäre Angelegenheit« hinstellen wollte. Das Gedächtnisprotokoll hält auch einen originellen Appell eines Redners auf der Versammlung fest: »Angestellte können nunmehr verhintern [!], dass Verlag und Buchhandel ›zur Dirne irgendwelcher geistigen Dinge werden können.‹«27 Einen Tag nach dieser Versammlung erhielt Erich Schmidt einen Anruf von einem anderen Teilnehmer der Versammlung. In einer Aktennotiz hielt er fest: »Herr Buttke vom Magistrat der Stadt Berlin erklärt, es müsse unter allen Umständen verhindert werden, dass der Zusammenschluss der Sektoren-Vereinigung der Verleger und Buchhändler von Berlin zustande käme.«28 Die Veranstaltung blieb jedoch ohne nennenswerte Folgen, sie wurde laut dem Gedächtnisprotokoll von lediglich 35 Teilnehmern besucht.
Die Gründung der Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung e.V. So fand schließlich nach intensiven Vorbereitungen am Donnerstag, dem 21. November 1946, die konstituierende Generalversammlung der einheitlichen Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung statt. Erich Schmidt eröffnete die Versammlung mit einer Rede über die Genese, die zur Gründung der Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung führte. Anschließend wurde nach kurzer Diskussion die Satzung von allen Delegierten angenommen. Die Vorstandswahl bestimmte erwartungsgemäß Erich Schmidt zum 1. Vorsitzenden der BVB. Nach einigen Ausführungen zum Stand der Verhandlungen mit dem Preisamt über die Preisgestaltung im Antiquariatsgeschäft meldete sich ein Vertreter des Magistrats, um in dessen Namen eine Erklärung abzugeben. Es handelt sich pikanterweise um den Referenten für das Verlagswesen Carl Buttke, der noch eine Woche zuvor den nun vollzogenen Zusammenschluss verhindern wollte.
27 BAB, Dok 37 b, S. 1: Versammlung der »Gewerkschaft der kfm. Büro- und Verwaltungsangestellten« im »Freien Deutschen Gewerkschaftsbund«, 14. 11. 46. 28 BAB, Dok 27: Aktennotiz! von Dr. Erich Schmidt vom 15. November 1946.
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Er betonte, dass es dem Berliner Magistrat fern gelegen habe, eine Art Diktatur über die Verleger und Buchhändler auszuüben […] Der Magistrat selbst habe das größte Interesse an einem Zusammenschluss des Berliner Buchhandels gehabt und diesen auch schon vor langer Zeit angeregt […]. Jedenfalls werde der Berliner Magistrat weiterhin bemüht sein, die Interes29 sen der Verleger und Buchhändler aufs beste wahrzunehmen.
Mit der Gründung der BVB endet die Geschichte der Sektoren-Verbände als selbständige Einrichtungen, sie gingen in der BVB als deren Sektoren-Abteilungen auf. Es gab nun einen Gross-Berliner Verband, der den Osten und den Westen Berlins verband. Am 22. November informierten ein zweiseitiges Rundschreiben und eine verkürzte einseitige Meldung über die Gründung der BVB.30 Deren Adressaten sind unklar, denn die Mitglieder wurden durch ein Rundschreiben vom 3. Dezember 1946 in Kenntnis gesetzt. Es informierte über die Ergebnisse der Versammlung vom 21. November und vergaß nicht darauf hinzuweisen, dass die Sektorenvereinigungen als selbständige Vereine nicht mehr existieren. »Durch Ihre Zugehörigkeit zu Ihrer bisherigen Sektorenvereinigung haben Sie die Mitgliedschaft in unserer BVB automatisch erworben.«31 Mitglieder waren übrigens noch Personen, nicht wie seit vielen Jahren Firmen. Am 11. Dezember 1946 teilte Erich Schmidt der Alliierten Kommandantur schriftlich mit, »dass sich am 21. November in Berlin die Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung durch einstimmigen Beschluss der Delegierten aller vier Sektoren gebildet hat«32 und fügte dem Schreiben die Satzung bei. Am 14. Januar 1947 teilte Herr Dr. Reimer den Mitgliedern der BVB mit, dass er durch Beschluss des Vorstandes vom 19. Dezember 1946 zum Geschäftsführer der Vereinigung bestellt worden ist und Montag, Mittwoch und Freitag zwischen 9 und 17 Uhr »zweckmäßig nach vorheriger telefonischer Vereinbarung«33 erreichbar sei. Als Mitarbeiter der Geschäftsführung wurde vom Vorstand Herr Haefner bestellt, der im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten ohne Einschränkung sechs Tage die Woche im Büro zu erreichen war. Die Anerkennung der Berliner Verleger- und Buchhändler-Vereinigung als »nichtpolitische Organisation«34 von der Alliierten Kommandantur Berlin erfolgte durch ein Schreiben an den Oberbürgermeister der Stadt Berlin allerdings erst am 20. November 1947, unterschrieben vom Vorsitzführenden Stabschef, Oberstleutnant Sudakov.
29 BAB, Dok 22, S. 4–5: Niederschrift über die konstituierende Generalversammlung der einheitlichen Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung am 21. Nov. 1946 um 18 ½ Uhr in der Schlüterstr. 45 (Kinosaal). 30 BAB, Dok 22f und 22g: Einheitlicher Zusammenschluß des Berliner Buchhandels! Und Gründung der Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung, jeweils 22. November 1946. 31 BAB, Dok 38, S. 1: Mitteilung der Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung vom 3. Dezember 1946. 32 BAB, Dok 23: Brief von Dr. Erich Schmidt an die Alliierte Kommandantur vom 11. Dezember 1946. 33 BAB, Dok 41: Mitteilung der Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung vom 14. Januar 1947. 34 BAB, Dok 21a: Brief der Alliierten Kommandantur an de Oberbürgermeister der Stadt Berlin vom 20. November 1947.
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Die Ausstellung »Das neue Buch« in Berlin Das zentrale Ereignis für die BVB im Jahr 1947 war die Deutsche Buchausstellung Berlin »Das neue Buch«, die vom 7. Juni bis 20. Juli 1947 im Schloss Charlottenburg stattfand. Sie wurde von der BVB in Zusammenarbeit mit dem Magistrat von Berlin unter der Schirmherrschaft der britischen Militärregierung veranstaltet. Der zur Ausstellung erschienene, von Andreas Wolff zusammengestellte Katalog der Neuerscheinungen 1945–1947 verzeichnete an die 6.000 Buchtitel, darunter etwa 1.500 belletristische Werke.35 400 Verlage aus ganz Deutschland, das waren etwa 65 % der zu diesem Zeitpunkt zugelassenen Verlage, stellten der Ausstellung ca. 3.000 Bücher zur Verfügung. Der Anteil Berlins mit 800 Büchern war ein gewichtiger Beitrag. Für das Berliner Verlagswesen brachte die Ausstellung einen wichtigen Impuls, mit dem sich die Hoffnung auf einen Neuanfang verband. In seinem Grußwort im Ausstellungskatalog schrieb Erich Schmidt: Wir alle stehen mitten im Leben. Wir kennen die tägliche materielle Sorge. Sie und die seelische Not unserer Tage kann nur ein geistig-kultureller Neubau überwinden. Deshalb ruft Berlin zu einer großen deutschen Buchausstellung 1947. Sie zeigt, dass in der knappen Zeit von zwei Jahren ein Anfang gemacht ist. Das lässt uns Vergleiche ziehen gegenüber dem 36 Gestern, das gibt uns Mut und Zuversicht für das Morgen.
Peter Suhrkamp schrieb in seinem Artikel »Überblick und Besinnung« an selber Stelle Ist der Anfang richtig gemacht? – Was kann geschehen, damit etwas Richtiges daraus wird? Antworten auf diese beiden Fragen zu suchen, ist das Programm der Berliner Ausstellung ›Das neue Buch‹. Mit ihr wird also nicht der übliche Anspruch einer Leistungs- oder Werbeschau erhoben. An Propaganda irgendwelcher Art ist nicht gedacht. [...] Wir haben zu viele falsche Anfänge hinter uns. Verkehrte und unmäßige Bestrebungen haben immer wieder zu Zusammenbrüchen geführt. Wir haben es wiederholt probiert mit Ansprüchen gegen die Welt um uns her unter Berufung auf eine Mission – und sind gescheitert. Wenn wir noch einmal anfangen, ist das nicht zuletzt ein Geschenk [...]. Der Überblick über das bisher Fertiggewordene zeigt, dass überall gehörige Anstrengungen gemacht worden sind. Hinter dem, was 37 ausgestellt ist, liegt verborgen der Ringkampf in einer völlig zertrümmerten Welt.«
In verschiedenen Gremien und Sitzungen wurden die Buchausstellung und ihr umfangreiches Begleitprogramm vorbereitet. Dabei wurde darum gebeten, Sortiments-Kollegen aus der Provinz als Gast zu beherbergen. Ferner sollten sich das Berliner Sortiment und die Verlage beim Aufbau der Ausstellung und nach Möglichkeit auch beim Aufsichtsdienst während der Ausstellung beteiligen. Schließlich wurde das Sortiment um Werbung für die Ausstellung und die begleitenden Vorträge und Leseabende durch Aushang der Plakate, Sonderfenster und Versendung der Einladungen an die Stammkundschaft gebeten. Am 7. Juni 1947, einem Samstag, wurde die Buchausstellung der Öffentlichkeit übergeben. Im Namen der britischen Militärregierung begrüßte der Militärgouverneur die Aussteller und dankte seinen alliierten Kollegen für ihre Unterstützung beim Zustan-
35 Wolf (Red.): Das neue Buch. 36 Schürenberg (Red.): Das neue Buch, S. 5. 37 Schürenberg (Red.): Das neue Buch, S. 15–16.
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Abb. 1: Das neue Buch. Katalog der Neuerscheinungen 1945–1947. Herausgegeben von der Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung zur Deutschen Buchausstellung in Berlin 1947, Titelblatt.
dekommen dieser umfassenden Schau, bei der auch 700 Übersetzungen aus dem Ausland dem deutschen Buchschaffen gegenübergestellt werden konnten. Der Präsident des Internationalen Verleger-Kongresses, der Londoner Verleger Sir Stanley Unwin, umriss die europäische Buchsituation und wies darauf hin, dass die Papierknappheit nicht nur den deutschen Verlagen Sorgen mache, sondern ebenso in England vorherrsche. Die Verleger sollten sich bewusst machen, dass die Bücher von heute die Taten von morgen seien und dementsprechend arbeiten. Aus Anlass der Eröffnung wurde am Sonntag, dem 8. Juni 1947, in der Städtischen Oper in der Kantstraße eine Feierstunde des Berliner Buchhandels abgehalten. Ein kulturelles Rahmenprogramm mit Reden von Anna Seghers und Felix Lusset und Vorträgen über Ernst Barlach, Hermann Hesse, Georg Trakl und anderen rundeten das Ausstellungsprogramm ab.
Die ersten Buchhändlertage 1947 in Berlin Parallel zur Buchausstellung, und das ist aus heutiger Sicht besonders bemerkenswert, fanden vom 16. und 17. Juli 1947 die ersten »Buchhändlertage« statt, zu denen Verleger und Sortimenter aus ganz Deutschland anreisten. Neben einer Verleger- und einer Buch-
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händler-Tagung fand die erste Vorstände-Konferenz der Buchhandels-Organisationen nach dem Krieg statt, zu der Vorstandmitglieder aus allen Landesverbänden anreisten. (Der Börsenverein war im Westen noch nicht wieder gegründet worden.) Die Tagung wurde ein großer Erfolg für den Berliner Verband und dessen Vorsitzenden Erich Schmidt, der die Verleger-Tagung und die Vorstände-Konferenz leitete. Auf allen Sitzungen wurden grundlegende und weitreichende Beschlüsse gefasst. Über die wohl wichtigste Entschließung der Tagung berichtet das Börsenblatt: Von den Vertretern aller Organisationen wurde die Notwendigkeit betont, eine Stelle zu schaffen, die berechtigt ist, im Namen des gesamten deutschen Buchhandels zu sprechen und die dafür Sorge trägt, daß die Maßnahmen der einzelnen Landesverbände aufeinander abgestimmt werden. Es wurde der Beschluß gefasst, einen Koordinierungsausschuss einzusetzen, dessen Federführung bei der Berliner Verleger- und Buchhändler- Vereinigung W 15, Schlüterstraße 45, liegt. [...] Dieser einstimmig gefasste Beschluß ist für den gesamten deutschen Buch38 handel von größter Bedeutung.
Eine zweite »Vorstände-Konferenz«, zu der bereits eingeladen war, musste 1948 wegen der Blockade Berlins abgesagt werden. Die herausragende Rolle Berlins bei der Konstituierung einer überregionalen buchhändlerischen Standesorganisation war damit beendet. Zum Zentrum dieser Neuorganisation entwickelte sich Frankfurt am Main. Auf dem Weg dorthin erfolgte 1948 der Zusammenschluss der buchhändlerischen Landesverbände der amerikanischen und britischen Besatzungszonen, woraus die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verleger- und Buchhändler-Verbände hervorging, die 1955 in Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit Sitz in Frankfurt am Main umbenannt wurde.39 In der Sowjetischen Besatzungszone hatte die Militäradministration bereits 1946 die Erlaubnis zum Wiederaufbau des Börsenvereins erteilt, doch war die politisch kontrollierte Berufsorganisation in Leipzig kein eigenständiger Wirtschaftsverband mehr. Er verfügte auch über keine Regionalorganisationen. Nach der Friedlichen Revolution 1989/90 in der DDR erweiterte sich der WestBerliner Verband um die Mitglieder in Ost-Berlin und in Brandenburg, sodass zusammen mit der Fusion der beiden Börsenvereine zum 1. Januar 1991 auch der neue Verleger- und Buchhändlerverband Berlin-Brandenburg e.V., 1995 umbenannt in Verband der Verlage und Buchhandlungen Berlin-Brandenburg e.V., entstand, der bis heute als Börsenverein des Deutschen Buchhandels Landesverband Berlin-Brandenburg e.V. aktiv ist.40
38 Erich Schmidt: Die Berliner Tagungen des deutschen Buchhandels. In: Börsenblatt (Leipzig), Nr. 15/1947 (recte 18/1947), S. 221. 39 Zum Börsenverein siehe auch Kapitel 1.4 Der Leipziger Börsenverein (Reimar Riese) in diesem Band. 40 Siehe hierzu: Christoph Links: Neugründung statt Anschluss. Wie der Landesverband BerlinBrandenburg im Umbruchjahr 1990 Maßstäbe setzte, https://buecherheroes.de/index.php/neu gruendung-statt-anschluss/ (Aufruf am 9. 10. 2021).
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Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Landesverband Berlin-Brandenburg e.V., Berlin (BAB) Akte Verbandsgründung
Gedruckte Quellen WOLFF, Andreas (Red.): Das neue Buch. Katalog der Neuerscheinungen 1945 – Mai 1947. Berlin: Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung 1947. SCHÜRENBERG, Walter (Red.): Das neue Buch. Programm. Berlin: Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung 1947. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Leipzig) 113 (1946) – 115 (1948). LEONHARD, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1955
Forschungsliteratur KRAUSE, Rudolf: Buch und Buchproduktion in der Viersektorenstadt. Ein Überblick. In: Ursula Heukenkamp (Hrsg.): Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945–1949. Berlin: Erich Schmidt 1996, S. 129–145. SCHIVELBUSCH, Wolfgang: Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945–1948. München/Wien: Hanser 1995 UMLAUFF, Ernst: Der Wiederaufbau des Buchhandels. Beiträge zur Geschichte des Büchermarktes in Westdeutschland nach 1945. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1978 (Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. XVII).
Julia Frohn
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Der DDR-Buchhandel und der Blick nach drüben – eine asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte
Einleitung und theoretische Verortung Laut Christoph Kleßmann, dessen Theorie der »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte«1 die deutsch-deutsche Geschichtsschreibung nachhaltig geprägt hat, ist die »DDR-Geschichte nur verständlich im Rahmen des ungeheuer starken Soges, den die ökonomisch mächtige und politisch attraktive Bundesrepublik in unmittelbarer Nachbarschaft ausübte«.2 Gleichermaßen betont Kleßmann, dass auch die Existenz des kommunistischen Nachbarstaates »direkt wie indirekt auf die Bundesrepublik«3 zurückwirkte – eine Buchhandelsgeschichte der DDR kann diesen Annahmen zufolge also kaum ohne den Blick »nach drüben« auskommen. In diesem Beitrag wird der deutsch-deutsche Buchhandel und -austausch im Feld der »schönen Literatur«4 dargestellt, wobei Kleßmanns These der asymmetrisch verflochtenen Parallelität als Gliederungslogik dient. Dabei soll weder die Selbstverständlichkeit der Trennung, die laut Kleßmann ab den sechziger Jahren im geteilten Deutschland vorherrschte, noch eine rückblickend als scheinbar deterministisch angenommene Vereinigung, wie sie womöglich naheliegt und lockt, als Leitprinzip fungieren. Stattdessen dienen die sechs von Kleßmann definierten Zäsuren als theoretische Basis, um die Fülle der Kontakte, Verflechtungen und Abgrenzungen zu systematisieren. Sie lauten »Chance zum Neubeginn«, »Blockbildung und innere Folgen«, »Eigendynamik der beiden Staaten«, »Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung«, »Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften« und »Erosionserscheinungen«.5 Die Stufen weisen zu großen Teilen eine inhärente Chronologie der Ereignisse auf, sodass der Unterteilung eine zeitliche Abfolge von 1945 bis 1990 innewohnt, wobei auch die einzelnen Abschnitte jeweils chronologisch aufgebaut sind, auch wenn es zwischen ihnen zu Vor-
1 Häufig wird die Formel Kleßmanns Aufsatz »Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte« zugeschrieben, in welchem Kleßmann die Wortgruppe allerdings nicht verwendet. Stattdessen hat die vielzitierte Formel wohl ihren Ursprung im Vorwort von Kleßmann et al. (Hrsg.): Deutsche Vergangenheiten. 2 Kleßmann: Verflechtung und Abgrenzung, S. 40. 3 Kleßmann, S. 40. 4 In diesem Beitrag liegt der Fokus auf kulturpolitischen Vorgängen sowie dem Literaturaustausch im Bereich der Belletristik, der in der Produktion einen Großteil (ca. 35 %) der gesamten Literaturproduktion ausmachte. Die Buchherstellung sowie der deutsch-deutsche Austausch von wissenschaftlicher und fachlicher Literatur ist nicht Teil dieser Darstellung. 5 Diese sechs Richtlinien wurden erstmals in Kleßmanns Arbeit Konturen einer integrierten Nachkriegsgeschichte aufgestellt und schließlich im Aufsatz Spaltung und Verflechtung im Sammelband Teilung und Integration erneut aufgegriffen, wobei sich die Formulierungen marginal unterscheiden. Dier hier zitierten Richtlinien entstammen dem letztgenannten Text. https://doi.org/10.1515/9783110471229-008
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und Rückgriffen kommt. Dazu muss hervorgehoben werden, dass diese Bezugsfelder keineswegs trennscharf zu verhandeln sind – vielmehr sind sie als eine Heuristik deutsch-deutscher Zeitgeschichte zu verstehen, die eine Ordnung des Untersuchungsgegenstands bei gleichzeitiger Wahrung seiner Komplexität versprechen. Im Rahmen dieser Darstellung überschneiden sich die Stufen zum Teil, bedingen vielerorts einander und werden – wie auch bei Kleßmann selbst – mal umfangreicher und mal kürzer verhandelt. Auf Basis der einschlägigen Literatur6 zum Thema, die – nach schleppender Anlaufzeit – in den letzten Jahren um aufschlussreiche neue Beiträge7 angewachsen ist, sowie anhand von Archivfunden sollen hier (kultur-)politische, wirtschaftliche und literaturbezogene Prozesse im geteilten Deutschland untersucht werden. Innerhalb dieses Problemaufrisses gilt es einerseits, die Aspekte gesamtdeutscher Bemühungen im DDR-Literaturbetrieb und -austausch aufzuspüren und aufzuarbeiten, gleichzeitig sie jedoch nicht mit dem retrospektiven Wissen über die Vereinigung 1990 fehl- bzw. umzudeuten. Dabei werden diejenigen Bemühungen besonders hervorgehoben, die eher die Ausnahme denn die Regel darstellten – im Kern waren die Beziehungen stark auf Abgrenzung und nicht auf Kooperation und Gemeinsamkeit ausgerichtet. So konnte laut Kleßmann die DDR »nur in Abgrenzung von ihrem westdeutschen Gegenüber existieren und war doch historisch und ökonomisch eng mit ihm nolens volens verbunden. Der wechselseitige Bezug war zu allen Zeiten asymmetrisch. Die Bundesrepublik konnte problemlos ohne die DDR existieren.«8 Zum Abschluss dieses Beitrags wird allen drei Aspekten der »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte« in Form eines Fazits Rechnung getragen: der Asymmetrie, die sich spätestens mit der Währungsreform manifestierte und dadurch insbesondere für die Buchherstellung und -distribution in der DDR von enormer Bedeutung war; der Verflechtung, die elementarer Bestandteil des literarischen Feldes DDR9 war; und schließlich der Parallelität, die einen (mal mehr, mal weniger) geordneten Literaturaustausch zwischen beiden Teilen Deutschlands überhaupt erst ermöglichte und wohl z. T. konstitutiv für den DDR-Literaturbetrieb war.
Chance zum Neubeginn Die Chance zum Neubeginn, die Kleßmann zuvorderst der geteilten Erfahrung der Kapitulation am 8. Mai 1945 zuschreibt, war trotz der »gravierenden Unterschiede der Entna-
6 Behn: DDR-Literatur in der Bundesrepublik; Berbig: Stille Post; Umlauff: Wiederaufbau; Streul: Westdeutsche Literatur in der DDR; Wittman: Geschichte des deutschen Buchhandels; Lehmstedt/Lokatis (Hrsg.): Das Loch in der Mauer; Estermann/Lersch (Hrsg.): Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren; Links: Das Schicksal der DDR-Verlage; Peitsch: Nachkriegsliteratur 1945–1989; Frohn: Literaturaustausch. 7 Vgl. z. B. Ulmer: VEB-Luchterhand; Seemann: Parallelverlage. 8 Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 22. 9 Die Formulierung »literarisches Feld DDR« ist aufgrund mangelnder Autonomie innerhalb der DDR strittig (siehe Wölfel: Literarisches Feld DDR), wird hier allerdings aufgrund der Abgeschlossenheit und des grundsätzlichen »Funktionierens« des DDR-Literaturbetriebs bewusst verwendet.
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zifizierungskonzepte und -prozeduren«10 in allen vier Besatzungszonen im Bereich der Buchproduktion von starken Einschränkungen geprägt. Diese waren zuerst den Folgen der Zerstörung geschuldet – allein in der Buchstadt Leipzig waren 1943 etwa 80 Prozent der Gebäude im »Graphischen Viertel« zerstört und damit 50 Millionen Büchern verbrannt worden.11 Ähnliche Verluste hatte man in den Westzonen zu verzeichnen,12 doch war die Lage in Leipzig aufgrund der dortigen Buchherstellungstradition besonders desaströs. Zudem erschwerten die – unterschiedlich umfangreichen – Reparationsleistungen vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die Wiederaufnahme des Buchbetriebes: Anlagen für Papierherstellung sowie für Buchdruck- und Binderei wurden demontiert und in die Sowjetunion überführt, wo entsprechende Infrastrukturen durch die Angriffe der deutschen Wehrmacht zerstört worden waren.13 Die eklatante Papierknappheit 14 führte wiederum in allen vier Zonen zu massiven Einschränkungen in der Buchproduktion, zumindest bis die Papierzuteilung im Zuge der Währungsreformen 1948 in den westlichen Zonen aufgehoben wurde. In der SBZ und späteren DDR wurde die zentralisierte Vergabe von Papierbeständen im Rahmen der sozialistischen Wirtschaftsplanung im Gegensatz dazu beibehalten und wirkte von Beginn an als elementare Förderungs- bzw. Zensurmaßnahme. Zensur von Druckwaren fand im Rahmen der Re-Education unmittelbar nach Kriegsende im gesamten deutschen Gebiet statt. In den westlichen Zonen verbot das Gesetz 191 in der Fassung vom 12. Mai 1945 das »Drucken, Erzeugen, Veröffentlichen, Vertreiben, Verkaufen und gewerbliche Verleihen von Zeitungen, Magazinen, Zeitschriften, Büchern, Broschüren, Plakaten, Musikalien und sonstigen gedruckten oder mechanisch vervielfältigten Veröffentlichungen«.15 Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) erließ ihrerseits im August 1945 den Befehl Nr. 19, der die Herstellung und Vervielfältigung von Druckerzeugnissen nur denjenigen Verlagen erlaubte, die explizit durch die Militärverwaltung genehmigt wurden. Eine solche Lizenz erhielten ausschließlich Verleger, »die politisch und charakterlich einwandfrei« waren, die »nicht mit oder für die Partei gearbeitet ha[tt]en, die mit den kulturellen und politischen Idealen der Alliierten grundlegend übereinstimm[t]en, und die gewillt und im Stande [waren], durch ihre Veröffentlichungen am Aufbau Deutschlands in diesem Sinne mitzuwirken«.16 So fand in allen vier Zonen im Jahr 1945 eine Vorzensur statt, nach welcher jede einzelne Veröffentlichung von den Alliierten zu genehmigen war. Die Interaktion zwischen »Siegern und Besiegten«,17 wie sie Kleßmann als charakteristisch für diese Phase herausstellt, sollte sich jedoch schnell unterschiedlich gestalten:
10 Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 27. 11 Vgl. Knopf/Titel: Der Leipziger Gutenbergweg, S. 39. 12 In Bayern etwa hatte die »Produktionskapazität der Werkdruckereien durch die Fliegerangriffe einen Ausfall von etwa 90 % erlitten.« In: Estermann/Lersch: Buch, Buchhandel und Rundfunk 1945–1949, S. 36. 13 Vgl. Seemann: Parallelverlage, S. 90. 14 Vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 31–32. 15 Zitiert nach: Umlauff: Wiederaufbau, Sp. 71. 16 Börsenblatt Nr. 1, 1945, zitiert nach: Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 55. 17 Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 27.
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Während die Lizenzierung in der SMAD und der daraus entstehenden DDR langfristig eine direkte Form der Zensur darstellte, wurden die rigiden Bestimmungen in den Westzonen zunehmend gelockert. Auch die Formen der Lizenzvergaben unterschieden sich: In den Westzonen gingen die ersten Lizenzen an Einzelpersonen – etwa Kurt Desch, Peter Suhrkamp und Ernst Rowohlt (der kurzzeitig sogar eine Verlagslizenz für den sowjetisch besetzten Teils Berlins erhielt) –, in der SBZ bekamen vorerst nur Verlagshäuser eine Lizenz, die an staatliche Organisationen gebunden waren.18 So nahm der »Neubeginn« unterschiedliche Wege, was auch durch die – unten ausführlicher dargestellte – Spaltung und Neugründung des Börsenvereins illustriert werden kann. Und doch gab es zahlreiche Versuche der interzonalen Zusammenarbeit unter deutschen Verlegern wie Ernst Reclam, Carl Hanser und Kurt Desch – von der Bielefelder »Interzonentagung der Vorstände der Deutschen Buchhändlerverbände« im Juli 1947, auf welcher der bis 1951 bestehende Koordinierungsausschuss gegründet wurde, bis hin zum Plan eines Gemeinschaftsverlages über alle vier Zonen hinweg, der u. a. mit einer gemeinsamen Neuauflage des Buchhandelsadressbuchs betraut werden sollte.19 Schon im März 1947 hatte Heinrich Becker, der stellvertretende Vorsteher des Börsenvereins der deutschen Buchhändler zu Leipzig, auf der Kundgebung »Deutsche Einheit und Buchhandel« an seine Kollegen appelliert, einheitliche Bedingungen in der Buchherstellung zu schaffen, um eine »möglichst baldige Wiederherstellung des uneingeschränkten innerdeutschen Buchverkehrs«20 zu erwirken. Ähnliche gesamtdeutsche Impulse betrafen die Literatur selbst, etwa die zonenübergreifende, von Alfred Kantorowicz herausgegebene literarische Zeitschrift Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit.21 Auch die Besuche westlicher Verleger auf der Leipziger Buchmesse 1947 und in den Folgejahren zeugten – trotz der Besuchsschwierigkeiten in die Gegenrichtung – von der Unteilbarkeit der deutschen Buchlandschaft. Die stetig voranschreitende Blockbildung, vorangetrieben durch die Interessenkonflikte der Besatzungsmächte, ließ sich mit derlei Bemühungen allerdings nicht abwenden.
Blockbildung und innere Folgen Mit den Worten »Wir sind der festen Überzeugung, dass wir durch unsere Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Wiedervereinigung des ganzen deutschen Volkes […]
18 Vgl. Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 168. Fünf dieser institutionell angebundenen Verlage erhielten noch 1945 eine Lizenz: Der SWA-Verlag der SMAD, der Verlag Neuer Weg (später Dietz Verlag) der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), der Aufbau-Verlag des Kulturbunds, der Deutsche Bauernverlag und der Volk und Wissen Verlag, der dem Staat selbst gehörte. Um die fortschreitende Abwanderung von Verlegern zu verhindern, lizenzierte die SMAD schließlich 1946 auch die ersten Privatverlagen, insbesondere im Wissenschafts- und Musikbereich. Vgl. auch Links: Schicksal der DDR-Verlage, S. 20. 19 Vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 47–51, sowie Seemann: Parallelverlage, S. 152–153 u. 392. Das Adressbuch erschien in einer Auflage 1948, danach wurde das Gemeinschaftsprojekt nicht mehr aufgegriffen. 20 Frohn: Literaturaustausch, S. 49. 21 Frohn: Versuche deutsch-deutscher Literaturzeitschriften 1945–1961, S. 425–433.
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leisten«,22 präsentierte der damalige Präsident des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, am 23. Mai 1949 das Grundgesetz der frisch gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Auch im Artikel 1 der DDR-Verfassung hieß es: »Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik«,23 sodass nach Gründung beider deutscher Staaten Vokabeln wie Einheit, Unteilbarkeit oder Wiedervereinigung weiterhin eine vordergründige Rolle in beiden Systemen spielte. Zwar etablierte sich die gelebte Zweistaatlichkeit unmittelbar nach der Übergangsperiode unter der Führung der Militäradministrationen, doch hielten Einheitsbestrebungen vorerst an. Dessen ungeachtet schritt die Blockbildung – bereits vor den Staatengründungen, wie die folgenschweren Währungsreformen von 1948 belegen – denkbar schnell, wenn auch ursprünglich eher als Provisorium begriffen, voran, und war insbesondere für die Buchherstellung in der späteren DDR von großer Reichweite. Mögliche finanzielle Einbrüche, die sich u. a. aus der undurchsichtigen Exportlage heraus ergaben und besonders die Unternehmen in der SMAD um ihre Existenz bangen ließen, spielten dabei wohl die gewichtigste Rolle. Zudem war es die eingeschränkte Lizenzierung von Verlagen, die in der Ostzone unmittelbar zu Protesten von Lehrkräften, Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern führte24 und zur westdeutschen Neugründung von Unternehmen beitrug. So wurden elementare Buchhandelsstrukturen in die westlichen Zonen überführt und in Hamburg, Frankfurt am Main, München und Stuttgart neue Kommissionsplätze aufgebaut.25 Viel weitreichender noch war die seit Kriegsende zunehmende Installation von »Zweigstellen« ostdeutscher Verlagshäuser in den Westzonen und der späteren Bundesrepublik, aus der ein stetiges Streitthema zwischen beiden Teilen Deutschlands im Bereich der Buchherstellung und -verbreitung erwachsen sollte: Viele der sogenannten Parallelverlage nahmen schon kurz nach Kriegsende ihre Arbeit auf. Wie kaum ein anderes Beispiel illustrieren sie die von Kleßmann als konstitutiv für die Ost-West-Beziehung angenommene Parallelität bzw. Verflechtung. Über die Verlage, die in Ost und West unter meist gleichem Namen bei unterschiedlicher Führung wirtschafteten, existieren inzwischen viele Arbeiten26 – wohl auch, weil die Entstehung dieser Häuser oft als paradigmatische Entwicklungsgeschichten innerhalb der Ost-West-Dynamik im getrennten Nachkriegsdeutschland verhandelt wird. Die Ursachen für eine Zweigstellengründung im westlichen Gebiet waren neben der eingeschränkten Lizenzierungspolitik vielfältig, lassen sich jedoch beinahe ausnahmslos als Folgen der zunehmenden Blockbildung darstellen.
22 Zitiert nach: Möller: Zwei deutsche Staaten, eine Nation, S. 16. 23 Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Artikel 1. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 1, 8. 10. 1949, S. 6. 24 Vgl. Ziermann: Der deutsche Buch- und Taschenbuchmarkt, S. 12. 25 Vgl. Seeman: Parallelverlage, S. 125. 26 Vgl. Seemann: Parallelverlage; Frohn: Literaturaustausch. Zu einzelnen Verlagen in Parallelität siehe z. B.: Bode (Hrsg.): 150 Jahre Reclam; Keiderling (Hrsg.): F. A. Brockhaus; Lokatis/ Sonntag (Hrsg.): 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage; Marquardt (Hrsg.): 100 Jahre Reclams Universalbibliothek; Sarkowski/Jeske: Der Insel Verlag; Sonntag: An den Grenzen des Möglichen; Wurm: 150 Jahre Rütten & Loening.
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Der wohl schwerwiegendste Grund für die Übersiedlung lag in der grundsätzlichen Sicherung und Fortführung des Unternehmens. Als sich im Laufe der Alliiertenpolitik in der Ostzone das Ausmaß der Reglementierungen (von Lizenzierungspflicht und Druckgenehmigungsvorgang bis hin zu zahlreichen Enteignungen) abzuzeichnen begann, lag in der Zweigniederlassung eine Art »Rückversicherung gegen diese Entwicklungen«.27 Zudem gaben individuelle Beweggründe der Häuser (Sachmittel und Personal, Verteilung der Verlagsrechte, familiäre Hintergründe, persönliche politische Erfahrungen) den Ausschlag für die Zweigstellen- oder Neugründung im westlichen Gebiet. Da nach anfänglicher ideologischer Kontrolle durch die westlichen Besatzungsmächte die politische Einflussnahme in den Westzonen nachließ, versprach eine WestGründung zudem den Wiedereinstieg in die marktorientierte (Welt-)Wirtschaft und damit den ökonomischen Erhalt des jeweiligen Verlages. Schließlich gestaltete sich der Verkauf von Büchern aus der Ostzone in den übrigen deutschen Gebieten aufgrund der diffusen Gesetzeslage als sehr schwierig: Erst im November 1946 wurde ein Dreizonenaustausch im westlichen Gebiet beschlossen, die Einfuhr von Literatur aus dem sowjetisch besetzten Gebiet war (wie auch in die Gegenrichtung) weiterhin verboten. Mit der Kontrollrats-Direktive Nr. 55, die ab Juni 1947 den »freien Austausch von Zeitungen, Zeitschriften, Filmen und Büchern«28 genehmigte, wurden die Lieferungssperren zwar vorübergehend aufgehoben, doch konnten realpolitische Umstände und Repressionen gegen Verstöße immer wieder zur zeitweisen Aussetzung der Direktive führen. So blieb die Gesetzeslage bis zur Einführung der Deutschen Mark ungeordnet und wechselhaft,29 erst die Währungsreformen erwirkten einen geregelteren Austausch (siehe Folgeabschnitt). Zwar hatten sich die meisten Parallelverlage bereits vor 1948 nach Westen hin orientiert, doch war nach Einführung der Ost-Mark auch die Aussicht auf fehlende Konvertierbarkeit der Ost-Währung eine wichtige Ursache für die West-Verlagerung. Kleßmanns These, dass die Bewohner der einzelnen Zonen wenig gegen die Entfaltung des globalen Ost-West-Konflikts »und seine Rückwirkungen auf die politische und gesellschaftliche Lage im besetzten Deutschland tun«30 konnten, ist eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung verwoben. Dem Organ Buch und Buchhandel zufolge hatten größere Städte im Gebiet der DDR im Vergleich von 1927 zu 1953 insgesamt 536 Verlage verloren,31 weshalb die wirtschaftliche Einflussnahme eine maßgebliche Rolle in der Zweigstellengründung spielte: Ernst Reclam räumte z. B. 1947 dem Stuttgarter Verlag ein, »Ausgaben [s]einer Universal-Bibliothek in dem von [ihm] entwickelten Format und Ausstattung zu veranstalten«;32 andererseits behielt er sich das Recht vor, »bei Ablauf des Vertrages« von der Stuttgarter Firma »die Änderung [der] Firma durch Weg-
27 28 29 30 31
Seemann: Parallelverlage, S. 222. Umlauff: Wiederaufbau, Sp. 1508. Vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 45. Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 28. Leipzig 394, Dresden 111, Halle 22, Jena neun. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.): Buch und Buchhandel in Zahlen (1954), S. 38. 32 Dieses und die nachfolgenden Zitate in: Vertrag zwischen Philipp Reclam jun., Leipzig und Reclam Verlag GmbH Stuttgart, 8. 9. 1947. In: Reclam Archiv Leipzig, 1–28.
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lassung des Wortes ›Reclam‹ aus [der] Firma zu verlangen.« Der Passus, dass neue Vereinbarungen getroffenen werden müssten, falls ihm »vor Ablauf des Vertrages die uneingeschränkte unmittelbare Lieferung in den Westzonen möglich« werde, kann zusätzlich als Indiz dafür gelten, dass das Stuttgarter Haus zuvorderst als exekutiver Handelspartner in den westlichen Zonen für die in Leipzig produzierten Bücher fungieren sollte. Neben wirtschaftlichen Kriterien waren auch Fragen nach Prestige und fachlichem Know-How ausschlaggebend – nicht umsonst animierte Douglas Waples, Leiter der U. S.-amerikanischen Information Control Division, im Juni 1945 ausgewählte Persönlichkeiten der Leipziger Buchbranche zur Übersiedlung nach Wiesbaden.33 Im Rahmen dieser konspirativen34 Aktion, die neben den ökonomischen Motiven vorrangig der Sicherung von kulturellem und symbolischem Kapital seitens der US-Amerikaner diente und damit beispielhaft für die Blockbildung gelesen werden kann, wurden Zweigstellen der Verlage Brockhaus, Insel, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Georg Thieme und Breitkopf & Härtel in Wiesbaden gegründet. Andere Parallelverlage wie Reclam, das Bibliographische Institut oder Gustav Fischer waren zwar nicht Teil des – inzwischen berüchtigten – »Verlegerkonvois«, entschlossen sich allerdings auch in der unmittelbaren Folgezeit zur Gründung einer Zweigstelle, meist im Großraum Frankfurt. Viele Parallelverlage bemühten sich nach der Teilung um Aufrechterhaltung der Beziehungen, konnten diese jedoch aufgrund unterschiedlicher Ursachen nicht in ihrem Sinne gestalten. So schlossen z. B. die Firmen F. A. Brockhaus in Leipzig und Eberhard Brockhaus in Wiesbaden im Juli 1946 einen Vertrag zur gemeinsamen Auswertung sämtlicher Urheber- und Verlagsrechte und unterhielten sich wöchentlich über die Vorgänge im jeweiligen Haus, doch überführten die DDR-Behörden den Ostbetrieb 1951 in Treuhandverwaltung und untersagten den ursprünglichen Besitzern den Besuch des Stammhauses. Nach Verkündung der »Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten«35 vom 17. Juli 1952 wurde der Leipziger Brockhaus-Verlag enteignet und mit Wirkung vom 16. März 1953 zum volkseigenen Betrieb erklärt.36 Ähnlich erging es – in unterschiedlich komplexen Abläufen – den Verlagen Georg Thieme, Marhold und Gustav Fischer.37 Andere Parallelverlage wurden, meist aufgrund politischen Kalküls, nicht enteignet, sondern mithilfe staatlicher Beteiligung durch die DDR-Führung infiltriert. Als Reaktion der Westhäuser
33 Am 12. Juni 1945 wurden etwa zwanzig Verlegerpersönlichkeiten, u. a. ausgestattet mit Startkapital oder Verlagsinterna, mit einem Omnibus und zwei Privatwagen nach Wiesbaden befördert – zur »Aktion Zweigstellenbildung« siehe u. a. Seemann: Parallelverlage, S. 159 ff; Frohn: Literaturaustausch, S. 237–238; Titel: Geschichte der Buchstadt Leipzig, S. 40; Bille: Buchstadt ohne Filetstücke?, S. 36. 34 Die US-Amerikaner riefen zur Schweigepflicht bezüglich der bevorstehenden Besatzung durch die SMAD auf, um einen panikartigen Exodus der Leipziger Verlagsschaffenden zu vermeiden. 35 Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten vom 17. Juli 1952. In: Gesetzblatt Nr. 100, Ausgabetag: 26. Juli 1952. Regierungskanzlei der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.): Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Jahrgang 1952, 2. Halbjahr. Berlin: VEB Deutscher Zentralverlag, 1952, S. 615–616. 36 Keiderling (Hrsg.): F. A. Brockhaus. 37 Vgl. Seemann: Parallelverlage, S. 200 ff.
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konnte eine gerichtliche Einfuhrsperre in die westlichen Gebiete erfolgen, ferner wurden im Frankfurter Börsenblatt Inserate platziert, die auf die Illegalität des Bezugs und Vertriebs von Druckerzeugnissen aus den Ost-Häusern verwiesen. Parallelverlage wie Teubner, Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig und Bibliographisches Institut führten erfolgreich Rechtsstreits gegen die Stammhäuser – meist aufgrund unlauterer Nutzung des Firmennamens, aber auch wegen Verstößen gegen das Ausfuhrverbot oder der unbilligen Auswertung von Autorenrechten. Obwohl die komplexe Thematik der Parallelverlage die Blockbildung exemplarisch nachzeichnet, ist sie auch Zeichen für die gegenläufige Tendenz, derzufolge sich viele Bürger in Ost wie West »dennoch gegen einen Trend zur Wehr setzten, den sie partiell noch für umkehrbar oder steuerbar«38 hielten. Insbesondere in den ersten Jahren nach einer Zweigstellengründung war der Glaube an ein lukratives Aufrechterhalten der Beziehungen oft ausschlaggebend für die Entscheidung, diesen Schritt überhaupt erst zu wagen. Und obwohl die meisten Parallelverlage sich – wenn auch z. T. vergleichsweise spät, wie z. B. beim Bibliographischen Institut (1980) – offiziell trennten und die Namens- und Verlagsrechte gerichtlich regelten, hielten andere Häuser in Teilen an der Zusammenarbeit fest. Der Insel-Verlag z. B. existierte bis zur Vereinigung in Parallelität, sodass beide Unternehmen den Namen »Insel« bis zum Ende der DDR führten. Zwischen 1963 und 1977 erschienen 23 Inselbände in unmittelbarer Zusammenarbeit der beiden Unternehmen.39 Im westdeutschen Parallelverlag Rütten + Loening40 sorgte die Lizenznahme von Hermann Kants Aula (laut Verlagsleiter ein »geglückte[s] und in jeder Hinsicht erfreuliche[s] Projekt«)41 1966 für einen wirtschaftlichen Erfolg des westdeutschen Verlages und führte zur gemeinsamen Lesung von Autoren aus DDR und Bundesrepublik auf der Frankfurter Messe im selben Jahr. Überhaupt sind Kontakte zwischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in dieser Zeit – angefangen beim Starnberger Dichtertreffen 1951 bis hin zum (eher missglückten) Treffen der Präsidien der Schriftstellerverbände Ost und West am Schwielowsee 1988 – als Beleg für den Wunsch zu deuten, die Beziehungen zwischen den Literaturschaffenden in Ost und West aufrechtzuerhalten.42 Die Parallelverlage waren nicht die einzigen Institutionen, die im Rahmen der fortschreitenden Blockbildung (abgelöst durch die zunehmende Eigendynamik beider Staaten) in Parallelität existierten. Bald gab es zwei Buchmessen, von denen eine traditionell in Leipzig, die andere in Frankfurt stattfand. Es existierten zwei Börsenvereine (s. u.) und damit zwei Börsenblätter, zwei Nationalbibliotheken, und später auch zwei Schriftstellerverbände und zwei P.E.N-Zentren (auch wenn das DDR-Pendant bis 1967 den Titel »P.E.N.-Zentrum Ost und West« trug).43 Auch hier sind ebenso viele Vorgänge als Zeichen für die Blockbildung und Eigendynamik der deutschen Staaten zu interpre-
38 Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 28. 39 Vgl. Jahn: Die Insel-Bücherei in Leipzig, S. 18. 40 In der DDR firmierte der Verlag als Rütten & Loening, in der Bundesrepublik als Rütten + Loening. 41 Vgl. SBB-PK, Archiv des Aufbau-Verlags 399: R+L Hamburg (Frentzel) an R&L Berlin (Voigt), 23. 3. 1966. 42 Siehe Kapitel 3.3 Ost-West-Kontakte (Konstantin Ulmer) in diesem Band. 43 Siehe Kapitel 3.4.4 Die DDR-Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN (Dorothée Bores) in diesem Band.
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tieren wie dagegen, wie im Abschnitt »Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung« aufgezeigt wird.
Eigendynamik der beiden Staaten Die Währungsreformen läuteten gewissermaßen den Wechsel von der Blockbildung in die vermehrten Eigendynamiken beider Staaten ein: Im Juni 1948 endete die Bewirtschaftung der westlichen Zonen durch die Alliierten, die Ostseite nutzte die Umstellung, um das System der Planwirtschaft umzusetzen. So waren es neben den kulturpolitischen und ideologischen Differenzen der Siegermächte vor allem die Währungsreformen und das daraus folgende Devisengefälle, welche die »Praxis der wechselseitigen literarischen Abschottung«44 bedingten und antrieben. Die mangelnden Devisen, die 40 Jahre lang die ökonomischen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten bestimmten und elementar zur »Asymmetrie« beitrugen, waren ebenso Grund für Raubdrucke und Plusauflagen (s. u.) wie für die Übersiedlung zahlreicher Ost-Unternehmen in die westlichen Gebiete. Für das wirtschaftliche Ungleichgewicht und dessen Folgen sind verschiedene Ursachen zu benennen: Mit der Schaffung zweier unabhängiger Währungen 1948 erhellte sich die undurchsichtige Lage im Ost-West-Warenverkehr durch das »Frankfurter Abkommen«45 über den Interzonenhandel, das allerdings noch keine Druckwaren, sondern lediglich die Posten »Zellstoff und Papier« auf den Warenlisten aufwies. Erst mit Abschluss des »Berliner Abkommens«46 1951 fand der Direktaustausch mit Waren des Buchhandels eine offizielle Regelung innerhalb konkret vorgegebener Kontingent-Rahmen – diese wurde allerdings vorrangig für Bezüge und Lieferungen von fachlichen und wissenschaftlichen Druckerzeugnissen sowie für Musiknoten genutzt. Schöngeistige Literatur wurde schon unmittelbar nach Kriegsende vor allem über Lizenzgeschäfte ausgetauscht, was sich bis zur Vereinigung nicht ändern sollte. Da kein offizieller Wechselkurs zwischen DM-Ost und DM-West existierte, lief der sogenannte Clearing-Verkehr in Form von Verrechnungseinheiten im Verhältnis 1 : 1 über ein Konto bei der jeweils anderen Notenbank.47 DDR-Firmen, die in die westlichen Gebiete exportierten, konnten auf diesem Wege also keine Devisen (DM-West) erwerben, sondern wurden in DM-Ost ausgezahlt. Käufer und Verkäufer benutzten ausschließlich die jeweils eigene Währung, was das Devisenproblem der DDR zementierte. Schon
44 Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 34. 45 Zum Frankfurter Abkommen siehe Umlauff: Wiederaufbau, Sp. 1330. 46 Im Leipziger Börsenblatt hieß es dazu im Oktober 1951: »Während im Frankfurter Abkommen Bücher und Zeitschriften überhaupt nicht erwähnt wurden […], so daß schließlich buchhändlerische Verträge nur noch über Berlin im Rahmen von Kompensationsverträgen außerhalb des Abkommens abgewickelt werden konnten, sind diesmal in den Warenlisten […] beiderseitige Lieferungen von Druckerzeugnissen in Höhe von je 4,5 Millionen Verrechnungseinheiten vorgesehen, auf unserer Seite unter Einschluß von Dienstleistungen unserer graphischen Industrie.« o.V.: Das innerdeutsche Handelsabkommen, S. 509. 47 Vgl. Umlauf: Wiederaufbau, Sp. 1330–1331. Zwar beinhaltete das Frankfurter Abkommen offiziell keine Waren des Buchhandels, doch fanden sich »Zellstoff und Papier« auf den Warenlisten.
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in der Anfangszeit verlor die Ostwährung zusehends an Wert, sodass Schwarzmarktgeschäfte mit der Ware Buch florierten und sich West-Verleger oft mit Überschwemmungen durch günstigere Ost-Bücher oder Zahlungsrückständen seitens ostdeutscher Unternehmen konfrontiert sahen. Zunehmend wurde der Handel in Form von Kompensationsgeschäften betrieben, und da die Bedürfnisse der DDR-Unternehmen oft nicht denjenigen in der Bundesrepublik entsprachen, wurden immer mehr Druckaufträge an Ost-Druckereien vergeben, um das Tauschgeschäft zu sinnvollen Konditionen aufrechtzuerhalten.48 Im Bereich der Belletristik bestimmten vor allem Lizenzgeschäfte den Austausch, sodass DDR-Verlage oft gezwungen waren, die Zahlungen in Westwährung zu begleichen. Schon 1952 stellte sich allerdings in der ostdeutschen Verlagslandschaft ein derartiger Engpass an Valuten ein, dass Walter Ulbricht ohne Umschweife den unautorisierten Nachdruck derjenigen Werke anwies, deren Verlage auf West-Bezahlung beharrten.49 Auf diese Weise wurden z. B. Titel von Thomas Mann und Hermann Hesse ohne Lizenz gedruckt und in der DDR verbreitet – die Differenzen zwischen dem Aufbau-Verlag und den westdeutschen Verlagen S. Fischer und Suhrkamp konnten schließlich nur durch das Eingreifen der Autoren und z. T. durch Zahlungen in Naturalien, wie Pelzmäntel für die Familie Mann, überwunden werden.50 Dennoch zeichnete sich mit diesem Raubdruck ein Verfahren ab, das sich später mit den sogenannten Plusauflagen51 wiederholen sollte: 1957 hatte sich die – ohnehin desolate – Devisenlage derart verschlimmert, dass Zahlungen in westlicher Währung per Ministerialvorlage Nr. 206 grundsätzlich untersagt wurden. Das Büro für Urheberrechte,52 das ab 1957 sämtliche Lizenz- und Urheberrechtsfragen (und damit auch Fragen der Zensur) innerhalb der DDR verhandelte, hatte im Gründungsjahr ein eklatantes Ungleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben festgestellt.53 Die DDR-Regierung versuchte fortan, die ökonomische Krise mithilfe zweier Taktiken zu überwinden: Einerseits begannen ausgewählte Verlage ab etwa 1961, mehr Exemplare von Lizenztiteln zu drucken als vertraglich vereinbart. Das illegale Geschäft, das nach der Vereinigung unter dem Begriff »Plusauflagen« für Schlagzeilen sorgte, wurde erst nach dem Ende der DDR bekannt und stürzte ehemals ostdeutsche Verlage (vor allem Aufbau und Volk und Welt) durch die immensen Nachzahlungen in eine finanzielle Krise. Die Praxis ist auch mehr als 25 Jahre nach dem Mauerfall weiterhin umstritten: Sie war höchst kriminell und brachte Autoren und Verlage um ihre z. T. dringend benötigten Honorare; trotzdem wäre »das geistige Koordinatensystem des literarischen Marktes in der DDR noch viel mehr in Unordnung geraten oder geblieben, als es das ohnehin schon war«,54 bedenkt man, dass trotz Plusauflagen Westliteratur stets Mangelware in der DDR blieb. Andererseits begann zum Ende der fünfziger Jahre eine kulturpolitische Offensive, die den Devisenschwierigkeiten mithilfe einer literarischen
48 49 50 51 52 53 54
Vgl. Sarkowski: Die Anfänge, S. 98. Vgl. Wurm: »Es sind aber auch Menschen und auch Deutsche«, S. 138–139. Vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 96 und S. 156 ff. Zu den Plusauflagen vgl. Faber: Zur Geschichte der Plusauflagen. Siehe Kapitel 3.4.2 Das Büro für Urheberrechte (Thomas Keiderling) in diesem Band. Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: Jedes Buch ein Abenteuer, S. 63. Faber: Zur Geschichte der Plusauflagen, S. 24.
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Abschottungsstrategie beizukommen suchte: Der »Bitterfelder Weg«, der 1959 als ästhetische Hauptausrichtung eingeschlagen werden sollte, hatte vermutlich nicht nur politisch-literarische, sondern wohl insbesondere ökonomische Ursachen.55 Demnach sollte unter der Parole »Greif zur Feder, Kumpel« eine Art sozialistische Nationalliteratur geschaffen werden, die im selben Maße DDR- und sowjetische Schriftsteller popularisieren wie sie die Nachfrage nach westlichen Titeln senken sollte. Gleichzeitig diente sie der politischen Intention, das Leben in der DDR und besonders in der Produktion in den Mittelpunkt literarischen Schaffens zu stellen. Nachdem zum Ende des Jahres 1957 die DDR-Verlage auf »überflüssige Westimporte«56 hin untersucht wurden, sank der Anteil an Belletristik-Importen aus dem westlichen Gebieten innerhalb von zwei Jahren von 56 % auf 30 %. Im gleichen Zeitraum ging die Zahl der westdeutschen Belletristik-Titel von 69 auf 32, im Jahr 1963 sogar auf 16 Titel zurück.57 Nicht allein die DDR-Kulturpolitik trieb diese Prozesse – die von der etwas liberaleren Phase zwischen 1953 und 1956 unterbrochen wurden58 – voran. Auch besonders eifrige Lektoren besannen sich auf die Qualitäten der »eigenen« Literatur bei gleichzeitiger Verunglimpfung westlicher Stile und Inhalte. Nachzulesen sind diese Zeugnisse heute dank des zentralisierten Druckgenehmigungverfahrens,59 das in der DDR über Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung eines Titels entschied.60 Zuerst wurde dabei die »Tauglichkeit« eines Buches – im Bereich der Belletristik vorrangig unter ideologischen und literaturästhetischen Maßstäben – innerhalb eines Verlages geprüft. Dafür waren sowohl Verlagsmitarbeiter als auch externe Gutachter verantwortlich; letztere vor allem dann, wenn der Verlag den Druck des Titels für besonders prekär hielt. Bestand das Manuskript diese erste Kontrolle, wurde es an die staatliche Zensurinstanz weitergeleitet, deren Name sich im Lauf der DDR-Geschichte – bei weitgehend gleichbleibenden Aufgabenfeldern – mehrfach änderte: Vom »Kulturellen Beirat« (1946–1951) über das »Amt für Literatur« (1951–1956) zur »Hauptverwaltung Verlagswesen« (1956–1958) zur »Abteilung Literatur und Buchwesen« (1958–1963) und schließlich zur »Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel«, die von 1963 bis 1990 bestehen blieb. Dass dies kein offiziöser Zensurvorgang war, versteht sich von selbst – schon 1945 hatte Walter Ulbricht im Zuge der geplanten
55 Barck/Langermann/Lokatis: Jedes Buch ein Abenteuer, S. 64. 56 Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 46. 57 Vgl. Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 46; siehe auch: Barck/Langermann/Lokatis: Jedes Buch ein Abenteuer, S. 83–84. 58 1953 fand im Juni der Volksaufstand statt, 1956 ereignete sich die sogenannte Ungarn-Krise, in der auf einen gesellschaftlich-öffentlich initiierten Aufstand gegen die regierende kommunistische Partei kompromisslose Niederschlagungen der Aufständischen und Säuberungen folgten. 59 Zum Druckgenehmigungsverfahren siehe u. a.: Westdickenberg: Diktatur; Barck/Lokatis: Zensurspiele; Zipser: Fragebogen: Zensur, S. 13–41, sowie Frohn: Literaturaustausch, S. 408– 416. Staatliche Druckgenehmigungsakten, die nicht aufgrund urheberrechtlicher Bestimmungen gesperrt sind, können unter http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de [1. 10. 2017] eingesehen werden. 60 Siehe Kapitel 3.4.1 Die staatliche Literaturbehörde (Siegfried Lokatis) in diesem Band.
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Wahlvorgänge mit den Blockparteien die Devise ausgegeben: »Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben«,61 die sich auch auf Verlagsprozesse übertragen lässt. Beispiele dafür, dass sich sowohl verlagsinterne als auch staatlich arbeitende DDR-Lektorinnen und Lektoren in der eigenen literarischen »Doppelhaushälfte«62 einrichteten, wie es Kleßmann beschreibt, gibt es viele – bei denkbar unterschiedlichen Motiven für die Höherstellung der DDR-Literatur im Vergleich zu Titeln aus dem Westen. Umso stärker sind hier auch Zeichen des DDR-Literaturwesens und -austauschs hervorzuheben, die gegen den Rückzug in die eigene Komfortzone und gegen das Abfinden mit der innerdeutschen Grenze zu lesen sind: So setzten nicht nur Lektorinnen und Lektoren ihre Reputation aufs Spiel, indem sie z. B. unerwünschte Literatur zum Druck empfahlen; auch im Bereich des Buchschmuggels wurde gegen die Dynamik der fortschreitenden Trennung in beiden Teilen Deutschlands vorgegangen. Um Einzelbücher in die DDR gelangen zu lassen (und damit den argusäugigen Zoll zu überlisten), wurden z. B. westliche Titel in »unverfänglichere« Einbände gebunden, wie es etwa Siegfried Unseld bei einer Büchersendung an Werner Hecht tat.63 Unseld war es auch, der sich sowohl öffentlich für die reguläre Bezeichnung des Nachbarstaates als DDR (anstelle von z. B. »die sogenannte DDR«, »DDR« in Anführungsstrichen oder »Mitteldeutschland«) einsetzte,64 als auch produktive Beziehungen zu zahlreichen ostdeutschen Verlagen (allen voran Aufbau) unterhielt, die oft in Lizenznahmen mündeten. Elmar Faber, langjähriger Verlagsleiter des Aufbau-Verlages nannte die Beziehungen zum Hause Suhrkamp ein »Muster des sachlich-kritischen Dialogs, das den gemeinen Zuständen im geteilten Land meist weit voraus war«65 – obschon das Verhältnis nachträglich keinesfalls als spannungsfrei zu bezeichnen ist.66 Ähnliche Beispiele lassen sich vielerorts finden. So waren westdeutsche Verleger und Buchhändler nicht nur zur Zeit der Währungsreformen an einer Aufrechterhaltung der Beziehungen interessiert – über den gesamten Zeitraum der Trennung hinweg sind viele Belege für Kooperationstendenzen auszumachen. Untersuchungen und Erinnerungsberichte über die Verlage Wa-
61 Das Zitat ist überliefert von Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 406. 62 Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 30. 63 Das Buch war Uwe Johnsons Das dritte Buch über Achim, das Unseld nach zwei fehlgeschlagenen Sendungsversuchen kurzerhand in das Gewand von Hesses Steppenwolf binden ließ. Vgl. Hecht: Die List des Verlegers, o.S. 64 An den Aufbau-Verleger Voigt schrieb Unseld 1967: »Sie sollten mich kennen und wissen, daß ich seit eh und je und in diesen Tagen erst recht für mich und den Verlag die Bezeichnung Deutsche Demokratische Republik wünsche, Sie finden in keinem Verlagsverzeichnis, insofern die Texte vom Verlag selbst sind, einen anderen Namen. Und ich habe auch politisch in aller Öffentlichkeit nie einen Hehl daraus gemacht, daß wir die Existenz zweier deutscher Staaten anzuerkennen haben.« DLA, Suhrkamp-Archiv: Suhrkamp Verlag (Unseld) an Aufbau-Verlag (Voigt), 23. 9. 1967. 65 Faber: Ein praktizierender Idealist der Nachkriegszeit, S. 57. 66 Vgl. Frohn: Deutsches Mosaik.
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genbach,67 Luchterhand,68 Rowohlt,69 später auch Hanser70 oder Bertelsmann71 (um nur einige wenige zu nennen) geben Auskunft über die zahlreichen Ansätze, sowohl Literatur aus der DDR in der Bundesrepublik zu publizieren, als auch die Werke westlicher Schriftsteller für die DDR zu lizenzieren. Die Gründe dafür basierten häufiger auf literarischen und/oder wirtschaftlichen als auf dezidiert realpolitischen Motiven, wie es zum Teil für die Verlage Willi Weismann72 und Rotbuch73 in der Bundesrepublik oder den Verlag der Nation und den Dietz Verlag in der DDR der Fall war. Von literarischen Anstößen geprägt waren auch die zahlreichen deutsch-deutschen Anthologien,74 die bereits kurz nach Kriegsende aufkamen (vgl. z. B. Die Pflugschar, 1947) und – z. T. in Kooperation – zu unterschiedlichen Zeiten der Teilung herausgegeben wurden. Trotz der mannigfaltigen grenzübergreifenden Ambitionen und Handlungen75 lassen sich diese Beispiele auch als Untermauerung von Kleßmanns These der »Eigendynamik« statt als Beweis dagegen lesen: Bis auf den Verlag Klaus Wagenbach, der mit seiner Gründung ausdrücklich als Ost-West-Verlag angelegt war76 und dessen Leiter mit der Herausgabe von Wolf Biermanns Schriften seine eigene (Reise-)Freiheit einschränkte,77 zeugten viele Veröffentlichungen (und besonders die fehlgeschlagenen Versuche im Lizenzgeschäft, die in den Verlagsarchiven und dem Archiv des Ministeriums für Kultur nachzulesen sind) von einer klaren Trennung zwischen Ost und West. Nicht umsonst wurden – vor allem in der Bundesrepublik, vereinzelt jedoch auch in der DDR – Publikationen aus dem anderen Teil Deutschlands häufig explizit als solche angepriesen; mit dem Verweis auf ein Buch »von drüben« ließ sich schließlich reißerischer werben als für einen Titel aus den eigenen Reihen.
67 Wagenbach: Der Verlag Klaus Wagenbach; Wagenbach: Die Freiheit des Verlegers; Haufler: Das Volkseigentum wird streng bewacht. 68 Ulmer: VEB Luchterhand. 69 Gieselbusch/Moldenhauer/Naumann/Töteberg: 100 Jahre Rowohlt. 70 Zu den Beziehungen des Hanser-Verlages zum DDR-Schriftsteller Günter Kunert siehe Berbig: Günter Kunert. 71 Bertelsmann z. B. gab 1974 Stephan Heyms 5 Tage im Juni (ursprünglicher Titel: Der Tag X) heraus, die langjährigen Beziehungen zum Aufbau-Verlag lassen sich im Aufbau-Archiv nachvollziehen. 72 Vgl. Weismann: Von einem, der auszog, den Zensor zu suchen; Tiepmar: »Bürgerkriegsliteratur«. 73 Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. 74 Vgl. z. B. Ulrich: »Bericht vom Anfang«; Häntzschel (Hrsg.): Literatur in der DDR im Spiegel ihrer Anthologien. 75 Die hier aufgeführten Ereignisse sind nur als komplexitätsreduzierende Schlaglichter zu lesen, um den vielgestaltigen Austausch darstellbar zu machen. 76 »Als ich den Verlag angefangen habe, hatte ich die Idee, einen Ost-West-Verlag zu machen. Das fand niemand gut. Weder die DDR noch die Bundesrepublik.« Zitiert nach: Frohn: Literaturaustausch, S. 323–324. 77 Von 1967 bis 1973 durfte Klaus Wagenbach weder in noch durch die DDR reisen – für einen Westberliner Verleger eine einschneidende Maßnahme.
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Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung Unter der Formel »Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung« beschreibt Kleßmann keine »gewissermaßen latente Nationalgeschichte«, sondern den Einfluss, den beide deutsche Staaten aufeinander ausübten. Die offensichtlichen Einwirkungen der Bundesrepublik auf die DDR, so die These weiter, seien z. B. anhand der für die DDR ungleich wichtigeren Grenzthematik oder durch fehlende (West-)Waren im DDR-Alltag nachweisbar.78 Der Einfluss der DDR auf die Bundesrepublik sei indes schwieriger zu erfassen – aber »nicht per se weniger wirksam«,79 so Kleßmann weiter, besonders, da hier vor allem indirekte Faktoren wirkten. Im Bereich des Buchwesens lassen sich – direkte wie indirekte – Beeinflussungen schon unmittelbar nach Kriegsende ausmachen. Kurz nach der Übersiedlung nach Wiesbaden fasste Friedrich Michael, Leiter der »Zweigstelle« des Insel-Verlags, die (wohl als paradigmatisch zu lesende) Krux im deutsch-deutschen Nachkriegsbuchhandel aus Sicht der Wiesbadener Verleger zusammen: Es zeigt sich da deutlich, in welcher seltsamen Situation wir uns befinden: Sie haben dort die guten buchgewerblichen Betriebe, die Bücher des Insel-Verlags zu machen verstehen, können sie aber nicht beschäftigen; wir haben hier die schönsten Möglichkeiten, und es fehlt 80 uns leider an Betrieben, die unserer Insel-Tradition entsprechen.
Um den Ansprüchen der Vorkriegsverhältnisse zu genügen, hätten beide Seiten von einer uneingeschränkten Kooperation profitiert, die sich wiederum nicht mit ideologischen und wirtschaftlichen Leitlinien vereinbaren ließ. Schnell stellten sich auf beiden Seiten der Grenze zuerst behelfsmäßige, dann zunehmend routiniertere Arbeitsweisen ein, die das Geschäft auch ohne die Unterstützung des jeweils anderen »Drübens« am Leben hielten, doch beeinflusste das Wissen um die Vorgänge im anderen Teil Deutschlands den Buchmarkt in Ost wie West, wenn auch der literarische Betrieb in der DDR stärker von den Vorgängen in der Bundesrepublik abhing. Diese Abgrenzungs- und Verflechtungsmechanismen lassen sich exemplarisch anhand der Börsenvereine81 aufzeigen, die wie viele andere später geteilte Körperschaften vor dem Zweiten Weltkrieg in Unität existiert hatten und ab 1945 Strategien entwickeln mussten, die den unterschiedlichen Zielen der Alliierten sowie den zunehmenden Eigendynamiken in beiden Teilen Deutschlands Rechnung trugen. Im Osten war der Börsenverein mit seiner Lizenzierung im Juni 1946 unmittelbar an die staatlichen Behörden, später an das Ministerium für Kultur, gebunden – hatte also schon mit seiner Zulassung die ursprüngliche Eigenständigkeit eingebüßt. Im Westen vollzog sich die Gründung langsamer und war in den Anfangsjahren stets vom Blick nach Leipzig geprägt: Nachdem Vertreter des späteren Vereins als Teil des von den US-Amerikanern initiierten »Verlegerkonvois« nach Wiesbaden übergesiedelt waren, schlossen sich die einzelnen
78 79 80 81
Vgl. Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 30–31. Kleßmann, S. 31. Sarkowski/Jeske: Der Insel Verlag, S. 421. Siehe Kapitel 4.1 Vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig (Reimar Riese) in diesem Band.
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Landesverbände 1949 zum »Börsenverein Deutscher Verleger und Buchhändler-Verbände« zusammen, dessen Satzung sowohl den gesamtdeutschen Charakter des Vereins als auch dessen Vorläufigkeit betonte.82 Gemeinsame Projekte sollten in der Nachkriegszeit u. a. im Rahmen der Neuauflage des Zeitschriften- und Zeitungsadressbuches Sperling sowie in Form eines neuen Buchhandelsadressbuches realisiert werden,83 doch verschlechterten sich schon 1949 die Beziehungen zwischen den Vereinen – nicht zuletzt aufgrund der Parallelverlagsproblematik – drastisch. Für ostdeutsche Verlage war dies insofern kritisch, weil z. B. das vom Frankfurter Verein ausgesprochene Ausstellungsverbot auf der Frankfurter Messe die Bekanntmachung ostdeutscher Bücher in der Bundesrepublik stark einschränkte. Die Veranstalter begründeten ihren Entschluss mit einer »moralischen Solidarität mit den Kollegen, die, enteignet oder verfolgt, westwärts ziehen mussten«,84 konnten jedoch nichts gegen die Ausstellung der DDR-Bücher im nahegelegenen »Haus der Kochkunst« ausrichten. Erst in den späten fünfziger Jahren wurden – vor allem auf Vermögen und Besitz beruhende – eklatante Streitfragen ausgeräumt, obschon die wieder aufgenommenen Beziehungen (auch aufgrund der realpolitischen Verhältnisse) nicht lange anhielten: Mit dem Mauerbau 1961 gab der Frankfurter Verein westdeutschen Verlagen konkrete Empfehlungen im Umgang mit DDR-Verlagen: So waren »Lizenzverhandlungen mit ostzonalen oder ostberliner Verlagen«85 nur in solchen Fällen zum Abschluss zu bringen, »bei denen der Ostverlag nicht rechtswidrig entstanden« sei und keine illegalen Verlagsrechte nutze. Zudem sollten nur solche Bücher in Lizenz getauscht werden, die »den Menschen in der Ostzone eine Teilnahme am echten kulturellen Leben in der freien Welt« ermöglichten. Ferner wurde erwogen, zusammen mit der Staatsanwaltschaft zu untersuchen, ob das Leipziger Börsenblatt nicht entsprechend § 93 des StGB als verfassungsfeindlich erklärt und damit verboten werden könne. Überhaupt lassen sich deutliche Belege des aus beiden Perspektiven erfolgenden ständigen »Blickes nach drüben« anhand der jeweiligen Börsenblätter für den deutschen Buchhandel nachvollziehen, die ebenfalls in Parallelität unter gleichem Namen existierten.86 Noch bis 1949 wurde durch Anzeigen im jeweils anderen Blatt für einzelne Titel geworben, dann verschwanden die Anzeigen westdeutscher Verleger im Leipziger Börsenblatt, während die Frankfurter Ausgabe vorerst weiterhin vereinzelt Anzeigen politisch unbedenklicher DDR-Verlage aufnahm. Nach den zwischenzeitlichen Krisenjahren
82 »Der Börsenverein betrachtet sich als Vorstufe zu einer ganz Deutschland umfassenden Vereinigung der Buchhändler. Er soll deren Aufgaben schrittweise […] erfüllen, bis das Ziel der Gründung eines Börsenvereins des gesamtdeutschen Buchhandels erreicht ist.« Zitiert nach: Umlauff: Wiederaufbau, Sp. 309. 83 Vgl. Umlauff, Sp. 309. 84 o.V.: Die Frage des ost-westlichen Buchaustauschs. 85 Dieses und die nachfolgenden Zitate in: Sitzung des Ausschusses für Fragen des Interzonenhandels, 4. 9. 1961. In: ISG Frankfurt, Börsenverein, W2/7:2819. 86 Frühe Pläne der Leipziger Redaktion, die Zeitschrift umzubenennen, wurden vom Ministerium für Kultur abgelehnt. Der Leipziger Redaktion schwebte ein Titel vor, »der den Begriff Buch in den Mittelpunkt stellt, gleichzeitig aber das progressive Element der Zeitschrift enthält«, doch setzte sie sich mit der Idee dieser »politische[n] Notwendigkeit« nicht beim Ministerium für Kultur durch. Redaktion des Leipziger Börsenblattes an Amt für Literatur, 20. 11. 1952. In: BArch, DR 1/1970.
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Abb. 1: Ernst Rowohlt, Christian Wegener, Walter Janka und Bruno Henschel am Stand des Rowohlt Verlages, Frankfurter Buchmesse 1954. Foto: Aufbau Verlag.
wurde zwar 1957 vereinbart, auf Polemiken in den Börsenblättern zu verzichten,87 doch kam es mit dem Mauerbau wieder zu deutlichen Diffamierungen: So habe z. B. laut Leipziger Börsenblatt über den Ausstellungshallen der Frankfurter Messe 1961 »der Gestank der Produkte neofaschistischer und militaristischer Verlage«88 gelegen, während ein Frankfurter Artikel aus dem Jahr 1963 als Reaktion auf die Regulierung von Buchsendungen auf dem innerdeutschen Postweg89 die »bücher- und leserfeindlichen« Organe der DDR kritisierte und als geradlinige Weiterentwicklung der »literarischen Prüfungsinstitutionen, die Adolf Hitler in den dreißiger Jahren einrichten ließ«,90 anprangerte. Nach bisheriger Forschungslage bestanden von Beginn an »elliptische Korrelationen und Abhängigkeiten« zwischen den Organisationen: »Die unterschiedlichen Zielsetzungen gaben jeweils der anderen Seite im Doppelcharakter der Ware Buch den Vorrang,
87 SStA-L, Börsenverein II, 1426: Aktennotiz über die das Treffen von Vertretern beider Börsenvereine am 26. Juni 1957; anwesend waren u. a. Günter Hofé (Ost) und Reinhard Jaspert als Vorsteher der Vereine. 88 o.V.: Frankfurt im westdeutschen Blitzlicht, S. 658. 89 Vgl. Anordnung über die Erteilung von Sondergenehmigungen zum Empfang von Literatur aus Westdeutschland, Westberlin und dem kapitalistischen Ausland vom 13. Juni 1963. In: Gesetzblatt der DDR, Teil II Nr. 50, 4. 7. 1963, S. 414. 90 o.V.: Eine geistige Mauer?, S. 1337.
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kulturelle Aufgaben oder wirtschaftliches Denken hatten verschiedenes Gewicht.«91 Und doch begriffen sich beide Vereine durch ihre Tätigkeiten rund um die Ware Buch als – wenn auch oft asymmetrisch agierende – Vermittler zwischen beiden Teilen Deutschlands: Dem vom Frankfurter Börsenverein herausgegebenen Branchenkompendium Buch und Buchhandel in Zahlen des Jahres 1967 zufolge war zu jener Zeit der »Interzonenhandel mit Gegenständen des Buchhandels – speziell mit Büchern und Zeitschriften – […] eines der wichtigsten, aber auch der letzten Bindeglieder zwischen den getrennten Deutschen«.92 Zur selben Zeit wurden »Kontaktkommissionen« in beiden Vereinen gegründet, die fortan die deutsch-deutschen Belange verhandelten. So sollten auch die Beziehungsversuche zwischen beiden Börsenvereinen andauern und sich normalisieren – obschon das Verhältnis, besonders in den fünfziger und sechziger Jahren, stark zwischen den Polen »Abgrenzung« und »Verflechtung« oszillierte. 1971 kündigte Erich Honecker im Jahr seines Amtsantrittes als Erster Sekretär des ZK der SED an, »dass der Prozess der Abgrenzung zwischen beiden deutschen Staaten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens immer tiefgehender wird«93 – im Jahr darauf kam es wiederum durch den »Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik« (s. u.) zu zahlreichen Verflechtungen, wenn auch mit der gegenseitigen Anerkennung die Trennung der Staaten endgültig vollzogen schien. Ähnliche Bewegungen, die häufig von einer gewissen Asymmetrie bzw. Asynchronität zwischen den Akteuren geprägt waren, lassen sich für den gesamten Zeitraum der deutschen Teilung und anhand zahlreicher Themenfelder in der Geschichte des DDR-Buchhandels sowie im Rahmen des Literaturaustauschs, z. B. anhand einzelner Verlagsbeziehungen, nachzeichnen: So war z. B. die Beziehung zwischen den Häusern Aufbau und Suhrkamp, die in der Gemeinschaftsausgabe der Brecht-Gesamtausgabe 1988 kulminierte, ebenso von sich abwechselnden, also asymmetrischen, Separations- und Verbindungstendenzen geprägt 94 wie das Verhältnis zwischen den Insel-Verlagen95 in Leipzig und Wiesbaden bzw. Frankfurt am Main, wobei Abgrenzungs- und Verflechtungsmechanismen oft, aber nicht immer, mit realpolitischen Vorgängen einhergingen.
Relative Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen Kleßmann statuiert in seinem fünften Bezugsfeld, das eigentlich mit »Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften« übertitelt ist, die »relative[] Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen«96 – diese These wird gestützt von der Tatsache, dass die deutsch-deutsche Forschung zu den letzten beiden Jahrzehnten der Teilung zunehmend systemübergreifende Fragen – etwa zu Bildungspolitik, Kultur, Wirtschaft – fokussiert. Die Buchproduktion betrifft aufgrund der zahlreichen Forschungsgegenstände des literarischen Feldes und des Doppelcharakters der Ware Buch zwischen Kultur und
91 92 93 94 95 96
Estermann: Die Börsenvereine in Leipzig und Frankfurt, S. 81. Börsenverein (Hrsg.): Buch und Buchhandel in Zahlen (1967), S. 65. Zitiert nach: Volke: »Zwischen Entspannung und Abgrenzung«. Vgl. Frohn: Deutsches Mosaik; Frohn: »Bitte vernichte diesen Brief«. Sarkowski: Der Insel Verlag; Häntzschel: Die Insel-Bücherei von 1945 bis 1962. Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 32.
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Wirtschaft grundsätzlich systemübergreifende Themen, die auf Fragen zum deutschdeutschen Literaturaustausch verengt werden können. Prinzipiell ist auch im Feld der Buchherstellung und -Distribution bzw. in der Anerkennung und im Austausch der jeweils anderen Literatur von »Veränderungen im Zeichen der Entspannung«97 auszugehen: Der Kindler Verlag in München gab z. B. zu Beginn der siebziger Jahre Die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik98 im Rahmen seiner Literaturgeschichte der Gegenwart heraus; auch auf der öffentlichsymbolischen Ebene der Buchhandelsbeziehungen zeigten sich deutliche Zeichen der Normalität: Das Verhältnis zwischen den Börsenvereinen begann sich etwa zu verbessern, sodass es wieder verstärkt zu gemeinsamen Ausstellungen oder Buchprojekten kam, und auch das »Thema der Parallelverlage verlor […] an Brisanz«.99 Rückblickend kann der im Jahr 1972 geschlossene Vertrag über die »Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik« als Fundament dieser zunehmenden Normalisierung gelesen werden: »Geleitet von dem Wunsch, zum Wohle der Menschen in den beiden deutschen Staaten die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen«,100 statuierte er in Artikel 1 »normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung«. Schon 1971 hatte Honeckers später berüchtigtes Diktum: »Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben«, Hoffnung auf Entspannung hinsichtlich der enorm einschränkenden Literaturpolitik der DDR geweckt; auch wenn, wie Günter Kunert 1999 hervorhob, die entscheidende Floskel im einleitenden Nebensatz von vielen überhört wurde.101 Denn nur kurze Zeit später kam es – den wellenförmigen Bewegungen (kultur-)politischer Lockerungen und Repressionen während der gesamten DDR-Ära entsprechend – erneut zu z. T. folgenschweren Konflikten im Buchmarkt der DDR, die oft auch der deutsch-deutschen Teilung geschuldet waren. So hob das für Lizenzierungs- und Veröffentlichungsgenehmigungen verantwortliche Büro für Urheberrechte das Strafmaß für unautorisierte Veröffentlichungen von DDR-Werken außerhalb der Landesgrenzen 1973 sprunghaft an: Von einer ursprünglichen »Ordnungsstrafe von 10 MDN bis 500 MDN«102 sah das neue Devisengesetz103 eine Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren vor, ergänzt durch eine mögliche Geldbuße von bis zu 20.000 MDN »oder bis
97 Görtemaker: Veränderungen im Zeihen der Entspannung. 98 Franke: Die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. 99 Seemann: Parallelverlage, S. 532. Schon 1968 waren kaum mehr zehn Parallelverlage von der Frankfurter Messe ausgeschlossen, im Jahr 1980 waren es nur noch drei. Vgl. ebd., S. 533. 100 Dieses und das Folgezitat in: http://www.documentarchiv.de/brd/grundlvertr.html [20. 4. 2022]. 101 Kunert: Erwachsenenspiele, S. 327. 102 Anordnung über die Wahrung der Urheberrechte durch das Büro für Urheberrechte vom 7. Februar 1966. In: Gesetzblatt der DDR, Teil II, Nr. 21, 19. 2. 1966, S. 107. 103 Devisengesetz vom 19. Dezember 1973. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 58, 21. 12. 1973, S. 575.
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zur fünffachen Höhe der transportierten Devisenwerte«104 ab Juni 1979. Dazu nahm die zweite Phase der Profilierung des Verlagswesens (1963–1965) die Tendenz der frühen siebziger Jahre zu erneuten Enteignungen bzw. »Verstaatlichungen« von DDR-Verlagshäusern vorweg, wonach die Anzahl der DDR-Verlage auf insgesamt 78 schrumpfte105 (im Unterschied zu 2.458106 Verlagen in der Bundesrepublik im Jahr 1972). Davon wiederum waren weniger als 10 % – wenn auch meist nur formal – in privater Hand. Neben diesen buchhändlerischen Einschnitten vollzog sich 1976 mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns während seiner bundesrepublikanischen Tour eine der folgenreichsten (kultur-)politischen Zäsuren in der DDR-Geschichte:107 Einem öffentlichen Protestschreiben prominenter DDR-Schriftstellerinnen und -Schriftsteller folgte eine Welle der Solidaritätsbekundungen108 mit dem Liedermacher, der mit sechzehn Jahren aus politischer Überzeugung in die DDR übergesiedelt war. Als Reaktion auf den in Ost und West veröffentlichten Protestbrief wurden zahlreiche Autorinnen und Autoren aus der SED und/oder dem Schriftstellerverband der DDR (SV) ausgeschlossen. Publikationsund Lizenzmöglichkeiten wurden, da die Zensoren Manuskripte »argwöhnisch wie zu finsteren Zeiten«109 prüften, stark eingeschränkt. In den Folgejahren kam es vermehrt zu Übersiedlungen namhafter Schriftstellerinnen und Schriftsteller (u. a. Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Jurek Becker und Klaus Schlesinger) in die Bundesrepublik und nach West-Berlin. Gleichzeitig zeugt, analog zu den Eingangsbeispielen, eine Aussage der Lektorin Ingrid Krüger, die bei Wagenbach die Herausgabe von Wolf Biermann betreute und später zum Verlag Luchterhand wechselte, durchaus von einer Normalisierung der deutsch-deutschen Prozesse und von einer gesteigerten Wahrnehmung der ostdeutschen Literatur in der Bundesrepublik: In ihrer Zeit als Luchterhand-Lektorin steigerte sie von 1972 bis 1990 »den Stamm der DDR-Autoren auf etwas über dreißig«.110 Darüber hinaus trugen – nicht nur als systemischer Forschungsansatz – auch die von Kleßmann in diesem Rahmen hervorgehobene »atomare Hochrüstung der Supermächte und entsprechende gesellschaftliche Reaktionen darauf«111 zur Außenwahrnehmung bei: Klaus Höp-
104 Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Devisengesetzes vom 28. Juni 1979. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 17, 2. 7. 1979, S. 147–148. 105 Vgl. Links: Schicksal der DDR-Verlage, S. 24. 106 Vgl. Börsenverein (Hrsg.): Buch und Buchhandel in Zahlen (1972), S. 42. Die DDR produzierte zu dieser Zeit etwa 6.000 Titel jährlich, in der Bundesrepublik wurden 1971 42.957 Titel pro Jahr herausgegeben. 107 Vgl. Berbig/Karlson: »Leute haben sich als Gruppe erwiesen«. 108 Erstunterzeichnende waren Erich Arendt, Jurek Becker, Volker Braun, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider sowie Christa und Gerhard Wolf; in den Folgetagen unterschrieben Kurt Bartsch, Günter de Bruyn, Nina Hagen, Elke Erb, Manfred Krug, Reinhard Lakomy, Armin Mueller-Stahl, Ulrich Plenzdorf und viele andere, vgl. Berbig/Karlson, S. 70–71. 109 So Ingrid Krüger, die als seine Lektorin im Verlag Wagenbach kurz nach der BiermannAusbürgerung Einreiseverbot erhielt; zitiert nach Ulmer: VEB Luchterhand, S. 264. 110 Gespräch mit Ingrid Krüger im Rahmen des Hauptseminars »Deutsch-deutsche Verlagsbeziehungen« von Roland Berbig und Christoph Links an der Humboldt-Universität zu Berlin im Sommersemester 2007. Zitiert nach: Frohn: Literaturaustausch, S. 345. 111 Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 32.
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cke, der als stellvertretender Minister für Kultur und Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel aktiv zur Biermann-Ausbürgerung beitrug, später allerdings ein Disziplinarverfahren wegen der Druckgenehmigung von Volker Brauns Hinze-Kunze-Roman hinnehmen musste, erinnerte sich anhand von Titeln wie Christa Wolfs Kassandra an die häufig literarisch verbrämten »Auseinandersetzungen um die Frage, wie die nukleare Katastrophe abgewendet werden kann«,112 die neben anderen Faktoren zur steigenden Aufnahme von DDR-Literatur in der Bundesrepublik führte. Zusammengefasst bestätigen diese Beispiele die These Kleßmanns, dass im Forschungsfeld der »Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften« mit der Ausweitung auf Systemfragen womöglich die »bloße Kontrastierung von westdeutscher Erfolgs- und ostdeutscher Misserfolgsgeschichte überwunden werden«113 kann. Tatsächlich kann gerade im Bereich der Buchmarktgeschichte, die Systeme der Kultur, Wirtschaft und Politik umfasst und in Teilen vereint, diese Kontrastierung angesichts der reichen Forschungslage schon teilweise als überwunden gelten. Schließlich kann im Rahmen einer Buchhandelsgeschichte der DDR – trotz oder gerade wegen zahlreicher den Buchhandel lähmender Faktoren wie Ressourcenmangel, Zensur oder Planwirtschaft – im Hinblick auf die vielfältige und oft hochwertige Buchproduktion des »Leselandes« nicht von einer grundsätzlichen »Misserfolgsgeschichte« gesprochen werden.
Erosionserscheinungen Die mit der »akzeptierte[n] Teilung im Zuge europäischer und innerdeutscher Entspannungspolitik« einhergehenden »Trends einer z. T. ungewollten Wiederannäherung« einerseits und »Erosionserscheinungen in der DDR andererseits«114 (hervorgehoben im Original), so Kleßmanns sechste These, führten mutmaßlich in die »Endphase der Teilungsgeschichte«115 und nach der Vereinigung sowohl zu einer Wiederbelebung einer vermeintlichen Nationalkultur als auch zur romantischen Verklärung der totalitären DDR-Politik. Die zur Wiederannäherung durchaus beitragenden Erosionserscheinungen lassen sich im DDR-Buchhandel (auch mit Blick auf den westlichen Nachbarn) auf zahlreichen Ebenen nachweisen: Die HV-Verlage genehmigte nach z. T. jahrzehntelangem Ringen die Herausgabe ›problematischer‹ Ost-Bücher (z. B. Stefan Heyms Fünf Tage im Juni 1989) ebenso wie den Druck lange zurückgehaltener Westtitel (von Günter Grass erschienen 1984 Das Treffen in Telgte und Katz und Maus, 1986 Die Blechtrommel, 27 Jahre nach der westdeutschen Erstveröffentlichung). Im ohnehin oft oppositionellen Raum kirchlicher Organisationen wurden in den achtziger Jahren vermehrt semi-legale aufrührerische Zeitschriften und illegale Periodika gedruckt,116 die Dichter der sogenannten Prenzlauer-Berg-Connection um Adolf Endler »zogen bildende Künstler hinzu oder fingen an, selbst zu zeichnen und zu malen, damit auf halbwegs legale Weise Texte
112 113 114 115 116
Höpcke: Ost-Westdeutscher Buchaustausch in den siebziger und achtziger Jahren, S. 24. Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 32. Kleßmann, S. 33. Kleßmann, S. 33. Klein: Heimliches Lesen und staatsfeindliches Schreiben, S. 63.
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gedruckt werden«117 konnten – bei weniger als 100 Exemplaren eines Werks musste keine Druckgenehmigung eingeholt werden. Sie veröffentlichten ihre Lyrik z. T. direkt in der Bundesrepublik118 und wähnten sich grundsätzlich »eigenaktiver […] in einer Form […], die frei ist von Verbänden, von Organisationen, von Institutionen.«119 Mit den Worten »die DDR ist nicht einfach die DDR«120 beschrieb Roland Links die Sonderstellung des letzten Jahrzehnts der deutschen Teilung, die auch auf Westseite spürbar war: Kleßmann zufolge waren Bücher von Christa Wolf, Christoph Hein oder Stefan Heym sowie DDR-Kunstausstellungen »im Feuilleton der Bundesrepublik präsent und w[u]rden anders als früher nicht primär politisch, sondern nach eigenständigen ästhetischen Maßstäben diskutiert«121 – was allerdings, u. a. von Fritz J. Raddatz oder Marcel Reich-Ranicki vorangetrieben, auch schon vor der Endphase der Teilungsgeschichte der Fall war. Insgesamt wurden zwischen 1981 und 1988 1.304 (offizielle) Lizenzen, durchschnittlich 163 im Jahr, von DDR-Titeln in westdeutschen Verlagen herausgegeben und machten damit mehr als die Hälfte der von der DDR ins Ausland vergebenen Belletristiktitel aus.122 Dennoch muss festgehalten werden, dass es nicht nur zum Ende der Teilung, sondern im Verlauf der gesamten DDR-Geschichte immer wieder zu Lockerungen kam (auch wenn diese nicht vom wirtschaftlich begründeten, sich gesellschaftlich auswirkenden Determinismus der achtziger Jahre geprägt waren), die wiederum von umso stärkeren Repressionen abgelöst wurden: Auf den Volksaufstand im Juni 1953, nach welchem sogar Brechts Gedicht »Das Amt für Literatur« veröffentlicht werden konnte und neue Verlage Lizenzen erhielten, folgte die Ungarn-Krise, die u. a. in den Schauprozessen gegen Wolfgang Harich und Walter Janka endete und zur Stärkung der Zensurmechanismen führte, nachdem das zentrale Druckgenehmigungsverfahren kurz zuvor abgeschafft werden sollte.123 Die darauffolgenden kulturpolitischen Lockerungen des »Tauwetters« wurden in den Schauprozessen, später im Mauerbau erstickt, der, scheinbar paradox, wiederum zu vermehrter Offenheit führte, bis 1965 das 11. Plenum des ZK der SED, das sogenannte »Kahlschlag«-Plenum, zahlreiche Veröffentlichungs- und Aufführungsverbote nach sich zog. Die nächste Zäsur stellte, nach den Annäherungen durch den Grundlagenvertrag, die Ausbürgerung Biermanns dar. Dass die Entwicklungen der achtziger Jahre nun endgültig die Erosion vorantrieben, die bei anderem geschichtlichen Ausgang rückblickend ebenso in den späten fünfziger oder frühen siebziger Jahren verortet hätte werden können, ist wohl zuvorderst der endgültig desolaten Finanzlage der DDR zu dieser Zeit sowie – wenn auch in weit weniger starkem Ausmaß – Vermittlungs-
117 Berendse: Grenz-Fallstudien, S. 108. 118 Vgl. Die von Franz Fühmann initiierte und schließlich von Elke Erb und Sascha Anderson herausgegebene Sammlung Berührung ist nur eine Randerscheinung wurde nach der erfolglosen Vorstellung bei der Akademie der Künste 1985 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln publiziert; Andersons Arbeiten erschienen zu Beginn der achtziger Jahre im Rotbuch-Verlag. 119 [ohne Verfasser]: »Die Generation nach uns ist freier«. 120 Rost/Links/Mierau/Sonntag: »Nach dem Prinzip der ›schiefen Schlachtordnung‹ aufgestellt«, S. 85. 121 Kleßmann: Spaltung und Verflechtung, S. 33. 122 Höpcke: Ost-Westdeutscher Buchaustausch in den siebziger und achtziger Jahren, S. 24. 123 Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: Jedes Buch ein Abenteuer, S. 55.
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maßnahmen wie dem »Kulturabkommen« zwischen beiden deutschen Staaten 1986 zuzuschreiben. Ebenso wenig ist das von Kleßmann konstatierte »wechselseitige[] Interesse« im Sinne der »Fortexistenz einer Kulturnation« ausschließlich auf die »Endphase der Teilung« zu beziehen: So folgte z. B. die Interzonale Verleger- und Buchhändlerbegegnung 1947 dem Gedanken einer Zusammenführung der geteilten deutschen Buchkultur. 1952 war es der Wunsch nach »Einheit statt Entfremdung der deutschen Kulturnation«, der z. B. zur Gründung des gesamtdeutschen »Schwelmer Kreises«124 führte. Ferner existierte bis in die sechziger Jahre in einigen deutsch-deutschen Lizenzverträgen eine Art Wiedervereinigungsklausel, welche die Lizenzrechte für den Fall der Vereinigung festschrieb. Gleichermaßen wirkten einige in Ko-Produktion herausgegebene Insel-Bände über die gesamte Zeit der deutschen Teilung gewissermaßen als Bewahrer der gemeinsamen Kultur. Als Gegenthese zur im Rahmen der »Erosionserscheinung« erneut bekräftigten »Entspannungspolitik« ist auch der zunehmende Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), insbesondere im Bereich der Kultur und Literatur, zu lesen: Erst mit der Gründung der Hauptabteilung V für die Bereiche Kultur, Bildung und Wissenschaft im Jahr 1954 entstand ein entsprechender Überwachungszweig, der jedoch ebenso schnell wuchs wie der gesamte MfS-Apparat: Während im Jahr 1968 ca. 350 Informelle Mitarbeiter (IM) für die HA XX, laut Joachim Walther »das Kernstück des nach innen gerichteten Repressionsapparates«,125 arbeiteten, zählte allein die Abteilung XX/7 (zuständig für die Überwachung des literarischen und kulturellen Lebens) zum Ende der DDR 40 vollamtliche Angestellte und etwa 350 bis 400 IM.126 Gleichzeitig wurden allerdings literarische Kontakte zwischen Ost und West längst nicht mehr so gezielt von der DDRKulturpolitik gesteuert wie noch zu Beginn der deutschen Teilung: So forderte z. B. der Schriftstellerverband der DDR in den frühen fünfziger Jahren seine Mitglieder zur Korrespondenz mit westdeutschen Autoren auf, um sie unter dem Deckmantel der Kollegialität politisch zu infiltrieren.127 Ähnliche Vorgehensweisen lassen sich für die Spätphase der deutschen Teilung nicht rekonstruieren. Dennoch durchzieht das Wechselspiel aus Erosion und drastischen Gegenmaßnahmen (auch) die gesamte DDR-Literaturgeschichte und scheint in dieser Hinsicht nicht ausschließlich für die Vorwendezeit zu gelten. Vielmehr lassen sich zwar Kleßmanns sechster Entwicklungsstufe erneut zahlreiche verschiedene Geschehnisse zuweisen, doch sind andere Vorkommnisse in der »späten« DDR eher einer grundsätzlichen, durchgehenden Verflechtung, wie sie der Historiker für die gesamte Teilungszeit annimmt, zuzuschreiben.
124 Dudek: Schwelmer Kreis; der Schwelmer Kreis begriff sich als deutsch-deutsche Friedensund Bildungsreforminitiative, die im April 1952 von etwa 70 Pädagoginnen und Pädagogen aus Ost und West gegründet wurde. 125 Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 151. 126 Vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 439. 127 Vgl. AdK, DSV, Nr. 289: Sekretariatsvorlage, Betr. Entwurf für den Arbeitsplan des Sektors für gesamtdeutsche Arbeit, 28. 9. 1953.
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Der deutsch-deutsche Buchhandel als »asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte«? Abschließend soll Kleßmanns Wendung der »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte« sowohl in ihrer metaphorischen Paradoxie als auch in ihrer Bildhaftigkeit die Geschehnisse im deutsch-deutschen Buchhandel zusammenfassen. Die Wendung ist insofern paradox, als die Metapher der Verflechtung nicht mit der Bedeutung von Parallelität in Einklang zu bringen ist – schließlich zeichnet sich Parallelität dadurch aus, dass sich zwei parallel verlaufende Größen nie begegnen, geschweige denn verflechten. Ebenso wenig kann Parallelität asynchron verlaufen, da sonst die dem Begriff innewohnende Gleichläufigkeit nicht gegeben wäre. Demnach muss Kleßmanns These als vielschichtiges Bild verstanden werden, das – metaphorisch provokativ – die komplexen deutsch-deutschen Verhältnisse anhand verschiedener, durchaus widersprüchlicher Beziehungsebenen zusammenfasst. Allein für die statuierte »Asymmetrie« müssen unterschiedliche Ebenen ausgewiesen werden: So besteht einerseits noch immer eine »archivarische Asymmetrie«,128 die sich sowohl aus der – sich dem Ende zuneigenden – dreißigjährigen Sperrfrist für bundesrepublikanische Archivalien als auch aus den unterschiedlichen Möglichkeiten der Verlagsforschung ergibt. Andererseits sind Asymmetrien, mit denen Kleßmann den Abhängigkeitsgrad der DDR von der Bundesrepublik beschreibt, in zahllosen Zusammenhängen auszuweisen: von der Grenzthematik über die ökonomischen Zwänge bis hin zu Fragen der (politischen) Partizipation, der Bildungs- oder Kulturpolitik sowie dem »plakative[n] Antifaschismus als Legitimationsideologie«.129 So hing auch der DDRBuchbetrieb – vor allem aufgrund des permanenten Valutamangels – direkt und indirekt von den deutsch-deutschen Vorgängen ab, positionierte sich politisch und literarisch (etwa durch den »Bitterfelder Weg«), z. B. auf Buchmessen oder im Organ des Börsenvereins, in Abgrenzung zum Nachbarstaat und tat sich durch den besonderen Status, den die Ware Buch im »Leseland« DDR innehatte, als ein entscheidender Faktor im Klassenkampf hervor. Die Asymmetrie lässt sich hier durch die permanente kontrastierende Bezugnahme vielfach belegen. Zudem herrschte auch im Bereich der Lieferungen ein Ungleichgewicht, das sich aus der unterschiedlichen Absatzlage ergab: So gelangten z. B. »aus der Bundesrepublik […] weitaus mehr Bücher in die DDR als umgekehrt«,130 da von Westseite vor allem Interesse an den Herstellungskapazitäten der DDR statt an der tatsächlichen DDR-Literatur bestand. In der DDR wiederum war vor allem die Leserschaft von den Titeln »von drüben« abhängig, dienten sie doch als Informations- und Anschlussquelle, was die Asymmetrie im literarischen Feld während der gesamten Zeit der deutschen Teilung erhärtete. Argumente hierfür lassen sich z. B. anhand von Buchmessen finden, auf denen Lesende bei Buchausstellungen bundesrepublikanischer Verlage ganze Bände abschrieben, Titel tagelang im Stehen lasen oder schlicht (meist unter zugedrückten Augen westdeutscher Verlagsvertreter) mitgehen ließen.131 Noch im Jahr 1979, als in
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Wentker: Zwischen Abgrenzung und Verflechtung, S. 11. Kleßmann: Konturen einer integrierten Nachkriegsgeschichte, S. 5. Seemann: Parallelverlage, S. 125. Vgl. Zeckert: Der Duft der großen weiten Welt.
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anderen Bereichen eine zunehmende Entspannung einsetzte, verschärfte die DDR-Führung zum wiederholten Mal die Devisengesetze, denen zufolge eine nicht genehmigte Erstveröffentlichung in einem westdeutschen Verlag empfindliche Strafen nach sich zog. Folgt man diesen Entwicklungslinien, konnte die DDR, wie eingangs dargelegt, nur in Abhängigkeit von und Abgrenzung zu dem westdeutschen Gegenüber existieren, während die Bundesrepublik die DDR nicht zwingend »brauchte«. Doch gerade im Bereich der Buchherstellung zeigt sich, dass zumindest in der frühen Phase der Teilung die These einer gänzlich einseitigen Abhängigkeit nicht aufrechtzuerhalten ist: Schließlich herrschte in diesem Bereich eine starke anfängliche Asymmetrie in die Gegenrichtung, da sich viele Buchbetriebe der westlichen Zonen und der jungen Bundesrepublik weiterhin an den Leipziger Traditionen der Buchherstellung orientierten und sogar zahlreiche Expertinnen und Experten aus der DDR bzw. der Ostzone abwarben, um eine ähnliche Expertise, z. B. im Frankfurter Raum, aufzubauen. Noch Jahrzehnte später wurde von Westseite die hervorragende Arbeit von Lektorinnen und Lektoren aus der DDR im direkten Vergleich mit einigen bundesrepublikanischen Praktiken hervorgehoben. Abgesehen von diesen Gewichtungen, hält Kleßmanns Theorie einen Untersuchungsansatz bereit, die einer »reine[n] Dichotomie von Erfolgs- und Misserfolgsgeschichte«132 entgegentritt und stattdessen zur Suche nach fruchtbaren Zusammenhängen genauso wie individuellen Besonderheiten aufruft. So lässt sich die Geschichte des geteilten Buchmarkts bzw. des gespaltenen Literaturbetriebs nicht anhand der relationalen Kategorien »erfolgreich« versus »erfolglos« nacherzählen, illustrieren doch insbesondere die Vorgänge der ostdeutschen Literaturproduktion einen Erfolg, der trotz Zensur und politischer Konkurrenz viel stärker im Zeichen der Leipziger Buchherstellung zu stehen schien als im Bestreben, den Nachbarstaat zu übertreffen. Die »Verflechtung«, die dem Titel von Kleßmanns Theorie innewohnt, lässt sich im Feld der Buchherstellung und -distribution im geteilten Deutschland vielerorts aufspüren. Dabei ist bei der Rekonstruktion grundsätzlich zu bedenken, dass die Buchherstellungssysteme in Ost und West z. T. völlig unterschiedlichen Gesetzen folgten: In der DDR herrschten weitaus niedrigere Herstellungskosten, andere Mechanismen – von Subventionen bis Zensur – in der Buchproduktion, ein gesicherter Absatz sowie eine grundsätzlich andere Verlagsstruktur als im westlichen Teil: Während 1989 lediglich 78 lizenzierte Verlage in der DDR existierten, waren es zur selben Zeit 1.878 in der Bundesrepublik.133 Dennoch waren beide Teile Deutschlands im Feld des Buchhandels stärker miteinander verflochten als auf anderen Gebieten. Allein das gemeinsame kulturelle Erbe, u. a. gestützt auf Sprache, Literatur und Philosophie, spielte im deutschdeutschen Buchaustausch eine bedeutsame Rolle. Auf dem einzigen gesamtdeutschen Schriftstellerkongress, der 1947 in Berlin stattfand, akzentuierte z. B. die Schriftstellerin Ricarda Huch die verbindende Funktion der gemeinsamen Sprache.134 Bertolt Brecht
132 Kleßmann: Konturen einer integrierten Nachkriegsgeschichte, S. 7. 133 Börsenverein (Hrsg.): Buch und Buchhandel in Zahlen (1992), S. 25. 134 »Die Dichter und Schriftsteller haben eine besondere Beziehung zur Einheit, nämlich durch die Sprache. Die Sprache scheidet ein Volk von anderen Völkern, aber sie hält auch ein Volk zusammen.« In: Huch, Ricarda: Nationalgefühl?
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datierte die »wirkliche Spaltung Deutschlands« auf die Zeit, »wenn große literarische Werke in einem Teil Deutschlands nicht mehr gelesen werden können«.135 Eine Klausel für den Fall der deutschen Vereinigung in Lizenzverträgen zwischen Ost und West lässt die Deutung zu, dass ein Zusammenschluss noch bis in die sechziger Jahre hinein nicht ausgeschlossen schien; und auch als die Dynamiken der Abgrenzung die Zweistaatlichkeit manifestierten, wurden Zusammenhänge zwischen beiden Teilen Deutschlands hergestellt: Luchterhand gab Jurek Beckers Jakob der Lügner als ersten Titel der 1970 gegründeten Taschenbuchreihe Sammlung Luchterhand in Lizenz des Aufbau-Verlages heraus; etwa zeitgleich erschienen z. B. Lizenzausgaben von Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. (1969) und Hermann Kants Das Impressum (1972) im Luchterhand Verlag.136 Das Lizenzgeschäft zwischen DDR und Bundesrepublik kam während der gesamten Zeit der deutschen Teilung nie zum Erliegen und wuchs besonders in den achtziger Jahren aufs Neue an. Dazu wurden von Beginn der Trennung an vereinzelt Anthologien sowohl von Ost- als auch von Westseite herausgegeben, die den gemeinsamen Wunsch nach dem Wissen um die jeweils andere Literatur demonstrierten. Verlage führten gemeinsame Lesungen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus Ost und West durch, auf den Buchmessen wurden einzelne Verlage mit deutsch-deutschen Projekten oder die gemeinsame Arbeit von sogenannten Parallelverlagen – wie am Beispiel von Rütten & Loening gezeigt – wirkungsvoll in Szene gesetzt. Neben derlei sichtbaren Belegen existierten im Bereich der Literaturproduktion vor allem private Kontakte und individuelle Ambitionen, die Verflechtungen zwischen DDR und Bundesrepublik aufrechterhielten und vorantrieben: Der »Neue Friedrichshagener Dichterkreis«, dem unter anderem der ostdeutsche Schriftsteller Johannes Bobrowski und der Westberliner Verleger Klaus Wagenbach angehörten und der sich »der Beförderung der schönen Literatur und des schönen Trinkens«137 verschrieben hatte, zeugt von freundschaftlich-literarischen Kontakten über die Mauer hinweg. Der Einsatz von Verlagsschaffenden in sowohl DDR als auch Bundesrepublik verwischte die innerdeutsche Grenze in zahlreichen Fällen, einige – heute für ihre Rolle im deutsch-deutschen Literaturaustausch gerühmte – Lektorinnen und Lektoren gingen soweit, offizielle Regelungen im Umgang mit der jeweils anderen Literatur zu missachten. So ließ etwa Elisabeth Borchers nach ihrem Wechsel von Luchterhand zu Suhrkamp Ulrich Plenzdorfs Die Legende vom Glück ohne Ende ungefragt drucken, da sie nach jahrzehntelanger Arbeit mit ostdeutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern um die Hürden im DDR-Betrieb wusste: »Ob DDR-Ausgabe oder nicht: Im Herbst erscheint das Buch bei Suhrkamp.«138 Als Volker Braun zur Mitte der achtziger Jahre nach Erscheinen seines Hinze-KunzeRomans, der kurz darauf wegen ideologischer Verfehlungen wieder aus dem Sortiment genommen wurde, in Bedrängnis geriet (Verkaufsverbot des Romans, Verweigerung der Druckgenehmigung eines Lyrikbands, Diffamierung durch die DDR-Literaturwissenschaft), wandte er sich an seine westdeutsche Lektorin und bat sie um Unterstützung:
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Bertolt Brecht an Peter Suhrkamp, 14. 6. 1952. Zitiert nach: Brecht: Werke, Bd. 30, S. 128. Vgl. Ulmer: VEB Luchterhand, S. 14. Bobrowski: Statuten des Friedrichshagener Dichterkreises, S. 328. Bericht Elisabeth Borchers an Siegfried Unseld, 18. 1. 1979, zitiert nach: Frohn: »Bitte vernichte diesen Brief«.
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»Vielleicht ist es gut, wenn ein paar Literaturwissenschaftler bei euch, deren Namen Gewicht hat, von den Vorgängen wissen. Ich fürchte ein wenig um meine Freunde hier, auch die Freunde in den Ämtern«.139 Der Zusatz »Bitte vernichte diesen Brief; und zitier ihn nicht«, zeugt ebenso von möglichen, aus den Verflechtungen heraus entstehenden Bedrohungen im literarischen Feld, wie Klaus Wagenbachs Reiseverbot durch die DDR oder das rigorose Vorgehen des Ministeriums für Staatssicherheit im deutsch-deutschen Buchaustausch.140 Dennoch: Trotz Ungarnkrise, Mauerbau, »Kahlschlag«-Plenum und Biermann-Ausbürgerung blieben beide Teile Deutschlands im Feld der Buchherstellung – wenn auch z. T. nur punktuell – miteinander verflochten. Die von Kleßmann angenommene »Parallelität« lässt sich am ehesten auf die unter gleichem Namen existierenden Institutionen (Verlage, Börsenverein und Schriftstellerverband) übertragen, auch wenn diese Organe, wie oben angedeutet, sowohl als Beleg für nebeneinander herlaufende, unabhängige Strukturen als auch für starke Verflechtungstendenzen geltend gemacht werden können. Damit ist der Begriff der »Parallelverlage« ebenso unscharf wie der einer »Parallelgeschichte«, da die Wortbedeutung nahelegt, dass die jeweiligen Größen nie miteinander in Berührung kamen. Natürlich traten, wie am Beispiel der Börsenvereine aufgezeigt, zwischen den Institutionen (oft asymmetrisch gelagerte) Verflechtungen auf; einzelne Fallstudien zu sogenannten Parallelverlagen zeugen von Beziehungen zwischen den jeweiligen Häusern, die von schärfster Konkurrenz bis geschäftlich-persönlicher Kooperation rangierten. Dennoch lief das Tagesgeschäft – bei den Verlagen in Parallelität wie bei allen anderen DDR-Häusern – weitgehend unabhängig vom westlichen Nachbarn ab; die Verlagsarchive von z. B. Aufbau oder dem Verlag der Nation zeugen von alltäglichen Handlungen der Buchherstellung: dem Kontakt mit Autorinnen und Autoren, der üblichen Lektoratsarbeit, Fragen zu Design, Auflagen und Druckabläufen oder Absatzvorgängen. Unmittelbar nach 1945 waren die einzelnen Zonen und später die zwei Staaten noch sehr viel stärker aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Aber spätestens ab Mitte der fünfziger Jahre stellte sich eine Routine im Umgang mit der Zweistaatlichkeit ein, die häufig einen Rückzug, eine Abgrenzung mit sich brachte. Hermann Wentker bekräftigt die von Kleßmann herausgestellte Schwierigkeit, »für die Jahre 1955 bis 1970 methodisch und darstellerisch […] dem Anspruch ›einer stärkeren Verklammerung beider Teilgeschichten, zumindest in der Gestalt einer weitgehend formalen Parallelisierung‹, gerecht zu werden. Denn Bundesrepublik und DDR entwickelten sich ›weitgehend unabhängig voneinander und folgten eigenen außenpolitischen und gesellschaftlichen Imperativen‹«.141 Auch die Ziele in der Buchherstellung und -distribution hatten sich seit Beginn der regulären Literaturproduktion – zumindest im Mikrokosmos einzelner Verlage, unabhängig von ideologischen Aufträgen durch die Kulturpolitik – kaum verändert. In Ost wie West wurde das literarische Erbe durch zahlreiche Wiederveröffentlichungen gepflegt, talentierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller wurden gefördert und den Verlagen war in beiden Systemen, wenn auch unter verschiedenen ökonomischen Vorzei-
139 Dieses und das nachfolgende Zitat in: Volker Braun an Elisabeth Borchers, o. D., zitiert nach: Frohn: »Bitte vernichte diesen Brief«. 140 Vgl. Frohn: Literaturaustausch, S. 437–444. 141 Wenkter: Zwischen Abgrenzung und Verflechtung, S. 12.
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chen, an wirtschaftlichem Erfolg gelegen. Daher muss auch in diesem Feld von Parallelität gesprochen werden, auch wenn sich die unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs erst in Kleßmanns paradoxaler Phrase einer »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte« entfalten – schließlich sorgten gemeinsame Nenner in Sprache, Kultur und aufrichtigem Interesse am »Buch von drüben« in der gesamten Zeit der deutschen Teilung ungeachtet der jeweiligen Eigenständigkeit für permanente Wechselwirkungen zwischen Ost und West. So muss resümiert werden, dass die Theorie der asymmetrischen Verflechtung bei gleichzeitiger Parallelität für Untersuchungen im deutsch-deutschen Feld der Literaturherstellung und -distribution fruchtbare Ansätze birgt: Gerade weil sich der Forschungsgegenstand einer linearen Schematisierung entzieht und durch seinen Facettenreichtum kaum allgemeingültig zu analysieren ist, erweist sich das komplexe – und Widersprüchlichkeiten abbildende – Theorem von Kleßmann als eine Möglichkeit, die unterschiedlichen Motive, Prozesse und Irregularitäten zu ordnen. Dabei lassen sich nicht alle Vorgänge konkret einzelnen Entwicklungsstufen oder Begriffen zuweisen, doch birgt die theoretische Rahmung genug Flexibilität, um Ausnahmen und Widersprüchen Raum zu geben. Festzuhalten bleibt, dass sich die DDR wie in zahlreichen anderen Bereichen auch im Literaturbetrieb als Spiegel oder sogar als »Negation des Konkurrenzstaates«142 begriff. Und doch ist gerade im Feld der Buchherstellung und -verbreitung eine Souveränität fernab der Bundesrepublik und eine Vorgehensweise nachzuzeichnen, die weder auf politische Abgrenzung noch auf konkrete Stellungnahme ausgerichtet war. Natürlich lässt sich, wie aufgezeigt, die Geschichte einer staatlich gelenkten und insbesondere politisch motivierten Buchherstellungs- und Literaturkontrolle nicht ohne die realpolitischen Hintergründe und ohne die Verbindungen zur Bundesrepublik nachvollziehen; doch lag dem Büchermachen auch ein beinahe unpolitischer Duktus zugrunde, der wohl einer besonderen Bibliophilie geschuldet war. Romantisch verklärt lässt sich von einer literarisch motivierten Philosophie sprechen, die der buchhändlerischen Tradition des Leipziger Umfelds entsprang und diese Prägung trotz totalitärer Bevormundung bis zum Ende der DDR beibehielt.
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142 So Rüdiger Thomas zitiert nach: Kleßmann: Verflechtung und Abgrenzung, S. 40.
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3
Literatur- und Autorenpolitik Gerd Dietrich
3.1
Kulturpolitische Rahmenbedingungen für die Buchbranche in der DDR 1949–1990
Der Begriff der Kulturpolitik, wie auch der des Kulturstaats, geht auf das aufklärerische und idealistische Erbe zurück und entsprang der Programmsprache der deutschen Klassik. Im späten 19. Jahrhundert setzte sich dann die »staatliche Kulturpolitik gegenüber den konkurrierenden Ideen eines sich – einschließlich des Mäzenatentums – selbst überlassenen Kräftespiels in der Kultur und gegenüber den Bestimmungs- und Einflussbegehren der Kirche (Kulturkampf) durch.«1 Seitdem werden kulturpolitische Entscheidungen mit Hilfe von politischer Macht getroffen und realisiert. Dabei ist die gegenseitige Verstärkung von Kultur und Staat von Beginn an konstitutiv für politisches Handeln. So kam zur rechtsstaatlichen Akzentuierung des modernen Kulturstaats, der Gewährleistung künstlerischer Freiheit, die wohlfahrtsstaatliche hinzu: die administrative und fiskalische Gewährleistung kultureller Versorgung. Das war nicht zuletzt dem Aufkommen der Arbeiterbewegung geschuldet, die die sozialistische Idee einer neuen Gesellschaft verkündete: einer Kulturgesellschaft von gleichen und arbeitenden Menschen. Schon 1872 hatte Wilhelm Liebknecht verkündet: Erst der »freie Volksstaat« werde anstelle der kapitalistischen Klassengesellschaft zu einem »echten Kulturstaat«.2 In dem ersten ausführlichen lexikalischen Eintrag zu »Kulturpolitik« formulierte Eduard Spranger 1923, dass Kulturpolitik nicht nur den Zweck hat, Kunst und Künstler zu unterstützen, sondern dass sich der Staat der Kultur für seine Zwecke bedient. Kulturpolitik »hat entweder die Hervorbringung von Kultur zum Ziele, oder sie bedient sich der Kultur als Mittel für ihre Machtzwecke. In der kürzesten Antithese: der Sinn der Kulturpolitik ist entweder Kultur durch Macht oder Macht durch Kultur.«3 Der DDR also vorzuwerfen, dass sie Kultur auch für ihre politischen Zwecke nutzte, sei es der Repräsentation oder der Legitimation, hat somit wenig Sinn und verfehlt den Zweck von Kulturpolitik. Freilich spielte der liberale Begriff des Kulturstaats, der die Autonomie von Kunst und Wissenschaft garantiert, in der DDR nur formal eine Rolle. Ausgeprägt waren dagegen die kulturell-erzieherische und die kontrollierende Funktion des Staates. Zugleich aber bekannte sich die DDR zur Weimarer Tradition kulturstaatlichen Handelns. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 hatte die Staatszielbestimmung als Kulturstaat verankert, und in der Verfassung der DDR von 1949 hieß es nahezu analog: »Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat nimmt an ihrer Pflege teil und gewährt ihnen Schutz, insbesondere gegen Missbrauch für Zwecke, die den Bestimmungen und dem Geist der Verfassung widersprechen.« Doch schon dieser Nebensatz schränkte die Freiheitsgarantie ein. Historisch berechtigt, wenn er sich gegen
1 Drechsler/Illgen/Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat, S. 496. 2 Liebknecht: Kleine politische Schriften, S. 171. 3 Spranger: Kulturpolitik. https://doi.org/10.1515/9783110471229-009
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»Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze« richtete, politisch instrumentalisiert aber, wenn damit vorgebliche »Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen«4 strafrechtlich verfolgt werden konnte. Für eine Kulturgeschichte der DDR dürfte zudem »von besonderem Interesse sein, dass die Verfechter des gesellschaftlichen Organisationskonzepts von kulturkritischen Ideen geleitet waren, im Ansatz also von kulturellen Prämissen ausgegangen waren, die dann nach und nach verändert, schließlich vernachlässigt und praktisch aufgegeben worden sind.« So konstatierte Dietrich Mühlberg, »dass die ostdeutsche Kulturgeschichte wahrscheinlich durch zwei divergierende Konzepte und Trends geprägt worden ist. Einerseits wurde versucht, eine ›Kulturgesellschaft‹ bestimmten Typs zu schaffen, die innere Widersprüche und negative Trends der Modernisierung aufhält, umkehrt oder vermeidet, wie sie am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gesellschaft zu zerstören drohten. Andererseits aber folgte diese Gesellschaft zugleich zwangsläufig den Modernisierungstendenzen einer entwickelten Industriegesellschaft (in der Mitte Europas), ihre Organisatoren mussten das Gesellschaftskonzept anpassen und dabei nach und nach intendierte Ziele aufgeben oder in eine unbestimmte Zukunft verweisen.«5 Kulturpolitik war und blieb dabei stets das Feld von Grenzstreitigkeiten zwischen Kultur und Politik. Außerdem sind kulturpolitisch gestaltete Prozesse stets nur ein Teil des kulturellen Geschehens in der Gesellschaft. In demokratisch verfassten Gesellschaften finden viele kulturelle Aktivitäten außerhalb von Kulturpolitik statt. Selbst in diktatorisch geleiteten Staaten ist Kulturpolitik nicht in der Lage, alle Bereiche des kulturellen Lebens zu erfassen. Gleichwohl gewann Kulturpolitik in der Zeit nach 1945 zunehmend an Bedeutung. Wurde sie in der DDR schon bald als Teil der Gesamtpolitik verstanden, so rückte sie in der Bundesrepublik immer mehr von der Peripherie in das Zentrum vor und nahm in den 1970er Jahren den Rahmen von Gesellschaftspolitik an.6 Bis weit in die 1970er war Kulturpolitik auch in der DDR im Wesentlichen Kunst- und Literaturpolitik und auch darüber hinaus blieben Literatur und Kunst stets der Kernbereich von Kulturpolitik. Historisch-chronologisch wird im Folgenden den kulturpolitischen Rahmenbedingungen unter drei Aspekten nachgegangen: erstens im allgemeinen kulturstaatlichen Handeln, zweitens beim Aufbau der kulturpolitischen Strukturen und drittens bei der Umsetzung von sieben kulturpolitischen Leitmotiven:7 der antifaschistischen und sozialistischen Umerziehung, der Pflege der Hochkultur, der Demokratisierung der Kultur, des Einsatzes der Kunst im Klassenkampf, dem Verhältnis von Kultur und Produktivität, der Förderung der Breitenkultur und den Positionen zu Unterhaltung und Vergnügen.
4 Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, S. 11 u. 18. 5 Mühlberg: Die DDR als Gegenstand kulturhistorischer Forschung, S. 24 u. 36–37. 6 Vgl. Fohrbeck/Wiesand: Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft?; Koch: Grundlagen sozialistischer Kulturpolitik in der DDR; Koch/Hanke/Ziermann/Barthel: Zur Theorie der sozialistischen Kultur; Wagner: Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. 7 Gerhard Schulze hat für die Bundesrepublik vier Hauptfiguren kulturpolitischen Denkens ausgemacht: das Hochkultur-, des Demokratisierungs-, das Soziokultur- und das Ökonomiemotiv. Sie werden hier vereinfacht sowie ergänzt auf die DDR angewandt. Vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 499–500.
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Im Begriff Motiv sind zugleich die zahlreichen Varianten, Mischungsverhältnisse und Überlagerungen dieser Grundideen enthalten. Diese Motive entstanden zwar zeitlich nacheinander, aber sie wirkten dann nebeneinander in unterschiedlicher Prominenz und Stärke, beeinflusst von den polit-strategischen Konzepten der Herrschaftspartei.
Kulturpolitik in der Übergangsgesellschaft 1949–1958 Mit der Bodenreform (»Junkerland in Bauernhand«), der Industriereform (»Enteignung der Betriebe der Kriegs- und Naziverbrecher« und der Verwaltungsreform (»Antifaschisten in die Verwaltungen«) in den Jahren 1945/46 waren in der ostdeutschen Gesellschaft Prozesse in Gang gesetzt worden, die sie zu einer Übergangsgesellschaft werden ließen. Die Auflösung traditioneller bürgerlicher, proletarischer und bäuerlicher Milieus verband sich mit der Beseitigung des Kastensystems im Bildungswesen und der Öffnung der Bildungschancen für alle (»Demokratische Bildungsreform«). Das postulierte Ziel war eine demokratische Erneuerung der deutschen Kultur. Nachdem das Chaos des Nachkriegs überwunden und die Existenz einigermaßen gesichert war, kam wieder jene vertraute industriegesellschaftliche Struktur zum Vorschein, in deren Mittelpunkt die Arbeit stand. Einer modernen Sozialstruktur stand dabei ein konservativer Kulturstaat gegenüber. Dieser Widerspruch war drei Komponenten geschuldet: Zum ersten der sozialdemokratischen wie kommunistischen Bildungstradition der SED-Führer, denen vor allem an der Sicherung des kulturellen Erbes gelegen war. Zum zweitem dem egalitären Konzept einer sogenannten Volksverbundenheit, das auf Anerkennung, Verständlichkeit und Unterstützung bei den breiten Massen ausgerichtet war. Zum dritten der Dominanz des Bündnisses der bildungsorientierten SED-Führer mit jenen Intellektuellen, die aus dem Bildungsbürgertum stammten und sich der sozialistischen Bewegung angeschlossen hatten, um ihre aufklärerischen Ideale vom harmonischen Menschen zu verwirklichen. Linke und eingreifende Kulturkonzepte blieben dagegen in der Minderheit bzw. wurden ausgegrenzt. In dieser Konstellation bot der Kulturstaat DDR im Nachkriegsjahrzehnt ein durchaus bürgerliches Erscheinungsbild. Seine politischen Repräsentanten waren vor allem durch die Hebungsideologie der alten Sozialdemokratie geprägt worden. In einer seiner ersten Reden nach der Rückkehr aus Moskau, forderte der künftige Staatspräsident Wilhelm Pieck 1946: »Wir müssen Voraussetzungen und Bürgschaften dafür schaffen, dass nun wirklich einmal die erhabenen Ideen der Besten unseres Volkes, die Ideen, die wir bei den Größten aller Völker und Zeiten wiederfinden, die Ideen echter, tief gefühlter, kämpferischer Humanität und wahrer Freiheit und Demokratie zu den beherrschenden Mächten in unserem Kulturleben werden und ebenso zu lebendigen Kräften, die unser gesamtes politisches und gesellschaftliches Leben richtunggebend gestalten.« Und er beschwor jene »alte Tradition«, die die deutsche Arbeiterbewegung seit Marx und Engels auszeichne: »Anregung und Stärkung, Wissen und Rat aus dem reichen Erbe unserer großen Klassiker« zu schöpfen.8 Dieser Kulturstaat favorisierte vorindustrielle und frühbürgerliche Kulturmuster und machte Anstalten, alle an die traditionellen Werte der Hochkultur heranzuführen. Denn auch das war ein weites Feld: von einer populären
8 Pieck: Reden und Aufsätze, S. 44–45.
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Klassik über die echte Volkskunst bis zu gutbürgerlichen Anstandsregeln. Darum wurden auch Modernisierungstendenzen, wie der Einfluss massenkultureller Formen, Züge eines neuartigen Freizeitverhaltens und damit zusammenhängende Individualisierungsprozesse ignoriert bzw. kulturkritisch als Zeichen des bevorstehenden Untergangs der kapitalistischen Gesellschaft gedeutet. Im Vordergrund standen in der Nachkriegszeit Wiederaufbau und Wiederingangsetzen zerstörter Kultureinrichtungen sowie der systematische Ausbau der kulturellen Infrastruktur. Im kulturstaatlichen Handeln konnten hohe Zuwachsraten erreicht werden, so vervierfachten sich die staatlichen Ausgaben für kulturelle Zwecke zwischen 1949 und 1957 und stiegen auch danach kontinuierlich weiter an. Tab. 1: Ausgaben des Staatshaushalts für Bildungswesen und kulturelle Bereiche 1950 bis 1989 in Millionen Mark.9 Bildungswesen (einschließlich Hoch- und Fachschulen)
Kultur (einschließlich Rundfunk und Fernsehen)
1950
1.136
312
1955
2.388
392
1960
3.613
649
1965
4.351
801
1970
5.812
1.062
1975
8.276
1.953
1980
10.717
2.484
1985
13.703
3.186
1989
15.462
3.914
Seit 1947/48 verschärfte sich in der SBZ die Auseinandersetzung um die zahlreichen privaten Kleinkunst- und Varieté-Unternehmen. Oft wurde ihnen politische Unzuverlässigkeit und KdF-Rummel vorgeworfen. Ihre Reduzierung erreichte man auf dem Wege neuer gesetzlicher Einstufungs- und Zulassungsbedingungen in den Ländern. Ebenso ging man gegen die zahlreichen privaten Kinos vor: In Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen wurden 1947/48 per Gesetz sämtliche privaten Kinos verstaatlicht. Die bisherigen Eigentümer hatten Anspruch auf Entschädigung, soweit sie nicht als Naziaktivisten oder Kriegsverbrecher galten. In Brandenburg wurde zunächst weniger als die Hälfte in Kommunal- bzw. Staatseigentum überführt, während es im sowjetisch besetzten Berlin noch keine Eingriffe gab. Die Zentralisierung des Lichtspielwesens wurde in den Ländern der DDR im Laufe des Jahres 1952 abgeschlossen. In Berlin dagegen begann sie erst 1955 durch die Bildung der VEB Berliner Filmtheater. Analog wurde auch den privaten Leihbüchereien der Kampf angesagt. Denn in ihnen konnte vor
9 Statistisches Jahrbuch 1990, S. 299.
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allem Trivial- und Unterhaltungsliteratur ausgeliehen werden, zum Teil gegen erhebliche Gebühren. Am 4. Februar 1949 erließ die Landesverwaltung Sachsen ein Gesetz zur »Demokratisierung des Büchereiwesens«. Nach diesem und weiteren Ländergesetzen wurden alle öffentlichen Bibliotheken zu Volkseigentum erklärt und konnten unentgeltlich genutzt werden. Damit begann zugleich 1949 der umfassende Ausbau eines flächendeckenden Bibliotheksnetzes. Ende 1954 verfügten 93,8 % der Gemeinden in der DDR über eine Bibliothek.10 Bis 1949 gaben 159 Verlage z. B. 45.000 Buchtitel und 205 regelmäßig erscheinende Zeitschriften heraus, berichtete Ministerpräsident Otto Grotewohl 1950.11 In den Fünfzigern gingen zwar die Produktionszahlen der Buchverlage wieder zurück, trotzdem erschienen pro Kopf der Bevölkerung in der DDR mehr als doppelt so viele Bücher wie in der Bundesrepublik. Auch die Anzahl der Kinos, Theater, Orchester, der allgemeinen öffentlichen und Betriebsbibliotheken sowie der Kultur- bzw. Klubhäuser zeigt ein deutliches Bild wachsender, mehr oder weniger gleichbleibender bzw. reduzierter Positionen (vgl. Tabelle 2) Zum Teil mussten auch bestehende Disproportionen beseitigt werden. Die statistischen Angaben zeugen davon, dass die historisch gewachsene Kulturstruktur ausgebaut und zugleich neue kulturelle Bereiche geschaffen wurden, die insbesondere mit den Betrieben verbunden waren. In der Versorgung der Bürger mit öffentlichen Medien, wie Rundfunk, Film und Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften, sowie mit den traditionellen Kultureinrichtungen, wie Buch und Museum, Theater und Orchester, hatte die DDR keinen Vergleich mit modernen Industriestaaten zu scheuen. In einigen Positionen nahm sie schon in den Fünfzigern statistisch eine führende Stellung ein. In keinem anderen Land gab es z. B. bezogen auf die Anzahl der Einwohner oder die Fläche mehr Orchester als in der DDR. Hierbei hatte die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik eine dreimal dichtere Versorgung pro Einwohner, im Vergleich zu den USA eine 7,5mal dichtere, und im Vergleich mit Großbritannien eine fast 30mal dichtere Versorgung je Einwohner.12 Berechnet man die Versorgung auf die Fläche, dann erhöhen sich die Vergleichszahlen nochmals enorm. Und nähme man Thüringen, mit dem Spitzenwert in der DDR, zum Maßstab, so sähen die Vergleichswerte für Bundesrepublik, USA und United Kingdom geradezu furchtbar aus. In den fünfziger Jahren existierten keine festen kulturpolitischen Strukturen, sondern verschiedene bürokratische Ansätze, Einrichtungen und Versuche. Bis 1949 hatte die Informationsabteilung der SMAD dominiert. Nach der Gründung der DDR war für eine kurze Zeit das Ministerium für Volksbildung für alle kulturellen Fragen zuständig. Bereits 1951 wurden durch die SED-Führung nach sowjetischem Vorbild neue Strukturen geschaffen. Zugleich waren die frühen fünfziger Jahre die finstersten Jahre ostdeutscher Kulturpolitik. Im Januar 1951 erschien unter dem Pseudonym N. Orlow (d. i. Wladimir S. Semjonow) der Artikel: »Wege und Irrwege der modernen Kunst«. Die unglaubliche Schärfe dieses Angriffs ließ erkennen, dass die »Schdanowka«, die sowjetischen Formalismuskampagne gegen die moderne Literatur und Kunst, die Andrei A. Schdanow dort
10 Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 252. 11 Grotewohl: Rede zur Kulturverordnung 1950, S. 101. 12 Allmendinger: Staatskultur und Marktkultur, S. 215 ff.
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bereits 1946 und 1948 eingeleitet hatte, nun auch die DDR erreichte. Im März 1951 wurde daraufhin von der 5. Tagung des ZK der SED der kulturpolitische Kurs neu festgelegt. Ihr Beschluss trug den Titel: »Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur – für eine fortschrittliche deutsche Kultur«. Die Kunst sei hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben, hieß es apodiktisch. Dabei ging es gar nicht um die Kunst, sondern um die Durchsetzung der stalinistischen Ideologie und der ihr entsprechenden Ästhetik der Belehrung und der Macht. Nunmehr begnügte sich die SED-Führung nicht mehr mit ideologischen Kampagnen, sondern sie schuf höchst reale Mittel zur Umsetzung ihres diktatorischen Anspruchs. Im August 1951 wurde die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten gebildet, Leiter Helmut Holtzhauer, im September 1951 das Amt für Literatur und Verlagswesen, Leiter Fritz Apelt. Sie hatten die Aufgabe, den »Formalismus« administrativ zu bekämpfen und den »sozialistischen Realismus« staatlich zu fundamentieren. Was das für die Künstler bedeutete, hat Arno Mohr später beschrieben, der gemeinsam mit René Graetz und Horst Strempel an dem Wandbild »Metallurgie Hennigsdorf« 1949 gearbeitet hatte: »Die Sache war nicht schlimm, die Methoden waren schlimm; davon ging einem die Puste aus. Man darf einem Menschen die Arbeitslust nicht nehmen. Ist gar nicht begriffen worden damals, was da kaputtgemacht wurde«.13 Forciert durch die Verkündung des Aufbaus des Sozialismus 1952, machten sich Amt und Kommission daran, die Kulturstruktur der DDR auszubauen und stalinistische Prinzipien in der Kulturpolitik durchzusetzen. Dabei stießen sie auf den massiven Widerstand der antifaschistischen und sozialistischen Intellektuellen. Nach deren Kritik infolge des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 wurden zwar die Forderungen nach Meinungspluralismus und Freiheit der Kunst zurückgewiesen, aber Ende 1953 die Staatliche Kunstkommission und Mitte 1956 das Amt für Literatur wieder aufgelöst. Man versuchte nun, an die liberalere Anfangsphase vor 1948 anzuknüpfen und stalinistische Formen und Methoden zurückzunehmen. Das Anfang 1954 gegründete Ministerium für Kultur mit dem Dichter Johannes R. Becher an der Spitze nahm viele restriktive Maßnahmen zurück, ging auf die Kulturschaffenden zu und dominierte bis 1956 mit einer relativ liberalen Politik. Danach wurde sein Einfluss zurückgedrängt, und die zwischen 1953 und 1956 schwächelnde Kulturabteilung des ZK der SED übernahm wieder das Zepter. Vom ungarischen Volksaufstand im Herbst 1956 zutiefst erschrocken, spitzte die SED-Führung die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen wieder zu. Und wer sich im Tauwetter der sogenannten Entstalinisierung zu weit hervorgewagt hatte, wurde umso härter von der zurückkehrenden Eiszeit erfasst. Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Ungarn wurden vorherige Zugeständnisse zurückgenommen. Mit den Schauprozessen gegen Wolfgang Harich und Walter Janka, denen zahlreiche weitere Verhaftungen folgten, und mit der Revisionismus-Kampagne gegen Ernst Bloch, Georg Lukács und Hans Mayer wurden den führenden Vertretern der kritischen Intelligenz die Instrumente gezeigt. Was da von 1945 bis 1958 in der Kulturpolitik der SMAD bzw. der SED ablief, war für die Zeitgenossen ein schwer zu durchschauendes Kontrastprogramm. In verschiedenen Wellen lösten sich alte und neue, harte und weiche Kurse miteinander ab. Nicht von ungefähr wurden dafür immer wieder die Wechsel von Tauwettern und Eiszeiten bemüht.
13 Drescher: MalerBilder, S. 159–160.
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1. Das Umerziehungsmotiv: Fließend und teilweise geschickt getarnt war die antifaschistisch-demokratische Umerziehung als gemeinsamer Auftrag der Alliierten in eine sozialistisch-kommunistische Beeinflussung nach sowjetisch-stalinistischem Vorbild übergegangen. Die Losung »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« aus dem Jahr 1950 stellte eine Zäsur in diesem Prozess dar. Der offene und plurale Antifaschismus der Anfangsjahre musste einem kommunistisch dominierten Antifaschismus weichen. Das übersteigerte Konzept der Umerziehung konnte zu einer Erziehung für eine neue Diktatur werden, auch wenn das die Erzieher leugneten und die Erzogenen nicht wahr haben wollten. Zugleich mussten der Mangel an Erfahrung auf kulturpolitischem Gebiet ausgeglichen und neue Kulturfunktionäre herangebildet werden. Die Forderung nach Aneignung des Marxismus-Leninismus (Stalinismus) betraf nicht die gesamte Bevölkerung, sondern vor allem jene neuen Funktionseliten, die es zu mobilisieren galt. Zutreffend schrieb Eric Hobsbawm: Von den offiziellen Doktrinen des Marxismus-Leninismus blieb die Masse des Volkes ganz unberührt, da sie keine handgreifliche Bedeutung für sie hatten (außer dann, wenn sie an einer Karriere interessiert waren, bei der solch esoterisches Wissen vorausgesetzt wurde) [...] Nur die Intellektuellen einer Gesellschaft, die auf einer Ideologie aufgebaut war und sich um sie gruppierte, welche für sich in Anspruch nahm, rational und »wissenschaftlich« zu sein, 14 waren gezwungen, sie ernst zu nehmen.
Zwar fehlte vielen neuen Funktionären, die aus den bisher benachteiligten Schichten aufstiegen, die nötige Sachkenntnis. Aber sie waren gleichsam »bewusstseinsmäßig« auf ihre neue bürokratische Tätigkeit eingestellt, wie Rolf Henrich feststellte. Nicht weil sie über »Klassenbewusstsein« verfügten, sondern weil sie genau jenes »verdinglichte Bewusstsein« besaßen, mit dem sie ihre eigene Persönlichkeit von ihrer Arbeitskraft abzutrennen und sich einem zweckgerichteten Regime reiner Sachbeziehungen unterzuordnen vermochten. Perfekte bürokratische Organisation als Klassendisziplin, Ausführung der Weisungen der Führung als Parteitreue, Intriganz und Denunziantentum als Wachsamkeit gegenüber dem Klassenfeind wurden durch ein Schulungssystem in Marxismus-Leninismus zusätzlich »wissenschaftlich vertieft«.15 2. Das Hochkulturmotiv: Das Ziel der Kulturpolitik der SED war die Bestandssicherung der überkommenen »progressiven« bürgerlichen Hochkultur. Alle damit zusammenhängenden kulturpolitischen Maßnahmen waren wesentlich kunst- und literaturzentriert. Im Vordergrund standen in alter und guter protestantischer Tradition das literarische Erbe und das gute Buch. Mit Stolz berichtete das Ministerium für Kultur im November 1958, dass seit dem 1. Januar 1952 allein von Goethe 1.436.600 Einzelausgaben und 120.000 Gesamtausgaben und von Schiller 1.215.000 Einzelausgaben und 82.000 Gesamtausgeben herausgebracht worden sind.16 Politisch wurde die Hochkulturpflege vor allem durch die personelle und institutionelle Sicherung öffentlicher Darbietungen realisiert, wie Theater, Konzerte, Museen und Denkmalspflege. Das ge-
14 Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, S. 491. 15 Henrich: Der vormundschaftliche Staat, S. 91. 16 Der Aufstieg zu einer sozialistischen Nationalkultur in der DDR, S. 8.
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sellschaftspolitische Ziel war dabei stets, einer gehaltvollen Kunst entsprechende Bedingungen zu schaffen. Der Pflege und Ergebenheit gegenüber dem humanistischen Erbe, insbesondere der klassischen Literatur und Kunst, stand ein borniertes Verhalten zur modernen Kunst mit ihrem antibürgerlichen Affekt gegenüber. In der Kunstpolitik rechtfertigte man restriktive Maßnahmen mit dem Erbebezug, indem zeitgenössische Kunstwerke an klassischen Schönheitsidealen gemessen und verworfen wurden. Viele der alten und neuen Funktionäre, konstatierte Werner Mittenzwei, hatten sich »ein Kunstverständnis angeeignet, das von dem Bildungsstreben der frühen sozialistischen Bewegung ausging, wie es sich vor dem ersten Weltkrieg formiert hatte. Die ehrliche Freude, der Stolz, dass sich der Arbeiter zum Verständnis der Gipfelleistungen deutscher Kunst emporarbeitete«, bestimmte ihre Haltung. Die aktuelle Kunst wurde dabei von ihnen »so ernst genommen, dass gelegentlich Künstlern und Publikum das Vergnügen verging.«17 3. Das Demokratisierungsmotiv: In der Nachkriegszeit knüpfte die SED an die Tradition der Emanzipation der Arbeiter durch Bildung aus dem 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. Mit der demokratischen Schulreform, der neuen Einheitsschule und den Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten, wurde das überkommene Kastensystem des deutschen Bildungswesens überwunden und allen Kindern das gleiche Recht auf Bildung gewährleistet. Damit sollte den bisher unterprivilegierten Schichten der Weg zu höherer Bildung erschlossen und ein breiter Zugang zu Kunst und Literatur geöffnet werden. Demokratisierung von Kultur bedeutete aber nicht kulturelle Aufwertung der Massenkultur, sondern Popularisierung der Hochkultur. Die massenhafte Pflege und Verbreitung der Hochkultur wurde ergänzt durch das pädagogische Ziel, die Menschen hochkulturfähig zu machen. Alle kulturellen Organisationen hatten daran mitzuwirken. Insgesamt handelte es sich um ein konservatives kulturelles Hebungsprogramm, dessen Wurzeln in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts lagen. Zum einen sahen die politischen Funktionäre die Aneignung einer volksnahen Hochkultur als eine Pflichtaufgabe für jedermann an, ganz im Sinne von Erziehung und Zwangsbeglückung. Zum zweiten verteidigten sozialistische Intellektuelle das Recht auf Genuss und Vergnügen für alle in und mit der Kunst und Kultur, weit über jenen pädagogischen Aspekt hinaus. Und zum dritten lief das Hebungsprogramm mit der Abwanderung der alten kulturellen Eliten auf eine egalisierende bzw. nach unten nivellierende Praxis hinaus. 4. Das Kampfmotiv: Die Konjunkturen der Losung »Kunst ist Waffe«, die der Schriftsteller Friedrich Wolf 1928 geprägt hatte, verbanden sich mit den harten Kursen und Eiszeiten in der Kulturpolitik. Immer wenn der Schwerpunkt auf Kultur und Kunst im Kampf der Klassen und Systeme, der Weltanschauungen und Ideologien gelegt wurde, wenn sich die politischen Konflikte zuspitzten oder bewusst zugespitzt wurden, wie in den Jahren 1947/48, 1951/52 oder 1956/57, beschworen die SED-Funktionäre diese alte Losung herauf, um von den ostdeutschen Schriftstellern und Künstlern eindeutige politische Stellungnahmen zu verlangen. Im Zuge der Systemauseinandersetzung wurde dafür auch vom Osten die Friedensbewegung der Intellektuellen instrumentalisiert, wie der CIA ebenso die Gegenbewegung, den Kongress für kulturelle Freiheit, im Westen finanzierte.
17 Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht, Band 2, S. 432.
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In den Jahren des Kalten Krieges waren wechselseitige Dämonisierungen an der Tagesordnung: Ablehnung des totalitären Stalinismus wie des sozialistischen Realismus im Westen, Bekämpfung des dekadenten Imperialismus, Formalismus und Kosmopolitismus im Osten. Sie bezogen ihre Rechtfertigung aus dem Impetus des Lagerdenkens. Für die »Feinde« der je eigenen Kultur sollte es möglichst keine Freiheit geben. Da in der DDR als der gefährlichste Feind die amerikanische »Unkultur«, d. h. die vom Westen hereinbrechende Amerikanisierung, ausgemacht worden war, wurde gegen sie das Motiv der Verteidigung der nationalen Kultur in Anschlag gebracht. Es konnte auf eine noch ältere Tradition zurückblicken als das Motiv »Kunst ist Waffe« und fand zunächst Zuspruch in breiten Kreisen der ostdeutschen Bevölkerung, ausgenommen große Teile der Jugend. 5. Das Produktivitätsmotiv: Leistungsentwicklung und Arbeitsproduktivität betrachtete die SED-Führung von Anfang an als einen Faktor, der direkt von Bildung und Kultur abhing. Bereits mit dem Zweijahrplan 1949/50 sollten die Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler mobilisiert werden. Einerseits um einen eigenen Beitrag zur Planerfüllung zu leisten, andererseits um die Werktätigen zu höheren Leistungen anzuspornen. So hieß es in einer Verordnung von Anfang 1949: »Der Kampf um die Erfüllung des Zweijahrplans macht die Entfaltung einer Massenkulturarbeit erforderlich. Wissenschaft, Kunst und Literatur müssen sich organisch in den Aufbau einer neuen Friedenswirtschaft eingliedern und ihren Anteil an der Erziehung eines neuen Menschen und einer neuen Einstellung zur Arbeit leisten.«18 In diesem Sinne wurde lange Zeit auf die einfache Gleichung gesetzt, nach der zunehmende Bildung und Kultur auch wachsende Produktivität bedingen und die Kulturpolitik damit direkt in den Dienst der ökonomischen Strategie gestellt. Das war mit einem engen Verständnis des Bildungs- und Erziehungsaspekts von Kultur verbunden. Geselligkeit, Entspannung und Erholung spielten in diesem Denken so gut wie keine Rolle. Eine betriebszentrierte Sozial- und Kulturpolitik war der zweite Aspekt des Produktivitätsmotivs. Die »volkseigenen« Betriebe sollten nicht nur Zentren der produktiven Arbeit sein, sondern auch Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens werden. Die Gewerkschaft übernahm nicht nur planerfüllende, sondern auch soziale und kulturelle Aufgaben. Mit Betriebsverkaufsstellen, Betriebskinderkrippen und -gärten, Betriebspolikliniken, Betriebsberufsschulen, Betriebsbibliotheken, Betriebskulturhäusern, Betriebsvolkskunstensembles bzw. -gruppen, Betriebsferienheimen und -kinderferienlagern und Betriebssportgemeinschaften konnten durchaus neuartige kulturelle Bindungen der Werktätigen an ihre Arbeitsstätten geschaffen werden. 6. Das Breitenkulturmotiv: Das Konzept der Breitenkultur stand im Kontrast zur Spitzenkultur und grenzte sich von jener Massenkultur bzw. Kulturindustrie ab, die sich im prosperierenden Westen zu entfalten begann. Breitenkultur wurde als geistig-kultureller Aufstieg der Werktätigen verstanden, wobei einige Akteure sicher von der Aufhebung des Unterschieds zwischen Berufs- und Laienkunst träumten. Zunächst aber ging es um das künstlerische Volksschaffen in den traditionellen Sparten: Volkschöre, Volks-
18 Überführung der Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereine in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen, 12. Januar 1949. In: Dietrich: Politik und Kultur in der SBZ, S. 354.
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tanz, Volkskunst und Volkssport mit ebenso traditionellen Inhalten. Seit 1949 übernahmen die Massenorganisationen die Führung der Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereine und versuchten, neue und sozialistische Inhalte in den Gruppen zu verankern. Seit 1952 entstanden staatliche Einrichtungen zur Anleitung und Organisierung, und die Kulturhäuser wurden zu Schwerpunkten des Volkskunstschaffens. Ebenso wie bürgerliche Konservative im Westen glaubten maßgebliche SED-Kulturpolitiker mit Hilfe der Volkskunst, in diesem Fall nicht nur der deutschen, sondern auch der sowjetischen und der anderer sozialistischer Länder sowie revolutionärer Befreiungsbewegungen, das Vordringen der modernen Massenkultur verhindern zu können. Die finanziellen Mittel, die der FDGB dafür bereitstellte, wuchsen von 18,69 Mio. Mark 1950 auf annähernd 46 Mio. Mark 1957 an.19 Auch im Rundfunk wurde zeitweise der »echten« Volksmusik ein dominanter Platz eingeräumt. Das Interesse der Jugendlichen an moderner Tanzmusik konnten oder wollten die konservativen Funktionäre nicht wahrhaben. Mit ihrer Wendung gegen Amüsement und Vergnügen zugunsten einer anstrengenden Volkskunstarbeit verband sich ein ausgesprochener Erziehungsauftrag an alle Formen kultureller Massenbetätigung. Erst nach dem 17. Juni 1953 reifte schrittweise die Einsicht, dass die Unterhaltungsbedürfnisse der Menschen nicht missachtet werden können, wenn man sie an die ostdeutschen Medien binden wollte. 7. Das Unterhaltungsmotiv: Zwar leugnete niemand die Aussagen von Marx und Engels oder von Becher und Brecht zur Unterhaltungsfunktion der Künste, aber auch hierzu sollten die Werktätigen eben erst erzogen werden. In der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung galt alles Unterhaltende und Massenkulturelle lange Zeit als »Ablenkung vom Klassenkampf«. Ein Verständnis von Unterhaltung als subjektives, individuelles und eigensinniges Recht und Bedürfnis der Menschen, Unterhaltungskultur als Produkt der modernen Industriegesellschaft war noch nicht vorhanden. Unterhaltung wurde nur dann als sinnvolle Tätigkeit anerkannt, wenn sie nicht auf eine passive, sondern auf eine aktive Aneignung sozialer, politischer und kultureller Werte gerichtet war. Das heißt aber nicht, dass es keine, mehr oder weniger geduldete Unterhaltung gab. Im Gegenteil. Die Palette in den ostdeutschen Medien war breit und gesamtdeutsch: dominiert von Schlager, Tanzmusik und Operette, ebenso gab es Jazz und »Volksmusik«: vom »Ol’ Man River« (Paul Robeson) bis zum »Rennsteiglied« (Herbert Roth). Denn es setzten sich immer wieder unterhaltende und massenkulturelle Formate in den öffentlichen Veranstaltungen und Medien durch. Der Wunsch nach Spiel und Unterhaltung war auch in den harten und tristen Nachkriegsjahren wie in dem politisierten und ideologisierten Alltag der frühen Fünfziger nicht zu unterdrücken. Insbesondere nach dem 17. Juni 1953 gab es in der DDR einen Boom von Unterhaltungssendungen, Kabaretts, Satire- und Unterhaltungsblättern, die von weltoffenen Sozialisten mit zumeist westlicher Exilerfahrung gemacht wurden. Die Möglichkeiten des neuen Mediums Fernsehen wurden auch von den konservativen Kulturpolitikern erkannt und gefördert, obwohl Unterhaltung dort anfangs kaum stattfand. In der Tanz- und Schlagermusik dagegen dominierten in den Fünfzigern eindeutig westdeutsche Produktionen, die den Wünschen und Ansprüchen der Bevölkerungsmehrheit entsprachen, die Mehrheit der Jugendlichen orientierte sich an der modernen Pop- und Rockkultur.
19 Handbuch für den Kulturfunktionär, S. 449.
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Im Jahr 1957 markierte Johannes R. Becher den allgemeinen kulturellen Entwicklungsstand: Bei allem Stolz auf unsere Errungenschaften dürfen wir aber nicht einen Augenblick vergessen, dass es uns noch keineswegs gelungen ist, trotz der Veränderung unserer Gesellschaft und der großen Hilfe, die uns Künstlern die Partei hat angedeihen lassen, die Klage Goethes verstummen zu lassen, wie er sie erhebt: »Es waltet im deutschen Volke eine Art geistiger Exaltation. Kunst und Philosophie stehe abgerissen vom Leben im abstrakten Charakter, fern 20 von den Nährquellen, die sie ernähren sollen.«
Damit brachte er zum Ausdruck, dass die beklagte Trennung von Volk und Kultur, von Kunst und Leben nicht überwunden war. Viele DDR-Kulturschaffende orientierten sich nach wie vor an der utopischen Funktion der Kultur und vertrauten zugleich auf die Ideen des Humanismus, der Toleranz und Demokratie, die mit der Berufung auf das kulturelle Erbe verbunden waren. Diese auch in der Verfassung der DDR verankerten Postulate, die von den Kulturpolitikern stets beschworen wurden, bargen Möglichkeiten des Widerstands, ließen Freiräume und Nischen entstehen und räumten eine relative Selbständigkeit der Kultur ein. Auch die »proletarische Revolution ist keine Zwangsjacke für die Künste«, hoffte der Schriftsteller Bodo Uhse 1956, »und der Sozialismus nicht ihr Armenhaus.«21 Der Nestor der DDR-Philosophie Ernst Bloch hatte 1956 vor Leipziger Literaturstudenten von »der Diktatur des kleinbürgerlichen Geschmacks im Namen des Proletariats« gesprochen.22 Denn die stalinistischen Funktionäre waren zumeist noch den ästhetischen Werturteilen des vorigen Jahrhunderts verhaftet. Nachdem er der DDR infolge der Revisionismuskampagne und des Mauerbaus den Rücken gekehrt hatte, stellte Bloch 1965 fest: »Alle Kulturpäpste und rote Oberlehrer reden von daher, soweit sie nicht noch den Geschmack der Gründerzeit hinzufügten. Woraus sich dann keine Sicherungen gegen reaktionären Spießbürger-Kitsch ergaben, vielmehr dessen Beförderung, auch noch im Namen der Revolution.«23 Selbst das anfangs postulierte Zuendeführen der bürgerlichdemokratischen Revolution war auf der Strecke geblieben, indem die diktatorischen Strukturen einer Parteiherrschaft errichtet wurden. Und ziemlich fassungslos stand die linke Intelligenz jener Dialektik gegenüber, dass eine auf Modernisierung ausgerichtete Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sich auf dem Feld der Kulturpolitik dermaßen antimodern und repressiv gab.
Kulturpolitik in der »Bildungsgesellschaft« 1958–1976 Ende der fünfziger Jahre war der letzte gesellschaftliche Großversuch gestartet worden, eine sozialistische Kulturgesellschaft und einen Fortschritt in Richtung »Kultursozialismus« doch noch zu erreichen. Zugleich wurde das private Streben nach einem besseren Leben im Laufe der sechziger Jahre schrittweise von dem Makel befreit, Ausfluss bür-
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Becher: Bemerkungen zur Kulturkonferenz, S. 601. Uhse: Reise- und Tagebücher II, S. 295. Giordano: Die Partei hat immer recht, S. 173. Bloch: Liegt es am System?, S. 393.
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gerlicher Moral zu sein. Um aus dem kulturpolitischen Dilemma des Jahres 1956/57 herauszukommen, das durch die Schauprozesse und die Revisionismuskampagne entstanden war, und die Distanz zur Intelligenz zu überwinden, sann die SED auf eine neue Mobilisierungsstrategie. Auf dem V. Parteitag der SED 1958 postulierte Walter Ulbricht: »In Staat und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits der Herr. Jetzt muss sie auch die Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen«.24 Seit 1957/58 wurde offen und breit eine »sozialistische Kulturrevolution« propagiert, nachdem bis dahin eine gesamtdeutsch orientierte Kulturpolitik diesen Terminus vermieden hatte. Die neue Ausrichtung der Kulturpolitik zielte auf eine Synthese von Bildung, Moral und Kultur. Sie wurde von der Kulturkommission beim ZK der SED unter Alfred Kurella geführt, die von 1958 bis 1963 existierte. Tab. 2: Anzahl kultureller Einrichtungen 1951–1989.25 Jahr
Bibliotheken
Filmtheater
KulturKlubhäuser
1951
12.830
1.494
565
1955
15.658
1.423
1960
17.791
1965
Theater
Orchester Universitäten Fachund Hochschulen schulen
Schulen
77
120
21
–
10.245
1.354
88
109
46
306
11.007
1.369
1.133
87
89
45
256
9.729
20.907
973
1.224
93
81
44
194
8.883
1970
17.466
858
944
101
82
54
194
6.878
1975
17.796
833
812
110
82
54
234
5.921
1980
17.294
826
776
152
86
53
237
5.906
1985
17.642
819
814
183
88
54
239
5.864
1989
16.130
805
861
217
87
54
234
5.928
Der kulturstaatliche Ansatz der DDR lief nach der Bitterfelder Konferenz von 1959 unter der Parole vom »Bitterfelder Weg«, auf dem die »gebildete Nation« geschaffen werden sollte. Einerseits waren damit die Funktionäre wie die Arbeiter an die Kultur heranzuführen, andererseits sollten sich die Angehörigen der Intelligenz den Arbeitern und Bauern annähern. Die utopische Vorstellung, die sich dahinter verbarg, war die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben, von körperlicher und geistiger Arbeit. Hierfür wurden keine Mittel gescheut. Die Ausgaben für die kulturellen und sozialen Bereiche im Staatshaushalt der DDR stiegen kontinuierlich an. Die Zahl und das Verhältnis der kulturellen Institutionen zueinander veränderten sich zwangsläufig. Theater, Kulturhäuser und Orchester wurden nach wie vor hoch subventioniert, während sich die
24 Ulbricht: Der Kampf um den Frieden, S. 182. 25 Statistisches Jahrbuch 1956, S. 111, S. 116, 119, 124, 126–127; Statistisches Jahrbuch 1990, S. 332, 342, 348–349, 351, 353, 355 u. 357.
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Kinos und die Unterhaltungsbranche selbst tragen mussten. Letztere hatten mit dem sogenannten Kulturgroschen als Abgabe auf jede Eintrittskarte (im Kino 5 Pf.) ebenso zur Finanzierung der Hochkultur beizutragen. Erklärend sei hinzugefügt, dass bei den Bibliotheken haupt- wie nebenberuflich geleitete sowie staatliche, wissenschaftliche und Gewerkschaftsbibliotheken, bei den Theatern Spielstätten, z. B. Foyertheater, Podiums- und Studiobühnen, und bei den Schulen zehnklassige allgemeinbildende und erweiterte Ober- sowie Sonderschulen zusammengezählt wurden. Insgesamt hatte die DDR bereits 1975 einen hohen Versorgungsgrad mit Bibliotheken, Museen, Klub- und Kulturhäusern, zoologischen Gärten, Theatern und Orchestern erreicht. Dass die Zahl der Kinos kontinuierlich abnahm, war dem wachsenden Fernsehkonsum zuzuschreiben. Schließlich besaßen 1975 schon 87,9 Prozent der Haushalte einen Fernsehempfänger. Die durchschnittlichen wöchentlichen Sendestunden des Fernsehens der DDR waren von 58 im Jahr 1960 auf 132 im Jahr 1975 angewachsen.26 Hinzu kam in weiten Teilen der DDR der inzwischen ungehinderte Empfang von ARD und ZDF. Die kulturpolitischen Strukturen haben sich in diesem Zeitraum kaum noch verändert. Die Kulturkommission des ZK der SED gab es nur für fünf Jahre. Der Versuch Ulbrichts Anfang der Sechziger mit neuen und jungen Leuten in der Jugendkommission (Kurt Turba) und dem Ministerium für Kultur (Hans Bentzien) den jugend- und kulturpolitischen Bereich zu reformieren, scheiterte am Widerstand der konservativen Kräfte. Einerseits hatten die innerparteilichen Auseinandersetzungen auf kulturellem Gebiet seit 1963 gewissermaßen eine Stellvertreterfunktion, um die ökonomische Reformpolitik zu beschädigen. Andererseits konnte sich in der Kulturpolitik noch einmal jene Gruppe von Funktionären behaupten, die von Ulbricht in den Fünfzigern favorisiert worden war. Hermann Kant, ab 1978 Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR, sprach später von der »Viererbande«: Alexander Abusch (stellvertretender Ministerpräsident), Otto Gotsche (Sekretär Ulbrichts), Alfred Kurella (Leiter der Kulturkommission) und Hans Rodenberg (stellvertretender Kulturminister) und nannte sie »das kulturpolitische Unwesen«. Wobei er nicht anzweifelte, dass diese Leute »durch einen antifaschistischen oder kommunistischen oder sowjetischen Hintergrund ausgewiesen waren […]. Aber was sie daherredeten, war zunehmend nicht auszuhalten […], sie waren durch nichts legitimiert, ihr Amt war ihnen sozusagen von Gott oder von ihnen selbst verliehen. Alle schienen es für selbstverständlich zu nehmen.« Nach seinen Erinnerungen waren diese Vier »unangenehme, aber unablösbare Verkörperungen der Partei, der ich mich in Disziplin verbunden wusste […] sie galten mir, neben ihren Verdiensten, die ich nicht leugnen durfte, als dogmatisch, bigott, vulgär und peinlich.«27 War auch der »alte Adam« mit den von Ulbricht verkündeten zehn Geboten der sozialistischen Moral und Ethik wohl kaum zu bewegen, für die Arbeiter bestimmte noch immer das Sein das Bewusstsein. So war doch die Intelligenz mit dem Ziel einer Bildungsgesellschaft durchaus zu beeindrucken. In der Bildung und Erziehung des Volkes konnten auch die kulturellen und die politischen Eliten als Funktions- und Machteliten zusammenfinden. Einerseits suchte die politische Elite in den Modernisierungs-
26 Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, S. 356. 27 Gutschke: Hermann Kant, S. 97; Kant: Abspann, S. 317–318.
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prozessen zwangsläufig das Bündnis mit der geistigen Elite: Ein Machtbündnis zweifelsohne, wenn auch die Intelligenz darin nicht zum dominanten, sondern zum dominierten Teil gehörte. Die funktionelle Macht, die sie als »Erzieher des Volkes« gewann, musste sie mit politischer Ohnmacht in ihrem ureigenen Bereich bezahlen. Die Intelligenz befand sich in einer Position von »beherrschten Herrschenden«.28 Intelligenz und Nomenklatura waren somit keine antagonistischen Klassen, sondern »bestenfalls verfeindete Brüder«.29 Andererseits besaß der Aufbruch der jungen Intellektuellen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre einen hohen symbolischen Wert. Ob es die Ausstellung der jungen Maler und der Lyrik-Abend in der Akademie der Künste, die viel diskutierten Romane, die neuen Theater- oder Musikstücke oder die verbotenen Filme waren, sie brachen einer neuen Rolle der Künste in der Gesellschaft Bahn. Es dominierte eine Ästhetik der Skepsis und des Widerspruchs. Literatur und Kunst begannen, die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit wahrzunehmen. Sie wurden zur Stütze des Einzelnen gegenüber den Anforderungen und Anfechtungen des Kollektivs und der Parteipolitik. 1. Das Umerziehungsmotiv: In Fortführung der antifaschistischen und sozialistischen Erziehung wurde es mit der euphemistischen Losung von der »gebildeten Nation« umschrieben. Diesen Begriff setzte man einer bürgerlichen Elitetheorie ausdrücklich entgegen und verstand ihn als »humanistische Forderung nach maximaler Ausbildung aller körperlichen und geistigen Potenzen des ganzen Volkes«. Eine gebildete Nation bestand danach aus gleichberechtigten, nicht nur materiell und geistig, sondern auch künstlerisch produktiv tätigen Menschen. Offiziell hieß das, der Begriff »fasst das Streben der Bürger des sozialistischen Staates nach hohem fachlichem Wissen und Können, nach gründlichen Kenntnissen auf politischem, technischem, natur- und gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet zusammen. Er beinhaltet die Befähigung und Bereitschaft aller Bürger zur produktiven Arbeit, zu hohem politischem und moralischem Verantwortungsgefühl, zu sittlichem Verhalten und vor allem zur aktiven bewussten und schöpferischen Tätigkeit für die Erhaltung des Friedens, für die Erfüllung der ökonomischen, politischen und kulturellen Aufgaben«.30 Auf der Basis dieser Vorstellungen konnte mit den Qualifizierungsmaßnahmen in der Wirtschaft, dem Übergang zur zehnklassigen polytechnischen Oberschule und der dritten Hochschulreform ein hohes Ausbildungsniveau erreicht werden. Für den Bereich der kulturellen Massenarbeit waren mit dem Zentralhaus für Kulturarbeit in Leipzig (ab 1952) und der Fachschule für Klubleiter in Meißen-Siebeneichen (gegründet 1958) wichtige Ausbildungsstätten entstanden. Der Studiengang Kulturwissenschaft wurde 1963 an den Universitäten in Berlin und Leipzig eingeführt. Die nachfolgenden Generationen politischer, ökonomischer und kulturpolitischer Funktionäre wiesen seit den sechziger Jahren eine solide Ausbildung auf und entfernten sich mehr und mehr vom Dogmatismus der Fünfziger. 2. Das Hochkulturmotiv: Traditionell stand die Hochkultur weiterhin im Mittelpunkt der Kulturpolitik, wurde ihre Pflege durch die personelle und institutionelle Sicherung und Subventionierung der Bibliotheken, Theater, Museen und Denkmalpflege realisiert.
28 Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht, S. 73. 29 Reich: Abschied von den Lebenslügen, S. 40. 30 Bühl u. a. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch 1970, S. 394.
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Auch das Fernsehen hatte zumindest in der ersten Zeit dem Hochkulturmotiv zu folgen. Es wurde weniger als Massen- und Unterhaltungsmedium verstanden, sondern dem Erziehungsauftrag zur »gebildeten Nation« untergeordnet. Zum einen konnte in der Pflege des humanistischen und kulturellen Erbes in den sechziger Jahren die Einseitigkeit des Bezugs auf die Weimarer Klassik überwunden werden, selbst wenn Ulbricht noch einmal intensiv auf das »faustische Streben« abhob und 1962 postulierte, dass in der DDR alle Werktätigen damit begonnen hätten, den »dritten Teil des ›Faust‹ mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus zu schreiben.«31 Zum anderen gewann die bis dato als »Proletkult« abgewertete proletarisch-revolutionäre Kunst und Literatur der zwanziger Jahre wieder an Gewicht. Nicht nur Johannes R. Becher (1958 gest.), sondern auch Bertolt Brecht (1956 gest.) und Hanns Eisler (1962 gest.) wurden inzwischen als »Klassiker« gehandelt. Damit konnte auch begonnen werden, das einseitige Realismus-Verständnis und den konservativen Affekt gegen die Moderne aufzubrechen. Das allerdings war ein langer Prozess, der sich bis in die achtziger Jahre hinzog. Die antimoderne Formalismusdoktrin der fünfziger Jahre verlor dagegen an Einfluss und wurde zumeist durch das Dekadenzverdikt ersetzt. Aber während Kurt Hager noch 1972 den unversöhnlichen Gegensatz von Realismus und Modernismus postulierte,32 hatten die Künstler und Wissenschaftler schon längst begonnen, den Dekadenzbegriff aufzulösen und der Weite und Vielfalt eines wie auch immer definierten Realismus zu folgen. 3. Das Demokratisierungsmotiv: Einerseits waren mit der Oberschulbildung für alle ein altes Ziel der Arbeiterbewegung in der DDR verwirklicht und die Aufstiegswege weit geöffnet worden. Andererseits gelang es den schreibenden, malenden, musizierenden, singenden, vortragenden, Kabarett und Theater spielenden und Filme machenden Arbeitern nur in wenigen Ausnahmenfällen, die Höhen der Künste zu erstürmen. Berufsund Laienkunst konnten zwar einander angenähert, aber keineswegs miteinander verschmolzen werden. − Die beiden einzigen namhaften »Arbeiterschriftsteller« – Werner Bräunig, der aus der Bitterfelder Bewegung hervorging und von den Funktionären in den Alkohol getrieben wurde, und Wolfgang Hilbig, der als Heizer, Kesselwart und Schlosser arbeitete, in der DDR zwar schreiben, aber zunächst nicht veröffentlichen konnte – zeugten von der kulturpolitischen Orthodoxie des »Bitterfelder Weges«. Ein ebenso illusorisches ideologisches Postulat war das der »sozialistischen Menschengemeinschaft«. Sie wurde offiziell als eine »historisch neue, politisch-moralische und geistig-kulturelle Qualität des Zusammenlebens und -wirkens der Klassen und Schichten sowie der einzelnen Menschen« in der Gesellschaft interpretiert, als »Ausdruck des freiwilligen und bewussten Zusammenschlusses ihrer sozial gleichberechtigten Mitglieder« mit einem gemeinsamen sozialistischen Grundinteresse und Ziel.33 Das war zwar eine neue Form der alten Gemeinschaftsrhetorik der Arbeiterbewegung. Sie konnte aber nicht über die sozialen Widersprüche und das Demokratiedefizit der Gesellschaft hinwegtäuschen. Offensichtlich war das Postulat vor allem als Ausgleich gegenüber den ökonomischen Anforderungen der Reformpolitik und der Bevorzugung der
31 Ulbricht: Aus Reden und Aufsätzen, Bd. X, S. 455–456. 32 Hager: Zu Fragen der Kulturpolitik, S. 36. 33 Bühl u. a. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch 1970, S. 359–360.
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Abb. 1: 1. Bitterfelder Konferenz am 24. April 1959, Konferenzsaal; am Pult Alfred Kurella. Bundesarchiv, Bild 183-63679-0011 / Schmidt.
wissenschaftlich-technischen Intelligenz gedacht. Anfang der siebziger Jahre wurden die relativ wirkungsschwachen Losungen »gebildete Nation« und »sozialistische Menschengemeinschaft« zurückgenommen. 4. Das Kampfmotiv: Auch in diesem Zeitraum wurde die Losung »Kunst ist Waffe« immer reaktiviert, wenn sich die kulturpolitischen Auseinandersetzungen zuspitzten, wenn die widerstrebenden Kunstschaffenden und Unterhaltungskünstler auf Linie gebracht werden sollten. Das wiederholte sich insbesondere unmittelbar nach dem Mauerbau 1961, im Zusammenhang mit dem »Kahlschlag« des 11. Plenums des ZK der SED Ende 1965 und nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« 1968. Dabei ging es einerseits um die Abwehr »spätbürgerlicher Dekadenz« und »amerikanischer Unkultur«. Es wurden »klare« politische Stellungnahmen für den Sozialismus eingefordert. Andererseits war die alte stalinistische Vorstellung, dass sich die ärgsten Feinde in den eige-
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nen Reihen verbergen, noch nicht überwunden. Insbesondere gegen sogenannte Revisionisten, Reformisten und Eurokommunisten, denen man auch Ernst Bloch, Robert Havemann und Wolf Biermann zurechnete, wurde ein umso erbitterter ideologischer Kampf geführt, je deutlicher sich diese als Sozialisten artikulierten. Aber die Zeiten stalinistischer Schauprozesse mit erzwungenen öffentlichen Geständnissen waren vorbei. Namhafte Antifaschisten wurden nicht eingekerkert, sondern blieben im Westen, bekamen Hausarrest oder wurden ausgebürgert. Relativ unbekannte Kritiker dagegen wurden von der Staatssicherheit verhaftet, verhört und später abgeschoben. Differenziert war die Situation auch in den außenpolitischen Verhältnissen. Die Politik der friedlichen Koexistenz, die der XX. Parteitag der KPdSU 1956 verkündet hatte, wurde mit einer Ablehnung der ideologischen Koexistenz konterkariert. Zunehmender politischer Entspannung stand danach ein verschärfter ideologischer Kampf zwischen den Lagern gegenüber, in dem die Kultur eine entscheidende Rolle spielen sollte. Der kulturelle Austausch sollte zum einen die internationale Anerkennung der DDR befördern, zum anderen eine sozialistische Nationalkultur gegen westdeutsche Positionen von der einheitlichen Kulturnation in Stellung bringen. Damit konnte freilich eine Zunahme der Ost-West-Kontakte zwischen den Intellektuellen nicht verhindert werden. 5. Das Produktivitätsmotiv: Letztlich waren Kulturrevolution und Bitterfelder Weg vor allem auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität ausgerichtet mit dem Ziel, die Bundesrepublik kurzfristig zu überholen. Deshalb forderte der kulturrevolutionäre Ansatz, die geistig-kulturelle wie die fachliche Bildung der aufgestiegenen Funktionäre in Staat und Wirtschaft zu verbessern und zu entwickeln. Denn eine »klassenmäßige« ideologische oder politische Position reichte nicht mehr aus, um den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden. Darum sollten in der Bitterfelder Bewegung die Werktätigen auch an die Künste herangeführt werden, um ihren Horizont zu erweitern und sie ökonomisch leistungsfähiger zu machen. Noch immer dominierte die einfache Gleichung, nach der zunehmende Bildung und Kultur eine wachsende Produktivität ermöglichen. Nach dem Scheitern der kurzfristigen ökonomischen Ziele und dem Bau der Berliner Mauer führten das Konzept des Neuen Ökonomischen Systems (ab 1963) bzw. des Ökonomischen Systems des Sozialismus (ab 1967) zu einem wesentlichen Wandel. Dietrich Staritz beschrieb ihn folgendermaßen: Der Homo oeconomicus galt wieder etwas in der DDR, wenn er, sein Eigeninteresse favorisierend, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft tat, wenn sein Handeln so gelenkt und materiell angereizt (»stimuliert«) werden konnte, dass es dem im Plan festgelegten Gesamtinteresse entsprach. Diesen sich abzeichnenden Paradigmenwechsel akzeptierten die jüngeren Genossen aus der Mittag-und-Apel-Generation offenbar leichter als die Altfunktionäre, die vor 1933 kommunistisch sozialisiert worden waren. Sie hatten sehr viel stärker auf den Homo politicus (M-L), auf den neuen, bewusst gesellschaftlichen Menschen gesetzt, sich ihn freilich als stets 34 folgebereit, eben als Kader gedacht. (Günter Mittag war der verantwortliche ZK-Sekretär für Wirtschaft, Erich Apel der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, bis er sich Anfang Dezember 1965 das Leben nahm.)
34 Staritz: Geschichte der DDR, S. 212–213.
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6. Das Breitenkulturmotiv: Mit dem Bitterfelder Weg sollten Volks- und Laienkunst aus den traditionell kleinbürgerlichen Bahnen gedrängt und zu einem Bestandteil sozialistischer Nationalkultur befördert werden. Das geschah zum einen über ein Aus- und Weiterbildungssystem der neuen »Volkskunstkader« und die ideologische Erziehung der Laienkünstler, zum anderen über deren Einbeziehung in große sozialistische Massenfeste, allen voran die jährlichen Arbeiterfestspiele ab 1959 (ab 1972 zweijährlich). Der Begriff der Volkskunst verschwand in den Sechzigern: Die Praxis der Volkskunstgruppen wurde als künstlerisches Volksschaffen bezeichnet, das Zentralhaus für Volkskunst in Leipzig sowie die Bezirkshäuser für Volkskunst und die Volkskunstkabinette der Kreise wurden 1962 in Zentralhaus für Kulturarbeit bzw. Bezirks- und Kreiskabinette für Kulturarbeit umbenannt. Das Ziel bestand darin, aus dem künstlerischen Volksschaffen eine sozialistische Massenbewegung als Bestandteil der Bewegung des sozialistischen Arbeitens, Lernens und Lebens zu machen. Sie war 1959 von der Brigade »Nikolai Mamai« des EKB Bitterfeld ins Leben gerufen und vom FDGB forciert worden. Da sich diese illusorischen Vorstellungen aber nicht realisieren ließen, erfolgte Anfang der Siebziger eine Neubewertung der Tradition. Von da an waren auch die überlieferten volkskulturellen Werte und Normen wieder anerkannt. Es kam zu einem Boom traditioneller Volks- und Heimatfeste. Zugleich fielen unter den Begriff der sozialistischen Kulturarbeit auch die ökonomisch-kulturellen Leistungsvergleiche, die naturwissenschaftlich-technische Propaganda, die Neuererbewegung und deren Feste sowie die wachsende Anzahl der Jugend- und Sportfeste, der Betriebs- und Dorffestspiele. In diesem Sinne wurde die Kulturarbeit der Gewerkschaften, der FDJ und der anderen Massenorganisationen als »Bestandteil der komplexen Leitungstätigkeit« verstanden, darauf gerichtet, »zum kulturvollen Leben, zur Freude und Entspannung der Werktätigen beizutragen«.35 7. Das Unterhaltungsmotiv: Zum Teil führte der »Bitterfelder Weg« auch zu einer Anerkennung der Unterhaltung. Dabei war an die leichte und heitere Muse im Sinne einer sozialistischen Unterhaltungskunst gedacht. Die Begriffe zeugen von der nach wie vor konservativen Sicht auf die moderne Massenkultur. Zwar anerkannte die Kulturpolitik schon Bedürfnisse nach Genuss und Vergnügen, aber diese blieben auf eine Kunst zentriert, deren Höhen die Arbeiterklasse bekanntlich erstürmen sollte. Zugleich wurde die »leichte Muse« als Teil der ideologischen und kulturellen Massenarbeit verstanden. Zwar vermochte niemand zu definieren, was denn nun das spezifisch »sozialistische« an Unterhaltung und Vergnügen sei, aber die massenwirksamen Unterhaltungssendungen der Sechziger liefen unter dem Zeichen der sozialistischen Menschengemeinschaft. Dabei sollte mit der 1958 eingeführten 60 zu 40-Verordnung, d. h. 60 Prozent der auf Tanzsälen, Konzerten und in den Medien gespielten Musik mussten aus der DDR und den sozialistischen Ländern stammen, nicht nur der Einfluss westlicher Musik eingedämmt werden, sondern sie hatte ebenso den ökonomischen Aspekt, Devisen und Gebühren einzusparen, und zudem die erklärte Absicht, eigene Entwicklungen zu fördern. Die Angebote neu erfundener Tänze, wie Lipsi, Orion oder Malterson, konnten sich aber nicht durchsetzen.
35 Bühl u. a. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch 1970, S. 288.
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Zugleich brachten die sechziger Jahre Zugeständnisse an den Eigensinn der Jugend und die moderne Jugendkultur. Zunächst ließ man den zahlreich entstandenen Beatgruppen große Freiräume. Aber im Spätsommer 1965 kippte die Stimmung. Die HoneckerFraktion im Politbüro machte gegen die sogenannten »Rowdys« und »Gammler« mobil, und in Leipzig wurden zahlreiche Beatgruppen verboten. Dagegen demonstrierende Jugendliche auf dem Leuschner-Platz wurden polizeilich zugeführt und die Schriftsteller und Künstler für die »Verwahrlosung« der Jugend verantwortlich gemacht. Aber auch hartes Vorgehen und Verbote, etwa fast eines ganzen DEFA-Jahrgangs, die vom sogenannten »Kahlschlag«-Plenum, der 11. Tagung des ZK der SED im Dezember 1965, ausgingen, hatten keine Langzeitwirkung. Sie lösten oft den gegenteiligen Effekt aus. 1969 startete das ZK der SED die »Aktion Rhythmus«, hinter der sich die de facto Anerkennung von Rock und Beat verbarg, sofern denn deutsch gesungen wurde und die langen Haare bei öffentlichen Konzerten unter Netzen verschwanden. Zwar plädierten die Funktionäre für eine straffe Leitung und Kontrolle, aber einen offenen Konfrontationskurs lehnten sie inzwischen ab. Die Jugend hatte ihr popkulturelles Eigeninteresse behauptet. Mit der Anerkennung des Fernsehens als der umfangreichsten Freizeitbeschäftigung setzte Anfang der siebziger Jahre auch eine Wende gegenüber der Unterhaltung ein. Nach dem nach 1965 geradezu eisig gewordenen kulturpolitischen Klima suchte die SED-Führung wieder Handlungsspielräume zu öffnen, um Autorität zurückzugewinnen. Die Hoffnungen der Intelligenz, dass zunächst eine ökonomische Reformpolitik, danach eine offenere Kulturpolitik Anfang der Siebziger auch mehr politische und künstlerische Freiheiten mit sich bringen würden, erfüllten sich aber nur teil- oder zeitweise. Während sich die Erziehungsdiktatur der zu Ende gehenden Ulbricht-Ära wissenschaftseuphorisch gab und gegenüber Literatur und Kunst fremdelte, schien in der Fürsorgediktatur der 1971 beginnenden Honecker-Ära ein Wechsel zu Wissenschaftsfremdheit und Kulturfreundlichkeit stattzufinden. Auch verloren unter Honecker die alten stalinistischen Kulturpolitiker an Einfluss, aber jetzt übernahm das Ministerium für Staatssicherheit den Part der »Wachsamkeit«. Auf der 6. ZK-Tagung der SED im Juli 1972 propagierte Kurt Hager einen weiten Kulturbegriff, wobei er expressis verbis an das von Anton Ackermann 1946 umrissene Kulturverständnis anknüpfte. »Wenn wir von Kultur [...] sprechen, so meinen wir nicht irgendein eng begrenztes Gebiet. Es geht uns um die Gesamtheit der Lebensbedingungen, der materiellen und geistigen Werte, Ideen und Kenntnisse«.36 Nicht mehr eine hohe Kultur für jedermann oder der malende, singende oder schreibende Arbeiter standen im Vordergrund, sondern alle Seiten des Lebens sollten von Kultur durchdrungen werden. Das war gewissermaßen der kulturelle Aspekt der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik mit ihrer ausgeprägten Konsumorientierung. Damit entledigte man sich auch der Fessel einer ins Detail gehenden, kleinlichen künstlerischen Programmatik, wie sie noch der »Bitterfelder Weg« verkündet hatte. Die Kulturpolitik ging zwar vom bisherigen Kunstzentrismus ab, aber die künstlerische Tätigkeit im engeren Sinne blieb nach wie vor ihre Kernzone. Die SED-Führung versuchte ab 1971 zu testen, was herauskommen könnte, wenn sie sich zeitweilig nur auf die Globalsteuerung kultureller Prozesse
36 Hager: Zu Fragen der Kulturpolitik, S. 11.
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beschränkte. Die Kontrollmechanismen wurden zwar flexibler gehandhabt, aber nicht prinzipiell reformiert. Hauptziel war, bei der wichtigen Minderheit der kulturell Tätigen einen Beruhigungseffekt zu erzielen. Als die drei »entscheidenden kulturpolitischen Orientierungspunkte« bestimmte die neue SED-Führung: Erstens »die Erhöhung des kulturellen Lebensniveaus des Volkes«:37 Dazu gehörten die Erhaltung der kulturellen Infrastruktur ebenso wie die Produktion von Büchern, Filmen und Schallplatten, die Wohnverhältnisse und der Wohnungsbau ebenso wie die Ausstattung der Haushalte mit modernen Konsumgütern und Medien. Zweitens »die Förderung des sozialistisch-realistischen Kunstschaffens«: In der Sprache der Kulturpolitik häuften sich Stichwörter wie Weite und Vielfalt, Entdeckerdrang und Phantasie, Behutsamkeit und Geduld, schöpferisches Suchen und Gleichberechtigung aller Gattungen. Auf der 4. ZK-Tagung im Dezember 1971 waren im Schlusswort Honeckers die unterschiedlich interpretierbaren Sätze gefallen: Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils − kurz gesagt: die Fragen dessen, was man die 38 künstlerische Meisterschaft nennt.
Drittens »ein vertrauensvolles, kameradschaftliches Miteinander zwischen Partei und Kunst- und Kulturschaffenden«. Kein Wunder, dass eine Kulturpolitik, die neue Tendenzen begünstigte, sie zugleich beargwöhnte. So baute sich in dem postulierten Partnerschaftsverhältnis gleichsam ein Verhältnis der Konkurrenz auf. Die Grenzen der »Toleranz« waren schnell erreicht und mit den Namen des Dichters Reiner Kunze, des Liedermachers Wolf Biermann und des Wissenschaftlers Rudolf Bahro verbunden. Kunze war nach der Intervention in der ČSSR aus der SED ausgetreten und wurde wegen des Prosabandes Die wunderbaren Jahre, einer Chronik schrecklicher Erfahrungen aus dem Leben von DDR-Jugendlichen, im Oktober 1976 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Danach verließ er die DDR. Biermann, der seit 1965 Auftrittsverbot hatte, wurde im November 1976 während einer Konzerttournee in der Bundesrepublik aus der Staatsbürgerschaft der DDR ausgewiesen. Bahro wurde nach der Veröffentlichung seines Buches Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus im September 1977 im Westen verhaftet, verurteilt und nach internnationalen Protesten in den Westen abgeschoben. Die Zwangsexilierung Biermanns führte eine Kulturpolitik größerer Spielräume in die Krise und wurde von vielen Intellektuellen als Schock empfunden. Sie verstanden diese »administrative Blitzaktion« als Warnschuss gegen ihre eigenen Vorstellungen von den Aufgaben der Literatur. Dagegen nicht protestiert zu haben, hätte ihnen auf Dauer die Selbstachtung gekostet und die Glaubwürdigkeit genommen. Der maßvoll und selbstbewusst formulierte kollektive Protest von zwölf Schriftstellern stellte in der DDR-Kulturgeschichte ein Novum dar. Binnen zwei Tagen war er bereits von mehr als 100 Schriftstellern, Schauspielern, Regisseuren, Malern, Komponisten und Karikaturisten unterschrieben worden. Sie alle glaubten, die Ausbür-
37 Vgl. zum Folgenden: Hager: Probleme der Kulturpolitik vor dem XI. Parteitag, S. 105. 38 Honecker: Zu aktuellen Fragen, S. 427.
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gerung rückgängig machen zu können. Aber die protestierenden Intellektuellen hatten die Verhältnisse falsch eingeschätzt und die Reaktion der SED-Führung zerstörte jede Illusion.
Kulturpolitik in der »Konsumgesellschaft« 1977–1990 Zwar hatte die weltweite diplomatische Anerkennung, die Aufnahme in die UNO und ihre Teilnahme am KSZE-Prozess der DDR einen deutlichen Prestigegewinn eingebracht. Zwar war mit dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 21. Dezember 1972 die Ära des Alleinvertretungsanspruchs der BRD und der Hallstein-Doktrin beendet und die Zusammenarbeit auf Sachgebieten sowie menschliche und Reise-Erleichterungen vereinbart worden. Aber die SED-Führung dachte gar nicht daran, die Ausbürgerung Biermanns kritisch zu diskutieren oder gar zurückzunehmen. Sie nahm dabei in Kauf, dass die Vorteile, die eine Kulturpolitik des »vertrauensvollen Dialogs« und der »Weite und Vielfalt« gebracht hatten, nun in hohem Maße verloren gingen. Aus dem »Fall« Biermann war ein kulturpolitischer Grundkonflikt geworden, der zu einem hohen Substanzverlust der Kultur führte. Mehr als 300 Künstler und Schriftsteller verließen die DDR. Der Streit um das Grundproblem der künstlerischen Freiheit und den Zugang zur öffentlichen Meinung ging in eine neue Runde. Aus den Konflikten wie aus »der Sturzwelle von Gemeinheit des letzten Jahres«,39 so Christa Wolf im September 1977, erwuchs zum einen eine tiefgehende Spaltung der Intelligenz, sie führten zum anderen den endgültigen Bruch zwischen Geist und Macht herbei. Die kulturstaatlichen Aufwendungen wuchsen nach wie vor an, aber die Kulturpolitik selbst war zu einem Konglomerat unterschiedlichster Einzelaktionen geworden und das Kompetenzgewirr in der Kulturpolitik blieb bestehen. Obwohl das Referat von Kurt Hager auf der 6. ZK-Tagung 1972 »einstimmig und damit für alle verbindlich beschlossen« worden war, wurde Kulturpolitik nach wie vor von vielen Instanzen und auf verschiedenen Ebenen gemacht. »In den Bezirken bestimmten die Bezirkssekretäre, die nicht selten eigene Wege gingen. FDGB, FDJ und andere Massenorganisationen sowie die Blockparteien entwickelten eigene Initiativen«, klagte Hager später. »Die vom Politbüro berufene Kulturkommission vereinte unter meiner Leitung zwar Vertreter aller Organisationen und Institutionen […]. Sie tagte jedoch nur drei- bis viermal im Jahr, um Berichte entgegen zu nehmen. Ein Weisungsrecht hatte sie nicht. Im Großen und Ganzen herrschte auf dem Gebiet der Kultur ein ziemliches Durcheinander.«40 Dass die Abstände zwischen den Beratungen der Kulturkommission immer länger wurden, hatte Gründe, die Hager verschwieg, Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann aber später benannte: Da waren so scharfzüngige Menschen drin wie Hermann Kant, Willi Sitte und Karl Kayser, die die unangenehmsten Wahrheiten offen aussprachen. Und so tagte das Gremium dann regelmäßig unregelmäßig, und wirkliche Impulse für die Politik gingen davon nicht aus. Das Beste, was man von der Kommission sagen kann, ist wohl, dass sie eine koordinierende
39 Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 226. 40 Hager: Erinnerungen, S. 346.
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3 Li t e ra t ur- un d A ut o re n po l i ti k Funktion einnahm, um das völlig unterschiedliche Verständnis von Kulturpolitik ein wenig zu vereinheitlichen. Denn das war ja nun ein ganz besonderes Dilemma: In der Armee wurde diese Kulturpolitik praktiziert, in der Staatssicherheit jene, und im Volksbildungsministerium wieder eine andere. Und in den Bezirken sah es auch sehr unterschiedlich aus. Es gab Bezirkssekretäre der SED, die machten eine annehmbare, wenig reglementierende Kulturpolitik, und auch welche, die gingen höchst subjektivistisch heran, die verboten Filme und Theateraufführungen. In der ehemaligen DDR existierte im Grunde keine einheitliche Auffassung über 41 Inhalte und Formen der Kulturpolitik.
In diesem Kompetenz-Wirrwarr fühlte sich Hoffmann als Sachwalter der Kunst und als Förderer und Beschützer der Künstler des Landes, immer bestrebt, Dummheiten zu verhindern und Vernünftiges zu unterstützen. Doch seine Macht war begrenzt. Die »wertloseste aller Theorien«, wurde von ihm überliefert, ist die »Theorie von der Wertlosigkeit des Künstlers«.42 Die genannten kulturpolitischen Leitmotive erfuhren in den siebziger und achtziger Jahren eine zunehmende Ambivalenz sowie überraschende Wendungen: 1. Das Umerziehungsmotiv: Um die Wende von den utopischen Vorstellungen hin zu den irdischen Notwendigkeiten deutlich zu machen, wurde der Sozialismus nun als »real existierender« bezeichnet. Die These von der sozialistischen Menschengemeinschaft wurde aufgegeben und von dem Konzept der nichtantagonistischen Klassengesellschaft abgelöst. Diese wurde als eine Gesellschaft verbündeter Klassen, sozial differenziert und mit unterschiedlichen Interessenlagen, verstanden. »Diese Zäsur ist als ›Ende des roten Pietismus‹ angesehen worden, als nun eintretende Entlastung des Alltags von politischen und ideologischen Zwängen; die Utopie wäre abgebrochen und in die Normalität abgeleitet worden.« Zwar geisterte das alte Konzept noch in den Köpfen zahlreicher Funktionäre weiter. »Entscheidender aber war es, dass die große Politik sich anderen Themen zuwendete und den ›real existierenden Sozialismus‹ nicht mehr vorrangig als kulturelle Gestaltungsaufgabe verstanden hat. Der Begriff ›sozialistische Lebensweise‹ – eben noch in Ulbrichts Dekalog normativ festgelegt – nahm recht schnell die Bedeutung von ›Leben im Sozialismus‹ an.«43 Es hat in der DDR-Erziehung immer mindestens zwei wesentliche Strömungen gegeben: Einerseits eine indoktrinäre Pädagogik, die das Ziel hatte, den gut funktionierenden Bürger heranzubilden, der von den vorgegebenen real-sozialistischen Ideen überzeugt war und im Rahmen der von der SED-Führung festgelegten Normen handelte. Andererseits ein humanistisches Erziehungskonzept, das primär auf das Individuum und seine Selbstverwirklichung, also auf den selbständig denkenden und verantwortungsbewusst handelnden Menschen gerichtet war. Je nach den politischen Bedingungen rückte die eine Strömung in den Vordergrund, während die jeweils andere ins Hintertreffen geriet. Auf die politischen Schwierigkeiten und die krisenhafte Entwicklung in den achtziger Jahren, und natürlich auch auf die von Michail Gorbatschow in der UdSSR eingeleitete Umgestaltung unter den Schlagworten von Glasnost und Perestroika, reagierten die Verantwortlichen im Bildungswesen, allen voran Ministerin Margot Honecker, mit
41 Hoffmann: Haupttätigkeit – Schlimmes verhüten, S. 119–120. 42 Gundlach: »Es ist keinem gestattet, die Axt zu nehmen«, S. 83. 43 Mühlberg: Die DDR als Gegenstand kulturhistorischer Forschungen, S. 44–45.
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einer Verstärkung der doktrinären Linie. Sie war mit dem Wehrunterricht an den Schulen eingeleitet worden und suchte der Abkehr der Jugend von der DDR vergeblich mit forcierter »kommunistischer« Erziehung Herr zu werden. 2. Das Hochkulturmotiv: Die Lage der tradierten kulturellen Institutionen wurde in den achtziger Jahren in der Breite äußerst problematisch. Während mit hohem finanziellem Einsatz ausgesuchte Prestigeprojekte neu erbaut oder wieder hergestellt wurden, etwa der Palast der Republik, der Friedrichstadtpalast und das Schauspielhaus in Berlin, das Gewandhaus in Leipzig und die Semperoper in Dresden, war ein großflächiger Verschleiß und Verfall zahlreicher Kultureinrichtungen nicht zu übersehen, denn die finanziellen Mittel reichten nicht einmal mehr für die einfache Reproduktion aus. Und während Politik und Ideologie nach wie vor auf die Apologie der Verhältnisse zielten, hatten sich die Ausdrucksmöglichkeiten für die Künste beträchtlich erweitert. Literatur und Kunst übernahmen die Funktion der authentischen Wahrnehmung und vermittelten Lebenswerte wie Kritikfähigkeit und Selbstbewusstsein. Damit begannen die Künste eine mehr und mehr selbständige gesellschaftliche Rolle einzunehmen. Ebenso zeichnete sich eine entscheidende Wende in der Auffassung zu Tradition und Erbe ab: Zum einen hatte das irreale Postulat der SED von der sozialistischen Nation DDR die paradoxe Folge, sich der ganzen deutschen Geschichte stellen zu müssen. Was, um nur die spektakulärsten Fälle zu nennen, zu einer völligen Neubewertung Martin Luthers und zur Heimholung Preußens ins kulturelle Erbe führte. Zum anderen stand das Verhältnis zum bürgerlichen Erbe nicht mehr unter dem Leitbegriff der Kontinuität, sondern es wurde stärker die Diskontinuität betont. Die einseitige Erbelinie in der Tradition des ungarischen Literaturhistorikers und Philosophen Georg Lukács, die lange Zeit in der DDR dominiert hatte und von der Klassik über den kritischen zum sozialistischen Realismus reichte, wurde aufgebrochen und um die bis dato als reaktionär verfemte Linie von der Romantik bis zur Moderne erweitert. Während Hager noch 1972 den unversöhnlichen Gegensatz von Realismus und Moderne postuliert hatte, begannen die Künstler und Wissenschaftler schon den Dekadenzbegriff aufzulösen. 1985 musste auch Hager das anachronistische Verdikt gegen die Moderne offiziell zurücknehmen und erklärte lapidar: »Pauschale Aburteilungen etwa expressionistischer und avantgardistischer Werke als ›dekadent‹ oder ›formalistisch‹ haben sich, wie bekannt, nicht als förderlich für das Verständnis dieser Richtungen und die Intentionen der Schriftsteller und Künstler erwiesen.«44 Damit wurde einerseits die dogmatische Theorie des sozialistischen Realismus ad absurdum geführt und andererseits die Entwicklung zu einer kritischen, nicht mehr von der SED gelenkten Literatur und Kunst beschleunigt. Was als pragmatische Konzession an die »Weltoffenheit« der DDR gemeint war, trug dazu bei, die Maßstäbe für literarisches und künstlerisches Schaffen im eigenen Land zu verändern. 3. Das Demokratisierungsmotiv: Die Demokratisierung der Kultur nahm zwei neue Wendungen: Einerseits schlossen sich die Aufstiegskanäle wieder. In der Mitte der siebziger Jahre setzte eine Phase der sozialstrukturellen Stagnation ein. Aus demographischen und beschäftigungspolitischen Gründen wurden die Zulassungsquoten für die Universitäten reduziert und die Abiturientenzahlen begrenzt. Vor allem die neue Intelligenz suchte, ihre Kinder statusgerecht zu platzieren. Auf den Universitäten wurden immer
44 Hager: Tradition und Fortschritt, S. 91.
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mehr Ausbildungsplätze von Reproduzenten dieser Schicht besetzt. Schließlich gab es in der DDR – prozentual gesehen – sogar mehr Kinder von Akademikern auf den Universitäten als in der Bundesrepublik.45 Die daraus resultierende soziale Immobilität war gesellschaftspolitisch nicht mehr zu korrigieren. Denn die Aufsteiger der Anfangsjahre hatten sich zu neuen Funktionseliten bzw. zur sozialistischen Dienstklasse zusammengeschlossen, und sie wachten gemeinsam mit der Machtelite darüber, dass der Auftrieb von unten in Grenzen blieb und nicht auf Kosten ihrer Kinder stattfand. Andererseits war in den städtischen Szenen, des Prenzlauer Bergs in Berlin, in Dresden-Neustadt oder Leipzig-Connewitz, eine zweite oder Gegenkultur entstanden, die sich als alternativ und autonom verstand. Damit verbunden etablierte sich eine neue Jugendkultur in halb öffentlichen und halb privaten Räumen, die allen Organisationsmaßnahmen auswich. Beiden wurden von der Kulturpolitik die wichtigsten Voraussetzungen von Kultur ca. ein Jahrzehnt vorenthalten: Voraussetzungen wie das Buch und die Publizität, die öffentliche Diskussion oder der öffentliche Auftritt. An deren Stelle setzte die Szene im privaten oder kirchlichen Rahmen organisierte Ausstellungen und Feste, Performances, Bluesmessen und Punkkonzerte, Lesungen in Wohnungen, Siebdruckbücher und Samisdat-Zeitschriften. Allerdings verstand sich diese Gegenkultur nicht als bewusste Opposition, sondern es ging ihr um die Etablierung eines öffentlichen Raumes, der frei war von staatlichen Ein- und Übergriffen. Da hier alle kulturpolitischen Steuerungsmechanismen versagten, wurde die Staatssicherheit aktiv. Dass sie auch in diesen Szenen ihre Hand im Spiel hatte, zeigte im Nachhinein, dass diese so autonom und alternativ wie gewollt nicht sein konnten. Der kleinste gemeinsame Nenner aber all dieser unterschiedlichen Milieus war, wie es Daniela Dahn 1987 beschrieb: »Null Bock auf alles Offizielle.«46 4. Das Kampfmotiv: Gegen diese Alternativkultur wurde die FDJ ins Feld geschickt. Von ihrer Kulturkonferenz im Oktober 1982 in Leipzig erwartete man gesellschaftliche Wirkungen, die die intellektuelle und jugendliche Aufsässigkeit eindämmen und mit aggressiven Tönen für klare Fronten sorgen sollten. Der Kultursekretär des FDJ-Zentralrats, Hartmut König, stellte die Konferenz in die Tradition jener FDJ-Schriftstellertagung vom Oktober 1948, auf der seinerzeit Honecker unter dem Motto referierte: »Held unserer Bücher sei der arbeitende Mensch«. Zum einen ging es König um die kommunistische Erziehung und das Lebensniveau der Jugend, was die Abwehr westlicher Einflüsse, von New Wave, Punk und der Neuen deutschen Welle, einschloss. Zum anderen formulierte er Ansprüche an das künstlerische Schaffen, die Kunst in das Feld des ideologischen Klassenkampfes zu stellen und die alte Losung »Kunst ist Waffe« wiederzubeleben. Natürlich wirkte die Konferenz wie ein Rückfall in alte Zeiten und verbreitete einigen Schrecken in der Kulturszene. Die Reaktionen darauf waren allgemein Unbehagen, Unruhe und Unverständnis. Der von der FDJ-Konferenz angekündigte kulturpolitische Konfrontationskurs aber blieb aus. Was sie so forsch verkündet hatte, verebbte schnell wieder. Zum einen fanden offensichtlich Ratgeber Honeckers Ohr, die entschieden von einem solchen Kurs abrieten. Zum anderen war es eben nur die FDJ und nicht die SED, nur Leipzig und nicht
45 Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands, S. 228–229. 46 Dahn: Prenzlauer Berg-Tour, S. 190.
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Berlin, was von vielen schon als »Nebenkriegsschauplatz« empfunden und in dem »Konglomerat« Kulturpolitik nicht mehr richtig ernst genommen wurde. Die nun folgenden kulturpolitischen Maßnahmen exponierten sich kaum noch ideologisch, sondern verwalteten pragmatisch, und wo sie unterdrückten und zensierten, machten sie öffentlich davon kein besonderes Aufsehen mehr. So vermied man es, direkt weitere Gegnerschaften zu provozieren. In den reformorientierten Intellektuellenkreisen, die auf eine Übertragung von Glasnost und Perestroika auf die DDR aus waren, gab es darum eher Rückzüge und Verweigerungen, nachdem ihre vagen Demokratisierungswünsche und Modernisierungshoffnungen enttäuscht wurden. 5. Das Produktivitätsmotiv: Nachdem sich eine schnelle oder spürbare Produktivitätssteigerung durch kulturelle und künstlerische Selbstbetätigung der Arbeiter als illusorisch erwiesen hatte, setzte die SED-Führung nunmehr auf den wohlfahrtstaatlichen Effekt. Die seit 1975 propagierte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik war als ein Motivationsprogramm gedacht: Höhere Einkommen und Sozialleistungen sollten die Motivation der Beschäftigten erhöhen und somit die Arbeitsproduktivität steigern. Daraus wären dann die wachsenden Aufwendungen für die Sozial- und Kulturpolitik zu decken. Aber dieses Motivationsprogramm konnte kaum funktionieren, weil ihm von Anfang an zwei Konstruktionsfehler eingeschrieben waren: die Herstellung eines nicht erzwingbaren Zusammenhangs zwischen Sozialleistungen und Leistungsanstieg zum einen und die Abstraktion von den materiellen Bedingungen der Wirtschaft zum anderen. Darum mehrten sich auch bald die Hinweise, diese Balanceübung nicht zu übertreiben und die Dominanz der ökonomischen Realität anzuerkennen. Ihre Konstruktionsfehler wiesen die Einheitsformel schließlich als ein idealistisches Programm aus. Letztlich ging es weniger um eine neue Wirtschaftspolitik, als mehr um die Sicherung der Massenloyalität mittels einer expansiven Konsum- und Sozialpolitik. De facto erwiesen sich die sozialpolitischen Maßnahmen aber nicht als Motor der Produktivkraftentwicklung, sondern sie gingen zunehmend zu Lasten der Investitionen. 6. Das Breitenkulturmotiv: Von über 20.000 hauptamtlich Beschäftigten und den ungezählten Ehrenamtlichen wurde die Breitenkultur umfassend »organisiert«: im Kleingarten und Volkssport, im Züchten und Sammeln, in der Fest- und Feierkultur, bei Tanz und Geselligkeit, in vielfältigen Formen der Laienkunst und allen möglichen folkloristischen, historischen und technischen Zirkeln; »mit den Nachteilen beschränkter Freiheit und den Vorzügen gesicherter Alimentation und öffentlicher moralischer Anerkennung [...]. Über 10.000 solcher Zirkel waren Ende der achtziger Jahre registriert, über 1000 Kulturhäuser, 800 ›Klubs der Werktätigen‹, 4200 Jugendklubs, 4500 Dorfklubs usw.«47 Träger der unterschiedlichen Einrichtungen waren die Städte und Gemeinden, die Betriebe und Genossenschaften oder die Massenorganisationen. Allein der Kulturbund organisierte 1985 z. B. 120.000 Veranstaltungen und Ausstellungen mit über 8 Mio. Teilnehmern. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Breitenkultur brachte allerdings ein Interessen- und Meinungsspektrum hervor, das das der Kulturfunktionäre weitaus übertraf. Da war eine breit gefächerte und weitgehend unpolitische Freizeitkultur mit zahlreichen Arbeitsgemeinschaften, Gesprächsrunden, Veranstaltungen und Zirkeln entstanden.
47 Groschopp: Breitenkultur in Ostdeutschland, S. 15–16.
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7. Das Unterhaltungsmotiv: Der Begriff der »Massenkultur« war lange Zeit nur auf die westliche Welt bezogen worden. In der DDR gedachte man hingegen, die Funktion von Vergnügen und Unterhaltung neu zu bestimmen. In der ersten Ausgabe des Kulturpolitischen Wörterbuches von 1970 war noch von der dialektischen Einheit von Kultur und Unterhaltung die Rede, von Unterhaltung als Teil der erweiterten Reproduktion und der gesellschaftlichen Aufgabe »einer unterhaltsamen, kulturvollen Bildung und menschenbildender Unterhaltsamkeit«.48 Das war noch sehr nah am kulturpolitischen Hebungsmotiv. In der zweiten Ausgabe von 1978 wurde dieser Anspruch zurückgenommen, ohne ihn ganz aufzugeben. Dort hieß es: »Unterhaltung: wesentliches Element der Lebensweise der Werktätigen in der sozialistischen Gesellschaft. Unterhaltung umfasst verschiedene Formen praktischer und geistiger Lebenstätigkeiten in der Freizeit, vor allem jene, die zugleich kommunikative und reproduktive Funktionen erfüllen. Unterhaltung ist Bestandteil der Kultur der jeweiligen Gesellschaft.«49 Darüber hinaus wurde Unterhaltung als Information und Entspannung, Ausgleich und Erholung, Kommunikation und Geselligkeit charakterisiert. Sie stand nicht mehr der Kultur gegenüber, sondern hatte ihren eigenständigen Wert als Bestandteil von Kultur. Damit waren auch die ideologiefreien Aspekte von Unterhaltung anerkannt. Während zu Beginn der siebziger Jahre Unterhaltung noch eng an die Kunst gebunden war, erweiterte sich zu Beginn der achtziger Jahre deren Spektrum. Sie wurde von dieser engen Anbindung befreit und als elementarer Bestandteil der Massenkultur interpretiert. Vergnügen verstand man mehrheitlich als objektiven kulturellen Prozess und Element der Lebensweise. Moralisierende Wertungen wurden zurückgedrängt und Unterhaltung als das beschrieben, was sie im Leben arbeitender Menschen darstellt: eine Form ihrer Lebenstätigkeit wie Arbeit oder Bildung. Insofern konnte auch der Status von Vergnügen und Genuss angehoben und Unterhaltung als gesellschaftliche Realität wie als eigene kulturtheoretische Kategorie anerkannt werden. Der Anspruch einer »sozialistischen« Unterhaltung verlagerte sich dabei langsam in die rhetorische Pflichtübung. Es ging um Unterhaltung im »Sozialismus«, mehr oder weniger reduziert auf eine Ortsbestimmung, realistische und pragmatische Konzepte hatten sich durchgesetzt. Zwei Jahrzehnte lang hatte sich SED-Kulturpolitiker geweigert, Eigenrecht und Eigengesetzlichkeit moderner populärer Kultur anzuerkennen. Danach fehlten ihnen die Voraussetzungen, selbst wenn sie es gewollt hätten, eigene Wege zu gehen. So kam es, wie es kommen musste. Auch in der DDR-Gesellschaft setzte sich die westliche Massenkultur durch, oder anders gesagt, war die Massenkultur »flächendeckende Basiskultur« geworden.50
»Leseland« DDR Dieser Slogan hat eine gewisse Metamorphose durchlaufen. Zum einen klang die von Becher in den Fünfzigern beschworene »Literaturgesellschaft« nach. Zum anderen erfand Hermann Kant eine Vorstufe, indem er auf dem VIII. Schriftstellerkongress 1978
48 Bühl u. a. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch 1970, S. 532–533. 49 Berger u. a. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch 1978, S. 697. 50 Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 265.
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in Ermangelung anderer positiver Entwicklungen vom Buch als »Massengut« sprach und von dessen Wertschätzung im Land. Schließlich sei die sozialistische Lesekultur der kapitalistischen in »Bestseller Country« BRD überlegen, und so belegte er die DDR mit dem »stolzen Titel Leserland« bzw. »Bücherland«.51 Das griffen Honeckers Beiträge auf, der in seinen Ausführungen zur Kulturpolitik auf dem X. SED-Parteitag 1981 dann vom »Leseland« sprach, als das man die DDR mit vollem Recht bezeichnen könne.52 So umformuliert, setzte 1982 der Stellvertretende Kulturminister Klaus Höpcke den Begriff sogleich in den Untertitel seines Sammelbandes mit Aufsätzen und Rezensionen zur Literatur: Literatur in einem Leseland. So kann man annehmen, dass er auf ihn zurückging. Spätestens seitdem war der propagandistische Topos eingeführt. Er erwies sich äußerst zählebig und erfuhr zugleich unterschiedliche Interpretationen. Zuvörderst handelte es sich um eine quantitative Aussage zu Produktion, Vertrieb und Verleih von Büchern. Ende der achtziger Jahre gab es 78 lizenzierte Verlage in der DDR, darunter 39 Verlage für politische, wissenschaftliche und Fachliteratur, 16 für Belletristik, sieben für Kinder- und Jugendliteratur, sieben Musikverlage, fünf Kunstverlage, drei kirchliche Verlage und einen Verlag für Blindenerzeugnisse. In den Verlagen erschienen pro Jahr rund 6.500 Titel, etwa ein Zehntel der damaligen westdeutschen Produktion. Die praktizierte Präventivzensur lief weniger darauf hinaus, einzelne Titel zuzulassen oder zu verbieten, sondern die Gesamtbuchproduktion zu steuern, d. h. die Proportionen der Gattungen und Genres, die Auflagenhöhe für jeden Titel, dessen Verteilung in die Distributionskanäle und bei kritischen Titeln bis hin zu den Rezensionen fest zu planen. In dieser Planung entfielen auf die gesellschaftswissenschaftliche und belletristische Literatur seit den siebziger Jahren nahezu 60 Prozent der Titelproduktion mit rund 23.000 Exemplaren Durchschnittsauflage der belletristischen Literatur […]. Die Buchproduktion der DDR war gekennzeichnet durch einen Widerspruch zwischen einem hohen Belletristikanteil an der Gesamtproduktion 53 und einer niedrigen Titelzahl bei hohen Auflagen für einzelne Titel.
Die hohen Auflagen betrafen vor allem eine moralisch und ästhetisch gewünschte Literatur, triviale Unterhaltungsliteratur wurde praktisch kaum aufgelegt. Aber auch in der Planwirtschaft musste das Buch als Ware auf den Markt gebracht werden, und die Käufer entschieden darüber, ob es zur »Bückware« oder zum Ladenhüter wurde. Trotz steigender Buchproduktion wurde das Angebot für die Käufer aber immer schmaler. Ende der Achtziger existierten neben etwa 700 Volksbuchhandlungen von unterschiedlicher Größe in Gemeinden und ca. 60 Buchhandlungen in Großbetrieben etwa 390 private Buchhandlungen, einschließlich der von Kirchen und anderen Organisationen. Darüber hinaus waren am Buchverkauf 112 Buchhandlungen des Zeitschriften- und Buchvertriebs der NVA beteiligt sowie ca. zehn privilegierte Buchhandlungen, vor allem von Partei- und Hochschulen. So entstand im Laufe der Jahre ein »Zweiklassensystem des Buchhandels«. Gefragte Titel waren schon bei Erscheinen durch die Zahl der Vorbestellungen ausgebucht und zum Teil weit überzeichnet. Wäh-
51 Kant: Die Verantwortung des Schriftstellers, S. 19, 29 u. 37. 52 Honecker: Bericht des ZK der SED an den X. Parteitag der SED, S. 104. 53 Löffler: Lektüren im »Leseland« vor und nach der Wende, S. 22.
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rend die Bestellungen der Privat- und Volksbuchhandlungen stark gekürzt wurden, unterlagen der NVA-Buchhandel und die zehn Privilegierten keinen Kürzungen, waren allerdings auf ein Kontingent von sechs Prozent des Gesamtumsatzes beschränkt. Schließlich blockierten Verlage noch einen Teil der Auflage für den Export bzw. besondere Anlässe, wie Buchbasare. Auf den »normalen« Buchmarkt kamen nur jene Bücher, die von den Verlagen nicht blockiert wurden und die »ungekürzt« Belieferten übriggelassen hatten. Und die Bücher von Karl May z. B. sind anfänglich nur über den Buchhandel der NVA verkauft worden. Insgesamt waren Bücher durchaus preiswert. Seit dem 1972 verfügten Preisstopp für Waren des Grundbedarfs durften eingeführte Editionen ihre Preise nicht mehr verändern. Das betraf vor allem die Romanzeitung (0,80 M) und Taschenbuchreihen, wie das bb-Taschenbuch (1,85 und 2,95 M für den Doppelband), die gebundene Bibliothek deutscher Klassiker (5,– M je Band) und die Insel-Bücherei (1,25 und 2,50 M für den Doppelband). Deren beliebte Bändchen waren im normalen Verkauf kaum zu erhalten und tauchten bald druckfrisch in den Antiquariaten für 12,– Mark auf, was die Sammler akzeptierten. Die Annahme allerdings, dass die Buchpreise in der DDR insgesamt unter denen im Westen lagen, trifft nicht zu. Bis Mitte der siebziger Jahre lagen die durchschnittlichen Belletristik-Preise in der DDR, durch den deutlich geringeren Taschenbuchanteil, über denen der Bundesrepublik und erst seit Anfang der achtziger Jahre unter ihnen. Solange man das durchschnittliche Preisniveau von Büchern in der DDR betrachtet, unterschied es sich von dem in der Bundesrepublik weniger, als weithin angenommen wurde. Der durchschnittliche statistische Buchkäufer in der DDR musste aus seinem verfügbaren Einkommen beim Buchkauf prozentual praktisch ebenso viel ausgeben wie der durchschnittliche Buchkäufer in der Bundesrepublik. Die Buchpreise in der DDR hatten freilich eine geringere Spannweite zwischen den billigsten und teuersten Ausgaben, und für das breite Publikum wurden vor allem preiswerte Titel angeboten. So befanden sich Mitte der achtziger Jahre in einem DDR-Haushalt im Durchschnitt 143 Bücher, und in 93 Prozent der Haushalte wurde eine Tageszeitung gelesen, die nur 15 oder 20 Pfennig kostete. Von den Haushalten besaßen 40 Prozent bis zu 50 Bücher, 20 Prozent 51 bis 100 Bücher, weitere 20 Prozent 101 bis 250 Bücher, neun Prozent 251 bis 400 Bücher und sieben Prozent mehr als 400. Zwar war das Buch ein Massengut, aber es war zugleich eine Mangelware. Gefragte kritische belletristische DDR-Literatur war wegen zu geringer Auflagen oft ebenso schwer zu bekommen wie Literatur der Moderne oder westdeutsche Gegenwartsliteratur. Im begrenzten Buchangebot, insbesondere an Unterhaltungsliteratur, war erkennbar, wie weit sich die Produktion von den Interessen der Leser entfernt hatte. Die allerdings waren erfindungsreich, um an die gewünschte Literatur zu kommen. Sie streiften über Land, weil Landbuchhandlungen nicht so stark frequentiert waren, kauften auf den Buchbasaren ein, die mit Sonderangeboten lockten, tangierten die sonst öffentlich nicht zugänglichen Buchhandlungen am Tag der NVA. Erwin Strittmatters Wundertäter III und Volker Brauns Hinze-KunzeRoman z. B., deren Verbreitung offiziell behindert wurde, sind zum großen Teil über den Buchvertrieb der NVA an ihre Leser gekommen. Auch in Buchhandlungen der Informations- und Kulturzentren der DDR im sozialistischen Ausland konnten mitunter Bücher erstanden werden, die im Lande selbst schon vergriffen waren.
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Bibliotheken spielten neben dem individuellen Buchbesitz eine wichtige Rolle. 1984 gab es etwa 32.000. Zum Ende der DDR waren in 97 Prozent der 753 Gemeinden Bibliotheken vorhanden, die überwiegend (zu 82 Prozent) ehrenamtlich betreut wurden. Damit war zwar eine flächendeckende Versorgung erreicht, aber zugleich ein z. T. unrationeller Einsatz der Mittel vorgezeichnet, denn die zahlreichen Kleinstbibliotheken erhöhten den Aufwand. Nicht selten waren sie auch in ungeeigneten Räumen untergebracht. »Nach den Richtlinien für den Neubau von Bibliotheken verfügten in den achtziger Jahren weniger als 25 Prozent der Allgemeinbibliotheken über die erforderlichen Räume und Magazine.« Der Zustand zahlreicher Gebäude war schlecht, die Ausrüstung veraltet und die Bestände zeichneten sich durch eine Auswahl ideologisch und ästhetisch sanktionierter Titel aus. »Das Institut für Kulturforschung wies den Verschleißgrad der staatlichen Allgemeinbibliotheken für 1988 mit durchschnittlich 43,8 Prozent aus.«54 All das waren Gründe, weshalb in den achtziger Jahren die Attraktivität dieser Einrichtungen und die Entleihungen von Belletristik zurückgingen, obwohl die Bestände weiter anwuchsen. Qualitativ sollte mit dem Slogan vom »Leseland« freilich auch das Leseverhalten beeinflusst und die Leserschaft erweitert werden. Während in der Bundesrepublik die Quote derjenigen, die mindestens 8 Bücher im Jahr lasen bei 17 Prozent lag, betrug sie in der DDR immerhin 30 Prozent. Die Steigerungen des Buchbesitzes der DDR-Bürger von 1973 bis 1985 weisen allerdings aus, dass mehr populärwissenschaftliche Literatur, Sachbücher (60 %), als Belletristik (41 %) zu den bisherigen Büchern hinzugekauft wurde. Während sich der Anteil der Nichtleser unter der Arbeiterjugend von 1973 25 % auf 1989 50 % verdoppelte, stieg der Anteil der Leser von 55 DDR-Gegenwartsliteratur in den 1980er Jahren unter Studierenden auf 26 %.
Dass alle alles lesen, wie es das Schlagwort vom »Leseland« suggerierte, stand im Widerspruch zu den quantitativen wie den qualitativen Trends. Es täuschte über die tatsächlichen Prozesse hinweg. Eigentlich war mit dem »Leseland« nur das Hinterland der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beschrieben, der Höpcke vorstand. Denn das »Leseland« sorgte nicht nur für die staatliche Zensur und einen reglementierten Buchvertrieb, sondern das MfS las oft auch mit. Und überdies senkte das sogenannte Leseland das literarische Niveau, indem es unbequeme Autoren ins »feindliche Ausland« vertrieb. Auf dem X. Schriftstellerkongress im November 1988 kam das Thema Zensur dann offen zur Sprache. In zuvor nicht gekannter Deutlichkeit sagte Christoph Hein: »Das Genehmigungsverfahren, die staatliche Aufsicht, kürzer und nicht weniger klar gesagt: die Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar«. Sie war überlebt und hätte Mitte der fünfziger Jahre abgeschafft werden müssen. Sie war nutzlos, denn sie konnte die Verbreitung von Literatur nicht verhindern. Sie war paradox, weil sie das Gegenteil ihrer erklärten Absicht erreichte. Sie war menschenfeindlich, sowohl gegenüber dem Autor und dem Leser wie gegenüber dem Verleger und selbst dem Zensor.
54 Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 257. 55 Opitz/Hofmann (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur, S. 190.
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Sie war volksfeindlich, weil sie den Leser entmündigte. Sie war ungesetzlich, denn sie war verfassungswidrig. Und sie war strafbar, da sie einer »Öffentlichen Herabwürdigung« gleichkam. Dass diese Zensur noch 1987 ohne Einschränkung praktiziert wurde, war für Hein einer der Gründe, warum so viele »unersetzliche Leute« in den vergangenen zehn Jahren das Land verlassen hatten. Die Zensur, forderte er, »muss schnellsten und ersatzlos verschwinden, um weiteren Schaden von unserer Kultur abzuwenden«.56 Anfang 1989 wurde das Genehmigungsverfahren eingestellt. Zusammenfassend muss ein eklatanter kulturpolitischer Widerspruch konstatiert werden: Der erstaunlich umfangreichen materiellen und politischen Förderung von Kultur, die eine Hochachtung und Wertschätzung der Kultur zum Ausdruck brachte, stand eine politisch-ideologische Bevormundung und strukturelle Begrenzung von Kultur gegenüber, die einer Überschätzung ebenso wie einer Missachtung von Kultur gleichkam. Lange Zeit geschah der gesellschaftliche Ausbau des Staatssozialismus mit kultureller Absicht und war von kulturellen Ideen geleitet. Dabei setzte die SED »auf das Projekt des ›Kulturstaats‹ als Medium der ideologischen Erziehung, als immaterielle Kompensation für ausbleibende materielle Erfolge in der Konkurrenz der Systeme, als moralische Rechtfertigung für den Zwangscharakter dieses Weges. Angesichts der wachsenden Diskrepanz von konservatorischer Stabilisierung und modernitätsorientierter Mobilisierung wurde der Kultur eine versöhnende Brückenfunktion zugeschrieben.«57 Doch dieser staatlich etablierte Sozialismus hatte die Schranken der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht überschritten. Weder hatte er die Warenproduktion und den Warenfetischismus noch die Lohnarbeit und die Entfremdung des Menschen aufgehoben. Die Grundeinstellung der unmittelbaren Produzenten zu »ihrem« Staat unterschied sich »nicht wesentlich von der der Arbeiter im Kapitalismus zu ›ihrem‹ Konzern.«58 Gleichwohl war hier eine »arbeiterliche Gesellschaft« entstanden, aus der die bürgerlichen Eliten abgewandert bzw. marginalisiert waren. Und die »führende Rolle« der Arbeiterklasse war ganz andere Wege gegangen als ideologisch vorgezeichnet, »eher soziale und familiäre statt politische und organisierte«.59 Die kritischen Intellektuellen aber hatten längst die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts aufgegeben. Denn das Endzeit-Syndrom ließ sich nicht mehr allein auf die kapitalistischen Länder beschränken. Katastrophen im eigenen Machtbereich führten die unmittelbare Bedrohung vor Augen: vom massenhaften Abschlachten von Menschen unter Pol Pot in Kambodscha bis zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Angesichts der zunehmenden Krisenhaftigkeit des eigenen Systems konnte eine Literatur und Kunst, die das offen aussprach, nicht mehr ins Abseits gedrängt werden. Schließlich verließen viele Bürger das Land, als es möglich wurde, oder gingen auf die Straße und brachten die Mauer zum Einsturz. Die Künstler und Schriftsteller hatten ihren Anteil an diesem zwei Jahrzehnte langen Prozess. »Der 9. November 1989 kam von weit her […]«60
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Hein: Literatur und Wirkung, S. 228–231. Mai: Staatsgründungsprozess und nationale Frage, S. 59. Bahro: Die Alternative, S. 242. Engler: Die Ostdeutschen, S. 190. Brězan: Ohne Pass und Zoll, S. 198.
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Literatur- und Quellenverzeichnis Gedruckte Quellen BECHER, Johannes: Bemerkungen zur Kulturkonferenz. In: Johannes R. Becher: Gesammelte Werke, Bd. 18: Publizistik IV. 1952–1958. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1981. BERGER, Manfred u. a. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. 2., erw. u. überarb. Aufl. Berlin: Dietz 1978. BÜHL, Harald u. a. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Berlin: Dietz 1970. BLOCH, Ernst: Liegt es am System? In: Ernst Bloch: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985 (Werkausgabe, 11). BRĚZAN, Jurij: Ohne Pass und Zoll. Aus meinem Schriftstellerleben. Leipzig: Gustav Kiepenheuer 1992. DAHN, Daniela: Prenzlauer Berg-Tour. Halle (Saale), Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1987. Der Aufstieg zu einer sozialistischen Nationalkultur in der DDR. Berlin: Ministerium für Kultur 1958. Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Kongreß-Verlag 1949. DRESCHER, Horst: MalerBilder. Werkstattbesuche und Erinnerungen. Berlin und Weimar: AufbauVerlag 1989. GIORDANO, Ralph: Die Partei hat immer recht. Ein Erlebnisbericht über den Stalinismus auf deutschem Boden. Freiburg im Breisgau: Herder 1990. GROTEWOHL, Otto: Rede zur Kulturverordnung 1950. In: Otto Grotewohl: Deutsche Kulturpolitik. Dresden: Verlag der Kunst 1952. GUNDLACH, Heinz: »Es ist keinem gestattet, die Axt zu nehmen«. In: Gertrude Hoffmann/Klaus Höpcke (Hrsg.): »Das Sicherste ist die Veränderung«. Hans-Joachim Hoffmann. Kulturminister der DDR und häufig verdächtigter Demokrat. Berlin: Dietz 2003. GUTSCHKE, Irmtraud: Hermann Kant. Die Sache und die Sachen. Interview. Berlin: Das Neue Berlin 2007. HAGER, Kurt: Erinnerungen. Leipzig: Faber & Faber 1996. HAGER, Kurt: Probleme der Kulturpolitik vor dem XI. Parteitag der SED. In: Kurt Hager: Beiträge zur Kulturpolitik. Bd. II 1982 bis 1986. Berlin: Dietz 1987, S. 105. HAGER, Kurt: Tradition und Fortschritt. Rede zur Gründung der »Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der DDR für deutsche Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts«. In: Hager, Beiträge zur Kulturpolitik. Bd. II, S. 91. HAGER, Kurt: Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Rede auf der 6. Tagung des ZK der SED, 6. Juli 1972. In: Kurt Hager: Beiträge zur Kulturpolitik, Reden und Aufsätze 1972 bis 1981. Berlin: Dietz 1981. Handbuch für den Kulturfunktionär. Berlin: Verlag Tribüne 1961. HEIN, Christoph: Literatur und Wirkung. In: X. Schriftstellerkongress der DDR. Arbeitsgruppen. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1988, S. 224–247. HOFFMANN, Hans-Joachim: Haupttätigkeit – Schlimmes verhüten. In: Brigitte Zimmermann / Hans-Dieter Schütt (Hrsg.): OhnMacht. DDR-Funktionäre sagen aus. Berlin: Das Neue Berlin 1992. HONECKER, Erich: Bericht des ZK der SED an den X. Parteitag der SED. Berlin: Dietz 1981. HONECKER, Erich: Zu aktuellen Fragen bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages. In: Erich Honecker: Reden und Aufsätze. Bd. 1. Berlin: Dietz 1975. KANT, Hermann: Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1991. KANT, Hermann: Die Verantwortung des Schriftstellers in den Kämpfen unserer Zeit. In: VIII. Schriftstellerkongress der DDR. Referat und Diskussion. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1979, S. 16–50.
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KOCH, Hans / HANKE, Helmut / ZIERMANN, Christa / BARTHEL, Wilfried: Zur Theorie der sozialistischen Kultur. Berlin: Dietz 1982. KOCH, Hans: Grundlagen sozialistischer Kulturpolitik in der DDR. Berlin: Dietz 1983; LIEBKNECHT, Wilhelm: Kleine politische Schriften. Leipzig: Reclam 1976. PIECK, Wilhelm: Reden und Aufsätze. Auswahl aus den Jahren 1908–1950. Bd. II. Berlin: Dietz 1951. SPRANGER, Eduard: Kulturpolitik. In: Herre, Paul (Hrsg.): Politisches Handwörterbuch. Erster Band A–K. Leipzig 1923, S. 1087–1088. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1956. Berlin: Staatsverlag der DDR 1956. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990. Berlin: Staatsverlag der DDR 1990. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 90, Berlin 1990, S. 299. Überführung der Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereine in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen, 12. Januar 1949. In: Dietrich, Gerd: Politik und Kultur in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ). 1945–1949. Mit einem Dokumentenanhang, Bern u. a.: Peter Lang 1993, S. 354. UHSE, Bodo: Reise- und Tagebücher II. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1981 (Gesammelte Werke 5). ULBRICHT, Walter: Aus Reden und Aufsätzen. Bd. X: 1960–1961. Berlin: Dietz 1966. ULBRICHT, Walter: Der Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender demokratischer Staat. In: Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der SED. 10.–16. Juli 1958 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin. Bd. 1. Berlin: Dietz 1959. WOLF, Christa: Ein Tag im Jahr. 1960–2000. München: Luchterhand 2003.
Forschungsliteratur ALLMENDINGER, Jutta: Staatskultur und Marktkultur, ostdeutsche Orchester im Vergleich. In: Mitteldeutscher Kulturrat (Hrsg.): Kultur und Kulturträger in der DDR. Analysen. Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 215–281. BAHRO, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1979. BOURDIEU, Pierre: Die Intellektuellen und die Macht. Hrsg. von Irene Dölling. Hamburg: VSAVerlag 1991. DIETRICH, Gerd: Kulturgeschichte der DDR. Bd. I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945– 1957, Bd. II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1958–1976, Bd. III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1976–1990. 2. durchges. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. DRECHSLER, Hanno / ILLGEN, Wolfgang / NEUMANN, Franz (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik. 9., neu bearb. Aufl. München: Vahlen 1995. ENGLER, Wolfgang: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin: Aufbau-Verlag 1999. FOHRBECK, Karla / WIESAND, Andreas Johannes: Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft? Kulturpolitische Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland. München: C. H. Beck 1989. GEIßLER, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Ein Studienbuch zur gesellschaftlichen Entwicklung im geteilten und vereinten Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1992. GROSCHOPP, Horst: Breitenkultur in Ostdeutschland. Herkunft und Wende – wohin? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B11/2001, S. 14–23. HENRICH, Rolf: Der vormundschaftliche Staat. Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer 1990.
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Matthias Braun 3.2
Die Überwachung von Schriftstellern und Verlagen durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS)
Rahmenbedingungen für die Entwicklung des literarischen Lebens in der DDR Die SED-Führung betrachtete Literatur und Kunst als Teil des sogenannten gesellschaftlichen Überbaus, der den Herrschaftsanspruch der Staatspartei und seines Machtapparates ideologisch zu begründen und zu sichern hatte. In diesem Rahmen erhielt die Literatur in der DDR1 eine »gesellschaftlich-konstruktive, das sozialistische Gesellschaftsganze aktiv mitgestaltende Funktion«,2 mit deren Hilfe die Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Basis der 1949 gegründeten DDR entscheidend vorangetrieben werden sollte. Dem Schriftsteller kam dabei die Rolle eines Volkserziehers und Sozialpädagogen zu, die viele Autorinnen und Autoren nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft auch durchaus bereitwillig annahmen. Getragen von der Vorstellung, dass durch literarische Texte Einfluss auf die Überzeugungen und Motivationen der Menschen im Lande genommen werden könne, sollte die schöngeistige Literatur im »ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden« nicht nur bilden und unterhalten, sondern vor allem dem »gesellschaftlichen Fortschritt« dienen und den Führungsanspruch der Partei der Arbeiterklasse und ihrer Funktionäre ideologisch begründen helfen. Die von der Partei überschätzte Wirkungskraft der Literatur auf gesellschaftliche Basisprozesse im Sozialismus stellte für die SED-Funktionäre das zentrale Motiv für die Förderung einer sozialistischen Literatur dar. Nur wenige Tage nach der Staatsgründung am 7. Oktober 1949 hatte die SEDFührung festgelegt, dass alle Erlasse, Gesetze, Verordnungen und Beschlüsse vor der Verabschiedung durch die Volkskammer oder die Regierung vom SED-Politbüro bzw. dem Sekretariat des ZK der SED bestätigt werden müssen.3 Dementsprechend sollte bei der durch die SED angeleiteten gesellschaftlichen Gesamtplanung auch das Literatursystem des Landes in Übereinstimmung mit den primär gesetzten gesellschaftlichen Zielen entwickelt werden. Damit war die Entwicklung des literarischen Lebens, verstanden als die »Gesamtheit des Zusammenwirkens zwischen Produktion, Distribution und Rezeption«4 in der DDR von Anfang an in starkem Maße von den kulturpolitischen Vorgaben der Partei abhängig. Die jeweilige kulturpolitische Leitlinie wurde auf den Parteitagen der Staatspartei, in unregelmäßigen Abständen auch auf »Kulturplenen« des ZK der SED sowie in Reden oder auch Artikeln führender Funktionäre des Partei- und Staatsapparates propagiert. Je nach Bedarf wurde das kulturpolitische Konzept der SED den innen- bzw. außenpolitischen Bedingungen angepasst. Über vier Jahrzehnte hinweg wechselten sich Phasen ideologischer Enge mit Phasen begrenzter kulturpolitischer Of-
1 Zum Begriff der DDR-Literatur siehe Opitz/Hofmann (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur, S. 72–73. 2 Bühl u. a. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch, S. 183. 3 BArch, DY 30, IV 2/3/57, Bl. 26–28: Beschluss des Sekretariats des Politbüros v. 17. 10. 1949. 4 Vgl. Lorenz: Literarisches Leben. https://doi.org/10.1515/9783110471229-010
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fenheit ab. Dabei stellte die Partei zu keinem Zeitpunkt ihren normativen Anspruch (Meinungsmonopol) zur Disposition. Bei der Entwicklung und Förderung einer sozialistischen Nationalliteratur ging es der Staatspartei nicht nur darum, die Rahmenbedingungen festzulegen, sondern auch durch gezielte Eingriffe die Handlungen einzelner Akteure, etwa von Autoren, Verlegern und Lektoren zu beeinflussen. Die Steuerung sollte sich auf das Literatursystem als Ganzes und alle seine zentralen Handlungen erstrecken. Planmäßig gestaltet werden sollten die literarische Infrastruktur, der Buchvertrieb, die Literaturpropaganda, die Entwicklung einer sozialistischen Gegenwartsliteratur sowie das Literaturaufkommen insgesamt. Die Leserschaft sollte verbreitert und ihre Rezep5 tionsdisposition erhöht werden.
Schriftsteller sollten »Kampfgenossen der Regierung« (Ministerpräsident Otto Grotewohl) sein. In diesem Sinne »verstanden die Gründer und Gestalter die DDR als verwirklichte Vision von Schriften«.6 Vom Schriftsteller erwartete die Partei die kreative Fortsetzung dieser Visionen in den parteilich vorgezeichneten Bahnen. Schon in den 1920er Jahren hatte die KPD-Führung die Gedichtzeile ihres Genossen Schriftstellers Friedrich Wolf, »Kunst ist nicht Dunst noch Bildungsgegaffe […] Kunst ist Waffe«,7 zur Leitlinie ihrer Kulturpolitik erklärt. Die daraus abgeleitete Grundhaltung der SEDNomenklatura, Literatur als Bestandteil zwingender politischer Anforderungen zu sehen, durchzog mit dem Denken in Kategorien des Klassenkampfes ihre praktische Einstellung bzw. Bewertung von literarischen und künstlerischen Prozessen bis zum Ende der DDR. Das Aufzeigen von Widersprüchen zwischen Oben und Unten, eine Hauptfunktion von Literatur sowohl in offenen als auch geschlossenen Gesellschaften, wurde von der Partei- und Staatsmacht in der DDR regelmäßig als ein Angriff auf ihre Definitionsmacht über die Wirklichkeit im Lande wahrgenommen.8 Die Überlegung, dass Störungen zur Dynamisierung und Flexibilisierung von (Sinn-)Grenzen in einer Gesellschaft beitragen können, lag dagegen für die SED-Kulturfunktionäre und ganz besonders für die »Kulturoffiziere« des MfS außerhalb ihrer engen Betrachtungsweise. Folglich wurden vom Machtapparat »Störungen« im kulturellen Feld der DDR nicht als ein produktiver Prozess eines permanenten Wechsels von Aufstörung und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen, sondern als Störung von Normalität und als Destabilisierung wahrgenommen.9 »Gesellschaftssystemen, in denen eine Flexibilität sozialer Toleranzgrenzen gegenüber ›Denormalisierungen‹ nicht gegeben ist, müssen demgegenüber einen enormen Aufwand betreiben, um die auf Langfristigkeit angelegte Gültigkeit ihrer
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Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 10. Rathenow: Was bleibt?, S. 980. Wolf: Kunst ist Waffe. Vgl. Gansel: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie »Störung«, S. 31–56. Nach Homi K. Bhabha lässt sich das kulturelle Feld als einer jenen »Dritten Räume« ungebändigter Kommunikation auffassen, in bzw. auf dem es zu einem permanenten Wechsel von Aufstörung und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen kommt. Vgl. Bhabha: The Location of Culture.
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normativ gesetzten Stabilitäts- bzw. Normalitätspostulate zu erhalten.«10 Dementsprechend wandten die SED und ihr Sicherheitsapparat viel Energie auf, um das sogenannte Grundrauschen im literarischen Leben der Republik argwöhnisch zu kontrollieren und durch gezielte literaturpolitische Steuerungsmaßnahmen entsprechend zu beeinflussen. Obwohl die große Mehrheit der Schriftsteller die Bindung an die sozialistische Vision und den Realsozialismus nicht in Frage stellte, sondern sich eher als systemloyale Kritiker verstanden. Die Etablierung und ständige Weiterentwicklung eines sozialistischen Literatursystems war ein wichtiger Bestandteil des Großversuchs DDR. Der Schwerpunkt bei der angestrebten Gestaltung dieses Literatursystems lag in der Steuerung der Produktion von Literatur, die mit dem Aufbau der Wirtschaftsplanung in den 1950er Jahren begann. In einem langen und nicht ohne Konflikte verlaufenden Prozess schälten sich drei offizielle Hauptinstrumente zur Lenkung der Verlagsarbeit heraus: Die Zuteilung von Papier, die Themenplanung und die Zensur in Gestalt der Druckgenehmigung.11 Diese Aufgabe übernahm im Wesentlichen das 1951 gegründete Amt für Literatur und Verlagswesen. 1956 wurde diese staatliche Institution in Hauptverwaltung Verlagswesen im Ministerium für Kultur (MfK) umbenannt und erhielt schließlich 1963 als Hauptverwaltung (HV) Verlage im MfK seinen endgültigen Namen. Angeleitet wurde diese zentralstaatliche Institution von der Abteilung Wissenschaft und der Abteilung Kultur des ZK der SED. Die HV Verlage und Buchhandel war seit 1963 für alle Bereiche der Literaturproduktion, der Literaturpropaganda und Absatzsteuerung, die Organisation von Import und Export und das Bibliothekswesen zuständig.12 Formal war die HV damit auch für die Ausübung einer staatlichen Vorzensur, offiziell Druckgenehmigungsverfahren genannt, zuständig. Für die Erteilung der Druckgenehmigung standen der HV Verlage keine exakt definierten Normen in Form von gesetzlichen Grundlagen oder allgemeinverbindlichen Durchführungsbestimmungen zur Verfügung.13 Die Anleitung der für das Druckgenehmigungsverfahren zuständigen Stellen bzw. deren Funktionsträger wurden von der Partei »so allgemein wie möglich gehalten, um die Angesprochenen zu zwingen, sich intensiv mit den Standpunkten und Zielen der SED-Führung im Hinblick auf ihr Arbeitsgebiet auseinanderzusetzen. Zensurarbeit ließ sich nicht an festen Kriterien umsetzen, sie war eine inhaltliche Arbeit am Gesellschaftsverständnis.«14 Juristisch konnte gegen die Verweigerung einer Druckgenehmigung nicht vorgegangen werden. Die Zensurtätigkeit konnte im täglichen Literaturbetrieb zu Eingriffen in die Textgestalt oder zu Einschränkungen der Auflagenhöhe führen oder sich in einem gesteuerten Einsatz der Literaturkritik (»angeleitete Literaturkritik«) äußern. Im extremsten Fall konnte
10 Gansel: Zu Aspekten einer Bestimmung, S. 9. 11 Löffler: Buch und Lesen, S. 11. 12 Grundlegend zur Entwicklung des Literaturapparats in der DDR siehe Lokatis: Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur; Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«. 13 Lediglich 1960 veröffentlichte die Abteilung für Schöne Literatur des ZK der SED eine »Richtlinien für die Begutachtung«, siehe BArch, DR 1/1287 v. 25. 7. 1960, die ansatzweise eine Konzeption zur Druckgenehmigungspraxis enthält. Weitere Papiere in dieser Richtung sind bis 1989 nicht verfasst worden. Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 188–205. 14 Löffler: Buch und Lesen, S. 142–143.
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die HV Verlage als ausführendes staatliches Organ ein Publikationsverbot aussprechen. Zusätzlich existierte die Möglichkeit der Nachzensur, in dem die weitere Auslieferung von Buchtiteln gestoppt, Nachauflagen untersagt oder auch öffentliche Lesungen durch organisiertes Publikum gestört oder gar nicht erst genehmigt wurden. Die Leitungsebenen der SED (Generalsekretär, ZK-Sekretäre, Kulturabteilung des ZK, Bezirksleitungen etc.) konnten ebenso wie staatliche Institutionen (die Ministerien für Volksbildung, des Innern und der Verteidigung oder auch das Staatssekretariat für Kirchenfragen) qua Amt auf die Veröffentlichung von Texten Einfluss nehmen.15 Offiziell wurde diese Kontrolltätigkeit der Partei- und Staatsorgane als Fördertätigkeit verkauft. Förderung und Bevormundung in Form von ständigem Hineinreden bis hin zu Eingriffen in fertige Manuskripte lagen im »Leseland DDR« nahe beieinander. Da der Begriff Zensur über lange Zeit tabuisiert war, kommt er in den Akten der HV Verlage und Buchhandel auch nicht vor. An seiner Stelle tauchen solche Wendungen wie »operative Anleitung der Verlage« oder auch »Hebung der literarischen Qualität durch Begutachtung« auf. Die Zensurbehörde monierte bei »komplizierten Schmorfällen« allenfalls »Schwankungen«, »Unklarheiten« oder einfach nur »Stellen«.16 Obwohl die politische Zensur und andere staatliche Lenkungsmaßen bis zum Herbst 1989 in der DDR nicht aufgehoben wurden, war dort über 40 Jahre hinweg eine lebendige Literaturlandschaft mit profilierten Autoren und engagierten Verlegern und Lektoren entstanden. Immer wieder gelang es Verlagen, auch umstrittene Titel ihrer einheimischen Autoren zu publizieren. Hinzu kamen die kontinuierlichen Bemühungen, die Literatur aus den sozialistischen Nachbarländern vorzustellen sowie trotz permanenter Devisenknappheit Lizenzausgaben westlicher Verlage zu ermöglichen. So konnte das Literaturangebot in der DDR Stück für Stück erweitert werden. Es gab viel zu lesen, aber es gab auch viel nicht zu lesen. Dazu gehörten neben den nur im Westen veröffentlichten Büchern von in der DDR lebenden Schriftstellern, vornehmlich Texte junger Autoren, die sich ästhetisch alternativ definierten und außerhalb des staatlich organisierten Literaturbetriebes bewegten.17
Das MfS und die Grundlagen für seine kulturoperative Arbeit im »Sicherungsbereich Literatur« Das MfS als politische Geheimpolizei, geheimer Nachrichtendienst und Organ für strafrechtliche Untersuchungen war als direkter und indirekter »Akteur, als einkalkuliertes Risiko oder als für eigene Zwecke scheinbar nutzbares Instrument, mit beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen, von großer Bedeutung für die Geschichte der DDR und die Menschen, die in ihr lebten.«18
15 Zu der in der Literatur als »zweites, verdecktes Zensurverfahren« bzw. »zweiten Schaltkreis« der Zensur bezeichneten Kontroll- und Überwachungstätigkeit durch das MfS siehe Westdieckenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«. 16 Vgl. Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 179; Braun: Zensur in Kunst und Kultur der DDR, S. 193–223. 17 Vgl. Braun: »Die Anthologie von den jungen Leuten lässt mich nicht mehr schlafen«. 18 Gieseke: Der Mielke-Konzern, S. 21.
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Die Geschichte der Überwachung und Unterwanderung des literarischen Lebens in der DDR durch das MfS begann im Februar 1950 mit der Umbildung der Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft in ein selbständiges Ministerium für Staatssicherheit.19 Die Aufgaben, Befugnisse und Zuständigkeiten des neuen Ministeriums wurden in dem entsprechenden Beschluss der Volkskammer weder bezeichnet noch begrenzt. Sie sind zu keinem Zeitpunkt gesetzlich definiert worden. Die Staatssicherheit entwickelte sich im Lauf ihrer vierzigjährigen Geschichte von einer klassischen politischen Geheimpolizei sowjetischen Typs etappenweise zu einem allgemeinen Überwachungsund Kontrollorgan, das neben seinen herkömmlichen repressiven Aufgaben vor allem umfassende Stabilisierungsfunktionen ausbildete. In der Terminologie des MfS gesprochen, ging es nicht nur um die »Gewährleistung der staatlichen Sicherheit«, sondern auch um den Schutz der gesellschaftlichen Entwicklung »im Sinne der politischen Vorgaben der SED«.20 Hauptaufgabe des MfS war es, den in der Verfassung der DDR verankerten Führungsanspruch der Staatspartei und den Aufbau des Sozialismus bzw. in späteren Jahren den Erhalt einer »sozialistischen Gesellschaft in den Farben der DDR« zu sichern. Die politische Anleitung des MfS oblag der Abteilung für Sicherheitsfragen im ZK der SED. Als »Schild und Schwert«21 der Partei war die Staatsicherheit die wichtigste Stütze der SED-Herrschaft. Regelmäßig fanden auf allen Ebenen mündliche Konsultationen zwischen SED und MfS statt. Die einzelnen Arbeitsmethoden der politischen Geheimpolizei waren den SED-Funktionären nicht vertraut. Im Unterschied zur SED und den staatlichen Organen nahm das MfS seinen sicherheitspolitischen Auftrag (»Schutz der sozialistischen Ordnung, Verhütung und Bekämpfung von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen«)22 mit den ihm zur Verfügung stehenden politischoperativen Mitteln und Methoden im Verborgenen und unter strenger Einhaltung der Konspiration, einschließlich des Schutzes seiner Quellen, wahr. Die für Literatur und Kunst zuständigen Diensteinheiten des MfS hatten in ihrer dienenden Funktion die kulturpolitische Linie der Partei abzusichern, zu unterstützen und durchzusetzen. Dabei hatte das MfS nach eigener Aussage bei seiner kulturoperativen Arbeit stets zu beachten, dass die Prinzipien der Kulturpolitik der DDR und ihre detaillierte Verwirklichung durch die Partei und die zuständigen staatliche Organe, speziell durch das Ministerium für Kultur und seine nachgeordneten Einrichtungen bestimmt [werden]. Das MfS hat in diesem Prozess, insbesondere bei der Festlegung der konkreten Maßnahmen zur Durchsetzung der Kulturpolitik, keine bestimmende oder entscheidende Funktion. Die Aufgabe des MfS besteht darin, die Partei und die zuständigen Staatsorgane über das Verhalten von Künstlern, im Ergebnis unserer operativen Arbeit, zu informieren. Dieser Grundsatz wird durch die Hauptabteilung XX/7 dergestalt realisiert, dass das ZK der SED bzw. der Minister für Kultur oder zuständige
19 Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vom 8. Februar 1950. GBL der DDR Nr. 15 v. 21. 2. 1950. 20 Vgl. BStU, MfS, SdM 2619, Bl. 1–11: Statut des MfS v. 30. 7. 1969. 21 Das Bild vom »Schild und Schwert der Partei« beschreibt das Selbstverständnis des MfS. Bereits im Wappen des sowjetischen Geheimdienstes tauchten die Symbole Schild und Schwert auf. Dem sowjetischen Vorbild folgend, hat das MfS beide auch in sein Wappen eingefügt. 22 BStU, MfS, SdM 1091, Bl. 179: Dokumente zur Regelung der Tätigkeit des MfS, o. D.
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3 Li t e ra t ur- un d A ut o re n po l i ti k Funktionalorgane bei notwendigen Entscheidungen über Reisekadereinsätze, Auftrittserlaubnis, Zulassung, Förderung o.ä. mit der Formel: »Zu Ihrer Entscheidungsfindung/Information teilen wir Ihnen mit, dass beim MfS Hinweise folgender Art vorliegen …« unterrichtet wer23 den, wobei eine Stellungnahme hinsichtlich der Entscheidungsrichtung nicht erfolgt.
Nur in seltenen Fällen sollten diese Informationen mit einer Empfehlung, nicht aber mit einer Forderung verbunden werden. »Prinzipiell«, so die offizielle Verhaltenslinie, »bleibt die Auswertung« der MfS-Hinweise »der Entscheidung der Partei- und Staatsorgane überlassen«.24 Mit welchen operativen Mitteln und Methode das MfS seinen sicherheitspolitischen Auftrag wahrnahm, blieb geheim. Damit hatte die Staatssicherheit deutlich mehr freies Spiel bei der Erledigung ihrer Aufgaben als jedes andere staatliche Organ in der DDR. Obwohl das MfS in seinen Grundsatzpapieren immer wieder betonte, sich an die politischen Vorgaben der SED gebunden zu fühlen, geriet es bei der Verfolgung seiner sicherheitspolitischen Interessen im »Sicherungsbereich Literatur« verschiedentlich in Widerspruch zu den staatspolitischen und kulturpolitischen Überlegungen der Partei- und Staatsführung. So konnte es durchaus passieren, dass ein Schriftsteller vom MfS mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen überwacht und zugleich aus übergeordneten staatspolitischen Gründen vom Staatsratsvorsitzenden Honecker mit dem Nationalpreis ausgezeichnet wurde. Im Normalfall griff die Partei nicht in die laufende operative Arbeit des MfS ein, in bestimmten Fällen jedoch. Etwa bei eingeleiteten Reisesperren (Westreisen) oder angestrebten Publikationsverboten geriet das MfS vorzugsweise ab den 1970er Jahren bei namhaften, auch im Westen bekannten Autorinnen und Autoren in Widerspruch zu den staatspolitischen Erwägungen der Staatspartei. Dann sah es sich regelmäßig dazu veranlasst, durch »zentrale Entscheidung« seine Maßnahmen, beispielsweise eine verhängte Reisesperre, auszusetzen. Im Unterschied zur Partei- und Staatsführung der DDR, interessierte sich die ostdeutsche politische Geheimpolizei von ihrem Selbstverständnis her nicht für Literatur und Kunst. Ihr ging es nicht darum: Ob ein künstlerisches Produkt vom Inhalt und der Form, von der Themenwahl und der Gestaltung her gefällt oder nicht – es geht in der Untersuchungstätigkeit ausschließlich um die objektive Einschätzung der rechtlichen Relevanz eines Textes, eines Gedichtes, eines Bildes usw. […] Das MfS ist kein Kulturinstitut und die Mitarbeiter seines Untersuchungsorgans 25 sind keine Kunstkritiker.
Das operative Interesse des MfS am literarischen Leben in der DDR beruhte vielmehr auf seinem Alleinstellungsmerkmal, welches darin bestand, als einzige staatliche Institution sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausschließlich auf Normenabwei-
23 BStU, MfS, BV Lpz. AOP 1231/76, Bd. 1, Bl. 58–59: Abteilung XX/7 der BV Leipzig: Aktennotiz v. 3. 11. 1975. 24 BStU, MfS, BV Lpz. AOP 1231/76, Bd. 1, Bl. 58–59: Abteilung XX/7 der BV Leipzig: Aktennotiz v. 3. 11. 1975. 25 BStU, MfS, HA IX 327, Bl. 1–57, hier 9: HA IX: Ausgewählte Grundsätze der Untersuchungsarbeit der Linie IX zur vorbeugenden Aufdeckung, Verhinderung und Bekämpfung des feindlichen Missbrauchs künstlerischer und kultureller Ausdrucksmittel o. D.
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chungen als Quelle für potentielle bzw. bereits existierende Störungen aufzuklären. Wurden politische bzw. personelle Unsicherheitsfaktoren festgestellt, dann leitete das MfS gemäß seinem Auftrag entsprechende Maßnahmen zur Verhinderung der Wirksamkeit dieser Störungsphänomene ein. Dazu wurden detaillierte Maßnahmepläne erstellt und nach einem festgelegten Schema abgearbeitet. Zu dieser politisch-operativen Tätigkeit setzte das MfS alle gängigen geheimpolizeilichen Mittel und Methoden ein. Von einer einfachen Sicherheitsüberprüfung bis zur Eröffnung verschärfter geheimpolizeilicher »Vorgangsarten«, wie einer Operativen Personenkontrolle (OPK)26 oder eines Operativen Vorgangs (OV).27 Mittels dieser geheimpolizeilichen Instrumente versuchte die Staatssicherheit unter Beachtung der politisch-operativen Lage, die aufgedeckten Sicherheitsdefizite jeglicher Art zu überwachen bzw. mittels »Zersetzungs-, Differenzierungsund Verunsicherungsmaßnahmen«, bis hin zu Ermittlungsverfahren und Verhaftungen, zu beseitigen. In diesem Kontext waren für die »Kulturoffiziere« Schriftsteller und Verlage so etwas wie Multiplikatoren der Ideologie, nonkonformistische Schriftsteller demzufolge Multiplikatoren der »ideologischen Infiltration des Gegners«, die aus ihrer Perspektive ab den 1970er Jahren als »die Hauptform der Feindtätigkeit gegen die DDR«28 klassifiziert wurde. Literarische Texte, die gegen die vorgegebenen Normen der marxistischen Ästhetik bzw. Kulturpolitik der Staatspartei verstießen, standen stets unter dem Generalverdacht, dem gesellschaftlichen Stabilisierungsprozess entgegenzustehen. Das konnte in Anbetracht der breiten Palette von Tabus sehr schnell geschehen, gehörten doch kritische Äußerungen zur Partei, der Armee, der Volksbildung, der Sowjetunion und der Staatssicherheit, in den 1980er Jahren auch zur Friedens- und Umweltpolitik der SED, zu den großen Tabus.29 In einer Gesellschaft, die weitgehend ohne philosophische, soziologische, politische und auch ohne ernstzunehmende journalistische Debatten existierte, fielen Kunst und Literatur Ersatzaufgaben zu, die zur Entwicklung einer begrenzten Ersatzöffentlichkeit in der DDR führten.30 Erst in diesem Kontext gelangten Autorinnen/Autoren und die ihre Texte publizierenden Verlage »als Element[e] des Klassenkampfes, als wichtiger Bestandteil der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind«31 in den Fokus der politischen Geheimpolizei. Diese betrachtete es als ihre zentrale Aufgabe, die Frage »Wer ist Wer?« zu klären. Diese geheimpolizeiliche Klärung bedeutete für den Mielke-Apparat
26 OPK siehe Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 253. 27 OV siehe Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 255. 28 BStU, MfS, SdM 1091, Bl. 187: Kampf gegen die politisch-ideologische Diversion des Gegners. 29 Vgl. Horn: Staatliche Literaturaufsicht, S. 28. 30 Andreas G. Graf spricht von drei sich gegenseitig bedingenden und beeinflussenden Öffentlichkeit(en): 1. Die offizielle Öffentlichkeit unter Parteikontrolle, 2. die durch westliche Medien (bes. Fernsehen) geschaffene Öffentlichkeit und 3. eine sub- und gegenöffentliche, teilautonome Öffentlichkeit. Vgl. Graf: Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit. Ferner zur Thematik der Ersatzöffentlichkeit siehe Links: Leseland DDR und Frauke Meyer-Gosau: Leseland? Legoland? Lummerland? Kummerland! In: Aus Politik und Zeitgeschichte 11/2009, S. 12. 31 MfS HA XX/AKG 98, Bl. 159–173, hier160: HA XX/AKG: Arbeitsmaterial: Unsere kulturelle Arbeit – fester Bestandteil des pol.-ideologischen Wirkens der Partei o. D. (Frühjahr 1982).
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3 Li t e ra t ur- un d A ut o re n po l i ti k eine Antwort darauf zu geben, wer der Feind ist, wer eine feindlich-negative Haltung, wer aufgrund des Wirkens feindlich-negativer und anderer Einflüsse zum Feind werden kann, wer den Feindeinflüssen unterliegt und sich vom Feind missbrauchen lassen könnte, wer eine schwankende Position einnimmt und auf wen sich Partei und Staat jederzeit verlassen und 32 zuverlässig stützen können.
Auf dieser Grundlage erarbeitete die politische Geheimpolizei mit einem ganzen Heer von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern, unterstützt von sogenannten gesellschaftlichen Kräften, eine schier unüberblickbare Masse von operativem Material zu allen erdenklichen Bereichen der Gesellschaft, darunter auch jede Menge Akten mit einem Bezug zum literarischen Leben in der DDR. In der Summe spiegelt dieses Material, geprägt vom sicherheitspolitischen Denken seiner Urheber, den interessengeleiteten Blick des MfS auf das Literatursystem DDR mit all seinen Teilbereichen wider.33 Die »Kulturoffiziere« stützten sich bei ihrer operativen Arbeit auf die für alle hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS gleichermaßen in Dienstanweisungen, Arbeitsrichtlinien und Durchführungsbestimmungen festgeschriebenen operativen Instrumente und Verfahren, die eine verbindliche Blaupause für die operative Arbeit aller Diensteinheiten der Staatssicherheit darstellte. Auf dieser Basis hat sie im Verlauf von vier Jahrzehnten zu insgesamt rund 1.000 ost- und westdeutschen Schriftstellern, Verlegern und Lektoren, wie auch DDR-Kulturpolitikern, Verbandsfunktionären und Literaturwissenschaftlern klandestine Unterlagen mit einem Umfang von bis zu 70 Aktenordnern pro Person angelegt. Von Bruno Apitz über Wolf Biermann, Heinrich Böll, Volker Braun, Werner Bräunig, Franz Fühmann, Günter Grass, Wolfgang Hilbig, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Uwe Johnson, Sarah und Rainer Kirsch, Erich Loest und Irmtraud Morgner bis Brigitte Reimann und Christa Wolf.
Die Überwachung der Schriftsteller und Verlage durch das MfS von den Anfängen bis zur Friedlichen Revolution (1950–1989) Phase 1 (1950–1963) Bis Mitte der 1950er Jahre sah das MfS keine Veranlassung, strukturelle Voraussetzungen für eine »fachspezifische« Überwachung des »Kunst- und Kulturbereiches« zu schaffen. Damit stellten auch die Literaturverlage und ihre Schriftstellerinnen und Schriftsteller für die Staatssicherheit noch keine spezielle Zielgruppe dar, die es kontinuierlich zu überwachen galt. In den Aufbaujahren der DDR führten vielmehr fehlendes Personal, operative und bildungsmäßige Defizite der zur Verfügung stehenden Mitarbeiter und eine starke Personalfluktuation zu einer eher oberflächlichen Überwachung des Kulturbereiches. Lediglich Einzelfälle aus der schreibenden Zunft bzw. einzelne Persönlichkeiten des kulturellen Lebens gerieten von Beginn an in den Fokus des MfS. Erst
32 BStU, MfS, BdL/Dok. 7385, Bl. 1–159, hier Bl. 7: Erich Mielke: Zu Problemen und Aufgaben der weiteren Qualifizierung und Vervollkommnung der pol.-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung zur Klärung der Frage »Wer ist wer« v. 3. 4. 1981. 33 Zum Quellenwert der MfS-Unterlagen siehe Braun: Vom Quellenwert der Stasi-Akten für die deutsche Literaturgeschichtsschreibung und Henke/Engelmann: Aktenlage.
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ab Mitte der 1950er Jahre begann die Staatssicherheit mit dem allmählichen Aufbau einer eigenen Diensteinheit für die Kontrolle des kulturellen- und damit auch des literarischen Lebens im östlichen Teil Deutschlands. Ihre operative Tätigkeit auf der »Linie Schriftsteller« intensivierte das MfS jedoch weiterhin nur dann, wenn es »ideologische Aufweichungstendenzen« befürchtete, die stets mit außen- oder innenpolitischen Prozessen im Zusammenhang standen. Dazu gehörten die Ereignisse um den 17. Juni 1953 in der DDR und der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 in Moskau. Letzterer hatte mit seinem Versuch einer vorsichtigen Entstalinisierung eine tiefe Krise in der kommunistischen Welt ausgelöst, die ihre manifesten Höhepunkte in der ungarischen Revolution (Oktober/November 1956), in den Unruhen in Polen (Herbst 1956) sowie in den Auseinandersetzungen in anderen sozialistischen Ländern, darunter auch in der DDR, gefunden hatten. Unter welchen operativen Voraussetzungen bis zu diesem Zeitpunkt die Überwachung des literarischen Lebens durch die Staatssicherheit ablief und mit welchen zusätzlichen politischen Irritationen ihre Mitarbeiter in dieser Zeit zu kämpfen hatten, darüber gibt eine Analyse über die »Schwierigkeiten der gegenwärtigen Abwehrarbeit«34 aus der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Aufschluss. Als Hauptgründe wurden dort die mangelhaften fachlichen Voraussetzungen und die geringe Lebenserfahrung der zumeist jungen hauptamtlichen wie auch inoffiziellen Mitarbeiter, einschließlich ihres unzureichenden politischen Einschätzungsvermögens in diesem Sicherungsbereich, genannt. Des weiteren wurde das große Feld der »Sicherungsobjekte«,35 mit ihren vielfältigen Besonderheiten sowie die im Zuge des XX. Parteitages der KPdSU und des III. Parteitages der SED entstandenen politischen Irritationen benannt. Nicht zuletzt das relative Desinteresse an »Objekten mit geistiger Produktion« (Verlage, Redaktionen usw.) rührte auch daher, dass nach der ursprünglichen Einschätzung der Staatssicherheit in diesen Bereichen keine Gefahr der Spionage bestand, »da in der Produktion keine wertvollen Maschinen hergestellt oder Kohle gewonnen, sondern nur Druckerzeugnisse angefertigt werden«.36 Der Eigenanalyse zufolge hatten die zuständigen Mitarbeiter beispielsweise im Fall der »Harich-Gruppe« im Berliner Aufbau-Verlag, des »Donnerstagskreises« in Berlin, des kleinen Leipziger Zirkels um Gerhard Zwerenz und Erich Loest (»BlochKreis«) sowie des Berliner Schriftstellerverbandes die »konterrevolutionären« Tendenzen dieser Kreise viel zu spät erkannt.37 So habe der zuständige Mitarbeiter des MfS im Aufbau-Verlag zwar festgestellt, »dass Harich mitunter abfällige Diskussionen über angebliche Fehler des ZK führte, dass er aber nicht bemerkte, dass Harich fraktionelle Tätigkeit mit Untergrundcharakter organisierte«.38 Erst 1957, als die SED und mit ihr die Staatssicherheit auch in der DDR »ungarische Verhältnisse« befürchtete, intensivierte die Berliner Zentrale des MfS die Überwachung
34 BStU, MfS, AOP 4374/71, Bd. 2, Bl. 269–290: Die Tätigkeit des Gegners auf dem Gebiet der ideologischen Zersetzung, verbunden mit einer kritischen Einschätzung der Abwehrtätigkeit der Hauptabteilung V im MfS und den Bezirken [Anfang 1957]. 35 Dazu gehörten alle zentralen kulturellen Einrichtungen, das Pressewesen, der Rundfunkt, das Filmwesen sowie die Schriftsteller und Verlage. 36 BStU, MfS, AOP 4374/71, Bd. 2, Bl. 269–270, 274: Die Tätigkeit des Gegners. 37 Vgl. Braun: Petöfi-Kreise grenzüberschreitend? 38 BStU, MfS, AOP 4374/71, Bd. 2, Bl. 274.
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im gesamten Kulturbereich. Dazu trug eine von der SED beim MfS in Auftrag gegebene »Analyse der Feindtätigkeit innerhalb der wissenschaftlich-künstlerischen Intelligenz«39 bei. Dieses MfS-Papier »belegt in einer eindrucksvollen Breite die ›ideologische Diversion‹ kritischer Intellektueller«40 der DDR in den Jahren 1956/57. Mit der verstärkten Überwachung des Kulturbereiches geriet auch das Verlagswesen vermehrt in den Fokus geheimpolizeilicher Aktivitäten. Mit dem Aufbau-Verlag und dem Verlag Volk und Welt wurden erstmals Belletristik-Verlage im Rahmen einer Objektsicherung geheimpolizeilich bearbeitet. Außerdem legte das MfS im Mai 1957 einen sogenannten Objektvorgang41 »Deutscher Schriftstellerverband« und wenig später einen weiteren zum Institut für Literatur42 in Leipzig an. Diese Maßnahmen fielen mit einer generellen Kompetenzerweiterung des MfS zu einem allzuständigen Kontrollorgan zusammen. Mit diesem Anspruch verstärkte das MfS, ungeachtet eines nach dem Mauerbau (1961) kurzzeitig einsetzenden kulturpolitischen Tauwetters (1962–1964), die operative Durchdringung der künstlerisch-kulturellen Landschaft zwischen der Ostsee und dem Thüringer Wald.
Phase 2 (1963–1976) Nach Einschätzung der Staatssicherheit gab es seit den frühen 1960er Jahren unter den Schriftstellern und im Verlagswesen erste Anzeichen für das Entstehen eines »politischen Untergrund«.43 Damit wich endgültig das anfänglich nur sporadische Interesse des MfS einer zunehmenden politisch-operativen Aufmerksamkeit, die sich speziell auf die Abläufe im Literaturbetrieb richtete. Der Staatssicherheitsapparat begann mit dem Aufbau einer »unsichtbaren Front« im Innern und fungierte nun als sensibler Wächter der Kulturpolitik der SED. In deren Folge nahm in den 1960er Jahren das Ausmaß der personenbezogenen Überwachung an Stelle der bisher vorzugweise praktizierten summarischen Überwachung von Institutionen, wie etwa dem Schriftstellerverband oder auch ganzer Verlagseinrichtungen, kontinuierlich zu. Nach dem kulturellen »Kahlschlag«-Plenum44 (Dezember 1965) wurde auf dem VII. SED-Parteitag (Juni 1967) der Kunst und Kultur wieder eine gewichtige Rolle als »ideologischer Schrittmacher« bei der angestrebten Verwirklichung des »entwickelten Systems des Sozialismus« zugewiesen. Nur wenig später wurde der SED-Führung jedoch mit dem »Prager Frühling« erneut klar, welche Bedeutung Künstler und Journalis-
39 BStU, MfS, BdL/Dok. 5154: Analyse der Feindtätigkeit innerhalb der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz o. D. (Oktober 1957). 40 Kowalczuk: Frost nach dem kurzen Tauwetter. 41 Bei einem Objektvorgang handelte es sich um eine spezielle Vorgangsart zu Organisationen, Institutionen und Betrieben, die vom MfS als zu »sichernde« Einrichtungen der DDR eingestuft wurden. Diese Vorgangsart wurde seit Mitte der 1970er Jahre durch Sicherungsvorgänge ersetzt und ab 1981 in Form von Feindobjekt- bzw. Kontrollobjektakten wieder eingeführt. Siehe Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 248. 42 Von 1959 an Institut für Literatur »Johannes R. Becher«. 43 Siehe Stichwort »Politische Untergrundtätigkeit«. In: Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 340. 44 Vgl. Agde (Hrsg.): Kahlschlag.
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ten in einer Bewegung haben konnten, was für sie einem politischen Albtraum gleichkam. Eine nach dem Einmarsch von Warschauer Pakt-Truppen in die ČSSR erstellte MfS-Untersuchung zur Lage im Medien- und Kulturbetrieb der DDR ergab, dass auch in der DDR viele Schriftsteller und Künstler bis hin zu Leitungskadern in gesellschaftlichen Organisationen mit dem »Prager Frühling« sympathisierten und gegen die militärische Intervention im Nachbarland auftraten.45 Aus dieser verstörenden Entwicklung zog die SED-Kreisleitung im MfS im Dezember 1968 den Schluss, dass »der Klassenfeind bei der Organisierung der Konterrevolution […] immer von dem scheinbar unpolitischen Bereich der Kunst ausgeht«.46 Damit stand fest, dass das MfS zukünftig diesem sensiblen politisch-ideologischen Bereich besondere Aufmerksamkeit zu schenken hatte. Die neue Wachsamkeit zeichnete sich etwa in einen Bericht an die Partei- und Staatsführung über »Stimmungstendenzen unter Schriftstellern und Autoren« vom Mai 1969 ab. Wie in solchen Berichten üblich, wurde zunächst über eine »bereits erreichte Klärung bzw. den Beginn der Auseinandersetzung über ideologische Fragen« unter den Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern und Literaturkritikern informiert. Erst danach wurden die »sicherheitspolitischen Gefahren« benannt: Einige DDR-Schriftsteller unterliegen im starken Maße der politisch-ideologischen Diversion des Gegners und wurden teilweise selbst zu Trägern feindlicher Theorien und Auffassungen, die sie sehr geschickt in individuellen Gesprächen verbreiten. In der Regel unterhalten diese Kräfte umfangreiche Westverbindungen. […] Begünstigend für die Verbreitung negativer und feindlicher Auffassungen wirken solche Umstände wie mangelnde politische Wachsamkeit, Ausweichen vor politisch-ideologischen Auseinandersetzungen und Unterstützung des Klassenkampfes im kulturellen Bereich, unter Schriftstellern, unter Lektoren und Mitarbeitern von 47 Verlagen und einigen Mitgliedern und Angestellten des Deutschen Schriftstellerverbandes.
Vor diesem Hintergrund sind die 1969 eingeleiteten strukturellen und organisatorischen Veränderungen zur Kontrolle und Überwachung des »Sicherungsbereiches Kultur und Massenkommunikationsmittel«, einschließlich des gesamten literarischen Lebens in der DDR zu sehen. Der Befehl 20/6948 des Minister für Staatssicherheit vom Juni 1969 wies den Aufbau der »Linie XX/7« mit den Zuständigkeitsbereichen »Kultur und Massenkommunikationsmittel« in der Berliner Zentrale (Hauptabteilung XX/7)49 und den Abteilungen XX/7 in den fünfzehn Bezirksverwaltungen (BV) des MfS (Linienprinzip)50 an. Mit diesem Schritt wurden erstmals umfassende Arbeitsrichtlinien/Anweisun45 BStU, MfS, HA XX/AKG 804, Bl. 149–204: HA XX: Bericht über die politisch-operative Lage in den Bereichen der Kultur und Massenkommunikationsmittel in den Bezirken der DDR v. 24. 1. 1969. 46 BStU, MfS, SED-KL 197, Bl. 560: Benno Paroch: Die feindlichen Angriffe im Bereich von Kunst und Literatur [Diskussionsbeitrag auf der SED-Kreisleitungssitzung am 12. 12. 1968]. 47 BStU, MfS, ZAIG 1690, Bl. 1 u. 5–6: ZAIG-Information 481/69 v. 19. 5. 1969. 48 BStU, MfS, BdL/Dok 1347: Befehl 20/69 des Ministers für Staatssicherheit v. 18. 6. 1969. 49 Zur HA XX/7 siehe Braun/von Prittwitz: Die Hauptabteilung XX/7 von 1969–1989. 50 Danach wurden bestimmte Aufgabenbereiche auf zentraler und Bezirksebene von Struktureinheiten mit einer fachlichen Zuständigkeit auf einer bestimmen Linie wahrgenommen. Die nachgeordneten Diensteinheiten einer Bezirksverwaltung wurden von den zentralen Diensteinheiten fachlich angeleitet, waren aber weisungsmäßig dem Leiter einer Bezirksverwaltung unterstellt. Vgl. »Linienprinzip«. In: Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 224.
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gen für die politisch-operativen Abwehraufgaben im Kunst- und Kulturbereich festgelegt und konkrete Handlungsräume mit spezifischen Personenkreisen definiert. Im Zuge des Aufbaus der neuen Fachabteilung existierten in der Berliner Zentrale zum ersten Mal in der Geschichte der Überwachung des Kunst- und Kulturbetriebes durch die Staatssicherheit zwei kleine Referate, die sich ausschließlich mit der operativen Vorgangsarbeit gegen Schriftsteller und Künstler befassten. Zu der neuen Fachabteilung gehörte auch eine Auswertungsgruppe, die für die Analyse und Speicherung der Informationen und für die Erfassung und Kategorisierung der erarbeiteten operativen Materialien verantwortlich zeichnete. Ihre Analysen und Lageberichte bildeten die Grundlage für die weitere Arbeitsplanung in den operativen Referaten. Außerdem wurden ihre Analysen zur weiteren Aufbereitung an die übergeordnete Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der Hauptabteilung XX übergeben. Diese verdichte das erhaltene Material und übergab es anschließend an die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG), die daraus Informationsberichte an die Partei- und Staatsführung zusammenstellte. In den über 200 Kreisdienststellen des MfS, die nach dem »Territorialprinzip«51 aufgebaut waren, standen den jeweiligen regionalen Besonderheiten entsprechend, häufig nur einzelne Mitarbeiter zur zeitweiligen Erledigung politisch-operativer Aufgaben im Sicherungsbereich Kultur und Medien, darunter auch Schriftsteller und Verlage (z. B. der Greifenverlag in Rudolstadt) zur Verfügung. In der Hauptsache richtete die neu geschaffene Linie XX/7 ihr Augenmerk auf die zentralen Bereiche Fernsehen, Rundfunk, die Nachrichtenagentur ADN und die Printmedien sowie alle kulturellen Institutionen vom Ministerium für Kultur (einschließlich der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel) über die Künstlerverbände bis zu den Abteilungen für Kultur bei den Räten der Bezirke und der ihnen unterstellten kulturellen Einrichtungen in der Provinz. Zu den »Sicherungsobjekten« im Bereich Kultur gehörten dabei alle Einrichtungen der bildenden, darstellenden und unterhaltenden Kunst und der »kulturellen Massenarbeit«. Außerdem die künstlerischen Hoch- und Fachschulen, die Verlage, die Theater und Orchester, die Konzert- und Gastspieldirektionen (KGD), die Kultur- und Klubhäuser in den Gemeinden und Betrieben sowie die Bereiche der Unterhaltungskunst. Die gleichfalls im Juni 1969 erlassene Dienstanweisung (DA) 3/69 »Zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit in den Bereichen Kultur und Massenkommunikationsmitteln«52 erläuterte deren Arbeitsvorhaben. Danach sollten zukünftig »alle inoffiziellen und offiziellen Möglichkeiten zur operativen Bearbeitung feindlicher Kräfte eingesetzt […] und der offensiven Abwehr der feindlichen Angriffe entsprechende Sicherung der zentralen Objekte, Einrichtungen und Organisationen im Bereich der Kultur und Massenkommunikationsmittel gewährleistet werden«.53 Ausweislich der DA 3/69
51 Die Territoriale Gliederung des MfS folgte der Verwaltungsstruktur der DDR mit Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen, die für die staatliche Sicherheit und die »gesellschaftliche Entwicklung« im jeweiligen Territorium verantwortlich waren. Vgl. Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 331. 52 BStU, MfS, BdL/Dok. 2468: DA 3/69 des Ministers v. 18. 6. 1969 zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit in den Bereichen der Kultur und Massenkommunikationsmittel, S. 1–23. 53 BStU, MfS, BdL/Dok. 2468: DA 3/69 des Ministers v. 18. 6. 1969, S. 2.
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Abb. 1: Dienstanweisung 3/69 des Ministers für Staatssicherheit der DDR: Zur Organisierung der politisch-operativen Arbeit in den Bereichen der Kultur und Massenkommunikationsmittel vom 18. Juni 1969. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 955.
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gehörten zu den Schwerpunktbereichen der »politisch-operativen Abwehrarbeit« auch die Schriftsteller, der Schriftstellerverband, das Verlagswesen und die Einrichtungen des Volks- und privaten Buchhandels, die entsprechenden Ausbildungsstätten in diesem Bereich sowie etliche Druckereien. In den genannten Schwerpunktobjekten des literarischen Lebens sollten vorrangig durch den Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) die Motive und Ziele von Schriftstellern, Lektoren, Redakteuren, Gutachtern in den Verlagen (ganz besonders freiberuflicher Gutachter, Übersetzer und Angestellter staatlicher Organe, die Druckgenehmigungen erteilen) observiert (»operativ abgesichert«) werden. Beispielsweise konnte ein IM aus dem Verlagsbereich den Auftrag erhalten, »den guten persönlichen Kontakt zum Verdächtigen zu nutzen und darauf aufzubauen, um ein Vertrauensverhältnis zu ihm herzustellen, das ermöglicht, dessen Pläne und Absichten in Erfahrung zu bringen«.54 Ferner wurden in der DA 3/69 auch die Aufgaben zur Erweiterung bzw. Vervollständigung der inoffiziellen Arbeit 55 aufgelistet. Dabei ging es nicht nur darum, die bereits vorhandenen IM weiter zu qualifizieren, sondern vor allem »Maßnahmen zur Erweiterung der IM-Systeme, der politisch-ideologischen Erziehung, der operativen Qualifizierung und der stärkeren allseitigen Ausnutzung der IM-Systeme festzulegen«. Neue IM sollten »insbesondere zur operativen Bearbeitung von im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen, zur exakten strafrechtlichen Beweisführung geplanter feindlicher Handlungen, zur gründlichen Einschätzung der politisch-operativen Situation und zum Erkennen negativer Konzentrationen und begünstigender Faktoren der Feindtätigkeit und deren Beseitigung«56 eingesetzt werden. Vorrangig sollten für diese Informantentätigkeit Personen angeworben werden, die »negativen Gruppen angehören« bzw. »ihnen nahestehen« sowie möglichst »freiberuflich tätige Personen«, z. B. Journalisten, Schriftsteller und Dramaturgen, »die vielseitig und überörtlich einsetzbar sind«.57 Eine besondere Aufgabe kam den Inoffiziellen Mitarbeitern im besonderen Einsatz (IME) zu. Dabei wurde zwischen IM in Schlüsselpositionen und sogenannten Experten-IM unterschieden. In beiden Fällen sollten das im »Sicherungsbereich Literatur« IM sein, die »eine gefestigte politisch-ideologische Position« besaßen, über »ausgeprägte literarisch-fachliche Kenntnisse« verfügten und mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet waren.58 Im Unterschied zu Experten-IM, die vor allem Gutachten und Beurteilungen zu erarbeiten und Beweismaterial zu erbringen hatten, sollten IM in Schlüsselpositionen (etwa Verleger und Cheflektoren) unmittelbaren Einfluss auf das Verlagsprogramm und die Personalpolitik nehmen, westliche Vertragspartner »abschöpfen« sowie »gegen die Kulturpolitik gerichtete Tendenzen im Bereich des Verlagswesens, der Literaturwissenschaft und unter Schriftstellern« vorbeugend aufklären.59 In der Regel waren staatliche Leitungskader im Verlagswesen in ihrer täglichen
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HA XX/7: Aktenvermerk v. 28. 4. 1971.BStU, MfS, Teilablage A-631/85, Bl. 188. Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. BStU, MfS, BdL/Dok. 2468: DA 3/69 des Ministers v. 18. 6. 1969: DA 3/69, S. 8. BStU, MfS, BdL/Dok. 2468: DA 3/69 des Ministers v. 18. 6. 1969: DA 3/69, S. 9. BStU, MfS, DSt. 102658: Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern (GMS) v. 8. 12. 1979. 59 BStU, MfS, AIM 9203/91, T. I, Bd. I, Bl. 14: XX/7: Auskunftsbericht mit Einsatzrichtung für den IMB »Hans« (Hans Marquard) vom 31. 1. 1979.
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Arbeit im buchstäblichen Sinn Literaturagenten und Literaturproduzenten, die ihre Verbindungen offensiv und geschickt nutzten, um Bücher und Projekte, die den kulturpolitischen Leitlinien widersprachen, in den machtpolitischen Zentren des Landes durchzusetzen und damit zugleich ihre Macht und ihr Ansehen zu vergrößern. Gleichzeitig fungierten diese Genossen Leitungskader häufig aber auch als Zensurinstanz, als Erfüllungsgehilfen der Literaturpolitik. In wieweit sie über diese Doppelfunktion hinaus auch noch als Akteur an der »unsichtbaren Front« im Sinne ihrer Führungsoffiziere Einfluss auf das literarische Leben ausübten, lässt sich wegen der zumeist komplexen Gemengelage nicht eindeutig feststellen. Die Bezeichnung »IM« (Inoffizieller Mitarbeiter) gelangte erst Anfang 1990 in die Öffentlichkeit. Durch die Geheimhaltungsbarriere des MfS war dieser Begriff bis dahin nicht bekannt. Neben ihrer primären Funktion als Informanten konnten die IM zudem Ausführende sogenannter aktiver Maßnahmen (»Zersetzungs-, Differenzierungs- und Verunsicherungsmaßnahmen«) sein. Ihre Aufgaben konnten somit erheblich über das tradierte Tätigkeitsfeld des herkömmlichen Denunzianten bzw. Spitzels hinausgehen. Die Biographien der IM lassen sich nicht auf deren inoffizielle Tätigkeit reduzieren. Vielmehr waren sie im »Sicherungsbereich Literatur« in erster Linie Schriftsteller, Verleger, Lektoren, Gutachter oder auch Literaturwissenschaftler. Über ihre jeweils in Auftragskonzeptionen festgelegten konspirativen Aufgaben hinaus wurden die IM von ihren Führungsoffizieren umfassend »ausgeschöpft« und »abgeschöpft«. Die Zusammenarbeit mit den IM war in diversen internen dienstlichen Bestimmungen normativ für das gesamte MfS geregelt.60 Die Mehrzahl der IM arbeitete unentgeltlich für die politische Geheimpolizei. Materielle Zuwendungen zur »Stützung der Bereitschaftshaltung« des IM konnten direkter oder indirekter Art sein. Zu den direkten Vergütungen gehörten Geldbeträge (selten im dreistelligen Bereich) oder Sachgeschenke, wie Blumen, Konfekt, Alkoholika, Bücher, begehrte Telefonanschlüsse oder anderweitige, in der Mangelwirtschaft rare Artikel. Geriet ein IM, der SED-Mitglied war, mit seiner Partei in politische Schwierigkeiten, musste er diese allein mit seinen Genossen klären. Das MfS verhielt sich in diesen Fällen äußerst bedeckt. Auch bei Hilfeersuchen in hauptberuflichen Angelegenheiten verwies das MfS seine IM und Kontaktpersonen stets darauf, dass Probleme rein kulturpolitischer Natur […] im Einvernehmen mit den vorgeordneten zuständigen staatlichen Organen bzw. den entsprechenden Organen des Parteiapparates einer Lösung zugeführt werden [müssen]. Wir als Sicherheitsorgan besitzen in derartigen Angelegenheiten weder den Willen noch das Recht, in irgendeiner Weise maßgeblich in Erscheinung zu treten. Unsere Kompetenz beginnt bei jenen Fragen, die mit der Gewährleistung der Sicherheit des Objektes wie auch der Abwehr vor Anschlägen der sozialistischen Kunstpolitik [zu tun haben]. Wesentlich für unsere Aktivitäten ist stets die Feststellung, ob bei den beobachteten 61 Vorgängen strafrechtlich relevante Handlungen vorliegen oder nicht.
Über den gesamten Zeitraum ihres Bestehens konnte die politische Geheimpolizei der DDR etwa 500 Inoffizielle Mitarbeiter für den Sicherungsbereich Literatur anwerben. 60 Vgl. Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter. 61 BStU, MfS, BV Rostock AP 2078/83, Bd. II, Bl. 195: Bericht über die Unterredung mit dem Intendanten des Deutschen Theaters, Genossen Prof. Hans Anselm Perten v. 10. 9. 1971.
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Zur Optimierung der Überwachungstätigkeit im Kulturbereich war die zuständige HA XX/7 der Berliner Zentrale des MfS genauso wie auch andere Fachabteilungen (etwa der Volkswirtschaft) sowohl auf MfS-interne als auch externe Kooperationspartner angewiesen. Zu den internen Partnern gehörten die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), die HA VII (Ministerium des Innern) die HA XIX (Post-, Verkehrs- und Nachrichtenwesen) und die HA IX (Untersuchungsorgan), ferner die Postzollfahndung und die Abteilung M (Post- und Telefonwesen), die Arbeitsgruppe Sicherung des Reiseverkehrs und die HA Passkontrolle und Fahndung. Eine enge Zusammenarbeit bestand auch mit anderen Struktureinheiten der HA XX. Dabei spielte in den 1980er Jahre die HA XX/9 (»Politischer Untergrund«) eine herausragende Rolle, in der u. a. die Berliner alternative Kulturszene bearbeitet wurde.62 Von Bedeutung war auch die HA XX/1, die jene Verlage kontrollierte, die den Blockparteien, wie der Verlag der Nation (NDPD), der Buchverlag Der Morgen (LDPD) und der Union Verlag (CDU), zugeordnet waren. Entsprechend erfolgte die Überwachung der Evangelischen Verlagsanstalt und des St. Benno-Verlags durch die für Kirchen und Religionsgemeinschaften zuständige »Linie XX/4«. Auf externe Kooperationspartner war das MfS vor allem in dem von ihm als »politisch-operatives Zusammenwirken« (POZW) bezeichneten Verfahren angewiesen. Als POZW wird vor allem die Kooperation des MfS mit anderen staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen (u. a. Volkspolizei, Nationale Volksarmee, Grenztruppen, Räte der Bezirke und Kreise, Künstlerverbände sowie der Gewerkschaft) zum Zwecke der »Gewährleistung der staatlichen Sicherheit« bezeichnet. Dieses Verfahren erfolgte unter faktischer Federführung des MfS, das hierfür auch seine IM in Schlüsselpositionen (leitende Verlagsmitarbeiter) und seine Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) einsetzte.63 Durch die Nutzung der Möglichkeiten anderer staatlicher Organe bzw. Institutionen sollte die Optimierung von Überwachungs- und Verfolgungsmaßnahmen erreicht werden.64 Die SED gab nicht nur die kulturpolitische Leitlinie vor, sie verfügte auch über die zentrale Weisungs- und Entscheidungskompetenz für alle Belange auf dem Gebiet von Kunst und Kultur. Damit hingen die konkreten Wirkungsmöglichkeiten der Staatssicherheit, für die operative Entscheidungen zugleich auch immer politische Entscheidungen gewesen sind,65 auch im »Sicherungsbereich Literatur« sehr stark von der aktuellen politischen bzw. kulturpolitischen Linie der SED, den lokalen Gegebenheiten und der Prominenz des jeweils bearbeiteten Schriftstellers / Verlegers / Lektors etc. ab. Im Verhältnis zu dem ständig steigenden Überwachungspotenzial des MfS waren, aufs Ganze gesehen, seine geheimdienstlichen Einflussmöglichkeiten auf das literarische Leben in der DDR geringer, als noch am Anfang der 1990 Jahre angenommen wurde. Unabhängig davon förderte jedoch bereits die bloße Existenz der politischen Geheimpolizei als sol-
62 Vgl. Eisenfeld: Die Abteilung 9: »Politischer Untergrund«. 63 OibE waren hauptamtliche Mitarbeiter des MfS, die an wichtigen Stellen des Staatsapparates, verdeckt und mit einer legendierten Biographie ausgestattet, arbeiteten. Vgl. Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 251. 64 Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 393. 65 Pönig/Nohl: Die Neutralisierung, S. 14.
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cher – und die damit verbundene Tatsache geheimer Überwachung bis hin zu möglichen Repressionsmaßnahmen – die Angst und führte zu verstärkter Selbstzensur sowohl bei den Autorinnen und Autoren als auch bei den Verlagen, verhinderte Öffentlichkeit und behinderte künstlerische Potenz und gesellschaftliche Wirkungsmöglichkeiten von Literatur.66 Im Zuge des VIII. Parteitags der SED (1971) und dem damit verbundenen Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker war die neue Partei- und Staatsführung bestrebt, ihre Reputation nach innen und außen zu erhöhen. Sie ließ zunächst einmal die Zügel etwas lockerer. Dazu gehörte als Zeichen entspannungsfreundlicher Politik und als Beweis des guten Willens auch ein weniger enger Umgang mit den Schriftstellern und Künstlern des Landes. Die Partei warb um neues Vertrauen zwischen den Kulturschaffenden und der SED, um die wichtige Minderheit der Kulturarbeiter nach Jahren der Konfrontation zu befrieden. Um sich auf diese neue Situation einstellen zu können, sondierte das MfS erst einmal die Lage unter den Schriftstellern und Künstlern nach dem VIII. Parteitag der SED. Dazu galt es laut Stasi-Minister Mielke folgende Fragen zu beantworten: Wie und von welchen Personen werden die Festlegungen des Parteitages verfälscht, um der Kulturpolitik von Partei und Regierung den Klasseninhalt zu nehmen, gegen die führende Rolle von Partei und Regierung und Staatsmacht aufzutreten und feindliche Ideologien und Auffassungen zu verbreiten? […] Wo werden unter dem Deckmantel eines offenherzigen, sachlichen und schöpferischen Meinungsstreites Fehlerdiskussionen entwickelt, geduldet und gefördert, unberechtigte Forderungen gestellt? […] Wie ist das gegenwärtige Verhalten profilierter Kulturschaffender, die durch ihr Schaffen bzw. ihre gesellschaftliche Stellung massen67 wirksam sind?
Um den veränderten Herausforderungen gewachsen zu sein, gelte es im kulturellen Bereich die tschekistische Grundfrage »Wer ist wer?« umfassend anzuwenden. Das bedeutete nichts anderes, als die politisch-ideologischen Grundeinstellungen aller Kulturschaffenden möglichst gründlich zu erkunden. Besonders sei dabei auf »Doppelzüngler« zu achten. Die Bildung feindlicher Stützpunkte müsse verhindert, bereits existierende unter Kontrolle gehalten und nach Möglichkeit »systematisch ausgeschaltet« werden. Es sei notwendig, »immer im Bilde zu sein«. Erst am Schluss seiner langen Rede kam der Minister für Staatssicherheit auf die neuen Herausforderungen bei der operativen Bearbeitung der Kulturschaffenden zu sprechen. Bei feindlich-negativen Kulturschaffenden ist die Anwendung strafrechtlicher Maßnahmen nicht so ohne weiteres angebracht. Obwohl wir hier natürlich ebenso die Beweise für solche Maßnahmen erarbeiten müssen. Aber die Vorgangsbearbeitung, die operative Bearbeitung solcher Personen und Gruppierungen muss von vornherein stärker auf die Zielsetzung ausgerichtet sein, zersetzend zu wirken, sie unglaubhaft zu machen und zu isolieren, Misstrauen
66 Zu den Auswirkungen der Selbstzensur siehe u. a. Braun: Zensur in Kunst und Kultur der DDR, S. 209 f. 67 BStU, MfS, BdL/Dok. 004527: Erich Mielke: Analysierung der politisch-operativen Lage unter den Künstlern und Schriftstellern nach dem VIII. Parteitag der SED, 15. 11. 1971.
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3 Li t e ra t ur- un d A ut o re n po l i ti k zu erzeugen, um sie am feindlich-negativen Wirken zu hindern, um ihnen die Basis für ihr Wirksamwerden zu entziehen, um es ihnen nicht zu ermöglichen, ihre Rolle als politischideologische Stützpunkte des Gegners wahrzunehmen. Erfolge der Vorgangsbearbeitung in 68 dieser aufgezeigten Richtung sind politisch wirksamer als Festnahmen und Verurteilungen.
Hatten es die Staatspartei und ihr Machtapparat in den Anfangsjahren noch für nötig befunden, die Instrumente zu zeigen und auch bis zur Verhaftung anzuwenden, so verlegte sich der Sicherheitsapparat der Staatspartei in den letzten beiden Jahrzehnten der DDR zunehmend darauf, subtilere Formen der Repression anzuwenden. In diesem Kontext wurde die Einleitung verdeckter geheimpolizeilicher Maßnahmen (OPK/OV) gegenüber unbotmäßigen Schriftstellern die Regel und ein Ermittlungsverfahren mit Haft eher die Ausnahme.69 Die Durchführung eines OV erfolgte seit Mitte der 1970er Jahre auf der Grundlage der Richtlinie 1/76 »zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge«.70 Ausgangspunkt dieser geheimpolizeilichen »Vorgangsart« waren zumeist Hinweise auf – aus MfS-Sicht – strafrechtlich relevante Tatbestände, in der Regel Verstöße gegen die in der DDR geltenden politischen Normen, die es zu überprüfen galt. Zur Einleitung eines Operativen Vorgangs (OPK/OV) zu auffällig gewordenen Schriftstellern und Verlagsmitarbeitern zog die politische Geheimpolizei folgende Paragraphen des Strafgesetzbuches der DDR heran: § 99 (Landesverräterische Nachrichtenübermittlung, 2–12 Jahre Haft), § 100 (Landesverräterische Agententätigkeit, 1–10 Jahre Haft), § 106 (Staatsfeindliche Hetze, 1–10 Jahre Haft), § 107 (Verfassungsfeindlicher Zusammenschluss, staatsfeindliche Gruppenbildung, 2–8 Jahre Haft), § 219 (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme, 1–5 Jahre Haft). In einem Operativen Vorgang ermittelte das MfS nicht nur gegen die betreffende/n Person/Personen, es wurden auch Erkundigungen zum familiären Umfeld und zum Freundes- und Kollegenkreis eingeholt. Häufig ging diesem geheimdienstlichen Verfahren eine Operative Personenkontrolle (OPK) voraus. Ein OV enthielt Vorschläge zur Ahndung der nachgewiesenen Strafverletzungen (z. B. Ermittlungsverfahren, Anwerbung, Zersetzungsmaßnahmen) bzw. bei Nicht-Bestätigung des Ausgangsverdachts die operative Bearbeitung abzuschließen und damit den Vorgang zu beenden. Als 1975 eine Gruppe von vorwiegend bekannten Berliner Schriftstellern auf die Idee kam, eine Anthologie unter dem Titel »Berliner Geschichten« in eigener Regie (im Selbstverlag) und damit unter »Umgehung der staatlichen Ordnung und gesellschaftlichen Organisationen, ohne jegliche Zensur und ohne ›Parteiaufsicht‹«, zu veröffentlichen, schrillten bei der Parteiführung und der Leitung des MfS gleichermaßen die Alarmglocken. Sogleich wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um dieses Projekt zu stoppen. Der SED-Generalsekretär Honecker erteilte dem Minister für Staatssicherheit den Auftrag, die Herausgabe der Anthologie unter allen Umständen zu verhindern und die den Herausgebern unterstellte Absicht, »die Partei zu offener Konfrontation und
68 BStU, MfS, BdL/Dok. 005698: Referat des Genossen Minister auf der Dienstbesprechung am 13. 7. 1972. 69 Zu Inhaftierungen von Schriftstellern siehe Opitz/Hofmann (Hrsg.): Metzler Lexikon, S. 135– 139. 70 BStU, MfS, BdL/Dok. 3234: Einführung der Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) v. Januar 1976.
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Auseinandersetzung zu veranlassen, zunichte zu machen«. Das MfS erhielt vom Generalsekretär den Parteiauftrag, mit seinen spezifischen Mitteln unter strengster Geheimhaltung dazu seinen Beitrag zu leisten. Selbst die SED-Bezirksleitungen sollten in diese geheime Kommandosache nicht eingeweiht werden, »da der Genosse Minister die direkte Information an die Parteiführung (Genosse Honecker, ZK) vornimmt und von dort alle Festlegungen über das weitere Vorgehen getroffen werden«.71 Mehr politische Aufmerksamkeit für einen kleinen autonomen Versuchsballon einiger Schriftsteller war kaum möglich. Die bereits vorhandene Tendenz zur Sicherheitsprophylaxe erreichte in den 1970er Jahren eine weitere Stufe. Ziel dieser Aktion war es, die innenpolitischen Auswirkungen nach dem VIII. Parteitag unter den Schriftstellern / Künstlern und die Folgen des vereinbarten Informations- und Kulturaustausches mit dem westlichen Ausland wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit der Ratifizierung der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) ließ Minister Mielke die nach innen gerichtete Tätigkeit seines geheimpolizeilichen Apparates in jenen gesellschaftlichen Bereichen verstärken, die ihm für die »Politik der menschlichen Kontakte«72 besonders anfällig schien. Die Begriffe »gegnerische Kontaktpolitik« und »Kontakttätigkeit«73 bekamen eine zentrale Bedeutung in der Terminologie und in der operativen Tätigkeit des MfS. Betroffen waren davon auch die Schriftsteller, die nach Einschätzung des MfS einen »Hauptangriffsbereich des Klassengegners«74 darstellten. Mit dieser ideologischen Begründung strebte das MfS zukünftig eine sogenannte flächendeckende Überwachung des literarischen Lebens in der DDR an. In der konkreten kulturoperativen Arbeit bedeutete das, sich vornehmlich auf als besonders sicherheitsrelevante oder als gefährdet eingeschätzte Personen bzw. Institutionen (»Schwerpunktprinzip«)75 zu konzentrieren. Beispielsweise hatten im Zuge des Entspannungsprozesses das Verlags- und Lizenzgeschäft sowie die Zahl der Veröffentlichungen im Ausland 76 (einschließlich der Bundesrepublik)77 stark zugenommen. Auf diese Intensivierung der innerdeutschen Kontakte reagierte das MfS mit einem Ausbau
71 BStU, MfS, BV Lpz., AOP 1231/76, Bd. 1, Bl. 71: Niederschrift über die Beratung beim Leiter der HA XX zum politisch-operativen Schwerpunkt »Selbstverlag« am 21. 11. 1975. 72 BStU, MfS, BdL/Dok. 4927, S. 1–162: Erich Mielke: Information über Probleme der gegnerischen Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit und sich daraus ergebener Schlussfolgerungen für die politisch-operative Arbeit v. 28. 1. 1976. 73 Unter Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit wurde die von der Bundesrepublik und anderen westlichen Staaten im Zuge der Entspannungspolitik verfolgte vertragliche Erleichterung und Förderung von Ost-West-Kontakten bezeichnet, wozu auch die Tätigkeit westlicher Journalisten in der DDR gehörte. 74 BStU, MfS, BdL/Dok. 4927, S. 22: Erich Mielke: Information über Probleme der gegnerischen Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit und sich daraus ergebener Schlussfolgerungen für die politisch-operative Arbeit v. 28. 1. 1976. 75 Konzentrierter Einsatz geheimdienstlicher Kräfte und Mittel in Bereichen, die für die »gesellschaftliche Entwicklung« als besonders wichtig galten. 76 Siehe u. a. Barck/Lokatis: Fenster zur Welt. 77 Grundlegend zum deutsch-deutschen Literaturaustausch siehe Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland und speziell zum deutsch-deutschen Lizenzgeschäft Ulmer: VEB Luchterhand?
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der Überwachungsstrukturen im Verlagswesen. In diesem Sinne wurde u. a. auch die Überwachung des Mitteldeutschen Verlag Halle (MDV) durch die Abteilung XX der Bezirksverwaltung Halle verstärkt. Nach den Vorstellungen der Bezirksverwaltung Halle sollten kritische Entwicklungen rechtzeitig erkannt und entsprechend operativ bearbeitet werden. Dazu hatten die verantwortlichen »Kulturoffiziere« eine detaillierte Analyse des Mitteldeutschen Verlages »Zur Aufdeckung, Bekämpfung und vorbeugenden Verhinderung von Feindtätigkeit und zur Klärung der Frage ›Wer ist wer?‹ des MdV« erstellt. Von den 66 Beschäftigten, davon 21 Lektoren des Verlages waren zwei als IMV78 und vier als IMS79 eingesetzt. Entsprechend der zielgerichteten qualitativen Erweiterung der IM-Basis wird unter den Lektoren […] eine weitere Werbung vorbereitet und durchgeführt. Die IM-Basis im MdV kommt im Schwerpunktbereich wie folgt zum Einsatz: ein IM in Schlüsselposition, drei IM im Lektorenbereich, zwei IM in leitenden Funktionen im administrativen Bereich des MdV. Im Berichtszeitraum wurden verstärkt Spezialisten-IM eingesetzt, um klare politische Einschätzungen von Manuskripten vorzunehmen und um rechtzeitig negative, dem Sozialismus fremde 80 literarische Vorlagen zu erkennen und zu signalisieren.
Außerdem war es den »Kulturoffizieren« republikweit gelungen, auch in anderen führenden Belletristik-Verlagen, wie dem Aufbau-Verlag, dem Verlag Volk und Welt in Berlin, dem Hinstorff Verlag in Rostock und dem Reclam-Verlag in Leipzig, IM in Schlüsselpositionen zu platzieren.81 Aus Gründen der internationalen Reputation der DDR galt es jedoch, öffentliches Aufsehen möglichst zu vermeiden. Deshalb gewannen subtilere Formen der Einflussnahme und differenzierte Zersetzungsmaßnahmen82 in der operativen Arbeit an Bedeu-
78 Bei einem IMV handelt es sich um einen Inoffizieller Mitarbeiter »der unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen« mitarbeitet. Seit 1980 wurden solche IMs unter der Kategorie IMB geführt. Ein IMB galt als ein hochkarätiger IM. Vgl. Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 173–174. 79 IMS Abkürzung für einen einfachen IM, der mit der Sicherung gesellschaftlicher Bereiche und Objekte betraut war. Vgl. Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 174. 80 BStU, MfS ZMA XX 4130, Bl. 96–97: BV Halle, Abt. XX: Berichterstattung entsprechend des bestätigten Operativplanes der HA XX v. 20. 5. 1979 zum Mitteldeutschen Verlag HalleLeipzig. 81 Nähere Informationen zu den genannten Verlagen bei Walther: Sicherungsbereich Literatur. S. 763–793, zu Reclam bei Sonntag: An den Grenzen des Möglichen und zu Hinstorff bei Braun: Franz Fühmann. 82 Mit »Zersetzung« wurden subtile, anonyme und für die Betroffenen undurchschaubaren MfSAktivitäten umschrieben. Ziel der »Zersetzung« war es laut der Richtlinie 1/76 »Zur Bearbeitung Operativer Vorgänge«, gegnerische Kräfte zu zersplittern, zu lähmen, zu desorganisieren und sie untereinander und von ihrer Umwelt zu isolieren. Gemäß der Richtlinie 1/76 bestanden die gegen einzelne Personen gerichteten Zersetzungsmaßnahmen in der »systematischen Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer diskreditierender sowie unwahrer, glaubhaft, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben« oder die »systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens«. Siehe Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 390–391.
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tung. Diese Tendenz verschärfte sich nach der aufsehenerregenden Petition von zwölf Schriftstellern gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann (November 1976), der sich zahlreiche Schriftstellerkollegen und Künstler anschlossen.
Phase 3 (1976–1985) Erstmals sah sich die Parteiführung und mit ihr die politische Geheimpolizei vor die Aufgabe gestellt, eine Protestbewegung von Schriftstellern und Künstlern zu »zerschlagen«. Es hagelte Parteistrafen, Ausschlüsse und Publikationsverbote, aber auch die Bewilligung zu raschen Ausreisen in die Bundesrepublik gehörte in dieser Situation zu den bevorzugten Verfahren der Staatspartei. »Es komme darauf an, zu erkennen, dass sich gegenwärtig harter politisch-ideologischer Klassenkampf abspielt. […] Kompromisse seien nicht zulässig«,83 folgerte das MfS aus der Lageeinschätzung des SED-Generalsekretärs. Waren bis dahin Operative Vorgänge (OV) eine Art konspirativer Vorermittlungsverfahren gewesen, so mutierten jetzt etwa die OV gegen in der DDR verbliebene unbotmäßige Autorinnen und Autoren zu langjährigen Überwachungsvorgängen. In diesem Rahmen erfolgten eine intensive Ausforschung der betroffenen Personen und die versuchte Einflussnahme auf deren Arbeits- und Lebenswege. Auf der »Linie Schriftsteller« stieg die Zahl der OV republikweit von acht (1974)84 auf 31 (1976/77)85 an. Zur Durchsetzung der in den einzelnen OV geplanten »Zersetzungs-, Differenzierungsund Verunsicherungsmaßnahmen« von Autorinnen und Autoren hatte sich das MfS eine ganze Reihe operativer Szenarien ausgedacht. Sie reichten von der »vorbeugenden Überwachung« (»Sicherung«) über die »Isolierung« und »Zersetzung« sowie »Neutralisierung« bis hin zu einer möglichen, jedoch nur noch selten erfolgten Verhaftung der politisch-operativ bearbeiteten Person/Personen. Dabei sollten die MfS-Offiziere in Übereinstimmung mit der außen- und innenpolitischen Strategie und Taktik der Partei86 vorgehen, wobei mitunter sicherheitspolitische Interessen mit staatspolitischen Interessen kollidierten. Darüber hinaus waren die »Kulturoffiziere« bei der Durchsetzung ihrer Ziele auf die Kooperation (POZW) mit staatlichen Institutionen angewiesen. Auf das wachsende Widerspruchspotenzial im Literaturbetrieb und das zunehmende Interesse des Westens an der DDR-Literatur, reagiert das MfS 1978 sowohl mit zusätzlichen strukturellen als auch personellen Aufrüstungen. Wegen des großen Aufschwungs des DDR-Verlags-87 und Lizenzgeschäfts, verbunden mit einem regen Austausch über
83 BStU, MfS, BdL/Dok. 6353, Bl. 3: Information über das Gespräch des Generalsekretärs des ZK der SED mit Mitgliedern des Präsidiums des Schriftstellerverbandes am 3. März 1978 und einige sich daraus ergebende politisch-operative Schlussfolgerungen v. 10. 4. 1978. 84 Vgl. BStU, MfS, HA XX/AKG 143. 85 Vgl. BStU, MfS, HA XX/AKG 115, Bl. 1–237 und BStU, MfS, HA XX/AKG 116, Bl. 1– 222: HA XX/AKG: Schwerpunkte der monatlichen Berichterstattungen Zeitraum Februar bis September 1976 und Zeitraum Januar bis Oktober 1977. 86 Pönig/Nohl: Die Neutralisierung, S. 6. 87 Von 1972 bis 1976 produzierten die DDR-Verlage rund 8.400 deutschsprachige Belletristiktitel, die durch 4.400 Übersetzungen ergänzt wurden. Vgl. Hans-Joachim Hoffmann: Über einige Ergebnisse der Kulturpolitik von Partei und Regierung seit dem VIII. und IX. Parteitag der SED v. November 1977. Der Bericht des Ministers für Kultur ist der Signatur BStU, MfS, HA XX/AKG 5248 zugeordnet.
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die Blockgrenzen hinweg, sah sich das MfS dazu veranlasst, die »Linie Schriftsteller« zum Schwerpunktbereich in der HA XX/7 zu erklären. Damit begann zugleich die Hochphase der Überwachung in diesem Sicherungsbereich. Wie das MfS zu diesem Zeitpunkt die Situation in der Berliner Verlagslandschaft einschätzte und wie begrenzt trotz der Platzierung von IM’s in Schlüsselpositionen zugleich die Einflussmöglichkeiten des MfS auf den Verlagsbetrieb waren, geht aus einer nur für die Partei- und Staatsführung erarbeiteten 20-seitigen Information vom Juni 197988 hervor: In den letzten Jahren sind wiederholt problematische Manuskripte und darin enthaltene politisch falsche oder schädliche Aussagen trotz Vorlage in Verlagen und Bearbeitung durch Lektoren nicht oder nicht rechtzeitig erkannt oder sogar verschwiegen worden. Zum Teil wird von Lektoren unterlassen, rechtzeitig auf problematische Manuskripte hinzuweisen oder zu informieren, sobald diese Probleme erkannt werden. Daraus resultieren zum Teil folgenschwere Versäumnisse in der politisch-ideologischen Auseinandersetzung mit diesen Autoren sowie Diskontinuität bei der Verwirklichung der Verlagsprogramme. […] Bei einigen Verlagsleitungen ist die Tendenz vorhanden, wonach die Verantwortung für die politisch-ideologische Arbeit mit dem Autor nicht beim Verlag liegen würde, sondern bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur, die ja auch die Drucklizenz erteilt. […] In der Vergangenheit [hat es, M.B.] mehrfach leichtfertige Entscheidungen bei der Auswahl von Verlagsgutachtern gegeben, was im Ergebnis dazu führte, dass vorgelegte Gutachten nicht dazu beitrugen, die Klärung problematischer Manuskripte zu unterstützen, sondern diesen Prozess noch zu erschweren. […] Hinweisen zufolge wird der marxistisch-leninistischen Bildung, Qualifizierung und Befähigung der Lektoren nicht die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet. So haben von ca. 70 Parteimitgliedern unter insgesamt fast 200 Lektoren in den sechs belletristischen Verlagen der Hauptstadt […] nur einige Lektoren eine Bezirkspartei89 schule besucht.
Abschließend werden in der Exklusivinformation an den SED-Generalsekretär und ausgewählte Mitglieder des Politbüros »einige als Empfehlung aufzufassende Vorschläge« unterbreitet. Dabei wird zur Berufsgruppe der Lektoren angemerkt, dass sie offensichtlich dem Einfluss des Gegners unterliegen, sich mit feindlichen oder negativen Auffassungen identifizieren, der ideologischen Auseinandersetzung ausweichen, in Kontakt mit Personen des westlichen Auslands gezielte Indiskretionen begehen, verlagsinterne Informationen preisgeben, politisch inaktiv sind und die konsequente Durchsetzung der Kulturpolitik erschweren oder behindern. [Sie] sollten konsequent parteierzieherisch zur Verantwortung 90 gezogen und bei verhärteten Positionen aus den Verlagen entfernt werden.
Dieser Bericht ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Arbeitsbeleg des MfS für seine ständige Suche und das Aufspüren von Feinden, Gegnern, Abweichlern und
88 BStU, MfS, ZAIG 2942, Bl. 1–20: Information zu einigen Problemen der Arbeit belletristischer Verlage in der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie der Wirksamkeit der Lektoren in der Zusammenarbeit mit Schriftstellern v. 4. 6. 1979. 89 BStU, MfS, ZAIG 2942, Bl. 2: Information zu einigen Problemen der Arbeit belletristischer Verlage. 90 BStU, MfS, ZAIG 2942, Bl. 20: Information zu einigen Problemen der Arbeit belletristischer Verlage.
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Abb. 2: Anschreibungen von Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, an Konrad Naumann, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, 4. Juni 1979, zur »Information 326/79 zu einigen Problemen der Arbeit belletristischer Verlage [...]«. BStU, MfS, ZAIG, Nr. 2942.
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Wankelmütigen. Er ist nicht in kritischer Absicht, sondern wie viele andere ZAIGInformationen in der Überzeugung, den Sozialismus zu stärken, für die Parteiführung verfasst worden. Mit dem im Juni 1979 von der Volkskammer verabschiedeten 3. Strafrechtsänderungsgesetz und der damit verbundenen erheblichen Verschärfung des § 219 (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme) konnte die unerlaubte Weitergabe von »Schriften, Manuskripten oder anderer Materialien, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden«,91 mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Diese Gesetzesverschärfung hatte vor allem unter den Schriftstellern zu der Befürchtung geführt, dass in Zukunft ihre literarischen Texte vermehrt zum Gegenstand von Strafverfahren werden könnten. In der Tat räumte diese Gesetzesverschärfung dem MfS die Möglichkeit ein, »derartige Machenschaften auch als Straftaten verfolgen zu können« und »offensiv und zielgerichtet diese strafrechtlichen Bestimmungen dahingehend zu nutzen, solchen Elementen die möglichen Konsequenzen ihres gegen uns gerichtetes Handeln aufzuzeigen«,92 wie Stasi-Minister Milke befriedigt feststellte. Um andererseits den weiteren Exodus von namhaften Schriftstellern und Künstlern in den Westen zu begrenzen, immerhin hatten seit der Biermann-Ausbürgerung (1976) bis zum Ende der 1970er Jahre schon mehr als 300 prominente Schriftsteller und Künstler die DDR verlassen, propagierte die SED-Führung die Notwendigkeit, »die politischideologische Arbeit und besonders die Vermittlung unserer Weltanschauung mit ›Schwankenden‹ zu verstärken, um zu verhindern, dass Ideologie oder Kräfte des Gegners Einfluss bekommen, in einigen Fällen weiteren Einfluss gewinnen«.93 In diesem Kontext kam der politischen Geheimpolizei eine brisante politische Aufgabe zu. Sie sollte mit ihren Mitteln und Methoden der Partei dabei helfen »politischideologisch schwankende und zeitweise verwirrte Kräfte«,94 vornehmlich unter den Schriftstellern und Künstlern (»Multiplikatoren der Ideologie«) zu neutralisieren bzw. zurückzugewinnen. In diesen Fällen sollten »Personen von hoher politischer Bedeutung und Brisanz für die DDR« durch ein »ständiges Ringen um die Vorgangsperson« sowie ein »großes Maß von Beharrlichkeit und Ausdauer« zumindest wieder zu einem »gesellschaftsgemäßen Verhalten« bewegt werden. In diesem Prozess »dürfen Rückschläge unter keinen Umständen über- oder unterbewertet werden«.95 Bei diesen, für die Staatspartei politisch bedeutsamen Personen hielt es das MfS für angebracht, etwaige »Verletzungen von Strafrechtsnormen nicht sofort durch die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen«96 zu ahnden. Ob und wann das zu geschehen hatte, oblag allein der zentralen Entscheidungsfindung (der Parteiführung). Durch diese Maßgabe nahmen für den »bearbeiteten« Schriftsteller / Künstler in der Mehrzahl der Fälle die Bewegungs- und Ar-
91 Siehe § 219 Absatz 2 Ziffer 2 in der Fassung vom 3. Strafrechtsänderungsgesetz v. 28. 6. 1979. GBL vom 2. Juli 1979, T. I, Nr. 17, S. 144. 92 Vgl. BStU, MfS, 8–82/79, Bl. 75: Erich Mielke: Dienstkonferenz zum 3. Strafrechtsänderungsgesetz am 6. 7. 1979. 93 BStU, MfS, HA XX/AKG 5248, Bl. 170–202, hier Bl. 185: Ursula Ragwitz: Referat vor der Kulturkommission am 24. 1. 1980. 94 Pönig/Nohl: Die Neutralisierung, S. 1. 95 Pönig/Nohl, S. 24. 96 Pönig/Nohl, S. 14.
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beitsmöglichkeiten, vornehmlich im westlichen Ausland zu, was bei den parteitreuen Kollegen zu erheblichen Irritationen führte. Einerseits erhöhte sich in den 1980er Jahre, bedingt durch einen rasanten Anstieg von Sicherheitsüberprüfungen und anderen Personenermittlungen unterhalb der Schwelle registrierter Vorgänge, etwa bei Geheimnisträgern und Reisekadern (darunter viele Schriftsteller und Verlagsmitarbeiter) sowie das »Zurückdrängen« der Antragsteller auf ständige Ausreise, die Bedeutung des MfS als zentrales Sicherheitsorgan. Andererseits verringerte sich jedoch faktisch ihr repressiver Handlungsspielraum, weil die Partei harte Gangarten zunehmend ablehnte. Der so entstandene Gegensatz von fortgesetzter Militanz in der Selbstinszenierung und den Beschränkungen im Vorgehen aufgrund von »zentralen Weisungen« erzeugte zunehmend innerhalb des MfS eine »operative Frustration«.97 Darüber hinaus geriet durch Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestrojka in der Sowjetunion und dem damit verbundenen »Neuen Denken« in den internationalen Beziehungen das Weltbild der Tschekisten98 ins Rutschen. Vor diesem Hintergrund konstatierte das MfS in seinen zentralen Analysen zur Lage unter den Schriftstellern mit Genugtuung eine »Beruhigung« im »Kernbereich« der DDR-Literatur. Damit waren vornehmlich die im Lande verbliebenen kritisch-loyalen Autorinnen und Autoren gemeint. Für diese Gruppe wurde die »Veranlassung zu gesellschaftsgemäßen Verhalten« zu einer zentralen methodischen Variante der Staatssicherheit. In diesen Fällen ging es primär nicht mehr darum, kritisches Denken strafrechtlich zu verfolgen oder das Entstehen partiell kritischer Werke zu verhindern, sondern deren Veröffentlichung »nur« noch einzuschränken und die betreffende Person von dem Bereich zu isolieren, den das MfS mit »politischer Untergrund« (PUT)99 beschrieb. In solchen Fällen beschränkte sich die operative Arbeit zunehmend darauf, »vorbeugende Aufklärungsarbeit« zu leisten, ohne repressive Maßnahmen einzuleiten. Diese Vorgehensweise entsprach der veränderten Gesamtstrategie des MfS in den 1980er Jahren. Es ging nicht mehr nur um die Identifizierung aktuell abweichenden Verhaltens, sondern um die Aufklärung von Persönlichkeitsbildern, auf deren Grundlage Prognosen für künftiges Verhalten erarbeitet werden sollten. Vor allem die Personenüberwachung wurde erheblich ausgeweitet und die Werbung von IM, zum Beispiel unter den Nachwuchskünstlern, sollte forciert werden.100 Speziell bei der perspektivischen Werbung unter jungen Nachwuchsliteraten und künftigen Verlagslektoren blieb das MfS schon seit Jahren hinter seinen Zielvorstellungen zurück,101 weil unter dieser Personengruppe die Bereitschaft zur inoffiziellen Zusammenarbeit merklich nachließ. Im Zuge der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc in Polen (1980) konzentrierte sich das MfS bei seiner operativen Arbeit im gesamten Kulturbereich nunmehr auf die
97 Gieseke: Der Mielke-Konzern, S. 250. 98 Tschekisten waren hauptamtliche Mitarbeiter des MfS. Sie sahen sich in der Tradition der sowjetischen Geheimpolizei und als Parteisoldaten an der »unsichtbaren Front«. 99 Siehe »PUT«. In: Engelmann u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon, S. 340. 100 BStU, MfS, BdL/Dok. 6019, Bl. 120: Zentrale Planvorgabe für den Zeitraum 1986–1990 v. 21. 5. 1986. 101 BStU, MfS, HA XX 209, Bl. 162–163: Planorientierung des Leiters der HA für die Abteilungen XX der BV/V zur Jahresplan 1978 v. 28. 12. 1977.
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Bearbeitung von institutionell gebundenen Akteuren des Kunst- und Kulturbetriebes, die der politischen Untergrundtätigkeit (PUT) verdächtigt wurden.
Phase 4 (1985–1989) Mit der Dienstanweisung 2/85 »Zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung der PUT«102 versuchte das MfS, das allmählich anwachsende oppositionelle Potenzial in allen Bereichen der Gesellschaft gezielter »zu bearbeiten«. Dafür wurde auch Personal aus dem »Sicherungsbereich Literatur« abgezogen, sodass die für das Verlagswesen und die Schriftsteller zuständigen Diensteinheiten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit einem deutlich verringerten Personalbestand auskommen mussten. Diese Entwicklung hing vornehmlich mit der rückläufigen politisch-operativen Bedeutung des offiziellen kulturell-künstlerischen Bereiches gegenüber ökonomischen Bereichen und der Entstehung bürgerrechtlicher Aktivitäten und alternativer Gruppen (Friedensbewegung, Umweltgruppen usw.) jenseits des Literaturbetriebs zusammen. Die verbliebenen »Kulturoffiziere« beklagten zunehmend in ihren Berichten die wachsenden Probleme in der Zusammenarbeit mit ihren IM. Teilweise erwarten die IM, dass bei Treffs sie bewegende ideologische Fragen geklärt werden. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass zu Problemen informiert wird, die den Schriftstellerverband, die Veröffentlichungspraxis, soziale Probleme, die Literaturkritik, die Medienpolitik u. a. betreffen. Derartige Informationen werden mit der Erwartungshaltung verknüpft, das Ministerium für Staatssicherheit könne unverzüglich Veränderungen herbeiführen. Mit erheblichen Schwierigkeiten ist es jedoch verbunden, IM zu eigenem offensiven Wirksamwerden zu motivieren. Insbesondere bei langjährigen IM mit Erfahrungen aus der Arbeit des Schrift103 stellerverbandes zeigen sich immer häufiger Tendenzen der Resignation.
In dieser Situation erhielten die Führungsoffiziere von ihren Vorgesetzten den Auftrag, ihren IMs immer wieder deutlich zu machen, »dass das MfS nicht Einfluss auf den literarischen Schaffensprozess zu nehmen beabsichtigt, dass es dem MfS nicht obliegt, fehlende öffentliche Literaturkritik zu kompensieren, und dass es nicht darum gehen kann, dass das MfS kulturell-künstlerische Prozesse leitet«.104 Darüber hinaus sahen sich die »Kulturoffiziere« auch bei ihren gesellschaftlichen Partnern mit einer nachlassenden Wachsamkeit, beispielsweise in den Verlagen, konfrontiert. Deshalb sollte bei der weiteren operativen Arbeit ein besonderes Augenmerk auf die Gewährleistung der politischen Zuverlässigkeit der Lektoren im Verlagswesen gelegt werden.105 Angesichts der schwindenden offensiven Möglichkeiten übten die hauptamtlichen Mitarbeiter aber auch immer mehr interne Kritik. Dienstliche Bestimmungen entsprächen nicht mehr den »aktuellen politisch-operativen Erfordernissen«. Es gäbe »Re-
102 BStU, MfS, BdL/Dok. 5083: DA 2/85 zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit v. 28. 2. 1985. 103 BStU, MfS, ZMA 4130, Bl. 68: Zuarbeit der BV Frankfurt (Oder) zur Einschätzung der politisch-operativen Lage im Schriftstellerverband der HA XX/AKG v. 30. 6. 1986. 104 BStU, MfS, ZMA 4130, Bl. 69: Zuarbeit der BV Frankfurt (Oder). 105 BStU, MfS, BdL/Dok. 6019, Bl. 120: Zentrale Planvorgabe für den Zeitraum 1986–1990.
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serven im politisch-operativen Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Kräften zur offensiven Bekämpfung von Versuchen des Missbrauchs kulturell-künstlerischer Einrichtungen und Institutionen für Aktivitäten im Sinne politischer Untergrundtätigkeit«.106 Zum neuen operativen Schwerpunkt wurde jene nachgewachsene Schriftstellergeneration vom MfS erklärt, die sich ästhetisch alternativ definierte und organisatorisch nicht in den staatlich kontrollierten Literaturbetrieb, etwa in die extra für diese Gruppe gegründeten und vom MfS überwachten Literaturzentren, eingebunden war. Auch für diesen Personenkreis hatte das MfS 1981 u. a. die »Linie XX/9« gegründet.107 In ihr wurden in Abgrenzung zur »Linie XX/7« die »literarisch tätigen Personen« überwacht, die sich der staatlichen Kontrolle entzogen hatten, also weder Mitglieder des Schriftstellerverbandes waren, noch eine feste Bindung an einen DDR-Verlag besaßen. Damit war das MfS das einzige staatliche Organ, welches sich als politische Geheimpolizei mit seinen entsprechenden operativen Möglichkeiten einen Zugang zu dieser Szene verschaffen konnte. Durch »differenzierte Einflussnahme auf politisch-labile und schwankende sogenannte Nachwuchsliteraten« versuchte das MfS mit wenig Erfolg, die literarische Untergrund-Szene zu schwächen.108 Zum Aufgabenbereich der »Linie XX/9« zählte u. a. die Observierung der literarisch-alternativen Szene vom Prenzlauer Berg, die mit etlichen Informanten durchsetzt war.109 Spätestens auf dem X. Schriftstellerkongress im November 1987 kamen in Abweichung von den vorausgegangenen Kongressen sowohl die alten ungelösten als auch neue Konflikte mehr oder weniger deutlich zur Sprache. Beflügelt von Glasnost und Perestroika und dem Ärger über die entschiedene Abwehr der SED-Führung gegenüber diesen Reformbestrebungen, standen Forderungen nach der Abschaffung der staatlichen Zensur, einer Veränderung der Informations- und Medienpolitik entsprechend den Erfordernissen der Gegenwart, die Schaffung neuer staatsunabhängiger Strukturen im künstlerisch-kulturellen Bereich und die Wiederaufnahme ausgeschlossener Kollegen in den Verband sowie der Ruf nach einer offensiven Umweltschutzpolitik im Zentrum der Diskussionen. Keine dieser erhobenen Forderungen wurde bis zum Herbst 1989 vom SEDMachtapparat erfüllt. Für das Jahr 1989 beschränkten sich die offiziellen, von der Leitung des MfS empfohlenen Mittel und Methoden zur Durchsetzung der sozialistischen Kulturpolitik nur noch auf vage Formulierungen wie »wirksamere vorbeugende Verhinderung«, »weitere Fortführung des Differenzierungsprozesses« und »stärkere Unterstützung zentral festgelegter Maßnahmen mit sicherheitspolitischen Mitteln«.110 Trotz des enormen geheimpolizeilichen Aufwands mit all seinen operativen Maßnahmen und Aktionen, darunter republikweit rund 60 OV/OPK im »Sicherungsbereich
106 BStU, MfS, HA XX/AKG 478, Bl. 11: Bericht über geführte Konsultationen in den Abteilungen XX der Bezirksverwaltungen zur Vorbereitung einer Linienberatung der HA XX/7 v. 17. 9. 1987. 107 Eisenfeld: Die Abteilung 9: »Politischer Untergrund«. 108 BStU, MfS, ZMA 4130, Bl. 99: Einschätzung der HA XX v. 30. 6. 1986. 109 Böthig/Michael (Hrsg.): Machtspiele. 110 BStU, MfS, BdL/Dok. 6019, Bl. 119: Zentrale Planvorgabe.
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Literatur«,111 konnte das MfS weder die von Theaterschaffenden und Schriftstellern organisierte Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz noch die Friedliche Revolution im Herbst 1989 verhindern. Im Literaturbereich erstreckten sich die Methoden der staatlich ausgeübten Zensur und Überwachung von leichten Textänderungen bis zum absoluten Publikationsverbot (in anderen Kunstgattungen dem Auftritts-, Aufführungs- und Ausstellungsverbot), von der sozialen Ausgrenzung über Berufsverbote, Observation, Kriminalisierung und Inhaftierung missliebiger Schriftsteller (überwiegend durch das MfS) bis zur Ausbürgerung oder der erzwungenen Ausreise in den Westen. Mehr als 100 Autorinnen und Autoren sind in der Geschichte der DDR wegen ihrer Texte verhaftet worden. Parallel zu diesen Repressionsmaßnahmen gab es mildere Restriktionen, wie Untersagung öffentlicher Lesungen, wiederholte Verzögerung der Buchveröffentlichung bzw. Genehmigung der Publikation in nur äußerst geringer Auflagenhöhe, Verzicht auf Nachdrucke, Ausschluss aus dem Verband (quasi Berufsverbot) oder der SED sowie Nichtgenehmigung von Reisen ins westliche Ausland. Viele der hier genannten Maßnahmen wurden häufig parallel zueinander, aber auch einzeln und fallweise angewandt. Dabei war für den einzelnen Schriftsteller nicht voraussehbar, welche Maßnahmen in seinem konkreten Fall in Gang gesetzt werden könnten. Der Zensurvorgang als solcher war ganz bewusst unpräzise, sodass seine Folgen schwer zu kalkulieren waren. Es gab keinen unmittelbar durchschaubaren, fest umrissenen Ge- und Verbotskatalog für das Schreiben und Publizieren. Dementsprechend war es möglich, Einzelfallentscheidungen zu treffen und bei der Erteilung von Druckgenehmigungen immer wieder Ausnahmen zu machen. Hierbei spielten häufig aktuelle kulturpolitische Erwägungen der SED eine Rolle, deren Kurs im Literatur- und Kunstsektor durchaus schwankend, in den 1980er Jahren zunehmend »chaotisch und ohne strategisches Konzept«112 war.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU, MfS) Abt. 26 Nr. 955 BdL/Dok. 1347, 2468, 3234, 4527, 4927, 5154, 5698, 6019, 7385. DSt. 102658 HA IX 327 HA XX/AKG 115, 116, 143, 478, 804, 5248 HA XX 209 JHS 001–216/79 SdM 1091, 2619 SED-KL 197
111 BStU, MfS, ZMA 4130, Bl. 97: Einschätzung der HA XX v. 30. 6. 1986. 112 Vgl. Jäger: Kultur und Politik in der DDR.
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Teilablage A-631/85 ZMA 4130 ZAIG 1690, 2942 AIM 9203/91 AOP 4374/71 BV Lpz. AOP 1231/76 BV Rostock AP 2078/83. Bundesarchiv Berlin (BArch) DY 30, IV 2/3/57
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Konstantin Ulmer 3.3
Ost-West-Kontakte der Autoren
Die Gründung der beiden deutschen Staaten im Mai (Bundesrepublik) bzw. im Oktober 1949 (DDR) führte im deutschsprachigen literarischen Leben zu einer außergewöhnlichen und folgenreichen Konstellation: Während sich in Ost und West zwei institutionell getrennte Literatursysteme unter disparaten politischen Vorzeichen entwickelten, blieb das originäre Werkzeug der Autorinnen und Autoren, die Sprache, doch die gleiche. Diese Tatsache wiederum ermöglichte (und erleichterte) Kontakte zwischen den beteiligten Akteuren aus Ost und West, die sich auf der offiziellen, öffentlich wahrnehmbaren, auf der suböffentlichen, institutionell gebundenen und auf der privaten, persönlichen Ebene abspielen konnten. Sie trafen bei Kongressen und Tagungen zusammen, besuchten für Lesungen oder die Buchmesse das jeweils andere Deutschland, statteten sich Arbeits- und Privatbesuche ab. Für die Literaturgeschichtsschreibung sind diese OstWest-Kontakte von beträchtlicher Bedeutung: Um sie herum entwickelte sich ein deutsch-deutsches literarisches Leben, dessen Aufarbeitung nahelegt, die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur als Beziehungsgeschichte zu schreiben.1 Ein erstes öffentlichkeitswirksames Beispiel für das Interesse an einem systemübergreifenden Dialog hatte sich bereits vor der Gründung der beiden deutschen Staaten ereignet. Vom 4. bis zum 8. Oktober 1947 trafen sich auf Einladung des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands sowie des Schutzverbands deutscher Autoren 280 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus den verschiedenen Besatzungszonen im Berliner Hebbel-Theater und in den Kammerspielen zum Ersten Deutschen Schriftstellerkongress. Der Kongress verstand sich explizit als gesamtdeutsch und brachte aus dem Exil zurückgekehrte Autoren wie Willi Bredel, Hans Marchwitza und Anna Seghers,2 einstige Widerstandskämpfer wie Ernst Niekisch und den Initiator des Kongresses Günther Weisenborn, Vertreter der inneren Emigration wie Ricarda Huch und Marieluise Fleißer und ehemalige Wehrmachtssoldaten wie Peter Huchel und Ernst Rowohlt zusam-
1 An dieser Stelle sollen die direkten Kontakte zwischen den Akteuren in Ost und West im Vordergrund stehen. Eine deutsch-deutsche Geschichte der Nachkriegsliteratur müsste in noch stärkerem Maße die Publikationen im jeweils anderen Deutschland, deren Rezeptionsprozesse, die Briefwechsel zwischen Autoren, intertextuelle Bezüge, gemeinsame Publikationen u. v. m., was an dieser Stelle nur en passant behandelt werden kann, berücksichtigen. Für die Analyse der Verflechtung ist die These des Historikers Christoph Kleßmann zielführend, der die Struktur der Beziehung von Ost- und Westdeutschland als »asymmetrische Verflechtung in der Abgrenzung« bezeichnete. Zitiert nach: Bauerkämper/Sabrow/Stöver: Die doppelte deutsche Zeitgeschichte, S. 14. 2 Von den Autoren, die während der Zeit des Nationalsozialismus zur Emigration gezwungen waren, kehrten nur ca. 25 Prozent nach Deutschland zurück. Die deutliche Mehrheit der Rückkehrer entschied sich für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ)/DDR. Zudem siedelten einige Ex-Exilanten, die sich zunächst für den Westen entschieden hatten, bald in den Osten um, darunter Hans Marchwitza (1947), Stephan Hermlin (1947), Hans Mayer (1948) und Stefan Heym (1952). Vgl. Schildmann: Exilliteratur, 2009, S. 91–93. https://doi.org/10.1515/9783110471229-011
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men.3 Obwohl sich überwiegend linksorientierte Literaten in Berlin trafen, waren die Spannungen zwischen den politischen Lagern bereits spürbar: Als der US-amerikanische Publizist Melvin Lasky, der später als Herausgeber der 1948 in West-Berlin gegründeten, strikt antikommunistisch ausgerichteten Zeitschrift Der Monat eine wichtige Rolle im intellektuellen Westdeutschland der Nachkriegszeit einnehmen sollte, am dritten Tag des Schriftstellerkongresses die Zensur in der Sowjetunion kritisierte, gab es derart energische Proteste anderer Teilnehmer, dass Lasky seine Rede nur nach mehrmaliger Intervention des Gesprächsleiters Günther Birkenfeld beenden konnte. Dessen ungeachtet zeugen das Programm und die Gespräche von einem antifaschistischen Grundkonsens und einer zonenübergreifenden Dialogbereitschaft, die die angereisten Schriftsteller einte.4 Dieser Verständigungsimpuls zeichnete auch die Zeitschrift Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit aus, die von Juli 1947 bis zum Dezember 1949 von dem Schriftsteller, Publizisten und Literaturwissenschaftler Alfred Kantorowicz herausgegeben wurde, der 1946 aus dem amerikanischen Exil in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) zurückgekehrt war.5 Dass Ost und West bald nach der Gründung der beiden deutschen Staaten eingestellt wurde, ist bezeichnend, weil die Systemkonfrontation Ende 1949 – nun staatlich manifestiert und legitimiert – deutlich schärfer wurde. Viele Schriftsteller in der DDR und in der Bundesrepublik bemühten sich dennoch, das grenzüberschreitende Gespräch aufrechtzuerhalten. So richteten mit Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers und Arnold Zweig vier bekannte Autoren aus dem Osten Anfang 1951 einen Appell an ihre westdeutschen Kollegen, »auch ihrerseits zu überlegen, welche Möglichkeiten sich bieten, mit uns zusammen dem gemeinsamen Ziel aller Deutschen zu dienen, der Erhaltung des Friedens und der Wiedervereinigung von Ost und West«. Sie seien, so die ehemaligen Exilanten, »jederzeit an einem beliebigen Ort bereit, uns mit Ihnen zu einer Aussprache zu treffen«.6 Dieser Wunsch sollte bald Gehör finden: Am 26. und 27. März 1951 kamen auf Einladung des Münchner Verlegers Willi Weismann über 50 Autoren unter Ausschluss der Presse am Starnberger See zusammen, um ein deutsch-deutsches Kulturgespräch zu führen. Aus der DDR war mit Willi Bredel, Stephan Hermlin, Peter Huchel und Bodo Uhse eine kleine, aber prominente Riege nach Süddeutschland gereist, wo sie u. a. mit Wolfgang Bächler, Hans Henny Jahnn, Ernst Penzoldt, Hans Werner Richter und Johannes Tralow zusammentrafen. Als Initiator des Starnberger Treffens wurde neben Weismann auch Becher genannt. Die private Initiative
3 Vgl. zum Schriftstellerkongress Reinhold et al.: Erster Deutscher Schriftstellerkongreß, 1997, S. 13–76. Auf viele der teilnehmenden Autoren treffen freilich zwei oder mehr dieser Kategorien zu. 4 In der Resolution zum Schriftstellerkongress hieß es: »Eingedenk des Unheils, das das nazistische Regime über die Welt gebracht hat, ist es unser Wunsch, unseren Beitrag zu einer Aussöhnung zwischen Ost und West zu leisten. Dies aber wissen wir, daß wir in völlige Kulturlosigkeit versinken müßten, gäbe es nicht mehr das Bewußtsein des einen lebenden Deutschlands.« Ob die Resolution angenommen wurde, ist nicht überliefert. Reinhold et al.: Erster Deutscher Schriftstellerkongreß, 1997, S. 498. 5 Frohn: Versuche deutsch-deutscher Literaturzeitschriften 1945–1961, 2012, S. 425–433. 6 Zitiert nach Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland, 2014, S. 307.
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hatte, so Carsten Gansel, besondere Bedeutung, »weil auf die dort formulierten Positionen in den nachfolgenden Gesprächen immer wieder Bezug genommen wurde«.7 Das wiederum brachte die Kulturfunktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Staats- und Regierungspartei in der DDR, in eine schwierige Situation: Das Starnberger Treffen entsprach der offiziellen Parteilinie, nach der vor dem Hintergrund der angestrebten Wiedervereinigung auch der Ost-West-Austausch aufrecht erhalten werden sollte; als »Privatgespräch« war es aber durchaus problematisch, weil die Partei daran interessiert war, den Dialog politisch zu kontrollieren und institutionell zu binden. Die notwendigen Weichen dafür sollten vom Deutschen Schriftstellerverband (DSV) gestellt werden, der im Juni 1950 zunächst innerhalb des Kulturbunds gegründet worden war. Nach dem III. Schriftstellerkongress im Mai 1952 – bereits der II. im Juli 1950 war nach der staatlichen Trennung nicht mehr als »gesamtdeutsch« deklariert 8 – wurde im DSV eine Abteilung für »Gesamtdeutsche Arbeit« eingerichtet, die unter direkter Kontrolle des 1. Sekretärs des Verbandes stand und deren Besetzung in Abstimmung mit dem Zentralkomitee (ZK) der SED erfolgen musste. Obwohl der Organisationsaufwand bemerkenswert war, hielt sich der Ertrag in Grenzen.9 Impulse zum Dialog kamen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre aber auch aus dem literarischen Feld selbst. Hans Werner Richter, Spiritus Rector der einflussreichen (westdeutschen) »Gruppe 47«, bei deren Zusammenkünften sich Autoren, Literaturkritiker und Verlagsmitarbeiter begegneten, hatte im Herbst 1954 mit Peter Huchel erstmals einen Autor aus der DDR zu einem Gruppentreffen auf die fränkische Burg Rothenfels eingeladen.10 Im Mai 1955 war es außerdem am Rande eines Berliner Treffens der »Gruppe 47« zu einer abendlichen Begegnung einiger Teilnehmer aus der Bundesrepublik mit Stephan Hermlin und Bodo Uhse gekommen, die keineswegs konfliktfrei endete.11 Zu Gast bei dem besagten Treffen am Wannsee war auch der junge Lektor aus dem Berliner Verlag Volk und Welt Fritz J. Raddatz, der nach seiner Übersiedlung in die
7 Gansel: Deutschland einig Vaterland?, S. 269. Mit den »nachfolgenden Gesprächen« sind in diesem Kontext auch solche gemeint, die im offiziellen, teilweise auch öffentlichen Rahmen erfolgten. Vgl. zum Starnberger Treffen allgemein auch Gansel: Parlament des Geistes, S. 215–216 und Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland, S. 306–307. 8 Auf dem II. Schriftstellerkongress hatte der Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, das Literaturverständnis der politischen Nomenklatura definiert: Literatur war ein Organ, »das zur Bestätigung des Offizialdiskurses zu dienen hatte.« Einer der wenigen Kongressteilnehmer aus der Bundesrepublik, Werner Ilberg, wie Becher, Bredel, Marchwitza und Seghers in der Weimarer Republik Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, »bestätigte diese Funktionssetzung«. Gansel: Parlament des Geistes, S. 210. 9 Vgl. Gansel: Deutschland einig Vaterland?, S. 271–272. Vgl. zum Referat für Gesamtdeutsche Arbeit im DSV allgemein Gansel: Parlament des Geistes, S. 220–226. 10 Für die Hessischen Nachrichten war der Besuch des »ostzonalen Schriftstellers« zwar eine »Attraktion der Tagung«, von dem »Ost-West-Gespräch« zeigte sich der Redakteur Heinz Friedrich allerdings enttäuscht, weil »selbst ein Mann wie Peter Huchel in starrer östlicher Meinungsuniformität verharrt«. (Lettau: Die Gruppe 47, S. 105). Den Teilnehmern blieb offensichtlich vor allem der abendliche Streit von Huchel mit seinem westdeutschen Kollegen Günter Eich in Erinnerung. Vgl. Nijssen: Der heimliche König, S. 316–317, sowie Böttiger: Die Gruppe 47, S. 163. 11 Vgl. Lettau: Die Gruppe 47, S. 110, und Böttiger: Die Gruppe 47, 217–218.
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Bundesrepublik 1958 den Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg mitprägen sollte.12 Gerade am Beispiel Peter Huchel lässt sich indes zeigen, wie intensiv der Ost-WestKontakt in den Mittfünfzigern im Einzelfall sein konnte: Vor der Tagung der »Gruppe 47« im Oktober 1954 war Huchel, der als (politisch längst umstrittener) Herausgeber der Akademiezeitschrift Sinn und Form an einer Schaltstelle im literarischen Leben der DDR saß, im Juni bereits auf der Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in Bad Homburg gewesen, anschließend nach Frankfurt am Main, Mainz, Köln und Düsseldorf weitergereist, dann als Teil der DDR-Delegation (mit Zweig, Brecht, Hans Mayer, Jan Petersen und Erwin Strittmatter) auf der Tagung des PEN-Clubs in Amsterdam gewesen. Im August und September war er schließlich mit Mayer und dem westdeutschen Autor Eberhard Meckel bei Alfred Döblin zu Gast.13 Auf der anderen Seite der Grenze besuchte mit Thomas Mann ein populärer und literarisch hochgeschätzter Autor, der dem Westen zugerechnet wurde, im Mai 1955 demonstrativ die DDR, um zum 150. Todestag Friedrich Schillers eine Festansprache in Weimar zu halten.14 Umso bedeutender waren diese Kontakte vor dem realpolitischen Hintergrund. Das Interesse an einem deutsch-deutschen Schriftstelleraustausch war nämlich vor allem in der westdeutschen Politik zur gleichen Zeit äußerst gering. Mit der Hallstein-Doktrin (1955) manifestierte die Bundesrepublik ihren Alleinvertretungsanspruch, mit dem Beitritt zur NATO im selben Jahr ihre Westorientierung. Die kulturpolitische Reaktion aus der DDR folgte umgehend: Nach dem IV. Schriftstellerkongress im Januar 1956 rückte die gesamtdeutsche Orientierung im DSV in den Hintergrund, wodurch die Westarbeit im Schriftstellerverband, wegen der fehlenden Erfolge ohnehin schon institutionell reduziert, weiter an Bedeutung verlor. Ende 1956 korrigierte die SED dann ihre kulturpolitischen Maximen, die bis dahin zumindest ein Gesprächsangebot an die »humanistischen« westdeutschen Schriftsteller enthalten hatten.15 Programmatische Höhepunkte der fortan
12 Jäger: Die Gruppe 47 und die DDR, S. 26. 13 Nijssen: Der heimliche König, S. 305. 14 Thomas Mann war 1952 aus dem amerikanischen Exil in die Schweiz gezogen. Er hatte schon die Feierlichkeiten zu Goethes 200. Geburtstag im Jahre 1949 zum Anlass genommen, Weimar und Frankfurt am Main zu besuchen. Zudem hatte Mann 1952 die Ehrenpräsidentschaft der in Weimar ansässigen Deutschen Schillerstiftung angenommen. 15 Dieses »Gesprächsangebot« hatte sich u. a. in der recht liberalen Veröffentlichungspolitik der NDL konkretisiert, die als Organ des Schriftstellerverbands eine prägende, repräsentative Funktion in der literarischen Öffentlichkeit der DDR hatte und deren Analyse deswegen ein guter Gradmesser für literaturgeschichtliche Veränderungen und Debatten ist. Dass um 1956 die Literaturpolitik gegenüber der BRD umformuliert wurde, lässt z. B. ein Vergleich der Prosaveröffentlichungen westdeutscher Schriftsteller in den NDL-Jahrgängen 1955 und 1957 erahnen: Während 1955 Carl Amery, Heinrich Böll, Alfred Döblin, Leonhard Frank, Hans Hellmut Kirst, Wolfgang Koeppen, Gert Ledig, Walter von Molo, Karlludwig Opitz und Hans Werner Richter erscheinen durften, wurden 1957 lediglich Texte von Ledig und Johannes Weidenheim gedruckt. Die Kursänderung um 1956/57 war verschiedenen Faktoren geschuldet. Zu nennen sind der Ungarn-Aufstand und die Proteste der Posener Arbeiter sowie der XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956, aber auch die gescheiterte DDR-Kulturpolitik der frühen 1950er Jahre, die sich u. a. in erheblichen Devisendefiziten äußerte. Vgl. z. B. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 124–126.
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entwickelten autarkieorientierten SED-Kulturpolitik waren schließlich die Kulturkonferenz im Herbst 1957 und vor allem die Bitterfelder Konferenz im Mai 1959.16 Die institutionelle Förderung einer sozialistischen Nationalliteratur auf der einen Seite und die literaturpolitische Wirksamkeit der Hallstein-Doktrin auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze blieben in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nicht ohne Wirkung auf das literarische Leben. Gerade im offiziellen, öffentlichen Bereich gab es spürbar weniger Kontakte zwischen den Autoren aus den deutschen Staaten. Hermetisch war die politische Grenzziehung aber keinesfalls. Das zeigte sich ab 1960, als Hans Mayer, Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig, Veranstaltungen mit westdeutschen Autoren im Hörsaal 40 der Universität abhielt. Während die Lesung Heinrich Bölls im Mai 1961 krankheitsbedingt ausfallen musste,17 blieben drei andere Veranstaltungen nachhaltig in Erinnerung: Vom 29. März bis zum 1. April 1960 nahmen neben den renommierten ostdeutschen Lyrikern Peter Huchel und Stephan Hermlin auch Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger sowie Inge und Walter Jens an einem »berühmt gewordenen« Lyrik-Colloquium teil.18 Im Januar 1961 hielt dann Klaus Wagenbach, Lektor im Frankfurter S. Fischer Verlag, einen Vortrag in Leipzig – ausgerechnet über seine Forschungen zu dem in der DDR als dekadent eingestuften Franz Kafka.19 Zwei Monate später durfte Günter Grass, vom einladenden Großgermanisten Mayer ahnungsvoll als »sehr scharfer Polemiker«20 angekündigt, im Hörsaal 40 aus seinem Roman Die Blechtrommel lesen. Dass der westdeutsche Newcomer nicht nur literarisch zu provozieren verstand, zeigte sich unmittelbar nach der Begrüßung: Grass richtete Grüße vom »republikflüchtigen« Uwe Johnson aus, dessen Debüt Mutmaßungen über Jakob gerade im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienen war und in der Bundesrepublik für Aufsehen sorgte. Interessant sind die Episoden vor allem vor dem realpolitischen Hintergrund der deutsch-deutschen Kontakte: Die drei Veranstaltungen sind symptomatisch dafür, dass das grenzüberschreitende Gespräch um 1960 wieder vielstimmiger wurde und einige Akteure die Möglichkeit nutzten, den Herrschaftsdiskurs herauszufordern bzw. zu verschieben. Ein weiteres Beispiel dafür ereignete sich zwei Monate später – und wieder war Grass beteiligt. Er gehörte zu den 20 westdeutschen Autoren, die sich mit ostdeutschen
16 Vgl. Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik der DDR unter Ulbricht, S. 45. 17 Vgl. Lehmstedt: Der Fall Hans Mayer, 353–354. 18 Vgl. Lehmstedt: Der Fall Hans Mayer, S. 198. Bachmann, Enzensberger und Walter Jens hatte der Grenzgänger Mayer – ebenso wie Paul Celan – auf einer Literaturkritik-Tagung in Wuppertal im Oktober 1957 kennengelernt, auf der er auch Heinrich Böll und dessen Verleger Joseph Caspar Witsch wiedergetroffen hatte. Lehmstedt: Der Fall Hans Mayer, S. 146. Zum Missfallen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), das den umtriebigen Literaturwissenschaftler engmaschig überwachte, lud Mayer die westdeutschen Gäste im Anschluss an die Lesung zu einem Essen in seine Wohnung, an dem auch der politisch geächtete Philosoph Ernst Bloch, der Romanist Werner Krauss und der Lyriker Georg Maurer, zentrale Gestalt am Leipziger Literaturinstitut »Johannes R. Becher«, teilnahmen. (BStU, MfS, AIM 130/63, S. 214–215: Treffbericht mit GI Lorenz, 31. 3. 1960.) Lehmstedt: Der Fall Hans Mayer, S. 269. 19 Lehmstedt: Der Fall Hans Mayer, S. 337. 20 Mayer: Einführung zur Lesung von Günter Grass, S. 60.
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Schriftstellern und Kulturfunktionären am 25. Mai 1961 zum dreitägigen V. Schriftstellerkongress in Berlin einfanden. Der deutsch-deutsche Charakter des Treffens war vom Schriftstellerverband gewünscht und von politischer Seite abgesegnet: Die Abteilung Kultur des ZK der SED hatte die Einladungen an potentielle Bündnispartner verschickt, die nach ihrer Einschätzung in »Opposition zur Adenauerschen Kriegspolitik« standen.21 Allerdings reichte die gemeinsame Ablehnung der bundesrepublikanischen CDU-Alleinregierung nicht für einen Schulterschluss aus, im Gegenteil: Nachdem Grass auf dem Kongress vehement sein Rederecht eingefordert hatte, holte er zum Rundumschlag aus, an dessen Ende eine unverhohlene Kritik an der Zensur in der DDR stand. Bezeichnenderweise endete der Kongress in einer allgemeinen Verwirrung um den Begriff der Bündnispolitik und die Frage, ob es eine oder zwei deutsche Literaturen gebe.22 Kurz zuvor war es bereits auf westdeutschem Boden zu einem Treffen gekommen, das ähnlich konfliktreich verlief: Der Zeit-Verleger Gerd Bucerius hatte Arnold Zweig, Wieland Herzfelde, Peter Hacks, Heinz Kamnitzer, Stephan Hermlin und Hans Mayer aus der DDR und Carl August Weber, Rudolf Walter Leonhardt, Siegfried Lenz, Martin Walser, Ludolf Müller, Martin Beheim-Schwarzbach, Marcel Reich-Ranicki und Hans Magnus Enzensberger aus der Bundesrepublik zu einem Gesprächsforum nach Hamburg geladen. Eine vom PEN-Zentrum Ost und West geplante Veranstaltung, zu dem auch die Mitglieder des West-PEN eingeladen worden waren, war zuvor von der Hamburger Senatsverwaltung und der Polizei verboten worden, weil der von DDR-Autoren getragene Ost-West-PEN regierungsamtlich als »kommunistische Tarnorganisation« galt und vor allem die Bild-Zeitung gegen das deutsch-deutsche Treffen polemisiert hatte.23 Die Ersatzveranstaltung wurde vor allem in der DDR als Erfolg eingestuft. Und auch der Großkritiker Marcel Reich-Ranicki war von der hitzigen Diskussion angetan, wie aus einem Brief an Willi Bredel hervorgeht: »Ich glaube auch, daß das Ost-West-Streitgespräch doch sehr nützlich war – jedenfalls haben diejenigen, die Gespräche mit DDRSchriftstellern für überflüssig halten, ihre Ansicht geändert.«24 Mit dem Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 wurde die Gesprächsbereitschaft der Intellektuellen auf eine schwere Probe gestellt. Nachdem der Westberliner Grass – zunächst alleine, dann gemeinsam mit seinem Kollegen Wolfdietrich Schnurre –
21 BArch, DY 30, IV 2/9.06/263: Einschätzung der Vorbereitung, Durchführung und der Ergebnisse des V. Deutschen Schriftstellerkongress, o. D. 22 Obwohl Alexander Abusch unter Berufung auf Lenin das Credo der zwei deutschen Literaturen als Maxime ausgegeben hatte, erklärte mit Alfred Kurella ein hoher Literaturfunktionär explizit, dass es nur eine deutsche Literatur geben könne. V. Deutscher Schriftstellerkongreß vom 25. bis 27. Mai 1961, S. 268. Vgl. zum Kontext der Rede von Grass und zu den Reaktionen auf den Schriftstellerkongress Ulmer: VEB Luchterhand?, S. 397–398. 23 Vgl. Thiel: Das »Hamburger Streitgespräch« 1961 und seine Vorgeschichte, S. 19–22. Siehe auch Kapitel 3.4.4 Die DDR-Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN (Dorothée Bores) in diesem Band. 24 Thiel: Das »Hamburger Streitgespräch« 1961 und seine Vorgeschichte, 2014, S. 34. In der DDR hatte insbesondere das Auftreten »unsicherer Kantonisten«, zu denen Hans Mayer und Peter Hacks gezählt wurden, Kritik hervorgerufen. Ansonsten war es den Autoren aus dem Osten Deutschlands in Hamburg aber durchaus gelungen, das gewachsene Selbstbewusstsein der DDR-Literatur zu zeigen und Dialogbereitschaft zu demonstrieren.
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offene (und durchaus polemische) Briefe an Anna Seghers sowie an die Mitglieder des ostdeutschen Schriftstellerverbands geschickt und einige Autoren aus der DDR wie Paul Wiens und Bruno Apitz repliziert hatten, mischten sich reihenweise Publizisten und Künstler aus beiden deutschen Staaten ein, die oftmals im militanten Duktus des Kalten Krieges ihre Argumente vortrugen.25 Zu einem Abbruch des Gesprächs führte allerdings auch die Eskalation nach dem Mauerbau nicht.26 Denn obwohl die deutsch-deutschen Spannungen im literarischen Feld greifbar waren – beispielsweise bei der Publikationskontroverse um eine Ausgabe des Seghers-Romans Das siebte Kreuz im westdeutschen Luchterhand Verlag27 oder bei der kurzzeitigen Verhaftung von Apitz während einer Lesereise durch die Bundesrepublik28 – wurde der Austausch gerade im privaten und suböffentlichen Bereich mit überraschender Intensität fortgesetzt. Ein Beispiel dafür ist der Neue Friedrichshagener Dichterkreis, der – als ironische Nachahmung des naturalistischen Friedrichshagener Dichterkreises – von den Ostberliner Autoren Manfred Bieler und Johannes Bobrowski im März 1962 gegründet und bald um die Westberliner Malerpoeten Robert Wolfgang Schnell und Günter Bruno Fuchs erweitert wurde.29 Als »korrespondierendes Mitglied« wurde Klaus Wagenbach in den Kreis aufgenommen, später stieß auch Christa Reinig dazu. Auch wenn das Friedrichshagener Beispiel nicht für eine literarische Vereinigung im klassischen Sinne steht – zum »Zentralorgan« wurde die Leber erklärt –, ist es doch symptomatisch für die deutsch-deutschen Beziehungen nach dem 13. August 1961: Gerade unter den Autorinnen und Autoren, die retrospektiv als relativ autonom eingestuft werden können, blieb das Interesse am Dialog vorhanden. Mehr noch: Die Grenze spielte für diese Akteure zumindest künstlerisch eine untergeordnete Rolle. Bezeichnenderweise hatten Schnell und Fuchs gemeinsam mit dem Bildhauer Günter Anlauf 1959 in Kreuzberg die Hinterhof-Galerie »zinke« gegründet, die sich bis zu ihrer Schließung 1962 – auch durch die dort stattfindenden Lesungen von Autoren aus Ost und West – zu einem der wichtigsten Zentren avantgardistischer Kunst Gesamtberlins entwickelt hatte. Für das westdeutsche Interesse an künstlerisch ambitionierter Literatur aus der DDR stehen auch diverse andere Lesebühnen. Von literaturgeschichtlicher Bedeutung sind beispielsweise der Münchner Komma-Klub und der Westberliner Waitzkeller. Der Komma-Klub, in dem sich mit Manfred Vosz, Friedrich Hitzer und Erasmus Schöfer einige Akteure engagierten, die später im Umfeld der 1965 ins Leben gerufenen Zeitschrift kürbiskern und der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) aktiv waren, war bereits seit Ende der 1950er Jahre eine wichtige Adresse für einen undogma-
25 Vgl. Richter: Die Mauer oder Der 13. August. 26 Dementsprechend ist Helmut Peitsch zuzustimmen, der die in den 1990er Jahren gängige, aber auch heute noch oft wiederholte Forschungsmeinung kritisiert, nach der »die Prägung des Begriffs der sozialistischen Nationalliteratur zu einem ›Wegbrechen der auf Gesamtdeutschland ausgerichteten Orientierung‹ des DSV geführt habe und spätestens mit dem Mauerbau das ›Gespräch über Grenzen‹ ›abgebrochen‹« sei. Peitsch: Remigration, Übersiedlung und Westarbeit, S. 30–31. 27 Vgl. Ulmer: Ein Loch im literarischen Schutzwall, S. 165–174. 28 Vgl. Förster: Bruno Apitz, S. 167–170. 29 Vgl. Bobrowski und Bieler: Statuten des Friedrichshagener Dichterkreises, S. 328. Vgl. zum Neuen Friedrichshagener Dichterkreis aus Forschungssicht z. B. Degen: Einleitung, S. 7–8.
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tischen, grenzüberschreitenden Dialog. Die Lesungen von DDR-Autoren im Klub wurden vom DSV als Teil der Westarbeit angesehen, weshalb u. a. Werner Bräunig, Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Hermann Kant, Sarah Kirsch, Günter Kunert und Christa Wolf nach München reisen durften.30 Allerdings waren die Einflussmöglichkeiten des Verbands begrenzt: Als 1960 Manfred Bieler vom Komma-Klub eingeladen wurde, finanzierte der Kulturbund die Reise, obwohl sich der DSV dagegen ausgesprochen hatte. Erwin Strittmatter, wenig später ebenfalls in München zu Gast, sollte daraufhin der Stasi Bericht erstatten, mit wem Bieler dort Kontakt gehabt hatte.31 Bieler war auch in der Waitzstraße 28 in Berlin-Charlottenburg zu Gast, wo der Germanistikstudent Klaus Völker 1960 den Waitzkeller gegründet hatte. Neben Bieler lasen dort u. a. die in der DDR wohnhaften Erich Arendt, Johannes Bobrowski und Christa Reinig aus ihren Werken. In Erinnerung blieb auch das »westöstliche Literaturstreitgespräch« zwischen Walter Höllerer, der an der Technischen Universität Berlin lehrte und zu dessen Mitarbeiterstamm der Waitzkeller-Gründer Völker zählte, und Hans Mayer.32 Neben dem Komma-Klub und dem Waitzkeller gehörte der 1962 gegründete Club Voltaire in Frankfurt am Main zu den Veranstaltungszentren, in denen Autoren aus der DDR willkommen waren.33 Die Bedeutung dieser Orte als Treffpunkte und Diskursarenen, in denen der deutsch-deutsche Dialog über den Mauerbau hinweg aufrechterhalten wurde, darf nicht unterschätzt werden. Im Falle des Waitzkellers kam hinzu, dass der Gesprächsraum tatsächlich in einem gewissen Maße geschützt war: Die wenigen Pressevertreter, die eingeladen worden waren, verpflichteten sich, nicht über die Veranstaltungen zu berichten.34 Betont öffentlich waren hingegen die Reihen »Ostberliner Schriftsteller lesen« und »Sozialistische Schriftsteller lesen«, die von Studenten der Technischen Universität in West-Berlin in Zusammenarbeit mit dem ostdeutschen DSV in der Studentenstadt Siegmunds Hof veranstaltet wurden.35 Den Siegmundshofer Organisatoren gelang es sogar, eine Kooperation mit der West-Berliner Akademie der Künste einzugehen. Im Februar 1965 trafen sich bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit 700 Besuchern z. B. Autoren
30 Vgl. Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland, S. 406; Karsunke: DDR-Literatur, 2005, S. 190. Yaak Karsunke, ebenfalls aktiv im Komma-Klub, erinnert sich, dass Sarah Kirsch nicht mit ihrem Mann Rainer Kirsch kommen durfte – »ein Familienmitglied blieb sozusagen immer als Geisel zurück.« (Ebenda.) 31 Vgl. Krause: »Die Zusammenarbeit mit dem Gen. ST. wird eine gute Perspektive besitzen«, S. 300. 32 Völker: Gruppenbild mit Keller, S. 19. 33 Der Club Voltaire ist als deutsch-deutsche Bühne noch ein Forschungsdesiderat. 1964 war dort zum Beispiel die im Westen noch kaum bekannte Christa Wolf gleich zweimal zu Gast, wie aus der »Westchronik« ihres Mannes Gerhard Wolf hervorgeht. Vgl. Berbig: Stille Post, S. 360. 34 Vgl. zum Waitzkeller allgemein Völker: Gruppenbild mit Keller, S. 15–24, oder auch Völker: Wir sind ganz das Werk der Zeit, S. 10. 35 Im Siegmunds Hof lasen vor ca. 200 jungen Hörern z. B. Günter de Bruyn, Günther Deicke, Adolf Endler, Karl-Heinz Jakobs, Heinz Kahlau, Hermann Kant, Günther Rücker, Paul Wiens, Christa Wolf (vgl. [Red.]: Literarische Welt, 1964, S. 185). Vgl. zu den Lesungen allgemein Peitsch: Lesungen und Gespräche in Siegmunds Hof (1964/65), S. 181–222.
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aus der DDR, darunter Bobrowski, Volker Braun und Paul Wiens, mit den westdeutschen Autoren Friedrich Christian Delius, Günter Grass, Christoph Meckel u. a. zum »Lyrikerforum«, das Uwe Johnson moderierte.36 Das wachsende Interesse an DDR-Literatur in der Bundesrepublik war ab den beginnenden 1960er Jahren von einzelnen westdeutschen Lektoren antizipiert und gefördert worden, die sich um Lizenzen für Texte aus dem anderen deutschen Staat bemühten – und zwar vor Ort, im direkten Kontakt mit den Verlagen und Autoren aus dem anderen deutschen Staat. Zu nennen sind in diesem Kontext beispielsweise Klaus Wagenbach, der sich zunächst für S. Fischer und ab 1964 für seinen neu gegründeten Wagenbach Verlag um Texte aus der DDR bemühte, Franz Schonauer und dann Elisabeth Borchers vom Luchterhand Verlag, Christoph Schlotterer und Reinhard Lettau von Carl Hanser und F. C. Delius, der sich für die Zeitschrift alternative, dann für den Wagenbach Verlag und später für Rotbuch um Schriftsteller aus dem Osten Deutschlands bemühte. Wagenbach und Schonauer waren im Februar 1962 auch bei einer deutsch-deutschen Lesung im Schriftstellerheim des DSV am Schwielowsee zu Gast, wo sich in den Jahren zuvor bereits westdeutsche Autoren, u. a. Christian Geissler und Christoph Meckel, erholten und mit ihren Kollegen aus dem Osten austauschten.37 Parallel öffnete sich auch die westdeutsche »Gruppe 47« wieder für Gäste aus dem anderen deutschen Staat. 1962 erhielt Bobrowski ihren renommierten Preis. Im November 1965 veranstalteten die Gruppe in West-Berlin sogar ein Treffen, das sich explizit der Literatur aus der DDR widmete. Von dort waren Friedemann Berger, Stephan Hermlin, Bernd Jentzsch, Günter Kunert, Karl Mickel und Rolf Schneider angereist. Franz Fühmann hatte absagen müssen. Den politisch umstrittenen Wolf Biermann, Manfred Bieler und Peter Huchel war indes die Ausreise nicht genehmigt worden. Dessen ungeachtet erklärte Reich-Ranicki nach dem Treffen in der Zeit, dass es keine zwei deutschen Literaturen gebe.38 Dass auch in der DDR ein deutsch-deutscher Kontakt möglich war, der zwar im institutionellen Rahmen stattfand, aber nur bedingt von der SED beeinflusst bzw. kontrolliert werden konnte, zeigt das Beispiel der Evangelischen Akademie in Berlin-Weißensee. Nachdem es in den Spätfünfzigern noch viele Absagen aus der Bundesrepublik gegeben hatte, entwickelte sich die Akademie in den beginnenden 1960er Jahren zu einer wichtigen Adresse für Lesungen westdeutscher Autoren. 1962 wurde beispielsweise – nach dem V. Schriftstellerkongress und den Mauerbriefen wohlgemerkt – Grass angefragt, der auch zusagte, aber kurzfristig absagen musste, wahrscheinlich wegen einer fehlenden Einreisegenehmigung. Stattdessen kamen aus dem Westen die HöllererAssistenten Völker, Wolfgang Maier und Hermann Peter Piwitt, außerdem Johannes Weidenheim, Franz Tumler und Christian Geissler. Bis Ende der 1960er Jahre lasen mit
36 [Red.]: Literarische Welt, 1965, S. 190. Obwohl die Literaturfunktionäre in der DDR von den Siegmunds Hof-Lesungen durchaus angetan waren, gab es vereinzelte Kritik, zum Beispiel nach dem Auftritt Manfred Bielers. Vgl. Unwürdig. In: Neues Deutschland, 29. 11. 1964. Auch in der Bundesrepublik waren die Lesungen freilich nicht unumstritten. Matthias Walden, Journalist für den Springer Verlag, nannte die Studenten »willfährige Anerkennungsgehilfen aus dem Westen«, die »einmal mehr das Unrecht des SED-Regimes« »legitimierten«. Vgl. Peitsch: Lesungen und Gespräche in Siegmunds Hof (1964/65), S. 188. 37 Vgl. Bircken et al.: Petzow – Villa der Worte, S. 220–227. 38 Reich-Ranicki: Nichts als deutsche Literatur.
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Günter Eich (1965), Hans Magnus Enzensberger (1967), Martin Walser (1968) und Heinrich Böll (1969) renommierte westdeutsche Autoren vor dem ostdeutschen Publikum. Erst die politische – auch kirchenpolitische – »Disziplinierung« der Evangelischen Akademie führte um 1970 zu einer radikalen Abkehr von der deutsch-deutschen Ausrichtung.39 Zum deutsch-deutschen Gespräch luden in den beginnenden 1960er Jahren auch der DDR-Kulturbund und der Schriftstellerverband: In einer Tagungsreihe namens Weimarer Akademie trafen sich erstmalig im Januar 1962 ostdeutsche Literaturakteure zum »nationalen Gespräch mit bekannten westdeutschen Persönlichkeiten des Kultur und Geisteslebens [sic]«.40 Das Format wurde nach der siebenten Auflage im November 1964 eingestellt, nachdem Teile der hochkarätigen Delegationen – aus dem Westen waren u. a. Reinhard Baumgart, Hans Magnus Enzensberger, Max von der Grün, Günter Grass und Dieter Wellershoff, aus der DDR Johannes Bobrowski, Klaus Gysi, Hermann Kant und Paul Wiens anwesend – demonstrativ aneinandergeraten waren.41 Wie das Internationale Kolloquium des Schriftstellerverbands in Berlin vom 1. bis 5. September 1964 oder das Internationale Schriftstellertreffen in Berlin und Weimar im Mai 1965 ist die Weimarer Akademie ein Beispiel für das äußerst intensive deutsch-deutsche literarische Leben in den Jahren nach dem Mauerbau – und auch für das dialektische Verhältnis von reformerischen Tendenzen und politischem Abgrenzungsgebaren, das sich bis in die Wendezeit durch die Kulturpolitik der DDR zog. Im Dezember 1965 schlug das Pendel dann eindeutig in die antiliberale Richtung aus: Auf dem 11. Plenum des ZK der SED, als »Kahlschlag-Plenum« in die Literaturgeschichte eingegangen, rechnete die politische Nomenklatura mit den »unparteilichen« Kreativen ab, verbot Bücher und Filme und kritisierte auch die Westorientierung der Autoren.42 Die Nonkonformisten aus dem Umfeld der »Gruppe 47« wurden von den SED-Literaturfunktionären mittlerweile als unzuverlässige Bündnispartner eingestuft. In den literaturpolitischen Fokus der Bündnispolitik rückten deswegen andere: Das Interesse galt nun der westdeutschen Arbeiterliteratur, in deren Entwicklung – beispielsweise im Rahmen der Dortmunder »Gruppe 61« – in der DDR große Hoffnungen gesetzt wurden. Bezeichnenderweise machte mit Max von der Grün, einem ehemaligen Bergmann, der bekannteste Vertreter der Dortmunder Gruppe im Jahre 1964 eine große, medial begleitete Lesereise durch die DDR. Sein Roman Irrlicht und Feuer wurde 1966 von der DEFA verfilmt.43 Allerdings hatte das »Kahlschlag«-Plenum zumindest auf der offiziellen, öffentlichen Ebene tatsächlich zu einer substantiellen Abnahme der deutsch-deutschen Schriftstellerkontakte geführt. Dass der Kontakt zwischen einzelnen Akteuren aber dennoch rege blieb, hing in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre u. a. mit den wachsenden Bemü-
39 Vgl. Hansen: Begegnungen unter dem Dach der Kirche, 2005, S. 112. Vgl. allgemein vor allem Degen: Das trojanische Pferd als Pegasus. 147–180. 40 Zitiert nach Barck et al.: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 377. 41 Die Treffen der Weimarer Akademie sind aktuell noch ein Forschungsdesiderat. Vgl. zur 7. Akademie Bayer: Wo die einen »ich« sagen, sagen die anderen »wir« und Stern: Weimar ist eine bessere Debatte wert. 42 Vgl. z. B. Honecker: Bericht des Politbüros an das 11. Plenum des ZK der SED, S. 1076– 1081. 43 Dazu Ulmer: Entfremdung anschaulich, Ausweg nicht sichtbar, S. 192–204.
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hungen westdeutscher Verlage zusammen, die Literatur aus dem Osten Deutschlands in der Bundesrepublik zu veröffentlichen und zu verkaufen. Nachdem das Interesse um 1965 vor allem der anspruchsvollen Lyrik gegolten hatte – Luchterhand publizierte ab 1966 in Luchterhands Loseblatt Lyrik viele Dichter aus dem Umfeld der sogenannten Sächsischen Dichterschule, Suhrkamp veröffentlichte Bücher von Volker Braun, Carl Hanser von Kunert, S. Fischer von Huchel – verschob sich der Fokus Ende der 1960er in Richtung einer formal ambitionierten jungen Prosa aus der DDR. Um 1970 wurde durch Lizenzausgaben von Büchern wie Nachdenken über Christa T. von Christa Wolf (1968/69) und Jakob der Lügner von Jurek Becker (1969/70) schließlich gar ein kleiner Boom ostdeutscher Literatur im Westen ausgelöst. Um die Lizenzveröffentlichungen entspannte sich ein reges deutsch-deutsches literarisches Leben: Lektoren und Verleger reisten zu Arbeitsbesuchen aus dem Westen in die DDR, die DDR-Autoren traten den umgekehrten Weg zu Lesereisen an. In der SED wurde diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen betrachtet: Zwar waren die Verkaufszahlen und die Lesereisen ein Beispiel für das wachsende Interesse an Literatur aus der DDR in der Bundesrepublik, doch ließen sie sich auch als Ausdruck des von der SPD-geführten Regierung Willy Brandts ausgerufenen »Wandels durch Annäherung« interpretieren, den die Einheitspartei als Mittel der sogenannten politisch-ideologischen Diversion fürchtete. Als verdächtig galten in diesem Kontext auch die westdeutschen Verlage mit linkem Profil und Interesse für die DDR.44 Trotz der Bedenken gegenüber dem deutsch-deutschen Gespräch, die von ostdeutschen Dogmatikern und westdeutschen Konservativen geteilt wurden, führte der politische Dialog zwischen den beiden Staaten schließlich zum Grundlagenvertrag, der im Juni 1973 in Kraft trat. Im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung in der Bundesrepublik hatte sich in der DDR zudem ein weiteres Mal der Fokus in der literarischen Bündnispolitik verschoben: Als potentielle Partner in Westdeutschland galten mittlerweile diejenigen Autoren, die im Umfeld der 1968 gegründeten DKP agierten. Neben Lizenzausgaben der parteilichen (oder parteinahen) Kommunisten erschienen beispielsweise in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in den Weimarer Beiträgen, der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift des Berliner Aufbau-Verlags, Interviews mit Hans Magnus Enzensberger, Peter Schütt, Dieter Süverkrüp, Franz Xaver Kroetz, Uwe Timm, Günter Herburger, Rolf Hochhuth und dem Mitherausgeber des kürbiskerns Oskar Neumann sowie ein Gespräch, das der westdeutsche Schriftsteller Klaus Konjetzky mit Martin Walser führte. Mit dem Grundlagenvertrag waren die literarischen Beziehungen, um die im deutsch-deutschen literarischen Feld seit Jahren gerungen wurde, in gewisser Weise staatlich-politisch legitimiert. Auch auf der privaten, persönlichen Ebene öffneten sich nun neue Handlungsspielräume: Auf Initiative des ostdeutschen Autors Bernd Jentzsch und des westdeutschen Günter Grass bildete sich 1974 eine lose Gruppe, die sich in den Wohnungen verschiedener Autoren traf, Texte las und diskutierte. Diese suböffentliche deutsch-deutsche Entsprechung der »Gruppe 47« – vom Literaturwissenschaftler Roland Berbig als »Gruppe 74« betitelt – war für die teilnehmenden Autoren der gelebte Be-
44 Zur Furcht vor einer politisch-ideologischen Diversion durch westdeutsche Verlage am Beispiel des Suhrkamp Verlags siehe Petzinna: Die Beobachtung des westdeutschen Verlagswesens, S. 452–462.
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weis, dass ein Gegendiskurs im Privaten möglich war. Weil die ostdeutschen Teilnehmer an den Treffen vor allem solche waren, die als regierungskritisch galten – zu nennen wären z. B. Thomas Brasch, Sarah Kirsch oder Günter Kunert –, waren die deutschdeutschen Begegnungen nicht im Sinn der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit, das sich vergeblich bemühte, detaillierte Informationen über die Treffen zu erhalten. Allerdings waren schon die Verdächtigungen schwerwiegend. So hatte Grass angeblich den ostdeutschen Teilnehmern an den Treffen Hilfe angeboten, falls sie nach Westdeutschland übersiedeln wollten. Als er sein symbolisches Kapital 1977 dann tatsächlich für den Autor Hans Joachim Schädlich einsetzte, der als ehemaliger Stammgast der »Gruppe 74« in die BRD übergesiedelt war, empfahl Rudi Mittig, seines Zeichens stellvertretender Minister für Staatssicherheit, eine Einreisesperre gegen Grass.45 Die folgte schließlich 1980, nachdem sich Grass für einen weiteren Dissidenten eingesetzt hatte, nämlich für Frank-Wolf Matthies.46 Die Treffen der Gruppe um Jentzsch und Grass sind nur ein Beispiel für den Kontakt in den 1970er Jahren, der gerade im öffentlichen Bereich noch voller ideologischer Implikationen war, aber immer selbstverständlicher zu werden schien. Aufschlussreich für die Expansion der Ost-West-Kontakte in dieser Zeit ist beispielsweise die Chronik, die Christa und Gerhard Wolf über ihre Kontakte im deutschsprachigen Westen bzw. mit Westlern erstellt haben. Neben Lesungen, Messebesuchen und Privatbesuchen spielt dabei vor allem Christa Wolfs westdeutscher Verlag Luchterhand eine entscheidende Rolle: Oft traf sie sich mehrmals jährlich mit dessen Vertretern, vor allem mit der Lektorin Ingrid Krüger, die für ihre ausgezeichneten Kontakte in die DDR bekannt war.47 Die Rolle der Verlagsakteure als Schnitt- und Schaltstellen war zweifelsohne von großer Bedeutung für das deutsch-deutsche literarische Leben. Das betraf freilich auch die ostdeutschen Lektoren und Verleger, die sich oft mit taktischer Finesse Publikationsfreiräume erkämpften und den Kontakt mit ihren westdeutschen Kollegen und den Autoren aus der Bundesrepublik trotz etlicher Disziplinierungsversuche seitens der Partei suchten. Dass die »Gruppe 74« sich bereits 1978 zum letzten Mal getroffen hatte, hing mit einem Ereignis zusammen, das in seiner Dimension weit über die deutsch-deutsche Literaturgeschichte hinausgreift und das mit den Worten Wolfgang Emmerichs als »historische Zäsur in der kulturpolitischen Entwicklung«48 der DDR gilt: Am 16. November 1976 entzog die SED dem Lyriker und Liedermacher Wolf Biermann, der 1953 kurz vor dem 17. Juni als 16-Jähriger in die DDR gekommen war, seine Bücher und Platten bisher aber nur im Westen hatte veröffentlichen können, nach einem Auftritt in Köln die Staatsbürgerschaft. Das Echo, das auf diese Maßnahme folgte, war enorm: Noch am selben Tag traf sich eine Gruppe von Schriftstellern im Haus von Stephan Hermlin und verfasste eine öffentliche Protesterklärung, die nicht nur dem SED-Parteiorgan Neues Deutschland, sondern auch der französischen Presseagentur AFP übergeben wurde. Den
45 BStU, MfS, HA XX, 13112, Blatt 108–109: Information zur Buchmesse Frankfurt/Main, 31. 10. 1977. 46 Schlüter: Günter Grass im Visier, S. 11–13, 79. 47 Berbig: Stille Post, S. 361–367. 48 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 255.
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Abb. 1: Max Frisch, Jürgen Gruner, Leiter des Verlages Volk und Welt, und Siegfried Hoffmann, Vorsteher des Börsenvereins (rechts), auf der Leipziger Buchmesse 1973. Foto: Siegfried Müller.
Erstunterzeichnern Erich Arendt, Jurek Becker, Volker Braun, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider sowie Christa und Gerhard Wolf schlossen sich in den nächsten Tagen über 100 Kunstund Kulturschaffende an.49 Für das deutsch-deutsche literarische Leben hatten die Ausbürgerung, der öffentliche Konsensbruch durch die Künstler und die damit verbundene Aufstörung des DDR-Literatursystems außerordentliche Konsequenzen. So siedelten z. B. von Anfang 1977 bis Ende 1979 neun Autoren in die Bundesrepublik über, darunter Thomas Brasch, Sarah Kirsch und Reiner Kunze. Jurek Becker, Günter Kunert, Klaus Poche und Joachim Seyppel erhielten mehrjährige Visa und lebten fortan ebenfalls im Westen. Bernd Jentzsch, während der Biermann-Ausbürgerung in der Schweiz, kehrte erst gar nicht in die DDR zurück. Auf dem VIII. Schriftstellerkongress im Mai 1978 hatte Hermann Kant, der als Nachfolger von Anna Seghers nun als Präsident des DSV fungierte, die Emigrationswelle von Ost- nach Westdeutschland bereits als »Rückwärtsbewegung« aus dem »sozialistischen Leserland nach Bestseller-Country« diskreditiert und den bundesdeutschen Hype um Reiner Kunze, dessen Gedichtband Die wunderbaren Jahre sich hunderttausendfach verkaufte, mit dem zynischen Wortspiel »kommt Zeit,
49 Die Namen und die direkten Reaktionen – auch die der Ausbürgerung zustimmenden – sind dokumentiert in Berbig: In Sachen Biermann.
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vergeht Unrat« kommentiert.50 Verschärft wurde die angespannte Situation noch durch den Ausschluss von neun Autoren aus dem Berliner Bezirksverband des Schriftstellerverbands am 7. Juni 1979. Die Grenzen im deutsch-deutschen Feld wurden durch die vielen Übersiedler zunehmend diffuser, zumal die »Unterschiede, die zwischen den Autoren bereits bestanden hatten, als sie noch in der DDR lebten, […] als Ausdifferenzierungen im Diskurs des literarischen Exils in der Bundesrepublik deutlich hervor[traten]«, wie Jörg Bernig festgestellt hat.51 Die Ausgereisten waren nämlich keinesfalls eine homogene Gruppe. Das zeigte sich in nuce beim Marburger Literaturtag ehemaliger DDR-Autoren, zu dem sich am 5. Oktober 1982 zwanzig Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit unterschiedlichen DDR-Biographien versammelten, darunter Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Bernd Jentzsch, Helga M. Novak, Joachim Seyppel und Gerhard Zwerenz.52 Zuvor hatte Erich Loest bereits versucht, eine »Gruppe 76« zu initiieren, in der sich die aus der DDR vertriebenen Autoren zusammenschließen sollten – ein Versuch, der wegen der literarischen und politischen Heterogenität der Akteure zum Scheitern verurteilt war.53 Von den Unstimmigkeiten, die u. a. mit den Begriffen Heimat, Exil und Sozialismus verbunden waren, zeugen auch die im Februar 1984 in West-Berlin abgehaltenen »Flüchtlingsgespräche« von alt- und neuwestdeutschen Autoren im Literarischen Colloquium am Berliner Wannsee.54 Mehr Integrationskraft schien in den beginnenden 1980er Jahren ein anderes Thema zu haben: Der Konflikt zwischen den Machtblöcken hatte sich Ende der 1970er Jahre infolge der beidseitigen Aufrüstung derart verschärft, dass eine militärische Konfrontation zu befürchten war. Im August 1981 initiierte der 1969 gegründete (westdeutsche) Verband deutscher Schriftsteller (VS) unter Federführung seines Präsidenten Bernt Engelmann deswegen einen Appell an die Schriftsteller Europas, der, gezeichnet u. a. von den beiden deutschen Schriftstellerverbänden sowie den PEN-Zentren aus BRD und DDR, »[ü]ber alle Grenzen von Staaten und Gesellschaftssystemen« hinweg die dringende Aufforderung an die verantwortlichen Politiker und Militärs richtete, »das neue Wettrüsten zu unterlassen und unverzüglich wieder miteinander in Verhandlung über weitere Abrüstung einzutreten«.55 Die Intellektuellen versuchten in der Folge, die Diskurse aus den in beiden deutschen Staaten wachsenden Friedensbewegungen aufzunehmen und zu verhandeln. Ausdruck davon war z. B. die Erste Berliner Begegnung, ein Treffen von Schriftstellern und Wissenschaftlern, zu dem Stephan Hermlin im Dezember 1981 in die Ost-Berliner Akademie der Künste geladen hatte. Dass das aufwändige Schriftstellertreffen – immerhin waren 95 Teilnehmer vor allem aus der BRD und der DDR, aber auch aus der UdSSR, ČSSR, Österreich und der Schweiz geladen – von Stasi und Politbüro mit »einer minutiösen ideologischen und sicherheitspolitischen Vor-
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Kant: Die Verantwortung des Schriftstellers, S. 223 bzw. 227. Bernig: Diesseits der Theorie, S. 253. Flügge: Falsche Fremde. Vgl. Bernig: Diesseits der Theorie, S. 253. Hildebrandt: Wer spricht da von Exil? Appell der Schriftsteller Europas, S. 20. Der Presse wurde der besagte Appell am 20. August 1981 in München übergeben.
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bereitung« bedacht wurde, wie Matthias Braun analysiert hat, ist angesichts der Brisanz der Ost-West-Begegnung wenig überraschend.56 Doch wurden der Kontrollpedanterie von politischer Seite Grenzen gesetzt, weil sich die DDR als offen und diskussionsbereit präsentieren wollte. Der SED-Generalsekretär Erich Honecker und der Chefideologe der Partei Kurt Hager zeichneten die Teilnehmerliste persönlich ab und gaben sich dabei merklich liberal. Erstaunlich offen war auch die Diskussion. Von besonderer Bedeutung für die öffentliche Wirkung der Ersten Berliner Begegnung – von Hermlin auf einem Literatentreffen in Den Haag im Mai 1982 als »über alle Erwartungen hinausgehend«57 bezeichnet – war dabei, dass das Friedensgespräch vom Westdeutschen Rundfunk begleitet wurde. Im April 1983 trafen sich dann Schriftsteller aus Ost und West auf Einladung von Günter Grass, Peter Härtling, Stephan Hermlin, Walter Höllerer und Uwe Johnson zur Zweiten Berliner Begegnung in der West-Berliner Akademie der Künste. Die Fronten hatten sich mittlerweile allerdings wieder verhärtet – auch weil übergesiedelte Autoren wie Joachim Seyppel und Sarah Kirsch im Vorfeld öffentlich gegen die Einladungspolitik polemisiert hatten.58 Die Kritik bezog sich vor allem auf den Habitus von Schriftstellern wie Hermann Kant, die in der Bundesrepublik in erster Linie als Funktionäre wahrgenommen wurden. Literatur aus der DDR stand um 1980 in der Bundesrepublik hingegen hoch im Kurs. Die Lizenzausgabe von Maxie Wanders Frauenporträts unter dem Titel Guten Morgen, du Schöne war ein ebenso überraschender Verkaufserfolg wie Irmtraud Morgners höchst anspruchsvoller, fantastischer Roman Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz. 1982 hatte mit Christa Wolf die erste in der DDR wohnhafte Autorin mit ihrer Kassandra-Vorlesung die renommierte Poetik-Dozentur in Frankfurt am Main inne, nachdem dort mit Uwe Johnson (1979) und Günter Kunert (1981) bereits zwei OstEmigranten ihre Schreibkonzepte vorgestellt hatten. Auch das westdeutsche Interesse für eine avantgardistische literarische Strömung aus der DDR begann stetig zu wachsen: Über inoffizielle Zeitschriften, die als Typoskripte, Künstlerbücher oder Lyrik-GrafikMappen meist in Kleinstauflagen im Samisdat erschienen, konstituierte sich in den beginnenden 1980er Jahren vor allem in Ost-Berlin, aber auch in Dresden und Leipzig eine Literaturszene, die, nach ihrem geographischen Zentrum Prenzlauer Berg getauft, eine poetische Sprache auf spielerisch-destruktiven Wegen als »Gegen-Sprache in Opposition zur Herrschaftssprache« zu entwickeln versuchte.59 Deswegen – und wegen der halblegalen Veröffentlichungspraxis – war die Bundesrepublik als erweiterter Publikationsraum für die Autoren vom Prenzlauer Berg von großer Bedeutung. Für Aufsehen sorgte beispielsweise die beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienene gruppenkonstituierende Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung, die ursprünglich als Koproduktion mit Aufbau geplant war und von den DDR-Autoren Elke Erb und
56 Braun: Kulturinsel und Machtinstrument, S. 344. Siehe auch Berliner Begegnung zur Friedensförderung. 57 Noack: Innerdeutscher Streit auf Schriftsteller-Konferenz in Den Haag. 58 Ulmer: VEB Luchterhand?, S. 397–398. Siehe auch Zweite Berliner Begegnung: Den Frieden erklären, S. 14. 59 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 409.
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Abb. 2: Otto Graf Lambsdorff, Bundesminister für Wirtschaft, auf der Leipziger Buchmesse 1982, rechts: Ruth Glatzer, Cheflektorin des Aufbau-Verlages, und Klaus Höpcke, Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel. Foto: Siegfried Müller.
Sascha Anderson herausgegeben wurde.60 Veröffentlichungen in den bekannten Verlagen der DDR waren für die jungen Autoren zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht möglich. In Bezug auf das westliche deutschsprachige Ausland war es den beiden größten belletristischen DDR-Verlagen, Aufbau und Volk und Welt, hingegen mittlerweile gelungen, eine etwas liberalere Veröffentlichungspraxis durchzusetzen. Nach den Schweizern Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch konnten beispielsweise mit Thomas Bernhard, Peter Handke, H. C. Artmann und Ernst Jandl in den beginnenden 1980er Jahren vier österreichische Autoren in der DDR erscheinen, deren Publikation aus diversen Gründen über viele Jahre hinweg nicht möglich gewesen war.61 Jandl, eines der literarischen Vorbilder des DDR-Undergrounds, lernte die junge Dichterriege aus der DDR nun auch auf der privaten Ebene kennen: Nach einer Lesung im Ost-Berliner Theater im Palast im Januar 1982 gelang es einigen Kulturschaffenden, den berühmten Autor in den Prenzlauer Berg zu »entführen«, wo er in der Wohnung der Fotografin Helga Paris vor einem ausgewählten Kreis las. Die »›Jandlianer‹ der DDR«, namentlich Bert Papenfuß, Stefan
60 Zur hochinteressanten Publikationsgeschichte des Bandes siehe Michael: Berührung ist nur eine Randerscheinung, S. 264–274. 61 Lokatis: »DDR-Literatur« aus der Schweiz, aus Österreich und der Bundesrepublik, S. 42– 70.
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Döring und Jan Faktor, lasen im Anschluss, wie sich Adolf Endler, Spiritus Rector der jungen Dichtergeneration, erinnert.62 1984 erschienen mit Katz und Maus und Das Treffen in Telgte in der DDR schließlich zwei Bücher von Günter Grass, der über Jahre hinweg als »die literarische Unperson par excellence«63 im ostdeutschen Kulturbetrieb gegolten hatte. Drei Jahre später stieß eine Lesereise des Autors, die engmaschig von der Stasi begleitet wurde, auf großes Interesse beim ostdeutschen Publikum. Auch wenn die Freiräume im deutsch-deutschen literarischen Feld in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre also deutlich größer geworden waren, fehlte es nach wie vor nicht an Konfliktthemen. Auf dem X. Schriftstellerkongress des Schriftstellerverbands der DDR im November 1987 beispielsweise prangerte Christoph Hein die Zensur in seinem Staat als »überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar« an, was wiederum von Verbandspräsident Kant scharf kritisiert wurde.64 Zeitgleich verschärfte sich im westdeutschen Schriftstellerverband die Auseinandersetzung zwischen den orthodoxen Anhängern der DKP und Kritikern der SEDPolitik. Der Konflikt war bereits seit 1984 greifbar, als nach dem Rücktritt des Verbandsvorsitzenden Bernt Engelmann, dem eine zu große Nähe zur DDR und dem ostdeutschen Schriftstellerverband vorgeworfen wurde, auf dem Saarbrücker Kongress der Sachbuchautor Hans Peter Bleuel (und nicht Ingeborg Drewitz) zum Nachfolger gewählt wurde – wohl auch, weil die von der SED bzw. von Stasi-Mitarbeitern instruierte DKP-Kulturabteilung auf verschiedene Weise versuchte, auf die Delegierten einzuwirken, wie der Hamburger Autor Peter Schütt, bis 1988 im Vorstand der westdeutschen kommunistischen Partei aktiv, retrospektiv berichtete. Seit der Ausbürgerung Biermanns, so Schütt, habe die DDR immer wieder »[m]assive Versuche zur Beeinflussung der Politik des VS« unternommen, um zu verhindern, dass »DDR-Flüchtlinge im westdeutschen Schriftstellerverband und im literarischen Leben der Bundesrepublik Fuß faßten«.65 Die Spannungen zwischen den beiden Verbänden wurden noch größer, nachdem Anna Jonas 1987 Bleuel abgelöst hatte und den Emigranten Erich Loest als Vertreter des VS für den Kongress des Schriftstellerverbands der DDR nominierte. Ein Treffen der Verbandspräsidien Ost und West im Schriftstellerheim am Schwielowsee im Juni 1988 verhärtete die Fronten eher, als sie zu klären.66 Noch während der Agonie der späten 1980er Jahre waren die staatlich gelenkten DDR-Institutionen darauf bedacht, innen- und außenpolitisch die Diskurshoheit zu sichern, was freilich immer weniger gelang. Die Friedliche Revolution von 1989/90 führte schließlich auch im literarischen Leben zu tiefgreifenden Veränderungen. Die staatliche Subventionierung von Literatur wurde aufgehoben, Kulturinstitutionen gerieten in schwere Krisen oder wurden komplett aufgelöst, Bücher aus dem Lager des Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) landeten auf den Mülldeponien. Viele Autoren aus der DDR – darunter auch diejenigen, die bei der berühmten Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. Novem-
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Endler: Tarzan am Prenzlauer Berg, S. 71–72. Dahn: Ästhetik der Zuständigkeit, S. 9. Die Rede Heins ist dokumentiert in: X. Schriftstellerkongreß der DDR, S. 224–226. Schütt: »Dumm und gutgläubig«. Siehe die Erinnerungen von Hermann Kant und Günter Grass in Bircken et al.: Petzow – Villa der Worte, S. 224–231.
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ber unter den Rednern waren, namentlich Christoph Hein, Stefan Heym, Heiner Müller und Christa Wolf – hatten sich im Wendetrubel für den Neuaufbau eines demokratischen Sozialismus ausgesprochen. Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich der Bundesrepublik war diese Position obsolet. Vielmehr kam es im deutsch-deutschen literarischen Feld, in dem sich die staatliche Grenze aufgelöst hatte, zu einer letzten großen Debatte, die als deutsch-deutscher Literaturstreit in die Geschichte eingegangen ist: Eine Riege einflussreicher Feuilletonisten kritisierte, ausgehend von Christa Wolfs Was bleibt (1990), die einstmals hochgeschätzten Autoren aus der DDR, die bisher als veritable Informationsquellen, als subtile Gegenöffentlichkeit und bestenfalls als literarische Dissidenten gegolten hatten, aufs Schärfste. Die Literaten, so der Tenor der Argumentation, waren keinesfalls die Vorhut der Friedlichen Revolution; sie waren vielmehr mit dem SED-Regime verbunden und als Gesinnungsästheten auch künstlerisch minderwertig.67 Dass sich mit Günter Grass, Walter Jens, Peter Rühmkorf u. a. einige westdeutsche Autoren für die Angegriffenen einsetzten, hing auch mit der Dimension zusammen, die der Literaturstreit erreichte: Er weitete sich zu einer Grundsatzdebatte über »engagierte Literatur« aus, über den Schriftsteller als Zeitgenossen, die einen wesentlichen Teil der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur betraf.
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Institutionen Siegfried Lokatis
3.4.1 Die staatliche Literaturbehörde Die Hauptverwaltung (HV) Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur1 übte als planwirtschaftliches Leitungsorgan im Buchhandel mit dieser grundlegenden ökonomischen Aufgabe vermischt die politische Funktion der Zensur aus. Diese wurde als systematische Vorzensur in Form des »Druckgenehmigungsverfahrens« durchgeführt. Aber auch die Vorfeldkontrolle der verlegerischen Produktion mittels der sogenannten »Themenplanung« hatte eine klare politische Selektionsfunktion. Als zensurstrategische Hebel wirkten ferner die Lizenzierung und »Profilierung« der Verlage sowie die Schulung und Kontrolle der in ihnen für die Textproduktion verantwortlichen Kader. Diese Hebel modelten die Verlage zu ausführenden Organen des Zensursystems. Was den Verlagen trotzdem immer wieder erstaunliche Spielräume bescherte, war die Eigendynamik, ja Übermacht ökonomischer Sachzwänge, allerdings, obwohl im Buchhandel durchaus hohe Millionenbeträge für die SED-Kassen erwirtschaftet wurden, nicht etwa verstanden im Sinn der Profitmaximierung: Vielmehr ging es darum, unter Bedingungen der Mangelwirtschaft weitsichtig und erfindungsreich ein denkbar kompliziertes Plangefüge in Gang zu halten, das die Gesamtheit der Verlagsproduktion und des buchhändlerischen Vertriebs, das die Bereitstellung und Verteilung der knappen Ressourcen an Papier, Druckereikapazitäten und Devisen umfasste. War planwirtschaftliche Organisation in der DDR schon im Hinblick auf die Systemkonkurrenz ohnehin in allen Wirtschaftsbereichen eine undankbare Angelegenheit, so mussten sich die Schwierigkeiten im Bereich der Textproduktion potenzieren. Denn Autoren sind eigenwillig, die Wünsche des Lesers unergründlich und die Bücher haben ihre Schicksale. Und der Klassenfeind schlief nicht, sondern las mit und lauerte auf die kleinste Blöße der Zensur, auf das Loch in der Mauer, um sein ideologisches Gift zu streuen. Das unterschied die HV von den sonst vergleichbaren, nach sowjetischem Modell gebastelten Systemen der Buchproduktion und Zensur in den sozialistischen Bruderländern, von Korea einmal abgesehen, grundsätzlich: das Land war geteilt und man bewegte sich in einem Sprachraum mit der größeren Bundesrepublik, von der es kaum möglich war, das »Leseland« wirksam abzuschotten. Unter diesen Umständen war der Aufbau eines sozialistischen Systems der ideologischen Steuerung von Beginn an ein heroisches Experiment, das enorme Mittel verschlang, wie sie die lukrativen Durchschnittsauflagen der arbeitsteilig organisierten Verlagsproduktion allerdings auch abwarfen: 123 Mitarbeiter verzeichnet der Stellenplan der HV von 1963, fünf Kraftfahrer und vier Putzfrauen mitgerechnet.2 Zensur ist eine 1 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«; Westdickenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«; Lokatis: Die Hauptverwaltung des Leselandes. Die Geschichte der HV Verlage und Buchhandel unter Klaus Höpcke ist immer noch vergleichsweise wenig erforscht. Vgl. aber Reichardt: Von der Sowjetunion lernen?, S. 177–278. 2 BArch, DY 30, IV 2/9.04/673, S. 179–189, Stellenplan der HV Verlage und Buchhandel (Anlage zum Ministerratsbeschluß vom 21. 12. 1962). https://doi.org/10.1515/9783110471229-012
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kostspielige Angelegenheit. Den systematischen Steuerungsanspruch verraten Begriffe des Amtsjargons wie die »Literaturstromanalyse« und der »Literaturentwicklungsprozess«. Wir spüren den Adlerblick des ausgefuchsten Zensors, der weiß, wann die Auflagenhöhe zu kürzen oder ein Buch besser gleich einzustampfen ist, ob einzelne »Stellen« zu entfernen, richtige »Proportionen« herzustellen oder ein taxierendes Nachwort anzufügen sei – alles eine Sache des richtigen Fingerspitzengefühls, das jedoch erst einmal erworben sein wollte, im Umgang mit den vorgesetzten ZK-Stellen, den verlegerisch aktiven Parteien und Massenorganisationen und so einflussreichen Institutionen wie der Akademie der Wissenschaften, dem Schriftstellerverband und den großen Kirchen. Das Wechselspiel in der ideologischen Großwetterlage, von Tauwetterphasen und Frostperioden der fünfziger Jahre, bescherte den Mitarbeitern der Zensurbehörde einen Riesenschatz an Erfahrung und schärfte zugleich mit der typischen Vorsichtshaltung das taktische Repertoire im Zensurkampf. Die Vorgeschichte der HV Verlage und Buchhandel in den 1950er Jahren von der Gründung des Amtes für Literatur und Verlagswesen 1951 über den Übergang zur HV Verlagswesen im Ministerium für Kultur 1956 und zur Bildung einer Abteilung Literatur und Buchwesen 1958 beschreibt einen Lern- und Professionalisierungsprozess. Zudem veränderte immer dieselbe staatliche Literaturbehörde nicht nur ihren Namen, sondern dehnte zugleich ihre Kompetenzen und Aufgabenfelder aus. Gleich nach der Gründung des Amtes für Literatur und Verlagswesens im September 1951 wurde ein Konflikt um die Unterstellung der Kunstverlage mit der Staatlichen Kunstkommission erfolgreich ausgetragen. Die von Helmut Holtzhauer geleitete »StaKuKo« wurde etwa gleichzeitig mit dem Amt im August 1951, im Zuge der SEDKampagne gegen den »Formalismus« gegründet und residierte anfangs im selben Gebäude im Hinterhof der Wilhelmstraße 63. Als Hauptproblem stellte sich aber schon bald heraus, dass sich ausgerechnet die größten und wichtigsten Verlage ökonomisch der Anleitung durch das Amt entzogen. Die volkseigenen Verlage unterstanden einer Hauptverwaltung Polygraphie, die bis 1956 dem Ministerium für Leichtindustrie zugeordnet war. Die Verlage der SED und von Massenorganisationen wie der FDJ, dem FDGB und dem Kulturbund waren einem Druckerei- und Verlagskontor (DVK) unterstellt, das wie die SED-Holding Zentrag mit ihren Zeitungen, Druckereien, Papierfabriken und dem Volksbuchhandel direkt dem ZK unterstand. Der Umbau des Amtes zu einer HV Verlagswesen im Ministerium für Kultur im Sommer 1956 lief im Kern darauf hinaus, dass die volkseigenen Verlage wirtschaftlich der Literaturbehörde untergeordnet wurden. Nach einer Phase »revisionistischer Schwankungen«, die Ende 1956 beinahe zur Abschaffung der Zensur geführt hätten, wurde das Zensursystem 1958 ganz im Gegenteil gründlich restauriert. Kennzeichnend für die neue »Abteilung Literatur und Buchwesen« im Ministerium für Kultur war auch der intensivierte Zugriff auf die Bibliotheken und das Antiquariatswesen. Es dauerte aber noch bis zur Gründung der HV Verlage und Buchhandel 1963, dass auch das System des SED-Buchhandels, also der Volksbuchhandel und Leipziger Kommissions- und Großbuchhandelsgesellschaft (LKG) sowie die Verlage des DVK, in die Literaturbehörde integriert werden konnten. Erst jetzt konnte eine »Trennung von Ökonomie und Kulturpolitik« überwunden werden, die zu einer regelrechten Doppelherrschaft geführt hatte. Diese strukturellen Verwerfungen hatten letztlich ihre Ursache in den komplizierten Unterstellungverhältnissen. Denn im ZK befassten sich verschiedene, nebeneinanderher arbeitende, wenn nicht untereinander
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konkurrierende Stellen mit den Fragen des Buchhandels und der Literatursteuerung. Während das Amt für Literatur zunächst einem Sektor Propaganda und dann Kurt Hagers Abteilung Wissenschaft zugeordnet war, wurden die SED-Holdings Zentrag und DVK von der ZK-Abteilung Finanzen und Parteibetriebe angeleitet. Auf chaotische Weise zusätzlich verunklart wurde die Lage 1956 mit der Einbindung der Literaturbehörde in das Ministerium für Kultur, wonach sich auch noch die diesem übergeordnete Kulturabteilung des ZK zuständig fühlen durfte. Erst seit 1973 war die HV Verlage und Buchhandel im ZK nicht mehr der Abteilung Wissenschaft unter Johannes Hörnig, sondern der Abteilung Kultur, zunächst unter Peter Heldt, ab März 1976 unter Ursula Ragwitz unterstellt. Beide Abteilungen waren letztlich Kurt Hager zugeordnet. Im Rahmen der Abteilung Kultur blieb wie schon ab 1956 in der Abteilung Wissenschaft der Sektor Verlage unter Lucie Pflug, ab 1978 unter Arno Lange, für die unmittelbare Anleitung der HV zuständig.
Das Amt für Literatur und Verlagswesen Der erste Leiter des Amtes für Literatur und Verlagswesen (ALV) war von August 1951 bis Januar 1954 Fritz Apelt (1893–1972), ein KPD-Urgestein, Sowjetunion-Emigrant und hochrangiger Gewerkschaftsfunktionär, der redaktionelle Erfahrungen bei der Roten Fahne, beim Komintern-Bulletin und als Chefredakteur der FDGB-Zeitung Tribüne gesammelt hatte. Der eigentliche, die Geschäfte führende Kopf der Behörde war jedoch dessen Stellvertreter Karl Ewald Böhm (1913–1977), der auch selbst als Sachbuchautor (Gigant Atom) hervortrat. Die 109 Planstellen des ALV verteilten sich auf die fünf Abteilungen »Begutachtung«, »Entwicklung und Koordinierung«, »Verlagswesen«, »Buchhandel« und »Ausland«. Die Aufgaben der ersten Literaturbehörde der DDR, die im September 1951 die Arbeit aufnahm, waren in einer »Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur« vom 16. August 19513 festgelegt. Die erste, aus Sicht der SED-Führung auch
3 Gesetzblatt Nr. 100, 27. 8. 1951: »§ 2 Die Aufgaben des Amtes für Literatur und Verlagswesen sind: a) Die Entwicklung und Förderung der Literatur aller Gebiete durch zentrale Koordinierung und Lenkung unter Zusammenarbeit mit den demokratischen Organisationen, den Fachministerien, den Akademien und anderen Institutionen. b) Die Hebung der Qualität der Literatur durch Begutachtung der geplanten Werke und Beratung der Verleger. c) Die planmässige Unterstützung der Verlagstätigkeit bei der Herausgabe von Werken aus der Sowjetunion, den Volksdemokratien und fortschrittlicher Autoren anderer Nationen. d) Die Lizenzerteilung für Buchverlage und Zeitschriften sowie die ständige beratende Unterstützung der verlegerischen und redaktionellen Arbeit. e) Verteilung des für die Buch- und Zeitschriftenproduktion bestimmten Papierkontingents an die lizenzierten Verlage entsprechend den vom Amt für Literatur und Verlagswesen genehmigten Verlagsplänen. f) Die Verbesserung der Arbeit und die Anleitung des gesamten Buchhandels der Deutschen Demokratischen Republik zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit fortschrittlicher Literatur.«
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jedenfalls wichtigste Aufgabe, die »Entwicklung und Förderung der Literatur aller Gebiete« markierte die gesamtgesellschaftliche Funktion des neuen Amtes, dafür zu sorgen, dass für den Aufbau der DDR-Wirtschaft, die »großen und herrlichen Aufgaben« des Fünfjahrplans, in allen Bereichen die benötigte Fach- und Schulungsliteratur zur Verfügung stünde. Den entsprechenden Bedarfsplan hatte das »Zentralamt für Forschung und Technik« zusammengestellt. »Planmäßige und systematische Lenkung« sollte die Tätigkeit des Amtes künftig charakterisieren,4 ganz im Gegensatz zur »Geschmacksdiktatur«5 der Vorläuferinstitution, des Kulturellen Beirats der SBZ mit seinen endlosen Wartezeiten auf eine Druckgenehmigung, die gar nicht leicht zu bekommen war: Der Kulturelle Beirat hatte von insgesamt 12.125 eingereichten Manuskripten nicht weniger als 3.372 abgelehnt.6 Nur mit Glück bekam der Verleger für die angenommen Texte auch das benötigte Papier, denn der Kulturelle Beirat unterschied zwischen der Genehmigung mit Papier und »ohne Papier«. Das Druckgenehmigungsverfahren wurde jedoch keineswegs abgeschafft. Schließlich galt die Begutachtung, wie die »Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur« formulierte, als Hebel zur »Hebung der Qualität der Literatur« und Grundlage der »Beratung der Verleger«. Das war keineswegs zynisch gemeint, sondern entsprach einer Analyse Vilmos Korns, der die Begutachtung in der Übergangszeit 1951 im »Amt für Information« geleitet hatte und als »Grundübel«, das eine zentrale Beratung noch für längere Zeit erforderlich mache, die in Folge von Krieg und Faschismus mangelhafte Ausstattung der Verlage mit »gesellschafts-wissenschaftlich sicheren und erfahrenen Lektoren« ausgemacht hatte. Die »im Aufbau der Struktur theoretisch richtige« Trennung »von Zensur und Entwicklungsarbeit« müsse deshalb »in der Praxis ein gewisses Vakuum erzeugen.«7 Das Druckgenehmigungsverfahren sollte aber entschieden beschleunigt und die Willkür von Gutachtern ausgeschaltet werden. Zu diesem Zweck wurden die Gutachter neu gesiebt, ausgesucht und geschult. Eine großzügige Honorarordnung, die die Aufgabe nach Druckbogenumfang, Auflagenhöhe und Schwierigkeitsgrad des Textes einstufte und deren Kosten auf die Verlage abgewälzt wurden, sollte helfen, geeignete Fachleute anzuwerben. Gestaffelt nach drei Schwierigkeitsgraden erhielt der Gutachter von Belletristik pro Bogen zwischen 5 und 10 M, für einen durchschnittlich schweren Roman von 480 Seiten 210 M, was dem Monatslohn eines Arbeiters entsprach. Wissenschaftliche Texte hatten den höchsten Schwierigkeitsgrad. Bei Teilaufgaben wie der Durchsicht eines an sich bekannten Romans auf eventuelle »Pannen« oder von mathematischen Formelbüchern auf unangebrachte Beispielaufgaben konnte das Honorar gekürzt werden. 1953 betrugen die Honorarkosten des Amtes etwa 110.000 M, wofür die Verlage 156.000 M Begutachtungsgebühren entrichteten. Das Amt für Literatur veranstaltete
4 Erste Verlegerkonferenz des Amtes für Literatur, S. 16 (Fritz Apelt). 5 Erste Verlegerkonferenz des Amtes für Literatur, S. 81 (Walther Victor). 6 Mortier: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen, S. 77. Siehe auch Kapitel 1.3 Der Kulturelle Beirat für das Verlagswesen (Lisa Schelhas) in diesem Band. 7 BArch, DR 1/1949: Korn an Fritz Apelt, Amt für Literatur und Verlagswesen, 18. 9. 1951, Anlage: Vilmos Korn: Einige Erfahrungen, die sich aus der von mir in der Zeit vom 1. Januar– 1. September 1951 geleiteten Abteilung Begutachtung und Beratung ergeben haben.
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1952 zwischen seinen Lektoraten sogar Wettbewerbe, um die sogenannte »Umlaufzeit« der Manuskripte von 23 auf neun Tage zu minimieren. Bestimmte offenbar harmlose Textsorten, wie mathematische Formelbücher und Nachauflagen bereits genehmigter Werke, die keiner näheren Prüfung bedurften, wurden festgelegt und in einer Liste festgehalten, die sich mit den Jahren stetig erweiterte. Die Zahl der abgelehnten Manuskripte sank 1952 von 4 auf 0,5 Prozent, die Quote der zur Überarbeitung an die Verlage zurückgeschickten Manuskripte von 5 auf 0,9 Prozent.8 Von 1951 bis 1958 leitete Oskar Hoffmann die »Abteilung Begutachtung« und organisierte das Zensurgeschäft. Als KPD-Mitglied hatte er lange Jahre im KZ verbracht und nach 1945 die Kaderabteilung der Zentralverwaltung für Volksbildung geleitet. Er inspizierte den Rundfunk und war Redakteur der Einheit, des theoretischen Organs der SED, gewesen. Seine Stellvertreterin Luise Kraushaar war in der Emigrationszeit die Sekretärin von Anna Seghers und führte unter Hoffmann das Belletristik-Lektorat. Ende 1951 bestand die Abteilung Begutachtung aus zehn, ab Mitte 1952 aus 15 »politischen Mitarbeitern«, eine Zahl, die bis 1958 in etwa konstant blieb, nur dass die Stellen nicht leicht durch zugleich politisch und fachlich kompetente Zensoren zu besetzen waren, wenn, was leicht vorkam, einmal ein Kollege ausfiel. Dann lag Monate lang eine ganze Literatursparte brach. Nachdem 1953 sechs Mitarbeiter das Amt verlassen hatten, gab es für Kunst und Musik nur einen Referenten, und das Jugendbuch war für drei Monate verwaist, ähnlich wie 1954 der Kinderbuch-Bereich, der von der Belletristik mitversorgt werden musste.9 Die »Abteilung Begutachtung« gliederte sich anfangs in die sieben Lektorate Belletristik, Jugendbuch, Kunst, Gesellschaftswissenschaften, Kirchenliteratur, Naturwissenschaften und Medizin sowie Technik und Landwirtschaft. Ein Jahr später wurden Naturwissenschaften und Technik zusammengefasst, einzelne Lektorate umbenannt (Kirchliche und religiöse Literatur, Jugend- und Kinderbuch, Kunstwissenschaft und Musik). Ende 1952 wurde zwischen vier Hauptlektoraten (Gesellschaftswissenschaften, Belletristik, Kinder- und Jugendbuch, Naturwissenschaft und Technik) und den einfachen Lektoraten für Musik und Kunst unterschieden, zu denen sich zwei Hauptreferate für Zeitschriften und Literaturkritik gesellten. Denn im Unterschied zur späteren HV Verlage und Buchhandel war die Literaturbehörde bis 1963 auch für die Lizenzierung und Kontrolle der Zeitschriften zuständig. Mitte der fünfziger Jahre bildete »Kunst und Musik« ein eigenes Hauptlektorat, das auch als »Kunstwissenschaft« bezeichnet wurde und inzwischen noch für Sport, Mode und Heimatliteratur zuständig war. Als die Kirchenliteratur zur Gesellschaftswissenschaft kam, waren aus sieben Lektoraten fünf Hauptlektorate mit entsprechend besser dotierten Planstellen geworden. Anfang 1956 wurden daraus die beiden großen Abteilungen Wissenschaft (mit den Hauptlektoraten »Gewi« und »Nawi«) und »Künstlerische Literatur« (Belletristik, Kinder- und Jugendbuch, Kunst und Musik) gebildet. In der »Abteilung Literatur und Buchwesen« des Ministeriums für Kultur unterschied man 1958 die drei Sektoren Schöne Literatur, Gewi und Nawi. Mit der Gründung der HV Verlage und Buchhandel wurden
8 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 28–29. 9 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 43.
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daraus die beiden Abteilungen »Belletristik, Kunst- und Musikliteratur« und »Wissenschaftliche und Fachliteratur«, eine Gliederung, die bis 1990 bestand.10 Zusätzlich zum Druckgenehmigungsverfahren wurde 1951 die Themenplanung eingeführt. Die vom Amt genehmigten Verlagspläne, so verkündete die »Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur«, würden Grundlage für die »Verteilung des für die Buch- und Zeitschriftenproduktion bestimmten Papierkontingents an die lizenzierten Verlage« sein. Es war eine der ersten Aufgaben des Amtes, die Zahl dieser Verlage deutlich zu reduzieren. Im Ergebnis wurde sie von 151 auf 75 halbiert. Die Zahl der Privatverlage wurde sogar von 120 auf 23 heruntergefahren.11 Die neuen Lizenzurkunden definierten die Aufgabengebiete der Verlage, an die sie sich bei ihrer »Themenplanung« besser hielten, weil die Lizenz sonst entzogen werden konnte. Mittels der auf diese Weise eingeleiteten, in den sechziger Jahren weitgehend abgeschlossenen »Profilierung« organisierte das Amt für Literatur die Verlagslandschaft als arbeitsteiliges System. Genau genommen hatte bereits der Kulturelle Beirat erstmals für 1951 die Verlage »aufgefordert, Produktionspläne einzureichen, ohne dass jedoch eine gründliche Bearbeitung der Pläne und damit eine Einflussnahme auf die Thematik ausgeübt wurde. Ebenso wenig erfolgte eine systematische Plankontrolle […]. Im Jahre 1951 erfolgte die Themenplanbestätigung noch zu schematisch und viel zu spät (im Dezember 1951).«12 Die Pläne für 1953 wurden hingegen rechtzeitig im Sommer 1952 beraten und bestätigt, um anschließend der Staatlichen Plankommission für die Aufnahme in den Volkswirtschaftsplan vorgeschlagen zu werden. Die Abteilung für Verlagsplanung entwickelte die benötigten Formblätter und kümmerte sich um den »Aufbau der Statistik. Einführung des Produktionsmeldeverfahrens. Schaffung einer Literatursystematik.« Die lizenzierten Verlage wurden »nach sachlichen Gesichtspunkten in Planungsgemeinschaften« zusammengefasst, um die »Verlagspläne vor dem Einreichen zu koordinieren.«13 Ab 1954 wurden Vertreter des Buchhandels und der Bibliotheken zu deren Sitzungen hinzugezogen, um den Bedarf und die Auflagenhöhen zu bestimmen. Das sollte jedoch »keineswegs ein Nachgeben gegenüber dem Lesergeschmack« bedeuten. »Selbstverständlich müssen wir aber den Lesergeschmack genau kennen, ihn also gründlich erforschen und dann die Möglichkeiten ausfindig machen, um das Leserniveau zu heben. Das ist also die Kernfrage. Man muß den subjektiven Bedarf kennen und den subjektiven Bedarf in einen objektiven, also gesellschaftlich notwendigen Bedarf verwandeln.«14 Das System der Themenplanung entsprach nicht nur der leninistischen Avantgarde-Konzeption, sondern wurde dezidiert als Gegenmodell zur gewinnorientierten kapitalistischen Anarchie verstanden, den auf »Knüller oder Bestseller« fixierten »Interessen des Privateigentums an Produktionsmitteln diametral entgegengesetzt«.15 10 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 23–24. 11 BArch, DR 1/1871: ALV (Kienast) an ZK der SED, Abt. Propaganda (Misslitz), 6. 12. 1952. 12 BArch, DR 1/1871: ALV an ZK der SED, Abt. Propaganda, (Misslitz), Stichworte für den Bericht über das Amt für Literatur und Verlagswesen, 6. 12. 1952. 13 BArch, DR 1/1871: ALV an ZK der SED, Abt. Propaganda, (Misslitz), Stichworte für den Bericht über das Amt für Literatur und Verlagswesen, 6. 12. 1952. 14 BArch, DR 1/2002: Hauptreferat Planung (Kienast), Material für die Verlegerkonferenz, 30. 10. 1953. 15 BArch, DR 1/1246: Karlheinz Selle, Die thematische Planung im Verlagswesen – ein entscheidendes Mittel zur Durchsetzung der sozialistischen Kulturpolitik, Mai 1958, S. 2–3.
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Die einzelnen Themenpläne der Verlage wurden entsprechend den beiden Kriterien der »Profilierung« und der »Proportionen« zu einem Gesamtthemenplan zusammengefasst. Während die »Profilierung« die Abstimmung und Abgrenzung der einzelnen Verlagspläne zur Vermeidung von Überschneidungen und Doppelproduktionen beobachtete, erfolgte die »Proportionierung« zwischen den einzelnen Literatursparten entsprechend dem angemeldeten Bedarf von Institutionen und Organisationen, um Angebotslücken zu vermeiden. Ein wichtiges Steuerungsmittel wurde die Prämierung von »Schwerpunkttiteln« mit hohen Auflagen, etwa zur Förderung der Bodenreform, der »Friedenswirtschaft« oder zur »Entlarvung des Imperialismus«, sowie die Festlegung eines »Goldenen Fonds«, einer Liste sozialistischer Titel, die stets lieferbar sein sollten.16 Privatverlage mussten sich an das Verfahren der Themenplanung mühsam gewöhnen.17 So sah sich der Niemeyer-Verlag 1952 in einer Zwickmühle. Setze er optimistisch »Titel, auf die wir zu 60–90 % hoffen können, auf den Plan und bekommen die Manuskripte verspätet oder gelegentlich gar nicht, sind wir blamiert. Nehmen wir sie aber aus Vorsicht nicht auf, und sie kommen doch, ist es unerwünscht, sie einzureichen.«18 Der Greifenverlag wünschte sich gar freie Hand von jeder Titelaufstellung, »da unsere heutige Zeit stets vorwärts« dränge und er sich lieber »den Gegebenheiten unseres fortwährenden Aufschwungs im Rahmen der fortschrittlichen Entwicklung der Kulturarbeit anzupassen« wünschte.19 Die aktive Einbeziehung der Privatverlage in das System der Themenplanung war ohnehin nicht vorgesehen. Sie mussten nach Lücken im Plangefüge, nach übersehenen Titeln suchen und sich mit den Brosamen abfinden, die die Planungsgemeinschaften übriggelassen hatten. Aber auch die Plandisziplin der partei- und organisationseigenen Verlage ließ zu wünschen übrig. »Gesellschaftliche Organisationen und demokratische Parteien« waren trotz »mehrfacher schriftlicher Aufforderungen und mündlichen Anmahnungen« nicht dazu zu bewegen, ihre Planvorschläge einigermaßen pünktlich einzureichen.20 In einem jahrelangen Kampf um die Bereinigung des Profils des Verlags Tribüne musste das ALV immer wieder »vor der Hartnäckigkeit des Genossen Erxleben und seinen Drohungen mit dem FDGB-Bundesvorstand« kapitulieren und in diesen Zusammenhang gehörten auch »die Taktiken des Verlages der Nation und des Verlages der Morgen, die ebenfalls bei allen Empfehlungen und Anweisungen unserer Abteilung sofort mit ihrer Dachorganisation« drohten.21 Das arbeitsteilig organisierte System der Themenplanung bediente also nicht nur den gesamtgesellschaftlichen Literaturbedarf, sondern spiegelte in solchen um das Papier und die Produktionsprofile geführten Aushandlungsprozessen zugleich das Machtgefüge in der DDR, die realen politischen Einflusschancen der verschiedenen Institutionen, Parteien und Massenorganisationen.
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Lokatis: Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur, S. 307–308. Vgl. Lokatis: Verlagsarbeit zwischen Plan und Zensur, S. 311–312. BArch, DR 1/1910: Niemeyer Verlag (in Treuhand) an ALV, 16. 5. 1952. BArch, DR 1/1910: Greifenverlag an ALV, 30. 8. 1951. BArch, DR 1/1872: Erfüllungsbericht der Hauptabteilung Planung und Plankontrolle für November 1953. 21 BArch, DR 1/1266: Für die Jahrestagung des DVK, Tribüne Verlag und ausländische Belletristik, 10. 3. 1961.
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Der Dietz Verlag nahm hier unangefochten die Spitzenstellung ein. Er beanspruchte für die Texte der kommunistischen Klassiker und Parteiführer regelmäßig mehr Papier als alle Belletristik-Verlage zusammen, wurde direkt vom Politbüro oder den ZK-Instituten zensiert und fand es in der Regel unter der Würde, dem ALV seinen Themenplan mitzuteilen.22 Als ähnlich sperrig im Umgang erwies sich der stolze Aufbau-Verlag.23 Er akzeptierte das ALV und die Themenplanung allenfalls als Instrument, die Konkurrenz klein zu halten, und war ansonsten bestrebt, »gewisse Sonderregelungen« aus der Zeit des Kulturellen Beirats aufrecht zu halten, die auf ein immediates Verhältnis des Verlages zu wohlwollenden Spitzenfunktionären hinausliefen.24 Noch im Sommer 1956, wenige Monate vor seiner Verhaftung, verspottete Walter Janka die Tendenz, auch das Selbstverständlichste zu einer Formularangelegenheit zu machen. Das geht so weit, daß es Betriebsleiter gibt, die ein ganzes Regiment Planer, Buchhalter und technischer Mitarbeiter beschäftigen, um tadellose Statistiken, Tabellen und Formulare für die verschiedensten Hauptverwaltungen anfertigen zu lassen. Da solche Pläne für die Arbeit im Betrieb meist ohne Wert sind, macht man sich einen eigenen und einfachen Plan, der übersichtlich bleibt 25 und als Grundlage für die praktische Arbeit dient.
Eine Disziplinierung der organisationseigenen Verlage war bis 1963 nur im Bündnis mit der Verlagsholding der SED, dem mächtigen Druckerei- und Verlagskontor (DVK), zu erzielen, das auch für die ökonomische Anleitung des Aufbau-Verlages zuständig war. Wie schwer war die Abstimmung mit dem DVK bzw. der Zentrag, also mit den Schaltzentralen des SED-Buchhandels, auf der einen Seite und mit dem Leitungsorgan der volkseigenen Verlage, dem für die Vereinigung der Volkseigenen Verlage (VVV) zuständigen Fachabteilung Verlagswesen der Hauptverwaltung Polygraphie des Ministeriums für Leichtindustrie, auf der anderen Seite! Das war das Hauptproblem des ALV, nicht nur bei der Themenplanung, sondern bei allen wichtigen Fragen der Verlagspolitik. Zensurmaßnahmen des ALV tangierten automatisch das Plangefüge und die ökonomischen Interessen von DVK und VVV. Umgekehrt war an eine zentrale staatliche Steuerung der Literaturpolitik nicht zu denken, solange nicht das ALV, sondern die Wirtschaftsorgane die Kaderpolitik der Verlage bestimmten. Vor allem untergrub es die Autorität des Amtes, als sich herausstellte, dass das ALV weder über das Papier noch über die Druckereikapazitäten verfügte, die den Verlagen mit der Planbestätigung zugewiesen wurden. »Papiersorgen wird es nicht mehr geben«, hatte das ALV vollmundig auf der ersten Verlegerkonferenz 1951 verkündet.26 Und nichts wäre geeigneter gewesen, die Verlage mit der Themenplanung zu versöhnen. Nur kam es gleich 1952 zu einem katastrophalen Versorgungsengpass, der auf einem Berechnungsfehler der Staatlichen Plankommission im Umfang von 25.000 (!) Tonnen
22 Vgl. Lokatis: Dietz. 23 Vgl. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag. 24 BArch, DR 1/1910: Aufbau-Verlag an ALV, 7. 11. 1951; BArch, DR 1/1901: Aktennotiz zur Aussprache mit dem Aufbau-Verlag, am 27. 8. 1951; BArch, DY 30, IV 2/9.04/670: AufbauVerlag an ZK der SED (Heymann), 31. 3. 1950. 25 Janka: Neue Aufgaben im Ministerium für Kultur. In: Sonntag, 5. 8. 1956. 26 Börsenblatt (Leipzig) 118 (1951), S. 629.
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beruhte,27 sodass von den Verlagen zeitweise nur 30 % der Papierschecks M 51 P realisiert werden konnten.28 Bei den erfindungsreichen Versuchen des Amtes, irgendwo das benötigte Papier zu beschaffen, stellte sich heraus, dass das Ministerium für Leichtindustrie Rohpapier exportierte, die Zentrag bevorzugt die Parteiunternehmen bediente und das DVK die Chance nutzte, die vom ALV betreuten Privatverlage systematisch zurückzudrängen. Während die DVK-Verlage ihre Produktionspläne regelmäßig übererfüllten, lagen die vom ALV betreuten Verlage 1952 im Durchschnitt nur bei 87 % des Solls, ein Drittel der Verlage mit dem Akademie-Verlag als Schlusslicht blieb sogar unter 60 %.29 Heinrich Becker vom Bibliographischen Institut beklagte die Spannungen, »solange die Verlage themenplanmäßig kulturpolitischen Überlegungen und wirtschaftlich den Prinzipien der industriellen Planung« unterlägen. Man könne aus den Schwierigkeiten nur herauskommen, »wenn wir nicht 2 oder 3 Ämtern, sondern einem Amt unterstellt sind, das sich intensiv mit uns beschäftigt […]. Wir halten es für falsch, daß unser Verlagswesen unter mehreren Herren steht, die sich untereinander nicht koordinieren.«30 Bis das ALV 1956 mit der HV Polygraphie zu einer Hauptverwaltung Verlagswesen im Ministerium für Kultur zusammengelegt wurde, hatte es »keinen Einfluß darauf, ob der Verlag die richtige Papierqualität oder die erforderliche Setzerei und Druckerei zum planmäßigen Termin« erhielt, womit das gesamte Planungsverfahren in Frage gestellt war.31 Mit dem Versagen der Papierkontingentierung erwies sich das wichtigste Instrument des ALV als stumpf, letztlich weil es gar nicht sein Instrument war. Ein klassisches Mittel zentralistischer Steuerung kehrte sich gegen die Zentrale, weil die zuständigen ZK-Stellen gar nicht daran dachten, die entscheidende Waffe moderner Zensurpolitik aus der Hand zu geben, die bereits unter Goebbels sowie in den Händen der vier Besatzungsmächte die ideologische Kontrolle der Buchproduktion ermöglicht hatte. Die Zumessung des Papierkontingents und die Themenplanbestätigung blieben vielmehr bis 1989 die Kandare, an der das ZK die Literaturbürokratie führte. 1955 wurde die Abteilung Verlagsplanung des ALV geschlossen und die Themenplanung der Abteilung Begutachtung übertragen. Ohne Begutachtung glich die Themenplanung ohnehin einem »Stochern im Nebel«, doch sollte die neue Arbeitsbelastung 1956 zu einer deutlichen Lockerung der Zensur, ja beinahe zur Aufhebung des Druckgenehmigungsverfahrens führen. Ende 1957 wurden die Pläne in einer Hauruck-Aktion über den Haufen geworfen, um die Proportionen zugunsten der DDR-Literatur auf Kosten der Titel aus Westdeutschland und dem Kulturellen Erbe zu verschieben.32 Erst mit der Restauration des Zensursystems 1958 wurde auch das Verfahren der Themenplanung auf bleibende Grundlagen gestellt, vor allem die Verfahren zur Einbeziehung der VVB Verlage und des DVK geregelt. Ein Sekretariatsbeschluss des ZK legte für die neue
27 28 29 30 31 32
BArch, DR 1/1918: Aktenvermerk des ALV vom 29. 5. 1952. BArch, DR 1/1870: Materialversorgung betr. Papierzuweisung I. Halbjahr, 15. 7. 1951. BArch, DR 1/1872: Planerfüllung der Verlage 1952. BArch, DR 1/822: Protokoll zur Verlagsleitertagung am 23. 7. 1953. BArch, DY 30, IV 2/9.04/673: Sektor Wissenschaft des ZK, o. D. (1956). BArch, DR 1/1101: Zur Vorbereitung der Themenplanung 1958 (o. D.). Siehe dazu Barck/ Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 81–82.
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Abteilung Literatur und Buchwesen ausdrücklich fest, dass deren »ideologische Anleitung (Themenplanung, Perspektivplanung, Begutachtung der erscheinenden Werke, ideologische Kontrolle der Verlagsentwicklung) für sämtliche Verlage der drei verschiedenen Eigentumsformen (organisationseigene, volkseigene und privatkapitalistische Verlage)« galt.33 1958 wurde auch die Arbeitsweise von insgesamt zunächst 25 erst jetzt so benannten »Literaturarbeitsgemeinschaften« (LAGs)34 festgelegt, in denen 50 fachlich zuständige Ministerien, Organisationen und Institute, allen voran der Deutsche Schriftstellerverband, LKG und Volksbuchhandel sowie das Zentralinstitut für Bibliothekswesen, mit über die Pläne der volks- und parteieigenen (nicht etwa der privaten) Verlage berieten. Während die Themenplanung der Anfangsjahre nicht »dem Leben genügend Spielraum« gelassen hätte, der »Plan zum Dogma« geworden, so die »Entwicklung […] erstarrt« gewesen sei und man »viel Lehrgeld bezahlen« musste, hatte man jetzt ein flexibleres System entwickelt, das zwar komplizierter und zeitaufwendiger war – die Pläne mussten in der Erstfassung von den Verlagen deshalb nicht mehr im Juni, sondern bereits Mitte April eingereicht werden –, aber dafür zweiphasig funktionierte, um die Rückkoppelung mit Verlagsinteressen und leichtere Korrekturen zu erlauben. Neu war auch die Verzahnung von Jahresplanung und längerfristiger Perspektivplanung, die auf der Basis der nach sowjetischem Vorbild 1957 eingeführten Objektkarteien erfolgte, die vor allem eine frühzeitige Valuta-Planung erleichtern sollte.35 Nachdem die Verlage über ein Jahr lang pflichtgemäß für jedes geplante Buchprojekt vier Karteikarten eingereicht hatten, wurde allerdings 1958 in der Literaturbehörde »festgestellt, daß die Arbeit mit der Perspektivkartei infolge Personalmangels bisher nicht möglich war«.36 Der Verleger des Fotokinoverlages, Helmut Bähring, maß dem Perspektivplan, obwohl gern über ihn gespottet wurde, jedoch eine »hohe Bedeutung« bei, weil er die Verleger zwang, »die Terminabläufe der Ersterscheinungen und davon abhängig die Vertragsgestaltung mit den Autoren und Herausgebern« festzulegen. »Je näher die Themenplanjahre lagen, desto konkreter waren auch die Daten.« Zudem sei die HV so veranlasst worden, für die Perspektivplanung die voraussichtlichen Papierkontingente der Folgejahre anzugeben.37 Die Zahl der LAG vermehrte sich noch, für die Belletristik verdoppelte sie sich sogar. Die LAG für Zeitgenössische Literatur teilte sich auf in Arbeitsgemeinschaften
33 BArch, DY 30, IV 2/9.06/17: Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED über die »Veränderung der Arbeitsweise und Vereinfachung der Struktur des Ministeriums für Kultur« (Mai 1958), S. 10. 34 Nawi: Physik, Mathematik, Chemie, Biologie, Geographie, Kartographie, Medizin, Veterinärmedizin, Land und Forst, Grundstoffindustrie, Maschinenbau, Leichtindustrie, Verbindungswesen, Bauwesen, Populärwissenschaften (Sport, Militärwesen); Gewi: Politisch-aktuelle Literatur, Geschichte, Philosophie, Sprachwissenschaften; Schöne Literatur: Kulturelles Erbe, Zeitgenössische Literatur, Kinder- und Jugendbuch, Musik und Musikalien, Kunstliteratur. BArch, DR 1/1246: Karlheinz Selle: Die thematische Planung im Verlagswesen […] Mai 1958. 35 BArch, DR 1/1246: Karlheinz Selle, Die thematische Planung im Verlagswesen, S. 6 und 8. 36 BArch, DR 1/1279: Notizen zur Arbeitsbesprechung am 12. 6. 1958. 37 Bähring: Wie selbständig waren die volkseigenen Verlage?, S. 221.
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für DDR-Gegenwartsliteratur mit dem Mitteldeutschen Verlag als sogenannten Leitverlag, internationale Gegenwartsliteratur (Leitverlag Volk und Welt), Sowjetliteratur (Leitverlag Kultur und Fortschritt) und Westdeutsche Literatur (Leitverlag Aufbau-Verlag), außerdem wurde eine LAG Literaturwissenschaft und Kritik gebildet.38 Die Gründungsprotokolle der LAGs von 1958 dokumentieren heftige Umverteilungskämpfe. In der Belletristik nutzten die Parteiverlage das Forum skrupellos für sich. So wurden in der LAG Kinder- und Jugendbuch zu Gunsten der Pionierliteratur von Kinderbuchverlag und Neues Leben Alfred Holz und Wunderlich je 5 %, Lucie Grossers Altberliner Verlag gleich 15 % abgezwackt. In der LAG Kulturelles Erbe rief der Aufbau-Verlag zur Hatz auf den Insel-Verlag und die Sammlung Dieterich. In der LAG Gegenwartsliteratur schoss man sich auf den Buchverlag der Morgen ein, dessen Kontingent gleich von 85 auf 28 Tonnen gekürzt wurde.39 Die Verlage belauerten einander und denunzierten sich wechselseitig, wenn man nicht streng genug mitzensierte und ein Buch herausbrachte, dass ein anderer Verlag vorher abgelehnt hatte. Die Literaturbehörde errang so eine bequeme Schiedsrichterposition. Dem Autor gegenüber, der fortan nicht mehr leicht zu einem anderen DDR-Verlag ausweichen konnte, nahmen die einzelnen Verlage eine starke Monopolstellung ein, doch waren sie damit offenbar selbst zum konstitutiven Teil eines tief gestaffelten Zensursystems geworden.
Die neue Hauptverwaltung 1963 Mit der Gründung der HV Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur zum 1. Januar 1963 wurde eine stabile Struktur gefunden, die bis 1990 Bestand hatte. Die Abteilung Literatur und Buchwesen wurde mit der VVB Verlage, der Wirtschaftszweigleitung, der die volkseigenen Verlage unterstanden, und der SED-Verlagsholding DVK zur neuen HV zusammengelegt, Volksbuchhandel und LKG wurden ihr unterstellt. Allgemein gesprochen, war jetzt der bislang übermächtige, unmittelbare Einfluss von SEDFirmen auf die staatliche Literaturpolitik gezähmt, eine einheitliche ökonomische und kulturpolitische Anleitung des Buchhandels und der Verlage weitgehend hergestellt. Volksbuchhandel und LKG wurden der SED vom Finanzministerium für 80 Millionen M abgekauft und in Volkseigentum umgewandelt. Die bislang von der SED-Holding DVK geführten großen Buchverlage der SED (Eulenspiegel Verlag, Henschel, Kinderbuchverlag, Mitteldeutscher Verlag, Das Neue Berlin, Verlag Die Wirtschaft, Volk und Welt, Volksverlag Weimar) und der Massenorganisationen (Aufbau, Kultur und Fortschritt, Neues Leben) wurden der HV unterstellt und fortan nicht mehr nur kulturpolitisch, sondern auch ökonomisch von dieser angeleitet, deren Gewinne unter Verrechnung der anteiligen Verwaltungskosten jährlich an die Partei abgeführt.40 Dieser salomonischen Lösung, die die eigentumsrechtliche Situation dieser Verlage gar nicht berührte,
38 BArch, DR 1/1246: Karlheinz Selle: Die thematische Planung im Verlagswesen […], Mai 1958. 39 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 98–100. 40 DY 30 IV 2/9.04–673: Beschluß des Ministerrates über die Bildung einer Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur. Die an das ZK abzuführende Akkumulation der Parteiverlage betrug 1963 ca. 20 Millionen und 1964 ca. 25 Mio. M. Vgl. Westdickenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«, S. 31.
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Abb. 1: Gründung der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel – Bekanntmachung im Börsenblatt, 16. April 1963.
stand zunächst ein Bedenken gegenüber, dass die Höhe der abgeführten Beträge dann nicht mehr parteiintern bliebe. Doch setzte sich bald die Meinung durch, dass der Staatsapparat inzwischen die Gewähr dafür biete, »daß alle Gesichtspunkte der Partei in diesem Zusammenhang beachtet« würden. »Bei entsprechender Organisation dürfte das Problem der Geheimhaltung keine Schwierigkeiten machen.«41 Die Abteilung Wissenschaft des ZK plädierte im Bündnis mit dem Finanzministerium dafür, die Verlage der SED und der Massenorganisationen wie LKG und den Volksbuchhandel in Volkseigentum umzuwandeln. Parteiverlage müssten sonst weiterhin von der Partei geführt werden, und man befürchtete, »bei der bevorstehenden Bereinigung des Verlagswesens immer wieder auf die unterschiedlichen Eigentumsformen kommen« zu müssen.42 Die ZK-Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe bestand hingegen auf der Beibehaltung der Eigentumsform und war mit der Verpachtung ihrer Buchverlage auch nur einverstanden, weil im Gegenzug DVK-Verlage mit vorwiegender Zeit-
41 BArch, DY 30, IV A 2/9.04/471: Vorlage zur Verbesserung der Leitungstätigkeit im Verlagsund Buchwesen der DDR, o. Verf. (Abt. Wissenschaft), 12. 1. 1962, S. 5. 42 BArch, DY 30/ IVa2/9.13/7: Sektor Verlage, Aussprache mit dem Finanzministerium über Verlage, Verlagswesen und Buchhandel, 21. 6. 1962.
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schriftenproduktion ihrer Holding, der Zentrag, unterstellt werden sollten. Dabei handelte es sich um die Verlage Zeit im Bild, Verlag für die Frau, Bauernverlag und Sportverlag sowie um die organisationseigenen Verlage Junge Welt und Tribüne. Auch Eulenspiegel (ohne den Verlagsteil Neues Berlin), Henschel und der Verlag Die Wirtschaft sollten nach dieser Auffassung als Zeitschriftenverlage zunächst nicht der HV, sondern der Zentrag zugeschlagen werden.43 Konsequenterweise gab die HV auch die bisher im Ministerium für Kultur gelegene Zuständigkeit für das Zeitschriftenwesen ganz an die Zentrag bzw. an das Presseamt ab. Für die Verstaatlichung des Volksbuchhandels stellte die Finanzabteilung des ZK zur Bedingung, dass der mit allen möglichen Prämien subventionierte »Vertrieb der Parteiliteratur (Schlüsselliteratur) an die Grundorganisationen der Partei wie bisher durchgeführt und gesichert« werde und die entsprechenden Verluste weiterhin vom Volksbuchhandel zu tragen seien.44 Wenn im Staatsapparat die große Literaturbehörde im Ministerium für Kultur angesiedelt wurde, lag die Möglichkeit auf der Hand, dass auch deren Anleitung im ZK von der Abteilung Kultur übernommen werden könnte. Die Abteilung Wissenschaften betonte deshalb vorsichtshalber, dass auch die technische und wissenschaftliche Literatur im Ministerium für Kultur angeleitet würde und »dieser Teil von der Verlagsproduktion insgesamt der überwiegende« sei.45 Tatsächlich blieb die neue HV Verlage und Buchhandel zunächst der Abteilung Wissenschaften unterstellt. Der Leiter der ZK-Abteilung Kultur, Siegfried Wagner, schlug, um sich ganz auf die Anleitung der Grundorganisationen und die Literaturpropaganda konzentrieren zu können, selbst vor, ihn von der Verantwortung für Verlage und Buchhandel zu entbinden und diese ganz dem Staatsapparat zu überlassen.46 Erst im Juli 1973, zu Beginn der »Ära Höpcke«, wurden Lucie Pflug und ihr Sektor Verlage und Buchhandel der Abteilung Kultur im ZK zugeordnet.47 Beide ZK-Abteilungen waren ohnehin Kurt Hager als dem zuständigen Sekretär der SED-Führung unterstellt. Die Bildung einer so sehr gestärkten HV Verlage und Buchhandel spiegelte letztlich dessen Machtzuwachs, nachdem er sich gegen Konkurrenten wie Alfred Kurella durchgesetzt hatte. Die zum 1. Januar 1963 erfolgende Gründung der HV Verlage und Buchhandel basierte auf einem Politbürobeschluss vom 31. Juli 1962, der im Staatsapparat durch einen Ministerratsbeschluss vom 21. Dezember 1962 umgesetzt wurde. Vom 7. Januar 1963 datiert die von Kulturminister Hans Bentzien unterzeichnete entsprechende Anordnung im Gesetzblatt (Teil II, Nr. 9), die schon bald durch eine Anordnung Nr. 2 über die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel vom 7. März 1963 ergänzt werden musste. Bentzien wurde vom ZK für einen »wenig durchdachten Text« kritisiert, der nichts
43 BArch, DY 30/IVa2/9.13/7: Finanzverwaltung und Parteibetriebe, Änderungsvorschläge zum zweiten Entwurf der Vorlage für das Politbüro, 7. 6. 1962. 44 BArch, DY 30/IVa2/9.13/7: Finanzverwaltung und Parteibetriebe, Änderungsvorschläge zum zweiten Entwurf der Vorlage für das Politbüro, 7. 6. 1962, S. 3. 45 Zitiert nach Westdickenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«, S. 30. 46 BArch, DY 30 IV 2/2.026/90: Siegfried Wagner (Abt. Kultur des ZK der SED) an Alfred Kurella, 31. 3. 1962. 47 Westdickenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«, S. 75.
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über die Beziehungen der HV zu den privaten Verlagen aussage und somit keine Handhabe biete, diese dem Druckgenehmigungsverfahren und der Themenplanung zu unterstellen. Zudem sei die Liste der unterstellten Verlage mit »beispielloser Schludrigkeit und politischem Unverstand« zusammengestellt. Der VEB Landkartenverlag unterstünde gar nicht der HV, sondern dem Ministerium des Innern, und der Volkskunstverlag Reichenbach firmiere schon lange unter »VEB Bild und Heimat«. Neun volkseigene Verlage (Fachbuchverlag, Verlag für Bauwesen, transpress Verlag, Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Deutscher Landwirtschaftsverlag, Edition Leipzig, Hinstorff Verlag, Edition Peters, Urania-Verlag) habe man ganz vergessen. Das waren aber nicht die schlimmsten Fehler: Die Liste führt dort, wo wir bei Verlagen, die unter gleichen Namen in Westdeutschland bestehen und wo durch dortigen Gerichtsbeschluß das Recht auf Führung des Namens in Anspruch genommen wird, aus Gründen des Exports für bestimmte Produktion eine Neubenennung vorgenommen haben, diese Verlage nicht als selbständige Unternehmen, sondern setzt sie in Klammer unter den Ursprungsverlag. Damit wird jetzt amtlich bestätigt, daß z. B. der Verlag Enzyklopädie mit dem VEB Bibliographischen Institut identisch ist. Mit diesem Argument hat bekanntlich das Bibliographische Institut Mannheim die Beteiligung des Verlages Enzyklopädie auf der Buchmesse in Frankfurt/Main unterbunden.
Es sei bedauerlich, »daß der Beginn der Tätigkeit der neuen Hauptverwaltung, die in jeder Weise darauf gerichtet sein sollte, die Autorität des Ministeriums bei den ihm unterstellten Verlagen und buchhändlerischen Einrichtungen zu stärken, durch die hier praktizierte Arbeitsweise schwer belastet«48 werde. Die erste nach außen hin sichtbare Folge der Bildung der HV war ein gründlicher Umbau der belletristischen Verlagslandschaft. Anfang der 1960er waren bereits die volkseigenen Fachbuchverlage umstrukturiert, auch ergänzende neue Verlage wie der Verlag für Grundstoffindustrie, der transpress Verlag und Edition Leipzig geschaffen worden. Für die größeren Belletristikverlage (die kleinen Privatverlage sah man ohnehin auf dem »Absterbeetat«) heckte man in der Literaturbehörde ab Mitte der 1950er Jahre ähnliche Pläne, denen jedoch die kompliziertere eigentumsrechtliche Situation im Wege stand. Während die Zusammenlegung der SED-eigenen Verlage für leichtere Unterhaltungsliteratur Eulenspiegel und Neues Berlin schon 1960 erfolgen konnte, wurde die »Profilbereinigung« von Rütten & Loening, bislang gegen jede erkennbare Logik Volk und Welt zugeordnet, erst nach Wegfall der eigentumsrechtlichen Schranken ein lösbares Problem. Dieses traditionsreichste Aushängeschild unter den parteieigenen Berliner Verlagen, in dem einst der Struwwelpeter, Marx und Engels erschienen waren, der inzwischen beispielsweise Peter Huchels Sinn und Form und die literaturwissenschaftlichen Schriften Hans Mayers publizierte, hatte sich unter der Leitung von Irene Gysi zum führenden Geschichtsverlag der DDR entwickelt. Nun wurde es zum 1. Januar 1964 endlich möglich, das große Geschichtslektorat auszugliedern und in den volkseigenen
48 BArch, DY 30, IV A2/9.04/471: Abt. Wissenschaften (Frommknecht) an Ministerium für Kultur (Hans Bentzien), 15. 2. 1963.
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Deutschen Verlag der Wissenschaften zu überführen.49 Gleichzeitig wurde der belletristische Verlagskern wie auch der auf das klassische Erbe spezialisierte Weimarer Volksverlag, die beide der SED gehörten, in den Aufbau-Verlag des Kulturbunds überführt.50 In Berlin standen jetzt einige Umzüge an: »Der VEB Verlag der Wissenschaften erhält die Räume von dem Verlag Kultur und Fortschritt. Der Aufbau Verlag erhält die Räume vom VEB Verlag der Wissenschaften und der Verlag Volk und Welt die Räume von dem Verlag Rütten & Loening.«51 Hier zog nun Kultur und Fortschritt ein, um bei Volk und Welt das neue Sowjetunion-Lektorat zu bilden. War es eine Zielrichtung der HV-Politik, durch diese Fusion die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (DSF) als Eigentümerin von Kultur und Fortschritt aus dem Verlagsgeschäft abzudrängen, so stellte sich bald heraus, dass deren Verbandsführung ganz im Gegenteil nunmehr auch Anspruch auf den Gesamtverlag erheben wollte und der Meinung war, »daß nach der Zusammenlegung sie für die Herausgabe zeitgenössischer Weltliteratur zuständig sein würde«.52 Nach Einschaltung des ZK legte eine Vereinbarung fest, dass die DSF nur für das sowjetische Lektorat zuständig sei und beschränkte auch ihren Einfluss auf die Themenplanung.53 Der von der DSF gewünschte Verlagsname »Kultur und Fortschritt – Volk und Welt« wurde umgedreht, musste aber noch einige Jahre »aus politischen Gründen«, wie der DSF vom ZK zugesichert, in der klobigen Form »Volk und Welt – Kultur und Fortschritt« beibehalten werden.54 Durch die Plankonzeptionen der HV geisterten so kühne Entwürfe wie die Zusammenlegung des Dresdner Verlags der Kunst mit dem Leipziger Verlag E. A. Seemann,55 die Zuordnung von Hinstorff als einer Filiale zum Mitteldeutschen Verlag, der dem Schriftstellerverband unterstellt werden sollte,56 oder, in der Perspektive, nach geglückter Entprivatisierung, die Zusammenlegung von Reclam mit den Privatverlagen Insel, Sammlung Dieterich und Paul List zu einem »volkseigenen Großverlag« in Leipzig,57 wie er in ähnlicher Form ein Jahrzehnt später statt mit Reclam mit Kiepenheuer realisiert
49 Siehe Kapitel 5.3.1.2 Rütten & Loening (Carsten Wurm) in diesem Band. 50 Siehe Kapitel 5.3.1.1 Aufbau-Verlag (Konstantin Ulmer) in diesem Band. 51 BArch, DR 1/1482: Aktennotiz des Sektors Kader/Arbeit der HV Verlage und Buchhandel vom 9. 10. 1963. 52 BArch, DR 1/7793: HV Verlage und Buchhandel (Bruno Haid) an die Abt. Wissenschaften des ZK der SED, 6. 6. 1963. 53 BArch, DY 32, A 938: Vereinbarung über die gegenseitigen Beziehungen und die Grundsätze der Zusammenarbeit zwischen dem Zentralvorstand der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und dem Verlag Volk und Welt/Kultur und Fortschritt, 2. 1. 1963 (sic). Vgl. dazu den leicht abweichenden Entwurf der DSF vom 5. 11. 1963, BArch, DY 30, IV a 2/ 9.04/482. 54 BArch, DY 32, A 938: Körbel (DSF) an Czollek (Volk und Welt/Kultur und Fortschritt), 25. 11. 1964. 55 BArch, DR 1/7831: HV Verlage und Buchhandel, Abt. Belletristik, Kunst- und Musikliteratur, Vorschlag zur Profilierung der Verlage, 21. 1. 1963. 56 BArch, DR 1/7775: Vorstellungen der Abteilung Literatur und Buchwesen zur Profilierung der belletristischen Verlage, die mit der Leitung des Ministeriums noch nicht beraten wurden. (o. D.) 57 BArch, DR 1/7809: Bruno Haid an Erich Wendt, Profilierung der belletristischen Verlage, 21. 12. 1960 (Entwurf).
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werden sollte.58 Zunächst stand jedoch eher eine Zusammenlegung von Kiepenheuer mit dem Weimarer Volksverlag und dem Arion Verlag, also letztlich mit Aufbau zur Debatte.59 Angedacht wurde auch die Liquidierung von Hinstorff und eine Umbenennung des Mitteldeutschen Verlages sowie von Eulenspiegel/Neues Berlin, wofür allerdings kein einheitlicher, weder thematisch noch geographisch weniger »einengender« Name gefunden wurde.60 Arbeitsteilung und Spezialisierung war, allgemein gesprochen, das Ziel, die »Konzentrierung gleicher und ähnlicher Aufgaben, um jede Art von Nebenentwicklung ausschalten, wissenschaftlich-editorische Arbeitsergebnisse vielfältig nützen und die systematische Erschließungs- und Planungsarbeit weiter verbessern zu können.«61 Solange mehr als 30 Verlage, wobei sporadische Publikationen des Kongreß-Verlages, des GST-Verlages und des Sportverlages nicht einberechnet waren, belletristische Literatur herausgäben, sei die erforderliche Erhöhung des ideologisch-künstlerischen Niveaus nicht zu erreichen.62 Diese »reiche Struktur« entspräche weder »allgemeinen modernen Erkenntnissen« noch der »Aufgabenstellung unserer Kulturrevolution«.63 Angeblich erschien zu viel »Abwegiges, Nebensächliches, Doppeltentwickeltes«. Die Zersplitterung erschwere »jede planmäßige Arbeit und den richtigen Einsatz von Fachkräften in den Lektoraten«, sie behindere »das Herausbilden von Maßstäben« und sei »einem klaren ökonomischen Ergebnis auf die Dauer abträglich, weil naturgemäß Literatur minderer Literatur auf die Dauer nicht absetzbar« sei. Bei mehr als 30 Verlagen sei es nicht zu vermeiden, »daß geschmäcklerische Einflüsse, unkontrollierbare Einwirkungen örtlicher Stellen und verlagsegoistischer Tendenzen und Ziele die kulturpolitische Linie« beeinträchtigten, zumal auch in Verlagen belletristische Literatur erscheine, »wo weder der Verlagsleiter noch der Cheflektor in der Lage« seien, »bestimmenden Einfluß auf die Qualität dieser Literatur auszuüben«. Hinzu kämen ständige Planänderungen, die »Bearbeiter im Ministerium für Kultur« müssten so zwangsläufig »den Überblick verlieren«.64 Monopolverlage sollte es nicht geben, doch rückten die Leitverlage Aufbau und Volk und Welt in eine vergleichbar starke Position. Sie allein sollten fortan noch die für Lizenznahmen benötigten Devisen erhalten. Die Themenplanberatung 1962 legte fest,
58 Siehe Kapitel 5.3.1.4 Die Leipziger Erbe-Verlagsgruppe (Christoph Links) in diesem Band. 59 BArch, DR 1/7809: Bruno Haid an Erich Wendt, Profilierung der belletristischen Verlage, 21. 12. 1960 (Entwurf). 60 BArch, DR 1/7831: HV Verlage und Buchhandel, Abt. Belletristik, Kunst- und Musikliteratur, Vorschlag zur Profilierung der Verlage, 21. 1. 1963. 61 BArch, DR 1/7831: HV Verlage und Buchhandel, Abt. Belletristik, Kunst- und Musikliteratur, Vorschlag zur Profilierung der Verlage, 21. 1. 1963. 62 BArch, DR 1/7775: Vorstellungen der Abteilung Literatur und Buchwesen zur Profilierung der belletristischen Verlage, die mit der Leitung des Ministeriums noch nicht beraten wurden (o. D.). 63 BArch, DR 1/7831: HV Verlage und Buchhandel, Abt. Belletristik, Kunst- und Musikliteratur, Vorschlag zur Profilierung der Verlage, 21. 1. 1963. 64 BArch, DR 1/7775: Vorstellungen der Abteilung Literatur und Buchwesen zur Profilierung der belletristischen Verlage, die mit der Leitung des Ministeriums noch nicht beraten wurden (o. D.).
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dass bei Valutatiteln strengste Maßstäbe anzulegen und sie nur noch Verlagen zu bewilligen seien, »deren spezielles Programm die Herausgabe ausländischer und westdeutscher Literatur« vorsah.65 Im Hinblick auf den anarchischen Wildwuchs, der 1957 im Verlagswesen zu einer schlimmen Valutakrise geführt hatte, als u. a. auch der Mitteldeutsche Verlag und der Verlag der Nation kostspielige Westtitel ins Programm genommen hatten, war das aus Sicht der HV eine notwendige Maßnahme, die jedoch, gestützt auf die Verschwiegenheit einer Handvoll Eingeweihter, in den folgenden Jahren zur Grundlage für den systematischen Plusauflagenbetrug wurde. Die devisenpolitisch privilegierte Sonderstellung der Leitverlage wurde wie folgt begründet. Aufbau und Rütten & Loening hätten »auf Grund ihrer guten Beziehungen zu westdeutschen Autoren die besten Möglichkeiten, fortschrittliche Werke westdeutscher Autoren in der DDR zu veröffentlichen und zu betreuen«. Außerdem sei »es durch diese Verbindungen möglich, Werke unserer Produktion in Westdeutschland unterzubringen.«66 Bei dem Zusammenschluss von Volk und Welt und Kultur und Fortschritt war der Vorteil »nicht in erster Linie bei der Einsparung im Verwaltungsapparat zu sehen, sondern in der Zusammenlegung gleicher, einander bedingender und befruchtender Aufgaben, die sich aus der Erschließung der ausländischen Literatur für den deutschen Leser ergeben. Aus der Beobachtung der sowjetischen Fachliteratur z. B. ergeben sich Anregungen und Maßstäbe zur Verlegung der Literatur der Volksdemokratien und auch des westlichen Auslandes.«67 Eine kenntnisreiche, systematisch betriebene und auch politisch abgesicherte Auswahl der für die DDR geeigneten internationalen Gegenwartsliteratur und auch die Bündelung von Übersetzungskompetenz waren das Anliegen der HV bei der zum 1. Januar 1964 erfolgenden Zusammenlegung von Volk und Welt mit Kultur und Fortschritt. Konkret hoffte man so zugleich einer Produktions- und Absatzkrise bei Kultur und Fortschritt und des Devisennotstands bei Volk und Welt Herr zu werden. Man glaubte, die Literatur junger Nationalstaaten billiger aus dem Russischen übersetzen zu können und wollte auch grundsätzlich keine Devisen für Übersetzungen aus dem Westen ausgeben.68 Dass westdeutsche Literatur im Prinzip nur bei Aufbau und Rütten & Loening herauskommen könne, war leicht festgelegt. Doch gleich gab es wieder die wohlbegründeten Ausnahmen, dass etwa Heinrich Böll unbedingt bei Insel oder der langjährige P.E.N.Präsident Johannes Tralow in seinem Verlag der Nation erscheinen wollten, und Volk und Welt eine repräsentative Anthologie westdeutscher Erzähler fertiggestellt hatte, mit der die Reihe Erkundungen starten sollte.69
65 BArch, DR 1/1239: Protokoll über die Beratung der Themenplananalysen 1963 des Sektors Schöne Literatur am 24. August 1962. 66 BArch, DR 1/7775: Vorstellungen der Abteilung Literatur und Buchwesen zur Profilierung der belletristischen Verlage, die mit der Leitung des Ministeriums noch nicht beraten wurden (o. D.). 67 BArch, DR 1/7831: HV Verlage und Buchhandel, Abt. Belletristik, Kunst- und Musikliteratur, Vorschlag zur Profilierung der Verlage, 21. 1. 1963. 68 BArch, DR 1/1239: Protokoll über die Beratung der Themenplananalysen 1963 des Sektors Schöne Literatur am 24. August 1962. 69 BArch, DR 1/1239: Protokoll über die Beratung der Themenplananalysen 1963 des Sektors Schöne Literatur am 24. August 1962.
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Schon für den Themenplan 1963 wurde auch geprüft, »ob Neuentwicklungen der Verlage Tribüne, Dietz und Deutscher Militärverlag zweckmäßigerweise« an andere Verlage abgetreten werden könnten.70 Diese drei Verlage wurden 1963 per Politbürobeschluss von der Unterstellung unter die HV ausgenommen, durften aber im Gegenzug keine Belletristik mehr produzieren.71 Es war jedoch leichter gesagt als getan, diese Verlage trotz ihrer starken politischen Rückendeckung aus der lukrativen BelletristikProduktion abzudrängen oder wenigstens irgendwie in das engmaschige Kontrollsystem der HV zu integrieren, denn diese Verlage waren, gestützt auf die Autorität der NVA, des FDGB bzw. des ZK, »nicht vorlagepflichtig«. Der Dietz Verlag, durch Krise und Sturz des Verlegers Fritz Schälike gerade geschwächt, musste die Rote Dietz-Reihe abgeben und verlor mit Martin Andersen Nexö und Jaroslav Hašeks Schwejk hochlukrative Objekte an den Aufbau-Verlag. Tribüne, bislang für den Mitteldeutschen Verlag auf dem Bitterfelder Weg eine übermächtige Konkurrenz, musste auf Vertreter der Arbeiterliteratur wie Elfriede Brüning, Herbert Jobst, Hans Marchwitza, Werner Reinowski, Benno Voelkner und Inge von Wangenheim verzichten. Solche Autoren hatten es in den qualitätsbewussten 1960er Jahren nicht leicht, einen neuen Verlag zu finden, und ihre entsprechenden Beschwerden im ZK ließen sich leicht durch den Hinweis auf deren schwer verkäufliche Restbestände im LKG abschmettern. Auch die Produkte der Zirkelarbeit mit jüngeren schreibenden Arbeitern ließen sich kaum noch in großen Verlagen veröffentlichen.72 Der Militärverlag wehrte sich und ließ sein Programm im Politbüro von Erich Honecker bestätigen.73 Er durfte auch weiterhin »Militärbelletristik« herausbringen, wozu praktisch jeder Roman gehörte, in dem ein Gewehr vorkam. Insgesamt modernisierte und verwissenschaftlichte sich die Arbeit der HV in den 1960er Jahren auf verschiedene Weise, nicht nur im Hinblick auf die Zensur, sondern auch in der Planungsarbeit. Zensurentscheidungen waren durch ihnen zugrunde liegende Konzeptionen zu legitimieren. Das Beiratswesen erfuhr einen ungeahnten Aufschwung, die Dinge ruhten in kollektiver Beratung und in den Akten lagerten sich kybernetische Modelle ab. Bereits 1968 untersuchte eine Arbeitsgruppe welche »kulturellen Prozesse
70 BArch, DR 1/1239: Protokoll über die Beratung der Themenplananalysen 1963 des Sektors Schöne Literatur am 24. August 1962. 71 BArch, DY 30, IV a 2/2024/5: Hausmitteilung der Abteilung Wissenschaften für Kurt Hager, 30. 7. 1963. 72 Vgl. Geladaris: Auf dem Bitterfelder Weg!? 73 Vgl. BArch, DY 30, IV A2/2024/5: Hausmitteilung der Abteilung Wissenschaften an Kurt Hager, 30. 7. 1963: »Der Verlagsleiter des deutschen Militärverlages teilte Genossin Pflug mit, daß entgegen dem Politbürobeschluß vom 30. Juli 1962 der Militärverlag weiter Belletristik herausbringen wird auf Grund der Bestätigung eines vom Verlag erarbeiteten Programms durch den Genossen Honecker. Da die Abteilung Wissenschaft für die Durchführung des Politbürobeschlusses verantwortlich ist, bitten wir um Mitteilung, ob eine Aufhebung des Punktes I 2h in diesem Beschluß ›Der Dietz Verlag, der Verlag Tribüne und der Deutsche Militärverlag unterstehen politisch-ideologisch und ökonomisch dem ZK der SED, dem Bundesvorstand des FDGB und dem Ministerium für Nationale Verteidigung. Diese Verlage stellen ab 1964 die Produktion von Belletristik ein‹ für den Deutschen Militärverlag erfolgt ist.«
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künftig von der Datenverarbeitung« durch den Robotron 400 erfaßt werden könnten, und in den Verlagen experimentierte man mit Tastomaten.74 Sitz der HV blieb ein »altes häßliches Haus«75 (Christa Wolf) in der Clara-ZetkinStraße 90, der heutigen Dorotheenstraße, das noch in den 1980er Jahren im Winter kaum zu beheizen war. Auch der 123 Mitarbeiter umfassende Stellenplan – fünf Kraftfahrer und vier Putzfrauen mitgezählt – blieb, abgesehen von einer Mitte 1966 erfolgenden Aufstockung auf 142 Mitarbeiter, bis zur Auflösung der Behörde zum 31. Januar 1990 im Wesentlichen intakt.76 Ende der 1960er Jahre wurde jedoch eine »Analysegruppe« eingerichtet, und 1980 wurden drei Stellen beantragt, um die Anleitung der Außenhandelsfirma Buchexport zu gewährleisten.77 Die Abteilung Literatur und Buchwesen hatte zuvor 67 Mitarbeiter, die VVB Verlage 41 und der DVK 41, insgesamt waren das 144. Durch die Fusion sparte man immerhin 21 Stellen, wobei der als E 2 eingruppierte DVK-Direktor sogar mehr verdient hatte als der neue HV-Chef Bruno Haid (E 3 = 1.880 M). Ein Abteilungsleiter (E 5) verdiente monatlich 1.610 M, ein Hauptreferent (I A) 1.012,50 M. Die für die HV eingeplante benötigte Lohnsumme betrug jährlich 1.166.134 M statt zuvor 1.343.337 M, eine Ersparnis von 177.203 M.78 Die HV bestand, ihrem ersten Stellenplan79 folgend, aus der Leitung, vier Abteilungen (Schöne Literatur, Kunst- und Musikliteratur; Wissenschaftliche Literatur bzw. Wissenschaftliche und Fachliteratur; Literaturverbreitung und Literaturpropaganda; Ökonomie), zwei Sektoren (Kader und nichtlizenzpflichtige Druckerzeugnisse) sowie der Hauptbuchhaltung (nebst Finanzkontrolle und Berichterstattung). Dem HV-Leiter Bruno Haid (1912–1993) waren neben dem Justitiar und dem »Bibliothekar für Belegexemplare, Verschlußliteratur« ein »Hauptsachbearbeiter für Auslandsreisen und Optionen« und ein »Hauptreferent für die Koordinierung der Auslandsarbeit und der westdeutschen Arbeit der HV, des Buchhandels, der Verlage und des Börsenvereins, Zusammenarbeit mit dem Deutschen Buch-Export und -Import«, insgesamt zehn Stellen zugeordnet, darunter auch drei Sekretärinnen und Haids wissenschaftliche Assistentin Erika Thormann, die Termine, Sitzungen und den Schriftverkehr organisierte. Erna Tamm übernahm die Leitung der Abteilung Literaturverbreitung und Literaturpropaganda mit zwölf Planstellen. Ein Haupt- und ein Oberreferent betreuten das gesamte öffentliche Bibliothekswesen. Der Hauptreferent für die »Organisation und Technik des Groß- und Einzelhandels« war ein wichtiger Ansprechpartner für LKG und
74 BArch, DR 1/16451: HV-Leitung, Protokoll der Dienstbesprechung am 27. 8. 1968. 75 Christa Wolf: Tagebuchauszüge, 27. 12. 1969. In: Drescher (Hrsg.): Dokumentation zu Christa Wolf, S. 210. 76 Vgl. zum Folgenden Marschall-Reiser: Einleitung zum digitalen Findbuch des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde. 77 BArch, DR 1/16458: Abt. Literaturverbreitung und Propaganda: Zur Organisation der ExportImport-Tätigkeit nach der Unterstellung des Volkseigenen Außenhandelsbetriebes BUCHEXPORT […], 9. 12. 1980. 78 BArch, DY 30, IV 2/9.04/673, Bl. 188–189: Nachweis über Planstelleneinsparung bei der Bildung der HV Verlage und Buchhandel. 79 BArch, DY 30, IV 2/9.04/673, Bl. 179–189: Stellenplan der HV Verlage und Buchhandel (Anlage zum Ministerratsbeschluß vom 21. 12. 1962).
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Abb. 2: Bruno Haid, Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, überreicht Franz Fühmann am 19. Dezember 1968 in der Deutschen Staatsoper Unter den Linden eine Auszeichnung im Rahmen des 17. Preisausschreibens zur Förderung der Kinder- und Jugendliteratur. Foto: Bundesarchiv/ADN, Joachim Spremberg.
Volksbuchhandel, ein weiterer Hauptreferent für »fremdsprachige Literatur, Dietzliteratur und Schlüsselliteratur« zuständig, also für die gehörige Verbreitung sowjetischer und politischer Schulungsliteratur und das weitgespannte Netz der entsprechenden Vertriebsagenten, der »Literaturobleute«. Für den gesamten Bereich »Antiquariat, Musikalienund Kunstbuchhandel«, der neuerdings durch Sonderbeilagen im Börsenblatt gefördert wurde, war hingegen nur ein Oberreferent vorgesehen. Dem »Fachgebietsleiter für Literaturpropaganda« war ein Hauptreferent zugeordnet, der sich speziell um die Zusammenarbeit »mit Presse, Rundfunk, Fernsehen, Film« zu kümmern hatte, doch gab es auch noch Referenten für Werbung sowie für »Messen und Ausstellungen«. Bruno Haid sah es gewiss nicht gern,80 dass Kurt Schmitt, der vormalige Hauptdirektor der VVB Verlage, mit dem er sich gründlich verzankt hatte, auf höhere Weisung die Abteilung Ökonomie übernahm. Dort saß sonst die Mehrzahl der von der VVB Verlage und vom DVK übernommenen Mitarbeiter, entweder im 17 Stellen umfassenden Sektor Planung (u. a. mit Oberreferenten für Finanzplanung, »Material und Investitionen«, »Arbeitskräfteplanung«, »Produktionsplanung und Planmethodik«, »Produktionsplanung und Erarbeitung von Verflechtungsbilanzen«, »Absatz und Exportplanung
80 BArch, DR 1/7775: Hausmitteilung Bruno Haid an Erich Wendt, 24. 9. 1962.
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Verlage und Umsatzplanung des Groß- und Einzelhandels sowie Erarbeitung der Verflechtungsbilanzen«, »Kontingente polygraphischer Erzeugnisse, Verteilung und Kontrolle der Papierverwendung durch Papierschecks«) oder in den zwei Fachabteilungen für Technik und Herstellung bzw. für Ökonomische Grundsatzfragen, wo u. a. ein Hauptreferent für Preise und Preiskontrolle zuständig war. Die bis 1986 von Karlheinz Selle geleitete Abteilung Wissenschaft bzw. Wissenschaftliche und Fachliteratur mit 21 Planstellen setzte sich aus den ehemaligen Sektoren Gewi (Gesellschaftswissenschaft) und Nawi (Naturwissenschaft) zusammen, ergänzt durch das Fachgebiet Literaturbeschaffung, das für wissenschaftliche Buchbestellungen von Westliteratur, »Literatureinfuhr und Kontrolle« und die Postzeitungsliste zuständig war. Hier gab es Fachgebietsleiter für »Naturwissenschaften, Medizin, Biologie«, »Technik und Landwirtschaft, Berufsaus- und Weiterbildung, Sportliteratur«, »Geschichte, Ökonomie und Staat und Recht« sowie für »Philosophie, Sprachwissenschaften, Sprachlehrbücher, Exportliteratur«, welchem der »Hauptreferent für Kirchenfragen« zugeordnet war, eine Funktion, die lange Jahre von Mara Marquardt ausgeübt wurde. Auch für die Populärwissenschaften gab es einen eigenen Hauptreferenten. War die »Gewi« zuvor auch für die Kunst- und Musikverlage zuständig, so wurden diese 1963 in der HV der mit 23 Mitarbeitern größten Abteilung »Schöne Literatur, Kunst- und Musikliteratur« zugeschlagen. Diese wurde zunächst von Anneliese Kocialek, 1974 bis 1979 von Gerhard Dahne, danach von Klaus Selbig und zuletzt, seit 1986, von Karlheinz Selle geleitet. Am knappen personellen Zuschnitt von zwei, drei Mitarbeitern für Themenplanung und Begutachtung der Fachgebiete Kulturelles Erbe (u. a. Günther Thews), Ausländische Literatur und Jugend- und Kinderliteratur hatte sich seit den 1950er Jahren wenig geändert. Ein wenig großzügiger mit vier Mitarbeitern waren die Fachgebiete Deutsche Gegenwartsliteratur und »Literaturwissenschaften und Kritik« ausgestattet. Da gab es z. B. einen Hauptreferenten für »Literaturwissenschaften und Literaturgeschichte, Ästhetik, Begutachtung«. Ein weiterer Hauptreferent unterhielt den Kontakt zu literarischen Gesellschaften und Verbänden wie dem DSV, ein Oberreferent war für Ehrungen, Gedenktage und das Institut für Literatur Johannes R. Becher zuständig. Durch die klare Profilierung gestalteten sich die Kontakte der Fachabteilungen zu den Verlagen einfacher und regelmäßiger. Die Abteilungen Belletristik und Wissenschaftliche und Fachliteratur begannen damit, Verleger und Cheflektoren alljährlich zu gemütlichen Seminaren, nach Friedrichshagen, Wiepersdorf oder zum Schwielowsee einzuladen. Das Verhältnis zwischen der HV und ihren Verlagen nahm geradezu familiäre Züge an.81 Die Verlage wurden auch zunehmend von ehemaligen, häufig degradierten HV-Mitarbeitern regiert wie der Insel-Verlag von Hans Klähn, Volk und Welt von Jürgen Gruner, der Mitteldeutsche Verlag von Eberhard Günther, Eulenspiegel/ Das Neue Berlin von Wolfgang Sellin, der Verlag der Kunst von Klaus Selbig und der Altberliner Verlag von Gerhard Dahne. Solche Verleger kannten bestens die harten Spielregeln, wussten aber auch jederzeit die richtigen Wege und Tricks, um etwa umstrittene Manuskripte durchzubringen, an zusätzliches Papier oder an Devisen zu gelangen. Sie konstituierten ein homogenes Milieu, das es zwingend macht, die Geschichte der HV Verlage und
81 Baier: Verlegergespräche am Schwielowsee.
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Buchhandel nicht getrennt von ihren Verlagen zu betrachten, und das gilt in besonderem Masse auch für die Geschichte der Zensur.
Kriterien der Zensur Kennzeichnend für die Geschichte der Buchzensur in der DDR war ein Auf und Ab, ein typisches Zickzackspiel in der Abfolge von »ideologischen Offensiven« der SED bzw. Frostperioden und Tauwetterphasen. Während als typische Frostperioden die Phasen vom Beginn des Kalten Kriegs 1948 bis zum »Neuen Kurs« im Juni 1953, vom 30. Plenum des ZK der SED im Frühjahr 1957 bis zur Bitterfelder Konferenz 1959 sowie die Jahre nach dem »Kahlschlag«-Plenum im Dezember 1965 und der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 anzusehen sind, dürfen vor allem die kurzen Phasen der Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 bzw. nach deren XXII. Parteitag 1961, nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 sowie nach dem XI. Schriftstellerkongress 1987 als ausgesprochene Tauwetterschübe gelten. Öffentlich wahrnehmbar wurde dieses Wechselspiel nicht zuletzt durch die Tätigkeit der Zensurbehörde. Der Einbruch einer neuen Frostperiode, das gilt aber auch, wenn man an die Entsorgungsaktionen stalinistischer Literatur 1956 und 1961 denkt, für den Wechsel zu Tauwetterphasen, war in der Regel durch spektakuläre Buchverbote markiert, was übrigens keineswegs heißen soll, dass es nicht auch in »normalen« Phasen zur Verweigerung einer Druckgenehmigung oder kleineren Diskussionen und Kampagnen kommen konnte. Jederzeit konnten »oben« im ZK Wolken aufziehen und an der Peripherie der Blitz der Zensur einschlagen. Umgekehrt sah die Literaturbehörde im Interesse der Verleger ihre Aufgabe immer wieder auch darin, kontrazyklisch zu wirken, dass möglichst Verträge eingehalten und Kompromisse gefunden wurden, etwa nach dem »Kahlschlag«-Plenum im Dezember 1965, als der Leiter der Literaturbehörde, Bruno Haid, versöhnliche Einzelgespräche mit angezählten Autoren wie Stefan Heym oder Wolf Biermann zu führen versuchte.82 Die öffentliche politische Signalfunktion von Büchern war wegen der medientypischen Zeitverzögerung eingeschränkt, weil von der Publikationsentscheidung bis zur Publikation mehrere Jahre vergehen konnten. So wurden wichtige Titel der sowjetischen Tauwetterliteratur von 1956 erst 1958 übersetzt und fielen dann gleich der folgenden Frostperiode zum Opfer. Aktuellere Signale boten in Verlagskreisen und unter Schriftstellern die umlaufenden Gerüchte über stockende »problematische« Titel. Im Großen und Ganzen milderten sich die Kriterien der Zensur mit den Jahrzehnten, bis die Bücher sogar der Ort für kritische gesellschaftliche Diskussionen werden konnten. Jenseits aller dramatischen Wechsel in der ideologischen Großwetterlage ist in der longe durée also ein klarer Trend zu größerer Toleranz und Öffnung im Sinne von »Weite und Vielfalt« zu erkennen. Paradoxerweise war die Durchsetzung dieses Trends großenteils eine aktive Leistung der Zensurbehörde, in der schließlich Kenner und Freunde der Literatur wirkten, die geschickt ökonomische Interessen vorzuschieben verstanden. Wiederholt versuchte die Behörde sogar, ihr eigenes Druckgenehmigungsverfahren ganz abzuschaffen, wie das etwa 1956 und 1989, in Ansätzen auch Anfang der 1970er Jahre der Fall war. Eine andere Frage ist, welche Folgen eine solche Aufhebung
82 Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 221.
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des Druckgenehmigungsverfahrens, deren Stopp 1956 von der Verhaftung des AufbauVerlegers begleitet wurde und die 1989 nicht mehr wirksam werden konnte, langfristig für die Verlage gehabt hätte. Denn gerade dieses berüchtigte, Schriftsteller und Lektoren quälende Verfahren bot auf der anderen Seite den Verlagen auch gesetzlichen Schutz, wenn wieder einmal das Pendel ausschlug, sowie verlässliche Produktionsbedingungen. Der Ort marktfremder zensurpolitischer Eingriffe war nicht die Literaturbehörde, also das ALV oder später die HV Verlage und Buchhandel, sondern »oben«, im ZK der SED, wenn nicht in Moskau zu suchen, der illegitime »vierte Zensor«.83 Bezogen darauf stellte das Druckgenehmigungsverfahren eine flächendeckende Prophylaxe gegen solche allfälligen Willkürentscheidungen dar, eine dosierte Impfung durch aufmerksame Begutachtungsverfahren und der riskanten politischen Verantwortung wohlbewusste Entscheidungen, die den verlegerischen Produktionsprozess erst auf sichere Grundlage stellten. Solche pragmatischen Tendenzen waren dem Amt allerdings keineswegs in der Wiege gesungen. Allgemein lässt sich sagen, dass die erste Frostperiode 1947/48 zu Beginn des Kalten Krieges einsetzte, als es umgekehrt auch in den Westzonen zu Verboten von Literatur aus der SBZ kam. Das ALV wurde im Doppelpack mit der Staatlichen Kunstkommission im September 1951 auf der Bugwelle einer ideologischen Offensive gegründet, auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen den Formalismus in »Kunst und Literatur«. Damit verbunden war, wie der Amtsleiter Fritz Apelt im November 1951 auf der Ersten Verlegerkonferenz deutlich machte, ein entschieden antiamerikanischer Impuls gegen westliche »Kitschliteratur« und amerikanische Reißer, der umgehend in Kampagnen zur »Säuberung« der Leihbüchereien umgesetzt wurde. Das ALV wollte sich »auf allen Gebieten der Literatur mit aller Kraft gegen die amerikanische Kulturbarbarei mit ihren Gangsterund Kriminalgeschichten, ihrer sensationslüsternen, schmutzigen Erotik und Perversität in der sogenannten ›Belletristik‹, ihrem Mystizismus, ihrem Formalismus und ihren zutiefst unwissenschaftlichen Irrlehren des Rassismus und Kosmopolitismus wenden«, alles ein »Ausdruck des Zerfalls, der Fäulnis, der Lüge und der Dekadenz«, deren »unheilvollen Einfluß auf die Volksmassen zu bannen, ihr eine Literatur des Aufstiegs, des lebensnahen Realismus, der entschiedenen Parteilichkeit für die Sache des Volkes«84 entgegenzustellen, die Aufgabe sei. Prägend für die Literaturpolitik in der Belletristik wurde die Orientierung an der Romantheorie von Georg Lukács. Dessen im »bürgerlichen Erbe« der Goethezeit verwurzeltes, über Balzac zu Thomas Mann fortschreitendes Realismus-Konzept postulierte einen Kanon, der ziemlich genau dem Programm des frühen Aufbau-Verlags entsprach. Diese Konzeption, die, vermittelt durch einen agitatorisch gewendeten Katharsis-Begriff, erstmals erlaubte, ästhetische und gesellschaftliche Entwicklungen im marxistischleninistischen Sinn zu verknüpfen, gewann in der Nachkriegszeit ihre durchschlagende Geltung, weil sie zugleich der SED-Bündnispolitik mit bürgerlichen Kräften und den volkserzieherischen Intentionen der Literaturpolitik entsprach. So fand sich mit wissenschaftlicher Begründung ein breit popularisierbares Buchprogramm. Die polemische Stoßrichtung dieser in den folgenden Jahrzehnten allerdings immer weniger eng inter-
83 Loest: Der vierte Zensor. 84 Erste Verlegerkonferenz des Amtes für Literatur, S. 7.
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pretierten Form von »sozialistischem Realismus« richtete sich von Anfang an explizit gegen die Repräsentanten der literarischen Moderne in ihrer spätbürgerlichen »Dekadenz«, allen voran James Joyce, Franz Kafka, Robert Musil und Marcel Proust, gerade weil diese nicht einem breiten Massengeschmack entsprechen konnten, und auch aus genau diesem Grund gegen die kommunistischen Vertreter einer modernen »Materialästhetik« wie John Heartfield, Hanns Eisler oder Bert Brecht.85 Typisch für die frühen Jahre des ALV waren zielgerichtete Kampagnen wie etwa im April 1952 »zur Ausmerzung pazifistischer Tendenzen« im Rahmen des »Friedenskampfes«. Während die parteieigenen und volkeigenen Verlage ihre Produktion selbst daraufhin durchkämmten, kam eine solche Vorgehensweise bei den Privatverlagen nicht in Betracht. Hier machte sich das ALV selbst an das Werk einer möglichst diskret vorzunehmenden Untersuchung. Die privaten Verlage erhielten ein »unverfängliches Schreiben«, in dem ganz allgemein nach Restbeständen an Büchern gefragt wurde. Dass sich so nebenbei auch ein »Einblick in den Ablauf des Vertriebs« ergab, galt als willkommener Nebeneffekt der Kontrollaktion. »Das HL Belletristik überprüfte genau die angeführten Bücher und suchte sich diejenigen heraus, bei denen sich pazifistische Tendenzen vermuten ließen. Das waren im Ganzen ungefähr 35 Titel, die nun in kollektiver Arbeit mit allen qualifizierten Mitarbeitern unseres Amtes nochmals gelesen wurden.« Im Resultat fanden sich nach all diesem Aufwand ganze zwei Titel, Wolfgang Johos Hirtenflöte bei Insel und der Verlagsrückblick Vierzig Jahre Kiepenheuer, von denen jeweils noch über 3.000 Exemplare auf Lager waren. Dann stellte sich heraus, dass das ALV gegenüber Privatverlagen über keinerlei Handhabe verfügte, die Bücher zu beschlagnahmen. Einen Auslieferungsstopp konnte man den Verlagen nur »nahelegen«. Die ganze Aktion war also für die Katz.86 Als pure Energie- und Papiervergeudung ist auch die hauptsächlich auf dem Rücken von Rütten & Loening ausgetragene Kampagne zur Durchsetzung einer kurzlebigen »patriotischen Literatur« über den antinapoleonischen Freiheitskampf und das preußisch-russische Bündnis nach Tauroggen anzusehen.87 Es kursierten Listen mit den Namen von Renegaten und aktuellen Opfern der stalinistischen Schauprozesse, deren Werke keinesfalls publiziert, vielmehr in den Bibliotheken ausgemustert werden und deren Namen auch nicht erwähnt werden sollten. Für von Ulbricht abservierte kommunistische Führer wie Franz Dahlem und Paul Merker war die Aufnahme in solche Listen und ihre damit verbundene rituelle Ausradierung aus dem Gedächtnis der Partei ein letzter Tritt.88 Schließlich ging es aber auch Ulbricht wie Stalin nicht besser. Das Entscheidungszentrum, um diese gefürchtete Damnatio Memoriae durchzuführen, offenbar ein schwer verzichtbarer Hebel der von der SED-Führung gesteuerten innerparteilichen Kommunikation, war aber nicht das untergeordnete ALV, sondern das Politbüro, welches sich zur Ausführung auf das Institut für Marxismus-
85 Mittenzwei: Gesichtspunkte; Mittenzwei: Der Streit zwischen nichtaristotelischer und aristotelischer Kunstauffassung. 86 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 33–34. 87 Vgl. Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur. 88 Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 34.
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Leninismus (IML) beim ZK der SED verließ, das die Tradition der Partei modelte und behütete.89 Wie schwierig es sein kann, die nur hin und wieder schriftlich fixierten Kriterienlisten der Zensur für bare Münze zu nehmen, zeigt das Jahr 1953, als die Anweisungen von »oben« mehrfach gleich wieder über den Haufen geworfen werden mussten.90 Die Erfahrungen des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 zeigten, dass man niemanden zwingen könne, »etwas zu lesen, was ihm nicht gefällt, und daß wir Menschen nur beeinflussen und entwickeln können, wenn wir sie auf der Stufe und in einer solchen Form ansprechen, daß sie sich mit uns auseinandersetzen, daß wir sie überhaupt erreichen.« Deshalb brauche man eine ostdeutsche Version des Readers Digest und der Grünen Post, forderte der stellvertretende Amtsleiter Karl Böhm. »Das alles natürlich fortschrittlich, in unserem Sinne wirkend, aber ohne daß das in jeder zweiten Zeile nachdrücklich mitgeteilt wird.«91 Resultat solcher Überlegungen war die Gründung der Wochenpost. Die Zeitschriftenabteilung des ALV lizenzierte in der Folge weitere publikumsfreundliche Blätter wie Eulenspiegel, Das Magazin und den DDR-Comic Mosaik. Die Abteilung Belletristik des Amtes vollzog unter anfangs erheblichen »Bauchschmerzen« den Durchbruch zum Krimi, zur utopischen und Abenteuer-Literatur, wie sie besonders im Verlag Das Neue Berlin entwickelt wurde.92 Das Genre der Heimatliteratur wurde entdeckt. Belletristische Heimatliteratur wurde Hinstorff, die naturwissenschaftliche dem Neumann Verlag und Anthologien deutscher Landschaften dem Verlag der Nation zugesprochen. Heimatkalender sollte Petermänken, Bildbände der Sachsenverlag herausbringen. Die Landkartenproduktion wurde mit dem Fläming als Grenze zwischen dem Bibliographischen Institut bzw. Brockhaus (südlicher Teil) und dem Landkartenverlag (nördlicher Teil) aufgeteilt.93 Es begann ein gesamtdeutsch akzentuiertes Programm etwa mit »Strombüchern« über den Main oder die Werra, und auch grenzüberschreitende Harzbücher wurden gefördert. Verlage mit Westkontakten wurden 1954 ermuntert, diese auszubauen. Das betraf vor allem den Verlag der Nation, wo Irmgard Keun, Johannes Tralow, Dinah Nelken, Hans von Oettingen, Johannes Mario Simmel und Hans Traxler erschienen. Der Mitteldeutsche Verlag brachte 1956 Wolfgang Koeppens Der Tod in Rom, Das Neue Berlin 1955 Döblins Berlin Alexanderplatz. Dieser »gesamtdeutsche« Kurs in der Belletristik, sonst war es üblich gewesen, Valuta nur für die lebenswichtige wissenschaftliche Literatur auszugeben, hatte 1957 eine schwere Devisenkrise zur Folge.94 Und die Zensur verfuhr jetzt auch deutlich laxer. Man legte Wert darauf, von der »Methode das Administrierens, der Beckmesserei und des kleinlichen Herangehens« abzukommen, die leider »in der Natur der Begutachtungsarbeit« lägen. 1954 habe man sich aber von dieser Tendenz befreit, »indem die Kollegen ständig angehalten worden sind, grundsätzlich an das ganze Manuskript heranzugehen.« Vor allem verbesserte sich
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Lokatis: Der rote Faden, S. 15–19. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 34–36. BArch, DY 30, IV 2/9.06/265: ALV (Böhm) an ZK der SED (Just), 15. 7. 1953. Siehe Kapitel 5.3.1.9 Verlag Das Neue Berlin (Sabine Theiß) in diesem Band. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 37–38. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 63–64.
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die Zusammenarbeit mit wichtigen Verlagen, »die Kenntnis über ihre Lage hat sich erweitert und vertieft und uns in den Stand gesetzt, differenzierter und konkreter die Verlagsarbeit zu beraten.«95 Allerdings entwickelte sich diese Zusammenarbeit von Verlag zu Verlag höchst unterschiedlich. Am Dietz Verlag störte seine »sowieso sehr undisziplinierte Arbeitsweise«, und der Verlag der Nation galt als »Schmerzenskind«: Leider besteht trotz starker Bemühungen des Amtes kein kollegialer Kontakt. Auch kommt uns hin und wieder zu Ohren, daß das Amt in Verhandlungen mit jungen Autoren als Zensurstelle behandelt wird. Viele Verhandlungen des Verlages, vor allem auch mit westdeutschen 96 Autoren laufen in einem Dunkel, das der Verlag nicht erhellt haben will.
Als die Abteilung Begutachtung 1955 die neue, zusätzliche Aufgabe der Themenplanung übernahm, verbesserte das die Chancen, das einzelne Manuskript »im Zusammenhang mit den gesamten Publikationen auf dem jeweiligen Literaturgebiet und im Zusammenhang mit der Einschätzung der gesamten Verlagsplanung«97 zu begutachten. Jeder Zensor der Abteilung erhielt entsprechend seinem Themengebiet eine kleine Anzahl Verlage zugewiesen, die er regelmäßig besuchte, deren Pläne und Probleme er kennen zu lernen hatte, die er inspizierte und beriet. Die Abteilung Begutachtung war jedoch längst ohnehin überfordert von allen möglichen Sonderaufgaben. Sie sollte regelmäßig die Importlisten von Buchexport und die Mitdruckaufträge aus dem Westen kontrollieren, für Buchausstellungen Exponatlisten liefern und zu Valutaanträgen Stellung nehmen. Eine Liste solcher Sonderaufgaben umfasste nicht weniger als 19 Punkte.98 In den fünfziger Jahren stützte sich die Behörde noch auf einen kleinen Stab von »linienfesten«, politisch zuverlässigen Außengutachtern, die in der Regel die NS-Zeit im Konzentrationslager verbracht hatten, wie etwa Carola Gärtner-Scholle, Arno Hausmann, Paul Friedländer, Christfried Coler, Helmuth Stöcker und Erich Schreier, ein gelernter Bildhauer mit von der Folter zerschlagenen Händen, die er zum Schreiben in einer Schlinge halten musste. Diese Namen tauchen unvermeidlich unter den Belletristik-Gutachten der fünfziger Jahre auf. Jeder hütete bestimmte Spezialgebiete und pflegte seine typischen Marotten. Insgesamt hatte das Belletristik-Lektorat 1954 und 1955 nicht mehr als 28 Titel verboten. In den beiden Jahren wurden aber immerhin 2.039 Manuskripte eingereicht, wovon 1.188 Erstauflagen waren.99 Auf dem IV. Schriftstellerkongress im Januar 1956 geriet das ALV trotzdem unter heftige Kritik. Wolfgang Joho sprach von den »schwarzen Männern«, vor denen man künftig keine Angst mehr haben solle. Ralph Giordano klagte, »mit welcher Frechheit sich die erbärmlichste Prüderie als sittenstrenge Gouvernante des Sozialismus« aufspielen dürfe. Weltliteratur sei meist nicht »nach den Vorstellungen der Leiterin eines Mädchenstifts« gemacht, erläuterte Stephan Hermlin, und Bücher wie Koeppens Der Tod in
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BArch, DR 1/1108: Einschätzung der Arbeit der Abteilung Begutachtung, 5. 4. 1955. BArch, DR 1/1892: Bericht über die Erfüllung der Arbeit des HL Belletristik im Jahre 1954. BArch, DR 1/1108, Einschätzung der Arbeit der Abteilung Begutachtung, 5. 4. 1954. Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 44. BArch, DR 1/1896: HR Belletristik: Umlauf an alle Lektorate, 19. 12. 1955.
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Rom müssten erscheinen, auch wenn sie nicht in allen Punkten den »Moralbegriffen eines Lektors« entsprächen.100 Das ALV nahm den Schriftstellerkongress zunächst als Anregung, die eigenen Begutachtungskriterien zu verfeinern und stärker Gesichtspunkte der Rezeption in die Bewertung einzubeziehen. Im Lektorat muß sich in der Beurteilung insofern eine Wende vollziehen, daß man von der abstrakten Beurteilung des ideologischen Gehalts übergeht auf die stärkere Betrachtung der ideologischen Wirkung eines Manuskriptes, d. h., daß die ideologische Aussage in ihren Einzelheiten durchaus richtig sein kann, in ihrer Gesamtwirkung evtl. das Gegenteil erreicht, das 101 bedeutet einen stärkeren Kampf gegen den Schematismus in der Literatur zu führen.
Die Hauptlehre des XX. Parteitags der KPdSU (1956) war hingegen für das ALV, die »berüchtigte Zitatenkrankheit« »auszumerzen«, wovon vor allem die Stalin-Zitate betroffen waren, was aber jedenfalls besonders für die wissenschaftliche Literatur ein leserfreundlicher Vorsatz war.102 Auch der folgende Versuch, die Zensur, das Druckgenehmigungsverfahren komplett abzuschaffen,103 war letztlich eine Folge des XX. Parteitags der KPdSU. Das ALV war jedoch selbst schon länger daran interessiert, um der Arbeitsüberlastung ein Ende zu machen. Von ihren beiden Hauptaufgaben schien der Abteilung Begutachtung die Themenplanung wichtiger, das Kleinklein der Begutachtung galt hingegen als praktizistische Hemmung. Erst ab Sommer 1956 wurde die Literaturbehörde unter dem Namen »HV Verlagswesen« dem Ministerium für Kultur eingefügt, und schon zum 1. Oktober sollte die Zensur abgeschafft werden. Da eine Zensur, die man hätte abschaffen können, offiziell gar nicht existierte, griff man zu einer Sprachregelung, die auch 1988 wieder bemüht werden sollte. Demnach lautete das Ziel der Reform, die Verantwortung der Verlage zu erhöhen. Die Initiative wurde von dem neuen Leiter der HV Verlagswesen, Karl Hagemann, dem ehemaligen Verlagsdirektor vom Volk und Wissen Verlag auf den Weg gebracht.104 Am 8. November teilte Karl Böhm den Verlegern die bevorstehende Regelung mit: Aufhebung des Druckgenehmigungsverfahrens für Bücher und Broschüren. Demnächst erhalten die Verlage die Mitteilung, daß in Zukunft die Verantwortung für die Verlagserzeugnisse der Verlagsleiter selbst trägt. Es findet keine Vorprüfung der Manuskripte mehr statt. Druckgenehmigungen werden nicht mehr erteilt. Das Papierkontingent wird aufgrund des bestehenden Planes global zugeteilt und vom Verlag selbst verwaltet. Rundschreiben mit Verfahrensan105 weisungen erfolgt in den nächsten Tagen.
100 Vgl. Franke: Die Literatur in der DDR, S. 69–73. 101 BArch, DR 1/2055: Protokoll über die Arbeitsbesprechung Abtl. Künstl. Literatur am 19. 1. 1956. 102 BArch, DR 1/2055: Protokoll der Arbeitsbesprechung der Abteilung Wissenschaften, 14. 3. 1956. 103 Zum Folgenden ausführlich: Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 52–60. 104 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 53. 105 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie (Akademie-Verlag) 154: Vertrauliche Mitteilung des Verlagschefs Koven, 12. 11. 1956.
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Auch die Valuta-Kontingente würden in Zukunft en bloc zugeteilt und durch die Verlage selbst verwaltet. Die Tätigkeit der Hauptverwaltung werde auf eine gründliche Planberatung und Planbestätigung beschränkt. Einige Verlage nutzten die kurze Frist mit dem neuen Spielraum. Der Mitteldeutsche Verlag machte sich an eine Wolfgang-Borchert-Ausgabe und die Romane Koeppens, von denen nur Der Tod in Rom erscheinen konnte, die Druckgenehmigungsanträge für Das Treibhaus und Tauben im Gras wurden nicht mehr realisiert. Kultur und Fortschritt wagte eine Abenteuergeschichte von Karl May, die für 25 Jahre dessen einzige Schrift in der DDR bleiben sollte, In Abrahim Mamurs Gewalt (1958), einen Auszug aus Durch die Wüste. Der Verlag war sich zwar des »Problematischen des Unternehmens bewußt«, gab aber trotzdem Satiren Michail Sostschenkos (Der verborgte Ehemann, 1957) heraus. Im Aufbau-Verlag konnten drei Titel von Ernest Hemingway wie Über den Fluß und in die Wälder (1957) erscheinen. Doch schon schlug die politische Großwetterlage wieder um. Die Reform basierte darauf, dass die politisch zuverlässigen Verlage inzwischen reif genug seien, um als selbstständige, eben »verantwortliche« ideologische Zentren zu wirken. Mit der Verhaftung des Verlegers Walter Janka und seines Cheflektors Wolfgang Harich am 6. Dezember 1956 entfiel diese Voraussetzung.106 Ganz abgesehen davon, dass sich beide ebenfalls für die Abschaffung der Zensur eingesetzt hatten, galten Verlage damit als latente Herde der Konterrevolution. Kurz vor Weihnachten bedauerte Oskar Hoffmann, dass sich die HV Verlagswesen in Sachen Druckgenehmigung »zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht festlegen« könne, deren Aufhebung stünde aber »nach wie vor auf der Tagesordnung«.107 Obwohl Walter Ulbricht schon im Januar 1957 auf dem 30. Plenum des ZK unter dem Motto, man müsse nicht alle Blumen blühen lassen, zum Kampf gegen den »Revisionismus« und zur ideologischen Offensive blies, hielt die HV soweit, wie es eben ging, am Reformkurs fest. Das war auch kaum anders möglich, weil für 1957 die entsprechenden Planstellen gestrichen worden waren. Die HV Verlagswesen erleichterte den Verlagen das Leben mit einer großzügigen Nomenklatur, welche Titel nicht mehr vorlagepflichtig seien. Freigestellt wurden z. B. die von den Klassen der Akademie der Wissenschaften befürworteten Schriften des Akademie-Verlags, die Lexika, Künstlerbiographien und briefmarkenkundliche Werke des Bibliographischen Instituts, Böhlaus Monumenta Germaniae Historica und das komplette Programm des VEB Fachbuchverlages. Unzensiert erschienen fortan neben unveränderten Nachauflagen sprachliche Textausgaben, Wanderliteratur, die Gewerkschaftsliteratur des Verlags Tribüne und die im Zentralverlag publizierten Gesetzbücher. Sogar für Kirchenliteratur gab es Erleichterungen. Bibeln, Gesangbücher, Katechismen sowie alle rein theologisch-wissenschaftliche Literatur wurden automatisch genehmigt. Die im Kontrast zur verfinsterten ideologischen Großwetterlage bemerkenswert liberale Handhabung offenbaren die von der HV ausgeteilten entsprechenden Blankoformulare, mit denen der Verleger sich selbst die Druckgenehmigung ausstellen konnte.108 In den Zensurakten, auf den Antragsbögen
106 Siehe Kapitel 5.3.1.1 Aufbau-Verlag (Konstantin Ulmer) in diesem Band. 107 BArch, DR 1/1064: Protokoll der 14. Dienstbesprechung der HV Verlagswesen am 18. 12. 1956. 108 Vgl. bis hierhin zur Zensurreform Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 52–60.
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des Jahres 1957, stößt man deshalb auf die paradoxe Besonderheit, dass Bücher zuerst genehmigt wurden und der Antrag danach erst bei der Behörde einging. Im Januar 1957 wurden von 145 eingereichten gesellschaftswissenschaftlichen Manuskripten nicht mehr als zwölf in der Literaturbehörde überprüft. Vom Verlag Die Wirtschaft wurden mit einem Schlag, ohne irgendeine zentrale Kontrolle, 22 Manuskript genehmigt, vom Zentralverlag 46 und vom Akademie-Verlag 41,109 darunter Jürgen Kuczynskis Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Sozialdemokratie, das Karl Liebknechts bislang totgeschwiegene Zustimmung zu den Kriegskrediten als logische Konsequenz sozialistischer Parteidisziplin aufmachte und einen öffentlichen Tumult auslöste. In der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft hagelte es Verrisse.110 Im März 1957 wurde die HV im ZK auffällig, als ein Reisebericht des Mitteldeutschen Verlags über Jugoslawien angehalten werden musste, der »eine Reihe von Ausfällen gegen die Sowjetunion« enthielt. Die schuldigen Zensoren konnten sich nicht mehr erinnern und wurden als Strafe zur Führung von Arbeitsbüchern verpflichtet.111 Dann setzte ein Tsunami rigoroser disziplinarischer Eingriffe, »ernster« Auseinandersetzungen und Revirements ein, in dessen Ergebnis das Verlagswesen nach dem Tauwetter wieder »auf Linie« gebracht wurde. Der Verlag Neues Leben hatte aus dem großformatigen Pflichtpräsent zur Jugendweihe Weltall, Erde, Mensch ein Vorwort entfernt, das von Walter Ulbricht stammte. So erfuhr Ulbricht »von dem alten Brauch in den Verlagen, 30–50 Seiten von einem Manuskript zu lesen, um sich darüber klar zu werden, ob das gedruckt wird oder nicht.«112 Außerdem musste der bereits in der Presse vorabgedruckte Roman Herz und Asche. Band 2 von Boris Djacenko mit »antisowjetischer Konzeption« angehalten werden, der erstmals die Vergewaltigung durch Soldaten der Roten Armee beim Einmarsch in Deutschland thematisiert hatte, der größte Tabubruch überhaupt. Zwei Lektoren und der stellvertretende Verlagsleiter wurden entlassen, der Verlagsleiter Bruno Peterson und der Cheflektor Wolfgang Sellin erhielten schwere Parteistrafen.113 Im populärwissenschaftlichen Urania-Verlag wurde nach der Republikflucht des Verlegers und seines Cheflektors die Produktion durch einen »Brigadeeinsatz« auf »ideologische Bolzen« geprüft. Man stellte im Verlag ein »ideologisches Vakuum« fest, im Lektorat tummelten sich ehemalige Nazi-Lehrer und eine Großbauerntochter, sodass das Papierkontingent von 340 auf 200 Tonnen gekürzt werden musste.114 Es begann, auch in Auswertung einer Kulturkonferenz im Oktober 1957, auf der Alfred Kurella die Bekämpfung der »Dekadenz« eingeläutet hatte, die »Aktion Köhler«. Die verlässlichsten Verleger wurden »unter besonderer Betonung der Vertraulichkeit« versammelt, um »mit ihren politisch stärksten Mitarbeitern (Cheflektoren, Parteisekretär usw.)« selbst die Zensurarbeit nach den neuesten Kriterien durchzuführen und das eigene Programm nochmals durchzukämmen. Die Privatverlage wurden von der HV übernom-
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BArch, DR 1/1244: Statistik für Gesellschaftswissenschaften (Januar und Mai 1957). Kuczynski: Frost nach dem Tauwetter, S. 90 ff. Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 59. BArch, DY 30, IV 2/9.04/684, S. 77: Kurt Hager an Walter Ulbricht, 13. 12. 1957. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 79–80. Siehe auch Kapitel 5.3.1.2 Verlag Neues Leben Berlin (Andreas Parnt) in Band 5/2. 114 Lokatis: Der rote Faden, S. 125.
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men und gebeten, Fahnenabzüge der aktuellen Produktion zu schicken. Zurückzuhalten waren Bücher, die a. b. c. d.
schädliche Tendenzen feindliche Tendenzen Verherrlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Westdeutschland und in den imperialistischen Ländern, 115 Verherrlichung der Rassenideologien [aufwiesen].
Als wichtigstes Ergebnis der Aktion galt, »daß besonders den Genossen Verlagsleitern der Blick für die Parteilichkeit der Literatur geschärft wurde« und sie fortan den Rat der HV »für die Klärung bestimmter ideologischer Fragen« suchen würden.116 Dass im Dezember 1957 auch gleich noch der Themenplan für 1958 umgeworfen wurde, vor allem um Westtitel zu streichen, die nicht der »Bewußtseinsbildung« dienten, war aus Sicht der HV purer Dilettantismus und löste bei den Privatverlagen Panik aus. Hatte es bislang genügt, wenn Bücher »nicht schädlich« waren, so sollten sie jetzt also »nützlich« sein. Dieterich fragte, ob in Zukunft überhaupt noch Titel des Kulturellen Erbes verlegt werden könnten, und Insel antwortete auf den »Vorschlag«, Titel zurückzustellen sarkastisch: »Ja, natürlich, bis zum Jahre 1965«.117 So ging es in den nächsten Monaten weiter, und es findet sich nicht leicht ein Verlag, der frei von Blessuren davonkam. Im Verlag der Nation provozierte ein Manuskript Vilmos Korns den NDPD-Parteivorstand, der im Sommer nicht weniger als 24 Gutachter von der Leine ließ, um das Verlagsprogramm durchzuackern. Im Ergebnis dieser Großuntersuchung wurde Franz Fühmanns als Kulturchef der Partei abgelöst.118 Laut der liberalen Nomenklatur von Frühjahr 1957 mussten die sowjetischen Titel des Verlags Kultur und Fortschritt nicht mehr zur Druckgenehmigung eingereicht werden, sondern wurden vom Verlagsleiter Heinz Mißlitz verantwortet, ein »gefallener Engel«, der als ehemaliger Mitarbeiter des ZK als politisch zuverlässig gelten konnte. Der nutzte seinen Spielraum für umstrittene Titel wie Pawel Nilins GPU-Roman Ohne Erbarmen (1958) und Vera Panowas Verhängnisvolle Wege (1957), die ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten. Im Frühjahr 1958 erlitt jedoch eine Ausgabe der berühmten Erzählungen Isaak Babels nach regen Diskussionen im Verlag Schiffbruch, und im Herbst wurden vier Titel per Sekretariatsbeschluss der DSF gestrichen, zudem ein Titel von Granin angehalten. Jedes Engagement erfror und im Verlag herrschte »ideologische Windstille«.119 Bei Rütten & Loening löste Ernst Niekischs Reich der niederen Dämonen die Krise aus. Auch Walter Markovs Festschrift zum 200. Geburtstag Robespierres, Maximilien
115 BArch, DR 1/1244: Bräutigam an Fritz, 14. 11. 1957. 116 BArch, DR 1/1082: Abschlußbericht der HV Verlagswesen zu den […] Maßnahmen der Überprüfung der Verlagsproduktion, 23. 12. 1957. 117 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 82–83. 118 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 108–118. 119 BArch, DY 32, IV 9.04, A 1131: BGL an Verlagsleitung 11. 6. 1960. Vgl. zur Zensurkrise bei Kultur und Fortschritt Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 116– 126.
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Robespierre (1958), und eine von Kuczynski herausgegebene Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit (1958) wurden eingezogen. Der Cheflektor Hanns-Ulrich Kloock wurde entlassen, der Verlagsleiter Hermann Lewy kehrte der DDR den Rücken.120 Im Verlag Tribüne eskalierte der »Fall Jonas«. Die Oral History-Studie des Kuczynski-Schülers Wolfgang Jonas, Erlebnisberichte der Mansfeld-Kumpel, wurde von den Mansfelder Kumpeln zerfetzt.121 Im Kongreß-Verlag hatte das Vorwort zu einem Buch über Auschwitz, Die Todesfabrik von Ota Kraus und Erich Kulka, die Entlassung des Verlegers zur Folge. Darin stand tatsächlich zu lesen, man überlasse es anderen, das Fortbestehen von Konzentrationslagern zu rechtfertigen, eine deutliche Anspielung auf den Gulag. Das Buch wurde eingezogen, der erste Bogen ausgetauscht und fortan mussten alle Bücher über Konzentrationslager dem Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer vorgelegt werden.122 Im Unterschied zur späteren HV Verlage und Buchhandel war die Literaturbehörde bis 1963, als diese Aufgabe an das Presseamt abgegeben wurde, auch für die Lizenzierung und Anleitung der Zeitschriften zuständig. Das machte Sinn, denn 1952 wurden von damals 220 Zeitschriften 193 in Buchverlagen herausgebracht. 1963 publizierten 44 Buchverlage Zeitschriften, die meisten erschienen im Akademie-Verlag, im Fachbuchverlag und bei den Verlagen der FDJ. Die Modezeitschriften lagen im Verlag für die Frau, Der Kleintierzüchter, Der Hund und die Deutsche Kaninchenzucht im Bauernverlag, Rennkurier, Fußballwoche und Deutscher Angelsport im Sportverlag, Architektur- und Filmzeitschriften bei Henschel. Neun Zeitschriften erschienen in acht reinen Zeitschriftenverlagen, wofür die Weltbühne das bekannteste Beispiel darstellt, und 18 in Institutionen und Betrieben.123 Die Gesamtzahl der Zeitschriften erhöhte sich zunächst auf 350 (1954), schließlich auf 543 (1989).124 Das ALV versah die Kontrolle der Zeitschriften mit drei Planstellen, von denen nur zwei besetzt werden konnten, zudem stand für die Begutachtung nur ein Etat von 8.000 DM zur Verfügung. Das Amt delegierte deshalb die Zensurfunktion. Bei der Zulassung einer neuen Zeitschrift musste vor allem die regelmäßige Papierversorgung gesichert, der gesellschaftliche Bedarf geprüft, für eine zuverlässige verantwortliche Redaktion gesorgt, eine Institution ausgeguckt werden, die die Programmplanung kontrollierte und die Nachzensur erledigt werden. Erste Aufgabe war zu definieren, was eigentlich als »echte Zeitschrift« in den Arbeitsbereich des Amtes gehörte. Mitteilungsblätter wie Der Schriftsteller und Organisationsblätter wurden beispielsweise sofort ans Presseamt abgegeben, Periodika wie die Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften der Buchproduktion zugeordnet, Die Leipziger Messe und Rätselzeitungen einzeln druckgenehmigt. Das ALV veranstaltete Konferenzen der Redakteure der Mode- und Bauzeitschriften, organisierte die Überführung von Zeitschriften aus dem Fachbuchverlag in den Verlag Die Wirtschaft, begutachtete
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Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 216 und 218. Lokatis: Der rote Faden, S. 94–95. BArch, DR 1/3790: Ota Kraus, Erich Kulka, Die Todesfabrik. BArch, DR 1/1871: ALV an das ZK der SED Abt. Propaganda (Mißlitz), Stichworte für den Bericht über das Amt für Literatur und Verlagswesen, 6. 12. 1952. 124 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 19.
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Westzeitschriften für die Aufnahme in die Postzeitungsliste. Es lizenzierte die Zeitschrift für Fischverarbeitung, verhandelte über die Gründung einer Bäder- und einer Drogistenzeitschrift und plante sogar eine gesamtdeutsche Harzzeitschrift.125 Einige der berühmtesten DDR-Zeitschriften wie Das Magazin, der Eulenspiegel und die Wochenpost entstanden im Zuge des »Neuen Kurses« von 1953, und so verwundert es nicht, dass gerade diese dem Frosteinbruch von 1957/58 zum Opfer fielen. Im Sommer 1957 begann die HV mit einer systematischen Überprüfung der Zeitschriften sowie mit einer Übersicht der gesellschaftlichen Verankerung der »Verantwortlichkeiten«.126 Wer beim Sonntag 1957 dabei war, als »die Köpfe rollten«, blieb davon »gezeichnet« und »lebenslang erschüttert«.127 Schon die Verhaftung Harichs am 29. 11. 1956 hatte die Beschlagnahme eines Einzelhefts der Zeitschrift für Philosophie zur Folge und damit den »vollständigen Abbruch einer bis dahin durchaus noch hoffnungsvollen Entwicklung der jungen marxistischen DDR-Philosophie in Gestalt ihres einzigen Fachorgans«.128 Bald mussten angesehene Chefredakteure wie Fritz Klein von der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft,129 Herbert Sandberg von der Bildenden Kunst,130 Heinz Schmidt vom Eulenspiegel,131 Rudi Wetzel von der Wochenpost,132 aber auch die Namenspatronin der Frauenzeitschrift Sibylle, Sibylle Gerstner,133 aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen ihre Stühle räumen. Der Aufbau, in dem 1956 der Vorabdruck von Ehrenburgs Tauwetter erschienen war, wurde 1958 einstellt,134 Huchels Sinn und Form von Kurt Hager öffentlich auf der Kulturkonferenz 1957 abgekanzelt. Ulbricht selbst kritisierte auf dem 35. Plenum des ZK die »bürgerliche Dekadenz« des Magazins.135 Das Studentenblatt Forum wurde von der Abteilung Wissenschaft des ZK an die Kandare genommen, und »der Spielraum der Redaktion verengte sich beträchtlich«.136 Auch die Sowjetwissenschaft und die Frau von heute gerieten unter Beschuss.137 Im Sommer 1956 hatte die Parteiführung die umstrittensten Beiträge von Jürgen Kuczynski, Fritz Behrens und Kurt Vieweg zum
125 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 19–20. 126 BArch, DR 1/1115: Rundschreiben der HV Verlagswesen vom 8. 7. 1957. 127 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S 323–324 (FritzJochen Kopka). 128 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 434–445 (HansChristoph Rauh). 129 Klein: Dokumente aus den Anfangsjahren der ZfG (1953–1957). 130 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 281 (Beatrice Vierneisel). 131 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 88 und 108 (Sylvia Klötzer). 132 Vgl. Holzweißig: Zensur ohne Zensor, S. 144. 133 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 343 (Uwe Schoor). 134 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 350–359. 135 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 198 und 201 (Eva Badstübner). 136 Schuster: Wissen ist Macht, S. 156. 137 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 222 ff. (Heide Damaschun, Andreas Noack, Inge Schubert) und S. 132–133 (Gunilla-Friederike Budde).
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»Meinungsstreit« selbst in Auftrag gegeben, im August den Leitartikel des »theoretischen Organs« der SED, der Einheit, sogar die neue Diskussionskultur der Zeitschrift für Philosophie, der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft als vorbildlich herausgestellt. Im Winter wurden dann mit dem Wirtschaftswissenschaftler Behrens und dem Landwirtschaftsfachmann Vieweg zwei Experten zum Schweigen gebracht, die Fred Oelßner zur Kritik an Ulbrichts Wirtschaftspolitik angespornt hatten. Ihre Abstrafung signalisierte der Parteiöffentlichkeit, wer die Zügel in der Hand behalten hatte.138 Selbst die Einheit wurde jetzt unter Revisionismus-Verdacht gestellt, weil sie »falsche« Artikel gebracht und der von Ulbricht entmachteten »fraktionellen Gruppe Schirdewan-Wollweber« eine »Plattform« geboten habe. Der Chefredakteur Hans Schaul konnte aber nachweisen, dass die weit überwiegende Zahl der seit Anfang 1957 abgelehnten 126 Artikel wegen »revisionistischer Erscheinungen« abgewiesen worden war, nur ganz wenige wegen ihres »dogmatischen Charakters«.139 Die Zensur exekutierte den Kurswechsel also im Stil einer Dampfwalze, die die berühmten hundert Blumen des Tauwetters zerquetschte. Verglichen mit dieser Wucht war selbst das »Kahlschlag«-Plenum von 1965 ein Kinderspiel, zumal die Kampagne auf einem dumpfen Resonanz-Boden tobte. Den Funktionären steckte die Angst der Stalin-Zeit in den Knochen, und es genügte, ihnen die verrostet geglaubten Instrumente zu zeigen. Man kann die Normalität des DDR-Literatursystems nicht verstehen und bewerten, wenn man es nicht von seinem Ausnahmezustand her denkt, von dem Schock von 1957/58, der die Spielregeln tief einprägte. Konstitutive Schlüsselphänomene wie die unnachgiebige »Verantwortlichkeit« der Verleger und Chefredakteure, deren ausgeprägte Vorsichtshaltung und die typische Bereitschaft zur vorauseilenden Selbstzensur finden hier ihre Ursache. Im Februar 1958 diskutierte die Belletristik-Chefin der HV Luise Kraushaar mit ihren Referenten Helmut Elsholz, Hans Klähn und Horst Wandrey darüber, welche Möglichkeiten noch beständen, »um Enge und Dogmatismus zu vermeiden«.140 Doch nach Karl Böhm wurden noch im Frühjahr die Lektoren Wandrey und Karl Blasche entlassen, und Luise Kraushaar folgte ihnen wenig später. Auch Oskar Hoffmanns Tage waren gezählt. Jetzt erklärte er den Abbau der Begutachtungsfunktion für einen Fehler: Man habe nicht erkannt, »daß diese Funktion ein prinzipielles Erfordernis der Diktatur des Proletariats ist, besonders in Anbetracht der unmittelbaren Nachbarschaft der imperialistischen Welt. Auf der gleichen Linie lag die falsche Meinung, daß Demokratisierung auf Kosten des Zentralismus vor sich gehen könne.«141 Am 16. April 1958 verabschiedete die HV Verlagswesen eine verschärfte »Nomenklatur für die Vorlage von Manuskripten zur Begutachtung und Druckgenehmigung«. Das Einreichen eines satzfertigen Manuskripts und (mindestens) zweier Gutachten, wurde zur Regel, von denen eins ein resümierendes »Verlagsgutachten« sein sollte. Die ein Jahr zuvor den Verlagen ausge-
138 Lokatis: Der rote Faden, S. 121–122. 139 Barck/Langermann/ Lokatis (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«, S. 592–601 (Lokatis). 140 BArch, DR 1/1070: Arbeitsbesprechung der Abt. Schöne Literatur, Musik und Kunst, 4. 2. 1958. 141 Oskar Hoffmann. Börsenblatt (Leipzig), 125 (1958), S. 339.
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teilten Blankodruckgenehmigungen wurden wieder eingezogen. Weder Manuskripte aus den »Bruderländern« noch unveränderte Nachauflagen wurden fortan noch unbesehen genehmigt, die revisionistisch kontaminierten Jahrgänge 1956 und 1957 gleichsam unter Quarantäne gestellt und der Nachkontrolle unterworfen. Eine Liste von insgesamt acht Büchern, die zwar »nicht zurückgezogen wurden, aber heute, in Auswirkung des V. Parteitags zum Druck nicht zugelassen würden«, umfasste u. a. Titel von Ernest Hemingway, Jean-Paul Sartre, Alberto Moravia und Arnolt Bronnen, die inzwischen als »dekadent« eingestuft wurden.142 Die »Kommission zur Untersuchung der literaturverbreitenden Institutionen« schlug vor, »die in den Jahren 1956/57 zerfallene Abteilung Begutachtung wieder herzustellen«. Die einschlägige Passage der Vorlage für das Sekretariat des ZK lautete: In der neuen Hauptabteilung Literatur und Buchwesen ist die ideologische Anleitung der Verlage, ihrer Planung und Perspektivplanung zu verbinden mit der Wiederherstellung einer zuverlässig funktionierenden ideologischen Kontrolle (Begutachtung) aller Verlagserscheinungen. Die Lehren aus dem Kampf mit dem Revisionismus und Liberalismus in den letzten zwei Jahren erfordern die Schaffung einer politischen und personell stärker besetzten Begut143 achtung in dieser Hauptabteilung.
Die hier geforderte »Wiederherstellung« der Begutachtung in der neuen Abteilung Literatur und Buchwesen des Ministeriums für Kultur (zu einer Hauptabteilung mit entsprechend höheren Einstufungen reichte es nicht) erfolgte für die beiden Säulen der Zensur allerdings auf höchst unterschiedliche Weise. Die von Karlheinz Selle verantwortete Begutachtung der wissenschaftlichen und Fachliteratur144 delegierte ihre Aufgabe nach Kräften an die thematisch einschlägigen Institutionen und Ministerien. Sie übernahm im Prinzip eine mehr koordinierende Funktion, und ihr Aufgabenfeld war entsprechend verschachtelt strukturiert. Auf die beiden wichtigsten und auch vom Papieraufkommen her entschieden größten Verlage, auf den Dietz Verlag und auf Volk und Wissen, hatte die Literaturbehörde ohnehin wenig Einfluss. Sie waren ähnlich wie der Militärverlag und (für gewerkschaftliche Literatur) der Verlag Tribüne, neuerdings auch der VEB Fachbuchverlag, wie zeitweise auch der Domowina-Verlag im Rahmen des Druckgenehmigungsverfahrens nicht »vorlagepflichtig«. Über die Publikationen des Dietz Verlags wurde unmittelbar im ZK entschieden, und die Zensurhoheit über den Schulbuchverlag Volk und Wissen hatte sich das Volksbildungsministerium vorbehalten. Nur wenn diese Verlage Belletristik oder literaturwissenschaftliche Texte planten, mussten sie das mit der Zensurbehörde abstimmen. Wie genau mit welchen Publikationen des AkademieVerlages umzugehen sei, der im Hinblick auf höchste Autorität seiner Wissenschaftler, aber auch auf die Exportstärke Freiraum beanspruchen konnte, forderte nicht weniger Fingerspitzengefühl als die strenge Zensur der Kirchenverlage. Hauptgeschäft von Selles Sektor »Wissenschaftliche und Fachliteratur« wurde jedoch einerseits die »Störfreima-
142 BArch, DR 1/1318: Abt. Schöne Literatur (Baum) an Elsholz, 26. 8. 1958. 143 BArch, DY 30, IV 2/9.06/17: Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED über die »Veränderung der Arbeitsweise und Vereinfachung der Struktur des Ministeriums für Kultur« (Mai 1958, S. 197). 144 Vgl. Lokatis: Der rote Faden, S. 133–138.
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chung«, die systematische Ablösung westdeutscher Fachliteratur durch entsprechende Titel aus der DDR und den Volksdemokratien, andererseits der Umbau des wissenschaftlichen Verlagswesens zur Verstärkung der Ausbildungs- und der populärwissenschaftlichen Literatur, auch die Gründung neuer Verlage. 1960 entstanden so der Deutsche Verlag für Grundstoffindustrie, der transpress Verlag und Edition Leipzig. Hingegen wurde die Belletristik-Zensur großzügig ausgebaut. 1952 war die gesamte Belletristik im ALV von nicht mehr als zwei Referenten begutachtet worden. In der Abteilung Literatur und Buchwesen waren hingegen 1960 nicht weniger als zwölf »politisch verantwortliche« Mitarbeiter allein für die Schöne Literatur zuständig. Die Referate für DDR-Literatur (Helmut Elsholz, Rudi Fritz, Marianne Richter) und ausländische Literatur (Hans Klähn, Gerhard Dahne, Bruno Jacob) zählten je drei »politische Kräfte«, Kinder- und Jugendbuch (Anneliese Kocialek, Ursula Kühn) deren zwei, Literarisches Erbe (Günter Thews) und Literaturwissenschaft (Werner Jahn) je eine. Hinzu kamen der damalige Sektorleiter Manfred Häckel und sein Stellvertreter Egon Rentzsch. Unterstützt wurden sie von einem Stab, der 32 Gutachter umfasste, darunter so profilierte Kenner wie Christa Wolf und Walter Heisig.145 In der 1963 gebildeten HV Verlage und Buchhandel umfasste die Abteilung »Schöne Literatur, Kunst und Musikliteratur« sogar 23 Planstellen. Diese Vermehrung war weitgehend darauf zurückzuführen, dass die Kunst- und Musikverlage zwischen 1958 und 1962 zunächst direkt von den einschlägigen Abteilungen im Ministerium für Kultur angeleitet und die entsprechenden Planstellen ab 1963 in die fortan zuständige HV Verlage und Buchhandel überführt wurden. Auch der Ausbau der Belletristik-Zensur von 1958 war auf Blutzufuhr aus dem Ministerium zurückzuführen, dessen von Werner Baum geleitete »Hauptabteilung Schöne Literatur« mit der Zensurbehörde zusammengelegt wurde. Sie war vorher zuständig für den Kontakt zum Deutschen Schriftstellerverband, die Vergabe von Literaturpreisen, für die Förderung des schriftstellerischen Nachwuchses und die Betreuung des Instituts Johannes R. Becher in Leipzig. Mit deren Übernahme durch die Literaturbehörde wurde zugleich ein Herd fortwährender Querelen aus der Welt geschafft, die vor allem die Themenplanung erschwert hatten. Somit potenzierte die Abteilung Literatur und Buchwesen ihre Zugriffsmöglichkeiten auf die schöne Literatur. Sie vereinigte jetzt »die schöpferische Unterstützung der Schriftsteller, die Anleitung des Verlagswesens, des Buchhandels und der Bibliotheken, die Förderung der Kinder- und Jugendbuchliteratur und das ganze Gebiet der Literaturpropaganda«.146 Die Bitterfelder Konferenz im April 1959 wurde in der Literaturbehörde mit Skepsis betrachtet, sie war auch nicht in deren Vorbereitung einbezogen, die das ZK direkt übernahm, unter Federführung des neuen Kulturpapstes Alfred Kurella (»Kulturella«) und Otto Gotsches. Gotsche, die rechte Hand Walter Ulbrichts, funktionierte eine Tagung seines Hausverlags, des Mitteldeutschen Verlages, zu einer programmatischen Konferenz um, die unter der Parole »Greif zur Feder, Kumpel!« den »Bitterfelder Weg«
145 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 93–94. 146 BArch, DY 30, IV 2/9.06/17: Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED über die »Veränderung der Arbeitsweise und Vereinfachung der Struktur des Ministeriums für Kultur (Mai 1958).
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der schreibenden Arbeiter proklamierte. Das Konzept, in den Betrieben Arbeiterschriftsteller zu rekrutieren und als Nachwuchsautoren zu schulen, andererseits aber auch, gestandene Schriftsteller in die Produktion zu schicken, um den sozialistischen Aufbau zu schildern, war keineswegs neu, und die Literaturbehörde verfügte längst über die traurige Erfahrung, dass es um den Absatz solcher Produktionsromane schlecht bestellt war. Infolge der desaströsen Devisenbilanz, weshalb ja eben erst Zensoren entlassen worden waren, verfügte die »Abteilung Literatur und Buchwesen« über keine Argumentationsbasis, um das folgende Desaster eines literaturpolitischen Autarkiekurses zu verhindern. Die Auswirkungen des Bitterfelder Weges lassen sich an der Papierstatistik leicht ablesen. Der Anteil der sozialistischen Gegenwartsliteratur am »Papierkuchen«, wie sie hauptsächlich im Mitteldeutschen Verlag, bei Tribüne und Dietz erschien, wurde von 778 t (1958) auf 1.974 t (1961) erhöht, wobei insgesamt nur etwa 3.000 Tonnen für Belletristik zur Verfügung standen. Das Papier wurde bei der »kritisch-humanistischen Literatur des Auslands« und beim »Kulturellen Erbe« abgezogen, was dramatische Versorgungslücken zur Folge hatte.147 Hingegen hatte allein der Mitteldeutschen Verlag 1961 den Planposten »Bestände an Fertigerzeugnissen« mit 247,5 % übererfüllt und die unverkäuflichen Bestände waren auf 2,2 Millionen M gewachsen. Für Tribüne wurde errechnet, dass der Vorrat an Gegenwartstiteln 80 Jahre reichen würde,148 und die DietzLiteratur bildete noch ungleich größere Halden, die die Lager des LKG verstopften. Im Sommer 1962 wurden infolge der Absatzkrise die laufenden Pläne zusammengestrichen. Das Kontingent des Dietz Verlages wurde von 5.800 Tonnen auf 1.339 Tonnen reduziert, dessen Durchschnittsauflage von 100.000 auf 17.000 Exemplare gesenkt.149 In der Belletristik betraf die Hälfte der Kürzungen den Mitteldeutschen Verlag, der einen Ausfall im Umfang von 1 Mio. M zu beklagen hatte. Als Grund für die Absatzprobleme wurden genannt eine »falsche Einschätzung der Absatzmöglichkeiten und Umschlagzeit« für »anspruchsvolle Literatur«, die »Veröffentlichung mangelhafter Literatur« und die »Verwechslung der kulturpolitischen Bedeutung mit der Absatzfähigkeit des Werkes«. In der Diskussion stellte der für die Abteilung Literatur und Buchwesen zuständige Staatssekretär Erich Wendt »vor allem den Kampf um die Verbesserung der Qualität« in den Vordergrund und forderte, »die Buchkritik wesentlich zu verbessern […]«150 Die Abteilung Wissenschaft des ZK orientierte jetzt in dieselbe Richtung. Es sei »volkswirtschaftlich nicht zu verantworten«, die Produktion von Gegenwartsliteratur weiter zu erhöhen: »Das Ministerium für Kultur hat für Schriftsteller und Verlage als Hauptforderung mit Recht die Erhöhung der literarischen Qualität gestellt. Sie spielt u. E. für den Absatz der Literatur eine entscheidende Rolle.«151 Es ging um die Abstimmung der »Forderung nach hoher künstlerischer Qualität« mit den »kulturellen Bedürfnissen und Leserinteressen«.152 Als wichtiger Hebel galt jetzt die Überwindung der bisherigen lite-
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Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 155–157. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 158. Lokatis: Der rote Faden, S. 156 ff. BArch, DY 30, IV 2/9.06/97, Bl. 267 ff.: Aktennotiz über die Besprechung im Ministerium für Kultur am 20. 7. 1962. 151 BArch, DY 30, IV 2/904/673: Abt. Wissenschaft, Sektor Verlage, 17. 2. 1962, Einschätzung zum Papierverteilungsplan 1962. 152 BArch, DR 1/1211: Sektor Schöne Literatur, Protokoll der Abstimmung vom 11. 10. 1962.
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raturpolitischen »Enge«, die beschleunigte Zulassung wichtiger ausländischer Titel und eine »bessere Bedarfsforschung« mit Hilfe von »Leserforen«.153 Die Planer kreisten mit bemerkenswertem Gespür eine Handvoll von Titeln an Gegenwartsliteratur ein, die Abhilfe versprachen, darunter Der geteilte Himmel (1963) von Christa Wolf, Ole Bienkopp (1963) von Erwin Strittmatter, Spur der Steine (1964) von Erik Neutsch und Die Aula (1965) von Hermann Kant. Die scharfen Diskussionen, die um diese Titel geführt wurden, trieben deren Auflagen in sechsstellige Höhen. Offensichtlich hatten sich wieder einmal die Kriterien der Zensur verändert.154 1960 hatte sich die »Abteilung Literatur und Buchwesen« an die undankbare Aufgabe gemacht, Richtlinien der Begutachtung zu entwerfen. »Hohe ideologisch-künstlerische Meisterschaft kann natürlich nicht vom Ministerium verordnet werden«, mahnte Erich Wendt vorsichtshalber seine Zensoren.155 Es ging zunächst um die Beschleunigung des Druckgenehmigungsverfahrens durch die Erleichterung von »Satzgenehmigungen«, aber auch darum, für die Lektoren »die rechten Maßstäbe zu finden«, um einen Autor im Hinblick auf sein Gesamtwerk zu bewerten und ihn besser beraten zu können. Die Forderung, dass sich der Autor mit Hilfe des Verlages bezogen auf sein bisheriges Schaffen weiterentwickeln sollte, relativierte alle denkbaren Maßstäbe: Was die jeweils »höchstmögliche künstlerische Reife« sei, war offenbar von Autor zu Autor verschieden. In der Praxis lief dieses »autorenpolitische« Argument häufig darauf hinaus, nur so lange Änderungen zu fordern, wie sich der Autor kompromissbereit zeigte und nicht auf stur schaltete. Ein erster hausbackener Entwurf der Richtlinien definierte die Begutachtung, die deshalb durch »parteiliches Herangehen« und Erhöhung der »ideologischen Wachsamkeit« zu verbessern sei, noch als »operativ-konkrete Form der Wahrnehmung der kulturell-erzieherischen Funktionen des Staates gegenüber Verlagen«. Lektoren, Gutachter und Zensoren, die zu »Duldsamkeit und der liberalen Einstellung zur literarischen Begutachtung« neigten, wurden mit Disziplinarstrafen bedroht. Die Gutachter sollten sich unterschriftlich zu Vertraulichkeit und Verschwiegenheit verpflichten, das Manuskript persönlich abholen und kein Exemplar ihres Gutachtens behalten dürfen. Sie sollten ästhetische Gesichtspunkte den politischen Gesichtspunkten unterordnen und das Werk »im Lichte des Marxismus-Leninismus einschätzen«, »nicht naturalistisch sein« und »ausgefallene Fremdwörter« vermeiden. Bei »nichtssagender allgemeiner unverbindlicher (formal-schematischer) Bearbeitung« sei »das Außengutachten ohne Honorarzahlung zurückzuweisen«. Ziel war, dem Zensor zu erlauben, »ohne eigene Lektüre des Werkes ein richtiges politisches Urteil zu fällen«.156 Dieser frostige Entwurf eines ehemaligen ZK-Mitarbeiters wurde durch Streichungen stark abgemildert, ein Abgesang der alten Schule. Eine spätere Fassung, die mehr der bis 1989 gängigen Praxis entsprach, nannte als Hauptziel der Begutachtung vielmehr ihre Bedeutung für »die Literaturentwicklung und
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LA Merseburg, IV/7/501/222: BPO des MDV, 8. 11. 1962. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 170–171. Wendt: Die Aufgaben des Verlagswesens im Siebenjahresplan. BArch, DR 1/1499: Egon Rentzsch: »Grundsätze zur Verbesserung der Begutachtung im Sektor Schöne Literatur, 21. 3. 1960.
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eine qualifizierte Literaturpropaganda«, um die Situation auf dem jeweiligen Literaturgebiet kennenzulernen« und »die richtigen Aufgaben stellen zu können«: Die Kenntnis der Manuskripte gibt Einblick in die Arbeit der Verlage und Aufschluss über den ideologischen Reifegrad der Mitarbeiter der Verlage. Sie ist dadurch ein wichtiges Instrument zur Verbesserung der operativen Anleitung der Verlage. Die Begutachtung gibt uns weiterhin die Möglichkeit, ständig zur Verbesserung der Qualität jedes einzelnen Buches beizutragen. Die Hilfe für den Verlag ist zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt der Manuskriptbearbeitung zu geben, da die Veränderung des Inhalts in dem Stadium der Druckgeneh157 migung Verzögerung bedeutet und ökonomische Verluste mit sich bringt.
Betont wurde die Notwendigkeit einer frühzeitigen Hilfe bereits bei der Erarbeitung der Manuskripte und der Auswahl der Außengutachter. Die »politisch wichtigsten Manuskripte« sollte der zuständige Fachreferent der HV selbst durchlesen und in schwierigen Fällen das Kollektiv seiner Kollegen konsultieren, über »Veränderungen bzw. Zurückziehung« von Manuskripten »Aussprachen« mit Verleger, Cheflektor und Redakteuren abhalten, notfalls neuerdings sogar mit dem betroffenen Autor.158 Ins Außenlektorat zu geben war einerseits »Literatur der Verlage, deren mangelhafte Arbeit uns nicht die Gewähr für eine gute inhaltliche Qualität der Manuskripte« gab, womit vor allem Titel der Kirchenverlage gemeint waren, andererseits Literatur zu den »politischen Schwerpunktaufgaben unserer Arbeit, d. h. an deren hohem politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Gehalt und breitester Wirkungsweise wir interessiert sein müssen«, sofern nicht schon vorher auf Grund der »eingesandten Unterlagen und der eigenen Überprüfung des Manuskriptes alle Zweifelsfragen beseitigt« seien.159 Die Kontrolle der Außenlektoren und die Durchführung regelmäßiger Beratungen zur Verbesserung ihrer Tätigkeit war Aufgabe der Sektorleiter bzw. ab 1963 Abteilungsleiter. Der Sektorleiter sicherte »unter Beachtung der Notwendigkeit des Registrierens und der Verschlußaufbewahrung wichtiger Akten« die geordnete technische Durchführung des Druckgenehmigungsverfahrens. Er beobachtete die wesentlichen Erscheinungen auf seinem Arbeitsgebiet und nahm »Einsicht in sehr komplizierte, eventuell sehr kritisierte Manuskripte«, sorgte auch für deren kritische Auswertung im Sektor, besonders im Hinblick auf unsere operative Arbeit mit dem Verlag.« Mit seiner Unterschrift bekundete er »seine Auffassung, daß der Fachreferent das Manuskript richtig eingeschätzt hat, damit übernimmt er die Verantwortung für die Erteilung der Druckgenehmigung.«160 Die Vielzahl der Regelungen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Richtlinien in den entscheidenden Punkten eine flexible Handhabung ermöglichten. Wann welche und wie viele Gutachter hinzuzuziehen waren, war nicht mechanisch geregelt, sondern blieb der Ausgestaltung der Sektoren und Referenten überlassen. Unübersehbar sind frische Impulse, die darauf zurückzuführen waren, dass man in den sechziger Jahren endlich über einen an den eigenen Universitäten wissenschaftlich
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BArch, BArch, BArch, BArch,
DR DR DR DR
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Richtlinien Richtlinien Richtlinien Richtlinien
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Begutachtung, Begutachtung, Begutachtung, Begutachtung,
25. 7. 1960. 25. 7. 1960. 25. 7. 1960, S. 7–8. 25. 7. 1960, S. 8.
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geschulten Stamm an Zensoren, Lektoren und Gutachtern verfügte. Während die Gutachter der fünfziger Jahre idealtypisch eher über politische Meriten als antifaschistische Widerstandskämpfer verfügten, gehörte der akademische Abschluss inzwischen zu den Voraussetzungen, und so war es schließlich beinahe guter Ton, wie die promovierten Germanisten Eberhard Günther und Gerhard Dahne im Leipziger Hörsaal 40 Hans Mayer und seine weltoffene »Opulenztheorie« gehört zu haben. Auch war es erwünscht, dass die Fachreferenten des Belletristik-Sektors regelmäßig literaturwissenschaftliche Vorlesungen der Humboldt-Universität besuchten.161 Ohnehin als berufstypisch darf eine enorme Belesenheit gelten, und zwar gerade, was die als subversiv geltende »literarische Moderne« betraf. Im Gutachterstab fanden sich zudem neuerdings so renommierte Schriftsteller wie Gerhard und Christa Wolf, Hermann Kant und Paul Wiens. Man kann sagen, dass die Zensur verwissenschaftlichte. Viele Gutachten demonstrierten ein beeindruckendes literarisches Niveau und konnten mit wenigen Veränderungen tatsächlich auch leicht als Nachwort oder öffentliche Rezension durchgehen.162 Zugleich hatten sich die Spielräume erweitert. Ein kennzeichnendes Novum war die Aktivierung eines eigenen, von Gerhard Dahne geführten Fachgebiets »Literaturwissenschaft und Literaturkritik«, das den übrigen Fachgebieten bei der Klärung der Maßstäbe helfen sollte. In ähnliche Richtung zielte eine von Eberhard Günther geleitete »Analysegruppe«. In der Blütezeit der Kybernetik dachte man in wissenschaftlichen Konzeptionen und sich selbst steuernden Regelkreisen. Wie Walter Ulbricht es einmal ausdrückte, wurden »Kunstund Kulturwissenschaften zum unmittelbaren Faktor der Leitung kultureller Prozesse«,163 und das betraf auch die Literaturwissenschaften, die das Gros der Gutachter stellten. Dass die Zensur verwissenschaftlichte, bedeutete umgekehrt, dass sich die Wissenschaft in den Dienst der Zensur stellte. Im Begutachtungssystem der DDR, wie es seit Anfang der sechziger Jahre evolutionierte, zerflossen die Grenzen zwischen Zensur und Wissenschaft. Insgesamt entfaltete sich ab den 1960er Jahren Zensur als »bürokratische Verkehrsform der Reinhaltung und Säuberung der geistig-kulturellen Sphäre«, und die »Zurückdrängung herkömmlicher bürgerlicher Denk- und Gestaltungsformen« erfolgte in neuer Intensität, nicht mehr nur als gelegentliche »kampagnenmäßige Aktivität«, wie das eher für die 1950er Jahre typisch gewesen war.164 Dass aber jederzeit mit irregulären Eingriffen der Parteiführung in das Publikationswesen zu rechnen war, zeigten, gleich nach der Gründung der HV 1963, Angriffe einer von Kurt Hager geleiteten »Ideologischen Kommission« beim Politbüro auf Lyriker wie Stephan Hermlin, Günter Kunert oder Paul Wiens.165 Die HV machte sich hingegen an den heroischen Versuch, die seit 1957 geschlossenen Schleusen der Literaturpolitik wieder zu öffnen und auch endlich einige besonders umstrittene, neuere Literaturströmungen in der DDR vorzustellen:
161 BArch, DR 1/1210: Sektor Schöne Literatur, Protokoll der Arbeitsbesprechung vom 27. 5. 1960. 162 Vgl. dazu ausführlich: Lokatis/Hochrein (Hrsg.): Die Argusaugen der Zensur. 163 Referat Alter Ulbrichts auf dem 9. Plenum des ZK der SED, 26.–28. 4. 1965, S. 1034. In: Schubbe (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, S. 1029– 1035. 164 Vgl. Dietzsch: »Souffleure« im Hintergrund der Texte?, S. 726. 165 Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 202–205.
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Sogenannte »Klassiker der Moderne« (Musil, Joyce, Proust) die amerikanische »Beatliteratur« den »nouveau roman« Frankreichs das absurde Theater eine Reihe dekadenter Schriftsteller oder Schriftsteller mit dekadenten Zügen.166
Das alles wohl dosiert, »nicht etwa massiv in einem Planjahr, sondern – den Hauptstrom ungefährdend – entsprechend unseren politisch-ideologischen und literarisch-künstlerischen Anliegen, je nach den Möglichkeiten und Gelegenheiten der jeweiligen Jahresthemenpläne«.167 Diese Praxis einer kontrollierten literaturpolitischen Öffnung mit der Frage danach, ob »noch Luft« im Plan für riskante Experimente sei, bestimmte bis 1989 die Spielräume im Zensurkampf. Immerhin konnten auf diese Weise bei Volk und Welt Kultbücher wie J. D. Salingers Der Fänger im Roggen (1965) erscheinen. John Updikes Hasenherz war für 1966 vorgesehen und sogar die Übernahme des Ulysses bereits vertraglich vereinbart, als das vielbeschriebene 11. Plenum des ZK im Dezember 1965168 den »kurzen Sommer der DDR«169 kahlschlagartig beendete. Dabei ging es, einmal ganz abgesehen von komplizierteren Beweggründen der Parteiführung,170 nicht nur um Filme und einzelne Bücher, sondern auch um grundsätzliche Fragen zensurpolitischer Steuerung, vor allem um die fehlende Koordination zwischen Buch- und Filmbereich im Ministerium für Kultur, war doch Das Kaninchen bin ich von Manfred Bieler nach einem von der HV abgelehnten Manuskript gedreht, während umgekehrt auch der Film zu einem gefeierten Buch wie Spur der Steine von Erik Neutsch verboten werden konnte.171 Am Beispiel des Romans Rummelplatz von Werner Bräunig stand das Verhältnis zwischen Vorabdruck und späterer Druckgenehmigung zur Diskussion, während es bei Stefan Heym und Wolf Biermann um Texte ging, die der Zensur in den Westen entschlüpft waren.172 Es entbehrt nicht der Ironie, dass eine sichtbare Lockerung der mit dem Kahlschlag etablierten rigiden Zensurpolitik ausgerechnet mit dem Machtantritt Erich Honeckers im Mai 1971 erfolgte, der auf dem 11. Plenum 1965 selbst die polemische Brandrede gehalten hatte. Dessen zweideutige Parole, dass es für einen Autor auf dem Boden des Sozialismus »keine Tabus« geben dürfe, wurde durch die Publikation einer ganzen Reihe heiß umstrittener Titel konkretisiert. So erschienen z. B. endlich Hermann Kants Das Impressum (Rütten & Loening, 1972), Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen
166 BArch, DR 1/1474: Abt. Belletristik, Probleme der gegenwärtigen Literatur und Verlagspolitik (o. D. 1964), S. 11–12. 167 BArch, DR 1/1474: Abt. Belletristik, Probleme der gegenwärtigen Literatur und Verlagspolitik (o. D. 1964), S. 11–12. 168 Agde (Hrsg.): Kahlschlag. 169 Vgl. Decker: 1965; Agde (Hrsg.): Kahlschlag; Westdickenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«. 170 Wie der Ablenkung von ökonomischen Problemen, der Umsetzung eines Moskauer Kurswechsels oder Honeckers Machtkampf um die FDJ. Dazu umfassend Kaiser: Machtwechsel. 171 Zu den Buchverboten des 11. Plenums ausführlich Westdickenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«, S. 135 ff., mit vielen Einzelfallbeispielen. 172 Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 219–221.
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W. und Jurek Beckers Irreführung der Behörden (beide Hinstorff 1973), Stefan Heyms König David Bericht (Buchverlag der Morgen 1973) und, unglaublich, aber wahr, Ray Bradburys Fahrenheit 451 (Neues Berlin 1973). Der nach dem 11. Plenum vom Minister für Kultur zum Verlagschef von Neues Leben degradierte Hans Bentzien, der auf den HV-Leiter Bruno Haid schlecht zu sprechen war, schilderte: Beim Übergang der Macht von Ulbricht zu Honecker wurden plötzlich vier Verleger zu Klaus Gysi gerufen, vom Aufbau-Verlag, vom Mitteldeutschen Verlag, vom Verlag Volk und Welt und vom Neuen Leben ich. Auf einem langen Tisch lagen viele Manuskripte. Gysi verlangte, wir sollten vom nächsten Tag an die Geschäfte für einige Zeit an unsere Vertreter geben und uns der Beurteilung dieser Manuskripte widmen. Jeder erhielt einen Packen, jedoch nicht diejenigen aus seinem Verlag. Es handelte sich um bislang zurückgehaltene Texte, deren Klärung Honecker verlangt hatte. Damit war klar, daß ein neuer Wind wehte. Offiziell sind die Beschlüsse des 11. Plenums zwar nicht zurückgenommen worden, aber die Lage war unhaltbar geworden, die Praxis sollte sich ändern […]. Wir vier hielten uns nicht lange damit auf, Begründungen für die Druckgenehmigung zu liefern, das wurde auch gar nicht erwartet. Man wollte nur eine andere Instanz gegen die Hauptverwaltung einsetzen und sich auf den verknöcherten Bürokratismus der Mannen um den Leiter der Hauptverwaltung, Bruno Haid, berufen können. Damit war auch das Schicksal Haids besiegelt, der unwirsche, grobe Unterdrücker des geistigen Lebens wurde zurückgezogen, es schien so, als ob eine neue Zeit 173 anbrechen würde.
Unter der Ägide von Haids Nachfolger, Klaus Höpcke (geb. 1933), erweiterten sich sichtbar die Toleranzgrenzen der HV. Galt er zunächst als »abgebrühter Hardliner-Journalist«, dessen Angriffe nach dem »Kahlschlag«-Plenum auf Wolf Biermann im Neuen Deutschland nicht vergessen waren, wurde er »schließlich Experte darin, unorthodoxe Bücher am Zentralkomitee vorbei an die Öffentlichkeit zu bugsieren.«174 Zwar hegte er noch bis in die 1980er Jahre sozialistische Vorurteile gegen Exponenten spätbürgerlicher »Dekadenz« wie Samuel Beckett, Gottfried Benn, Sören Kierkegaard oder Friedrich Nietzsche, doch schließlich öffneten sich auch für deren Werke die Pforten der Druckereien. Insgesamt konnte speziell der in der HV von Christine Horn betreuten Gegenwartsbelletristik175 die Funktion einer kritischen literarischen Öffentlichkeit zuwachsen, aus der man weit mehr über den Zustand der DDR erfuhr als aus den Zeitungen. Gerade deswegen wurde hinter den Kulissen um die Manuskripte von Autoren wie Hanns Cibulka,176 Christoph Hein, Jürgen Kuczynski, Erwin Strittmatter und Christa Wolf so heftig gerungen, und die »Schere im Kopf« spielte nach wie vor eine gewaltige Rolle. Auch kam es, wie vor allem nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und den damit verbundenen Schriftstellerprotesten, immer wieder zu Rückschlägen und zensurpolitischen Skandalen, etwa nach dem Protest des sowjetischen Botschafters gegen Werner Heiduczeks Roman Tod am Meer177 und der Verweigerung der üblichen Nachauflage
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Bentzien: Meine Sekretäre und ich, S. 242. Darnton: Die Zensoren, S. 197. Horn: Staatliche Literaturaufsicht. Reichardt: »Bis hierher konnte ich gehen – weiter nicht!« Heiduczek: Die Schatten meiner Toten, S. 284–302.
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Abb. 3: Veranstaltung im Petrolchemischen Kombinat Schwedt/Oder: Elmar Faber (links), Klaus Höpcke (stehend). Foto: Günter Prust.
für Erich Loests Es geht seinen Gang.178 Mitte der 1980er Jahre wurde die Auslieferung zweier druckgenehmigter Werke gestoppt, Hinze-Kunze-Roman von Volker Braun und Neue Herrlichkeit von Günter de Bruyn.179 Klaus Höpcke wurde deshalb von der SED gerügt und der Leiter der Belletristik-Abteilung, Klaus Selbig, seines Postens enthoben. Im Hinstorff Verlag fand die mit Autorennamen wie Franz Fühmann, Klaus Schlesinger, Ulrich Plenzdorf und Rolf Schneider verbundene Blütezeit schon 1974 mit der von der SED-Bezirksleitung durchgesetzten Degradierung und dem Tod des demoralisierten Cheflektors Kurt Batt ein Ende.180 Die folgende »Operation Selbstverlag« um die Anthologie Berliner Geschichten von Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade181 zeigt auch, wie die Liberalisierung der Literaturpolitik mit einem grotesken Ausbau eines unterirdischen zweiten Überwachungs- und Steuerungssystems durch das Ministerium für Staatssicherheit 182 einherging. So existierten zu Erich Loest allein für die Jahre 1975 bis 1981 31 Aktenordner, und die Stasi-Akten Lutz Rathenow umfassten 15.000 Seiten.183
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Loest: Der vierte Zensor. Vgl. Mix: DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära. Hohner: Der VEB Hinstorff Verlag Rostock. Plenzdorf/Schlesinger/Stade (Hrsg.): Berliner Geschichten. Vgl. _GoBackWalther: Sicherungsbereich Literatur. Darnton: Die Zensoren, S. 233.
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Schon 1973 war ein zaghafter Versuch gescheitert, zwar nicht das Druckgenehmigungsverfahren komplett abzuschaffen, aber doch die Verantwortlichkeit der Verlage im Begutachtungsprozess zu stärken: Gutachten sind Hilfen, sie dienen der Selbstkontrolle des eigenen Standpunktes des Verlages. Der Verlag entscheidet selbst, ob er Gutachten einholt. Dem Autor gegenüber vertritt der Verlag seine Meinung. Wenn Gutachten vorliegen und der Verlag es wünscht, gibt sie ihm 184 der Verlag zur Kenntnis.
Nach diesem Reformvorschlag sollte sich auch die HV in der Regel ohne weitere Begutachtung mit der Begründung des Verlags für die Publikation begnügen, um nur noch bei »politisch-ideologisch schwierigen Manuskripten« vor der Druckgenehmigung konsultiert zu werden.185 Obwohl dieses grundstürzende Papier nicht umgesetzt werden konnte, veränderten sich unter Klaus Höpcke wichtige Modalitäten. Vor allem verzichtete die HV bei bewährten Verlagen wie Volk und Welt fortan in der Regel auf die Kontrolle durch eigene Außengutachten.186 »In den achtziger Jahren rannten diese Zensurschranken, die wir immer überklimmen wollten, vor uns weg. Es wurde immer leichter, und später gab es fast gar keine Hindernisse mehr. Dann fing man schon an zu überlegen, ob man nicht ›1984‹ von Orwell herausbringen könnte, auch Ernst Jünger war Mitte der achtziger Jahre im Gespräch, das wollte Gruner gern«, erinnerte sich der Lektor Chris Hirte, und in der Tat erschienen in seinem Verlag Volk und Welt endlich die Bücher von Günter Grass, Sigmund Freud und Ortega y Gasset. »Es entstand so etwas wie Übermut. Zuletzt stellte sich eine leichte Torschluß- und Ausverkaufsstimmung ein. Diese ganze Ideologie, an der sich so viele über Jahre die Zähne ausgebissen hatten, derentwegen einige ins Gefängnis gekommen waren, rutschte nun allmählich weg. Und plötzlich geriet man in ein Vakuum.«187 Nach dem X. Schriftstellerkongress 1987 und der berühmten Brandrede Christoph Heins, der, wie auch in der westdeutschen Zeit nachzulesen war, die Zensur als »überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar«188 geißelte, wagte sich die HV schließlich an die Abschaffung des Druckgenehmigungsverfahrens, die zum 1. Januar 1989 auch entsprechend den Möglichkeiten erfolgte. Da man eine Zensur, die offiziell gar nicht existierte, schlecht abschaffen konnte, griff man auf die schon 1956 und 1973 bewährte Formulierung zurück, es ginge um die Stärkung der Verantwortlichkeit der Verlage, die als zuverlässig gelten konnten, bis auf die Kirchenverlage, die von der neuen Regelung ausgeschlossen blieben. Die Literatursteuerung
184 BArch, DY 30/23025: Zur Veränderung der Arbeitsweise der belletristischen Verlage und der HV Verlage und Buchhandel, 5. 1. 1973. Vgl. zu diesem Arbeitspapier der Abt. Wissenschaft des ZK und zu dem damit verbundenen Versuch, das Druckgenehmigungsverfahren zu reformieren ausführlich: Reichardt: Von der Sowjetunion lernen?, S. 102–105. 185 Reichardt: Von der Sowjetunion lernen?, S. 102–105. 186 Rekkers: Die Außengutachten. 187 Hirte: Zensoren und Verlagsstrategen, S. 393. 188 Hein: Literatur und Wirkung, S. 228. Auch in: Die Zeit, 4. 12. 1987, und X. Schriftstellerkongreß der DDR. 24.–26. November 1987. Arbeitsgruppen, insbes. S. 228.
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sollte fortan weitgehend nur noch über die Themenplanung funktionieren, was jedoch keineswegs ausschloss, dass immer noch einzelne Titel, vor allem sowjetische Literatur, die wie Sie nannten ihn Ur (1988) von Daniil Granin die neue Gorbatschow-Ära repräsentierte, in ZK Anstoß erregten und verzögert werden konnten. Volk und Welt brachte jedoch den »Erznihilsten« Samuel Beckett und Das Peter-Prinzip (1989), eine offene Verhöhnung jeder Bürokratie von Laurence J. Peter und Raymond Hull, heraus. Neues Berlin wagte sich an Howard Lovecraft (Die Farbe aus dem Raum, 1990). Bei Reclam erschienen z. B. die Dialektik der Aufklärung (1989) von Theodor Adorno und Max Horkheimer, ja sogar H. H. Houbens klassische Auseinandersetzung mit der Zensur Hier Zensur – wer dort? (1990). Reclam repatriierte Sarah Kirsch (Musik auf dem Wasser, 2. Aufl. 1989), der Aufbau-Verlag Uwe Johnson (Eine Reise wegwohin, 1989) und Hinstorff, mit Druckgenehmigung vom 12. Juli 1989,189 Thomas Brasch (Vor den Vätern sterben die Söhne, 1990). Der Rostocker Verlag brachte auch endlich den in der DDR gebliebenen, aber zuvor nur im Westen bei S. Fischer erschienenen Gert Neumann (Die Schuld der Worte, 1989, und Elf Uhr, 1990) heraus. Volk und Welt plante für 1990 Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams und 1984 von George Orwell, Rütten & Loening Shoah von Claude Lanzmann, Titel, die allerdings lizenzrechtlich mit der Einheit nicht mehr zu verwirklichen waren. Die Auswirkungen der Aufhebung des Druckgenehmigungsverfahrens wurden öffentlich ohnehin kaum mehr sichtbar. Als die ersten zensurfreien Bücher, der beste Jahrgang der DDR, Ende 1989 und 1990 erschienen, interessierte sich keiner mehr dafür, und sie wanderten auf den Müll. Das Ende der HV wurde Mitte November 1989 im Zuge der Reformmaßnahmen unter der Regierung Hans Modrows eingeläutet. Klaus Höpcke wechselte als Vorsitzender einer Kulturkommission in den Parteivorstand der SED, die HV wurde von dem erfahrensten leitenden Funktionär der Behörde, Karlheinz Selle (1927–2016), übernommen. Er war schon 1951 bei der Gründung des Amtes für Literatur und Verlagswesens dabei gewesen, dann über zwei Jahrzehnte Leiter der Abteilung Wissenschaft und seit 1986 Chef der Belletristik-Abteilung. Zu den wichtigsten von ihm am 30. November 1989 verkündeten Reformmaßnahmen gehörte die völlige Einstellung des Druckgenehmigungsverfahrens zum 1. Dezember 1989. Das Ministerium für Kultur würde sich fortan nicht mehr in die künstlerischen Schaffensprozesse einmischen, den Verlagen wurde die Entlassung in die wirtschaftliche Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. Selles Reformpläne sollten spätestens 1991 umgesetzt werden, doch musste die HV Verlage und Buchhandel, als Zensurbehörde verrufen, schon zum Jahresende 1989 ihre Arbeit weitgehend einstellen und wurde zum 31. Januar 1990 aufgelöst.190
189 BArch, DR 1/2166 (Hinstorff Verlag). 190 Vgl. Links: Das Schicksal der DDR-Verlage, S. 29–30.
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Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Akademie-Verlag Bundesarchiv Berlin SAPMO-BArch (BA) Ministerium für Kultur (DR 1) SED (DY 30) Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DY 32 A 938) NDPD (DZ 16/177/1)
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MIX, York-Gothart: DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära (1971–1989). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23 (1998) 2, S. 156–198. MORTIER, Jean: Ein Buchmarkt mit neuen Strukturen: Zur Verlagspolitik und Buchplanung in der SBZ 1945–1949. In: Klaus R. Schreibe / Lutz Winckler (Hrsg.): Frühe DDR-Literatur. Traditionen, Institutionen, Tendenzen. Berlin/Hamburg: Argument-Verlag 1988, S. 62–80. REICHARDT, Ann-Kathrin: »Bis hierher konnte ich gehen – weiter nicht!« Hanns Cibulkas Werk im Spiegel der Gutachten. In: Siegfried Lokatis / Theresia Rost / Grit Steuer (Hrsg.): Vom Autor zur Zensurakte. Abenteuer im Leseland DDR. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2014, S. 319–334. REICHARDT, Ann-Kathrin: Von der Sowjetunion lernen? Die Zensur sowjetischer belletristischer Literatur in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren. Münster: Lit Verlag 2014. REKKERS, Axel: Die Außengutachten der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel: Methodologie, Daten und Analyse. In: Siegfried Lokatis / Martin Hochrein (Hrsg.): Die Argusaugen der Zensur. Begutachtungspraxis im Leseland DDR. Stuttgart: Hauswedell 2021 (Leipziger Arbeiten zur Verlagsgeschichte 3), S. 297–308. SCHUBBE, Elimar (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Stuttgart: Seewald Verlag 1972. SCHUSTER, Ulrike: Wissen ist Macht. FDJ, Studenten und die Zeitschrift FORUM in der SBZ/ DDR. Berlin: Metropol 1996. WALTHER, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der DDR. Berlin: Ch. Links 1996 (Analysen und Dokumente 6). WESTDICKENBERG, Michael: Die »Diktatur des anständigen Buches«. Das Zensursystem der DDR für belletristische Prosaliteratur in den sechziger Jahren. Wiesbaden: Harrassowitz 2004 (Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte 16). WURM, Carsten: Der frühe Aufbau-Verlag. 1945–1961. Konzepte und Kontroversen. Wiesbaden: Harrassowitz 1996 (Schriften und Zeugnisse 8).
Thomas Keiderling 3.4.2 Das Büro für Urheberrechte Das Büro für Urheberrechte (BfU) war eine urheberechtliche Einrichtung der DDR, die im Oktober 1956 nach sowjetischem Vorbild in Berlin eingerichtet und 1990 offiziell aufgelöst wurde. Bis 1995 erfolgte die schrittweise Abwicklung von Altverträgen. Das Büro unterstand der Aufsicht des Ministeriums für Kultur, seit 1963 insbesondere der dortigen Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel. Es handelte sich um eine Vertrags-, Abrechnungs- und Kontrollstelle für urheberechtlich geschützte Werke. Damit zusammenhängende Zensuraufgaben wurden von der zuvor genannten, übergeordneten Behörde wahrgenommen. Zu den Aufgaben des Büros gehörte es, das Urheberrecht der DDR in eine staatlich gewünschte Richtung weiterzuentwickeln, bei entsprechenden Vertragsabschlüssen einzugreifen und die Interessen der Urheber und Verlage in der DDR grundlegend zu vertreten. Ferner wurden Urheber, staatliche Stellen und gesellschaftliche Organisationen in urheberrechtlichen Fragen und bei deren Wahrung im internationalen Urheberrechtsverkehr beraten, wenn deren Manuskripte an ausländische Verlage gehen sollten bzw. ein Lizenzerwerb bevorstand. Die DDR-Autoren waren seit 1961 vor Abschlüssen mit Institutionen außerhalb der DDR verpflichtet, die Zustimmung des Büros einzuholen, das die Verträge registrierte. Hinzu kam die Abwicklung der damit verbundenen Zahlungen, d. h. die staatliche Devisenerwirtschaftung. Aufgrund der genannten restriktiven, regulatorischen Eingriffe in das Urheberpersönlichkeitsrecht und in den zwischenstaatlichen Literaturaustausch wurde das BfU von einigen DDR-Autoren stark kritisiert und zum Teil durch direkte Kontakte zu westlichen Verlagen erfolgreich unterlaufen.
Rechtliche Rahmenbedingungen Auf dem Gebiet der DDR wurde das bislang existierende bürgerliche Urheberrecht – so das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst (LUG) von 1901 und das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie (KUG) von 1907 – zunächst unverändert fortgeführt. Erst im Laufe der 1960er Jahre erhielt das Urheberrecht eine eigene Ausprägung, wobei internationale Entwicklungen partiell aufgenommen wurden. Im Vergleich dazu waren in den meisten Staaten des Ostblocks bereits bis zur Mitte der 1950er Jahre neue Urheberrechtsgesetze erlassen oder vorbereitet worden.1 Wie in den anderen sozialistischen Staaten auch relativierte die Gesetzgebung der DDR die bürgerliche Kategorie des geistigen Eigentums. Dem kapitalistischen, individuell-orientierten geistigen Eigentumsrecht wurde ein sozialistisches entgegengestellt, das den Staat und das Kollektiv stärker betonte. Das Urheberrecht wurde nun zum Bestandteil der Kulturpolitik. Diese Rechtsauffassung führte jedoch nicht zu einem radikalen Bruch mit bürgerlichen Traditionen. Vielmehr wurde das Urheberrecht den sozialistischen Verhältnissen angepasst. Freilich war eine Modernisierung des Urheberrechts we-
1 Vgl. Püschel: Zur Entstehung des Urheberrechts, S. 495. https://doi.org/10.1515/9783110471229-013
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niger in ideologischer Hinsicht sinnvoll, sondern vielmehr hinsichtlich der erweiterten technischen Reproduktionsmöglichkeiten von Werken.2 Artikel 11, Absatz 2 der Verfassung der DDR3 legte fest, dass die Urheber den Schutz des sozialistischen Staates genossen. Das am 1. Januar 1966 in Kraft getretene Gesetz über das Urheberrecht vom 13. September 19654 ersetzte die bis dahin geltenden Reichsgesetze. Am 7. Februar 1966 gab es eine Anordnung des Ministers für Kultur über die Wahrung der Urheberrechte durch das Büro für Urheberrechte.5 Sie verpflichtete die Autoren, vor Abschluss eines Vertrags mit Partnern »außerhalb der DDR« die Genehmigung des BfU einzuholen. Das Büro konnte nach Paragraph 4 sogar von der Höhe der Auflage abhängig machen, ob sie den Text zuerst DDR-Verlagen anbietet. Diese Klausel stellte allerdings nur eine Kannbestimmung dar. Schriftsteller mit gültigen Altverträgen (vor 1961) wie Günter Kunert oder solche, die sich wie Stefan Heym bewusst die Freiheit der Verlagswahl erhalten hatten, nahmen darauf keine Rücksicht und schlossen weiterhin selbst Verträge mit Westverlagen ab.6 Die neue Gesetzgebung stellte eine Verbindung her zwischen den persönlichen Urheberinteressen und denen der Gesellschaft. Urheberrecht wurde als »sozialistisches Persönlichkeitsrecht« verstanden, aus dem sich vermögensrechtliche und nicht vermögensrechtliche Befugnisse des Urhebers ergaben. Der Verfasser literarischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Werke erlangte mit deren Schaffung das Recht auf Anerkennung der Urheberschaft, das ausschließliche Recht, die Veröffentlichung des Werkes zu genehmigen, die Art der Veröffentlichung und Nutzung zu bestimmen, das Recht auf Namensnennung, auf Unverletzlichkeit des Werkes und den Schutz des Ansehens des Urhebers sowie auf Vergütung entsprechender Leistungen. Dem Urheber standen für die Übertragung seiner Rechte prinzipiell Vergütungen zu.7 Neben diesen Befugnissen griff der Gesetzgeber der DDR – stärker als dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall war – in das Urheberpersönlichkeitsrecht ein. So durften Werke, die die Kunst und das Wissen der Gesellschaft in besonderer Weise mehrten, ohne Einwilligung des Urhebers und ohne Zahlung einer Vergütung frei genutzt werden. Auch hatte der Urheber keinerlei Erlöse aus dem Verleih durch das Bibliothekssystem zu erwarten. – Durch ein flächendeckendes Netz an Bibliotheken unterschiedlicher Größe und Spezialisierung, das größtenteils kostenlose Ausleihen ermöglichte, entgingen so den DDR-Autoren wie -Verlagen ein Teil der Honorare bzw. Verkaufserlöse. In der Bundesrepublik wurde seit 1973 eine Bibliothekstantieme erhoben und durch die VG WORT eingezogen, die indirekt den Steuerzahler verpflichtete, beide genannten Gruppen für diese Ausfälle pauschal zu entschädigen.8
2 Vgl. Wießner: Urheberrechtsregime, S. 250–251, 255. Vgl. ferner Püschel: Die Theorie. Vgl. ferner Wandtke: Zu einigen theoretischen Grundlagen. Vgl. ferner Werner: Das sozialistische Urheberrecht. 3 Vgl. Verfassung der DDR vom 6. 4. 1968 in der Fassung vom 7. 10. 1974. In: Gesetzblatt der DDR, Nr. 47, T. I, Berlin 1974, S. 432 ff. 4 Vgl. Gesetz über das Urheberrecht (URG) vom 13. 09. 1965, S. 209–220. 5 Vgl. Anordnung über die Wahrung der Urheberrechte. 6 Vgl. Löffler: Die Kulturpolitik der SED-Führung, S. 142. 7 Vgl. Püschel: Urheberrecht. Vgl. ferner DDR-Handbuch, Bd. 2, S. 1401. 8 Vgl. Keiderling: VG WORT, S. 77–86.
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In der DDR wurde dem Rundfunk und Fernsehen zudem eine gesetzliche Lizenz eingeräumt, ohne Einwilligung des Urhebers jedes veröffentlichte Werk unverändert gegen eine in einer staatlichen Honoraranweisung festgelegten Zahlung zu übertragen. Entsprechend den Mindestanforderungen der Berner Übereinkunft erlosch in der DDR der Urheberrechtsschutz 50 Jahre nach dem Tod des Autors, in der BRD war diese Frist im Urheberrechtsgesetz von 1965 auf 70 Jahre ausgedehnt worden.9 Der Inhalt von Vereinbarungen zur Übertragung von Nutzungsbefugnissen wurde durch Musterverträge festgelegt, die vom Ministerium für Kultur (gegr. 1954) bzw. den beiden Staatlichen Komitees für Rundfunk (gegr. 1952) und für Fernsehen (gegr. 1968) in Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen der Urheber und den Gewerkschaften ausgearbeitet worden waren. Angewandt wurden die Vorschriften auf alle Bürger der DDR und diejenigen Autoren anderer Staaten, die ein Werk erstmalig in der DDR veröffentlichten. Die DDR trat vergleichsweise spät, 1978, der Revidierten Berner Übereinkunft in der Pariser Fassung vom 1971 bei und handelte zahlreiche bilaterale Verträge aus.10 Zuvor verhinderte der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme der DDR. Außerdem hatte der Zustand den Vorteil, dass im Konfliktfall die juristischen Möglichkeiten für ausländische Geschäftspartner weit geringer waren. Die DDR litt wie alle sozialistischen Staaten unter Devisenmangel und versuchte Lizenzzahlungen klein zu halten, wenn sie nicht zu umgehen waren.11
Etablierung und Arbeitsweise des BfU Die Gründung des Büros für Urheberechte wurde 1955 nach sowjetischem Vorbild 12 durch das federführende Ministerium für Kultur vorbereitet und entsprach nach offizieller Verlautbarung dem vielfach ausgesprochenen Wunsch von Autoren und Verlegern nach juristischer Beratung und einheitlicher Durchsetzung von Urheberrechtsansprüchen im Ausland. Bereits ein Jahr zuvor, 1954, wurde u. a. auf Initiative des Deutschen Schriftstellerverbandes und des Verbandes der Deutschen Presse13 ein solches Büro mit Verweis auf ähnliche Einrichtungen in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Ungarn gefordert. Das Ministerium stellte daraufhin den Kontakt zum Amt für Literatur
9 §§ 64–69 UrhG. Vgl. Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) der Bundesrepublik Deutschland vom 09. 09. 1965. 10 Vgl. Verfassung der DDR. 11 Vgl. Wießner: Urheberrechtsregime, S. 253–255, 257. 12 Die Gründung des ersten sozialistischen Urheberrechtsbüros erfolgte 1932 in Moskau: WUOAP – Allunionsverwaltung für den Schutz der Autorenrechte (ersetzt 1973 durch WAAP – Allunionsagentur für den Schutz der Urheberrechte). Ähnlich arbeitende Einrichtungen gab es in allen anderen sozialistischen Ländern, z. B. OSA – Tschechische Organisation zum Schutz der Urheberrechte in Prag oder SOZA – Slowakische Organisation zum Schutz der Urheberrechte in Bratislava. Besonders enge Kontakte gab es zwischen dem Budapester Büro für Urheberrechte ARTISJUS – Ungarischer Verband des Urheberrechtsamtes, das beim Aufbau des BfU rege Unterstützung leistete. Vgl. Püschel: Internationales Urheberrecht, S. 15. 13 Der Verband der Deutschen Presse wurde 1945 zugelassen und dem Gewerkschaftsbund FDGB angegliedert. Es handelt sich um eine Vorgängerorganisation des Verbandes der Journalisten der DDR, der als selbstständige Organisation 1959 entstand.
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und Verlagswesen und zur Verwertungsgesellschaft Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte auf dem Gebiet der Musik (AWA)14 her. Zunächst sollte das BfU der AWA angeschlossen werden. Im Sommer 1955 fuhren Werner Baum, der Abteilungsleiter in der Hauptabteilung Schöne Literatur des Ministeriums für Kultur, der Direktor der AWA, Josef Morche, und der stellvertretende AWA-Direktor, Anselm Glücksmann, nach Ungarn und in die ČSR, um sich vor Ort einen Eindruck über die dort arbeitenden Urheberrechtsbüros zu verschaffen. Sie kamen zu dem Schluss, man könnte dem Büro auch die Einbeziehung der Bühnenvertriebsrechte übergeben, die sich damals beim Henschelverlag befanden.15 Im November 1955 wurde ein erster Entwurf für die Bildung eines Büros für Urheberrechte vorgelegt. Dieser stieß allerdings auf Ablehnung, sowohl bei einigen Verlegern als auch beim Deutschen Schriftstellerverband.16 Walter Janka, der Leiter des AufbauVerlags, befürchtete zu Recht, das Büro führe zum Verlust verlegerischer Freiräume und zu einer immensen Bürokratiesteigerung.17 Und Johannes R. Becher, der Minister für Kultur, warnte Walter Janka eindringlich, man würde einen neuen Apparat schaffen, »der nicht nur die Arbeit unseres Verlages noch mehr erschwert, das Verhältnis zu unseren Autoren in Westdeutschland und im Ausland keineswegs vereinfacht, uns aber in jedem Fall sehr viel Geld kosten wird«.18 Ähnliche Befürchtungen wurden vom Dietz und Akademie-Verlag geäußert. Infolge dieser Einsprüche wurde die Konzeption des BfU dahingehend geändert, nicht mehr von der »Beschaffung«, sondern nur noch von einer »Mitwirkung« beim Erwerb und der Vergabe von Rechten und Lizenzen zu sprechen. Bereits vorliegende Verträge von Autoren und Verlagen sollten demnach durch das Büro nur formal bestätigt werden. Dieser Änderung stimmten die kritischen Verleger schließlich zu.19 Somit beschränkte sich die Einrichtung zunächst auf eine wirtschaftliche und rechtliche Beratung und traf keine kulturpolitischen Entscheidungen. Walter Janka ging noch weiter und lehnte eine Bestätigung von Verträgen mit westdeutschen und ausländischen Handelspartnern ab. Das BfU sollte lediglich eine Vertragskopie erhalten und das Amt für Literatur und Verlagswesen die einzige Entscheidungsbehörde bleiben.20 Auch der Deutsche Schriftstellerverband unter Leitung des neuen Ersten Sekretärs Eduard Claudius verzögerte seine Zustimmung. Denn die Schmälerung der Autoreneinkünfte war ebenso wenig im Interesse der Autoren wie der Umstand, dass sie dann nicht mehr über ihre Auslandsguthaben verfügen könnten, wenn Zahlungen über das BfU geleitet würden. Ein Konsens wurde durch den Vorschlag Jankas erzielt. Die
14 Die AWA wurde 1951 in Berlin (Ost) gegründet. Es handelte sich um ein Pendant zur GEMA in der Bundesrepublik Deutschland. 15 Vgl. BArch, DR 1/1395: Reisebericht 21. 7. 1955. [s. p.]. Vgl. Köhler-Hausmann: Literaturbetrieb in der DDR, S. 98; Misterek: Das Büro für Urheberrechte, S. 57–58. 16 Vgl. Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 41. 17 Vgl. BArch, DR 1/1395: Aktenvermerk Justiziar Münzer, MfK, vom 24. 10. 1955. [s. p.]. 18 Walter Janka an Johannes R. Becher. Zitiert in: Faber/Wurm (Hrsg.): »… und leiser Jubel zöge ein«, S. 19–20. 19 Vgl. BArch, DR 1/1395: Entwurf einer Verordnung über die Bildung eines »Büros für Urheberrechte« vom 15. 11. 1955. [s. p.]. Vgl. Misterek: Das Büro für Urheberrechte, S. 58–59. 20 Vgl. BArch, DR 1/1395: Protokoll über die Sitzung zur Vorbereitung der Gründung des Büros für Urheberrechte im MfK vom 16. 09. 1955. [s. p.].
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Autoren hätten demnach nur dann Gebühren zu zahlen, wenn ein direkter Vertrag mit einem westdeutschen bzw. ausländischen Vertragspartnern vorliegt. In der Hauptsache sollten aber die Verlage die Zahlungen übernehmen.21 Mit dem Statut vom 23. Oktober 1956 wurde das Büro für Urheberrechte gegründet. De facto dauerte es noch mehrere Monate, bis die Einrichtung arbeitsfähig war. Geleitet wurde es von einem Direktor.22 Das BfU unterstand der Aufsicht des Ministeriums für Kultur und war seit 1963 der dortigen Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, einer Verwaltungs- aber auch zentralen staatlichen Zensureinrichtung, direkt untergeordnet.23 In der Anfangszeit überschattete ein Skandal in der Bundesrepublik Deutschland die Geschicke der neuen Institution. Der erste BfU-Direktor Anselm Glücksmann hatte einer fast zeitgleich in Darmstadt gegründeten Verwertungsgesellschaft GELU (Gesellschaft zur Verwertung literarischer Urheberrecht mbH) im Frühjahr 1957 rund 200.000 DM überwiesen. Das Geld war für westdeutsche Autoren bestimmt, deren Werke in der DDR veröffentlicht worden waren. Den Vorteil dieses Transfers sah das Berliner Büro darin, dass keine komplizierten Einzelzahlungen an die Berechtigten über das Interzonenabkommen erfolgen mussten und diese Gelder auch ggf. der Kontrolle durch die Bonner Regierung entzogen würden. Allerdings veruntreute der GELU-Direktor einen Gutteil der übergebenen Summe. Als dies das Büro für Urheberrechte mitbekam, drohte es, Valuta-Honorare der GEMA zurückzuhalten, wenn die Gelder nicht ordnungsgemäß an die Autoren weitergeleitet würden. Da die GEMA im Verwaltungsrat der GELU saß, sprang sie für den fehlenden Posten ein. Die GELU eröffnete 1958 ein Insolvenzverfahren und machte der Nachfolgegesellschaft VG WORT Platz. Gegen Glücksmann wurde umgehend ein Disziplinarverfahren wegen Veruntreuung des transferierten Geldes eingeleitet. Es endete damit, dass man den Funktionär wegen grober Fahrlässigkeit in der Wahrnehmung seiner Dienstgeschäfte, damit verbundener Gefährdung bzw. Schädigung des Volkseigentums und Täuschung der übergeordneten Organe des Ministeriums für Kultur von seinem Posten entfernte. Das Ministerium für Staatssicherheit war mit diesem Fall betraut und forcierte Glückmanns Entlassung.24 Laut Statut, sollte das BfU in »deutschen und internationalen Einrichtungen, Organisationen und Gesellschaften auf dem Gebiete des Urheberrechtes« mitarbeiten und bei der »Unterstützung von Arbeiten zur Weiterentwicklung des Urheberrechts« sowie der
21 Vgl. BArch, DR 1/1395: Erläuterungen zum Finanzplan des BfU. [s. p.]. Zitiert in: Misterek: Das Büro für Urheberrechte, S. 60. 22 Zunächst handelte es sich um Anselm Glücksmann (1956–1957), danach folgten Jenö Klein (1957 ff.), C. Hardt, Karl Adolf (ca. 1977–1986) und Andreas Henselmann (1986–1990/ 1995). Vgl. u. a. Hinterthür: Noten nach Plan, S. 467–468, Fußnote 15. Ferner E-Mail-Auskunft von A. Henselmann am 15. 2. 2021. 23 Vgl. Anordnung über die Errichtung des Büros für Urheberrechte vom 23. 10. 1956. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 44, Teil II, Berlin 1956, S. 365 ff. Vgl. Statut des Büros für Urheberrechte vom 23. 10. 1956, in: GBl. DDR, Teil II, Nr. 44, Ausgabetag: 14. 11. 1956, S. 365– 366. Vgl. ferner Lokatis: Vom Amt für Literatur und Verlagswesen zur HV Verlagswesen, S. 48–60. 24 Dieser Fall wurde durch Bettina Hinterthür anhand von Akten des Ministerrats der DDR im Bundesarchiv und MfS-Akten des BSTU recherchiert. Vgl. Hinterthür: Noten nach Plan, S. 467–468, Fußnote 15.
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Ausarbeitung von »Normal-, Muster- und Rahmenverträgen« auf diesem Gebiet mitwirken. Die Arbeit erstreckte sich über das Urheberrecht an Werken der Literatur, der Kunst und Wissenschaft sowie der »angrenzenden Rechte«.25 Außerdem hatte es »staatliche Organe und Einrichtungen, Künstlerverbände und andere gesellschaftliche Organisationen, Verlage und Betriebe sowie Urheber, die den genannten Verbänden nicht angehören, auf dem Gebiete des Verlagswesens, der Fragen der Theater und sonstigen kulturellen Einrichtungen sowie bei der Wahrung der Autorenrechte« zu beraten. Darüber hinaus wurde das BfU mit einer Unterstützungsfunktion »bei der Vergabe und dem Erwerb von Urheber- und Verlagsrechten« aus der und in die DDR ausgestattet und übernahm die Wahrnehmung der Urheberrechte von DDR-Autoren, »soweit diese Wahrnehmung dem Büro durch das Ministerium für Kultur oder andere staatliche oder sonstige Einrichtungen, die Künstler-Verbände oder die einzelnen Urheber übertragen wird«.26 Die hier genutzte Formulierung »soweit diese Wahrnehmung […] übertragen wird« bedeutete, dass das BfU zunächst nur für individuelle Autoren verantwortlich zeichnete, die die Einrichtung direkt beauftragt hatten. Ansonsten lagen die Rechte bei den Verlagen, die allerdings generell verpflichtet waren, mit dem BfU zusammenzuarbeiten. Bis zur vollständigen Ausformung seiner Macht- und Kompetenzbefugnisse verging allerdings noch etwas Zeit, wie Siegfried Lokatis treffend einschätzte.27 Denn »paradoxerweise« erfolgte mit der Einführung des BfU im Herbst 1956 eine liberale Devisenregelung, die dem Büro die Handlungsgrundlage zunächst entzog. »Autoren waren danach nicht mehr verpflichtet, ihre Verträge mit West-Verlagen anzumelden, geschweige denn genehmigen zu lassen. Das BfU verwaltete nur den kläglichen Rest der über DDRVerlage vermittelten Auslandsverträge. Erst nach dem Mauerbau 1961 und dem Kahlschlagplenum 196528 wurde die Verlagsfreiheit der [DDR-]Autoren mit dem Westen etappenweise soweit eingeschränkt, daß das BfU zu einem mächtigen Hebel der Autorenpolitik werden konnte.«29 Dies geschah durch veränderte gesetzliche Bestimmungen – so durch die Verabschiedung eines neuen Urheberrechtsgesetzes der DDR vom 13. September Jahr 1965 und einer Anordnung zur Aufhebung bisheriger Genehmigungen im Devisenverkehr vom 20. September 1965.30 Fortan steuerte das BfU sämtliche Zahlungsbelange. Es fungierte als »Inkasso- und Verrechnungsstelle für Zahlungen aus dem Ausland an in der DDR ansässige Urheber, deren Erben und andere Berechtigte und für
25 Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 4. 26 Statut des Büros für Urheberrechte vom 23. 10. 1956. In: Gesetzblatt der DDR, Nr. 44, T. II, Berlin 1956, S. 365–366. Z. T. abgedruckt in: Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, 1981, Innen-Umschlag, vorn und hinten. 27 Vgl. Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 41. 28 Vgl. Agde (Hrsg.): Kahlschlag. 29 Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 41. Grundlage war die Anordnung über die Bekanntmachung der Allgemeinen Genehmigungen Nr. 1–5 zum Gesetz über Devisenkontrolle und Devisenverkehr vom 5. 9. 1956. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 81, Teil III, Berlin 1956, S. 735 ff. 30 Vgl. Anordnung zur Aufhebung der Allgemeinen Genehmigung Nr. 5 zum Gesetz über Devisenverkehr und Devisenkontrolle vom 20. 9. 1961. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 69, Teil II, Berlin 1961, S. 464 ff.
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den Transfer von Zahlungen der Verlage, Theater und anderer werknutzender Einrichtungen der DDR in das Ausland«.31 In diesem Sinne übte es eine Bankenfunktion aus. Sämtliche Direktverträge zwischen Autoren und Verlagen bzw. Agenturen im Ausland bedurften einer Genehmigung durch das BfU. Eine Dienstanweisung über die Durchführung von Lizenzvergaben auf dem Verlagsgebiet vom Dezember 1962 hatte die übergebenen Aufgaben bereits festgelegt. So hatte der Verlag vor Unterzeichnung einer Vereinbarung mit einem ausländischen Partner einen Vertragsentwurf beim BfU einzureichen. Die Behörde prüfte dies und konnte aus sachlichen und rechtlichen Gründen Änderungen verlangen und die Genehmigung von der Erfüllung dieser Änderungsauflage abhängig machen.32 Da aber diese Bestimmung nur sporadisch befolgt wurde, erging am 7. Februar 1966 eine Anordnung über die Wahrung der Urheberrechte durch das Büro für Urheberrechte (Wahrungsanordnung).33 Sie formulierte: »Die Vergabe von urheberrechtlichen Nutzungsbefugnissen […] an Partner außerhalb der DDR bedarf vor Abschluß des Vertrages der Genehmigung durch das Büro für Urheberrechte.«34 Bei Zuwiderhandlungen drohten Ordnungsstrafen bis zu 500 M. Kriminalisiert wurden DDR-Autoren, »die dennoch ohne Genehmigung im Westen veröffentlichten«.35 Das vergleichsweise geringe Strafmaß hielt etliche Autoren nicht davon ab, auf dem attraktiven Westmarkt zu veröffentlichen. Der Gesetzgeber reagierte nach einigen Jahren mit einer verschärften Regelung: Am 19. Dezember 1973 wurde ein neues Devisengesetz verabschiedet, nach dem jeglicher Erwerb von Devisen der vorherigen Genehmigung bedurfte. Vorhandene Guthaben mussten den Banken zum Kauf angeboten werden. Bei Nichtbefolgung drohten Urhebern in der DDR Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren, in schwerwiegenden Fällen bis zu zehn Jahren, oder Geldstrafen bis zu 10.000 M. Dieser Betrag wurde 1979 auf 20.000 M erhöht.36 Selbst bei fahrlässigem Handeln und »ohne daß die Interessen der sozialistischen Gesellschaft erheblich beeinträchtigt« wurden, konnte dies angewendet werden.37 Mit diesem harten Vorgehen wollte man gezielt unterbinden, dass vor allem kritische DDR-Literatur im Westen erschien, um über den »Bücherschmuggel« oder via Rundfunk wieder in die DDR zu gelangen und somit eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Zugleich sollte bei Veröffentlichungen stets die kulturpolitische Ausrichtung beachtet werden. Bücher hatten möglichst zuerst in der DDR und nicht zum gleichen Zeitpunkt oder früher in der BRD, West-Berlin, Österreich oder der Schweiz zu erscheinen. Vorschläge zur Auszeichnung von DDR-Werken und Autoren
31 Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 5. 32 Vgl. BArch, DR 1/1823: Dienstanweisung über die Durchführung von Lizenzvergaben auf dem Verlagsgebiet, hrsg. vom MfK, 13. 12. 1962. Zitiert in: Frohn: Büro für Urheberrechte, S. 399. 33 Vgl. Köhler-Hausmann: Literaturbetrieb in der DDR, S. 98. 34 Anordnung über die Wahrung der Urheberrechte durch das Büro für Urheberrechte vom 7. 2. 1966 (Wahrungsanordnung). In: Gesetzblatt der DDR Nr. 21, Teil II, Berlin 1966, S. 107–108. 35 Ebenda, S. 108. 36 Vgl. Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Devisengesetzes vom 28. 06. 1979. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 17, Teil I, Berlin 1979, S. 147–148. 37 Devisengesetz (DevG) der DDR vom 19. 12. 1973. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 58, Teil I, Berlin 1973, S. 574–577, hier S. 576.
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wurden als ein Versuch gewertet, »die DDR-Literatur in eine fiktive gesamtdeutsche Literatur zu integrieren und sich Autoren gewogen zu machen. […] Preise, die bisher nur an westdeutsche Schriftsteller verliehen wurden, sollten in der Regel nicht angenommen werden.« Ferner sollte der Besuch von Lesungen, Buchmessen und dgl. mehr von DDRAutoren in der BRD grundsätzlich abgelehnt werden.38 Allerdings wurde diese harte Regelung von 1973 in den 1980er Jahren nicht mehr so angewendet, sodass die Anzahl der Lesereisen von DDR-Autoren in die Bundesrepublik stieg. Die Verordnung war ausdrücklich an das Urheberrecht gekoppelt, indem bestimmt wurde, dass das BfU die Devisengenehmigung mit übernahm. Die Vermittlung von Neben- und Nutzungsrechten mit dem Ausland war somit in das Grundkonzept des staatlichen Außenhandelsmonopols und des Devisenmonopols eingebettet. Dabei konnte das Büro verlangen, die Nutzungsrechte zunächst einem Verlag oder einer anderen kulturellen Einrichtung der DDR anzubieten. Generell prüfte es die entsprechenden Verträge und nahm inhaltlich auf sie Einfluss. Ausgenommen von der Genehmigungspflicht waren der Erwerb und die Vergabe von Urheberrechten durch Presseorgane, wissenschaftliche Fachzeitschriften, Rundfunk und Fernsehen sowie Verträge, die durch die AWA für das Gebiet der Musik abgeschlossen wurden.39 Wenn auch nach dem geltenden Gesetz der Katalog der Wahrnehmungsrechte eingeschränkt war, übernahm das Büro für Urheberrechte dann Aufgaben einer Verwertungsgesellschaft, wenn es um den internationalen Transfer von Autorenhonoraren und Lizenzgebühren ging. Um eine Verwertungsgesellschaft im engeren Sinne handelte es sich aber nicht. Generell gestaltete sich aufgrund der jahrzehntelangen Nichtanerkennung der DDR durch den Westen der Honorar- und Lizenzgebührentransfer mit der Bundesrepublik kompliziert. Wenn z. B. eine Bühne der DDR ein Stück aufführen wollte, das sich nicht im Programm des Bühnenvertriebs im Henschelverlag Berlin befand, wurden die Rechte durch das BfU erworben. Die Theater zahlten an das Büro, ohne dass diese Gebühr für den Rechteinhaber außerhalb der DDR ersichtlich war, einen entsprechenden Gebührenprozentsatz. Die Vereinigung der Bühnenverleger und Bühnenvertriebe in West-Berlin hatte z. B. in Verhandlungen mit dem Ministerium für Kultur und dem Büro für Urheberrechte erreicht, dass ab dem 1. Januar 1957 die aus Inszenierungen in der DDR anfallenden Urhebervergütungen und Materialleihgebühren im Verhältnis 1 zu 1 abgegolten wurden. Es handelte sich um eine Regelung, die in das innerdeutsche Handelsabkommen eingebettet war. Als eine Schwierigkeit für den innerdeutschen Literaturaustausch stellte sich heraus, dass lange Zeit die Valutaschulden des BfU – also die Honorarzahlungen in das nichtsozialistische Ausland – nicht mit Einnahmen aus dem Druckgeschäft ausgeglichen werden konnten, die über den Leipziger VEB Buchexport zum Handelsministerium flossen. Westverleger konnten somit nicht ausgezahlt werden und erhielten ersatzweise für ihre Lizenzen Auszahlungen in DDR-Mark auf ein Sperrkonto.40 Wurden dem BfU 1956 4,5 Mio. Clearingmittel (Valuta) zugewiesen, sank dieser Posten 1957 auf 3,6 Mio. und
38 BArch, DY30/IV B 2/9.06/29: Zur Arbeit der belletristischen DDR-Verlage nach der BRD vom 2. 3. 1973. Zitiert in: Frohn: Büro für Urheberrechte, S. 400–401. 39 Vgl. ferner Berger (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch, S. 122–123. 40 Vgl. BArch, DR 1/1274: Schreiben von Anselm Glücksmann an die Abteilung Literatur und Buchwesen, 3. 11. 1962. Zitiert in: Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 42.
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1958 auf 1,3 Mio.41 Ein Teil der Valuta-Guthaben westlicher Verlage beim BfU konnte dadurch abgeholten werden, dass diese Verlage eigene Auflagen preiswert in der DDR drucken ließen, wobei ihr Verlagsname in die Bücher eingedruckt wurde. Das erklärte Ziel des BfU bestand demnach darin, eine Senkung der Valutaverpflichtungen zu erzielen, bei gleichzeitiger Erhöhung der Einnahmen aus der Vergabe von Urheber- und Verlagsrechten.42 Dieser Trend kann der nachfolgenden Tabelle entnommen werden. Sie bezieht sich allerdings nur auf Vertrags-, also Titelzahlen, nicht auf erlöste Devisen. Von 1976 bis 1980 wurden insgesamt 11.255 Verträge erworben und vergeben. Ein Großteil betraf den Lizenzaustausch mit den sozialistischen Ländern, der bei rund 50 % lag. Danach folgte mit 36 % die Rechtevergabe mit dem nichtsozialistischen, deutschsprachigen Ausland (BRD, West-Berlin, Österreich und Schweiz). Das übrige Ausland machte insgesamt nur 14 % aus. Tab. 1: Abgeschlossene Verträge über den Erwerb und die Vergabe urheberrechtlicher Nutzungsbefugnisse durch das BfU 1976–1980* (Quelle: Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 62). 1) = Erwerb, 2) = Vergabe
1976
1977
1978
1979
1980
gesamt
sozialistische Länder
1) 895
1) 756
1) 719
1) 683
1) 569
3.622
2) 310
2) 370
2) 381
2) 533
2) 383
1.977
deutschsprachige Länder** (BRD, 1) 475 West-Berlin, Österreich, Schweiz) 2) 243
1) 425
1) 502
1) 458
1) 363
2.223
2) 270
2) 348
2) 404
2) 584
1.849
skandinavische Länder
1) 46
1) 31
1) 29
1) 22
1) 24
152
2) 21
2) 19
2) 21
2) 28
2) 11
100
1) 141
1) 125
1) 113
1) 96
1) 105
580
2) 50
2) 58
2) 62
2) 84
2) 57
311
1) 44
1) 28
1) 44
1) 15
1) 25
156
2) 10
2) 17
2) 11
2) 15
2) 11
64
1) 4
1) 3
1) 9
1) 2
1) 5
23
2) 19
2) 19
2) 32
2) 11
2) 20
101
1) 8
1) 15
1) 15
1) 11
1) 19
68
2) 2
2) 2
2) 7
2) –
2) 15
29
westeuropäische Länder
außereuropäische Länder, englischsprachig (USA, Kanada, Australien) Japan
übrige Länder
* Einschließlich der Verträge über die Nutzung einzelner Beiträge, Erzählungen, Gedichte usw. ** In diesen Zahlen sind auch Werke fremdsprachiger Autoren enthalten, deren Rechte durch Verlage der deutschsprachigen Länder wahrgenommen werden.
41 Vgl. Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 46. Vgl. ferner Lokatis: Die »ideologische Offensive der SED«, S. 63–64. 42 Vgl. Misterek: Das Büro für Urheberrechte, S. 61.
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Abb. 1: Beratung der sozialistischen Urheberrechtsbüros vom 5. bis 10. Juni 1978 in Berlin. Unterzeichnung des Protokolls der Beratung, dabei Klaus Höpcke, Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (3. v. l.). Quelle: Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit. Das Büro für Urheberrechte Berlin 1956–1981. Festschrift 1981, S. 30.
Zur Struktur des Büros für Urheberrechte ist noch zu ergänzen, dass es in folgende Ressorts untergliedert war: Devisen (Finanzen), Verlage, Theater und Musik, Bildende Kunst, Autoren, Recht, Dokumentation und Information. Im Schnitt waren hier 40 bis 45 Mitarbeiter beschäftigt. »Alle Bereiche waren flach organisiert«,43 für den gesamten Autorenbereich waren allerdings nur zwei Personen zuständig. Somit standen bei einem jährlich enorm gestiegenen Bedarf an Vertragsbearbeitungen Verzögerungen auf der Tagesordnung. 1980 betreute das Büro für Urheberrechte ca. 2.000 Autoren (Schriftsteller, Wissenschaftler, Sach- und Fachbuchautoren, Zeitschriftenautoren, Beiträger von Sammelwerken, Komponisten) und noch einmal so viele Urheber von Bild- und Kunstwerken (Maler, Bildhauer, Grafiker, Illustratoren, Fotografen, Zeichner, Kartografen). Zu den Partnern gehörten ferner Hoch- und Fachschulreinrichtungen, »urheberrechtlich geschützte Werke nutzende und verbreitende Betriebe« wie Verlage, Theater, Orchester, Museen, die Filmstudios der DEFA und der VEB Deutsche Schallplatten, ferner Betriebe, die Spielwaren oder kunstgewerbliche Artikel nach geschützten Werken herstellten, und Herausgeber von Schriften, die nicht in Verlagen erschienen und nur örtlich verbreitet wurden.44
43 Einschätzung des letzten Direktors Andreas Henselmann (1986–1990) in einer E-Mail vom 15. 2. 2021. 44 Vgl. Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 5. Vgl. Privatarchiv Lutz Rathenow: Bericht des Autors Lutz Rathenow über einen Besuch im BfU am 6. 8. 1980, S. 2. Mit Dank an den Autor für die Bereitstellung des Materials.
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Der Devisentransfer über das Büro für Urheberrechte betrug in den 1980er Jahren ca. fünf bis sieben Mio. Valutamark jährlich. Enge Zusammenarbeit bestand mit den Künstlerverbänden sowie mit dem Lehrstuhl Urheberrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem fungierte das Büro auch als Gutachterstelle in Rechtsstreitigkeiten, die vor dem Obersten Gericht der DDR und dem Leipziger Bezirksgericht verhandelt wurden. Das BfU war durch zahlreiche Gegenseitigkeitsverträge mit ähnlichen Büros in den sozialistischen Ländern, insbesondere der Sowjetunion und Ungarn, verbunden und sorgte auf diese Weise für gleiche Bedingungen im dortigen kulturellen Austausch. Regelmäßig fanden innerhalb der sozialistischen Staaten Beratungen statt, so 1976 in der UdSSR, 1977 in Bulgarien, 1978 in der DDR, 1979 in der ČSSR und 1981 in Ungarn.45 Spätestens ab 1988, nach dem innerdeutschen Kulturabkommen von 1986, gab es mehrfach indirekte Kontakte des Büros für Urheberrechte zur VG WORT (München) und zur VG BildKunst (Bonn). Eine offizielle Kontaktierung fand nicht statt, dazu wäre ein entsprechender Beschluss des Zentralkomitees der SED nötig gewesen. Es gelang immerhin, das Auftreten auf internationalen Kongressen in Genf und Paris intern abzusprechen.46
Die Tätigkeit des BfU aus Verlags- und Autorensicht. Die Fallbeispiele Lutz Rathenow, Stefan Heym und Wolfgang Hilbig Als 1981 anlässlich des 25-jährigen Bestehens des BfU eine Festschrift erschien, nutzten mehrere Verlage die Möglichkeit, um ihre Glückwünsche und »Wünsche« zu formulieren. Wenn dort von »weiterer Verbesserung« und Intensivierung der gemeinsamen Arbeit die Rede war, dann gab es offensichtlich neben aller Zufriedenheit auch Defizite. So formulierte Hans-Otto Lecht (NDPD), der stellvertretene Leiter des Verlags der Nation (Berlin): Meine Wünsche für eine weitere erfolgreiche Arbeit des Büros möchte ich nach inzwischen gesammelten Erfahrungen zusammenfassen nach: weitere Verbesserung der wissenschaftlichen Leitungstätigkeit zum Komplex Lizenzen, Verbesserung des kulturpolitischen und ökonomischen Nutzeffektes der Lizenzen und hilfreiche Unterstützung der Verleger im erheblich internationaler gewordenen Verlagsgeschehen, Praktizierung von Maßnahmen der materiellen 47 Interessiertheit für Autoren und Verlage.
Der Hauptdirektor des Volk und Wissen Verlages (Berlin), Rolf Weber, wünschte sich vom Büro noch umfassendere Informationen über Entwicklungstendenzen der Lizenznahmen auf einzelnen Marktgebieten, zudem »mehr Hinweise zum Ablauf des Geschäftsverkehrs, z. B. zu Änderungen im Valutaverkehr«. Schließlich sollten Verfahrensregelungen mit Dritten geschaffen werden, z. B. bei Koeditionen oder Koordinierungen zwischen dem BfU und dem Außenhandelsbetrieb (AHB) Buchexport.48 Der ökonomische Leiter des VEB E. A. Seemann Verlags in Leipzig, Norbert Mahn, wollte vom
45 Berichterstattung hierüber, siehe: Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 23–49. 46 Auskunft von Andreas Henselmann, dem Direktor des BfU bis 1991, vom 8. 11. 2007. Vgl. ferner Berger (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch, S. 122–123. 47 Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 10. 48 Vgl. Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 12.
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Büro ein Vertragsmuster für unterschiedlichste Zwecke erhalten, »z. B. auch für Fotografenverträge, Gestalterverträge, Reproduktionsverträge, fremdsprachige Lizenzverträge«. Hierin sollte es eine »größere Flexibilität bei der Berücksichtigung spezieller Wünsche der Verlage beim Valutatransfer und besonders besseres Durchsetzungsvermögen gegenüber Buchexport beim Problem der Rechtsvergaben [geben], die mit Druckaufträgen für die DDR verbunden sind«.49 Und der Ökonomische Leiter des VEB Verlag Technik (Berlin), Fitzner, forderte mehr Lizenzvergaben in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, regelmäßige Informationsbriefe des BfU – wie es sie früher schon einmal gegeben hatte, eine Fortführung des Verlagsmitarbeiter-Qualifizierungslehrgangs beim BfU mit verstärkter Behandlung praktischer Rechtsfragen und eine Verkürzung der Transferzeiten für Lizenzgebühren.50 Herbert Wulff, der Ökonomische Leiter des Kinderbuchverlags (Berlin), brachte es auf die Formel: »Was erwartet der Verlag vom Büro für Urheberrechte? […] Mehr Valutamittel! […] Damit sprechen wir nicht nur im Namen des Verlages, sondern weitgehendst im Auftrage unserer Urheber.« In der »Festschrift« ergänzte Wulff: »Wir vernehmen immer wieder, daß die manchmal doch recht problematischen Situationen, die mitunter Autoren oder auch Illustratoren schaffen können, mit sehr viel Fingergefühl zur allseitigen Zufriedenheit vom Büro für Urheberrechte gelöst werden.«51 Ganz so kann es nicht gewesen sein. Hätte das BfU die Autorenrechte optimal und mit »sehr viel Fingergefühl« vertreten, ihre Publikationstätigkeiten im (westlichen) Ausland vollumfänglich unterstützt und die den DDR-Schriftstellern zustehenden Honorare (komplett) ausgezahlt, dann hätte es nicht eine breite Unzufriedenheit mit dieser Einrichtung gerade unter den Autoren gegeben. Das BfU verhinderte nicht nur in vielen Fällen westliche Lizenzveröffentlichungen aus ökonomischen oder politisch-ideologischen Gründen, sondern enthielt DDR-Autoren einen Teil ihrer West-Honorare vor.52 Hier wurde den Interessen der Urheberpersönlichkeit ein staatliches Interesse entgegengestellt, an den Erlösen aus der Werknutzung teilzuhaben. Die Autoren erhielten von den ihnen zustehenden Valuta-Honoraren deshalb einen geringeren Wert, weil diese Summe zu rund zwei Drittel in Mark der DDR und nur zu einem Drittel in Valuta ausgezahlt wurde. Den letztgenannten Teilbetrag vergütete das BfU in der Regel mit Forumschecks der Einzelhandelskette Intershop GmbH (gegr. 1962),53 in geringerem Maße in Bezugsscheinen für »westliche Waren führende Geschäfte« der Genex Geschenkdienst GmbH (gegr. 1956).54 Einige Westverlage gingen seit den 1970er Jahren 49 50 51 52
Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 13. Vgl. Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 14. Heitkam/Münzer (Redaktion): Aus der Arbeit, S. 12. Die West-Honorare wurden dann nicht in Devisenform ausgezahlt, sondern im Umtauschverhältnis von 1 : 1 in DDR-Mark. Vor dem Mauerbau konnten DDR-Autoren ihre Rechte an ausländische bzw. westdeutsche Verlage selbst vergeben. Erst ab dem 1. Oktober 1961 war eine einheitliche Genehmigung des BfU obligatorisch. Vgl. Lokatis: Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, S. 212. 53 Intershop war eine Einzelhandelskette in der DDR, deren Waren nur mit konvertierbaren Währungen, später auch mit Forumschecks, jedoch nicht mit Mark der DDR bezahlt werden konnten. 54 Die Genex Geschenkdienst GmbH war eine der wichtigsten Devisenquellen der Kommerziellen Koordinierung, einer Abteilung des Ministeriums für Außenhandel der DDR. Das Unter-
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dazu über, eine Teilsumme der Honorare zum Verbrauch zurückzustellen, beispielsweise für DDR-Autoren, die in die Bundesrepublik einreisten. Dies wurde vom BfU stillschweigend in Kauf genommen.55 Diese Praxis der staatlichen Abzweigung oder, wenn man es noch zugespitzter formulieren will, der staatlichen Bereicherung, führte zu öffentlich formulierten Protesten. Der Dissident Robert Havemann stellte zum 30. Jahrestag der Gründung der DDR am 1. September 1979 zehn Thesen auf, deren dritte lautete: »Abschaffung jeglicher Zensur und Auflösung des Büros für Urheberrechte.«56 Und Stefan Heym bezeichnete das BfU metaphorisch als »das Messer an der Kehle der Schriftsteller der Republik«.57 Wo der Widerstand wächst, bahnen sich mitunter neue Wege. Und so hatte eine Reihe namhafter Autoren am BfU vorbei, vielfach mit dessen Kenntnis und stillschweigender Duldung – weil das Büro eine öffentliche Debatte darüber offensichtlich scheute –, Verträge unmittelbar mit Verlagen der Bundesrepublik Deutschland und der VG WORT geschlossen, womit auch der Transfer von Devisen über das BfU gegenstandslos wurde.58 Aufschlussreich sind authentische Beschreibungen aus Sicht von DDR-Autoren, wie sie die Arbeit des Büros wahrnahmen. Nehmen wir das Beispiel des 1952 in Jena geborenen Lyrikers und Prosaautors Lutz Rathenow.59 Nach dem Wehrdienst nahm Rathenow an der Universität Jena ein Pädagogikstudium Deutsch und Geschichte auf. Dort gründete und leitete er den oppositionellen Arbeitskreis Literatur und Lyrik Jena und knüpfte Kontakte zur Berliner Wochenschrift Weltbühne. Der Arbeitskreis wurde bald observiert und 1975 durch das Ministerium für Staatssicherheit verboten. Nach der Ausbürgerung Biermanns 1976 wurde Rathenow verhaftet und Anfang 1977, drei Monate vor seinem ersten Staatsexamen, wegen »Zweifeln an Grundpositionen, Objektivismus und Intellektualisieren der Probleme« exmatrikuliert. Anschließend arbeitete er als Beifahrer und Transportarbeiter beim VEB Carl Zeiss Jena. Ende 1977 zog er nach Berlin, wo er beim Theater arbeitete und als freier Schriftsteller lebte. Während dieser Zeit schrieb er einige Science-Fiction-Erzählungen, die auch in BRD-Anthologien erschienen. Nach der Veröffentlichung seines Buches Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet (1980) – nur in der Bundesrepublik Deutschland (Ullstein, Frankfurt am Main) und am BfU vorbei – wurde Rathenows Wohnung im November 1980 durchsucht und der Autor in das zentrale Untersuchungsgefängnis der DDR-Staatssicherheit in Berlin wegen eines »Devisenvergehens« verbracht. Unter anderem setzten sich Christa Wolf und Günter Grass für
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nehmen vertrieb einen Katalog mit dem Titel »Geschenke in die DDR«, aus dem die Bürger der Bundesrepublik Waren bestellen und mit DM bezahlen konnten, welche direkt an ihre Verwandten und Bekannten in der DDR versendet wurden. Die Waren des Katalogs entstammten jedoch zu etwa 90 Prozent der DDR-Produktion. Oftmals handelte es sich um stark nachgefragte und auf dem Binnenmarkt der DDR kaum erhältliche Konsumgüter. Vgl. Löffler: Die Kulturpolitik der SED-Führung, S. 148. Vgl. Frohn: Büro für Urheberrechte, S. 399. Havemann: Zehn Thesen. Böhme/Bickerich: Der DDR-Schriftsteller Stefan Heym, S. 58. Vgl. Das Messer an der Kehle. Vgl. Schreiben von Jan Ehrhard, Verband Deutscher Bühnenverleger e. V. an den Bundesminister der Justiz vom 5. 3. 1990, S. 1–2. In: Archiv VG WORT. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das Privatarchiv von Lutz Rathenow, das mir in Auszügen zugänglich gemacht wurde. Mit Dank an Lutz Rathenow.
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seine Haftentlassung ein, die zehn Tage später erfolgte. Rathenow blieb in der DDR und lehnte Ausreiseangebote der DDR-Behörden ab. Später engagierte er sich aktiv in der unabhängigen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung der DDR.60 Am 6. August 1980 wurde Rathenow durch den damaligen Direktor Karl Adolf in das Büro für Urheberrechte bestellt. Das Büro befand sich im zweiten Stock einer restaurierten Ruine in der Clara-Zetkin-Straße 105 (heute Dorotheenstraße) in unmittelbarer Nähe zur Berliner Mauer. Von einem größeren Flur gingen zahlreiche Bearbeiterzimmer ab. Aufgrund eines defekten Daches hatte es tags zuvor durchgeregnet, so dass es Wasserflecke an Decken und Wänden gab.61 In dem folgenden, ca. 90-minütigen Gespräch wurden Details zu den Lizenznahmen und -vergaben in die Bundesrepublik Deutschland und nach West-Berlin besprochen. Eingangs monierte der Direktor fehlerhafte bzw. ungenaue Meldungen von Zeitschriftenaufsätzen. Man hätte nicht die Zeit, um sich einem einzelnen Autor so intensiv zu widmen. Insbesondere mahnte Adolf, dass jedwede Form einer Veröffentlichung nach der Wahrungsanordnung von 1966 genehmigungspflichtig sei. Daraufhin konterte Rathenow, dass es nach § 5, Absatz 1 dieser Ordnung Ausnahmen u. a. bei wissenschaftlichen Fachzeitschriften gebe. Und hierzu zählten auch Literaturzeitschriften, die literaturwissenschaftliche Artikel enthalten. Dies wurde vom Vertreter des BfU mit Verweis auf die Handhabung des bundesdeutschen Börsenvereins verneint. Eine Literaturzeitschrift sei keine wissenschaftliche. Auch der Auffassung Rathenows, er könne bei Presseorganen der Bundesrepublik wie der Frankfurter Rundschau oder der Süddeutschen Zeitung ohne Genehmigung veröffentlichen, wurde widersprochen. Dies sei aber auch eine unglückliche Formulierung in der Wahrungsanordnung. Gemeint waren im Gesetzestext lediglich Presseorgane der DDR, im Ausland benötigte man in jedem Fall die Zustimmung des BfU.62 Aufschlussreich ist das Zwiegespräch zwischen Rathenow und Adolf über Anthologien. Der Autor hatte mehrere Angebote aus der BRD erhalten, denen das BfU allerdings nicht zustimmen wollte. Hierzu muss man wissen, dass nach einer internen Handlungsregelung des BfU galt: Lizenzanforderungen von BRD-Verlagen für die Aufnahme einzelner Werke unserer Autoren (Prosa oder Lyrik) sind durch die Verlage gründlich, prinzipiell und elastisch zu behandeln. […] In der Regel sollte die Beteiligung an thematischen Anthologien erfolgen, nicht aber an »deutschen«, bzw. es muß durch unsere Verlage erreicht werden, daß solche Titel geändert 63 werden.
Der Direktor Adolf verwies auf eine vertragsähnliche Vereinbarung mit dem Rowohlt Verlag, der Rathenow in eine Gedicht-Anthologie aufnehmen wollte. »Wissen Sie«, so
60 Vgl. Rathenow: Gut zwanzig Jahre danach. 61 Vgl. Privatarchiv Lutz Rathenow: Gesprächsnotizen vom Besuch im Büro für Urheberrechte vom 6. 8. 1980, Bl. 1. 62 Vgl. Privatarchiv Lutz Rathenow: Gesprächsnotizen vom Besuch im Büro für Urheberrechte vom 6. 8. 1980, Bl. 2–3. 63 BArch, DY30/IV B 2/9.06/29: Zur Arbeit der belletristischen DDR-Verlage nach der BRD vom 2. 3. 1973. Zitiert in: Frohn: Büro für Urheberrechte, S. 401.
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Adolf, »was uns das für eine Arbeit macht? Bei jeder Anthologie, die Sie melden, müssen wir uns mit dem Verlag in Verbindung setzen und die Konzeption anfordern. Diese wird im Ministerium für Kultur beraten. Und das wegen (er wedelt mit dem Brief) zwanzig Mark. Lohnt sich doch gar nicht!« Über diese Einschätzung war Rathenow verblüfft, es ginge ihm nicht (allein) um das Geld. Der Direktor führte weiter aus, dass der Kontext der Veröffentlichungen wichtig sei. So hätten sich vier DDR-Autoren geweigert, neben Wolf Biermann in einer Anthologie des Kindler Verlags (München) abgedruckt zu werden. Wenn sich vier verweigern, so der Direktor, müsse man Geschlossenheit zeigen, und auch alle weiteren DDR-Autoren sollten auf einen Abdruck verzichten. Rathenow erwiderte, er habe nichts dagegen, neben Biermann zu stehen. Er sei ein angesehener Künstler der Bundesrepublik und ständig den Angriffen der politischen Rechten ausgesetzt. Außerdem seien Schriftsteller keine Fußballmannschaft. Geschlossenheit auf diesem Gebiet zu zeigen, sei keine Stärke. Manchmal komme es den Herausgebern auch nicht auf einen DDR-Autor an, sondern auf einen bestimmten Text. So stand er schon in etlichen Sammelbänden ohne jede biographische Notiz.64 Da sich der Bekanntheitsgrad eines Dichters auf diese Weise steigern ließ, war dies in seinem Interesse. Schließlich ging es um den Prosaband Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet,65 der keine Veröffentlichungsgenehmigung durch das BfU besaß und im Ullstein Verlag bereits angekündigt worden war. Obwohl einige Kurzgeschichten schon in DDRVerlagen erschienen waren, war Rathenow der Meinung, das BfU habe sich nicht gebührend für die Veröffentlichung im Inland eingesetzt. Das bestritt Adolf und störte sich weiter am Ankündigungstext, in dem stand: »Es konnte dort, wo seine Geschichten ihren sozialen und politischen Hintergrund haben, nicht erscheinen«. Diese Formulierung bedeutete, es sei in der DDR verboten worden – das stimmte aber nach Einschätzung des Direktors nicht. Er wurde daraufhin laut: »Wie können Sie das behaupten! Ich habe die Texte allen [DDR-]Verlagen angeboten. […] Ich habe alles versucht.« Es folgte ein weiterer Wortwechsel, in dem der Autor dieser Einschätzung widersprach. Rathenow
64 Vgl. Privatarchiv Lutz Rathenow: Gesprächsnotizen vom Besuch im Büro für Urheberrechte vom 6. 8. 1980, Bl. 7. 65 Ein Gutachten für das Ministerium für Kultur urteilte hierzu: »Die 42 kurzen Geschichten schildern, wie sich Tötungslust in einem sadistischen Pubertanten entwickelt, wie der Sozialismus Funktionäre zu seelenlosen Untertanen, miesen Typen und bürokratischen Mördern macht, wie sie und der sozialistische Alltag mit seinen Schwierigkeiten die dumpfe Lust zum Randalieren, Brandstiften und Töten erzeugen. […] Der Form nach richtet sich der Terror gegen ein ›autoritäres System‹. […] Die literarische Wirksamkeit kann im Sinne der Schockwirkung beträchtlich sein. Der Anarchismus ist nur Hülle für die rechtsextremistische, faschistische Grundhaltung.« In: Privatarchiv Lutz Rathenow. Vergleichend dazu war in einer Rezension im Westberliner Tagesspiegel zu lesen: »Aber liest man seine Prosa im Westen, bleibt einem nicht etwa die Schadenfreude, weil doch hier alles ganz anders sei. Nein, der Verschleiß von Intelligenz und Mitmenschlichkeit ist der gleiche, allenfalls unterscheiden sich die Parolen, der Tenor der Reden und natürlich der Polit- und der Produktionsjargon. Kurz, es gibt keinen Anlaß, Lutz Rathenows Texte in der DDR nicht zu veröffentlichen; sie wären hilfreich«. Der junge DDR-Autor Rathenow. In: Der Tagesspiegel, 11. 1. 1981, Berlin (West), S. 25.
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drohten nun, da er nicht gewillt war, das Erscheinen seines Buches in der Bundesrepublik zu widerrufen, juristische Sanktionen wegen »Devisenvergehens«, die kurze Zeit später auch folgen sollten.66 Bis auf ein Kinderbuch 1988 wurden ihm bis zum Ende der DDR weitere Buchpublikationen im Inland verwehrt. Dafür gelangen ihm einige wenige Veröffentlichungen in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin gegen den Widerstand des BfU und des Ministeriums für Kultur.67 Anhand dieses Fallbeispiels wird deutlich: Das BfU entwickelte Interessen und Strategien, die dem Autoreninteresse nicht selten entgegenstanden. Vordringlich ging es der Einrichtung um die Erzielung von Devisen, aber nicht um jeden Preis. So sollten Publikationen im westlichen Ausland auch ein positives DDR-Image erzeugen. Waren Arbeiten zu kritisch, wurde ihre Veröffentlichung untersagt. Wobei die Frage, was »kritisch« war und was nicht, in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Kultur unterschiedlich ausgelegt wurde. Zudem wird deutlich, dass bei der personellen Unterbesetzung des Büros kleinere Lizenzanfragen der Autoren oder westlicher Verlage, etwa in der Form von Anthologie- und Zeitschriftenbeiträgen, deshalb vom BfU nicht bearbeitet wurden, weil sie bei einem vergleichsweise hohen Arbeitsaufwand geringe Honorarausschüttungen versprachen. Diese Praxis wirkte ebenfalls gegen die Interessen von Autoren, die sich mit jeder Veröffentlichung im Ausland eine Verbesserung ihres Bekanntheitsgrades versprachen und auch kleinere Honorare für attraktiv hielten. Rathenow schätzt hierzu ein, dass die Hilfe der staatlichen Einrichtung einseitig war. Mir sind nur Fälle bekannt, in denen das Büro brieflich – mit und ohne Zustimmung des Autors – Veröffentlichungen untersagt. Rechtshilfe, wenn ein Verlag Verpflichtungen nicht nachkommt, wird nicht geleistet. Meine Anfragen wegen sich verzögernder Honorarzahlung wurden vom Büro zweimal mit dem Hinweis beantwortet, ich solle mich selbst an den säumi68 gen Verlag wenden.
66 Vgl. Privatarchiv Lutz Rathenow: Gesprächsnotizen vom Besuch im Büro für Urheberrechte vom 6. 8. 1980, Bl. 9–17. Vgl. Privatarchiv Lutz Rathenow: Schreiben vom Direktor des BfU Karl Adolf an den Generalstaatsanwalt der DDR vom 2. 12. 1980. In diesem erbetenen Auskunftsschreiben legt das BfU u. a. den Gegenstand des hier von Autorenseite beschriebenen Gespräches vom 8. August 1980 dar und stellt fest, dass sich Rathenow bei seinem Devisenvergehen nicht auf Unkenntnis der Rechtsvorschriften berufen kann, weil er rechtzeitig belehrt und schriftlich unterrichtet wurde. 67 Es handelt sich u. a. um Zangengeburt. Gedichte (Piper, 1982), Boden 411. Stücke zum Lesen und Texte zum Spielen (Piper, 1984) und Ostberlin. Die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern (Piper, 1987). 1989 informierte Klaus Höpcke über die Entscheidung bezüglich der Veröffentlichungs- und Reisemöglichkeiten von Rathenow: »Danach wurde entschieden, daß Rathenow keinerlei Zugeständnisse zu machen sind, von ihm keine Publikationen in der DDR erscheinen und geplante Veröffentlichungen rückgängig gemacht werden.« Vgl. Privatarchiv Lutz Rathenow: Vermerk über ein Gespräch mit dem stellv. Minister für Kultur, Genosse Höpcke zu Lutz Rathenow. Hauptabteilung XX/7 des Ministeriums für Staatssicherheit, Berlin, den 6. 2. 1989. Vgl. ferner Segebrecht (Hrsg.): Auskünfte von und über Lutz Rathenow. 68 Privatarchiv Lutz Rathenow, Bl. 5: Gesprächsnotizen vom Besuch im Büro für Urheberrechte vom 6. 8. 1980.
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Abb. 2: Brief von Karl Adolf, Direktor des Büros für Urheberrechte, an Lutz Rathenow, 14. Dezember 1983, mit der Ablehnung einer Genehmigung. Privatarchiv Lutz Rathenow.
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Das Exempel eines in der BRD am BfU vorbei veröffentlichten Manuskripts bzw. Buches betraf auch zahlreiche weitere Autoren. Die Rechtslage war hier insofern uneinheitlich, weil einige DDR-Autoren noch eine ursprünglich vorhandene Vertragsfreiheit gegenüber westlichen Verlagen besaßen, die aus Kontakten vor 1966 stammte. Hier gelang es dem Büro für Urheberrecht nur etappenweise, die vorhandenen Freiräume der Schriftsteller zurückzudrängen. Dies war etwa bei Anna Seghers und Luchterhand oder Bertolt Brecht und Suhrkamp der Fall.69 Es gab auch Fälle offener Konfrontation, wie das Beispiel Stefan Heym zeigt. Heym war, so urteilte der Biograf Peter Hutchinson, ein Rebell, schon lange bevor er in die DDR kam. Und er wurde einer der ersten Dissidenten des Landes. Seine doppelte Staatsangehörigkeit (USA und DDR) sorgten im Verbund mit einer breiten internationalen Popularität ebenfalls für eine Sonderstellung, die der Autor anders als im Falle von Brecht und Seghers für wiederholte, systemkritische Äußerungen und Auseinandersetzungen nutzte. Er ließ sich durch die DDR-Zensur einfach nicht kontrollieren.70 Für seinen Dissens mit dem Büro für Urheberrechte sollen hier nur zwei Beispiele angeführt werden. Nachdem der Berliner Aufbau-Verlag die Veröffentlichung des Romans Lassalle über Ferdinand Lassalle, den Sozialisten, Schriftsteller und Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, abgelehnt hatte, vergab Heym 1968 die Rechte an den Münchner Bechtle-Verlag unter Umgehung des Büros für Urheberrechte. Das Buch erschien im Jahr darauf in der Bundesrepublik. Der Ablehnung durch den Aufbau-Verlag ging eine Negativeinschätzung durch die DDR-Zensur voraus, die sich an der provokanten Darstellung von Marx und Engels störte. Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur verhängte als unmittelbar übergeordnete Instanz des BfU eine Geldstrafe von 300 M plus 0,80 M Portospesen wegen Verstoßes gegen bestehende Devisenbestimmungen. Heym kommentierte dies später wie folgt: Ihm wurden die 300 M auch dann nicht erstattet, als das monierte Buch 1974 endlich in der DDR erscheinen konnte.71 Im Dezember 1973 wurde ein verschärftes Devisengesetz verabschiedet, das die Geldstrafen auf bis zu 10.000 M (1979 sogar auf 20.000 M) erhöhte und in schwerwiegenden Fällen mit Haftstrafen drohte.72 Es wurde 1979 gegen Autor Heym angewendet, weil er den Roman Collin (1979) wiederum nur in der Bundesrepublik Deutschland, konkret im Gütersloher Verlag C. Bertelsmann, veröffentlichte, abermals ohne vorherige Zustimmung des Büros für Urheberrechte, die er auch nicht erhalten hätte. Er wurde wegen des Verstoßes gegen das Devisengesetz zu einer Geldstrafe von 9.000 M verurteilt und aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Inhaltlich ging es im Roman Collin darum, wie die Stasi mit einem unbequemen Schriftsteller umsprang. Und hier verarbeitete Heym autobiographische Erlebnisse. Wie sich später herausstellte, hatte
69 Vgl. Lokatis: Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik, S. 41. Zu Anna Seghers, siehe diverse Unterlagen im Anna-Seghers-Archiv, u. a. Sign. 2116. 70 Vgl. Hutchinson: Stefan Heym, S. 5. 71 Vgl. Löffler: Die Kulturpolitik der SED-Führung, S. 142. Vgl. Das Messer an der Kehle. 72 Vgl. Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Devisengesetzes vom 28. 06. 1979. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 17, Teil I, Berlin 1979, S. 147–148.
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die Staatssicherheit über die Putzfrau der Heyms, IMV73 »Frieda«, frühzeitig Kenntnis vom Manuskript erhalten und sich während eines Auslandsurlaubs der Familie Heym per Nachschlüssel Zugang zur Privatwohnung verschafft. Innerhalb weniger Stunden fertigten Mitarbeiter des MfS eine vollständige Fotokopie des Manuskripts an, das Heym vorsorglich in seinem Schreibtisch eingeschlossen hatte.74 Selbst wenn ein Autor sich an die Rechtslage hielt, hieß das nicht, dass er auf der sicheren Seite war, wie der Fall von Wolfgang Hilbig und seinem ersten Buch abwesenheit (1979) zeigt.75 Der angehende Autor arbeitete als Heizer und hätte im Arbeiterund-Bauer-Staat eigentlich Hilfe bei seinen literarischen Plänen erwarten können, war aber überall bei Verlagen und Redaktionen auf Ablehnung gestoßen, weil er sich literarisch am Frühexpressionismus orientierte und jeden Fortschrittsoptimismus vermissen ließ. Nach mehr als fünfzehnjähriger Arbeit konnte er 1977 nur auf eine unbedeutende Zeitschriftenveröffentlichung verweisen, als ihm, hervorgerufen durch eine Lesung im Hessischen Rundfunk, vom S. Fischer Verlag die Publikation eines Gedichtbandes angeboten wurde. Nach Gesetzeslage musste der Autor das Ende 1978 fertige Manuskript zuerst einem DDR-Verlag anbieten, ehe er an eine Publikation im Westen denken konnte.76 Hilbig wandte sich an zwei Verlage. Der Aufbau-Verlag lehnte prompt ab. Im Mitteldeutschen Verlag zögerte der Lektor Manfred Jendryschik mit der Absage, weil er das Potenzial des Autors sah und nicht gern seinen Namen unter ein pauschal negatives Votum setzen wollte. Erst nach Mahnungen von Hilbig und einer persönlichen Rücksprache setzte Jendryschik am 27. März 1979 das erforderliche Ablehnungsschreiben auf.77 Hilbig hatte unterdessen am 17. Februar 1979 beim Büro für Urheberrechte die Genehmigung für den Vertragsabschluss mit S. Fischer beantragt, konnte die Ablehnungen jedoch erst am 12. April nachreichen. Das Büro lehnte die Zustimmung am 9. März 1979 ab und verlangte stattdessen die Einreichung des Manuskripts bei zwei weiteren DDR-Verlagen, dem Verlag Neues Leben und dem Reclam Verlag. Hilbig ging darauf nicht ein, weil er nicht nur die erforderliche eine Ablehnung, sondern zwei negative Voten vorweisen konnte und keinen Sinn darin sah, die Ablehnung eines vom Profil her gar nicht passenden Jugendbuchverlages und eines ebenso wenig zuständigen Taschenbuchverlages abzuwarten. Er unterschrieb den Vertrag mit S. Fischer, in dem die Rechte für den DDR-Buchmarkt ausgenommen waren, und teilte das dem BfU am 12. April
73 Die Abkürzung IMV bezeichnete eine von 1968 bis 1979 geltende, besondere Kategorie der Staatssicherheit, und zwar einen »Inoffiziellen Mitarbeiter«, der unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen mitarbeitete. Vgl. Stasi-Unterlagen-Archiv: MFS-Lexikon. 74 IMV »Frieda« erhielt für ihre hervorragende Spitzelarbeit 1974 die »Verdienstmedaille der NVA in Bronze« (zuzüglich 250 Mark) und 1977 sogar ein Fernsehgerät im Wert von 2.000 Mark, letzteres anlässlich des Internationalen Frauentags. Vgl. Heym: Der Winter unsers Mißvergnügens, S. 8, 11–13. Vgl. Internationale Stefan-Heym-Gesellschaft: Vor 35 Jahren: Ausschluss aus DDR-Autorenverband (2014). 75 Zum Folgenden siehe Hilbig: »Ich unterwerfe mich nicht der Zensur«, S. 21–56. 76 Hilbig: »Ich unterwerfe mich nicht der Zensur«, S. 49. In einer Fußnote wird dort die Anordnung des BfU vom 7. 2. 1966 zitiert. 77 Hilbig: »Ich unterwerfe mich nicht der Zensur«, S. 26.
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1979 mit, das den Fall nun als Bruch des Urheber- und Devisenrechts behandelte. Hilbigs Beschwerden beim Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann und dem Leiter der HV Verlage und Buchhandel Klaus Höpcke blieben erfolglos. Anstatt dem Autor Hilfe zu leisten, erteilte ihm Höpcke am 27. Juli 1979 eine zusätzliche Zurechtweisung. Hilbig wurde mit einer Strafe von 2.000 M belegt, die genau der Summe entsprach, die ihm vom S. Fischer Verlag in DM garantiert worden war und 1 : 1 umgetauscht werden musste. Das Büro für Urheberrechte schützte also nicht den Urheber, sondern brachte ihn um den Ertrag seiner Arbeit. Teil der Schikane war es, dass die Belegexemplare anfangs vom Zoll beschlagnahmt wurden und ihm erst Monate später nach einsetzendem Wirbel in den Westmedien zugestellt wurden.
Das BfU nach der deutschen Einheit Mit der politischen Wende von 1989/90 wurde der bisherigen Tätigkeit des BfU die Grundlage entzogen, denn mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 wurde ein einheitliches Staatsgebiet und die Rechtseinheit hergestellt. Artikel 8 des Einigungsvertrages vom 31. August 199078 enthielt den allgemeinen Überleitungsgrundsatz, dass mit dem Wirksamwerden des Beitritts Bundesrecht im gesamten Staatsgebiet galt. Somit wurde dieser auch auf das Urheberrecht angewendet.79 Den Auftrag zur Abwicklung des Büros für Urheberrechte erteilte im September 1990 noch das DDR-Kulturministerium, dessen diesbezügliche Kompetenz auf das Bundesministerium des Innern und später auf den Staatsminister für Kultur überging. Bis 1995 wurden noch Honorare an Berechtigte aus »Alt-Verträgen« gezahlt, dann wurde auch diese Arbeit eingestellt und somit die Tätigkeit des BfU de facto endgültig beendet.80 In Vorbereitung auf das sich erweiternde Tätigkeitsfeld eröffnete die VG WORT am 2. Juli 1990 ein Büro im Ostteil Berlins, einen Tag nach der Währungsunion. Gemeinsam mit der VG Bild-Kunst wurde hierfür eine Etage in der Clara-Zetkin-Straße 105, direkt in den Räumlichkeiten des DDR-Büros für Urheberrechte, angemietet. Neben dem Aufbau der Kontakte zu den Autoren und Verlagen auf dem Gebiet der DDR stellte die Berliner Einrichtung den Kontakt zu den neuen Kultusministerien her. Dank dieser Aktivitäten konnte das Inkasso in den neuen Bundesländern rasch in die Wege geleitet werden. Mit dem DDR-Büro für Urheberrechte wurden weitere Gespräche über eine mögliche Zusammenarbeit geführt. Bekanntlich hatte es nach den Verwicklungen zwischen der GELU und dem BfU von 1957 keine vertraglichen oder sonstigen Beziehungen zwischen der VG WORT und dem BfU gegeben. Doch die Tage der Berliner Ein-
78 Vgl. Gesetz zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertragsgesetz) und der Vereinbarung vom 18. September 1990. In: Bundesgesetzblatt Nr. 35, Teil II, Bonn 1990, S. 885 ff., hier S. 889. 79 Vgl. Bericht über die Entwicklung des Urhebervertragsrechts. Unterrichtung durch die Bundesregierung, Drucksache 12/7489, 6. 5. 1994. 80 Die Akten befinden sich im Bundesarchiv. Auskunft von Frank Müller, der bis 1995 mit der Abwicklung des BfU befasst war, vom 11. 1. 2008.
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richtung waren gezählt. Sie verlor nach den neuen rechtlichen Rahmenbedingungen ihre Legitimation.81
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Archiv der VG Wort (1958 ff.), München (nicht durch Findhilfsmittel erschlossen) Akademie der Künste (AdK) Anna-Seghers-Archiv Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) Büro für Urheberrechte der DDR (DR 103) (für die Öffentlichkeit nicht zugänglich) Ministerium für Kultur (DR 1). Privatarchiv Lutz Rathenow, Berlin (Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Autors)
Gedruckte Quellen AGDE, Günter (Hrsg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1991. Anordnung über die Bekanntmachung der Allgemeinen Genehmigungen Nr. 1–5 zum Gesetz über Devisenkontrolle und Devisenverkehr vom 5. 9. 1956. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 81, Teil III, Berlin 1956, S. 735 ff. Anordnung über die Errichtung des Büros für Urheberrechte vom 23. 10. 1956. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 44, Teil II, Berlin 1956, S. 365 ff. Anordnung über die Wahrung der Urheberrechte durch das Büro für Urheberrechte vom 7. 2. 1966 (Wahrungsanordnung). In: Gesetzblatt der DDR Nr. 21, Teil II, Berlin 1966, S. 107–108. Anordnung zur Aufhebung der Allgemeinen Genehmigung Nr. 5 zum Gesetz über Devisenverkehr und Devisenkontrolle vom 20. 9. 1961. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 69, Teil II, Berlin 1961, S. 464 ff. BERGER, Manfred (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. 2. erw. Aufl. Berlin: Dietz 1978. BÖHME, Erich / BICKERICH, Wolfram: Der DDR-Schriftsteller Stefan Heym über Abgrenzung und Sozialismus. Gespräch. In: Der Spiegel, 1980, H. 44, S. 58. Das Messer an der Kehle. Stefan Heym über Zensur in der DDR. In: Die Zeit, Nr. 44 vom 27. 10. 1980. DDR-Handbuch. Hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (wiss. Leitung: Hartmut Zimmermann), 3. überarb. und erw. Aufl. 2 Bde. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1985. Devisengesetz (DevG) der DDR vom 19. 12. 1973. In: Gesetzblatt der DDR Nr. 58, Teil I, Berlin 1973, S. 574–577.
81 Vgl. WORT-Report November 1990, S. 2. Vgl. ferner Bericht des Vorstands der VG WORT über das Geschäftsjahr 1991, S. 2.
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Thomas Keiderling 3.4.3 Der Deutsche Schriftstellerverband / Schriftstellerverband der DDR Die Berufsgruppen der schöngeistigen Autoren, Literaturkritiker, Herausgeber, Lektoren und Übersetzer der DDR wurden in einem politischen Dachverband unter Führung und Anleitung der SED zusammengefasst, der nach sowjetischem Vorbild in der SBZ vorbereitet und 1950 in Berlin gegründet wurde. Von 1950 bis 1973 hieß er Deutscher Schriftstellerverband (DSV) und von 1973 bis März 1990 Schriftstellerverband der DDR (SV). Im März 1990 wurde er wieder in Deutscher Schriftstellerverband (DSV) umbenannt. Durch einen Mitgliederentscheid vom November 1990 erfolgte die Auflösung (Liquidation) des DSV zum 31. Dezember 1990. Den Mitgliedern wurde daraufhin der Eintritt in den Verband deutscher Schriftsteller (VS) in der IG Medien empfohlen.
Vorgeschichte und Gründung Im Vorfeld der Verbandsgründung gab es mehrere Initiativen zu einer zunächst gesamtdeutschen Lösung. So wurde der Erste Schriftstellerkongress vom Oktober 1947, der im sowjetischen Sektor Berlins auf Betreiben des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und des Schutzverbandes Deutscher Autoren (SDA, gegr. November 1945) stattfand, durch Autorengruppen aller vier Besatzungszonen einschließlich der Viersektorenstadt Berlin besucht. Allerdings fehlten schon beim Zweiten Schriftstellerkongress vom Mai 1948 in Frankfurt am Main die Autoren der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), denn im Monat zuvor hatte die Sowjetunion vor dem Hintergrund des heraufziehenden Kalten Krieges den Alliierten Kontrollrat in Berlin verlassen. Dessen Tätigkeit wurde daraufhin eingestellt. Die Nichtanreise von Schriftstellern aus der SBZ erklärt sich aus den verschärften Diskrepanzen zwischen Ost und West.1 Währenddessen versuchte die 1946 gegründete SED,2 ihren Einfluss auf die Schriftsteller in der SBZ zu erhöhen, um sie für ihre politischen Ziele zu gewinnen. Hierzu diente eine Reihe kleinerer Konferenzen von 1947 und 1948 unter Leitung der Einheitspartei. Als ideologische Klammern zwischen den unterschiedlichen Auffassungen der deutschen Autoren dienten unter anderem die Schlagworte Antifaschismus, Pazifismus und Humanismus.3 Die Einmischung des Staates in die Kultur wurde zwar von einigen führenden Autoren in der SBZ wie Johannes R. Becher als legitim angesehen,4 aber bei anderen löste sie Unbehagen aus. Die Trennung der deutschen Schriftstellervereinigungen wurde 1949 durch die Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR rasch vollzogen.
1 2 3 4
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Wende-Hohenberger (Hrsg.): Der Frankfurter Schriftstellerkongress im Jahre 1948. Keiderling: Wir sind die Staatspartei. Gansel: Parlament des Geistes, S. 18–19. Becher: Kulturgespräch, S. 550. Zitiert in Gansel: Parlament des Geistes, S. 20.
https://doi.org/10.1515/9783110471229-014
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Die Gründung des Deutschen Schriftstellerverbandes5 erfolgte am 4. Juni 1950 innerhalb des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in Berlin. Die offizielle Einführung fand auf dem II. Schriftstellerkongress vom 4. bis 7. Juli 1950 statt.6 Der 1945 gegründete Kulturbund, der auf eine Vorgeschichte seit 1926 zurückblicken konnte, war im Herbst 1947 in den drei Westsektoren Berlins verboten worden.7 Der DSV trat die Nachfolge des 1945 gegründeten Schutzverbandes Deutscher Autoren (SDA) in der SBZ an, der selbst kaum Aktivitäten entfaltete.8 Durch die Tatsache, dass mit der zonalen Aufspaltung der vorhandenen Schriftstellerverbände im Prinzip nur die der SED nahestehenden Autoren in den neu gegründeten Verband kamen, erübrigte sich eine »Säuberung«, wie sie zuvor bei der Verschmelzung von KPD und SPD zur SED stattgefunden hatte.9 Allerdings war vor allem die jüngere Garde der DSV-Autoren zu einem großen Teil in der NS-Zeit politisch aktiv und Mitglied der NSDAP gewesen.10 Nicht nur aus diesem Grund bestanden in der Anfangszeit aus Sicht der SED zum Teil ungeordnete Zustände in der Leitung des DSV. Er wurde seiner vorgesehenen kulturpolitischen Rolle nicht gerecht, sodass Überlegungen entwickelt wurden, ihn aus der Struktur des Kulturbundes zu lösen und eigenständig zu etablieren. Dieser Schritt wurde am 22. Mai 1952 in Vorbereitung auf den III. Schriftstellerkongress vollzogen.11 Der Sitz des Schriftstellerverbandes war anfangs in der Schadowstraße 1b, ab 1953 in der Friedrichstraße 169/170 in Berlin-Mitte.12
Struktur und Arbeitsweise Als politische Organisation der DDR trug der DSV/SV zur Umsetzung der Kulturpolitik der SED bei. In diesem Sinne galt er nicht als reine berufsständische Interessenvertretung der Schriftsteller. Laut Statut von 1973 war der Verband »die gesellschaftliche Organisation der Schriftsteller der DDR, die in ihrer schöpferischen Arbeit aktive Mitgestalter der entwickelten sozialistischen Gesellschaft sind«. Die Mitglieder sollten sich
5 Unabhängig davon existierte, allerdings nur im Jahre 1949, ein namensgleicher Deutscher Schriftstellerverband in Hannover. Vgl. Kron: Schriftsteller und Schriftstellerverbände, S. 41, 398. 6 Gansel schrieb 1996 hierzu: »Über den tatsächlichen Verlauf der Gründung des DSV gibt es bislang keine einheitlichen Auffassungen. In den 1970er Jahren unternahm der DSV Versuche, seine eigene Geschichte zu rekonstruieren. Die Ergebnisse waren lückenhaft und erbrachten einander widersprechende Angaben.« Gansel: Parlament des Geistes, S. 158, FN 12. 7 Vgl. Zimmer: Der Kulturbund, S. 19–31. Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 58–59. Vgl. ferner Broszat/Weber (Hrsg.): SBZ Handbuch, S. 714–733. Zum Kulturbund siehe auch Kapitel 3.4.5 Die Zentrale Kommission Literatur im Kulturbund (Andreas Zimmer) in diesem Band. 8 Der SDA existierte selbst nach Gründung des DSV noch einige Monate weiter, sodass unter den betroffenen Autoren Ungewissheit über die Zuständigkeiten beider Vereine während dieses Übergangsprozesses herrschte. 9 Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 167. 10 Vgl. Sander: Geschichte der schönen Literatur in der DDR. Zitiert in: Zimmermann: Literaturbetrieb Ost/West, S. 49. 11 Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 167–169. 12 Vgl. Roscher: In den Heften, S. 15.
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zur »führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in der Kulturpolitik« bekennen,13 die im Statut von DSV/SV ausdrücklich festgeschrieben war. Strukturell gab es Parallelen zur Reichsschrifttumskammer (RSK) im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (1933–1945). Wie im Nationalsozialismus wurde auch in der DDR dem Schriftsteller die professionelle Betätigung erst möglich, wenn er Mitglied im DSV/SV war. Die Autorin, der Autor erhielt eine Steuernummer und konnte Einkünfte und Honorare offiziell abrechnen. – So zumindest war es vorgesehen. Realiter gab es zuweilen Ausnahmen, sodass einzelne Schriftsteller und Schriftstellergruppen dem Verband nicht angehörten. Zu beachten ist auch, dass die Bezirksverbände des DSV/SV viele Entscheidungsbefugnisse besaßen und somit unterhalb der zentralen Vorgaben Freiräume geschaffen und gelebt werden konnten. Generell gilt, dass der DSV/SV als Fürsorge- und Disziplinierungseinrichtung wirkte. Verbandsinterne Veranstaltungen boten einerseits Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung und zum Meinungsaustausch der Schriftsteller, wie sie in der Öffentlichkeit so nicht gegeben waren. Andererseits war es durch Drohungen, Verwarnungen und Ausschlussverfahren möglich, Autorinnen und Autoren zu isolieren und zu disziplinieren. Die Machtbefugnis von Staat und Partei ging bis zum Entzug der Möglichkeit, in der DDR zu veröffentlichen. Durch diese Einflussnahme konnte die ostdeutsche Literatur bzw. Literatur der DDR weder eine freie und kritische Vergangenheitsaufarbeitung noch einen gesellschaftlichen Gegendiskurs praktizieren, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin der Fall war.14 Mitglieder des DSV/SV waren im engeren Sinne Verfasser »schöngeistiger Werke aller Genres«, darüber hinaus Übersetzer und Herausgeber schöngeistiger Werke, Literaturkritiker und Essayisten, Literaturwissenschaftler und Lektoren sowie solche Personen, »die sich hervorragende Verdienste bei der Förderung der sozialistischen Nationalliteratur erworben haben«.15 Die Aufgaben und Pflichten regelte das bereits zitierte Statut. Voraussetzung für die Aufnahme eines Autors und einer Autorin war die Staatsbürgerschaft der DDR, der Nachweis eines kontinuierlichen literarischen Schaffens sowie die Bereitschaft, im Einklang mit den Vereinszielen zu arbeiten. Bürger anderer Staaten oder Staatenlose konnten eine Gastmitgliedschaft beantragen.16 Jeder Interessent hatte eine Kandidatur zu durchlaufen, für die zwei Verbandsmitglieder als Bürgen fungierten. Das Aufnahmeprozedere änderte sich im Laufe der Jahre.17 Nach der Abschaffung des Kandidatenstatus in den 1950er Jahren und nach zeitweiliger Delegierung der Nachwuchsarbeit an die Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren (AJA) wurde die Kandidatur 1974 erneut eingeführt. 1989 hatte der SV 931 Mitglieder und 118 Kandidaten.
13 Statut des Schriftstellerverbandes der DDR, abgedruckt in: VII. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik, 1974, S. 291–301, hier S. 291. 14 Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 17. 15 Statut des Schriftstellerverbandes der DDR, abgedruckt in: VII. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik, 1974, S. 291–301, hier S. 292. 16 Vgl. VII. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik, S. 292–293. 17 Siehe hierzu diverse Korrespondenzen, Statuten und Richtlinien des DSV/SV im Archiv AdK, Schriftstellerverband der DDR, Nr. 3447, 3453, 3456, 3458, 3462–3464, 3467, 3483.
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3 Li t e ra t ur- un d A ut o re n po l i ti k
Höchstes Organ des DSV/SV waren die Schriftstellerkongresse, von denen im Zeitraum 1947 bis 1987 zehn stattfanden. Politbüromitglieder saßen stets im Präsidium, um die enge Verbundenheit von SED und DSV/SV zu unterstreichen. Die Kongresse wurden per Vorstandsbeschluss unregelmäßig im Abstand von zwei bis acht Jahren einberufen und fanden immer in Berlin statt (siehe nachfolgende Tabelle). Leitungsorgane waren das Präsidium, das vierteljährlich zusammentrat, und der Vorstand, der in kleinerer Runde monatlich tagte. Letzterer wurde nach vorheriger Bestätigung durch das Zentralkomitee der SED auf den Schriftstellerkongressen gewählt. Ihm gehörten auch die Vorsitzenden der Bezirksverbände und Sekretäre des Verbandes an. Aus diesem Gremium wurden der Präsident, mehrere Vizepräsidenten und das Präsidium gewählt. Mitglieder dieses Organs waren außerdem der Chefredakteur der Verbandszeitschrift Neue Deutsche Literatur (ndl) und die hauptamtlichen Sekretäre des Verbandes. Tab. 1: Schriftstellerkongresse des DSV/SV. Nr.
Datum / Ort
Kurzcharakterisierung, ausgewählte Beschlüsse*
I.
4.–8. 10. 1947
Der Kongress, der vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und dem Schutzverband Deutscher Autoren (SDA) 18 einberufen wird, versteht sich (noch) als gesamtdeutsch. Inhaltlich räumt er (Schriftsteller-)Emigration, »Schuldfrage« (Kollektivschulddebatte zum Zweiten Weltkrieg und Holocaust) und Entnazifizierung einen besonderen Stellenwert ein. Einstimmig wird eine »Entschließung gegen Antisemitismus« angenommen. Die 19 Kongressmaterialien werden nicht veröffentlicht.
Hebbel-Theater, Stresemannstraße und Kammerspiele des Deutschen Theaters II.
4.–7. 7. 1950
Der Kongress formuliert einen Appell »an alle deutschen Schriftsteller«, der wachsenden Kriegsgefahr durch den US-Imperialismus Haus der entgegenzutreten (hier erfolgt eine Bezugnahme auf den Ministerien, antikommunistischen und durch den US-amerikanischen Leipziger Straße Geheimdienst CIA finanzierten »Kongress für kulturelle Freiheit«, der am 26. 6. 1950 im Titania-Palast in West-Berlin gegründet wurde). Die Schriftsteller der DDR werden durch den Kongress aufgefordert, zur demokratischen Neugestaltung des Lebens im Geiste des Friedens und der Völkerverständigung beizutragen. Der Kongress ist ein Bekenntnis der anwesenden Autoren zur SEDPolitik. Es erfolgt die Annahme der »Arbeitsrichtlinien« für den DSV, die Bestimmungen über Zweck und Aufgaben, Mitgliedschaft, Aufbau und Organisation sowie den Rechtsschutz enthalten.
18 Erster Deutscher Schriftstellerkongress, unveröffentlichtes Protokoll. In: Archiv des Deutschen Schriftstellerverbandes (SV), Nr. 315, Bl. 000588. Vgl. ferner Wende-Hohenberger (Hrsg.): Der erste gesamtdeutsche Schriftstellerkongreß. Vgl. Zimmermann, Literaturbetrieb Ost/West, S. 22–32. 19 Dies wurde erst 1996 durch eine Dokumentation nachgeholt. Vgl. Reinhold/Schlenstedt (Hrsg.): Erster Deutscher Schriftstellerkongreß. Vgl. Wende-Hohenberger (Hrsg.): Der erste Gesamtdeutsche Schriftstellerkongress.
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Tab. 1 (fortgesetzt) Nr.
Datum / Ort
III.
22.–25. 5. 1952
IV.
9.–14. 1. 1956
V.
25.–27. 5. 1961
VI.
28.–30. 5. 1969
Kurzcharakterisierung, ausgewählte Beschlüsse*
Auf diesem Kongress erlangt der DSV seine Selbstständigkeit und führt nunmehr ein eigenes Büro in Berlin. Allerdings nimmt es noch Haus der längere Zeit in Anspruch, bis sich seine Leitungs- und Ministerien, Gremienstrukturen vollständig herausbilden. Wenig später werden Leipziger Straße die Hauptaufgaben des DSV formuliert: ideologische und fachliche Weiterbildung der Schriftsteller und Verlagslektoren, Sicherung der Arbeitsmöglichkeiten aller Schriftsteller und ihrer sozialen und rechtlichen Vertretung, Nachwuchsförderung und aktive Einbeziehung der Werktätigen in die Literatur. Der 17. Juni 1953 bedeutet einen Einschnitt. Es kommt zu einer Disziplinierung des DSV, wie sie auf dem III. Schriftstellerkongress noch nicht denkbar war. Dieser Kongress soll gemäß der SED die Forderungen nach einer »Literatur im Neuen Kurs« durchsetzen, d. h., der Verband soll sich Haus der noch stärker an Parteivorgaben orientieren und der sozialistischen Ministerien, Erziehung, Parteinahme sowie Bewusstseinsbildung dienen. Der Leipziger Straße »Neue Kurs« war am 9. 6. 1953 vom Politbüro der SED beschlossen worden, um »Fehler der Regierung und der staatlichen Verwaltungsorgane« in der DDR »zu korrigieren«. Es kommt zu partiellen und temporären Lockerungen. Infolge der SED-Kulturkonferenz von 1957 wird das Prinzip im DSV durchgesetzt, kritische Stimmen auszublenden und parteikonforme Auffassungen zu stärken. Gegenseitige Grußschreiben dokumentieren die enge Verbundenheit von SED und DSV. Der DDR-Kulturminister Hans Bentzien preist in Haus der seiner Rede die Erfolge der DDR-Literatur und fragt am Ende Ministerien, rhetorisch: »Wer könnte uns das Wasser reichen?« Daraufhin geht Leipziger Straße der Gastteilnehmer Günter Grass (BRD) zum Podium, um Bentziens rhetorische Frage mit der Nennung einiger Autoren zu beantworten: Musil, Kafka, der kurz zuvor nach West-Berlin übergesiedelte Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger könnten den DDRLiteraten durchaus das Wasser reichen, wenn sie denn in der DDR publiziert werden würden. Die DDR-Medien bringen den Redebeitrag von Grass nur in stark gekürzter Form. Im Protokollband des Kongresses wird er nicht abgedruckt.
Kongresshalle am Alexanderplatz
Der Kongress zieht im 20. Jahr der DDR eine positive Bilanz. Das Literaturschaffen habe zur »Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft« beigetragen (Referat Gerhard Henniger, Erster Sekretär). Der Vizepräsident Max Walter Schulz hebt die Notwendigkeit einer neuen, verständlichen sozialistisch-realistischen Literatur hervor. Ein Brief des Bitterfelder Chemiekombinats lobt die Erfolge des »Bitterfelder Wegs«. Erstmals beschäftigt sich ein Kongress mit dem Genre der Fernsehdramatik, deren Massenwirksamkeit genutzt werden soll.
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Tab. 1 (fortgesetzt) Nr.
Datum / Ort
VII.
14.–16. 11. 1973 Die DDR ist nach ihrem Selbstverständnis mit dem VIII. Parteitag der SED 1971 in die Periode der bewussten Gestaltung der Kongresshalle entwickelten sozialistischen Gesellschaft eingetreten. Die am Literaturschaffenden der DDR sollen diese neue Phase inhaltlich und Alexanderplatz ideologisch unterstützen und zur »Herausbildung sozialistischer Überzeugungen ihrer Leser« beitragen. Auf dem Kongress wird der Deutsche Schriftstellerverband auf Antrag von Anna Seghers in Schriftstellerverband der DDR umbenannt.
VIII. 29.–31. 5. 1978 Kongresshalle am Alexanderplatz
Kurzcharakterisierung, ausgewählte Beschlüsse*
Das Motto des Kongresses lautet: »Die Verantwortung des Schriftstellers in den Kämpfen unserer Zeit«. Hermann Kant, der neu gewählte Verbandspräsident und Nachfolger von Anna Seghers, hält dazu das Eröffnungsreferat. Anna Seghers wird aus gesundheitlichen und Altersgründen von ihrem Amt entbunden und zugleich einstimmig zur Ehrenpräsidentin gewählt. Der Verband hat nach der Biermann-Ausbürgerung (1976) und den Auseinandersetzungen mit weiteren DDR-Autoren einige Schriftsteller nicht zum Kongress eingeladen, weil ihnen »mangelnde Parteiverbundenheit« vorgeworfen wird. In den westlichen Massenmedien findet dieser Umstand große Beachtung.
IX.
31. 5–2. 6. 1983 Auf dem Kongress wird die Bedrohung des Weltfriedens durch die Hochrüstung und den NATO-Doppelbeschluss stark reflektiert. Kongresshalle Hermann Kant unterstreicht die besondere politische Rolle des am Verbandes: »Gewiß ist der Schriftstellerverband der DDR ein Alexanderplatz Berufsverband, eine gewerkschaftliche Vertretung, eine literarische Vereinigung, aber vor allem ist er das, was wir unter einem Schriftstellerverband begreifen; er ist eine ausgeprägt politische Organisation, er ist sozialistischer Teil der sozialistischen Gesellschaft.« Kant bezeichnet zudem die Ausdünnung der DDRVerlagslandschaft auf nur wenige Unternehmen im Zuge der »Profilierung« als einen glücklichen Umstand. Somit würde es nicht zu einem »mörderischen Konkurrenzdruck« auf dem Buchmarkt kommen. »Ein Buch nimmt dem anderen nicht das Licht.«
X.
24.–26. 11. 1987 Hermann Kant geht in seinem Referat auf aktuelle politische Entwicklungen ein, wobei er zwar Michail Gorbatschow erwähnt, aber Kongresshalle nicht Glasnost und Perestroika. Große Beachtung findet seine am Anmerkung zu den Ausschlüssen von kritischen DDR-Autoren: »Was Alexanderplatz wir damals beschlossen haben, den Abschied von einer Reihe von Kollegen, ihren Aussschluß, das muß ja nicht für die Ewigkeit gelten. […] Der Verband hat eine offene Tür, er hat eine Tür, die so weit ist wie sein Statut.« Aufsehen erregt Christoph Hein, der die Zensurpraxis in der DDR als überlebt, nutzlos, volksfeindlich und ungesetzlich 20 geißelt, was im Jahr darauf so auch im Protokollband abgedruckt wird.
20 Vgl. Christoph Hein: Diskussionsgrundlage. Arbeitsgruppe IV: Literatur und Wirkung. In: X. Schriftstellerkongress der DDR, 1988, S. 228.
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Tab. 1 (fortgesetzt) Nr.
Datum / Ort
Kurzcharakterisierung, ausgewählte Beschlüsse*
AO
1.–3. 3. 1990
»Reformkongress«, außerordentliche Mitgliederversammlung des DSV in Berlin. Von den anfangs anwesenden 579 Schriftstellern und Schriftstellerinnen verschwinden immer wieder für Stunden so viele, dass die Beschlussfähigkeit der Versammlung wiederholt in Frage steht. Beschlossen werden eine neue Satzung und der neue (alte) Vereinsnamen: Deutscher Schriftstellerverband (DSV). Mitglied kann nun »jede/r Schriftsteller/in« werden. Der Vorstand wird geführt von dem Vorsitzenden Rainer Kirsch und dem Geschäftsführer Dirk von Kügelgen. Ehrenvorsitzender wird Stefan Heym, der den alten DSV/ SV als »Transmissionsriemen« im Machtgefüge der SED bezeichnet. Eine Geschichtskommission unter dem Vorsitz von Heinz Kahlau soll die Verbandsgeschichte erforschen. Christa Wolf, die sich spät zu Wort meldet, äußert Zweifel daran, dass sich dieser Verband in der alten Zusammensetzung erneuern könne.
Kongresshalle am Alexanderplatz
* Einschätzungen anhand der vorliegenden und im Druck erschienenen Kongressdokumentationen (siehe: Gedruckte Quellen) und weiteren Pressemeldungen; für 1947–1956 nach Gansel: Parlament des Geistes; Gansel (Hrsg.): Erinnerung als Aufgabe?
Tab. 2: Schriftsteller als leitende Funktionäre des DSV/SV 1950–1990. Zeitraum
Präsident / Vorsitzender
1950–1952
Bodo Uhse (1904–1963), Erster Vorsitzender des DSV innerhalb des Kulturbundes
1952–1978
Anna Seghers (1900–1983), Präsidentin mit Gründung des DSV als eigenständige Institution, ab 1978 Ehrenpräsidentin
1978–1990
Hermann Kant (1926–2016), Präsident
1990
Rainer Kirsch (1934–2015), Vorsitzender
Zeitraum
Vizepräsident
1952 ff.
Stephan Hermlin (1915–1997)
1969–1989
Jurij Brězan (1916–2006)
1969–1978
Gerhard Holtz-Baumert (1927–1996)
1969–1978
Hermann Kant (1926–2016)
1969–1975
Fritz Selbmann (1899–1975)
1978–1989
Rainer Kerndl (1928–2018)
1969–1989
Max Walter Schulz (1921–1991)
1969–1978
Erwin Strittmatter (1912–1994)
1978–1989
Joachim Nowotny (1933–2014)
340
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Zeitraum
Erster Sekretär / Geschäftsführer
1950–1952
Walther Victor (1895–1971), geschäftsführender Vorsitzender des DSV im Kulturbund
1952–1954
Kurt Barthel, »Kuba« (1914–1967), Erster Sekretär
1954–1955
Gustav Just (1921–2011), Erster Sekretär
1956
Eduard Claudius (1911–1976), Erster Sekretär
1956–1958
Max Zimmering (1909–1973), Erster Sekretär
1959–1961
Erwin Strittmatter (1912–1994), Erster Sekretär
1961–1963
Otto Braun (1900–1974), Erster Sekretär
1963–1966
Hans Koch (1927–1986), Erster Sekretär
1966–1990
Gerhard Henniger (1928–1997), Erster Sekretär
1990
Dirk von Kügelgen (geb. 1948), Geschäftsführer
In den Vorstand kooptiert wurde neben den Vorsitzenden der Bezirksverbände eine Vielzahl weiterer Autoren. Der 1987 gewählte Vorstand umfasste auf diese Weise 121 Mitglieder, einschließlich elf Ehrenmitglieder. Dieser Vorstand wählte den Präsidenten, die Vizepräsidenten und weitere Präsidiumsmitglieder.21 Die realen Entscheidungsbefugnisse lagen beim Präsidenten und beim Ersten Sekretär, in geringerem Maße bei den ca. fünf gleichzeitig berufenen Vizepräsidenten. Auch dem Präsidium gehörten »verdiente« Schriftsteller an, darunter Horst Beseler, Volker Braun, Walter Flegel, Günter Görlich, Irmtraud Morgner, Herbert Otto, Helmut Sakowski, Rosemarie Schuder, Kurt Stern, Rudi Strahl und Hans Weber. Dem Vorstand unterstanden Abteilungen für bestimmte Aufgabenbereiche, so etwa die Abteilung Internationale Beziehungen (Auslandsabteilung, hervorgegangen aus der Abteilung für Westarbeit), die Abteilung Organisation und Finanzen, die Abteilung Sozialpolitik/Kader, die Literaturabteilung, die Nachwuchsabteilung (hervorgegangen aus der Abteilung Nachwuchs und Auftragswesen) sowie die Redaktion Neue Deutsche Literatur. Zusammen waren dort etwa 90 hauptamtliche Mitarbeiter tätig. Sie hatten die Arbeit der ehrenamtlichen Kommissionen und Aktivs zu unterstützen. Dabei holten sie Informationen von den Bezirksverbänden, den zuständigen Ministerien und dem ZK der SED ein, erarbeiteten Analysen und bereiteten Beschlussfassungen vor. Eine weitere wichtige Aufgabe bestand in der Umsetzung von Kommissionsbeschlüssen. Nach Bedarf wurden vom Zentralvorstand ehrenamtliche Kommissionen und Aktivs eingesetzt, die vom Schriftstellerkongress bestätigt wurden und bis zum nächsten Kongress arbeiteten. Die Mitglieder wurden in der Regel nach Rücksprache mit dem ZK der SED berufen. Sekretäre des DSV/SV (Leiter der Abteilungen) waren je nach Sachgebiet automatisch kooptiert und besaßen innerhalb der Kommissionen ein Stimmrecht. Nach dem Stand von 1987 waren u. a. folgende Gremien tätig: Auftrags- und Stipendienkom-
21 Vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 42.
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mission, Kommission für Internationale Beziehungen, Nachwuchskommission, Rechtskommission (hervorgegangen aus der Rechts- und Berufskommission), Solidaritätskommission, Sozialkommission (auch Sozialpolitische Kommission genannt) sowie Statutenkommission (die bei Bedarf eingesetzt wurde). Daneben waren folgende Aktivs eingesetzt: Literaturkritik, Literatur und Umwelt, Literarische Publizistik, Lyrik bzw. Lyrik in den Kämpfen unserer Zeit, Dramatik, Literarische Übersetzer, Utopische Literatur, Kriminalliteratur, Kinder- und Jugendliteratur sowie Literatur und Landesverteidigung. Der DSV/SV funktionierte somit als eine Regulierungszentrale. Forderungen der SED-Politik wurden nicht nur umgesetzt, sondern selbstständig in Gang gebracht.22 Die Beschlüsse der Kommissionen wurden zur Umsetzung an die jeweiligen Abteilungen des DSV/SV überstellt. Der DSV/SV unterstand dem 1954 geschaffenen Ministerium für Kultur23 und wurde mit Staatsgeldern finanziert. Ein fester Etat sicherte die Verbands- und Arbeitsstruktur einschließlich der Entlohnung der bis zu 90 angestellten Funktionäre und Mitarbeiter. 1989 erhielt der Schriftstellerverband aus dem Staatshaushalt 2,5 Mio. M sowie weitere Mittel von der Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte und dem Kulturfonds der DDR. Insgesamt betrug der Gesamthaushalt über 3 Mio. M.24 In jedem der fünfzehn DDR-Bezirke25 bestand ein Büro mit einem Sekretär und einem Assistenten. Zusätzlich gab es gemäß der Minderheitenpolitik der DDR26 ein Arbeitskreis Sorbische Literatur in Bautzen. An Schriftsteller wurden projektgebundene, meist halbjährliche Arbeitsstipendien von bis zu 800 M vergeben, im Schnitt acht Stipendien pro Quartal. Ergänzt wurde dies durch zeitlich befristete Tätigkeiten als Dramaturg, Verlagslektor oder wissenschaftlicher Mitarbeiter. Lyriker erhielten vom Kulturfond Förderungen für Nachdichtungen aus fremden Sprachen. Hierzu nutzten sie Interlinearversionen von Fachübersetzern. Renommierte Schriftsteller bekamen als Mitglieder der Akademie der Künste Geldzuwendungen. Abgerundet wurde die finanzielle Unterstützung durch ein System von Literaturpreisen. Die begehrtesten der insgesamt zwölf staatlichen und 38 nichtstaatlichen Auszeichnungen waren der von der Regierung verliehene Nationalpreis (seit 1949 in drei Klassen, die I. Klasse war verbunden mit einem Preisgeld von 100.000 M), der Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste (seit 1953, 10.000 M) und der Lessing-Preis des Ministeriums für Kultur (seit 1955, 10.000 M). Die Auszeichnungen wurden von Parteien, Massenorganisationen, Akademien und Städten verliehen.27
22 Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 31. 23 Das Ministerium für Kultur wurde zur Rechtsnachfolgerin der 1951 gegründeten Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten. Außerdem übernahm es die Aufgaben des Amtes für Literatur und Verlagswesen sowie des Staatlichen Komitees für Filmwesen. 24 Gehälter erhielten die Autoren allerdings nicht. Vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 43. 25 Per Verwaltungsreform von 1952 wurden zunächst 14 Bezirke errichtet, die die Aufgaben der Landesregierungen übernahmen. Sie gliederten sich in Land- und Stadtkreise. Der Staatsrat der DDR stellte 1961 den Ostteil Berlins den Bezirken gleich. 26 Vgl. Pech: Die Sorbenpolitik der DDR. 27 Vgl. Beutin: Deutsche Literaturgeschichte, S. 520.
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Abb. 1: Deutscher Schriftstellerverband Mitteilungen, Dezember 1961, mit Gruß des Vorstandes zum neuen Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer. Privatbesitz.
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Als internes Informationsmaterial erschienen von 1957 bis 1990 monatlich Mitteilungen, nachdem die 1950 bis 1955 herausgegebene Zeitschrift Der Schriftsteller eingestellt worden war. Ab 1952 gab der Verband die bereits erwähnte Zeitschrift Neue Deutsche Literatur (ndl) heraus.28 Die Auflagenzahl schwankte zwischen 8.000 und 10.000 Exemplaren und erreichte 1989 einen Höchstwert von 11.500. Auch dieses Verbandsorgan spiegelte den Anspruch der DDR-Literaten wider, im Einklang mit der Kulturpolitik des Landes und dem Marxismus-Leninismus zu stehen.29 Die Chefredakteure waren u. a. Wolfgang Joho (1960–1966), Werner Neubert (1966–1974) und Walter Nowojski (1974–1990). Als im Mai 1953 Heinar Kipphardt in der ndl das Gedicht »Nocturno« veröffentlichte, wurde ihm »Formalismus«30 vorgeworfen. Im Dezemberheft des Jahres druckte die Redaktion eine selbstkritische Stellungnahme zu ihrer Arbeit ab. In dieser Zeit wurde den Redakteuren von der Kulturabteilung des ZK der SED vorgeworfen, die sozialistische Entwicklung der Literatur in der DDR entsprechend dem »Neuen Kurs« nicht konsequent zu verfolgen. 1957/1958 wurde die Redaktion auf Betreiben des ZK der SED sogar aufgelöst und neu besetzt.31 Der Verband unterhielt spezielle Tagungseinrichtungen, wie etwa das Schriftstellererholungsheim »Friedrich Wolf« in Petzow am Schwielowsee nahe Potsdam.32 Von 1955 bis 1990 war es in der dortigen Villa Berglas untergebracht. Inländische Autoren und Schriftsteller aus dem befreundeten sozialistischen Ausland konnten hier bei Vollversorgung arbeiten und zugleich ihre Familien mitbringen. Jährlich waren in der Villa Berglas ca. 650 Personen untergebracht.33 Ab 1979 gab es zudem das Otto-Grotewohl-Haus in Berlin-Pankow als Gästehaus speziell für ausländische Gäste. Selbst die Ausbildung des Schriftstellers wurde nicht dem Zufall überlassen. Mit dem DSV/SV eng verbunden war das Leipziger Literaturinstitut »Johannes R. Becher«, das auf einer 1950 gegründeten Einrichtung des Verbandes aufbaute und 1955 nach dem Vorbild des Gorki-Instituts in Moskau als selbstständige Hochschuleinrichtung gegründet wurde. Geleitet wurde es nacheinander von Alfred Kurella, Max Zimmering und
28 Der Titel und auch die Abkürzung wurde zunächst auf dem Einband großgeschrieben. Von 1964 bis 1966 änderte sich dies in Kleinschreibung: neue deutsche literatur, 1967 erneut Großschreibung bei Nutzung der Abkürzung ndl. Seit 1980 verwendete man durchgängig Kleinschreibung. Die Zeitschrift wurde im November 1952 zunächst als Sonderheft und ab Januar 1953 monatlich herausgegeben. Neben der Literaturzeitschrift Sinn und Form (seit 1949) war sie die wichtigste periodische Erscheinung der DDR auf diesem Gebiet und wurde 2004 eingestellt. Siehe Roscher: In den Heften. 29 Siehe auch das Kapitel Literarische Zeitschriften in Bd. 5/3. 30 Unter dem Formalismusstreit wurde eine Phase der parteilichen Kulturdebatte in der DDR bezeichnet, die Anfang der 1950er Jahre eine klare Abgrenzung der DDR-Literatur und Kunst vom sogenannten westlich-dekadenten Kunstbetrieb forderte. 1934 wurde auf dem ersten Sowjetischen Schriftstellerkongress die Doktrin vom »sozialistischen Realismus« in Abgrenzung zur westlichen dekadenten Literatur erstmals formuliert. Vgl. Zimmermann: Literaturbetrieb Ost/West, S. 47. 31 Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 193–196. Vgl. Bark/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 37–47. 32 Vgl. Bircken (Hrsg.): Petzow – Villa der Worte. 33 Vgl. Arbeits- und Erholungsheim »Friedrich Wolf« für in- und ausländische Schriftsteller.
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Abb. 2: Blick auf das Schriftstellererholungsheim »Friedrich Wolf« in Petzow am 14. Oktober 1955. Foto: Bundesarchiv/ADN, Kümpfel.
Max Walter Schulz.34 Es brachte bis 1990 knapp 1.000 Absolventinnen und Absolventen hervor, darunter viele später namhafte DDR-Autoren wie Werner Bräunig, Erich Loest, Fred Wander, Adolf Endler, Rainer und Sarah Kirsch.35 Eine erste Blüte erlebte das Institut in den frühen 1960er Jahren, als der sog. Bitterfelder Weg den neuen Typus des Arbeiterschriftstellers schaffen sollte.36 Die DDR bot vergleichsweise vielen Autoren eine freiberufliche Existenz. Während in der Bundesrepublik Deutschland laut einer Umsatzsteuerstatistik von 1989 ca. 2.200 freie Autoren aller Genres existierten, waren es in der DDR rund 1.000 BelletristikAutoren.37
34 Vgl. Beutin: Deutsche Literaturgeschichte, S. 520. Seit kurzem sind alle Abschlussarbeiten des Literaturinstituts »Johannes R. Becher« online. 35 Vgl. Lehn/Macht/Stopka: Schreiben lernen im Sozialismus. 36 Vgl. u. a. Barck/Wahl (Hrsg.): Bitterfelder Nachlese. 37 Vgl. Zimmer: Eine privilegierte Kaste? Im Verhältnis zur jeweiligen Landesbevölkerung 1989 – Bundesrepublik rund 78,75 Mio. und DDR rund 16,4 Mio. Menschen – gab es in der DDR mehr als doppelt so viele schöngeistige Autoren, wobei andere Genres noch nicht berücksichtigt sind.
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Wer als Autor die parteipolitischen Vorgaben des real existierenden Sozialismus befolgte, konnte im Gegenzug eine Fülle von individuellen Fördermaßnahmen und Privilegien nutzen. Hierzu gehörten die Vermittlung von Kuren, Wohnungen und andere soziale Zuwendungen.38 Ein Privileg der bekannteren DDR-Schriftsteller bestand zudem darin, in das westliche Ausland reisen und dort auch veröffentlichen zu dürfen. Ein Großteil der DDR-Autoren hielt sich an die auferlegten Spielregeln. Bis in die 1970er Jahre waren viele sogar überzeugt, in einem besseren Land zu leben, wenn auch einige Umstände als widrig beklagt wurden.39 Die Widersprüchlichkeit der DDR-Kulturpolitik, einerseits den Autoren Dialogbereitschaft zu signalisieren und andererseits mit regressiven Mitteln auf nonkonformes Verhalten und Publizieren zu reagieren, blieb über den ganzen Zeitraum der DDR bestehen.40
Zum Umgang mit nicht systemkonformen Autoren Nach dem Zusammenbruch der DDR wurden in öffentlichen Darstellungen über den DSV/SV bevorzugt Auseinandersetzungen um einzelne Autoren in den Mittelpunkt gestellt. Mitunter entstand dadurch der Eindruck, dass vor allem bekanntere Autoren in der Leitung des Verbandes aufgrund ihrer Publizität eine Art von Widerstand geleistet hätten und in der Durchsetzung einzelner Forderungen sehr erfolgreich gewesen wären. Ein Forschungsbericht von 1997 zur Aufarbeitung der DSV/SV-Geschichte warnte diesbezüglich vor einer Art Mythenbildung, beim DSV/SV habe es sich um einen Hort des Widerstandes gehandelt.41 Gansel merkte hierzu an, dass viele kritische Äußerungen nichts geändert hatten und sogar ohne persönliche Konsequenzen für die Akteure blieben, weil sie von parteipolitischen Vorgaben in Methodik und Sprache nur gering abwichen.42 Wenn zum Beispiel der Präsident Hermann Kant auf verschiedenen Schriftstellerkongressen die DDR-Literaturkritik kritisch ansprach, dann konnten Zeitgenossen über diese Offenheit erstaunt sein. Da Kant lange Zeit Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit (IM »Martin«) war,43 ist »mit Sicherheit« davon auszugehen, dass derartige Äußerungen zuvor absegnet worden waren. Die 1996 erschienene Dokumentation Sicherungsbereich Literatur von Joachim Walther kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. Demnach war der Schriftstellerverband der DDR weitgehend von der Staatssicherheit unterwandert. Walther formuliert: »Um den Informationsbedarf des MfS auf der ›Linie Schriftsteller‹ zu decken, war der Schriftstellerverband vom Haupt bis zu den Gliedern bemerkenswert üppig mit IM besetzt.«44 Für die 1950er und 1960er Jahre schätzte der Autor ein: »Wer nicht zu Kreuze kroch oder sich dem Zugriff [der Stasi, Th. K.] durch Flucht über die offene Grenze entzog, wurde verhaftet und verurteilt«. In
38 Vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 43. 39 So äußerten sich etwa Heinz Czechowski, Günter Kunert, Reiner Kunze oder Sarah Kirsch. Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 25. 40 Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 17, 21–22. 41 Vgl. Michael/Pötsch/Walther: Geschichte, Struktur und Arbeitsweise des Schriftstellerverbandes. 42 Vgl. Gansel: Parlament des Geistes, S. 60. 43 Vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 734. Vgl. Corino (Hrsg.): Die Akte Kant. 44 Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 730–731.
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den 1970er und 1980er Jahren löste die »leisere und verdeckte Repression […] das demonstrative Machtgebaren von SED und MfS ab«.45 Zutreffend ist, dass sich seit den 1950er Jahren einzelne Kontroversen innerhalb des Verbandes immer wieder aufschaukelten. Es gab Krisen »mit eruptivem Charakter«.46 Aufsehen erlangten Resolutionen zum Aufstand vom 17. Juni 1953, zur Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956, zum Mauerbau 1961 und zu den Ausbürgerungen von Alexander Solschenizyn 1974 aus der Sowjetunion und Wolf Biermann 1976 aus der DDR. So wurden die Parteiausschlüsse von Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser nach dem Aufstand von 1953 mit »Fraktionsbildung« und der Gefahr eines »deutschen Titoismus« begründet. Die Verfolgungen und Verurteilungen von Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just, Heinz Zöger und Erich Loest 1956 und 1957 galten fortan als erfolgreiche Zerschlagung einer konterrevolutionären Gruppe. Wichtige Autoren wurden verpflichtet, als Gäste an den abschreckenden Schauprozessen teilzunehmen. Die SED griff in die Verbandsarbeit ein und wechselte einige führende Funktionäre im Vorstand aus. Es war nicht so, dass der DSV/SV einen echten Gegendiskurs zur SED-Politik aufgebaut hätte. Er befand sich insgesamt auf Parteilinie, geriet jedoch wiederholt unter Beschuss, weil es ihm nicht gelang, einzelne Autoren, die sich literarisch und ideologisch frei gemacht hatten, zu disziplinieren. Nach dem Mauerbau im Jahr 1961 hofften einige Schriftsteller, dass nunmehr eine offene Diskussion über alle Probleme und Perspektiven der sozialistischen Gesellschaft entstehen könnte. Doch wurden sie diesbezüglich enttäuscht. Die eingeleitete Liberalisierung endete mit dem 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965. In den späten 1950er und den 1960er Jahren wurde kulturpolitisch versucht, die Werktätigen aktiver in die Literatur und Kunst einzubinden. Die Bewegung »Bitterfelder Weg« sollte helfen, die zunehmende »Entfremdung zwischen Künstler und Volk« zu überwinden.47 Die daraufhin entstandenen Werke schreibender Arbeiter wurden jedoch von den Berufsschriftstellern der DDR im DSV kritisch gesehen. Prominente Autoren wie Christa Wolf, Stefan Heym und Peter Hacks befürchteten, dass die angestrebte Angleichung von Berufs- und Laienkunst dazu führen könnte, die ihrer Meinung nach in Ansätzen vorhandene, kritische Funktion der Kunst auszuhebeln, um sie im Sinne der Parteipropaganda noch stromlinienförmiger zu machen. Eine tiefe Zäsur für die DDR stellte zweifelsohne die 1976 erfolgte Ausbürgerung von Wolf Biermann dar.48 Biermann befand sich zu diesem Zeitpunkt auf Einladung der IG Metall auf einer Konzerttournee in der Bundesrepublik Deutschland. Nach wiederholten DDR-kritischen Äußerungen des Künstlers seit den 1960er Jahren wurde diese Gelegenheit genutzt, um ihm die Wiedereinreise in die DDR zu verweigern. Das Politbüro der SED beschloss diese Maßnahme am 16. November aufgrund »grober Verletzungen staatsbürgerlicher Pflichten« durch ihn. Einen Tag später wurde die Ausbürgerung offiziell bekanntgegeben. Im Neuen Deutschland wurde sie begründet mit »massiven
45 46 47 48
Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 71, 84. Gansel: Parlament des Geistes, S. 12. Zum Bitterfelder Weg siehe beispielgebend: Barck/Wahl (Hrsg.), Bitterfelder Nachlese. Vgl. Chotjewitz-Häfner (Hrsg.): Die Biermann-Ausbürgerung und die Schriftsteller.
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Abb. 3: Worte – Lieder – Taten. Schriftsteller der DDR zum Großen Oktober. Einladung zu einer Veranstaltung des Deutschen Schriftstellerverbandes in Berlin am 16. Oktober 1967 durch Anna Seghers. Privatbesitz.
Angriffen« Biermanns gegen »unseren sozialistischen Staat« und seiner vermeintlichen Aufforderung, die Ordnung der DDR zu beseitigen.49 Umgehend verfasste eine Gruppe von zwölf namhaften DDR-Autoren50 eine Resolution, in der sie die Staatsführung darum baten, die Ausbürgerung Biermanns »zu über49 Vgl. Zimmermann: Literaturbetrieb Ost/West, S. 108. Vgl. Meyen: Öffentlichkeit in der DDR, S. 45. 50 Volker Braun, Franz Fühmann, Stefan Heym, Stephan Hermlin, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider, Jurek Becker, Christa Wolf und ihr Mann Gerhard Wolf sowie der Bildhauer Fritz Cremer.
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denken«. Nachdem das Zentralorgan der SED Neues Deutschland den Abdruck dieser Erklärung abgelehnt hatte, übergab sie Stefan Heym der westlichen Nachrichtenagentur Reuters und Stephan Hermlin der AFP.51 Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen in den dortigen Medien. Der in den DDR-Medien verschwiegenen Resolution schlossen sich weitere Schriftsteller, Schauspieler und bildende Künstler des Landes wie Robert Havemann, Manfred Krug, Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger, Eva Maria und Nina Hagen an – insgesamt über 100 Personen. In Berlin und Leipzig wurden sogar Flugblätter verteilt. Die Präsidentin des SV Anna Seghers hingegen teilte in einer Kurzerklärung mit, sie habe entgegen anders lautenden Meldungen die Protestresolution auch nachträglich nicht unterzeichnet.52 Die SED und das MfS begannen, auf die Gruppe der Unterstützer individuell einzuwirken, sie unter Druck zu setzen, damit sie ihre Unterschrift wieder zurückziehen. Zugleich wurde eine Pressekampagne mit zahlreichen Solidaritätsbekundungen von führenden Funktionärsautoren des Schriftstellerverbandes für die Sache der Partei und Regierung losgetreten. Paragraph 219 des Strafgesetzbuches der DDR besagte unter dem Begriff »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme«: Es ist zu bestrafen, »wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik Nachrichten, die geeignet sind den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, im Ausland verbreitet oder verbreiten läßt«.53 Damit konnte jede kritische Äußerung, die im Ausland veröffentlicht wurde, gemeint sein. Der Paragraph ermöglichte der SED ein entschiedenes Vorgehen: Gegen die Unterzeichner des offenen Briefes vom 17. November wurden Sanktionen verhängt, wenn sie nicht, wie Fritz Cremer, ihre Unterschrift zurückzogen, u. a. Parteistrafen und Ausschlüsse aus der SED. Innenpolitisch führte die Biermann-Ausbürgerung zu einer Erweiterung des Unterdrückungsapparates, im Besonderen des Staatssicherheitsdienstes.54 Außenpolitisch handelte sich die DDR, die ein Jahr zuvor neben der Bundesrepublik Deutschland die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatte, Kritik ein, selbst von den eurokommunistischen Parteien und Mitgliedern der von der DDR unterstützten DKP. Mehrere Künstler siedelten aus der DDR in die Bundesrepublik über. Bereits 1976 zogen die Schauspielerin Katharina Thalbach und der Schriftsteller Thomas Brasch nach Westberlin. Die Musiker Gerulf Pannach und Christian Kunert der in der DDR verbotenen Rockband Renft (Klaus Renft Combo, gegr. 1958) und der Schriftsteller Jürgen Fuchs wurden noch im November 1976 vom MfS verhaftet und nach mehreren Monaten Gefängnis unter Androhung von langen Haftstrafen aus dem Land gezwungen. Der Schauspieler Manfred Krug erhielt trotz seiner Beliebtheit in der DDR keine neuen Rollen mehr, bereits gedrehte Filme wurden nicht mehr gezeigt, sodass er 1977 einen Ausreiseantrag stellte und in die Bundesrepublik übersiedelte. Es folgten fast zeitgleich
51 Vgl. Berbig u. a. (Hrsg.): In Sachen Biermann. 52 Zimmermann wertete das als einen geschickten Schachzug. Sie unterließ es, sich gänzlich auf die Seite der DDR-Offiziellen zu stellen und distanzierte sich lediglich inhaltlich vom Protestbrief. Vgl. Zimmermann: Literaturbetrieb Ost/West, S. 109. 53 Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik. Vgl. ferner Jäger: Kultur und Politik in der DDR, S. 169. 54 Siehe auch Kapitel 3.2 Überwachung von Schriftstellern und Verlagen (Matthias Braun) in diesem Band.
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Biermanns frühere Lebensgefährtin, die bekannte Schauspielerin Eva-Maria Hagen, und deren Tochter Nina Hagen. Einige Schriftsteller, denen mangelnde »Parteiverbundenheit« vorgehalten wurde, erhielten keine Einladung zum VIII. Schriftstellerkongress 1978. Der Kongress stand unter dem Motto »Die Verantwortung des Schriftstellers in den Kämpfen unserer Zeit«. In seinem Referat gab Hermann Kant die Richtung vor. Zu den ausgereisten Schriftstellern sagte er: »Wer aus sozialistischem Leserland nach Bestseller-Country verzieht, macht eine Rückwärtsbewegung, betreibt Zurücknahme, und er muß wissen: Er war schon einmal weiter. Er war schon einmal um eine historische Epoche weiter.«55 Ein Jahr später, am 16. Mai 1979, schrieben acht Schriftsteller56 einen Brief an den SED-Generalsekretär Erich Honecker, in dem es hieß, dass sie die Kulturpolitik der DDR »mit wachsender Sorge« betrachteten. »Immer häufiger wird versucht, engagierte, kritische Schriftsteller zu diffamieren, mundtot zu machen oder, wie unseren Kollegen Stefan Heym, strafrechtlich zu verfolgen. Der öffentliche Meinungsstreit findet nicht statt. Durch die Koppelung von Zensur und Strafgesetzen soll das Erscheinen kritischer Werke verhindert werden.« 1979 veröffentlichte Heym seinen Roman Collin in der Bundesrepublik (im C. Bertelsmann Verlag Gütersloh) ohne die Zustimmung des Büros für Urheberrechte,57 die er wohl auch nicht erhalten hätte. Daraufhin wurde er wegen des Verstoßes gegen das Devisengesetz zu einer Strafe von 9.000 M verurteilt. Einen führenden Autor derart abzustrafen, bedeutete einen erheblichen Imageschaden für die DDR. Die im Brief vorgetragene scharfe Kritik an der DDR-Kulturpolitik wurde begleitet von einer Darstellung ihres Selbstverständnisses als Schriftsteller der DDR: »Wir sind der Auffassung, dass der Sozialismus sich vor aller Öffentlichkeit vollzieht; er ist keine geheime Verschlusssache. Über seine Erfolge und Niederlagen, das heißt über unsere Erfahrungen zu schreiben, halten wir für unsere Pflicht und unser Recht.«58 Die DDRPresse veröffentlichte auch diesen Brief nicht. Eine Woche später unterrichteten die Briefunterzeichner die westdeutsche Presse. Diese Verzögerung hatte mehrere Gründe. Die Autoren wollten der DDR-Regierung Verhandlungsbereitschaft signalisieren und den Verdacht vermeiden, dass sie mit der DDR-Regierung (nur) über die Medien der BRD diskutierten. Da aber die Öffentlichkeit von ihrer Unterstützung für Stefan Heym erfahren sollten, beschlossen die Autoren, die westdeutsche Presse zu informieren, ohne jedoch den genauen Wortlaut des Briefes bekannt zu machen. Am 23. Mai fand insgeheim ein Gespräch zwischen dem Politbüromitglied Kurt Hager und führenden Vertretern des DDR-Schriftstellerverbandes, u. a. Hermann Kant, Gerhard Henniger und Gerhard Holtz-Baumert, statt. Hier legte Hager die Meinung des Sekretariats des ZK der SED dar, dass es sich um einen verleumderischen Brief handle, der mit dem Gegner koordiniert worden sei. Der Brief sei nach Hagers Darstellung erst
55 Siehe das Referat von Hermann Kant: Die Verantwortung des Schriftstellers in den Kämpfen unserer Zeit. In: VIII. Schriftstellerkongress der DDR 1978, München, S. 12–38, hier S. 29. 56 Kurt Bartsch, Jurek Becker, Adolf Endler, Erich Loest, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Dieter Schubert und Martin Stade. 57 Zum BfU siehe Kapitel 3.4.2 Das Büro für Urheberrechte (Thomas Keiderling) in diesem Band. 58 Walther (Hrsg.): Protokoll eines Tribunals, S. 65.
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am Abend des 22. Mai in den Briefkasten des Staatsrates eingeworfen worden, sodass Erich Honecker zum Zeitpunkt seines Bekanntwerdens durch westliche Massenmedien noch keine Kenntnis davon besaß. In einer am 22. Mai ausgestrahlten ARD-Sendung sei von einer Beantwortungsfrist an Honecker die Rede, die im Schreiben selbst gar nicht enthalten sei. In der anschließenden Diskussion forderten die anwesenden Präsidiumsmitglieder mehrheitlich den Ausschluss der Briefunterzeichner aus dem Verband.59 Neues Deutschland veröffentlichte zum Auftakt einen scharf formulierten offenen Brief von Dieter Noll, gerichtet an Erich Honecker. Darin versicherte Noll, dass die Schriftsteller der DDR voll hinter der Partei und Kulturpolitik der Regierung stünden, ausgenommen »einige wenige kaputte Typen wie die Heym, Seyppel oder Schneider, die da so emsig mit dem Klassenfeind kooperieren«.60 Auch ein Artikel Hermann Kants im Neuen Deutschland muss als Reaktion auf den Protestbrief verstanden werden: »Wer die staatliche Lenkung und Planung auch des Verlagswesens Zensur nennt, macht sich nicht Sorge um unsere Kulturpolitik, er will sie nicht.«61 Am 7. Juni 1979 veranstaltete der Berliner Bezirksverband des SV ein groß angelegtes Tribunal, das mit dem Ausschluss aus dem SV endete. Es betraf die seit langem nicht konformen Autoren Kurt Bartsch, Adolf Endler, Stefan Heym, Karl-Heinz Jakobs, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Rolf Schneider, Dieter Schubert und Joachim Seyppel.62 Heym63 – Autor des in der DDR viel gelesenen Buches Kreuzfahrer von heute (1948, deutsch 1950) – war das prominenteste Opfer. Im Umkreis dieser Auseinandersetzungen wurde versucht, weitere Autoren wie etwa Erich Loest auszuschließen. Allerdings blieb dies in seinem Fall zunächst ergebnislos, weil er im zuständigen Bezirksverband Leipzig einen großen Rückhalt besaß. Doch im Herbst 1979 trat Loest aus dem Verband aus und verließ 1981 die DDR. Während dieser Debatten bekam nur Stephan Hermlin großen Beifall. Er nahm eine vermittelnde Position ein, sprach sich gegen die Veröffentlichungen im Westen aus und verurteilte den Hang einiger Schriftsteller, sich mehr mit Interviews und offenen Briefen zu beschäftigen als mit dem Literaturschaffen. Aber auch gegen die Ausschlüsse wendete er sich deutlich. Er hoffte, eine Einigung zwischen den angefeindeten Schriftstellern und der Staatsführung erreichen zu können. Dies blieb aber ohne Erfolg.64 Mit den Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband demonstrierte die DDR-Führung, dass eine kritische Literatur unerwünscht war. Diesen Standpunkt behielt sie bis zum Ende des Staates bei. Es
59 Vgl. Dokument: Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit. Information über in der Präsidiumssitzung des Schriftstellerverbandes der DDR am 23. 5. 1979 festgelegte Maßnahme gegen feindlich-negative Schriftsteller der DDR. In: Zimmermann: Literaturbetrieb Ost/West, S. 155–159. 60 Walther (Hrsg.): Protokoll eines Tribunals, S. 97. Hier wurde die Gelegenheit genutzt drei Dissidenten mit anzugreifen, die den vorherigen Protestbrief nicht unterschrieben hatten. 61 Walther (Hrsg.): Protokoll eines Tribunals, S. 106. 62 Vgl. Weichert: Kunst und Verfassung in der DDR. 63 Sein eigentlicher Name war Helmut Flieg. Er musste 1933 aufgrund seiner jüdischen Abstammung aus Deutschland emigrieren. Als Angehöriger der US-Armee war er an der Befreiung Deutschlands beteiligt. 64 Vgl. Walther (Hrsg.): Protokoll eines Tribunals, S. 57.
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verließen manche Autoren das Land, die eigentlich loyal zum Staat standen und der gesellschaftlichen Idee des Sozialismus aufgeschlossen begegneten.65 In den 1980er Jahren gab es keine einheitliche und nachvollziehbare kulturpolitische Linie mehr, die alten Slogans hatten ihre Kraft verloren. Es ging der SED nur noch darum, eine Art Schadensbegrenzung zu betreiben. Bekannte Autoren, die im westlichen Ausland publizierten, wurden nun eher hofiert als kritisiert, wenn sie nicht allzu offensiv auftraten. Sie brachten der DDR Devisen und Prestige ein.
Nach der Deutschen Einheit In der Wendezeit versuchte der SV vergeblich, seinen Platz im demokratischen Erneuerungsprozess der DDR zu finden. Zu sehr war er zuvor mit der Kulturpolitik der SED verwoben gewesen. Ein personeller Austausch des gesamten Führungsgremiums fand im Jahr der Deutschen Einheit nicht statt. Nach einer Mitgliederbefragung im Umlaufverfahren wurde auf einem außerordentlichen Schriftstellerkongress im März 1990 die Umbenennung in Deutscher Schriftstellerverband (DSV) beschlossen. Nachdem der bisherige Präsident Hermann Kant zurückgetreten war, trat Rainer Kirsch die Nachfolge an. Per Mitgliederentscheidung, an der sich lediglich 558 von 1.061 Mitglieder beteiligten (= 52,5 Prozent), beschloss der Verband seine Auflösung zum 31. Dezember 1990. Auf seiner letzten Sitzung am 27. November wurde dieser Entscheidung per Vorstandsbeschluss entsprochen. Den Mitgliedern wurde der Eintritt in den Verband deutscher Schriftsteller (VS) in der IG Medien empfohlen. Am 23. Februar 1991 konstituierte sich in Mecklenburg-Vorpommern der erste VS-Landesverband in den neuen Bundesländern, in den folgenden Monaten entstanden die weiteren Landesverbände. Bereits im Jahr 1990 kam es zur Gründung einer Historischen Kommission, die Verbandsunterlagen sicherte, Zeitzeugen befragte und erste Studien zur Verbandsgeschichte herausgab.66 Mit der Verbandsauflösung und dem Beitritt einzelner Mitglieder zum VS ging die Arbeit der Kommission in diese Trägerschaft über. Eine komplette Aufarbeitung der Verbandsgeschichte leistete die Historische Kommission allerdings nicht. Dafür gab es im Zeitraum 1996 bis 1998 am Fachbereich 1 der TU-Berlin ein Forschungsprojekt der Volkswagens-Stiftung zur Geschichte des DDR-Schriftstellerverbandes, das von Hans Dieter Zimmermann und Klaus Michael angeregt war.67 Es entstand keine abschließende Gesamtpublikation, jedoch legten danach Carsten Gansel mit Parlament des Geistes (1996) und Sabine Pamperrien mit Versuch am untauglichen Objekt (2004) monografische Studien jeweils mit einem hohen Dokumentationsanteil vor. Glücklicherweise wurde der Aktenbestand des Schriftstellerverbandes 1991 mit einem Umfang von 184,5 laufenden Metern dem Archiv der Akademie der Künste Berlin übergeben und steht seither der Forschung zur Verfügung.68 65 Der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR (Stefan Heym). 66 Vgl. Chotjewitz-Häfner (Hrsg.): Die Biermann-Ausbürgerung und die Schriftsteller. 67 Vgl. Michael/Pötsch/Walther: Geschichte, Struktur und Arbeitsweise des Schriftstellerverbandes der DDR, S. 58. 68 [Bestandsnachweis SV/DSV]: Vgl. https://archiv.adk.de/bigobjekt/37034. Der Aktenbestand des SV/DSV umfasst eine Foto- und Zeitungsausschnittsammlung, ein Tonbandarchiv und Aktenbestände des Bezirksverbands Berlin und des BV Potsdam. Die Aktenbestände der anderen Bezirksverbände werden in weiteren Archiven aufbewahrt.
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Die Zeitschrift neue deutsche literatur ging nach dem Ende des Schriftstellerverbandes in das Eigentum des Aufbau-Verlages über, in dem sie bereits seit 1956 erschien. Nach dessen Privatisierung durch den Verleger Bernd F. Lunkewitz wurde die Zeitschrift zwar weitergeführt, die Zahl der jährlichen Ausgaben aber auf sechs halbiert. Im Laufe der 1990er Jahre ging die Auflage immer weiter zurück. 2003 lag sie bei 3.000 Exemplaren. Im Mai 2004 wechselte der Titel zum Verlag Schwartzkopff Buchwerke. Der neue Inhaber ersetzte den bisherigen Untertitel »Zeitschrift für deutschsprachige Literatur« durch »Zeitschrift für Literatur und Politik« und unterstrich die inhaltliche Neuausrichtung mit einem auffälligen Layout, dem erstmaligen Abdruck von Bildern im Vierfarbdruck sowie einer Neuzählung der Ausgabennummern: Das Heft Nr. 555 präsentierte sich mit einer großen »1« auf dem Cover. Fortan sollte die Zeitschrift wieder im monatlichen Rhythmus erscheinen. Aber der Schwund der Abonnenten ließ sich nicht aufhalten, bald gab es nur noch 1.000. Bereits mit dem Heft Nr. 8 im Dezember 2004 endete die Geschichte der ndl als Literaturzeitschrift.69
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Akademie der Künste, Berlin [AdK] Schriftstellerverband der DDR [SV]: Laufzeit 1945–1990, Umfang: 184,5 lfm
Gedruckte Quellen Berichte und Dokumentationen der Deutschen Schriftstellerkongresse des DSV/SV [I.
II. III.
IV. V. VI.
[Gesamt-]Deutscher Schriftstellerkongreß vom 4. bis 8. Oktober 1947. Einberufen vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und dem Schutzverband Deutscher Autoren (SDA); zunächst nicht dokumentiert. [siehe die späteren Dokumentationen: 1. Wende-Hohenberger, Waltraud (Hrsg.): Der erste Gesamtdeutsche Schriftstellerkongress, 1988. 2. Reinhold, Ursula und Dieter Schlenstedt (Hrsg.): Erster Deutscher Schriftstellerkongreß. Berlin: Aufbau-Verlag 1997.] Deutscher Schriftstellerkongreß vom 4. bis 7. Juli 1950. [keine Dokumentation bis 1989; siehe Gansel, Carsten (Hrsg.): Erinnerung als Aufgabe?, 2008.] Deutscher Schriftstellerkongreß vom 22. bis 25. Mai 1952. Referate und Diskussionsbeiträge. [keine Dokumentation bis 1989, siehe Gansel, Carsten (Hrsg.): Erinnerung als Aufgabe?, 2008.] Deutscher Schriftstellerkongreß 9. bis 14. Januar 1956. 4 Teile. Berlin: DSV 1956. Deutscher Schriftstellerkongreß vom 25. bis 27. Mai 1961. Referate und Diskussionsbeiträge. Berlin: Aufbau-Verlag 1962. Deutscher Schriftstellerkongreß vom 28. bis 30. Mai 1969. Protokoll. Berlin: AufbauVerlag 1969; Deutscher Schriftstellerverband (Hrsg.): VI. Deutscher Schriftstellerkongreß 28.–30. Mai 1969 in Berlin. In: Neue Deutsche Literatur (ndl) 9/1969.
69 Vgl. Roscher: In den Heften, S. 274–280.
3 .4 . 3 De r Sc h ri f t st e ll e rv e r ba n d
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VII.
Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik vom 14. bis 16. November 1973. Protokoll. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1974. VIII. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik vom 29. bis 31. Mai 1978. Berlin und Weimar: Berlin und Weimar 1979. [VIII. Schriftstellerkongreß der DDR. Die Verantwortung des Schriftstellers in den Kämpfen unserer Zeit. Materialien zum VIII. Schriftstellerkongreß der DDR, Berlin 29. bis 31. Mai 1978. München: Damnitz Verlag 1978.] IX. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. Mai bis 2. Juni 1983. Rede und Diskussion. Berlin: Aufbau-Verlag 1984. X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik vom 24. bis 26. November 1987. 2 Bände. Berlin und Weimar Aufbau-Verlag 1988.] BECHER, Johannes R.: Kulturgespräch anläßlich der Leipziger Frühjahrsmesse. In: Johannes R. Becher: Gesammelte Werke, Bd. 18: Publizistik IV. (1952–1958). Berlin und Weimar 1981, S. 550. BLUHM, Hans: Die Herausbildung des Schriftstellerverbandes der DDR und seiner literaturpolitischen Aufgaben (1945–1952). Diss. Universität Greifswald 1983. GIORDANO, Ralph: Die Partei hat immer recht. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1961. HEYM, Stefan: Der Winter unseres Mißvergnügens. Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant. München: Goldmann 1996. KUNZE, Reiner: Deckname »Lyrik«. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1990. LOEST, Erich: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk. Künzelsau u. a.: Linden-Verlag 1990. LOEST, Erich: Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf. Hamburg: Hoffmann und Campe 1981. REINHOLD, Ursula / SCHLENSTEDT, Dieter (Hrsg.): Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 8. Oktober 1947. Berlin: Aufbau-Verlag 1997. RÜHLE, Jürgen: Das gefesselte Theater. Vom Revolutionstheater zum sozialistischen Realismus. Köln u. a.: Kiepenheuer & Witsch 1957. SCHILLER, Anne: Die Bemühungen sozialistischer Schriftsteller auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß 1947 um die gemeinsame Teilnahme aller humanistischen Schriftsteller an der antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung in Deutschland. Diss. Humboldt-Universität Berlin 1975. WALTHER, Joachim u. a. (Hrsg.): Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDRSchriftstellerverband 1979. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991 (rororo 12992).
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Dorothée Bores 3.4.4 Die DDR-Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN Sozialgeschichtliche Einordnung des PEN im Machtbereich der SED-Diktatur Das PEN-Zentrum der DDR war als nationale Sektion der weltweit aktiven Autorenvereinigung PEN angeschlossen. PEN steht für die Feder des Schreibenden. Die Einzelbuchstaben sind Kürzel für die Professionen der Mitglieder: Poets/Playwrights, Editors/ Essayists und Novelists/Non-fiction-writers.1 Hervorzuheben ist, dass der PEN nicht die typischen Aufgaben einer Gewerkschaft und eines Interessenverbandes übernimmt; diese Tatsache drückt sich schon in der Zuwahlpraxis aus. PEN-Mitglied werden kann nur, wer ausdrücklich vorgeschlagen und gewählt wird. Aufgrund dieser strikten Aufnahmekriterien hängt dem PEN von jeher der Ruch einer elitären Gemeinschaft an. Die Entstehung eines PEN-Zentrums in der DDR ging nicht einher mit der Staatsgründung, sondern war das Ergebnis eines jahrzehntelange Prozesses. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich ein PEN-Zentrum Deutschland wiederbegründet. Aufgrund ideologisch bedingter Differenzen kam es 1951 zur Konstituierung einer weiteren, bundesdeutschen PEN-Gruppierung. Auf internationaler Ebene wurden beide Zentren 1953 offiziell anerkannt: Das noch immer gesamtdeutsch orientierte PEN-Zentrum Deutschland erhielt die Bezeichnung Deutsches PEN-Zentrum Ost und West (Sitz München). Erst 1967 erfolgte die Umbenennung in PEN-Zentrum DDR. Daneben bestand ab 1934 der Deutsche PEN-Club im Exil, der 1948 in PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland umbenannt wurde. Die langsame Entwicklung von einer gesamtdeutschen Vereinigung hin zu einer das Staatssystem repräsentierenden Institution brachte es mit sich, dass die kulturpolitischen Organisationen und Behörden des DDR-Staates – u. a. Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Deutscher Schriftstellerverband (DSV), Abteilung Kultur beim ZK der SED, Ministerium für Kultur (MfK) und Ministerium für Staatssicherheit (MfS) – in unterschiedlicher Intensität Einfluss auf die PEN-Sektion nahmen. Nach dem Zusammenbruch der DDR stand der PEN in Deutschland über Jahre hinweg im Fokus des öffentlichen Interesses, denn man rang bis 1998 darum, ob und wie eine gemeinsame deutsche Sektion zu bilden sei. Kernpunkt der sehr emotionalen, zum Teil unsachlichen und zumeist öffentlich geführten Auseinandersetzungen bildete die Frage nach dem Verhalten von Schriftstellern im Machtbereich eines diktatorischen Systems. Diese Frage gewinnt deutlich an Brisanz vor dem Hintergrund, dass sich die Mitglieder der Schriftstellervereinigung PEN per Unterschrift einer Charta verpflichten. Dieser Grundkonsens ethisch-moralischer Wertvorstellungen, der den unbedingten Einsatz der Mitglieder für Literatur und Meinungsfreiheit fordert, provoziert mit Blick auf die realen Arbeits- und Lebensbedingungen in einem diktatorisch organisierten Gesellschaftsgefüge massive Zweifel am Handlungsvermögen der Schriftsteller in der DDR. Der Disput über die Stellung der Literaten im
1 Vgl. Dericum: Aus der Geschichte des deutschen PEN, S. 10. https://doi.org/10.1515/9783110471229-015
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gesellschaftlichen System der DDR wird somit Teil eines umfassenden, nicht abgeschlossenen Diskurses über die Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen im Spannungsfeld von Geist und Macht. Das »pauschale Diktum« vom Versagen der DDR-Autoren, die »im Grunde verlässliche Komplizen der staatlichen Macht«2 gewesen seien, greift indes zu kurz. Ein einheitliches und stringentes Verhalten ist unter den »konkret historischen Bedingungen [d]er Existenz- und Äußerungsmöglichkeiten«3 in einer Diktatur kaum zu erwarten. Der Einzelne – auch der Schriftsteller – muss folglich immer wieder individuelle Entscheidungen treffen.4 Bei der Betrachtung der PEN-Geschichte in der DDR ist daher sowohl die Institutionengeschichte als auch die individuelle Personengeschichte zu beachten. Im Blickpunkt stehen demnach die Position des PEN-Zentrums in der DDR, die Einflussnahme des politischen Systems (Kaderpolitik) auf seine Arbeit und die Rolle, die der einzelne Schriftsteller als PEN-Mitglied in der Diktatur übernahm. Aufgrund der organisatorischen Anbindung an einen internationalen Dachverband ergibt sich ein dreifacher Bezugsrahmen, der zum einen die Stellung im Staatswesen erfasst, zugleich aber die Einbindung in den Internationalen PEN5 beleuchtet und auch das Verhältnis zum bundesdeutschen Zentrum berücksichtigt.
Kampf um Anerkennung: »Rumpfgruppe« oder gesamtdeutsches PENZentrum? Schon die Initiativen zur Wiederbegründung eines deutschen PEN nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zeigten sich geprägt von ideologischen Auseinandersetzungen der beteiligten Schriftsteller aus Ost und West.6 Zwar gelang es 1948, ein gemeinsames PEN-Zentrum Deutschland zu begründen, doch die Kontroversen um die politisch-ideologische Orientierung einzelner Mitglieder, die von der Aufteilung der Welt in eine westliche und eine östliche Machtsphäre geprägt waren, spitzten sich rasch zu. Ende 1950 gab es Versuche, die kommunistischen Mitglieder aus dem PEN zu drängen. Auf der Generalversammlung des PEN-Zentrums Deutschland im Oktober 1951 eskalierte der Konflikt und führte zur Bildung einer selbstständigen bundesdeutschen Gruppe. Eine
2 3 4 5
Rüther: Überzeugungen und Verführungen, S. 607. Gansel: ›Vereinigungskrisen‹, S. 19. Rüther, S. 607 608. Der Internationale PEN lässt sich in ideologisch bedingten Problemstellungen seit Jahrzehnten von der Hochachtung der Toleranz leiten; er stellt die Aufrechterhaltung der Verbindung zu den Mitgliedern in totalitären Staaten in der Regel über die kompromisslose Verurteilung von (potenziellen) Verstößen gegen die PEN-Charta. Es gilt bis heute als wesentlicher Grundsatz, den unter den Bedingungen einer Diktatur lebenden Kollegen ein Fenster zur demokratischen Welt offen zu halten. 6 Zur Wiederbegründungs- und Spaltungsgeschichte vgl. Peitsch: »Die Freiheit fordert klare Entscheidungen«; Malende: Die »Wiedererrichtung« und Trennung; Malende: Berlin und der P.E.N.-Club; Malende: Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft; Heukenkamp: Der Beitrag der Berliner Schriftsteller; Hochgeschwender: Die Spaltung des deutschen PEN. In: Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive?
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klare Lösung des ideologisch geprägten Konfliktes gelang mit der Aufspaltung indes nicht. Der Vorstand des ursprünglichen Zentrums – Johannes R. Becher (1891–1958), Johannes Tralow (1882–1968), Günther Weisenborn (1902–1962), Hans Henny Jahnn (1894–1959) – konzentrierte sich in der Folgezeit darauf, »den PEN wieder fest auf die Beine zu stellen«.7 Der in München ansässige Tralow plädierte für eine Stärkung des westlichen Flügels,8 um ein »kommunistisches Gesicht«9 des PEN zu vermeiden. Die Bemühungen zur Stärkung des PEN-Zentrums Deutschland kreuzten sich mit der Konstituierung des Deutschen PEN-Zentrums (Bundesrepublik) am 3./4. 12. 1951 in Darmstadt mit Erich Kästner als Präsidenten.10 Durch die Loslösung von den ostdeutschen Schriftstellern erhoffte sich das neue PEN-Zentrum, die politischen Divergenzen zu beenden.11 Beide Gruppierungen räumten einander nur geringe Überlebenschancen ein und sprachen sich wechselseitig die Existenzberechtigung ab. Dem PEN-Zentrum Deutschland gelang es nicht, den Vorwurf sowjetzonaler Dominanz zu entkräften. Zur Zusammenkunft am 10. Dezember 1951 in Berlin-Charlottenburg kamen, mit Ausnahme von Tralow und dem noch zu wählenden Mitglied Rüdiger Syberberg, ausschließlich führende Schriftstellerpersönlichkeiten der DDR: Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Peter Huchel, Alfred Kantorowicz, Rudolf Leonhard, Hans Mayer, Anna Seghers, Ehm Welk, Friedrich Wolf und Arnold Zweig. Auf der Tagesordnung stand zuoberst die Zuwahl neuer Mitglieder, um abwertende Bezeichnungen wie »P.E.N.-Torso«12 zu entkräften. Das Plenum wählte 31 Autoren aus Ost und West, deren Namen zunächst geheim gehalten wurden, um die »Existenz der in der Bundesrepublik wohnhaften Mitglieder« nicht zu gefährden.13 Rüdiger Syberberg (1900–1978) wurde als Mitpräsident in den Vorstand gewählt und Tralow zusätzlich zum Amt des geschäftsführenden Präsidenten das des Schatzmeisters übertragen. Auf die Agenda setzte man die Kontaktaufnahme mit den PEN-Zentren der Ostblockstaaten, um deren Aktivität im Internationalen PEN zu intensivieren.14 Als öffentlichkeitswirksam erwies sich die
7 AdK, Johannes R. Becher-Archiv 11969: Johannes Tralow an Johannes R. Becher, 28. 10. 1951. 8 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 36 Konv. von Scholz: Johannes Tralow an Wilhelm von Scholz, 26. 11. 1951. 9 SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 38 Konv. Weisenborn: Johannes Tralow an Günther Weisenborn, 13. 11. 1951. 10 Vgl. Deutsches PEN-Zentrum (Bundesrepublik). Gründungsversammlung in Darmstadt – Erweiterung des Mitgliederkreises. In: Die Neue Zeitung, 5. 12. 1951. Zur Geschichte des PEN in der Bundesrepublik vgl. Hanuschek: Geschichte des bundesdeutschen PEN-Zentrums. 11 Vgl. Deutsches PEN-Zentrum (Bundesrepublik). Gründungsversammlung in Darmstadt – Erweiterung des Mitgliederkreises. In: Die Neue Zeitung, 5. 12. 1951. 12 [dpa]: PEN-Torso tagte unter Becher und Tralow. In: Die Neue Zeitung, 12. 12. 1951. 13 Exilarchiv, EB 75/177 D.I.7. [o. V.]: Zwölf unbekannte Pen-Mitglieder. Ein Mitgliederverzeichnis aus dem Jahr 1952 nennt insgesamt 61 Mitglieder, davon 27 aus der DDR, 33 aus der Bundesrepublik Deutschland und eins aus West-Berlin. Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 85 M 7: Mitgliederverzeichnis (1952). 14 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 86 M 39: Beschlußprotokoll [sic] von der Mitgliederversammlung des Deutschen PEN-Zentrums am 10. Dezember 1951 in Berlin-Charlottenburg, o. D., S. 1.
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einstimmige Annahme einer Resolution, die die ausgetretenen Mitglieder als Spalter brandmarkte, zugleich aber die Bewahrung der geistigen Einheit Deutschlands beschwor.15 Mit einem »Bericht über die Abspaltung im Deutschen PEN« (München/Berlin 1951) versuchte Tralow, die Entscheidung des Internationalen PEN über die Existenzberechtigung zweier deutscher PEN-Zentren strategisch zu beeinflussen. Der Bericht entstand, insbesondere hinsichtlich der Finanzierung, in enger Kooperation mit dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in der DDR. Die Bundessekretäre Erich Wendt und Carlfriedrich Wiese wurden umfänglich über alle Aspekte der Unternehmung informiert, inhaltliche Einflussnahmen auf den Bericht sind indes kaum nachweisbar.16 Gleichwohl bleibt hervorzuheben, dass Tralow schon unmittelbar nach der Abspaltung die direkte Verbindungsaufnahme mit dem sowjetisch kontrollierten Kulturbund billigte. Der Kontakt kam über Johannes R. Becher, den Begründer und Präsidenten des Kulturbundes, zustande und hatte einen finanziellen Hintergrund: Tralow erhielt ab Oktober 1951 regelmäßige Zahlungen vom Kulturbund.17 Eine organisatorische Integration des PEN-Zentrums Deutschland in den Kulturbund ist nicht eindeutig nachweisbar, wohl aber eine regelmäßige Korrespondenz zwischen Tralow und den Bundessekretären. Das Interesse des Kulturbunds an einem gesamtdeutschen, Vertreter aus Ost und West vereinenden PEN war groß. Das PEN-Zentrum Deutschland wurde im Sinne der »Konzeption der Erneuerung Deutschlands mit der Berufung auf die Einigungskraft der deutschen Kultur«18 verdeckt in Dienst genommen. Für Tralow waren die Zuwendungen des Kulturbunds aufgrund seiner chronischen Geldnot wichtig. Er war kein überzeugter Kommunist und auch kein williger ›FellowTraveller‹. Vielmehr hoffte er auf die Überwindung des Ost-West-Konfliktes und war deshalb bereit, mit den kulturpolitischen Funktionären in der DDR zusammenzuarbeiten. Daraus entstand allerdings eine anhaltende Abhängigkeit, in deren Folge Tralow zu einem Wanderer zwischen beiden Welten wurde. Die Pariser PEN-Exekutive erkannte im März 1952 die Nach- und Zuwahlen des PEN-Zentrums Deutschland an und billigte dem Deutschen PEN-Zentrum (Bundesrepublik) ein »Provisorium bis 1953«19 zu. Schon im Juni 1952 erfolgte auf dem internationalen Kongress in Nizza die endgültige Anerkennung beider deutscher Zentren.20 In
15 Resolution des P.E.N.-Zentrums Deutschland vom 10. 12. 1951. Zitiert in: -r- [d. i.?]: Gegen eine Bevormundung des PEN-Clubs. Eine Pressekonferenz seines Deutschen Zentrums in der Akademie der Künste. In: Der Morgen (LDPD), 12. 12. 1951. 16 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 58 Konv. Wiese: Briefwechsel zwischen dem Bundessekretär Carlfriedrich Wiese und Johannes Tralow. 17 Vgl. AdK, Johannes R. Becher-Archiv 11969: Johannes Tralow an Johannes R. Becher, 28. 10. 1951; AdK, Archiv DSV, SV 367, Bl. 62–63, hier Bl. 62: Johannes Tralow an Bertolt Brecht, 19. 1. 1954 (Abschrift). 18 Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 33. 19 SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 33 Konv. Jahnn: Johannes Tralow an Hans Henny Jahnn, 17. 3. 1952. Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 86 M 40: [Johannes Tralow]: Bericht über die Sitzung des Exekutiv-Komitees am 11. und 12. März, 17. 3. 1952. 20 Vgl. SAPMO-BArch, DR 1/7867, Bl. 356–360: Johannes Tralow: Bericht an die Mitglieder des P.E.N.-Zentrums Deutschland, 11. 8. 1952.
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der Folge rang Tralow entschieden darum, die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit gängige Einordnung des PEN-Zentrums Deutschland als Institution der DDR zu widerlegen. Seine Arbeit wurde durch Rücktritte erschwert: Syberberg kapitulierte angesichts des schwelenden Ost-West-Konfliktes noch im selben Jahr.21 Auch Jahnn trat zurück, weil er fürchtete, dass aus dem PEN-Zentrum Deutschland ein Ost-PEN würde. Die Austritte wurden in den bundesdeutschen Medien als Belege für das ›Bröckeln‹ des PEN-Zentrums Deutschland gedeutet. In der Tat existierte nur noch ein ›Rumpfpräsidium‹, denn auch Becher zog sich von der PEN-Bühne zurück. Als Ansprechpartner in der DDR fungierten vor allem Wendt und Wiese. Allen Widrigkeiten zum Trotz stand Tralow weiterhin für die Idee eines Ost- und Westautoren vereinenden PEN-Zentrums Deutschland ein. Er hoffte, mit der Durchführung einer Generalversammlung die Position des Zentrums zu stärken. Doch die strengen Regelungen des Interzonenverkehrs erschwerten die Vorbereitung. Die bundesdeutschen Behörden verweigerten den DDR-Mitgliedern die Aufenthaltsgenehmigung mit der Begründung, daß [sie] ihre Anwesenheit im Bundesgebiet für die Propagierung sowjetischer Ideologien verwenden werden«.22 Eine Generalversammlung ohne DDR-Mitglieder hätte indes die Idee eines gesamtdeutschen Zentrums ad absurdum geführt. Durch die politische Einflussnahme des Bundessekretärs Wiese konnte schließlich nach ›Gross-Berlin‹ eingeladen werden.23
Vom Deutschen PEN-Zentrum Ost und West zum PEN-Zentrum der DDR Die Ära Brecht (1953–1956) 24 Die Mitgliederversammlung des PEN-Zentrums Deutschland, die am 10. Mai 1953 stattfand, markierte eine deutliche Zäsur: Die Konfrontation der PEN-Mitglieder im geteilten Deutschland war zu einem gewissen Stillstand gekommen. Im Vordergrund stand die Wiederaufnahme einer ›normalen‹ Aktivität, die auf eine verbesserte Akzeptanz auf internationaler wie nationaler Ebene hinwirken sollte. Man verabschiedete eine Resolution mit klarem Bekenntnis zur PEN-Charta.25 Durch die Zuwahl von acht bundesdeutschen und sechs in der DDR wohnenden Neumitgliedern wurde die gesamtdeutsche Ausrichtung bekräftigt. Eine bedeutsame Veränderung für das PEN-Zentrum war die auf Bechers Vorschlag hin erfolgende einstimmige Wahl von Bertolt Brecht (1898–1956) zum Präsidenten. Obgleich Brecht seit 1949 im Ostteil Berlins lebte, vertrat er die Vision einer gesamt-
21 Vgl. Rüdiger Syberberg schreibt uns. In: Die Literatur (Stuttgart), 1. 11. 1952. 22 Brief des Bundes-Innenministeriums an Johannes Tralow, 24. 1. 1953. Zitiert nach Dr. F. T. [d. i.?]: »… es empfiehlt sich nicht!« Generalversammlung des PEN-Clubs in München verboten. In: Der Sonntag 6 (8. 2.) 1953. 23 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Carlfriedrich Wiese an SED, Abt. Staatliche Verwaltung, 9. 5. 1953. 24 Zu Brechts Amtszeit vgl. Hörnigk: PEN-Bruder Brecht. 25 Vgl. AdK, Johannes R. Becher-Archiv 12215, Bl. 13: Resolution des PEN-Zentrums Deutschland, 10. 5. 1953. Zitiert nach Protokoll der Mitgliederversammlung des PEN-Zentrums Deutschland, 10. 5. 1953.
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deutschen Literatur und einer friedlichen Vereinigung beider deutscher Staaten. Zwar war er aus westlicher Sicht mit politischen Vorbehalten belastet und hatte auch mit Vorurteilen seitens des DDR-Staates zu kämpfen. Doch die PEN-Mitglieder hofften, dass Brecht aufgrund seines internationalen Renommees den Weg zu einer Konsolidierung ebnen würde. Zur Seite gestellt wurden ihm Tralow als geschäftsführender Präsident, Herbert Burgmüller (1913–1970) aus Düsseldorf als Generalsekretär und Stephan Hermlin (1915–1997) aus Berlin als Schatzmeister. Die Verbindung zum Kulturbund wurde durch die Zuwahl der Bundessekretäre Wendt und Wiese gefestigt.26 In der Realität lag die Bewältigung des Alltagsgeschäftes bei Tralow, während sich Brecht auf eine repräsentative Funktion beschränkte und auf wenige Initiativen konzentrierte, die vor allem auf Öffentlichkeitswirksamkeit abzielten: »Wenn Du kein Spektakel, wenn Du keinen Skandal machen kannst, brauchste gar nichts machen.«27 Auf internationaler Ebene verursachte der »status of German P.E.N.«28 weiterhin Irritationen. Der Dubliner Kongress im Juni 1953 legte deshalb die verbindlichen Bezeichnungen Deutsches PEN-Zentrum Ost und West (Sitz München) und Deutsches PEN-Zentrum (Bundesrepublik) fest. Das ehemalige PEN-Zentrum Deutschland konnte mit dieser Regelung seinen gesamtdeutschen Anspruch verteidigen. Jedes Mitglied musste jedoch mit einem Revers bestätigen, dass es über die Existenz einer bundesdeutschen Sektion informiert war.29 Der Dubliner Namensgebung folgte zwischen den deutschen Kontrahenten ein öffentliches Gezänk um deren korrekte Auslegung. Der Vizepräsident des Internationalen PEN, Robert Neumann, beendete vorläufig die Auseinandersetzungen. Er plädierte vehement für die Fortführung der Kommunikation mit dem Osten und sah offenkundig im Deutschen PEN-Zentrum Ost und West ein geeignetes Medium, um die politisch-ideologische Kluft im PEN zu überbrücken. Neumanns Rat folgend, konzentrierte sich Tralow auf konkrete PEN-Arbeit und bereitete mit Erfolg die Teilnahme am Kongress in Amsterdam im Jahr 1954 vor. Er stellte eine repräsentative Delegation zusammen, konnte einige osteuropäische PENZentren zur Teilnahme bewegen und setzte eine Resolution zur ›Verbreitungsfreiheit‹ durch. Auch der zeitgleich erschienene Almanach Deutsches Wort in dieser Zeit mit Beiträgen aus Ost und West wurde positiv bewertet. Einzig der Versuch, für die Aufnahme der sowjetischen Schriftsteller zu werben, wurde mit Skepsis aufgenommen.30 Die Zielsetzung, die deutsch-deutschen Querelen hinter sich zu lassen, aktiv an der Arbeit des Internationalen PEN teilzuhaben und die eigene Position zu stärken, schien geglückt. Im September 1953 entbrannte unter den Kulturfunktionären eine Diskussion, die auf eine Übergabe des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West vom Kulturbund an den
26 Vgl. AdK, Johannes R. Becher-Archiv 12215: Protokoll der Mitgliederversammlung des PEN-Zentrums Deutschland, 10. 5. 1953. 27 Interview mit Ingeburg Kretzschmar, geführt am 21. 2. 2002 in Berlin. 28 SBB, Nachlass Johannes Tralow K 51 Konv. Neumann: David Carver an Johannes Tralow, 17. 4. 1953. 29 SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 37 Konv. Uhse: Johannes Tralow an Bodo Uhse, 11. 12. 1955. 30 Das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West setzte sich über Jahre vermittelnd ein. Erst in den 1980er Jahren erfolgte schließlich die Aufnahme der sowjetischen Schriftsteller in den Internationalen PEN.
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Abb. 1: Deutsches Wort in dieser Zeit. Ein Almanach des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West. Düsseldorf: Progress-Verlag Fladung 1954, Umschlag.
Deutschen Schriftstellerverband (DSV) abzielte. Dessen Abteilung Gesamtdeutsche Arbeit hegte Interesse an einer kontinuierlichen Einwirkung auf die PEN-Arbeit. Tralow sah in der Verbindung eine Chance, die Zusammenarbeit mit den Ost-Mitgliedern zu stabilisieren. Zudem hoffte er auf eine Entschärfung des zunehmend spannungsreichen Verhältnisses zum Kulturbund. Inhaltlich ging es dabei vor allem um die finanzielle Unterstützung. Die Infrastruktur des DSV hatte schon bei der Vorbereitung der Generalversammlung 1953 und der Visa- und Devisenbeschaffung für Amsterdam gut funktioniert. In Kooperation mit der Abteilung Kultur beim ZK der SED drangen die Verantwortlichen des DSV bei der Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe auf eine eigenständige Finanzierung für das PEN-Zentrum. Die finanzielle Verantwortung blieb jedoch ungeklärt: Der DSV stellte dem Kulturbund gewisse Ausgaben in Rechnung; das Konto, auf dem die Mitgliederbeiträge eingingen, führte der Kulturbund; benötigte Devisen wurden wiederum über den DSV bereitgestellt.31 Auch 1954 erhielt das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West keinen eigenen Etat mit selbstständiger Geschäftsführung. Noch immer lag die finanzielle Verantwortung
31 Vgl. Bores: Das ostdeutsche PEN-Zentrum, S. 253–271.
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beim DSV, der über einen gesonderten PEN-Etat verfügte. Nachweisbar ist zudem, dass dem PEN Gelder aus dem Kulturfonds der DDR zuflossen – »jeweils nach Bedarf und persönlicher Anleitung eines Gen. der Abt. [Kultur]«.32 Direkte Regulierungsmaßnahmen der Abteilung Kultur des ZK der SED sind jedoch Mitte der 1950er Jahre am Quellenmaterial nicht nachweisbar. Anfang 1956 zeichnete noch immer die gesamtdeutsche Abteilung des DSV für die strategischen Pläne des PEN verantwortlich.33 Im November 1954 wurde durch den auf der Generalversammlung 1954 ins Amt gewählten Schatzmeister Bodo Uhse (1904–1963) ein Berliner PEN-Büro eingerichtet: Dort führte die Sekretärin Ingeburg Kretzschmar die Geschäfte. Die selbstbewusst agierende Kretzschmar war eine schillernde Persönlichkeit,34 mit der Tralow schon bald in Konflikt geriet. Er fühlte sich schlecht informiert, in vielen Belangen von der eigenmächtigen Mitarbeiterin übergangen und sah das gesamtdeutsche Konzept des PEN ins Wanken geraten.35 Der Tod des Präsidenten Bertolt Brecht im August 1956 traf das Deutsche PENZentrum Ost und West völlig unerwartet. Zwar war Brechts Anteil an den organisatorischen Veränderungen im PEN-Zentrum gering; er hatte in seiner Amtszeit maßgeblich seine ureigenen Interessen vertreten. Nur die Durchsetzung einer Anti-Atom-Resolution im Internationalen PEN hatte für Aufsehen gesorgt. Doch die Mitglieder nahmen betroffen von ihrem Präsidenten Abschied: »Brecht war ein Einmaliger und von ihm gilt nicht das Wort, das jeder Mensch zu ersetzen sei.«36
Das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West unter Arnold Zweig (1956/57–1968) Große Auswirkungen auf die Arbeit des PEN hatte die Erschütterung der kommunistischen Welt durch den XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956. Aus Furcht vor oppositionellen Tendenzen verschärften die politischen Machthaber nach einer kurzfristigen Liberalisierungsphase die politische und kulturpolitische Situation in der DDR. Ohne sich oppositionell engagiert zu haben, wurde das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West von Partei und Staat genauer in den Blick genommen. Die Abteilung Kultur des ZK fürchtete, dass das PEN-Zentrum durch seine internationalen Kontakte beeinflusst worden sei. Insbesondere interessierte man sich für die Haltung des Internationalen PEN zum Volksaufstand in Ungarn und dessen Folgen.37 Die Londoner Zentrale
32 SAPMO-Barch, DY 30/IV A2/9.06/156: Arno Röder (Abt. Kultur beim ZK der SED): Betr.: Deutsches PEN-Zentrum Ost und West, 14. 9. 1964. 33 AdK, Archiv DSV, SV 26, Bl. 2: Beschlußprotokoll [sic]. Sitzung der Kommission für gesamtdeutsche Arbeit (DSV) am 9. 2. 1956, 10. 2. 1956. 34 Vgl. Neumann: Vielleicht das Heitere, S. 104. 35 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 38 Konv. Winkler: Johannes Tralow an Konrad Winkler, 21. 6. 1955. 36 AdK, Nachlass Wieland Herzfelde 2155: Johannes Tralow und Bodo Uhse an alle Mitglieder, 17. 8. 1956. 37 Vgl. AdK, Nachlass Bodo Uhse 681/33 und 691/1: Bodo Uhse: Zur Anfrage des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, 7. 6. 1955; Werner Baum (MfK, HA Schöne Lit.) an Bodo Uhse, 7. 2. 1957.
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hatte die nationalen Zentren zur Solidarität mit den in Ungarn inhaftierten Kollegen aufgerufen. Dieser Aufforderung kam das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West nicht nach.38 Kritisch merkte der Internationale PEN an, dass die Verweigerung einer Solidaritätsbekundung »the only evidence of the activity of the Ost-West-Centre«39 sei. Das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West weigerte sich in den folgenden Jahren ebenso, die parteipolitische Indoktrination des ungarischen PEN zu kritisieren.40 Im März 1958 setzte die internationale Exekutive ein Komitee zur Prüfung und Bewertung der Situation im ungarischen PEN ein.41 Der Vorstand des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West sah diese Vorgänge mit Sorge, denn implizit wurde damit die Mitgliedschaft aller Zentren im sowjetischen Machtbereich in Frage gestellt.42 Im Vorfeld des in der Ungarn-Frage entscheidenden PEN-Kongresses 1959 in Frankfurt am Main wurden die DDR-Delegierten parteipolitisch instruiert 43 und stimmten demgemäß dafür, die Suspendierung des ungarischen PEN aufzuheben. Dennoch wurden sie anschließend von den Kulturfunktionären für ein zu passives Auftreten kritisiert.44 Die SED erwartete vom international vernetzten PEN-Zentrum, dass es sich mit mehr Nachdruck für die Belange des Staates einsetzte. In der Debatte um Ungarn trat bezeichnenderweise der im März 1957 zum Präsidenten des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West gewählte Arnold Zweig (1887–1968) nicht in Erscheinung. Er agierte durchweg repräsentativ, während Tralow und Uhse die Arbeit erledigten. Das Generalsekretariat hatten Alexander Stenbock-Fermor (1902– 1992, Westberlin) und Heinrich Christian Meier (1905–1987, Hamburg) übernommen, womit sich der Wunsch nach dem Erhalt der Zusammenarbeit von Ost und West verband.45 Doch eine gleichberechtigte Aktivität der westlichen Mitglieder war kaum mehr möglich, weil die Dominanz des Ostens immer stärker wurde. Außerdem war das PENZentrum ins Visier des bundesdeutschen Verfassungsschutzes geraten.46 Deshalb wuchs die Furcht der westlichen Mitglieder vor repressiven Maßnahmen. Meier versuchte, die
38 Vgl. Johannes Tralow an André Chamson/David Carver, 8. 11. 1956. Zitiert nach Tralow: Gelebte Literatur, S. 75. 39 AdK, Nachlass Bodo Uhse 694/2, 2. Mappe: David Carver: International Secretary’s Annual Report 1956–57. 40 Vgl. AdK, Nachlass Bodo Uhse 693/2: David Carver an Gyorgi Bölöni, 20. 12. 1957. 41 Vgl. PEN-Archiv (Int.): Meeting of the International Executive Committee of PEN held in English-Speaking Union, Charles Street, London, W.1, March 18th, 1958, at 10 a. m., S. 15. 42 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 34 Konv. Meier: Johannes Tralow an Heinrich Christian Meier, 5. 3. 1958. 43 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.026/38, Bl. 11: Alfred Kurella an Stephan Hermlin/Willi Bredel/Wieland Herzfelde/Erwin Strittmatter/Max Zimmering/Bodo Uhse, 10. 7. 1959. 44 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.026/38 Fiche 1–2: Hausmitteilung von [?] Weiß (Abt. Kultur beim ZK der SED) an Alfred Kurella, 13. 8. 1959. 45 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 34 Konv. Meier: Johannes Tralow an Heinrich Christian Meier, 9. 3. 1957. 46 Vgl. BArch, B 141 17821, Bl. 30: Anlage »Zeichnung des ›Systems der kommunistischen Hilfsorganisationen‹ nach dem Stand vom 1. 2. 1956« zu einem Schreiben des Bundesamts für Verfassungsschutz an den Bundesminister der Justiz, Bundesminister für Verteidigung und den Oberbundesanwalt, 22. 3. 1956.
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Beziehungen zwischen Ost und West zu verbessern, scheiterte jedoch an der mangelnden Unterstützung durch das Berliner Sekretariat.47 Im Verlauf des Jahres 1959 gab es Vorstöße, das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West in eine reine DDR-Sektion mit Zweig als alleinigem Präsidenten umzuwandeln.48 Um diese Entwicklung abzuwenden, schaltete Tralow das PEN-Mitglied Erich Wendt ein. Dieser griff in seiner Funktion als Stellvertretender Kulturminister auf direktem Wege in personelle Entscheidungen des PEN ein. Gemeinsam mit dem Kulturminister und PEN-Mitglied Alexander Abusch sowie Bodo Uhse entschied Wendt, dass Tralow sein Amt behalten, Meier aber nicht wiedergewählt werden sollte.49 Die Wahlergebnisse der Generalversammlung im November 1959 entsprachen den Vereinbarungen im Ministerium. Die »Abdrosselung des Westens auf kaltem Wege«50 schritt weiter voran. Das Aushängeschild ›Ost und West‹ war nach Tralows Ansicht zu einer »falschen Flagge«51 geworden. Zum Jahreswechsel 1959/60 zog er die Konsequenz: »Ich habe […] neun Jahre als Mauerhaken zwischen Ost und West gehalten«.52 Er trat vom Amt des geschäftsführenden Präsidenten zurück. Zweig blieb weiterhin Präsident, während Kretzschmar das Sekretariat führte. Neu hinzu kam Heinz Kamnitzer (1917–2001), der über Jahrzehnte die Geschäfte des PEN in der DDR lenken sollte. Zweigs enger Vertrauter übernahm schon 1960 präsidiale Aufgaben, ohne ins Präsidium gewählt zu worden sein. Das Protokoll der nächsten regulären Generalversammlung im Oktober 1962 vermerkt die Wiederwahl des bisherigen Vorstands.53 Eine andere Notiz benennt als Präsidiumsmitglieder Stephan Hermlin, Wieland Herzfelde und Heinz Kamnitzer.54 Uhse hatte sich ab 1959 immer mehr aus der PEN-Arbeit zurückgezogen und war spätestens 1961 nicht mehr aktiv. Die Führung lag in der Hand von DDR-Bürgern, die West-Mitglieder hingegen waren in die Passivität abgedrängt. Trotz dieser Situation lud der östlich besetzte Vorstand im Dezember 1960 zu einer Generalversammlung nach Hamburg ein. Doch der Versuch, die Koexistenz wieder auf-
47 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 50 Konv. Meier: Heinrich Christian Meier an Johannes Tralow, 22. 2. 1958 und 27. 5. 1959. 48 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 38 Konv. Zweig: Johannes Tralow an Arnold Zweig, 21. 11. 1959. 49 Vgl. SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 86 M 46: Protokoll der Vorstandssitzung am 13. 11. 1959, 16. 11. 1959, sowie SAPMO-BArch, DR 1/7767, Bl. 267: Aktennotiz [erstellt von Werner Baum, Büro des Ministers für Kultur], 25. 11. 1959. 50 SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 34 Konv. Meuter: Johannes Tralow an Hanna Meuter, 13. 4. 1960. 51 SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 38 Konv. Winkler: Johannes Tralow an Konrad Winkler, 27. 12. 1959. 52 SBB, Nachlass Johannes Tralow, K 34 Konv. Meier: Johannes Tralow an Heinrich Christian Meier, 1. 1. 1960. 53 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Protokoll der XIII. Generalversammlung des Deutschen PENZentrums Ost und West am 2. /3. 10. 1962 in Weimar, o. D. 54 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Protokollarische Notiz über die Zusammenkunft des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West mit dem Vizepräsidenten des Internationalen PEN, Herrn Robert Neumann am 9. 11. 1962, o. D.
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leben zu lassen, scheiterte: In Hamburg angekommen, sahen sich die PEN-Verantwortlichen mit dem Vorwurf konfrontiert, eine kommunistisch gelenkte Organisation zu vertreten. Die Nutzung der angemieteten Räume wurde ihnen von den Behörden untersagt, sodass die Generalversammlung nicht abgehalten werden konnte.55 Der Boykott sorgte in beiden deutschen Staaten für enormen Widerhall. Die Führungsspitze der DDR eröffnete einen medienwirksamen Propaganda-Feldzug. Auf einer internationalen Pressekonferenz prangerten Vertreter des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West das geistige Klima in der Bundesrepublik an und beschworen die Integrität des PEN-Zentrums und die Notwendigkeit des deutsch-deutschen Dialogs.56 Nach dem »Hamburger Spektakulum«57 bemühte sich der PEN-Vorstand, den westdeutschen Mitgliedern entgegenzukommen und den westdeutschen Flügel zu stärken. Wenig später eröffnete sich überraschend die Möglichkeit zum deutsch-deutschen Austausch, weil die Redaktion der Wochenzeitung Die Zeit Schriftsteller der DDR nach Hamburg einlud, um gemeinsam die ursprünglich geplanten Themen zu diskutieren.58 Nach umfangreichen Vorbereitungen, die eine parteipolitische Instruktion der DDR-Teilnehmer einschloss, trafen die Gesprächsteilnehmer am 6./7. April 1961 in Hamburg aufeinander.59 Ein Gesprächsabend widmete sich ›D[er] Rolle des PEN-Clubs in unserer Zeit‹ und damit der Kernfrage, welche Funktion dem Schriftsteller in der Gesellschaft zukomme – insbesondere innerhalb eines totalitären Systems. Die Beiträge zur z. T. hitzigen und aggressiven Diskussion sind in einer Dokumentation festgehalten.60 Im Grunde konnten die Teilnehmer wenig über die Situation der DDR-Schriftsteller und ihr politisches Selbstverständnis erfahren. In der Öffentlichkeit war ein ehrliches Bekenntnis zur kulturpolitischen Situation nicht zu erwarten – weder von kritischen, noch von staatstreuen DDR-Vertretern. Immerhin war das PEN-Treffen ein Schritt hin zu einer Annäherung von Ost und West. Den Teilnehmern bot es die Möglichkeit, persönliche Kontakte aufzunehmen, und es bahnte private Gespräche an, in denen die politische und kulturpolitische Entwicklung des SED-Staates offener besprochen werden konnte. Die kulturpolitischen Verantwortungsträger der DDR drangen nach dem Hamburger Gespräch einerseits auf eine grundlegende Politisierung des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West, andererseits befürworteten sie die Kontakte mit den westdeutschen Kollegen.61 55 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Erklärung des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West, o. D. und Interne Erklärung des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West »[z]ur Sache«, o. D. 56 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): [Protokoll zur] Pressekonferenz des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West am Dienstag, 13. Dezember 1960 im Deutschen Presseclub in Berlin, o. D., sowie SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.06/273, Bl. 336: Pressekonferenz des Deutschen PENZentrums Ost-West. Fragen von Korrespondenten aus der DDR, o. D., vermutlich vor dem 13. 12. 1960. 57 AdK, PEN-Archiv (Ost): Ingeburg Kretzschmar an Erich Kästner, 25. 1. 1961. 58 Vgl. Stellungnahme von Gerd Bucerius. Abgedruckt in: Die Antwort von Arnold Zweig. In: Die Zeit 52 (23. 12.) 1960. 59 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 IV 2/2.026/38, Fiche 1–2, Bl. 31: Ingeburg Kretzschmar an Alfred Kurella (Leiter der Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED), 17. 2. 1961. 60 Vgl. Müller-Marein/Sommer (Hrsg.): Schriftsteller: Ja-Sager oder Nein-Sager?; Thiel (Hrsg.): Ja-Sager oder Nein-Sager. 61 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.06/273, Bl. 350–354: Einschätzung der PEN-Diskussion in Hamburg, erstellt im ZK der SED, o. D.
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Mit dem Mauerbau im August 1961 setzte die DDR-Regierung dann wieder auf brutale Abgrenzung. Angesichts der drakonischen Maßnahme geriet das Deutsche PENZentrum Ost und West gegenüber dem Internationalen PEN in Erklärungsnot. Verstärkt wurden die Spannungen, weil im Osten zahlreiche schreibende Intellektuelle verfolgt wurden und das PEN-Zentrum vehement den Einsatz für sie verweigerte. Kommunikationsversuche des vom Internationalen PEN 1960 neu begründeten Writers in PrisonCommittees (WiPC), das sich den Einzelschicksalen verfolgter Autoren auf der ganzen Welt widmete, blieben unbeantwortet. Die Vorlage einer Liste von in der DDR inhaftierten Autoren brachte die Vorstandsmitglieder des PEN in eine brisante Lage: Eine Verweigerung der Kooperation konnte ihre Position auf internationaler Ebene gefährden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Schicksalen der auf der Liste aufgeführten Personen barg die Gefahr, in Opposition gegenüber der DDR-Regierung und ihrer fragwürdigen Strafrechtspraxis zu geraten. Zweig ersuchte das ZK der SED um eine politisch korrekte Argumentationslinie – ohne Erfolg.62 In Ermangelung einer konkreten Direktive schwieg der PEN-Vorstand gegenüber dem Internationalen PEN. Eine klärende Beschäftigung mit den Fällen, geschweige denn ein Einsatz für die inhaftierten Schriftsteller, blieb aus. Die Aufforderung von Robert Neumann, dem Vizepräsidenten des Internationalen PEN, sich um die Liste zu kümmern und an der Exekutive in Rom im November 1961 teilzunehmen, wurde vom PEN-Zentrum nicht beantwortet.63 Stattdessen entsandte man in Zweigs Namen ein Telegramm, dessen Text nicht nur das internationale Generalsekretariat scharf angriff, sondern zudem die jüngsten Maßnahmen des SED-Regimes verteidigte.64 Zuvor waren in der DDR-Presse positive Reaktionen von Mitgliedern des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West auf den Mauerbau abgedruckt worden. Derlei Verlautbarungen sorgten international für Aufregung: Sowohl der Mauerbau als auch die Liste der in der DDR inhaftierten Autoren standen auf der Agenda der Exekutive in Rom.65 Der äußere Druck zeigte schließlich Wirkung: Zweig, der kaum aktiv an der PENArbeit teilnahm, reagierte beunruhigt und drohte mehrfach seinen Rücktritt an. Er fühlte sich von den brisanten politischen Fragen überfordert. Um ihn im Amt zu halten, schaltete Kretzschmar die parteipolitischen Instanzen ein.66 In Absprache mit der Abteilung Kultur beim ZK der SED reisten Kretzschmar und Hermlin im Mai 1962 zur internationalen Exekutive nach Brüssel. Dort gelang es Hermlin, den Dialog wiederaufzunehmen und das beschädigte Verhältnis zwischen dem Internationalen PEN und dem Deutschen PEN-Zentrum Ost und West zu entspannen. Vorbereitet durch die Abteilung Agitation des MfS, gab er einen ausführlichen Bericht zur Liste der inhaftierten Autoren. Die
62 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.026/38, Fiche 1–2, Bl. 54: Alfred Kurella an Erich Honecker (Vertraulich), 17. 6. 1961. 63 Vgl. ÖNB, StSlg. Ser. n. 21.842: Robert Neumann an Stephan Hermlin, 4. 10. 1961. 64 Arnold Zweig an Alberto Moravia, o. D. Zitiert nach PEN-Archiv (Int.): PEN International Executive Committee Meeting in the Palazetto Venezia, Rome, at 10 a. m. on Nov. 1, 1961, S. 13–14. 65 Vgl. PEN-Archiv (Int.): PEN International Executive Committee Meeting in the Palazetto Venezia, Rome, at 10 a. m. on Nov. 1, 1961. 66 AdK, PEN-Archiv (Ost): Ingeburg Kretzschmar an Alfred Kurella, 9. 12. 1961.
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Weitergabe der detaillierten Informationen wurde als partielle Kooperation aufgefasst. Somit konnten die Vorbehalte gegenüber dem Deutschen PEN-Zentrum Ost und West abgemildert werden.67 Das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West stand zu diesem Zeitpunkt in sehr viel engerem Kontakt mit dem ZK der SED als in den 1950er Jahren. Ab 1959/60 holte Kretzschmar die Bewilligung von Aufgaben- und Arbeitsplänen des Zentrums ein und verhandelte über Visa- und Valutaanträge. Die Abteilung Kultur wurde durch schriftliche Berichte über die PEN-Arbeit umfassend informiert. Für die Anleitung des PEN durch die Parteifunktionäre gibt es indes kaum schriftliche Belege. Veränderungen brachte das Jahr 1964. Von Seiten der Abteilung Kultur sah man die Möglichkeiten des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West weder auf internationaler noch auf deutsch-deutscher Ebene ausgeschöpft. Deshalb wurden Maßnahmen zur Verbesserung der parteipolitischen Anleitung beschlossen. Die Parteigenossen unter den PEN-Mitgliedern wurden fortan zu Zusammenkünften mit ZK-Vertretern eingeladen. Vor Kongressen und Exekutiven mussten konzeptionelle Vorlagen eingereicht werden, die ideologisch kontrolliert und genehmigt wurden.68 Finanziell unterstützt wurde der PEN bis zu diesem Zeitpunkt aus Mitteln des Kulturfonds, der aber 1964 eine Fortzahlung wegen mangelnder Kontrolle der Ausgaben verweigerte.69 Als kurzfristige Lösung wurden dem PEN im Jahr 1965 über den DSV Gelder zur Verfügung gestellt.70 Langfristig erstellte man eigene Haushaltspläne für das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West, für deren Finanzierung der SED-Staat sorgte. Verbindlich wurde festgelegt: »Für die Anleitung […] ist die Kulturabteilung des ZK der SED verantwortlich. Alle Auslandsvorhaben sind mit der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK abzustimmen, alle Vorhaben nach Westdeutschland mit der Abt. 62.«71 Zur Entlastung des Präsidenten Zweig wurde im Dezember 1964 Heinz Kamnitzer die neu geschaffene Funktion eines Vizepräsidenten übertragen. Damit besetzte ein treuer Parteisoldat eine Schlüsselposition im PEN. Er besaß Zweigs uneingeschränktes Vertrauen und übernahm allmählich dessen Aufgaben. Zur Sicherung der »politisch richtige[n] Durchführung aller Maßnahmen«72 wurde Ende 1964, Anfang 1965 eine Partei-
67 Vgl. PEN-Archiv (Int.): PEN International Executive Committee Meeting in Brussels, in the Martini Centre Place Rogier, on Thursday 3rd, 1962 at ten o’clock a. m. Vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 374–375. 68 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/156: [Arno] Röder (Abt. Kultur beim ZK der SED): Betr. Deutsches PEN-Zentrum Ost und West, 14. 9. 1964. 69 Vgl. SAPMO-BArch, DR 1/7747, Bl. 393–394: Walter Maschke (Sekretär des Kulturfonds der DDR) an Erich Wendt (Staatssekretär im MfK), 2. 1. 1964, sowie SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/156: Siegfried Wagner (Abt. Kultur beim ZK der SED) an Karl Raab (Leiter der Abt. Finanzverwaltung und Parteibetriebe des ZK der SED), 11. 3. 1965. 70 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/156: Vorlage an das Sekretariat des ZK der SED, 9. 3. 1965; erstellt von Ingeburg Kretzschmar. 71 SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/156: Vorlage an das Sekretariat des ZK der SED, 9. 3. 1965; erstellt von Ingeburg Kretzschmar. 72 SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/156: Stellungnahme zum vorliegenden Material des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West, o. D., vermutlich Anfang 1965; erstellt von Abt. Kultur beim ZK der SED.
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gruppe innerhalb des Präsidiums mit Kamnitzer, Herzfelde, Hermlin und Kretzschmar gebildet. Ihre Aktivität ist nur sporadisch dokumentiert. Im Jahr 1966 wurde zudem eingeführt, dass sich alle SED-Mitglieder des PEN-Zentrums im Vorfeld der Generalversammlungen einfinden mussten, um zur Sicherung der Tagungsergebnisse auf die politische Linie eingeschworen zu werden.73 Einen Beleg für die Mitte der 1960er Jahre verschärfte Überwachung des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West liefert die Causa Biermann. Die Wahl des kritischen Liedermachers in den PEN im April 1965 hatte sich trotz mannigfaltiger Maßnahmen nicht verhindern lassen. Doch unter dem Eindruck des 11. Plenums im Dezember 1965 wurde die Zuwahl als ideologische Schwäche interpretiert. Deshalb wurde die Arbeitsplanung des PEN-Zentrums einer massiven Kontrolle unterzogen und die Regulierung der internen Prozesse über die Parteigruppe forciert.74 Wolf Biermann aber blieb dem PEN über Jahre als ›enfant terrible‹ erhalten.75 Zwischen den beiden deutschen PEN-Zentren kam es Mitte der 1960er Jahre zu einer Annäherung, die sich in der Bildung eines Ständigen Verbindungsausschusses manifestierte. Obgleich der Ausschuss von 1964 bis 1968 existierte und man im Internationalen PEN den Ausschuss als »bridge between the two Germanies«76 ansah, sind dessen Ergebnisse kaum fassbar. Schon Ende 1966 schienen die Beziehungen insbesondere von Ost nach West eingefroren. Die Zukunft des Ausschusses hing von der parteipolitisch geforderten Entscheidung über die Umwandlung des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West in ein PEN-Zentrum der DDR ab. Im April 1967 wurde nach dem Willen der Kulturfunktionäre den strukturellen Gegebenheiten entsprechend der Name geändert.77 Gemäß der offiziellen politischen Linie sollte sich der PEN verstärkt für die internationale Anerkennung der DDR einsetzen. Den PEN-Delegierten wurde aufgetragen, im Ausland unmissverständlich als Vertreter der DDR aufzutreten. Politisch waren längst alle Bestrebungen zur Wiedervereinigung der deutschen Staaten eingestellt worden, die Aufrechterhaltung des Ständigen Verbindungsausschusses war damit unmöglich geworden. Er stellte seine Tätigkeit ein. Die Umbenennung veränderte das Selbstverständnis des PEN-Zentrums DDR und löste einen Prozess zunehmender Emanzipation aus. Die Leitung des DDR-PEN ging bewusst in Konfrontation zu dem Internationalen PEN, dem sie antisozialistische und
73 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Siegfried Wagner an Ingeburg Kretzschmar, 20. 8. 1966 und Ingeburg Kretzschmar an Alexander Abusch, 25. 4. 1967. 74 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/156: Aktennotiz über die Beratung der Abteilung mit Genossen des PEN-Zentrums Ost/West, 4. 4. 1966; erstellt von Abt. Kultur beim ZK der SED. 75 Vgl. Bores: Wenn man ihn kalt stellt. 76 David Carver. Zitiert nach: PEN-Archiv (Int.): Minutes. PEN International Executive – English-Speaking Union 11 Charles Street London W1 – Wednesday 30. 3. 1966, S. 6. 77 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): [Darlegung zur Umwandlung des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West in ein PEN-Zentrum DDR], 7. 2. 1967; erstellt vom Präsidium des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West, sowie Vorlage des Sekretariats des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West an das Sekretariat des ZK der SED betr. Umwandlung des Deutschen PENZentrums Ost und West in ein PEN-Zentrum der DDR, 1. 3. 1967; erstellt von Ingeburg Kretzschmar.
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antisowjetische Positionen vorwarf. In diesen Kontext gehört ein Memorandum vom März 1968, mit dem insbesondere die Arbeit des WiPC scharf attackiert wurde.78 Der internationale Generalsekretär nahm zu den großenteils haltlosen Vorwürfen deutlich Stellung.79 Die brutale Niederschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Truppen befeuerte die schwelende Auseinandersetzung zwischen den kommunistischen und anti- bzw. nichtkommunistischen Mitgliedern des Internationalen PEN. Das PEN-Zentrum DDR setzte weiter auf einen Konfrontationskurs, der in den folgenden Jahren die Atmosphäre zwischen nationaler Sektion und internationaler Leitung bestimmte.80 An diesem Kurs änderte sich auch durch personelle Veränderungen nichts: Im August 1968 wurde Ingeburg Kretzschmar überraschend entlassen.81 Ihre Nachfolge trat Werner Ilberg (1896– 1978) an. Im November starb der Präsident Arnold Zweig. Das Tagesgeschäft übernahm kommissarisch der Vizepräsident Heinz Kamnitzer, der weiterhin in enger Absprache mit dem ZK der SED agierte.
Verstärkte parteipolitische Einflussnahme im PEN-Zentrum DDR (1968/1969–1979) Am Ende der 1960er Jahre demonstrierten die Verantwortlichen des PEN-Zentrums DDR eine betont prosowjetische, konfrontative Haltung im Internationalen PEN: Man pflegte das Feindbild des antisowjetisch eingestellten Westens. Ab 1967 hatte der DDRPEN an keiner internationalen Zusammenkunft mehr teilgenommen, meldete sich jedoch mehrfach deutlich gegen die internationale PEN-Führung zu Wort. Die strikte politisch-ideologische Anleitung des DDR-PEN wurde zu Beginn der 1970er Jahre weiter ausgebaut. Das belegen etwa die strategischen Vorbereitungen der Generalversammlung im Jahr 1970.82 Jedes Parteigruppenmitglied des PEN-Zentrums DDR erhielt im Vorfeld eine schriftliche Information, versehen mit der deutlichen Direktive, »sich mit diesen Vorschlägen zu identifizieren [und sie im Wahlakt zu unterstützen].«83 Derart vorbereitet, war die Wahl von Kamnitzer zum Präsidenten lediglich Formsache; er hatte sich aus Sicht der Abteilung Kultur unentbehrlich gemacht.84 Inhalt-
78 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/157: Arnold Zweig / Heinz Kamnitzer / Günther Cwojdrak / Peter Hacks / Stephan Hermlin/ Wieland Herzfelde / Hermann Kant / Maximilian Scheer / Christa Wolf: Botschaft an das Exekutivkomitee des Internationalen PEN, London, 3. und 4. April 1968, 19. 3. 1968. 79 Vgl. PEN-Archiv (Int.): Minutes of the Meeting of the International Executive Committee of PEN – April 3rd 1968 – London, England. 80 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Erklärung des Präsidiums des PEN-Zentrums DDR, o. D. 81 Vgl. Bores: Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum, S. 503–511. 82 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Arno Hochmuth (Abt. Kultur beim ZK der SED)/Werner Ilberg: Vorlage an das Sekretariat des ZK der SED, o. D., sowie Roe (d. i. Arno Röder, Abt. Kultur beim ZK der SED): Aktennotiz über eine interne Besprechung am 28. 1. 1970, 3. 2. 1970. 83 AdK, PEN-Archiv (Ost): Material für die Parteigruppe GV 2. 4. 1970. 84 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Arno Hochmuth (Abt. Kultur beim ZK der SED)/Werner Ilberg: Vorlage an das Sekretariat des ZK der SED, o. D.
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lich sollte der PEN die außenpolitischen Zielsetzungen des SED-Staates unterstützen, etwa die völkerrechtliche Anerkennung der DDR.85 In den Folgejahren dominierte im PEN weiterhin die weltanschauliche Konfrontation mit dem Westen. Heinz Kamnitzers Versuche, sozialistische Offensiven der östlichen PEN-Zentren anzustoßen und sich gegen die vermeintliche »psychologische Kriegsführung gegen den Sozialismus«86 zu wehren, hatten allerdings nur wenig Erfolg. Stattdessen musste der DDR-PEN fürchten, aufgrund der kulturpolitischen Vorgänge im eigenen Land zur Zielscheibe der Kritik zu werden. So war ruchbar geworden, dass man den missliebigen Wolf Biermann aus dem PEN drängen wollte.87 Interesse zeigte der Internationale PEN auch am Fall des politisch, literarisch und privat kaltgestellten Lyrikers Peter Huchel. Eine direkte Anfrage der Londoner PEN-Zentrale an die DDR-Regierung entfachte eine Diskussion, die die Kluft zwischen Ost und West mehr als deutlich zutage treten ließ.88 Verhandlungsgeschick bewies der Präsident des bundesdeutschen PEN-Zentrums, Heinrich Böll. Er hatte begriffen, dass mit offensiver Einmischung und massivem Druck wenig zu erreichen war. Stattdessen vereinbarte er, bei Problemen künftig mündliche Anfragen zu stellen. Auf diesem Weg gelang eine Annäherung zwischen den deutschen PEN-Präsidenten.89 Nachfragen des internationalen Generalsekretariats blieben indes weiterhin unbeantwortet. Als nach dem Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker im Mai 1971 eine kurze Phase der Liberalisierung auf kulturpolitischem Gebiet einsetzte, blieb das PENZentrum DDR von dieser Entwicklung unberührt: Die Abteilung Kultur des ZK der SED forderte vielmehr eine Intensivierung der Parteiarbeit. Die Kontrolle der internationalen Arbeit wurde verstärkt, um die strategischen Verbindungen ins Ausland auszubauen und den PEN für die außenpolitischen Bestrebungen des SED-Staates zu funktionalisieren.90 Auch für die innenpolitische Aktivität wurden konkrete Arbeitsaufträge wie die Durchführung regelmäßiger Clubabende, Erstellung literaturpolitischer Analysen und Vorstellung ausländischer Gäste erteilt.91 Künftig wurde die gesamte Parteigruppe des
85 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/157: Entschließung des P.E.N.-Zentrums Deutsche Demokratische Republik, 2. 4. 1970. 86 SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/157: Arno Hochmuth (Abt. Kultur beim ZK der SED): Kurzbericht über die Generalversammlung des PEN-Zentrums der DDR am 2. 4. 1970, o. D. 87 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Protokoll der Generalversammlung der Mitglieder des PENZentrums Deutsche Demokratische Republik am 2. April 1970 im Ermeler-Haus (Berlin) (Nur für vertrauliche Verwendung!), o. D. Vgl. Bores: Wenn man ihn kalt stellt. 88 Vgl. PEN-Archiv (Int.). Minutes of the Meeting of the International Executive Committee of P.E.N., held in Edinburgh, Scotland, on Monday, 19th October and Tuesday, 20th October, 1970. 89 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.06/157: Heinz Kamnitzer: Begegnung mit Heinrich Böll am 25. 11. 1970, o. D. 90 SAPMO-BArch, vorl. SED 12922´: Leo Sladzyk (Abt. Kultur beim ZK der SED): Aktennotiz über ein Gespräch mit Genossen Kamnitzer über Fragen des PEN-Kongresses 1971, 14. 9. 1971. 91 Vgl. SAPMO-BArch, vorl. SED 12922: Handschriftliche Notizen über eine Beratung mit Prof. Kamnitzer und Prof. [sic] Ilberg am 28. 10. 1971, o. D.
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Präsidiums in die Beratungen mit der Abteilung Kultur einbezogen und Heinz Kahlau ins Amt des Parteigruppensekretärs eingesetzt, ohne dass damit allerdings eine nennenswerte Wirkung verbunden gewesen wäre.92 Bemerkenswert bleibt eine Initiative des PEN-Präsidiums im Jahr 1973 zur Unterstützung von Stefan Heym, der von den Zensurbehörden drangsaliert wurde.93 Ob damit Wirkung erzielt wurde, bleibt unklar. Hervorzuheben ist aber, dass das PEN-Präsidium für einen Autor im eigenen Lande eintrat – eine nahezu einmalige Aktion. 1974 wurde der Generalsekretär Werner Ilberg von dem bisherigen Präsidiumsmitglied Henryk Keisch (1913–1968) abgelöst. Damit war das System der politischen Selbstkontrolle im DDR-PEN endgültig installiert, denn Keisch erwies sich als harter und kompromissloser Vertreter des sozialistischen Gesellschaftssystems, der vermeintliche Versuche, »aus dem Internationalen PEN ein Instrument des kalten Krieges gegen die sozialistischen Länder zu machen«, scharf attackierte.94 Gleichwohl zeigte sich, dass die politische Linie der Führung nicht immer mit der Meinung der Mitglieder in Einklang zu bringen war, z. B. bei der Vorbereitung der Generalversammlung im Jahr 1975. Intensive Auseinandersetzungen zwischen Parteigruppe, Führungsspitze und Kulturfunktionären, in denen es vor allem um die Zuwahl neuer Mitglieder, den Ausschluss Biermanns aus dem PEN und die ideologische Kontrolle von Stefan Heym ging, demonstrierten eindrücklich, dass die PEN-Mitglieder nicht blind jeder Anweisung folgten. Der Versuch, die Mitglieder hinsichtlich der Neuwahlen zu instruieren, misslang: Man forderte ein individuelles Abstimmungsrecht.95 Letztlich einigten sich die Kontrahenten auf eine reduzierte Liste für Neuaufnahmen.96 Offenkundig war die Parteiführung bestrebt, den DDR-PEN möglichst klein zu halten – aus vielfältigen Gründen wie der Angst vor einer Konkurrenz für den DSV, der Furcht vor einem Sammelbecken oppositioneller Kräfte sowie den wirtschaftsbedingten Devisenproblemen in Bezug auf die Zahlung der internationalen Mitgliedsbeiträge. Mit Blick auf den zentralen Themenkomplex der PEN-Arbeit, der angesichts der kulturpolitischen Situation der DDR besonders bedeutsam war, lässt sich feststellen, dass das PEN-Zentrum nicht entschlossen für menschliche Grundrechte eintrat und auch nicht entschieden diktatorische Staatssysteme bekämpfte. Die extreme Verschärfung der kulturpolitischen Situation spätestens im November 1976, die durch den Ausschluss des Lyrikers Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband und Wolf Biermanns Ausbürgerung aus der DDR ausgelöst wurde, zeigte auch im PEN-Zentrum DDR seine Wirkung:
92 Vgl. SAPMO-BArch, vorl. SED 12922: [Leo Sladzyk] (Abt. Kultur beim ZK der SED): Notiz über eine Aussprache der Genossen [Siegfried] Löffler und [Leo] Sladzyk in der Parteigruppe des Präsidiums des PEN-Zentrums der DDR am 6. 1. 1972, 31. 1. 1972. 93 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): [Stephan Hermlin im Namen des Präsidiums des P.E.N.-Zentrums DDR] an Hans-Joachim Hoffmann (MfK), 12. 2. 1973. 94 Henryk Keisch: Die Schreibfeder – nicht nur ein Symbol. Bemerkungen zu einigen Fehlspekulationen um den P. E. N. In: Sonntag 35 (1. 9.) 1974. 95 Vgl. SAPMO-BArch, vorl. SED 18514: Peter Heldt (Leiter der Abt. Kultur beim ZK der SED): Information über eine Parteigruppensitzung zur Vorbereitung der Generalversammlung des PEN-Zentrums der DDR am 8. Januar 1975, 27. 1. 1975. 96 Vgl. SAPMO-BArch, vorl. SED 18514: Peter Heldt (Leiter der Abt. Kultur beim ZK der SED) an Kurt Hager, 9. 1. 1975 und 2. 4. 1975.
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Wohl gab es im Präsidium eine Aussprache über den Fall Kunze, aber niemand ergriff bedingungslos Partei für Kunze. Vorbehalte gegen die politisch motivierte Maßnahme äußerten lediglich Stephan Hermlin, Christa Wolf und Günter de Bruyn. Andere Anwesende griffen Kunze zum Teil scharf an. Wirklichen Rückhalt erfuhr Kunze vom DDRPEN somit nicht.97 In Reaktion auf Biermanns Ausbürgerung hatte sich eine Gruppe von zwölf DDRSchriftstellern, allesamt PEN-Mitglieder, und dem Bildhauer Fritz Cremer unter Hermlins Federführung zusammengefunden, um gegen die drakonische Maßnahme der Regierung zu protestieren. Es war weniger ein flammender Protestaufruf als mehr eine diplomatische Note, der sich in wenigen Tagen mehr als 100 Schriftsteller und Künstler anschlossen. Aufsehen erregte vor allem, dass DDR-Bürger ihren Protest gegen eine Entscheidung des eigenen Regimes gezielt in die Weltöffentlichkeit getragen hatten.98 Dennoch wurde den Mitgliedern des DDR-PEN keine Möglichkeit gegeben, über die Ereignisse zu diskutieren. Die Nachfragen anderer PEN-Zentren, die auf eine Stellungnahme zu den jüngsten kulturpolitischen Entwicklungen in der DDR drängten, liefen ins Leere: Kamnitzer und Keisch lehnten die kritische Auseinandersetzung mit dem SED-Regime ab, verleugneten die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der DDR und verweigerten den Einsatz für Schriftstellerkollegen im eigenen Land. Insbesondere Keisch zeigte sich als bedingungsloser Verteidiger eines inhumanen Regimes, der die Aktivität anderer nationaler Zentren bzw. des Internationalen PEN in Fällen inhaftierter Schriftsteller nur als Propaganda gegen die DDR begriff. Er zeigte keinerlei Bereitschaft, in Fragen von Menschenrechtsverletzungen mit dem Internationalen PEN zu kooperieren.99 In Absprache mit der SED-Führung versuchte der Generalsekretär Henryk Keisch, auf die Unterzeichner der Biermann-Petition einzuwirken. Er wollte den PEN-Mitgliedern, die die Biermann-Petition unterzeichnet hatten, eine linientreue Erklärung abringen. Doch stattdessen verurteilte Hermlin auf einer Präsidiumssitzung Ende November 1976 die Ausbürgerung scharf.100 Die Angst der Kulturfunktionäre vor einer Entwicklung des PEN zu einer Keimzelle konzertierten Protestes war groß. Man zog in Erwägung, den Petenten, insbesondere Hermlin, den Zugang zum PEN-Präsidium zu verweigern. Auf diese Weise sollte die Dominanz der Linientreuen im Präsidium gesichert werden.101 Schließlich erfolgte die Disziplinierung der Unterzeichner in erster Linie
97 Vgl. BStU, MfS, AOP 16578/89, Bd 31, Bl. 339–342: Information über Reaktionen zum Ausschluß [sic] Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR durch die Mitglieder des Präsidiums des PEN-Zentrums der DDR, 15. 11. 1976. 98 Vgl. Berbig u. a. (Hrsg.): In Sachen Biermann. 99 Vgl. z. B. AdK, PEN-Archiv (Ost): Henryk Keisch an Ankie Peypers, 18. 2. 1977, sowie Heinz Kamnitzer an den Präsidenten des US-Amerikanischen P.E.N.-Zentrums, 26. 4. 1977. 100 Vgl. BStU, MfS, AOP 3706/87, Bd. V/17, Bl. 30–34: Information über die Verhaltensweisen und das Auftreten der Unterzeichner der Protestresolution zur Ausbürgerung Biermanns, Stephan Hermlin, Günter de Bruyn und Heinz Kahlau auf der Präsidiumssitzung des PENZentrums der DDR am 29. 11. 1976, 30. 11. 1976. 101 Vgl. SAPMO-BArch, vorl. SED 18514: Ursula Ragwitz (Leiterin der Abt. Kultur beim ZK der SED): Information über die gegenwärtige Situation im Präsidium des PEN-Zentrums der DDR, 4. 12. 1976.
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über die Partei (Parteistrafe, Ausschluss) und den Schriftstellerverband. Was folgte, war der massenhafte Exodus von Künstlern und Intellektuellen aus der DDR, den auch der PEN zu spüren bekam. Die politisch-ideologischen Sicherungsmaßnahmen wurden erneut verstärkt, über das PEN-Zentrum DDR parteipolitische Analysen angefertigt. Befehle und Weisungen zur politischen Sicherung ergingen. Schriftsteller mit »feindlich-negativen Positionen«102 gerieten in den Fokus des MfS. Günter de Bruyn, Franz Fühmann, Günter de Bruyn, Sarah Kirsch, Ulrich Plenzdorf, Rolf Schneider sowie Christa und Gerhard Wolf wurden Objekte von »Operativen Vorgängen« (OV).103 Ziel der politisch-operativen Überwachung war auch die internationale Arbeit, insbesondere Hermlins Tätigkeit als Vizepräsident des Internationalen PEN.104 Dennoch gelang es Hermlin, sich über Kontakte in die obersten Regierungskreise, namentlich zu Erich Honecker, erfolgreich für einzelne Schriftsteller und Künstler einzusetzen.105 Hermlin, der am Ende der 1970er Jahre als direkter Ansprechpartner des WiPC-Beauftragten Michael Scammell eine Sonderrolle einnahm, fühlte sich der Charta verpflichtet und war zumindest von Fall zu Fall bereit, sich solidarisch zu verhalten – im Gegensatz zu Kamnitzer und Keisch, welche die politische Linientreue über die Moral stellten. Auf internationaler Ebene nahm der DDR-PEN seine Aktivität stark zurück. Gleichwohl geriet das PEN-Zentrum Mitte 1977 ins Kreuzfeuer der Kritik, weil Keisch in einem zynischen Schreiben an den Internationalen PEN die rigiden kulturpolitischen Maßnahmen der Regierung verharmlost hatte.106 Das »shocking document« sorgte für Entsetzen.107 Keisch zeigte sich von der Kritik unbeeindruckt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil vom Internationalen PEN keine konkreten Schritte gegen das DDR-Zentrum erfolgten. Nach dem gleichen Muster verliefen die Reaktionen auf die kulturpolitische Katastrophe des Jahres 1979. Mit einem tribunalartig inszenierten Ausschluss einer ganzen Reihe von Schriftstellern aus dem DDR-Schriftstellerverband (SV) im Juni 1979 eskalierte die Situation. Der SV hatte in enger Abstimmung mit den kulturpolitischen Schaltstellen eine perfekte »Mischung aus Parteiverfahren und Schauprozeß«108 in Szene ge-
102 Vgl. BStU, MfS, HA XX 209, Bl. 115–139: Hinweise über einige Probleme im Zusammenhang mit feindlich-negativen Aktivitäten von Personenkreisen auf dem Gebiet Kunst und Kultur, 8. 1. 1977. 103 Vgl. BStU, MfS, HA XX 209, Bl. 196–242, hier. Bl. 229: Karl Brosche (Oberleutnant, MfS, HA XX/7): Jahresarbeitsplan der Hauptabteilung XX/7 für das Jahr 1977, 3. 1. 1977. 104 BStU, MfS, AOP 3706/87, Bd. V/17, Bl. 144–149: Maßnahmeplan zur operativen Bearbeitung des Hermlin, Stephan, 13. 12. 1976. 105 Vgl. BStU, MfS, AOP 3706/87, Bd. V/16, Bl. 269–272, hier Bl. 271: Rolf Pönig (Oberleutnant, MfS, HA XX/7): Bericht zum Auftreten Stephan HERMLINS während der Präsidiumssitzung des PEN-Zentrums der DDR am 20. 1. 1978 (IME ›Dichter‹), 2. 2. 1978, sowie BStU, MfS, AOP 3706/87, Bd. V/18, Bl. 179–180: Zwischenbericht zum OV ›Leder‹, 9. 1. 1979. 106 Vgl. SAPMO-BArch, vorl. SED 25884: Henryk Keisch an Peter Elstob, 13. 5. 1977. 107 PEN-Archiv (Int.): Minutes of the Meeting of the International Executive Committee of P.E.N. held in Hamburg on Tuesday, May 17th and Wednesday, May 18th, 1977. 108 Zu diesem Buch. In: Walther u. a. (Hrsg.): Protokoll eines Tribunals, S. 2.
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setzt, um mit Biermann-Petenten und anderen missliebigen Mitgliedern abzurechnen. Auf der Mitgliederversammlung konnte lediglich Hermlin gegen den Ausschluss von Stefan Heym und anderen Autoren aus dem Verband auftreten, andere Widersacher erhielten kein Rederecht. Vereinzelt erhob sich im Nachgang Protest, etwa von den PEN-Mitgliedern Günter de Bruyn, Franz Fühmann, Rainer Kirsch, Ulrich Plenzdorf und Christa Wolf.109 Der PEN als Institution indes meldete sich nicht zu Wort. Eine gemeinsame Kritik an der Behandlung ›unbequemer‹ Autoren unterblieb, weil Kamnitzer und Keisch den kritischen Geistern keinen Raum gaben.110 Anfragen aus dem Ausland wehrte Keisch ab; er bejahte die repressive Politik des Regimes vorbehaltlos und verteidigte sie gegen jegliche Kritik von außen.111 Die Ausschlüsse seien Teil eines notwendigen und heilsamen »Prozess[es] sachlicher Klärung«.112 Wer der Parteilinie nicht folgen wolle, könne sich getrost distanzieren – gezwungen oder ungezwungen.113 Man war nicht bereit, auch nur »ein kleines bisschen Solidarität«114 zu üben. So zeigte sich das PEN-Zentrum DDR am Ende der 1970er Jahre in einer staatskonformen Position erstarrt. Es bot den Mitgliedern kein Forum der offenen Aussprache, Grundsatzdiskussionen waren unmöglich, einen offiziellen Einsatz für Schriftstellerkollegen gab es nicht. Das Interesse der Mitglieder an der PEN-Arbeit war stark zurückgegangen. Kritische Geister hatten im PEN keine Heimstatt. Beherrscht wurde das PENZentrum vom parteitreuen Führungsduo Kamnitzer–Keisch, das von den Gefolgsleuten des MfS sekundiert wurde. In diesem desolaten Zustand ging das PEN-Zentrum in das letzte Jahrzehnt der SED-Diktatur.
Innere Erstarrung, politische Willfährigkeit und partieller Neuanfang: Das PEN-Zentrum DDR in den 1980er Jahren Zu Beginn der 1980er Jahre nahmen die Mitglieder das von der PEN-Führung praktizierte Prinzip der Nichteinmischung in kulturpolitische Fragen widerspruchslos hin. Nur die Präsidiumsmitglieder Christa Wolf und Jeanne Stern beantworteten das Gebaren von Präsident und Generalsekretär mit stummen Rückzug; beide standen für die Präsidiumswahlen im Februar 1980 nicht mehr zur Verfügung.115 In der Folge suchte Keisch nach Kandidaten, die eine kadermäßige Besetzung des Präsidiums garantierten,116 und arbeitete Sicherungsmechanismen für die bevorstehende Generalversammlung aus, um gegnerische Haltungen zurückzuweisen und eine Nutzung
109 Vgl. Chotjewitz-Häfner u. a. (Hrsg.): Biermann-Ausbürgerung, S. 29 und 251. 110 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Henryk Keisch, 23. 5. 1979, 1. 6. 1979, 17. 6. 1979. 111 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Henryk Keisch an Martin Gregor-Dellin, 1. 6. 1979. 112 AdK, PEN-Archiv (Ost): Henryk Keisch an Martin Gregor-Dellin, 1. 6. 1979. 113 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Henryk Keisch an Erik Vagn Jensen, 9. 7. 1979. 114 Susanne Ulrici: Kulturexport nach Brasilien. Impressionen vom Internationalen PEN-Kongreß [sic] in Rio de Janeiro. In: Mainzer Allgemeine Zeitung, 31. 7. 1979. Vgl. PEN-Archiv (Int.): Minutes of the Meeting of the International Executive Committee of PEN held in Rio de Janeiro on 16th, 17th, 19th und 29th July, 1979, S. 25 f. 115 AdK, PEN-Archiv (Ost): Protokoll der Präsidiumssitzung am 12. 12. 1979, o. D. 116 AdK, PEN-Archiv (Ost): (Henryk Keisch): Vorlage an das Sekretariat des ZK der SED, o. D.
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des PEN als Basis oppositioneller Handlungen zu vereiteln. Auch die Zuwahlen sollten durch die Verpflichtung der SED-Mitglieder auf Parteidisziplin strikt kontrolliert werden. Verhindert wollte man jedenfalls, dass der PEN zu einem Sammelbecken kritischer Geister wurde.117 Doch der Ablauf der Generalversammlung 1980 blieb weit hinter den Befürchtungen zurück. Der PEN schwieg, die Mitglieder waren in notorische Diskussionsmüdigkeit verfallen. Zwar zeigte sich Kamnitzer in Grenzen gesprächsbereit, aber »natürlich nicht, wo aus dem Fenster gesprochen werden kann.«118 Präsident und Generalsekretär wurden bestätigt, das Präsidium ergänzt durch Fritz Rudolf Fries, Paul Wiens und Rita Schober. Die Durchsetzung des Präsidiums mit IM des MfS war damit gestärkt worden: Als Zuträger arbeiteten Fries, Wiens, Keisch und Kamnitzer. Hermann Kant hatte seine Tätigkeit 1976 eingestellt.119 Vollkommen erstarrt zeigte sich das PEN-Zentrum DDR spätestens im Jahr 1985. Das Präsidium war einer regelrechten Lethargie verfallen, die sich im Ablauf einer müden Mitgliederversammlung widerspiegelte. Präsidium und Führungsduo wurden bestätigt, die Vorschläge für die Zuwahl neuer Mitglieder diskussionslos angenommen.120 Der PEN verlor weiter an Bedeutung. Angesichts der Dominanz von Präsident und Generalsekretär kamen immer weniger Präsidiumsmitglieder zu den Sitzungen. Es gab kaum konstruktiven Austausch, stattdessen allgemeine Lähmung. Das spiegelte sich auch in der geringen Zahl der Clubveranstaltungen in den Jahren 1980 bis 1985 wider.121 Der DDR-PEN zeigte weiter keinen Einsatz für drangsalierte Autoren im eigenen Land. Direkte Hilferufe von DDR-Kollegen blieben ohne Resonanz. Jede kritische Nachfrage aus dem Ausland wies Keisch nach dem alten Muster zurück: Kein Schriftsteller sei wegen seiner Schriften inhaftiert; vielmehr liege bei Bestrafungen ein Verstoß gegen Gesetze der DDR vor. Anfragen geißelte er als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des SED-Staates und verteidigte kompromisslos die repressive Politik der Regierung. Keisch vertrat die Auffassung, der Exodus der Schriftsteller sei als Zeichen für die Liberalität des SED-Staates zu verstehen. Einzig Hermlin stemmte sich in dieser Zeit gegen Keischs Gebaren. Er versuchte, den Widerspruch zwischen dem Einsatz für Kollegen und der Loyalität gegenüber dem eigenen Staat aufzulösen und brachte die Verpflichtung auf die Ideale der PEN-Charta in Erinnerung.122 Demgemäß war es Hermlin, der sich wiederum ohne Absprache zu117 AdK, PEN-Archiv (Ost): Henryk Keisch an Franz Hentschel (Stellvertretender Leiter der Abt. Kultur beim ZK der SED), 6. 10. 1979. 118 AdK, PEN-Archiv (Ost): Stenographisches Protokoll der Generalversammlung des PENZentrums DDR am 12. 2. 1980, o. D. 119 Corino (Hrsg.): Die Akte Kant. Zum Themenkomplex PEN und Staatssicherheit siehe auch Dieckmann: Deutsche PEN-Geschichten; Hörnigk: PEN im Visier der Staatssicherheit; Walther: Sicherungsbereich Literatur, insbes. das Kap. zum PEN-Zentrum der DDR, S. 801–815; Weskott: Hinter den Aktenbergen. 120 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Henryk Keisch an alle Präsidiumsmitglieder des PEN-Zentrums DDR, 28. 8. 1984, sowie Protokoll der Generalversammlung des PEN-Zentrums der DDR am 16. 1. 1985, o. D. 121 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Dokumentation der PEN-Veranstaltungen. 122 Vgl. BStU, MfS, A 175/86, Bd. II/1, Bl. 92–95: Information über eine Präsidiumssitzung des PEN-Zentrums der DDR zu Problemen der Internationalen PEN-Tagung vom 6.–11. 5. 1980, 11. 4. 1980.
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mindest in Einzelfällen für verfolgte Kollegen einsetzte. Dem Präsidium bereitete Hermlins eigenmächtiges Handeln anhaltend Sorgen.123 Die vehemente Verweigerung der Kooperation führte zu einem Schlagabtausch zwischen Kamnitzer, Keisch und dem WiPC-Beauftragten Michael Scammell. Insbesondere Keisch verstand sich nicht als Kooperationspartner des WiPC. Eine konstruktive Zusammenarbeit war unmöglich.124 Statt Einsicht zu zeigen, verstärkte der DDR-PEN Mitte der 1980er Jahre seine Offensiven gegen den Internationalen PEN. Mittels geheimdienstlicher Überwachung lotete man Möglichkeiten aus, um gezielt die in den MfS-Berichten beklagten antisozialistischen Angriffe zurückzudrängen und den Gegner öffentlich zu kompromittieren.125 Zwar gab es kritische Nachfragen zur kulturpolitischen Situation in der UdSSR und anderen sozialistischen Staaten; diese wurden indes sachlich vorgebracht. Dennoch torpedierte der DDR-PEN die WiPC-Arbeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit; Scammell hatte längst den Status einer ›Feindperson‹ erlangt.126 Vergeblich war auch in den 1980er Jahre der Einsatz des DDR-PEN für eine einheitliche Front der sozialistischen Zentren. Daher konzentrierte sich die Aktivität der DDRVertreter im Internationalen PEN auf die Unterstützung des seit Ende der 1970er Jahre propagierten ›Friedenskampfes‹ für Rüstungsbegrenzung und Abrüstung. Viele Resolutionen, die das PEN-Zentrum DDR in den 1980er Jahren international zur Diskussion stellte, betrafen die Friedenssicherung. Dabei scheute der DDR-PEN die Kooperation mit dem bundesdeutschen PEN nicht. Diese Annäherung entsprach der Entspannung der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster politischer Ebene. Es herrschte Einigkeit, dass in Fragen von Friedenserhaltung und Abrüstung ein Kontakt von Fall zu Fall förderlich sein konnte. Die Allianz der beiden PEN-Zentren in dieser Frage war für Erschütterungen anfällig, dennoch zeigte man sich bestrebt, ein vernünftiges Nebeneinander zu pflegen, gemeinsame Initiativen für den Weltfrieden fortzusetzen und über manche ideologisch begründete Meinungsverschiedenheit hinwegzusehen. So gab es »Fortschritte auf dem Weg zur Normalisierung«: Die DDR-Kollegen waren »beweglicher, kompromiss- und hilfsbereiter geworden«,127 wie man im Westen bemerkte. Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich Hoffnung auf eine offenere Haltung, als Henryk Keisch, der in den Augen der SED-Kulturfunktionäre teils ungeschickt agiert
123 Vgl. BStU, MfS, AOP 3707/86, Bd. V/18, Bl. 260–262: Zwischenbericht zum OV ›Leder‹, 23. 1. 1981. 124 Vgl. u. a. AdK, PEN-Archiv (Ost): Michael Scammell an Heinz Kamnitzer, 20. 3. 1984, sowie PEN-Archiv (Int.): Minutes of the Meeting of the Assembly of Delegates of International PEN held in Tokyo on 15th, 16th and 17th May, 1984, S. 10. 125 Vgl. BStU, MfS, ZA, HA XX, AKG, Bl. 369–373. Zitiert nach Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 809. 126 Vgl. BStU, MfS, A 175/86, Bd. II/2, Bl. 524–532, hier Bl. 527: Information zu opr. interessierenden Fragen im Zusammenhang der 46. Delegiertenkonferenz des Internationalen PENClub in der Zeit vom 25. bis 30. 9. 1983 in Caracas, Venezuela. 127 PEN-Archiv (Bundesrepublik): Hanns Werner Schwarze: Anlage, betr. Jahresversammlung in Saarbrücken (September 1985), zum 13. Rundbrief des PEN-Zentrums Bundesrepublik Deutschland, 20. 12. 1985, S. 6.
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Abb. 2: Lesung des PEN-Zentrums DDR im Berliner Club der Kulturschaffenden des Kulturbundes, Otto-Nuschke-Straße 2–3, am 14. September 1988: Heinz Kamnitzer, Präsident des PEN-Zentrums, Walter Kaufmann, Generalsekretär des PEN-Zentrums, Max von der Grün als Gast. Foto: Kulturbund/Ulrich Häßler, Privatbesitz.
hatte, abgelöst wurde.128 Ihm folgte im September 1985 Walter Kaufmann (1924–2021) nach, der kein SED-Mitglied war: »Irgend jemand muß gedacht haben, daß ich in der Partei wäre, denn später war es offensichtlich ein Schock für Ursula Ragwitz in der ZKAbteilung der SED.«129 Zwischen Generalsekretär und ZK der SED beschränkte sich fortan die Kommunikation auf das Nötigste, meist gab es »grünes Licht«130 und Freiräume für die PEN-Arbeit. Zwar regte Kaufmann keine grundlegenden Reformen an, und es gelang ihm auch nicht, den PEN aus seiner Lethargie zu befreien. Aber er bemühte sich, die Präsenz des PEN im eigenen Land zu stärken. Die Diskussion kulturpolitischer Probleme im PEN blieb schwierig, weil Kamnitzer jede kritische Auseinandersetzung unterband. Auch auf internationalem Feld versuchte Kaufmann aktiv zu werden und agierte nicht als stummer Vertreter der DDR: Er schlug einen anderen Ton an, trat ruhig und sachlich auf – nicht als Gegner des sozialistischen Regimes, aber auch nicht als blinder
128 Vgl. BStU, MfS, HA XX, ZMA 401, Bd. 1a, Bl. 140–141: Vermerk über die gegenwärtige Situation im PEN-Zentrum der DDR, 9. 7. 1985. 129 Interview mit Walter Kaufmann, 20. 10. 1995. 130 Interview mit Walter Kaufmann, 20. 10. 1995.
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Gefolgsmann. Kaufmann zeigte reges Interesse an der WiPC-Arbeit und dem Einsatz für verfolgte Kollegen. In seinen Bemühungen, bei Abstimmungen dem eigenen Gewissen zu folgen und sich aus der Indoktrination durch Kamnitzer zu lösen, fühlte sich Kaufmann durch Hermlin bestärkt.131 Daran änderten auch gelegentliche ›Querschüsse‹ von Kamnitzer nichts. Er stand mit seiner engstirnigen Haltung im DDR-PEN zunehmend allein da. Die einzigen Präsidiumsmitglieder, die sich noch für den PEN engagierten, waren Kaufmann und Hermlin; beide agierten auf eigene Verantwortung und hielten den Kontakt sowohl zum WiPC als auch zum internationalen Generalsekretär. Insbesondere Kaufmann versuchte, im Rahmen seiner Möglichkeiten Informationen über die Situation der Inhaftierten in der DDR zu beschaffen und an das WiPC weiterzuleiten. Nach der Cambridger Exekutive (April 1988) trat der DDR-PEN auf internationaler Ebene kaum mehr in Erscheinung. Im Mai 1989 reiste Kaufmann noch einmal als Delegierter des DDR-PEN nach Maastricht und stimmte einer Resolution zu, die die Regierung der Sowjetunion aufforderte, »to respect the freedom of expression and the right to cultural heritage, values and language of all their subjects.«132 Wenige Monate später beanspruchten die Vorgänge in der DDR die volle Aufmerksamkeit. Die Schriftsteller beobachteten die demokratische Revolution, die auch für den PEN weitreichende Veränderungen mit sich bringen sollte. Die aufkeimenden Reformbestrebungen in Polen und der Sowjetunion (Solidarność, Perestroika und Glasnost) riefen in der DDR neue Formen der Diskussionskultur hervor – in den Bürgerbewegungen, aber auch in den Intellektuellenkreisen: Am Ende des Jahrzehnts konnte sich das PEN-Zentrum DDR der allgemeinen Erstarrung entwinden. Symptomatisch für diese Entwicklung war die Generalversammlung im März 1989. Auf ein verändertes Klima deutete schon die Teilnahme von Christa Wolf hin, die nach Jahren konsequenter Zurückhaltung erschien.133 Eigentlicher ›Paukenschlag‹ der Versammlung aber war die Annahme zweier Resolutionen, mit den sich das PEN-Zentrum für die bedrohten Schriftstellerkollegen Salman Rushdie und Václav Havel einsetzte. Insbesondere das Engagement für Havel war vehement eingefordert worden: »Hier und heute! Jetzt. Sofort!«134 Für diese ›politische Panne‹ sollte das PEN-Präsidium zur Rechenschaft gezogen werden. Der Abgesandte des ZK der SED stieß aber auf eine wütende Phalanx, die sich einer parteipolitischen Reglementierung widersetzte, und trat den Rückzug an mit den Worten: »Not tut jetzt, zu lernen, was P.E.N. ist […].«135 Vor dem Hintergrund der sich immer weiter zuspitzenden Krisensituation in der DDR polarisierte eine anlässlich des 40. Jahrestages der Staatsgründung veröffentlichte Erklärung des PEN-Zentrums zutiefst. Den Entwurf einer der üblichen Ergebenheitsadressen von Kamnitzer hatten die Präsidiumsmitglieder zu Fall gebracht und stattdessen
131 Vgl. Interview mit Walter Kaufmann, 20. 10. 1995. 132 PEN-Archiv (Int.): Minutes of the Assembly of Delegates of International P.E.N. held in Maastricht, The Nederlands, May 9 and 10, 1989, S. 49 und 59–60. 133 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Protokoll der Generalversammlung, 1. 3. 1989; erstellt von Waltraud Huck. 134 Villain: Vineta 89, S. 26. 135 Villain, S. 30.
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Abb. 3–4: Einladungen des PEN-Zentrums DDR zu Lesungen mit Stefan Heym und Jurek Becker, 1988 und 1989. Privatbesitz.
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eine andere, von Hermlin formulierte Stellungnahme verabschiedet, deren kritische Nuance von den Lesern als zu gering erachtet wurde.136 Es hagelte Kritik, die die eigentliche Aussageabsicht des Textes verkannte: »Daß diese Grundsätze in der DDR realisierbar seien (nicht, daß sie realisiert wären), war die Botschaft eines Textes, der auf genaue Leser rechnete.«137 Der PEN erlag damit den Auswirkungen der sich überschlagenden Ereignisse, »[d]enn was [gerade] noch als vertretbar betrachtet und […] als ›systemkritisch‹ übel genommen wurde, war [wenig später] zu fast schon beschämender Sanftheit abgewelkt.«138 Auf einer Sondersitzung des Präsidiums am 26. Oktober 1989 entbrannte eine Debatte um den Entwurf eines Briefes, mit dem der erstarkende Widerstand der Künstler und Intellektuellen durch den PEN unterstützt werden sollte.139 Mitten in der Diskussion kapitulierte Heinz Kamnitzer, weil er die Neuausrichtung des PEN nicht verhindern konnte. Der von der Zeitgeschichte überrollte Präsident teilte angesichts der harschen Angriffe auf seine Person am nächsten Tag seinen Rückzug von jeglicher Aktivität für den PEN mit.140 Kamnitzers Rücktritt bedeutete eine tiefgreifende Zäsur für das PENZentrum DDR. In die notwendige Phase der Neuorientierung ging mit den massiven Veränderungen der äußeren Bedingungen einher. Angesichts der innenpolitischen Krise, die im Mauerfall kulminierte, und des damit verbundenen politischen wie gesellschaftlichen Umbruchs standen die PEN-Mitglieder vor der Aufgabe, sich zu positionieren – mit Blick auf die Zukunft, aber auch auf die Vergangenheit. Die unumgängliche ›Selbstaufklärung‹ geriet in den Sog einer ideologisch geprägten Debatte, deren Argumente jener Auseinandersetzung im PEN am Ende der 1940er bzw. zu Beginn der 1950er Jahre ähnelten. Mit der Vereinigung der beiden deutschen PEN-Zentren (1998) kamen die impulsiven Streitigkeiten zwar zum Erliegen.141 Ein wirklicher Konsens in der Frage zur gesellschaftlichen Funktion des Schriftstellers, insbesondere unter den Bedingungen einer Diktatur, wurde indes bis heute nicht erzielt. Zusammengefasst kann die Institution PEN in der DDR nicht vom Vorwurf des Verstoßes gegen die internationale PEN-Charta freigesprochen werden. Von Seiten des PEN-
136 »Die Richtlinien des internationalen PEN verlangen von uns, die Friedenspflicht der Staaten anzumahnen, sich gegen rassistische Vorurteile zu wenden, nationalen Größenwahn zurückzuweisen und die Freiheit des Wortes zu verteidigen. Wir haben die Deutsche Demokratische Republik immer als einen Ort angesehen, an dem sich unsere Grundsätze verwirklichen lassen.« Zitiert nach: Präsidium des PEN-Zentrums DDR. Erklärung zum 40. Jahrestag der DDR. In: Neues Deutschland 224 (22. 9.) 1989, S. 1. 137 Friedrich Dieckmann: Wo wir angekommen sind. Berliner Schriftstellerresolutionen im Vorfeld der DDR-Umwälzung. In: Freitag 4 (17. 1.) 1997, S. 12–13, hier S. 12. 138 Villain: Vineta 89, S. 69. 139 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Bericht des Generalsekretärs (Walter Kaufmann), 30. 1. 1990; BStU, MfS, HA XX Nr. 4813, Bl. 1–2: Rolf Pönig (Major, MfS, HA XX/7): Information zu Aktivitäten des PEN-Zentrums der DDR, 27. 10. 1989; Villain: Vineta 89, S. 69. 140 Vgl. AdK, PEN-Archiv (Ost): Heinz Kamnitzer an Walter Kaufmann, 27. 10. 1989. 141 Einen Abriss des Zeitraums 1989 bis 1998 bietet Bores: Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum, S. 848–969.
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Zentrums DDR gab es bis zum Jahr 1989 zu keiner Zeit aktiven Widerstand gegen schwerwiegende Zensurmaßnahmen des SED-Staates. Unterstützung für verfolgte und inhaftierte Schriftstellerkollegen im eigenen Land wurde, zumal auf Nachfrage aus dem Ausland, explizit verweigert. Politische und kulturpolitische Zwangsmaßnahmen der DDR-Regierung wurden vehement gegen jegliche Kritik verteidigt. Die Instrumentalisierung des PEN für die außenpolitischen Ziele des SED-Staates nahm die Mehrheit der Mitglieder nicht nur widerspruchslos hin, sondern unterstützte diese z. T. eilfertig. Die Folge waren gezielte prosozialistische und prosowjetische Offensiven im Internationalen PEN. Zwar muss die aktive bzw. passive Verletzung der Charta im Wesentlichen den staatstreuen Führungspersönlichkeiten des DDR-PEN zugeschrieben werden. Die Mitglieder aber wirkten kaum im Sinne eines korrigierenden Regulativs. Der PEN in der DDR war, mindestens auf offizieller Ebene, kein intellektueller Freiraum und mit Sicherheit keine Keimzelle des organisierten Widerstandes gegen die politischen und kulturpolitischen Restriktionen eines diktatorischen Staatssystems. Dennoch verbietet sich eine pauschale Verurteilung der einzelnen Mitglieder. Antworten auf die Frage, welche Rolle die PEN-Mitglieder im diktatorischen Staatssystem der DDR übernommen haben, können nur durch die differenzierte Untersuchung der individuellen Biografien gefunden werden. Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeigt sich, dass jeder Schriftsteller immer wieder vor neu zu treffenden, individuellen Entscheidungen stand, die in Bezug auf das Staatssystem der DDR unter Abwägung der persönlichen Risiken sehr unterschiedlich ausfallen konnten. Daran änderte auch die Mitgliedschaft im PEN nichts. Ausschlaggebend für die Haltung gegenüber den Unrechtstaten des SED-Regimes war auch das ethisch-moralische Wertesystem des Einzelnen. Das konkrete Handeln im Sinne der eigenen Grundsätze erforderte jedoch mehr als das Erkennen des Unrechts, nämlich ein Höchstmaß an charakterlicher Stärke, wie es nicht jedem in jeder Situation gegeben war.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Akademie der Künste, Berlin (AdK) Deutscher Schriftstellerverband/Schriftstellerverband der DDR Bodo-Uhse-Archiv Johannes R. Becher-Archiv PEN-Archiv (Ost) Wieland-Herzfelde-Archiv Bundesarchiv Koblenz (BA) B 141 17821 Bundesbeauftragte(r) für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Berlin (BStU) MfS A 175/86, Bd. II/1–2 (Heinz Kamnitzer) MfS AIM 7781/83, Bd. II/3 (Paul Wiens) MfS, AOP 16578/89, Bd. 31 (Christa Wolf) MfS, AOP 3706/87, Bd. V/16–18 (Stephan Hermlin)
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3 Li t e ra t ur- un d A ut o re n po l i ti k MfS, HA XX, Nr. 4813 MfS, HA XX, Nr. 209 MfS HA XX, ZMA 401, Bd. 1a
Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar (DLA) A: Stephan Hermlin N: Edschmid, Konv. PEN Exilarchiv Frankfurt am Main EB 75/177 D.I.7 Österreichische Nationalbibliothek, Wien (ÖNB) StSlg. Ser. n. 21.842 PEN-Archiv (Bundesrepublik), Darmstadt PEN-Archiv (International), London Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, Berlin (SBB) Johannes-Tralow-Archiv Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch) DR 1/7747, DR 1/7867 (MfK); DY 30/IV A2/9.06/156 und 157; DY 30/IV 2/9.06/273; vorl. SED 12922; vorl. SED 18514; vorl. SED 25884 (ZK der SED − Abt. Kultur); DY 30/IV 2/ 2.026/38 (ZK der SED, Büro Kurella)
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Andreas Zimmer 3.4.5 Die Zentrale Kommission Literatur im Kulturbund in der SBZ/DDR Der Kulturbund in der SBZ/DDR hat in den vergangenen Jahrzehnten mancherlei Deutungen erfahren, die oft mit der politischen Großwetterlage einhergingen. War er für die einen während der Zeit des Kalten Krieges eine »kommunistische Tarnorganisation«1 (Karl Richter) oder ein »Instrument zur Bolschewisierung«2 (Gerd Friedrich), fielen die Urteile der anderen nach 1990 zwar etwas milder aus, blieben aber dennoch in ihrer Grundhaltung pejorativ. Es war dann die Rede vom Kulturbund als »Transmissionsriemen«3 (Manfred Jäger) oder als »quasistaatlicher Kontrolleur«4 (Magdalena Heider). Dem gegenüber stehen ostdeutsche Autoren wie Jens-Fietje Dwars, der stellvertretend für andere fragt: »Warum so viele, durchaus kluge Leute so dumm waren, sich freiwillig in die Fänge einer so monströsen Maschine zu begeben?«5 Für ihn hatte das viel mit Maß und Verantwortung zu tun und dem Bewusstsein für andere Möglichkeiten und eben nicht nur mit stalinistischem Terror. Dem stimmen mittlerweile einige andere zu, und in jüngerer Zeit ist eine differenzierte Sicht auch auf den Kulturbund zu beobachten, was sicherlich daran liegt, dass sich nun eine Forscher-Generation mit unvoreingenommenen Perspektiven dem Gegenstand nähert. Doch so viel mittlerweile geschrieben wurde: vom Innenleben des Kulturbundes ist bisher wenig bekannt. Und man kann fast sagen, der Kulturbund, wie viele andere Phänomene auch, ist wie ein Eisberg: Das sichtbare Teil ist der kleinere. Die unmittelbare Geschichte des Kulturbundes reicht bis in die 1930er Jahre zurück, in denen mit kommunistischer Beteiligung mehrere »Kulturbünde« als kulturelle Exilorganisationen in Großbritannien, Mexiko und Schweden entstanden. Ihnen gemeinsam war die Volksfrontpolitik, die u. a. darauf abzielte, auch nicht-kommunistische »Bürgerliche« für gemeinsame Ziele wie »Antifaschismus«, »Humanismus« und den Widerstand gegen das Hitler-Regime zu gewinnen. Die Beschäftigung mit Kultur, Kunst, Wissenschaft und Literatur war diesen Vereinigungen immanent und zeigte sich sowohl in der Zusammensetzung der Mitglieder als auch in den vielfältigen Veranstaltungsprogrammen und Publikationen. Von der Moskauer KPD-Führung wurden diese Organisationen der »West-Emigration« z. T. genau beobachtet. Sie entzogen sich der Kontrolle der Kommunistischen Partei und schafften es durch ihren unpolitischen Kurs eine Vielzahl von Interessenten anzusprechen. Diese positiven Erfahrungen flossen in die strategischen Planungen der KPD für ein Nachkriegsdeutschland mit ein. Die Beratungen in Moskau ab 1944 zielten ebenfalls darauf ab, eine möglichst breite Masse an Intellektuellen für den Wiederaufbau im Nachkriegsdeutschland zu gewinnen und eine nationale und demokratische Kultur zu
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Richter: Die trojanische Herde 1959. Friedrich: Der Kulturbund, S. 119. Jäger: Kultur und Politk, S. 13. Heider: Politik, S. 225. Dwars: Abgrund, S. 510.
https://doi.org/10.1515/9783110471229-016
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propagieren. In der Tat gehörten zu den Gründungsmitgliedern des »Kulturbundes zu demokratischen Erneuerung Deutschlands« am 3. Juli 1945 eine Vielzahl von Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens, die diesem Anspruch gerecht wurden. Erster Präsident wurde der Schriftsteller und KPD-Funktionär Johannes R. Becher, andere Gründungsmitglieder waren u. a. Gustav Dahrendorf, Otto Dilschneider, Fritz Erpenbeck, Ferdinand Friedensburg, Karl Hofer, Herbert Ihering, Bernhard Kellermann, Gustav von Wangenheim und Paul Wegener. Das selbst aufgestellte Sofortprogramm des Kulturbundes im August 1945 hatte den Anspruch, »Geistesgut, das verloren zu gehen droht, zu retten« sowie »Produktion der Gegenwart, die eine Zeitlang verschüttet war«, der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.6 Das Programm der Frühzeit war also ein dezidiert literarisches. Literatur war für den Kulturbund das Leitmedium, mit dem eine demokratische Umerziehung erfolgen sollte. In diesem Sinne agierte er nicht nur in der Berliner Zentralleitung und im Schaufenster Berlin, sondern auch in vielen Orten in der Sowjetischen Besatzungszone, in denen Kulturbundgruppen aus dem Boden schossen. Die Berliner Zentralleitung, verkörpert durch den Präsidialrat, setzte ihre Bündnisarbeit zunächst fort. Um den Beschlüssen Taten folgen zu lassen, wurden ab 1946 Kommissionen des Präsidialrates gegründet, die sich als Arbeitsgremien mit tagesaktuellen Fragen, Vorschlägen und Stellungnahmen für ausgewählte Wissenschafts- und Kulturbereiche beschäftigen sollten. Neben den Kommissionen »Wissenschaft«, »Erziehung«, »Theater« und »Bildende Kunst« wurde auch eine »Arbeitskommission Literatur« eingerichtet. Das erste erhaltene Dokument dieses Gremiums datiert auf den 8. Mai 1946 und gibt einen guten Einblick in die Arbeitsweise des frühen Kulturbundes. Anwesend waren der spätere Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Karl Korn, der RilkeForscher Dieter Bassermann, der Historiker Ernst Niekisch sowie die Schriftsteller Martin Kessel, Elisabeth Langgässer, Ilse Langner, August Scholtis, Günther Weisenborn, Wolfgang Weyrauch und Johannes R. Becher. Das Thema lautete Ernst Jünger. Diskutiert und gerungen wurde vor allem darum, wie man mit diesem »Dichter von ungewöhnlichen Graden«7 umgehen müsse. Die Arbeit der Kommission Literatur war offenbar nicht sonderlich erfolgreich, denn schon wenig später waren die Sitzungen »nur mangelhaft besucht« und der Kulturbund drohte den Mitgliedern mit Ausschluss, sollten sie weiterhin den Zusammenkünften fernbleiben.8 Dieser etwas harsche Zungenschlag hatte einen Grund: der Kulturbund war und blieb so attraktiv wie die Menschen, die er für die Mitarbeit gewann. Dieser Weckruf scheint gewirkt zu haben, denn 1947 nahmen die Aktivitäten der Kommission deutlich zu: Der Verleger Ernst Rowohlt war zu Gast und berichtete aus der britischen Zone, der Erste Deutsche Schriftstellerkongress wurde vorbereitet, es wurden Dichterlesungen im Klubhaus, der Empfang anlässlich der Rückkehr von Ludwig Renn aus dem mexikanischen Exil organisiert sowie die Ideenskizze für eine Anthologie zur
6 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/907, unpag.: Protokoll der Präsidialratssitzung vom 24. 8. 1945. 7 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/224, S. 1: Protokoll über die Sitzung der Arbeitskommission »Literatur« am 8. 5. 1946. 8 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/224, S. 8: Schreiben Kulturbund an Günther Weisenborn vom 5. 3. 1947.
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deutschen Literatur 1933 bis 1945 diskutiert. Sogar Erich Kästner aus München schaute auf der Sitzung der Kommission am 2. April 1947 vorbei, und die Schriftsteller in der Kommission planten eine kleine Tournee mit Lesungen aus ihren Werken durch die Kulturbund-Ortsgruppen in der Sowjetischen Besatzungszone. Auch im Bereich der schriftstellerischen Nachwuchsförderung wurde die Kommission Literatur aktiv. Eine Zeitlang konnten junge Autoren ihre Arbeitsproben und Werke an die Kommission senden. Diese wurden dann von einem Mitglied rezensiert, und die Autoren bekamen eine Bühne im Berliner Klubhaus des Kulturbundes, um dort aus ihren Arbeiten zu lesen. Zum Vorsitzenden der Kommission hatte der Kulturbund den Schriftsteller Günther Weisenborn (1902–1969) ernannt, weitere Mitglieder wie Alfred Kantorowicz und Peter Huchel wurden in dieser Zeit des großen Kommens und Gehens hinzugewonnen. Als Weisenborn kurze Zeit darauf klagte, dass ihm die Arbeitsbelastung der Kommissionsarbeit zu viel sei, stellte der Kulturbund ihn von jeder »organisatorischen« Arbeit frei, er solle nur »Initiator« sein, »die technische Durchführung der von ihm angegebenen Richtlinien würde durch die geistig-kulturelle Beratungsstelle des Kulturbundes erfolgen«.9 Doch diese kurze Blütezeit war schnell wieder vorbei. Die zunehmende BlockKonfrontation, die sich im Mikrokosmos Berlin, wie kaum anderswo zeigte, ging am Kulturbund und damit an der Kommission Literatur nicht vorüber. 1948 fand nur im Januar eine Sitzung sowie im Oktober eine »gesellige Zusammenkunft« statt. Der Kulturbund, der drei Jahre zuvor so hoffnungsvoll gegründet worden war, verlor viele seiner besten Mitglieder: den Stellvertretenden Oberbürgermeister von Berlin Ferdinand Friedensburg, der im Herbst 1948 ausgeschlossen wurde, den CDU-Politiker Ernst Lemmer und auch den Pfarrer Melchior Grossek – Namen, die heute fast vergessen sind, damals aber wichtig waren. Auch der Vorsitzende der Kommission Literatur Günther Weisenborn zog weg, von Berlin an den Bodensee. Einen zweiten Anlauf unternahm der Kulturbund mit der Neukonstituierung der Kommission am 25. Februar 1949. Mitglieder waren nun u. a. die Literaturwissenschaftler Hans Mayer und Paul Rilla, die Schriftsteller Gerhart Pohl, Herbert Roch und Wolfgang Weyrauch sowie der Cheflektor des Aufbau-Verlages Max Schroeder. Ein paar altbekannte Gesichter waren verblieben, wenn auch in der Minderzahl: Herbert Ihering, Ruth Hoffmann, Alfred Kantorowicz und Peter Huchel. Neuer Vorsitzender wurde der Schriftsteller Stephan Hermlin (1915–1997). Mit der neuen Zusammensetzung und der Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen änderte sich auch die Arbeitsweise der Kommission. Wurden die ersten beiden Jahre mehr für eine Selbstverständigung und eine Rückbesinnung auf die besten literarischen Traditionen genutzt, war das nunmehr bestimmende Thema »Die Tendenzen der Entwicklung der Literatur in Westdeutschland nach 1945«. Stephan Hermlin bedauerte seine Kollegen in den anderen Besatzungszonen, »weil die Publikationsmöglichkeiten für ernsthafte Schriftsteller […] außerordentlich verringert und verändert worden ist […]«. Und Hans Mayer sprach vom einem »anscheinenden Nichtvorhandensein« einer »nationalen Opposition« in Westdeutsch-
9 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/224, S. 20: Protokoll der Sitzung der Kommission Literatur vom 6. 5. 1947.
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land, verbunden mit der Aufforderung, dass die Kommission Literatur mit dem Kulturbund etwas unternehmen müsse.10 In der Sitzung am 25. April 1949 sprach als Gast der Vertreter der Deutschen Verwaltung für Volksbildung Dr. Tyssko.11 Und das, was die Anwesenden zu hören bekamen, dürfte einige an vergangene Zeiten erinnert haben. Tyssko berichtete von einem »Index der Kitsch- und Schundliteratur«, der vom Kulturbund herausgegeben werden soll, um »eine Handhabe zu schaffen, um die Ausgabe von Kitsch- und Schundliteratur in den Leihbüchereien einzuschränken.« Dieser solle dazu dienen, die Bestände der Bibliotheken auszusortieren, »wenn sie sich nicht der Gefahr der Schließung aussetzen« wollten.12 Das war ein Quasi-Bankrott für die Kommission Literatur und alles, wofür sie bis dahin eingetreten war, und sie verschwand still. Denn der Kulturbund agierte selbstverständlich nicht im unpolitischen Raum. Um ihn herum wurde Weltpolitik gemacht, der Kalte Krieg hatte begonnen. Manche im Kulturbund dachten zwar immer noch, dass man in einem kleinen Kreis erst einmal versuchen sollte, wieder miteinander zu diskutieren.13 Aber seine ursprüngliche Aufgabe, die ›neutrale‹ Sammlung und Gewinnung der Intelligenz, war mit der Verkündung des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetischen Besatzungszone und der anschließenden Gründung der beiden deutschen Staaten in einem gewissen Sinne obsolet geworden. Ein Übriges verursachte das faktischen Verbot von Vereinen in der SBZ. Hobby- und Freizeitvereine wurden 1948/49 vom Kulturbund übernommen. Aus der Intelligenzorganisation wurde mehr und mehr ein kultureller Alleskönner für »Hobby« und »Freizeit«, dem neue Aufgaben und Themen übergeholfen wurden. Zwar geschah dies nicht ohne Gegenwehr vieler alter Kulturbundfunktionäre, doch letztlich wurden nur kleine Teilerfolge erzielt. So konnte in den 1960er Jahren verhindert werden, dass Tierschutzvereine und Hausweinbereiter ebenfalls in den Kulturbund aufgenommen werden mussten.14 Die 1950er Jahre waren für den Kulturbund ein spannendes Jahrzehnt, das ihn an den Rand seiner Auflösung brachte, kamen doch in seinem Namen und in seinen Institutionen immer wieder Andersdenkende zusammen. Die 13-Punkte des Präsidialrates 1953 sowie die oppositionelle Gruppe im und um den kulturbundeigenen Aufbau-Verlag 1956 waren dabei die wichtigsten Ereignisse. Von einer Kommission Literatur ist aus dieser Zeit nichts überliefert. Erst im Sommer 1963 wurden potentielle Mitglieder zur Einrichtung einer neuen Kommission Literatur eingeladen.15 Im Spätherbst des Jahres lag eine erste Konzeption für eine Kommission Literatur vor, in der es hieß: »Es muß das Ziel der Literaturarbeit sein, ein stetig wirkender erzieherischer Faktor zu werden […].«16 10 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/224, S. 85: Protokoll der Sitzung der Kommission Literatur vom 25. 2. 1949. 11 In der Akte ist kein Vorname angegeben. Möglicherweise handelt es sich um Oskar Tyczko (sic!), den späteren Direktor der Universitätsbibliothek Berlin. 12 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/224, S. 101: Protokoll der Sitzung der Kommission Literatur vom 25. 4. 1949. 13 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/908, unpag.: Protokoll der Präsidialratssitzung vom 29. 4. 1946. 14 Vgl. Zimmer: Der Kulturbund, S. 268. 15 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/3740, S. 1: Schreiben Ministerium für Kultur an Kulturbund vom 19. 7. 1963. 16 SAPMO-Barch, DY 27/3740, S. 5–6: Konzeption der schrittweisen Bildung einer »Kommission Literatur« beim Präsidialrat des Deutschen Kulturbundes.
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Doch im Beschlussprotokoll des Bundessekretariats des Kulturbunds aus dem September 1963 ist vermerkt: »[…] von der Bildung der K[ommissionen] für Literatur, bildende Kunst, Musik und Wissenschaft wird vorerst Abstand genommen.«17 Ein Organigramm von 1965 weist dagegen eine Zentrale Kommission Literatur des Präsidialrates aus.18 Das Neue Deutschland verkündete am 8. März 1966: »Zentrale Kommission Literatur gegründet«.19 Zu deren Tätigkeiten gibt es bisher allerdings keine Erkenntnisse. Ob es überhaupt zu einer nennenswerten Aktivität kam, ist zu bezweifeln, denn sonst wäre es wenige Jahre darauf nicht wiederholt zu einem Neustart der Kommissionsarbeit gekommen. Der Kulturbund als Gesamtorganisation hatte sich in diesen Jahren weiter an die Staats- und Parteiführung angepasst, die Ziele der SED wurden uneingeschränkt akzeptiert, und er hatte sich zu einer Vereinigung mit knapp 200.000 Mitgliedern entwickelt. Ab Ende der 1960er Jahre wurde deshalb die Struktur des Kulturbundes schrittweise modernisiert. Viele Hobby-Gruppen wurden in interne Gesellschaften und Verbände ausgliedert. 1969 entstand ein Philatelistenverband, 1977 die Gesellschaft für Denkmalpflege, 1979 die Gesellschaft für Heimatgeschichte, 1980 die Gesellschaft für Natur und Umwelt, 1981 der Esperanto-Verband und 1982 die Gesellschaft für Fotografie. Die Auseinandersetzung zwischen »Arbeiter- und Intelligenzkultur« wurde salomonisch aufgelöst, indem der Kulturbund nun zu einer »sozialistischen Massenorganisation« wurde. Da war Platz für jede und jeden, auch für eine neue Zentrale Kommission Literatur, die ab 1972 ihre Arbeit aufnahm. Deren Tätigkeit bestand hauptsächlich in der Durchführung von Tagungen, Kolloquien und Konferenzen. Angeleitet wurde die Zentrale Kommission dabei von der Abteilung Kunst und Literatur im Bundessekretariat, die nicht nur den ehrenamtlichen Mitgliedern organisatorisch beigeordnet war, sondern auch als Herausgeberin für umfangreiches Referentenmaterial und Hinweise zu neuer Literatur, zu behandelnden Themen oder zu Jahrestagen von bekannten Schriftstellern verantwortlich zeichnete. Der Kulturbund und damit auch die Zentrale Kommission Literatur waren »erwachsen« geworden und in ein breitgefächertes Organisationsgefüge eingebettet. Auf deren oberster Ebene standen das Präsidium und der Präsidialrat mit den Zentralen Kommissionen. Auf der Bezirksebene analog dazu Bezirkskommissionen sowie darunter z. T. Kreiskommissionen, die schließlich in einzelnen Arbeitskreisen, Arbeitsgruppen und Freundeskreisen an der Mitgliederbasis endeten. Dass dieser zentralistische Aufbau in einer zum Großteil ehrenamtlichen Struktur immer wieder am eigenen bzw. am Anspruch der SEDFührung scheiterte, ist in der neueren Forschung diskutiert worden.20 Für die Zentrale Kommission Literatur ergaben sich daraus Spielräume in der Gestaltung und Diskussion. Dabei diente die Literatur immer wieder als Trägermedium, um den Finger in die Wunden der kulturellen und gesellschaftlichen Probleme und Herausforderungen in der DDR
17 SAPMO-Barch, DY 27/2604, unpag.: Beschlußprotokoll der Sekretariatssitzung vom 13. 9. 1963. 18 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/4980, unpag.: Struktur des Deutschen Kulturbundes (Stand 16. 12. 1965) 19 Neues Deutschland, 8. 3. 1966, S. 1. 20 Vgl. Maubach: Arbeit 2012, S. 297 ff. u. a.
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zu legen. Außerhalb der Sitzungen der Zentralen Kommission Literatur, der nun über 40 Mitglieder angehörten und die von Fritz-Georg Voigt (1992–1995), dem Verlagsleiter des Aufbau-Verlages, geführt wurde, fanden jedes Jahr ein bis zwei größere Konferenzen statt. Beispielhaft seien an dieser Stelle erwähnt: 1972 1974 1975
1976 1977 1978 1979 1987
Heinrich-Heine-Konferenz Klopstock heute Thomas Mann und wir Zur Diskussion neuer Werke der DDR-Literatur Literatur der VR Polen Soziale Erkundungen in der Literatur heute Kleist-Kolloquium Die Novemberrevolution – der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und wir Zu Fragen der Literaturentwicklung in der DDR Gerhart Hauptmann – Werk und Wirkung
Die Gegenwartsliteratur der DDR stand dabei im Mittelpunkt. Das Schema der Veranstaltungen war immer gleich: zuerst gab es einen längeren Vortrag, danach folgten Diskussionen in Arbeitsgruppen zu Neuerscheinungen. Die Teilnehmer waren anspruchsvoll und ließen sich mit platter Literaturpropaganda nicht zufriedenstellen. Die offizielle Politik der Weite und Vielfalt in der frühen Honecker-Ära Anfang der 1970er Jahre kam der Kommissionarbeit zur Hilfe. Bücher, die sich kritisch mit der DDR-Wirklichkeit auseinandersetzten, wurde auf die Agenda gesetzt: Karl-Heinz Jakobs’ Interviewer, Sarah Kirschs Pantherfrau oder Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand wurden als »Gewinne der Literatur«21 gewertet. Freilich, nicht alles wurde offen diskutiert. Deshalb warf Hans-Peter Klausnitzer 1975 die Frage auf, »warum […] ein Schriftsteller nicht genannt worden ist, der in den 70er Jahren Wesentliches abgeliefert hat, das ist Stefan Heym.«22 Werner Krecek ergänzte: »Da wollte ich doch eine Antwort darauf haben, ob unsere Bemühungen wegkommen von belehrender, d. h. schlechter Literatur in dem Sinne, daß man die Absicht sieht und man ist verstimmt […].«23 Schließlich auch Silvia Schlenstedt: »Es gibt Bücher, die setzen sich schwer durch, und das müssen nicht unbedingt schwierige Bücher sein, sondern vielleicht auch unbequeme, und ich frage mich, ob es nicht auch zur Aufgabe des Literaturpropagandisten gehört, dafür zu sorgen, daß eben dieser Kreis sich erneuert und erweitert.«24 Diese Art von Diskussion wurde typisch für die Konferenzen der Zentralen Kommission. Auf der einen Seite befanden sich diejenigen, die versuchten, die Mitglieder für die jeweils richtige kulturpolitische Richtung zu gewinnen, und auf der anderen Seite viele engagierte Literaturbegeisterte, die ihren Meinungen Ausdruck verliehen und
21 SAPMO-Barch, DY 27/413, S. 29: Stenografische Niederschrift der Konferenz »Zur Diskussion neuer Werke der DDR-Literatur« am 23./24. 5. 1975 in Karl-Marx-Stadt. 22 SAPMO-Barch, DY 27/413, S. 81: Stenografische Niederschrift. 23 SAPMO-Barch, DY 27/413, S. 82: Stenografische Niederschrift. 24 SAPMO-Barch, DY 27/413, S. 95: Stenografische Niederschrift.
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Abb. 1: Gerhart Hauptmann – Werk und Wirkung. Konferenz der Zentralen Kommission Literatur des Kulturbundes am 13. Oktober 1987 im Berliner Club der Kulturschaffenden Johannes R. Becher. Einladung durch den Präsidenten des Kulturbundes, Hans Pischner, und den Vorsitzenden der Kommission, Fritz-Georg Voigt. Privatbesitz.
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Fragen stellten, von denen sie wussten, dass sie darauf keine Antworten bekommen würden. Dazwischen bewegten sich die hauptamtlichen Kulturbundfunktionäre. Es entstand der Eindruck eines »Tanzes«, bei dem der eine Partner, dem anderen nicht auf die Füße treten will, und wenn doch, dann wenigstens nicht so, dass es lange schmerzt. In diesem Sinne fasste Hans-Peter Klausnitzer auf einem Erfahrungsaustausch der Freundeskreise Literatur 1981 zusammen: »Es gibt in der Sowjetunion einen schönen Spruch, der heißt: ›Der Stahlhelm des Kulturarbeiters hat viele Beulen, […] und die wenigsten sind vom Feind.‹«25 Selbstverständlich spiegelten sich in der Arbeit der Kommission auch immer aktuelle Kultur- und Gesellschaftsthemen, so die Nachgeborenen schwer vermittelbare Erbeund-Tradition-Debatte, die ein neues Verständnis der Vergangenheit und damit auch neue Möglichkeiten der Aneignung, nicht zuletzt durch Neuausgaben von Büchern, zur Folge hatte, und die Biermann-Ausbürgerung 1976, die wie vorgegeben von Kulturbund-Funktionären gerechtfertigt wurde, nicht ohne zu betonen, dass man keine Veranstaltung mit Autoren der Biermann-Petition absagen werde.26 Viele der behandelten Themen der Zentralen Kommission Literatur »zündeten nach unten durch«27 und wurden bis in die Basisgruppen hineingetragen, besonders wenn zu den Konferenzen Teilnehmer aus der ganzen DDR kamen und ihre Erkenntnisse verbreiteten. Insofern hatte die Zentrale Kommission auch immer die Funktion einer Quasi-Öffentlichkeit oder wie der Leiter der Verlagsgruppe Insel/Kiepenheuer Roland Links es auf einer Tagung 1980 sagte: »Es war Reaktion, Gegenreaktion, Ausgleich, Verständnis, und dadurch kamen wir wirklich auch zu Klärungen. Es war nicht eine Versammlung, wo man sich gegenseitig Statements gab und Vorbereitetes um die Ohren schlug.«28 Ein Highlight im jährlichen Veranstaltungskalender der Zentralen Kommission Literatur waren in dieser Zeit die Winter-Seminare in Ahrenshoop (Ausnahmen bildeten die Tagungen 1986 in Bad Saarow, 1988 in Wernsdorf), wo der Kulturbund Hausrecht besaß. Sie waren im Anspruch exklusiv und interdisziplinär, wurden doch andere Zentrale Kommissionen wie Musik, Bildende Kunst oder der Zentrale Arbeitskreis Johannes R. Becher einbezogen. Über die Jahre bildete sich hier ein relativ fester Teilnehmerkreis heraus. Meist waren zwischen 50 und 70 Personen anwesend. Die Themen waren bewusst gewählt, anspruchsvoll und anregend: 1980 1981 1982 1983
Geschichtsbewußtsein – Erbeverständnis – Erbeaneignung Kunst- und Kulturpolitik in den 20er Jahren – ihre Wirkungen in unserer Zeit Die Kunst der deutschen Klassik heute – Forschung – Wirkung – Rezeption Kunst und Literatur im antifaschistischen Widerstand und im Exil 1933– 1945
25 SAPMO-Barch, DY 27/7140, S. 79: Stenografisches Protokoll des Erfahrungsaustausches des Freundeskreises Literatur des Kulturbundes der DDR am 11./12. 9. 1981. 26 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/414, S. 18: Konferenz der Zentralen Kommission Literatur am 3. und 4. Dezember 1976 in Berlin. 27 Vgl. SAPMO-Barch, DY 27/6275, S. 41: Mitteilung aus einem Brief von Günther Hennig, Kreisleitung Köthen vom 1. 2. 1976. 28 SAPMO-Barch, DY 27/10060, S. 61: unpag.: Stenografisches Protokoll vom 9. 1. 1980.
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Kulturpolitik der 40er und 50er Jahre in der SBZ/DDR Dialog in und zwischen den Künsten Künste der Jahrhundertwende29
Dieser offene Rahmen, den die Kommission Literatur durch ihre Arbeit setzte, wurde von der SED-Staats- und Parteiführung argwöhnisch beobachtet. Doch auch in einem autoritären Staat können dessen Handlungsoptionen beschränkt sein. Die Zentrale Kommission war zwar keine oppositionelle Vereinigung, aber Teil einer staatlichen Organisation, die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhte, daran hatte sich seit den frühen Tagen des Kulturbundes nichts geändert. Hinzu kam, dass deren Mitglieder Schlüsselpositionen im Geistes- und Kulturleben der DDR innehatten und zumeist genau wussten, wie weit sie in ihrer innerparteilichen Kritik gehen konnten. So blieb oftmals nur der Versuch, die richtigen Personen zu platzieren. In einem Vorschlag zur Nachwahl in den Präsidialrat 1983 heißt es zum Kandidaten Eberhard Röhner, dem Leiter des Lehrstuhls an der Parteihochschule Karl Marx: »Dieser Vorschlag wird in Übereinstimmung mit der Abt. Kultur des ZK gemacht, um unseren Einfluß in der ZK Literatur zu verstärken.«30 Erfolge im Sinne der stärkeren Parteilichkeit hatten solche Maßnahmen allerdings wenig. Als ab Mitte der 1980er Jahre die Unzufriedenheit in der DDR stark zunahm und sich auch im literarischen Leben Bahn brach, war es nicht verwunderlich, dass dies auch die Veranstaltungen der Kommission beeinflusste. So berichtete Silvia Schlenstedt im Juni 1986 auf der Konferenz »Soziale Erkundungen in der Literatur der DDR« in KarlMarx-Stadt: »Fragen werden deutlicher vernehmbar als gültige Antworten […] und diese Beobachtung ist allenthalben zu machen, nicht allein bei den jüngeren Autoren, wie auch bei ihnen mit größerer Dringlichkeit.«31 Zwei Jahre später formulierte Silvia Schlenstedt noch drastischer: »Wir können eigentlich nicht mehr warten. Und das Gespräch ist im Gange.« Alle würden »ein Verlangen also nach Offenheit und nach unverblümter Rede«32 haben. Aber die Zentrale Kommission war kein »Hort des Widerstands«. Die schwierigen politischen Themen und Auseinandersetzungen wurden, wenn überhaupt im Kulturbund, in Umwelt- und Denkmalschutzgruppen ausgefochten. Es ging den Mitgliedern, wie vielen anderen Intellektuellen auch, um Veränderungen »ihres« Staates, und die Veranstaltungen der Kommission waren der Resonanzraum für den Unmut. Als dann 1989 eine gesellschaftliche Öffentlichkeit mehr und mehr hergestellt wurde, wurde die Öffentlichkeit, die der Kulturbund zu bieten hatte, nicht mehr gebraucht. Am 12. Oktober 1989 verfassten die Mitglieder der Zentralen Kommission Literatur einen Brief an das Präsidium des Kulturbundes und die Volkskammerfraktion, in der sie sich zur Resolution der Rockmusiker und Liedermacher vom 18. September 1989 bekannten: »Wir halten das Öffentlichmachen dieses Standpunkts und den Beginn des gesellschaftlichen Dialogs für dringend erforderlich, er darf nicht länger verzögert
29 Von diesen Seminaren finden sich im Stiftungsarchiv keine weiteren Unterlagen. 30 SAPMO-Barch, DY 27/4501, unpag. 31 SAPMO-Barch, DY 27/10078, unpag.: Stenografisches Protokoll der Konferenz »Soziale Erkundungen in der Literatur der DDR« am 13./14. 6. 1986. 32 SAPMO-Barch, DY 27/10088, unpag.: Stenografisches Protokoll der Konferenz »Soziale Erkundungen in der Literatur der DDR« am 4./5. 11. 1988.
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werden.«33 Die Ereignisse der nächsten Wochen füllen ganze Bibliotheken, die Zentrale Kommission spielte dabei aber keine Rolle. Warum waren Institutionen wie die Zentrale Kommission wichtig? Weil Öffentlichkeit in einem Staat, in dem es weder eine freie Presse und Literatur, noch andere öffentliche, demokratische Räume gab, dringend gebraucht wurde. Institutionen wie die Zentrale Kommission schufen Resonanz- und Diskursräume, die über das private Gespräch hinausgingen. Literatur wurde dabei fast zur Nebensache. Deren Wirkung fasste Karin Hirdina schon 1986 treffend zusammen: »Wir sind uns alle darüber einig […], daß Literatur in unserer Gesellschaft sehr viele Funktionen übernimmt, die von Rechts wegen auch anderen Medien zukommen würden.« Da dies aber in der DDR nicht der Fall sei, forderte Hirdina »die Qualifikation unserer Öffentlichkeit, die Konstituierung von Öffentlichkeit durch Literatur und mittels Literatur und die Qualifizierung unserer öffentlichen Diskussionen«.34 Die Auswirkungen der Arbeit der Zentralen Kommission auf die Publikationspraxis der Verlage in der DDR dürfen nicht zu gering geschätzt werden. Obwohl im Einzelnen schwer nachweisbar, ist doch davon auszugehen, dass die Thematisierung kritischer Autoren und Texte geholfen hat, diese einem breiteren Kreis bekannt zu machen und den Boden für weitere Veröffentlichungen zu bereiten. Die Auswirkung der Kulturbundarbeit auf das kulturell-geistige Klima in der DDR fasste Roland Links rückblickend mit einer rhetorischen Frage zusammen: »Welchen Anteil hatte der Kulturbund an den Vorgängen in Leipzig: Friedensdemonstrationen […]? Hatte er überhaupt einen und welchen? Meine Meinung ist: einen außerordentlich hohen. Der Kulturbund hat über die Intelligenz weitgehend das Denken und Fühlen der Menschen mitbestimmt.«35 Fünfzehn Jahre vorher hatte Karin Hirdina eine ähnliche Frage gestellt: »Welche Bücher von heute werden die Taten von morgen sein?«36 Eine Frage, die gestern genauso richtig war, wie sie heute ist.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisation im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch) Bestand Kulturbund der DDR, DY 27, Nr. 224, 413, 414, 907, 908, 2604, 3740, 4501, 4980, 6275, 7140, 8855, 10060, 10078, 10088
Forschungsliteratur DWARS, Jens-Fietje: Abgrund. Das Leben des Johannes R. Becher. Berlin: Aufbau Verlag 1998. FRIEDRICH, Gerd: Der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Geschichte und Funktion. Köln: Rote Weißbücher 1952. 33 SAPMO-Barch, DY 27/8855, unpag.: Schreiben Zentrale Kommission Literatur an Präsidium des Kulturbundes und die Mitglieder der Kulturbundfraktion der Volkskammer der DDR vom 29. 9. 1989. 34 SAPMO-Barch, DY 27/10078, unpag.: Stenografisches Protokoll der Konferenz »Soziale Erkundungen in der Literatur der DDR« am 13./14. 6. 1986. 35 Interview des Autors mit Roland Links am 24. 9. 2003. 36 SAPMO-Barch, DY 27/10078, unpag: Stenografisches Protokoll der Konferenz »Soziale Erkundungen in der Literatur der DDR« am 4./5. 11. 1988.
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HEIDER, Magdalena: Politik – Kultur – Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945–1954 in der SBZ/DDR. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1993. JÄGER, Manfred: Kultur und Politik in der DDR 1945–1990. Köln: Edition Deutschland Archiv 1994. MAUBACH, Lisa: »Es war ja doch Arbeit«. Freizeit im Spannungsfeld zwischen Staat und Individuum am Beispiel der organisierten Numismatiker im Kulturbund der DDR. Münster: Waxmann 2012. RICHTER, Karl: Die trojanische Herde. Ein dokumentarischer Bericht. Köln: Verlag Politik und Wirtschaft 1959. ZIMMER, Andreas: Der Kulturbund in der SBZ und in der DDR. Eine ostdeutsche Kulturvereinigung im Wandel der Zeit zwischen 1945 und 1990. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH – Springer VS 2019.
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Die Berufsorganisation Reimar Riese
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Vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig zum Verband der Verleger und Buchhändler der Deutschen Demokratischen Republik Die Standesvertretung des Buchhandels und ihre Entwicklung in der DDR 1949–1990
Eindrücklich widerspiegelt die divergente Entwicklung des Branchenverbandes der deutschen Buchhändler die vielfach verflochtene asymmetrische Parallelgeschichte des von 1945 bis 1990 geteilten Deutschland. Im Ostteil lassen sich vor dem Hintergrund des vom Geist sozialistischer Utopie gespeisten widersprüchlichen Experiments SBZ/DDR bei strukturell-funktionaler Betrachtung vier ineinander verklammerte Phasen unterscheiden, die die Entwicklung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig zum Verband der Verleger und Buchhändler der Deutschen Demokratischen Republik bestimmt haben: auf Lizenzierung durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) folgten Transformation und Reorganisation, dann Integration und Orientierung, schließlich Stagnation und Auflösung. Sie entsprechen in etwa den Phasen der inneren Entwicklung des Staats- und Gesellschaftssystems im östlichen Teil Nachkriegsdeutschlands.
Transformation und Reorganisation Der Börsenverein der Buchhändler zu Leipzig in der Übergangsgesellschaft Die doppelte Staatsgründung im Jahre 1949 markiert den Wendepunkt von der Besatzungszeit zur Entwicklung zweier begrenzt souveräner Staaten auf deutschem Boden in einem durch ›Kalten Krieg‹ gespaltenen Europa. Die Entwicklung in den Westzonen und der Ostzone lief schon vor den separaten Staatsgründungen im Jahre 1949 auseinander. Dass die Währungsreformen im Juni 1948 zuerst in der englischen und amerikanischen, im gleichen Monat auch in der sowjetischen Besatzungszone nicht nur als wichtigste ökonomische, sondern auch als politische Zäsur der Nachkriegsjahre gelten können, hat mit eben jenem ›Kalten Krieg‹ zu tun. Die mit diesem vom amerikanischen Journalisten Walter Lippmann geprägten Begriff umschriebene Teilung der Welt hatte 1947 eingesetzt mit Truman-Doktrin, MarshallPlan und Zusammenschluss der amerikanischen und englischen Besatzungszonen zur Bizone, was von der Sowjetunion als Bruch des Potsdamer Abkommens und direkte Konfrontation gewertet und mit Beschleunigung ›volksdemokratischer Revolutionen‹ von Bulgarien bis Polen, mit Gründung des Informationsbüros kommunistischer und Arbeiterparteien (Kominform), mit Auszug aus dem Alliierten Kontrollrat in Deutschland und der Berlin-Blockade1 beantwortet wurde. 1 Blockade West-Berlins durch sowjetische Streitkräfte vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949, der die Westalliierten mit einer Luftbrücke begegneten, um den Westteil der Stadt zu versorgen. https://doi.org/10.1515/9783110471229-017
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In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) hatte der Abgrenzungskurs gegenüber den Westmächten über Planwirtschaft, Volkskongressbewegung und Deutsche Wirtschaftskommission zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 7. Oktober 1949 geführt.2 »Die ›neue‹ Gesellschaft der DDR wurde bewusst als Gegenmodell zum liberalen und marktverfassten System geschaffen.«3 Innenpolitisch setzten sich die Stalinisten durch, die ›Sozialdemokratismus‹ bekämpften, den von Anton Ackermann4 vertretenen deutschen Sonderweg zum Sozialismus revidierten, Gleichschaltung wieder zugelassener Parteien via Blockpolitik5 betrieben, Schdanows Auffassung des Sozialistischen Realismus6 zum Dogma der Kulturpolitik erhoben und den Umbau der Verlags- und Buchhandelslandschaft forcierten. SMAD-Verfügungen und ein Volksentscheid in Sachsen7 sorgten für eine wachsende nicht private Wirtschaft. Im Buchhandel steigerte der ›gesellschaftliche Sektor‹, d. h. partei-, organisationsund staatseigene Verlage und der sich entfaltende Volksbuchhandel, seinen Anteil am Gesamtumsatz. Für den 1825 zu Leipzig gegründeten Börsenverein, »der seit jeher als gesamtdeutsche Fachorganisation gearbeitet hat«,8 bedeutete die Lizenzierung durch die SMAD am 21. Juni 1946 den Übergang zur Phase seiner Neuorientierung innerhalb der während der Besatzungsherrschaft im Ostteil Deutschlands geschaffenen politischen und sozioökonomischen Verhältnisse. Seine Wiederzulassung war nach längerem Zögern nur erfolgt im Hinblick auf eine zum damaligen Zeitpunkt noch nicht ganz ausgeschlossene Wiedervereinigung der vier Teile Nachkriegsdeutschlands. Voraussetzung war allerdings die Transformation des Börsenvereins vom Unternehmerverein zu einem Verband aller
2 Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. 3 Steiner: Von Plan zu Plan, S. 8. 4 Anton Ackermann (1905–1973) kommunistischer Funktionär ab den 1920er Jahren, der nach 1933 in den Widerstand, 1935 erst in CSSR, dann in die UdSSR emigrieren musste. Am 1. 5. 1945 kehrte er in die SBZ als Leiter der KPD-Initiativgruppe für Sachsen zurück. Im Auftrag des ZK der KPD veröffentlichte er im Februar 1946 den Aufsatz »Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?« Der widersprach den Stalinschen Vorstellungen und musste im September 1948 widerrufen werden. 5 Im Rahmen der Blockpolitik vereinnahmte die 1946 durch Zusammenschluss von KPD und SPD geschaffene SED die 1945 wieder zugelassenen Parteien CDU und LDPD und die 1948 gegründeten BDB und NDPD, ferner FDGB und andere Massenorganisationen – etwa FDJ – im Demokratischen Block der Parteien und Massenorganisationen, in den sämtliche in der Volkskammer vertretenen Parteien und Massenorganisationen zwecks Einheitspolitik integriert wurden. 6 »[…] muss die wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung mit der Aufgabe verbunden werden, die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu erziehen. Das ist die Methode, die wir […] als die Methode des sozialistischen Realismus bezeichnen.« – Rede auf dem I. Unionskongress der Sowjetschriftsteller 1934. In: Schdanow: Über Kunst und Wissenschaft, S. 9. 7 Volksentscheid in Sachsen über das Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes am 30. Juni 1946. 8 StA-L, Börsenverein II, 1681, Bl. 101: Schreiben des Börsenvereinsvorstandes an das Ministerium für Handel und Versorgung vom 2. April 1951.
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in Verlagen, Groß- oder Einzelbuchhandlungen tätiger Mitarbeiter.9 Was sollte auch ein Unternehmerverein ohne Unternehmer? Der Börsenverein stand in der SBZ/DDR vor der größten Existenzkrise seit seiner Gründung!
Das Ende des Provisoriums Zum Jahresende 1949 wies der sich aus Publikationen im eigenen Verlag und aus Mitgliedsbeiträgen finanzierende Börsenverein in der DDR 1.600 Vollbuchhandlungen und 1.300 Buchverkaufsstellen als Mitglieder aus, unter denen der Anteil an Volksbuchhandlungen noch gering war.10 Anfang 1949 war der damalige Börsenvereinsvorstand noch guten Glaubens der im Einvernehmen mit der Sowjetunion von der SED und ihren Blockparteien initiierten Propagandawelle gefolgt und hatte in einem »Offenen Brief an die westdeutschen Kollegen« die »Einheit des deutschen Buchhandels« beschworen.11 Doch ein einzelner Handelszweig konnte in West wie in Ost nicht gegen den Strom der Politik schwimmen. In Leipzig begrüßte der nach Ausscheiden von Dr. Ernst Reclam am 31. Januar 1948 zunächst kommissarisch eingesetzte,12 nicht gewählte neue Vorsteher Heinrich Becker13 die Gründung der DDR als »wichtigste Entscheidung in der deutschen Geschichte« nach 1945. Auf der Zerschlagung des Nazi-Regimes baue sich eine neue Wirtschaftsordnung auf, die nicht vom Unternehmer her organisiert werde und sich nicht »am konjunkturellen Gewinn«, sondern am »Bedarf des gesamten Volkes« orientiere.
9 Die Vertreter der SMAD standen »einem vereinsmäßigen Zusammenschluss von Inhabern und Firmen eines bestimmten Produktions- und Handelszweiges zur Regelung der Verkehrs- und Verkaufsmethoden […] skeptisch gegenüber«, weshalb die Wiederzulassung zögerlich erfolgte. »Dieser Verein erschien ihnen eher verdächtig als fördernswert«, erinnerte sich der Erste Vorsteher des Börsenvereins, Heinrich Becker, in seiner Autobiographie. Auch für die Fachgruppe Buchhandelsangestellte im FDGB und den Leipziger OBM, Erich Zeigner, »bestand kein Zweifel daran, dass künftige jeder Buchhändler Mitglied des Börsenvereins werden könne und dass die leitenden Gremien völlig andere Aufgaben als bisher haben müßten«. Becker: Zwischen Wahn und Wahrheit, S. 367–368. – Am 22. Januar 1946 berichtete Becker dem Börsenvereinsvorstand über eine Aussprache mit dem Leiter des Amtes für Verlagswesen in der DZVV, Lothar von Balluseck, zum Stand des Antrags auf Wiederzulassung: »Eine InhaberOrganisation werde von den Russen und den ihnen nahestehenden Parteien abgelehnt.« StA-L, Börsenverein II, 2782: Niederschrift über die Vorstandssitzung vom 22. 1. 1946. 10 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 45. 11 Heinrich Becker: Offener Brief an die Buchhändler der westlichen Besatzungszonen Deutschlands. In: Börsenblatt (Leipzig) 116 (1949) 28, S. 229. 12 Der Vorstand hatte den Hallenser Verleger Hermann Niemeyer als Nachfolger vorgeschlagen, jedoch die DVV beauftragte am 31. Januar 1948 Heinrich Becker mit der Fortführung der Geschäfte; im Juli 1950 wurde er offiziell in das Amt berufen, das er bis 1961 bekleidete. 13 Heinrich Becker nach 1945 Initiator und Leiter der Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen im Volksbildungsamt der Stadt Leipzig, ab 1948 eingesetzter 1. Vorsteher des Börsenvereins Leipzig, zugleich 1946–1960 Leiter des (enteigneten) Verlages Bibliographisches Institut in Leipzig. Siehe auch Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR?, S. 81–82; Becker: Zwischen Wahn und Wahrheit; Riese: Ein sozialistischer Idealist zwischen Wahn und Wirklichkeit, S. 185–199.
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Diese »große gesellschaftliche Umformung« erfordere auch die »Schaffung neuer buchhändlerischer Vertriebsformen«.14 Becker sah in Verlagen und Buchhandlungen primär kulturpolitische Einrichtungen mit erzieherisch-propagandistischem Anspruch. Namen und Selbstverständnis sollten sie von der Volksbuchhandlung Hottingen-Zürich herleiten, die während des Sozialistengesetzes in den 1870er und 1880er Jahren Zentrum des Literaturvertriebs der SPD war. Um »dem bürgerlich-liberalistischen Sortimenter mit ästhetisch reaktionärer Gesamttendenz einen neuen Buchhändlertyp (Volksbuchhändler) entgegenzusetzen«,15 forderte Becker eine volkerzieherische Auffassung des Buchhändlerberufs. Er erläuterte die veränderte Rolle des Börsenvereins im neuen Staat: An die Stelle der Marktordnungsfunktion sei die kulturpolitische getreten, an die Stelle der Organisation die Beratung der zentralen staatlichen Leitungsorgane und die Erziehung seiner Mitglieder. Weil diese erzwungene Umorientierung des Börsenvereins unter Buchhändlern heftige Diskussionen auslöste, führte der Verein auf Anregung der Landesregierung Sachsen in neun ostdeutschen Städten Buchhändler-Versammlungen durch. Darüber berichtete Becker, er habe die »großen Gedanken [...] sehr massiv herausgearbeitet, so daß [...] die Diskussion dadurch weitgehend entlastet wurde«. Nur in Dresden und Erfurt habe man den Börsenverein wegen »zu großer Nachgiebigkeit gegenüber Regierungsstellen kritisiert«.16 Diese Aufklärungsaktion knüpfte an eine Arbeitstagung sowjetisch lizenzierter Verlage an, zu der der Kulturelle Beirat im April 1949 nach Berlin geladen hatte, um private Unternehmer auf die kulturpolitischen Ziele der Planwirtschaft einzuschwören. Während sich die staatliche Verwaltung von Anfang an selbst um die Verlage kümmerte, sollte der Börsenverein privaten Buchhändlern die mit den gesellschaftlichen Veränderungen verbundenen »einschneidenden Maßnahmen [...] in der Verteilerfrage« erläutern. Da das Buch »wichtigster Kulturfaktor und Bildungsmittel des Volkes« sei, dürften Produktion und Vertrieb »nicht in erster Linie von merkantilen Gesichtspunkten geleitet sein.«17 An die Stelle traditionellen Marketings sollte Literaturpropaganda treten. Dazu rief der Börsenverein die ›Woche des Buches‹ ins Leben, die erstmals im November 1947 und danach alljährlich stattfand. Wohl waren entscheidende Weichen bereits in den ersten Nachkriegsjahren gestellt worden, doch immer wieder empörten sich private Buchhändler über Zurücksetzungen – –
durch den Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) und seine monopolistische Zuteilungspraxis zugunsten von Volksbuchhandlungen, durch zunehmende Konkurrenz von genossenschaftlichen Konsum- und staatlichen HO-Verkaufsstellen,
14 Heinrich Becker: Der Buchhandel in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Börsenblatt (Leipzig) 116 (1949) 50, S. 413–414. 15 SAL I StVuR 9157: Heinrich Becker: Vertrauliche Denkschrift ›Betrifft den Buchhandel‹ vom 17. 4. 1946 an OBM Erich Zeigner. 16 StA-L, Börsenverein II, 1681, Bl. 43–44: Niederschrift über die Sitzung des Börsenvereinsvorstandes am 29. November 1949. 17 Heinrich Becker: Weiter im Dienste des Fortschritts. In: Börsenblatt (Leipzig) 116 (1949) 53, S. 446.
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durch ihren Ausschluss vom Schulbuch- und Zeitschriftenvertrieb, durch ihren Ausschluss von der Belieferung der Bibliotheken, die nur noch durch das Einkaufshaus für Büchereien18 erfolgen durfte.
Um privaten Buchhandlungen das Überleben zu erschweren, wurde die Einrichtung von Buchverkaufsstellen durch Konsum-Genossenschaften und die staatliche Handelsorganisation (HO) gefördert.19 Buchhändler befürchteten nicht zu Unrecht die schrittweise Ausschaltung privater Sortimente. Der Börsenverein konnte und wollte sich nicht wehren! Er erreichte wenigstens, dass auch für Konsum- und HO-Verkaufsstellen die ›Grundsätze zur Gründung und Übernahme buchhändlerischer Betriebe‹ galten, die, wie Vorsteher Becker betonte, selbst von der damaligen DVV als größtes Verdienst des Börsenvereins nach 1945 anerkannt wurden.20 Der Vorstand des Börsenvereins sowie ein eigener Ausschuss für Interzonenhandel beschäftigten sich mit Auswirkungen von Währungsreform und staatlicher Teilung auf den gesamtdeutschen Geschäftsverkehr, wovon der Verlag des Börsenvereins selbst betroffen war. Am 15. November 1947 mit Lizenz Nr. 383 durch die SMAD wieder zugelassen, erschienen dort die Deutsche Nationalbibliographie und das ab 15. Juni 1946 lizenzierte Leipziger Börsenblatt. Der Vizepräsident der DZVV und Vorsitzende des Kulturellen Beirats, Erich Weinert, beauftragte am 1. August 1947 den Mitarbeiter der DZVV, Ludolf Koven, anstelle des bisherigen Redakteurs, Martin Bräuer, die Schriftleitung des Börsenblatts in Berlin zu übernehmen.21 Die DZVV hielt »die Einschaltung Berlins erforderlich, um während einer [...] Übergangszeit eine bestimmte Politik zu sichern bzw. zu verhindern.«22 Erst nachdem Koven ab Januar 1951 eine neue Funktion im Ministerium für Volksbildung übernehmen sollte, wurde ab 1. Januar 1951 Wolfgang Böhme als Chefredakteur wieder in Leipzig eingesetzt.23 Die territoriale und fachliche Struktur des Börsenvereins war in den Besatzungsjahren wieder erstanden. Doch anders als in den Kreisgruppen kam die Arbeit in Fachaus-
18 Das Einkaufshaus für Büchereien war 1920 auf Initiative der Städtischen Bücherhallen in Leipzig gegründet worden, um den Einkauf für Bibliotheken zu erleichtern und durch bildungspädagogische Arbeitshilfen die Bibliothekare zu entlasten. Nach seinem Wiederaufbau 1946 leitete es Hans Albert Förster, der maßgeblich an der Umgestaltung des Buchhandels in SBZ/DDR beteiligt war, ehe er 1956 zum VEB Bibliographischen Institut wechselte. Das Einkaufshaus beschäftigte zeitweilig über 400 Mitarbeiter. Ab 1956 ging die Belieferung der Bibliotheken auf den LKG über. – StA-L, Börsenverein II, 1626, Bl. 4: Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes des Börsenvereins am 17. November 1947. 19 StA-L, Börsenverein II, 1626, Bl. 19: Abschrift der Anweisung des Ministeriums für Volksbildung, Hauptabteilung Kunst und Literatur betr. Zulassung von Konsumgenossenschaften zum Buchhandel. 20 StA-L, Börsenverein II, 1492, Bl. 39: Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes des Börsenvereins am 9. Dezember 1950. 21 Der bisherige Redakteur wurde offensichtlich als ›politisch nicht zuverlässig‹ eingeschätzt. StA-L, Börsenverein II, 824, Bl. 38: Abschrift des Briefes von Koven an den Vorstand des Börsenvereins vom 2. September 1947. 22 StA-L, Börsenverein II, 1626, Bl. 28: Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes des Börsenvereins vom 15. November 1950. 23 Wechsel der Chefredaktion. In: Börsenblatt (Leipzig) 118 (1951) 13, S. 167.
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schüssen nur schleppend in Gang. Wie der Börsenverein insgesamt mussten dessen Mitglieder eine neue Rolle gegenüber zentralen staatlichen Verwaltungen und verbliebene Wirkungsmöglichkeiten erst noch finden. Besondere Aufmerksamkeit des Vorstandes galt von Anbeginn an der Zusammenarbeit mit westdeutschen Buchhändlerverbänden. Trotz häufiger politischer Verstimmungen spielten Ex- und Importfragen eine so wichtige Rolle, dass das Interesse daran alle Streitigkeiten immer wieder überwog.24 Im November 1949 wurde sogar die gemeinsame Fortführung von Buchhandels-Adreßbuch und Sperlings Zeitungs- und Zeitschriftenadressbuch vereinbart.25 Der Vorstand des Börsenvereins hoffte, »dass mit dem Versuch künftig alle Objekte des Börsenvereins, die sich dafür eignen, in Gemeinschaftsarbeit herzustellen, […] eine völlig neue Basis für die Verhandlungen gegeben sei«. Er erhoffte auch finanzielle Erleichterungen.26 Gemeinschaftsprojekte scheiterten jedoch an zu unterschiedlichen Realisierungsbedingungen und bald auch am Verdikt des staatlichen Amtes für Literatur und Verlagswesen27 – damit war am Ende der Übergangsgesellschaft endgültig das Kapitel antagonistischer Zweistaatlichkeit aufgeschlagen.
Integration und Orientierung (1950–1960) Wirksamwerden unter neuen Bedingungen Die gegensätzlichen Auffassungen von Demokratie in beiden deutschen Staaten wurden schnell deutlich. Für Wilhelm Pieck, Präsident der DDR und Vorsitzender der Staatspartei SED, hob sich die (erzwungene) Einmütigkeit von Parteien und Organisationen in der DDR – wobei die Vorherrschaft der Kommunisten vertuscht wurde28 – deutlich ab vom »Parteiengezänk« im westdeutschen Bundestag. Als entscheidender Mann in der auch nach Auflösung der SMAD von der sowjetischen Siegermacht abhängigen Regierung erwies sich neben dem Präsidenten Wilhelm Pieck und dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl der Generalsekretär (ab 1953 Erster Sekretär) des Zentralkomitees (ZK) der SED Walter Ulbricht. Unter seiner Führung wurde der Staatsapparat auf- und ausgebaut, indem Zentralverwaltungen bei der SMAD zu eigenständigen Ministerien mutierten, wie z. B. die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung (DZVV), ab 1946 Deutsche Verwaltung für Volksbildung (DVV), zum Ministerium für Volksbildung der DDR. Seiner Abteilung Literatur war bis 1950 auch der Buchhandel mit dem Börsenverein zugeordnet.
24 StA-L, Börsenverein II, 1760, Bl. 149: Aktennotiz betr. Gemeinschaftsverlag mit dem Börsenverein Deutscher Verleger- und Buchhändler-Verbände, Frankfurt a. M., vom 5. Juli 1950. 25 StA-L, Börsenverein II, 1760, Bl. 17: Kurzprotokoll über die Arbeitsausschusssitzung der Deutschen Buchhandelsverbände vom 13. April 1951. 26 StA-L, Börsenverein II, 1492, Bl. 56: Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes des Börsenvereins am 7. Dezember 1949. 27 StA-L, Börsenverein II, 1517, Bl. 72: Schreiben Amt für Literatur und Verlagswesen an Börsenverein (Abschrift). 28 Es galt nach wie vor die Ulbrichtsche Direktive: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.« Zitiert nach: Leonhard: Die Revolution, S. 340.
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Entscheidend für die weitere Entwicklung in der DDR wurde die 2. Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juli 1952 in Berlin. Ulbricht proklamierte dort den planmäßigen Aufbau des Sozialismus in einem Teil Deutschlands. Außenpolitisch forderte er – in Anlehnung an die These von den zwei Weltlagern, die Sowjetführer Schdanow29 auf der Gründungskonferenz des Informationsbüros kommunistischer und Arbeiterparteien im September 1947 verkündet hatte – den »Sturz der Bonner Regierung« als Voraussetzung für Wiedervereinigung; innenpolitisch verlangte er wegen »Verschärfung des Klassenkampfes« die Überwindung von Resten der alten Gesellschaft. Ein zehn Tage später erlassenes ›Demokratisierungsgesetz‹ wandelte die föderale DDR in einen zentralistischen Einheitsstaat um: an die Stelle der bisherigen fünf Länder traten 14 Bezirke und 217 Kreise. Die bislang von den jeweiligen Landesparteiorganisationen der SED gelenkten Gesellschaften des Volksbuchhandels30 wurden, mit Ausnahme der Berliner, aufgelöst.31 Die zu ihnen gehörenden 322 Volksbuchhandlungen wurden der Zentralen Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft mbH (Zentrag)32 unterstellt, der bereits am 29. November 1945 geschaffenen Wirtschaftsholding der KPD, dann SED. Zu ihren Aufgaben gehörten »Gründung und Aufbau von Buchverlagen und Buchhandlungen, die helfen, das sozialistische Bewusstsein der Werktätigen zu entwickeln.«33 Damit hatte der administrativ-ökonomische Aufbau eines parteieigenen Netzes von sog. Volksbuchhandlungen begonnen. Aus der Zentrag ging 1952 das für Verlage und Buchhandel zuständige Druckerei- und Verlagskontor (DVK) als Leitungsund Kontrollorgan der Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe des ZK der SED hervor, das – nach Überführung des Buchhandels in Volkseigentum34 – nach mehreren Zwischenstufen 1963 in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) des Ministeriums für Kultur aufging, die bis 1990 bestand.35 Solange LKG und Volksbuchhandel in SED-Besitz waren, blieb eine am 1. September 1952 geschaffene Hauptabteilung Volksbuchhandel im ebenfalls parteieigenen LKG für das operative Geschäft der Buchhandelsfirmen verantwortlich. Weil die Verbreitung der Literatur, an der die SED besonderes politisches Interesse hatte, trotz Erweiterung des Handelsnetzes – 1953 waren zu 255 bestehenden 174 neue
29 Schdanow: Über die internationale Lage, S. 12. 30 1946/1947 entstanden Ländergesellschaften in Mecklenburg »Welt im Buch«, in Brandenburg »Unterhaltung und Wissen«, in Sachsen-Anhalt »Das gute Buch«, in Sachsen »Buch und Kunst«, ferner die Thüringer und die Berliner Buchhandelsgesellschaft (1950). 31 Siehe Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 211–257. 32 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 33 ff. 33 »Ein Datum für die Gründung des Volksbuchhandels kann auch nach 1945 nicht festgemacht werden.« Börner/Härtner: Im Leseland, S. 15. 34 Daniela Dahn wies darauf hin, dass dieser Begriff eigentlich nie definiert wurde. Doch ›Staatseigentum‹ – wie Volkseigentum häufig interpretiert wird – war in allen DDR-Verfassungen nie vorgesehen. Als Verwalter hatte »der Staat […] schon durch seinen sozialen Auftrag nicht alle Vollmachten, die ein Eigentümer normalerweise hat. Er durfte volkseigene Betriebe, Immobilien und volkseigenen Grund und Boden nicht verkaufen, nicht privatisieren, auch nicht beleihen. In diesem Sinne war der Staat keine autonome, juristische Person.« Dahn: Wir sind der Staat!, S. 26. 35 Lokatis: Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel.
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Volksbuchhandlungen hinzugekommen36 – hinter den Erwartungen des Eigentümers zurückblieb und sich bei Verlagen wie bei LKG beträchtliche Bestände aufgehäuft hatten, beschloss das Zentralkomitee der SED am 18. Mai 1953 eine »Verbesserung und Verstärkung des parteieigenen Buchhandels«.37 Der Ausbau des Handelsnetzes auf 496 Buchhandlungen (gegenüber 1952)38 trug jedoch nicht dazu bei, Lese- und Kaufinteressen der Bevölkerung in die gewünschte Richtung zu lenken. Deshalb wurden ein Jahr später Groß- und Einzelbuchhandel aus Parteieigentum entlassen und eine volkseigene Buchhandelsgesellschaft gegründet. Über diesen juristisch selbstständigen Betrieb herrschte eine 1954 in Leipzig gebildete, noch dem ZK der SED, Abt. Finanzverwaltung und Parteibetriebe unterstehende Zentrale Verwaltung, aus der vier Jahre später (1958) die Zentrale Leitung des nun nicht mehr parteieigenen, sondern volkseigenen Volksbuchhandels (ZL) hervorging. Sie lenkte das operative Geschäft, während staatliche Verwaltungen im MfK dessen strategische Ausrichtung bestimmten, wozu sich das letzte Wort aber immer die Abteilung Kultur im Politbüro des ZK der SED vorbehielt. Bestellarten, Bezugsformen usw., ab 1969 in einer ›Ordnung für den Literaturvertrieb‹ zusammengefasst, sollten dafür sorgen, dass »das richtige Buch zur richtigen Zeit in die richtigen Hände« gelangte.39 Für den Warenumsatz pro Jahr galten staatliche Plankennziffern. Nach dem Zweijahrplan (1949–1950) war der erste Fünfjahrplan (1951–1955) und damit der Übergang zu längerfristiger Wirtschaftsplanung und zentralistischer Wirtschaftsführung beschlossen worden. Staatliche Stellen bemühten sich, den Wandel in der Wirtschaftspolitik breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung politisch zu erläutern. Das Dezernat Volksbildung des Rates der Stadt Leipzig etwa führte Pflichtschulungen für alle Buchhändler durch zu Themen wie »Was ist der Sozialismus?« oder »Kulturpolitik der DDR«.40 Der 1954 mit 2.321 Unternehmen noch beträchtliche Anteil privater Buchhandlungen wurde weiter reduziert.41 Das Wirtschaftsrecht musste helfen, »die Nivellierung der Eigentumsordnung« durchzusetzen.42 Die Folge: Nicht nur vom Glanz des westdeutschen Wirtschaftswunders angezogen, verließen zwischen 1951 und 1961 ca. 2,5 Millionen Menschen die DDR, darunter viele Buchhändler und Verleger – nach 1945/46 und 1950–1952 ein dritter Exodus, der sich auch auf den Börsenverein auswirkte: Er verlor zahlende Mitglieder und konnte kaum mehr zwischen partei- und staatsnaher Politik und den Interessen des privaten Buchhandels vermitteln, wie der ihm zugewiesene politische Auftrag vorsah. Von 1949 an hatte sich die SED eine Vormachtstellung geschaffen, die sich im letzten Jahr der DDR auf über 20.000 hauptamtliche Funktionäre stützte, auf das Mono-
36 Fauth/Hünich, Zur Geschichte des Buchhandels der Deutschen Demokratischen Republik, S. 96. 37 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 52. 38 Börner/Härtner: Im Leseland, S. 225. 39 Fritz Apelt: Das richtige Buch in die richtigen Hände. Die Aufgaben des Buchhandels im Jahre 1952. In: Börsenblatt (Leipzig) 119 (1952) 1, S. 1–3. 40 Tärer, Karl: Leipzig führt ein: Pflichtschulung für alle Buchhändler. In: Börsenblatt (Leipzig) 118 (1951) 6, S. 67–68. 41 Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 226–227. 42 Staritz: Geschichte der DDR, S. 103.
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pol zur Bildung von Parteigruppen in Betrieben, Verlagen, im Volksbuchhandel wie auch im Börsenverein, auf einen zentralistischen Staatsapparat, auf entmündigte Blockparteien und Organisationen wie eben den Börsenverein, die als ›Transmissionsriemen‹ Verbindung zu SED-fernen Gesellschaftsschichten halten, sie ›anleiten und erziehen‹ sollten. Literatur galt als wichtigstes, staatlich alimentiertes Mittel der ›Bewusstseinsbildung‹. Zensoren wachten, dass nur ›fortschrittliche‹ Werke erschienen.43
Integration »in den gesamten Kulturaufbau« der DDR Die Regierung der DDR erließ am 16. August 1950 eine ›Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur‹,44 die u. a. verfügte, die Hauptabteilung Kunst und Literatur im Ministerium für Volksbildung durch ein Amt für Literatur und Verlagswesen (ALV) beim Ministerrat der DDR abzulösen. Zu dessen Aufgaben gehörte nun auch Anleitung und Kontrolle des Börsenvereins. Das ALV bestand bis 1956 und wurde geleitet von Fritz Apelt (1951–1954) und Karl Wloch (1954–1956). Im Juni 1956 wurde im zwei Jahre zuvor geschaffenen Ministerium für Kultur (MfK) eine Hauptverwaltung Verlagswesen (HVW) gebildet, die als kulturpolitisches Lenkungsorgan sowie Wirtschaftszweigleitung für volkseigene Verlage fungierte. Ihre Leitung übernahm Karl Böhm, vorher stellvertretender Leiter des ALV.45 Die Verantwortung für den Gesamtbereich Buchwesen wurde dem Hauptdirektor des Verlages Volk und Wissen (1945–1951) und Börsenvereinsvorstandsmitglied (1950–1954) Karl Hagemann46 übertragen, der 1956 zum Stellvertreter des Ministers für Kultur (1956–1960) berufen wurde. 1958 wurde die Doppelfunktion der HVW getrennt: für kulturpolitische Leitung des Verlagswesens wurde eine Abteilung Literatur und Buchwesen (ALB) im, für ökonomische Leitung volkseigener Verlage die Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) beim MfK gebildet. 1963 wurden beide Aufgabenbereiche wieder vereinigt in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) des MfK, die bis Anfang 1990 bestand.47 Der Börsenverein hatte nach Lizenzierung durch die SMAD seine Autonomie verloren; er unterstand zunächst dem MfV, dann 1951 bis 1956 dem ALV, ab 1956 der HVW, ab 1958 dem ALB und von 1963 bis zum Ende der DDR der HV des MfK. Beide aber, Börsenverein und die für ihn zuständigen staatlichen Leitungen, waren immer übergeordneter Anleitung und Kontrolle durch die Abteilung Kultur im ZK der SED unterworfen, deren für Verlagswesen und Buchhandel zuständige Vertreter der Abteilung Wissenschaft, ab 1957 Abteilung Kultur,48 als ständige Gäste (und Kontrolleure) an Sitzungen des Vorstandes bzw. Hauptausschusses und an den Hauptversammlungen des Börsenvereins teilnahmen.
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Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«. Gesetzblatt I, Berlin (1951) 100 vom 27. 8. 1951. Lokatis: Vom Amt für Literatur und Verlagswesen, S. 23. Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR?, S. 471. Lokatis, Siegfried: Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel. Zuständig für Verlage 1956–1978 Lucie Pflug, 1976–1989 Ursula Ragwitz bzw. Arno Lange. – Siehe auch Liste der ZK-Abteilungen und ihrer Abteilungsleiter https://wikipedia.org/ wiki/Liste.
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Ab 20. November 1951 führte das ALV alljährliche Verlegerkonferenzen ein.49 Fritz Apelt,50 Leiter des ALV, forderte eine enge Zusammenarbeit mit dem Börsenverein. Dessen Vorsteher Heinrich Becker versicherte, der Börsenverein werde zur Planerfüllung beitragen und erzieherisch auf schwankende Buchhändler einwirken. Das ALV kassierte von der SMAD erteilte Genehmigungen und nahm eine Neulizenzierung der Verlage vor, verbunden mit einer Profilierung nach Verlagsgebieten.51 Einige volkseigene Verlage wurden neu gegründet, u. a. um Exportbeschränkungen infolge Klagen durch Inhaber gleichnamiger Häuser in der Bundesrepublik auszuweichen,52 andere private Verleger unter mehr oder weniger konstruierten Vorwänden enteignet, vor allem jene, die nach 1945 in den Westteil Deutschlands übergesiedelt waren und dort neue Verlage unter altem Namen gegründet hatten. Die verlassenen ›Mutterhäuser‹ wurden in Volkseigene Betriebe (VEB) umgewandelt 53 oder in Treuhandverwaltung genommen.54 Der Börsenverein schwieg zu dieser Aktion, durch die er Mitglieder verlor und die seine Beziehungen zum Frankfurter Verband belasteten, der 1948 in amerikanischer und britischer Besatzungszone als Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verleger- und Buchhändlerverbände gegründet und 1955 in Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. für Westdeutschland umbenannt worden war. Der Börsenverein in der DDR führte Anfang 1952 in mehreren Städten Arbeitsberatungen mit privaten Buchhändlern zum Thema ›Buchhandel und Fünfjahrplan‹ und am 10./11. Mai 1952 gemeinsam mit dem ALV die erste Buchhändlertagung in der DDR durch, auf der Vorsteher Becker die Aufgaben dieses Handelszweigs beim Aufbau des Sozialismus und eine neue, (zweite) Satzung des Börsenvereins erläuterte, die einen Monat später beschlossen wurde. Sie bestimmte eindeutiger als jene (erste) von 1948 die Rolle, die der Verein in dieser Phase der gesellschaftlichen Entwicklung spielen sollte. Der Börsenverein hatte selbst mit krisenhaften Entwicklungen zu kämpfen. Seit 1950 drückten die Geschäftsstelle Finanzprobleme: der Verlag wurde defizitär, weil Börsenblatt und Bibliographien kaum noch westdeutsche Bezieher hatten;55 die Mitgliederzahl stagnierte, weil westdeutsche Buchhändler nach der Währungsreform 1948 als Mitglieder
49 Verlegerkonferenzen am Ende jeden Jahres wurden von nachfolgenden staatlich Leitungsinstitutionen bis zum Ende der DDR fortgeführt. 50 Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR?, S. 39–40. 51 Bis 1949 waren über 150 Verlage von der SMAD zugelassen worden. Deren Lizenzen wurden eingezogen. Nach einer Aufstellung des ALV vom 6. Dezember 1952 sank ihre Zahl auf 75, wovon über die Hälfte partei- bzw. organisationseigene (27) und volkseigene (8) Verlage waren. Der Anteil der Privatverlage wurde von 120 auf 23 reduziert. – BArch, DR 1/1871, Bl. 1–9: Vertrauliches Schreiben des ALV an das ZK der SED, Abt. Propaganda vom 6. Dezember 1952. 52 Z. B. entstanden VEB Verlag der Kunst (Dresden), VEB Volk und Gesundheit (Berlin), VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften (Berlin), VEB Deutscher Verlag für Musik (Leipzig) – Siehe auch Semann: Parallelverlage. 53 Z. B. F. A. Brockhaus, E. A. Seemann, Friedrich Hofmeister und Breitkopf & Härtel (alle Leipzig), Gustav Fischer (Jena). 54 Z. B. J. A. Barth, Philipp Reclam jun., später auch B. G. Teubner (alle Leipzig). 55 StA-L, Börsenverein II, 2607, Bl. 74: Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes des Börsenvereins am 27. August 1950.
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ausgefallen waren, und Volksbuchhandlungen anfangs dem Verein kaum beitraten. Der Anteil privater Buchhändler ging auch deshalb zurück, weil sie sich weigerten, infolge Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern doppelte Beiträge zu zahlen. Schon im Oktober 1945 hatte die SMAD per Befehl Nr. 945 angewiesen, in den Ländern wieder Industrie- und Handelskammern (IHK) zu eröffnen. Als Körperschaften öffentlichen Rechts sollten sie Anordnungen der Landesverwaltungen durchsetzen helfen. Mitgliedschaft und Beitragszahlung aller privaten Handels- und Gewerbebetriebe wurde zur Pflicht erklärt, wogegen der Börsenverein nur »eine freiwillige Arbeitsgemeinschaft« sei.56 Dieser Verpflichtung unterlagen 350 Buchhandlungen in Brandenburg, 741 in Sachsen-Anhalt, 1.704 in Sachsen, 378 in Thüringen und 233 in Mecklenburg.57 Für sie konnte der Börsenvereinsvorstand wenigstens Arbeitsteilung bei vermindertem Beitragssatz vereinbaren: für wirtschaftliche, organisatorische und allgemeine rechtliche Fragen wurden die IHK, für »eigentlich buchhändlerische Angelegenheiten, für Urheber- und Verlagsrecht und buchhändlerische Gewohnheitsrechte« blieb der Börsenverein zuständig.58 Trotz verminderter Pflichtbeiträge für die IHK59 waren viele private Buchhändler von dieser Regelung wenig begeistert. Sie wollten die Gebühren für den Börsenverein ganz sparen. Der aber hielt es für nicht länger tragbar, dass etwa 1.500 zahlende Mitglieder Leistungen finanzierten, die über 3.700 Buchhandlungen und Buchverkaufsstellen zugutekämen und legte seinerseits einen obligaten Mindest-Beitragssatz fest.60 Mit dem Argument, dass »die politische und kulturpolitische Wirkung des Inhalts der Bücher weit wichtiger (sei) als der Warencharakter des Buches« hatte der Börsenverein versucht, den Buchhandel aus der Pflichtmitgliedschaft in den IHK ganz herauszulösen.61 Ohne Erfolg. Das Ministerium für Handel und Versorgung bestand darauf, »daß die Buchhändler Mitglieder […] bleiben, da ihre Haupttätigkeit im Handel besteht«.62 Auch darum wurde 1951 erwogen, die Mitgliedschaft im Börsenverein »für alle natürlichen und juristischen Personen«63 in Verlagswesen und Buchhandel ebenfalls zur Pflicht zu erklären.64
56 Richtlinie über die Zusammenarbeit zwischen IHK und Börsenverein. In: Börsenblatt (Leipzig) 115 (1948) 37, S. 357. 57 StA-L, 21766 BVII 1681, Bl. 92–93: Gemeinsamer Vorschlag des Amtes für Literatur und Verlagswesen, des Ministeriums für Handel und Versorgung, der IHK und des Börsenvereins der Buchhändler zu Leipzig. 58 StA-L, Börsenverein II, 1681, Bl. 97: Richtlinie über die Zusammenarbeit zwischen IHK und Börsenverein. 59 StA-L, Börsenverein II, 1681, Bl. 162: Vorschlag der IHK für einen gemeinsamen Grundbeitrag vom 23. Okt. 1951. 60 StA-L, Börsenverein II, 1483, Bl. 200: Protokoll der Vorstandssitzung vom 29. Oktober 1954. 61 StA-L, Börsenverein II, 1681, Bl. 119: Aufbau und Arbeit des Börsenvereins und seine Arbeitsverbindung zu den Handelskammern vom 2. Juli 1951. 62 StA-L, 21766 BVII 1681, Bl. 106: Schreiben des Ministeriums für Handel und Versorgung an den Börsenverein vom 23. 4. 1951. 63 StA-L, 21766 BVII 1494, Bl. 72: Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes und Hauptausschusses am 13. 1. 1953. 64 StA-L, Börsenverein II, 1681, Bl. 126: H. A. Literatur: Entwurf der Verordnung über die Organisation der Buchhandelsbetriebe der DDR.
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Mit Vertretern des ALV, des Innen- und Justizministeriums erwogen am 27. Dezember 1951 Börsenvereinsgeschäftsführer Paul Heilmann, Börsenvereinsjustitiar Dr. Max Freyer sowie die Mitglieder des Börsenvereinshauptausschusses Herbert Kienast und Ludolf Koven die Umwandlung des Börsenvereins in eine »fachliche Arbeitsstelle des Amtes für Literatur und Verlagswesen«, dessen Aufgabe die »Organisation des Buchhandels in der DDR in Anpassung an die fortschrittliche Entwicklung« sein sollte. Offensichtlich glaubte man, so eine Lücke im Netz staatlicher Kulturverwaltungen schließen zu können. Geschäftsführer Heilmann erinnerte aber an »die Notwendigkeit, die Verbindung zum Westen [...] im Interesse der Einheit und der Erhaltung der westdeutschen Vermögenswerte des Börsenvereins aufrecht zu erhalten.« Auch die »kostenlose Herbeischaffung von Büchern für die Deutsche Bücherei« bleibe wichtig. Deshalb sei es nicht ratsam, die Rechtsform zu ändern. Das würde »sofort Misstrauen und Ablehnung hervorrufen«. Man kam deshalb überein, »dass der Börsenverein [...] seine Satzung umarbeitet« und darin betont, dass er wegen der »Pflichtmitgliedschaft dem Amt für Literatur und Verlagswesen untersteht, das auch seine Rechnungsführung zu kontrollieren hat. [...] Wenn sich der Börsenverein gewissermaßen freiwillig [...] der Aufsicht des Amtes unterwirft, wird nach außen der staatliche Zwangscharakter vermieden. Die Rechtsnatur des Börsenvereins wird nicht angesprochen. Er bleibt ein Verein, der starken verwaltungsrechtlichen Einschlag hat, ohne dass die wichtige Frage der Rechtskontinuität in Zweifel gezogen werden kann.«65 In diesem Sinne kommentierte Becker in einem Brief vom 11. Januar 1952 die dementsprechend überarbeitete Satzung: In § 1 Abschn. b ist der Hinweis auf die Interessenvertretung des Buchhandels gestrichen und dafür ein Hinweis auf den Charakter als fachliche Arbeitsstelle des Amtes für Literatur und Verlagswesen eingefügt worden. [...] Wenn sich der Börsenverein freiwillig in seiner Satzung unterwirft, vermeiden wir, daß die gleichzeitige Funktion als Verwaltungsstelle allzu 66 deutlich hervorgehoben wird.
Offen kam die eigentliche Absicht dieser Maßnahme zum Ausdruck, als Koven auf einer Vorstandssitzung am 9. Februar 1952 erklärte, »daß das Amt für Literatur und Verlagswesen deshalb darauf Wert legt, die Pflichtmitgliedschaft für buchhändlerische Betriebe in der DDR einzuführen, um damit auf gesetzlichem Wege die Betriebe auszuschalten, die ungeeignet sind. Das bedeutet, daß die Pflichtmitgliedschaft im Börsenverein Voraussetzung für die Erteilung des Gewerbescheins ist«.67 Dreierlei sollte erreicht werden: Vollständige Kontrolle des privaten Buchhandels, Ausschaltung privater Leihbüchereien mit unerwünschten Beständen und Stabilisierung des Börsenvereins als einer gesellschaftlichen Organisation, »die jederzeit ausgedehnt
65 StA-L, Börsenverein II, 1681, Bl. 190: Aktennotiz über eine Besprechung über Pflichtmitgliedschaft im Börsenverein. 66 StA-L, Börsenverein II, 1493, Bl. 129–131: Niederschrift über die gemeinsame Sitzung von Vorstand und Hauptausschuss am 9. 2. 1952. 67 StA-L, Börsenverein II, 1493, Bl. 129–131, Bl. 129: Niederschrift über die gemeinsame Sitzung von Vorstand und Hauptausschuss am 9. 2. 1952.
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werden kann auf ganz Deutschland«.68 Wie schon 1933, wollte man kritische Buchhändler durch Berufsverbot als Multiplikatoren aus dem gesellschaftlichen Kommunikationsprozess eliminieren. Die neue Satzung von 1952 nannte vier in ihrer Wertigkeit veränderte Aufgaben (§ 1): 1. »organisatorische Zusammenfassung des deutschen Buchhandels zu einer Arbeitsgemeinschaft«; 2. »Zusammenarbeit mit den für Angelegenheiten des Buchhandels zuständigen Behörden«; 3. »Feststellung allgemeiner Geschäftsbedingungen für den Verkehr der Buchhändler untereinander und mit dem Publikum«; 4. »Herausgabe buchhändlerischer Fachliteratur«. Zugleich wurde unter Paragraph 2 die Pflichtmitgliedschaft »für alle natürlichen und juristischen Personen […] im Gebiete der Deutschen Demokratischen Republik oder im demokratischen Sektor von Groß-Berlin« eingeführt, »die sich mit Verlag, Vertrieb, Vermittlung oder Verleih von Gegenständen des Buchhandels befassen«.69 Diese straffere Organisation sei durch die Bedingungen beim Aufbau des Sozialismus in einem Lande an vorgeschobener Position notwendig geworden.70 Unverkennbar schimmert Stalins These vom verstärkten Klassenkampf durch – nie völlig überwundene Parteidoktrin. Die Satzung von 1952, betonte Becker, habe die »Arbeitsgemeinschaft des Buchhandels in den gesamten Kulturaufbau« eingefügt und eine einheitliche Orientierung ihrer Mitglieder auf ihre politische Verantwortung bei Durchsetzung neuer Formen des Literaturvertriebs und der Literaturpropaganda gefördert.71
Funktions- und Bedeutungsverlust Parallel zum Ausbau des ALV wurde die Börsenvereins-Geschäftsstelle verkleinert. Nicht nur aus Sparsamkeitsgründen, mehr noch wegen schwindender Bedeutung. Mit der Monopolisierung des Zwischenbuchhandels durch LKG entfielen im Laufe der Zeit die seit 1842 vom Börsenverein unterhaltene Bestellanstalt und ihr Gegenstück, die 1916 vom Leipziger Buchhändlerverein eingerichtete, später vom Börsenverein ebenfalls übernommene Paketaustauschstelle, beides Dienstleistungseinrichtungen zur Rationalisierung des Sammelverkehrs am Leipziger Platz. Immer wieder musste der Börsenvereinsvorstand zugesagte Mitwirkungsrechte gegenüber staatlichen Stellen einfordern. Weder bei der Mitte 1952 begonnenen Zentralisierung der Auslieferung bei LKG zu Lasten privater Kommissionäre am Leipziger
68 StA-L, Börsenverein II, 1627, Bl. 11: Niederschrift über eine Besprechung am 14. Aug. 1949. 69 Satzung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. In: Börsenblatt (Leipzig) 119 (1952) 31, S. 535–537. 70 Heinrich Becker: Zur neuen Satzung. In: Börsenblatt (Leipzig) 119 (1952) 31, S. 538. 71 Heinrich Becker: Die Entwicklung des Börsenvereins im Spiegel seiner Satzungen seit 1945. In: Börsenblatt (Leipzig) 124 (1957) 37, S. 600.
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Platz,72noch bei Neufestsetzung von Rabattspannen, zeitweiligem Wegfall von Kommissionslieferungen und weiterem Ausbau des Volksbuchhandelsnetzes zu Lasten privater Sortimente war der Börsenverein gehört worden. Ihm wurde von Anfang an »eine mehr repräsentative als operative Funktion« zugewiesen.73 Das lähmte Kommissionen und Ausschüsse und führte dazu, dass Vereinsarbeit überwiegend allein vom Vorsteher bestritten wurde.74 Anderthalb Jahre lang fanden keine Ausschuss- und Kommissions-, keine Hauptausschuss- sowie kaum Vorstandssitzungen statt. Die verbandsinterne Situation widerspiegelte die gesellschaftliche Krise, die in der DDR eingesetzt hatte.
»Neuer Kurs« Am 5. März 1953 starb J. W. Stalin. Seine Nachfolger drangen auch für die DDR auf einen Neuen Kurs, um die Krise zu bannen, die eine forcierte Sozialisierung ausgelöst hatte. Ein Kurswechsel, von der SED am 11. Juni 1953 verkündet, gestand Fehler besonders gegenüber privaten Unternehmern ein. Sie sollten korrigiert, Wirtschaftsplanung modifiziert und Enteignungen bzw. Verstaatlichungen verlangsamt werden. Doch die Korrekturen kamen zu spät, blieben halbherzig und so etwas wie ein ›dritter Weg‹ weiterhin ausgeschlossen. Aufgestaute Unzufriedenheit entlud sich im Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953. Über 40.000 demonstrierten auch in Leipzig. Sowjetische Panzer rollten. Der Widerhall vereinzelter Schüsse drang bis zur Börsenvereinsgeschäftsstelle im Gebäudetorso des zerstörten Buchhändlerhauses am Leipziger Gerichtsweg, wo sie sich seit 1945 befand. Nicht nur unter Verlegern und Buchhändlern, auch unter Schriftstellern und Künstlern wurde über Veränderungen debattiert. Lange hinter vorgehaltener Hand. Nach dem 17. Juni meldeten sie sich zu Wort und wurden von Paul Wandel,75 seit Juli 1953 ZKSekretär für Kultur und Erziehung, angehört. Im August 1953 druckte das Zentralorgan der SED, Neues Deutschland, gar einen Artikel, in dem Bertolt Brecht die »unglückliche Praxis der Kommissionen« dafür verantwortlich machte, dass viele Schriftsteller der staatlichen Kulturpolitik »ablehnend« gegenüberständen. Gemeint war u. a. das ALV. Als Reaktion wurde Anfang 1954 das Ministerium für Kultur (MfK) gebildet mit Johannes R. Becher an der Spitze.76 Dieser hatte auf der 3. Verlegerkonferenz des ALV im November 1953 in einer »Rede an die Verleger« gefordert: »Der Verleger wird ebenso wie der Buchhändler weit mehr gehört werden müssen bei allen Maßnahmen, die ihr Gebiet betreffen«.77
72 1952 gab es in Leipzig noch 49 private Großbuchhandelsunternehmen; siehe Petry: Das Monopol. 73 Es geht um die Reaktivierung des Börsenvereins. In: Börsenblatt (Leipzig) 120 (1953) 40, S. 834–836. 74 Baier: Zur Entwicklung des Börsenvereins, S. 90. 75 S. Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR, S. 1378–1379. 76 Siehe auch Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 38. 77 Johannes R. Becher: »Dort, wo es eine Lust ist zu leben, ist es auch eine Lust, Verleger zu sein!« In: Börsenblatt (Leipzig) 20 (1953) 48, S. 1015–1019.
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Abb. 1: Auf der 4. Verlegerkonferenz des Amtes für Literatur und Verlagswesen im Leninsaal des Hauses der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Leipzig unter Stalins Bild: Der Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Kultur der Tschechoslowakischen Republik, Zicka, im Gespräch mit dem Leiter der Fakultät der Westeuropäischen Literatur – Deutsche Abteilung, Yen Pao-Yu, in Peking, 4. Dezember 1954. Foto: Bundesarchiv/ADN.
Die Entmythologisierung Stalins und die Aufdeckung seiner Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU löste 1956 auch in der DDR ›Tauwetter‹78 aus. Das Stalinsche Umwälzungskonzept, seit 1948 in der SBZ/DDR praktiziert, war gescheitert. Selbst SED-Funktionäre wie Schirdewan79 und Zaisser80 forderten Korrekturen. In Moskau wechselte Chruschtschow zu einer Politik der friedlichen Koexistenz, zu pragmatischer Verflechtung von äußerer Entspannung und innerer Modernisierung –
78 Titel eines 1954 erschienen Romans von Ilja Ehrenburg, der den Beginn einer Phase der Liberalisierung in der Kulturpolitik der Sowjetunion signalisierte. 79 Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht. 80 Wilhelm Zaisser, Minister für Staatssicherheit und Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, wurden entmachtet, am 23. Juli 1953 aus der Partei ausgeschlossen und als Gegner Ulbrichts abgeurteilt.
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eine Politik, die seine Nachfolger mal mehr, mal weniger konsequent fortsetzten. In der DDR fasste das ZK der SED am 26. Juli 1953 den Beschluss »Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei«, der die in der Politbüro-Sitzung vom 21. Juni eingestandenen Fehler81 beseitigen sollte. »Durch die Entfaltung der Initiative des privaten Handels und der Privatindustrie (sollte) eine Verbesserung der materiellen Lage der Bevölkerung erzielt werden.«82 Dieser Neue Kurs weckte Hoffnungen auch unter privaten Buchhändlern. Eine Korrektur »des seit dem Herbst 1952 übertrieben beschleunigten Entwicklungstempos« sollte vorgenommen, »einige Fehler«, wie die Missachtung buchhändlerischer Verkehrsformen und »bestimmter Einrichtungen des Leipziger Platzes«, sollten beseitigt, die Beziehungen zwischen staatlicher Verwaltung und Börsenverein neu geordnet, die Verbandsarbeit reaktiviert und das erschütterte »Vertrauen weiter Teile des Buchhandels zu ihrer Organisation« zurückgewonnen werden.83 Auf einer Dresdener Buchhändler-Versammlung gab Herbert Kienast, Leiter des ALV, zu, »dass nicht alles […] auf dem Gebiete der Verlagstätigkeit und des Buchhandels richtig gemacht wurde. Wir haben die Bedeutung des Börsenvereins […] für die gesamte deutsche buchhändlerische Zusammenarbeit unterschätzt und haben ihn nicht genügend gefördert.« Nun forderte er: »Keine Beschränkung der privaten Buchhandlungen!«84 Offen wurde über die Zukunft des Leipziger Platzes und des LKG diskutiert.85 Da der aber aus politischen Gründen zu einer Monopol-Organisation erhoben worden war, galt Kritik am LKG als »Angriff [...] auf den sozialistischen Buchhandel« und als »Ausdruck des sich verschärfenden Klassenkampfes«.86 ›Partei und Regierung‹ – typische Formulierung im Politikjargon der DDR – hofften auf dem Gebiete des Verlagswesens auf neue Impulse im Wettbewerb zwischen kapitalistischem und sozialistischem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem: »Der Neue Kurs unserer Regierung bringt für die Entwicklung der Literatur, für unser Verlagsschaffen und den Buchhandel noch größere Perspektiven mit sich«, hoffte das Börsenblatt. Die Gesamtauflagenhöhe von 111.028.000 Ex., die Durchschnittsauflagenhöhe von 17.820 Ex. und die Auflage pro Kopf der Bevölkerung von 6,2 Ex. seien höher als in Westdeutschland. Nicht zu reden von den Buchpreisen, die in der DDR durchweg niedriger lägen. All das belege, verkündete das Leipziger Börsenblatt stolz, in welchem der beiden Teile Deutschlands die kulturelle Entwicklung mehr gefördert werde.87
81 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/1, Bl. 2 ff. 82 Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei. Beschluss des ZK der SED vom 26. Juli 1953. Zitiert nach: Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, S. 522–523. 83 Es geht um die Reaktivierung des Börsenvereins. Vorstand und Hauptausschuss tagten am 18. September. In: Börsenblatt (Leipzig) 120 (1953) 40, S. 834–836. 84 Der neue Kurs und die Arbeit des Buchhandels. Aus der Rede des Kollegen Herbert Kienast auf der Dresdner Buchhändler-Versammlung. In: Börsenblatt (Leipzig) 120 (1953) 40, S. 832. 85 Der Leipziger Platz – Symbol der Einheit im deutschen Buchhandel. In: Börsenblatt (Leipzig) 120 (1953) 40, S. 836–838. 86 Baier: Zur Entwicklung des Börsenvereins, S. 91. 87 Ein Wendepunkt in der Geschichte Europas. Vier Jahre DDR – vier Jahre beispielloser kultureller Aufstieg. In: Börsenblatt (Leipzig) 120 (1953) 40, S. 831.
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Der Börsenvereinsvorstand sah sich veranlasst, Belange des privaten Buchhandels entschiedener zu vertreten. Doch alle Vorstöße bei staatlichen Verwaltungen blieben weiter ohne Resonanz, wie u. a. aus einer Beschwerde beim ALV vom 30. April 1956 hervorgeht: Wir haben Sie mehrfach über die Situation im Privatbuchhandel unterrichtet. [...] Heute übersenden wir Ihnen Abschriften von Briefen von Privatbuchhandlungen.[...] Daraus ist ersichtlich, wie die Wirkung des Börsenvereins [...] zu schwinden beginnt, da er sich – nach Meinung des Privatbuchhandels – in ihren Angelegenheiten zu passiv verhält. Wir möchten auf die Gefahr hinweisen, die durch eine dauernde Verminderung des Ansehens der Funktion des Börsenvereins durch den Buchhandel in der Deutschen Demokratischen Republik der gesamtdeutschen und anderer Tätigkeit droht. Verliert der Börsenverein in der Deutschen Demokratischen Republik immer mehr an Wirkung, wird sein Auftreten außerhalb der DDR 88 auf die Dauer nicht erfolgreich sein können.
Die Hinwendung zur privaten Mitgliedschaft folgte äußeren Anstößen: Im März 1956 befasste sich die 3. Parteikonferenz der SED mit der Perspektive der Mittelschichten. Die Blockparteien LDPD, CDU, NDPD unterbreiteten Vorschläge zu einer ›sozialistischen Mittelstandspolitik‹, die einer speziellen Arbeitsgruppe des DDR-Ministerrats zugeleitet wurden.89 Zahlreiche Privatbuchhändler, darunter auch Mitglieder des Börsenvereinshauptausschusses, gehörten der Blockpartei NDPD an. Einige, wie Kurt Bock, Prokurist der Leipziger Buchhandlung Franz Otto Genth, waren auch im NDPD-Hauptausschuss vertreten. In einer von ihm veranlassten Denkschrift des NDPD-Parteivorstandes an den Börsenvereinsvorstand heißt es: »Viele Buchhändler fragen sich, warum sie noch Mitglied des Börsenvereins sind. Sie werfen ihm eine Politik der Beschwichtigung vor. Zusammenkünfte [...] hätten fast durchweg nur noch den Charakter eines gemütlichen Beisammenseins.«90 Der NDPD-Parteivorstand mahnte »Stärkung der Autorität des Börsenvereins« an und schlug Kommissionshandelsverträge zwischen privaten Buchhandlungen und zunächst LKG, später auch Volksbuchhandel, vor, wodurch Zusammenarbeit gefördert, die finanzielle Situation privaten Buchhandels verbessert und er in die Lage versetzt würde, »auch schwer verkäufliche Titel (zu) bestellen, die kulturpolitisch wichtig sind.«91 Der Börsenvereinsvorstand griff diese Anregung auf, erarbeitete Muster-Kommissionsverträge, warb dafür oder für die Aufnahme staatlicher Beteiligung – beides Formen ›sanfter Enteignung‹ des privaten Buchhandels und seiner Einbindung in das staatlich
88 StA-L, Börsenverein II, 535, Bl. 47: Schreiben Geschäftsstelle an das Amt für Literatur und Verlagswesen vom 30. 4. 1956. 89 StA-L, Börsenverein II, 1148, Bl. 16: Schreiben des Geschäftsstelle des Börsenvereins an die NDPD vom 27. 8. 1956. 90 StA-L, 21766 BVII 1148, Bl. 13: Denkschrift der NDPD zu Problemen des privaten Buchhandels in der DDR. 91 StA-L, Börsenverein II,, 1148, Bl. 18–36: Ergänzende Bemerkungen zu 8 Vorschlägen der NDPD zur Verbesserung der Literaturpropaganda. – Nachdem private Buchhändler beim Abschluss von Kommissionshandelsverträgen den Vertragspartner wählen konnten, bestanden 27 Verträge mit LKG und 41 mit dem Volksbuchhandel. Bis 1963 gingen alle Verträge mit LKG auf den Volksbuchhandel über.
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organisierte ›System der Literaturverbreitung‹. Zwar wurde dadurch die wirtschaftliche Situation privater Buchhändler tatsächlich verbessert, ihre unternehmerische Freiheit jedoch eingeschränkt.
Grenzen des Wandels Aufbegehren in Polen und Ungarn im Herbst 1956 brachte Nachtfrost. In der DDR kehrte Ulbricht zu seinem harten Kurs zurück. Reformer, wie Paul Wandel, verloren ihre Posten. Der Kreis um Wolfgang Harich und den Aufbau-Verleger Walter Janka bekam »Schwierigkeiten mit der Wahrheit«. Janka wurde am 6. Dezember 1956 verhaftet und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.92 Eine Kulturkonferenz der SED im Oktober 1957 kritisierte »Ökonomismus (in) literaturverbreitenden Einrichtungen« und forderte Rückkehr zum Primat der Ideologie.93 Alexander Abusch und Kurt Hager im Politbüro bzw. ZK der SED verfolgten eine unduldsame kulturpolitische Bevormundung, der sich der Börsenverein widerspruchslos anpasste.94 Anfang 1953 beschloss der Börsenvereinsvorstand, den 1947 wieder zugelassenen eigenen Verlag aufzugeben, damit die Mitglieder mit ihren Beiträgen nicht länger für ein Wirtschaftsunternehmen haften müssten, das sich nicht mehr selbst trug. Seine Ausgliederung musste, wie Vorsteher Heinrich Becker 1956 erklärte, auch deshalb erfolgen, weil ein privater Verein aus rechtlichen wie steuerlichen Gründen kein Erwerbsunternehmen unterhalten dürfe.95 Die Gründung einer GmbH, an der sich Börsenverein und Fachbuchverlag beteiligen sollten, wurde erwogen, aber schnell verworfen.96 Stattdessen wurde mit Wirkung vom 1. April 1953 der VEB Verlag für Buch- und Bibliothekswesen gegründet, der lt. Kontrakt Börsenblatt, Nationalbibliographie u. a. Publikationen vom Börsenverein übernahm.97 1964 ging er im Zuge allgemeiner Kombinatsbildung – sozialistische Form der auch in der kapitalistischen Wirtschaft zunehmenden »Konzentration der Produktion und des Kapitals« (Marx) – als Imprint im VEB Bibliographisches Institut auf.98
92 Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. 93 Wolfgang Böhme: Wie ist das mit den Proportionen? In: Börsenblatt (Leipzig) 124 (1957) 45, S. 714–718. 94 Der ›Bitterfelder Weg‹ sollte eine neue programmatische Entwicklung der sozialistischen Kulturpolitik einläuten. Namensgebend war eine am 24. April 1959 veranstaltete Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld, auf der beschlossen wurde, die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben und durch eine Bewegung schreibender Arbeiter die Entfremdung zwischen Künstler und Volk zu überwinden gemäß der von Walter Ulbricht ausgegebenen Losung: ›Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur brauch dich!‹ Siehe Lokatis: Der Aufstieg des Mitteldeutschen Verlages (MDV) auf dem »Bitterfelder Weg«. 95 StA-L, 21766 BVII 1629, Bl. 67: Niederschrift über die gemeinsame Sitzung von Vorstand und Hauptausschuss des Börsenvereins am 11./12. Dezember 1965. 96 StA-L, Börsenverein II, 1760, Bl. 46 ff.: Protokoll über die Gründung einer GmbH, an der sich Börsenverein und Fachbuchverlag beteiligen. 97 StA-L, Börsenverein II, 1761, Bl. 55 u. 61: Rat der Stadt Leipzig. Rechtsträgernachweis vom 28. März 1953. 98 Bähring/Rüddiger: Lexikon der Buchstadt Leipzig, S. 256.
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Der Vorstand des Börsenvereins setzte sich nun zusammen aus vier vom Hauptausschuss, der Hauptausschuss aus vier von der Hauptversammlung auf drei Jahre gewählten Mitgliedern, dazu vier Vertretern des FDGB, drei Vertretern des ALV und einem Vertreter der Stadt Leipzig. Auf politisch ›linientreue‹ Mehrheitsverhältnisse ggf. durch externe buchhandelsfremde SED-Genossen wurde seit Lizenzierung des Börsenvereins durch die SMAD peinlich geachtet! Lange Zeit lag das Vereinsleben weitgehend darnieder, Kommissionen und Ausschüsse bestanden nur noch auf dem Papier. Doch nach einer Buchhändler-Aussprache am 18. September 1952 in Dresden mussten sich Vorstand und Hauptausschuss des Börsenvereins mit geforderter Reaktivierung der Ausschüsse und dem Verlangen privater und Kommissionsbuchhändler nach regelmäßigen Hauptversammlungen befassen.99 Angesichts solcher – mit dem ALV, wie sonst üblich, nicht vorher abgesprochener – Forderungen wand sich der Vorsteher. Er erreichte Aufschub durch den Einwand, zuerst sollten Buchhändlerversammlungen in den Bezirken »eine Generalversammlung, über deren Form man sich noch einigen müsste, in Leipzig vorbereiten«.100 Völlig zu ignorieren waren solche Forderungen nicht mehr. Anfang 1954 beschlossen Vorstand und Hauptausschuss die Bildung von Arbeitsgemeinschaften in den Bezirken und die Ernennung von Obleuten in den Kreisen, um die regionale Arbeit wieder anzukurbeln. Nicht nur die Ausschüsse im Verein wurden neu belebt, auch in allen Bezirken wurden Ausschüsse des Börsenvereins gegründet, die viertel- oder halbjährlich Versammlungen durchführen sollten.101 Vorsteher Heinrich Becker hob außerdem auf einer gemeinsamen Sitzung von Vorstand und Hauptausschuss im Dezember 1956 hervor: »Die jetzt gültige Satzung des Börsenvereins vom 7 August 1952 nahm einige sehr kräftige Eingriffe in das Lebensgefüge des Börsenvereins vor.« Er verwies vor allem auf die seither geltende »Pflichtmitgliedschaft für alle buchhändlerischen Betriebe in der DDR.« Daran sei nicht nur das damals brüchige finanzielle Fundament des Börsenvereins schuld gewesen, vielmehr »lag uns daran, die Arbeit des Buchhandels […] in die Entwicklung unseres Staates fest einzufügen. […] Das schmeckte«, so gab er zu, »allzu sehr nach Reichsschrifttumskammer. Wir sahen aber damals keinen anderen Weg, um zum Ziele zu kommen.« Auch hatte das ALV »nur eine geringe Kenntnis der besonderen Verhältnisse im Buchhandel«, weshalb »grundsätzliche Fragen« nicht gelöst wurden. Jetzt sei die Situation anders, so Becker weiter. Das finanzielle Fundament sei durch ausreichende Mitgliedsbeiträge gefestigt, außerdem sei durch Reaktivierung der Ausschüsse und deren Gründung auch in Bezirken und Kreisen die »Vielgestaltigkeit unseres Buchhandels […] greifbar: die Entwicklung des Volksbuchhandels auf der einen
99 Als Gäste aus Leipzig nahmen Mitglieder des Börsenvereinshaupt- und mehrerer Fachausschüsse teil: Dr. Albrecht Opetz (Kommissionsbuchhandlung Opetz), Dr. Reinhard Stelzig, Dr. Hans Eger (Buchhandlung Paul Eger), Kurt Engewald (Buchhandlung Engewald), Karl Markert (Antiquariat Markert) und Fritz Gürchott (Prisma-Verlag). 100 Es geht um die Reaktivierung des Börsenvereins. Vorstand und Hauptausschuss tagten am 18. September. In: Börsenblatt (Leipzig) 120 (1953) 40, S. 834–836. 101 StA-L, Börsenverein II, 1483, Bl. 153–154: Entwurf. Arbeit des Börsenvereins in Bezirken und Kreisen.
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Seite und des privaten Sortiments auf der anderen.« Schließlich sei »in diesem Jahr das ALV in die Hauptverwaltung Verlagswesen (HV) des Ministeriums für Kultur umgewandelt (worden) mit neuer Zielsetzung und Aufgabenstellung«, sodass wir »Fragen der Zusammenarbeit in Richtung auf das niemals bestrittene Ziel der konkreten Absprache« führen können. Darum könne man jetzt in einer neuen Satzung zur alten Freiwilligkeit der Mitgliedschaft zurückkehren.102 Eine Kommission zur Überarbeitung der Satzung von 1952 wurde eingesetzt.103 Festgelegt wurde außerdem: Eine allgemeine Buchhändlerversammlung soll zur Leipziger Frühjahrs-, eine Hauptversammlung des Börsenvereins zur Herbstmesse 1957 in Leipzig stattfinden. Bis dahin werde die Erneuerung aller Gremien vollzogen und die Verbandsarbeit neu belebt sein.
Wiedererwachen des Vereinslebens Von 1953 an bemühten sich Vorstand und Hauptausschuss um Reaktivierung des Vereinslebens.104 Vorausgegangen waren personelle Veränderungen: 1952 hatte Karl Hagemann die Funktion des Ersten Stellvertreters des Vorstehers von Erich Wendt übernommen, der in das Amt des Kulturbund-Sekretärs wechselte. Zweiter Stellvertreter wurde mit Kurt Scharnhorst ein privater Buchhändler. Georg Engelmann105 übernahm das Amt des Schatzmeisters vom ausscheidenden Carl Leesch. Überraschend teilte auch Vorstandsmitglied Scharnhorst am 15. Oktober 1952 mit, dass er sich infolge fortgesetzter Benachteiligung des privaten Buchhandels sowohl durch die ›Zentralstelle für wissenschaftliche Literatur‹106 als auch durch LKG genötigt sehe, alle Ämter im Börsenverein niederzulegen.107 In einem 15-seitigen Schreiben an Vorsteher Heinrich Becker listete er die Missstände auf, »die einen Erfolg hinauszögern, wenn nicht ganz unmöglich machen.«108 Der bestürzte Vorsteher wollte das Schreiben allen Vorstandsmitgliedern
102 StA-L, Börsenverein II, 1629, Bl. 46 ff.: Niederschrift über die gemeinsame Sitzung von Vorstand und Hauptausschuss des Börsenvereins am 11./12. Dezember 1956. 103 Ihr gehörten an: Günter Hofé (Stellvertreter des Börsenvereinsvorstehers), Fritz Brilla (Zentrale Verwaltung Volksbuchhandel), Wilhelm Froese (Volksbuchhandlung ›Das gute Buch‹, Halle), Ludolf Koven (Leiter des Akademie-Verlags, Berlin und Vorstandsmitglied des Börsenvereins), Richard Junge (Ministerium für Kultur), Alfred Ernst (Geschäftsführer des Börsenvereins) und Dr. Max Freyer (Justitiar des Börsenvereins). 104 Es geht um die Reaktivierung des Börsenvereins. Vorstand und Hauptausschuss tagten am 18. September. In: Börsenblatt (Leipzig) 120 (1953) 40, S. 634–635. 105 Leiter des VEB Deutscher Verlag für Musik und des VEB Friedrich Hofmeister, beide in Leipzig. 106 Selbstständige Einrichtung des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen der DDR, 1953 bis 1958 an der Landesbibliothek Gotha, ab 1959 der Deutschen Staatsbibliothek angegliedert, zuständig für die zentrale Verteilung von Dubletten oder nicht genutzter Literatur unter den wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR. Friedrich Nestler in: Corsten/Pflug/ Schmidt-Künsemüller (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buchwesens. Bd. 8, S. 396. 107 StA-L, Börsenverein II, 1483, Bl. 31: Mitteilung von Heilmann über einen Anruf des Koll. Scharnhorst vom 15. 10. 1952. 108 StA-L, Börsenverein II, 1483, Bl. 58 ff.: Brief von Kurt Scharnhorst an den Vorsteher des Börsenvereins vom 1. 11. 1952.
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zuleiten, um darin aufgeführte Probleme regeln zu können.109 Der Vorsitzende des ALV, Fritz Apelt, der Scharnhorst erst vor einem halben Jahr zum Stellvertreter des Vorstehers berufen hatte, teilte jedoch nur knapp mit, dass er das Rücktrittsersuchen bestätige. Anfang 1954 bat auch Hagemann wegen Arbeitsüberlastung um Entpflichtung. An seine Stelle trat Günter Hofé, Leiter des der NDPD gehörenden Verlages der Nation, der diese Funktion bis 1983 bekleidete. Als neuer Börsenvereins-Geschäftsführer wurde Alfred Ernst bestätigt. Er löste Wolfgang Böhme ab, der, Chefredakteur des Börsenblatts, das Amt seit Ausscheiden Paul Heilmanns Ende 1952 kommissarisch verwaltet hatte. Neu gebildet wurden 1954 ein Verlegerausschuss (Vorsitz: Ludolf Koven, Leiter des Akademie-Verlages, Berlin), ein Ausschuss für Vertriebsfragen und Werbung (Vorsitz: Günter Berndt, Volksbuchhandel Magdeburg), ein Ausschuss für Musikalienverlag und -handel (Vorsitz: Arno Rammelt, Buch- und Musikalienhandlung Rammelt, Halle), für Antiquariat (Vorsitz: Karl Markert, Antiquariat Leipzig), für Schulungsfragen (Vorsitz: Rudolf Vogel, Schulungszentrum des Volksbuchhandels, Leipzig), für Bibliographie (Vorsitz: Wilhelm Froese, Volksbuchhandlung ›Das gute Buch‹, Halle), für Leihbüchereien (Vorsitz: Werner Eybel, Leihbücherei Eybel) sowie für gesamtdeutsche und Auslandsfragen (Vorsitz: Heinrich Becker).110 Hinzu kamen ein Rechtsausschuss und am 16. September 1952 ein Historischer Ausschuss,111 der aber nicht aktiv wurde. Erst 1957 griff die neu formierte Historische Kommission eine Anregung Karl Markerts auf, die Geschichte des deutschen Buchhandels von Kapp/Goldfriedrich bis in die Gegenwart fortzuschreiben. Dazu sollte ein spezielles ›Archiv des Buchhandels‹ im Leipziger Staatsarchiv eingerichtet werden.112 Restbestände der bei Zerstörung des Buchhändlerhauses 1943 zur Hälfte vernichteten Fachbibliothek und des Archivs des Börsenvereins übergab der Vorstand 1959 der Deutschen Bücherei, Leipzig, wo sie seit Kriegsende lagerten,113 um sie im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Forschung wieder zugänglich zu machen. Wie abhängig der Börsenverein von staatlichen Stellen war, zeigt die Aktennotiz zu einer Beratung zwischen dem Parteisekretär des ALB im MfK, Karlheinz Selle, und dem Geschäftsführer des Börsenvereins, Ernst Offermanns, wonach »Übereinstimmung
109 StA-L, Börsenverein II, 1483, Bl. 61: Brief von H. Becker an K. Scharnhorst vom 2. 11. 1952. 110 In den Verlegerausschuss wurden weiterhin berufen: Dr. Leiva Petersen (Herm. Böhlaus Nachf., Weimar), Lucie Groszer (Altberliner Verlag, Berlin), Fritz Schälicke (Dietz, Berlin), Günther Schmidt (Kinderbuchverlag, Berlin), Heinz Schöbel (Fachbuchverlag, Leipzig). Dem Ausschuss für Vertriebsfragen und Werbung gehörten an: Fritz Brilla (SED-Holding Druckerei- und Verlagskontor, Berlin), Edgar Heinritz (VVB Verlage, Leipzig), Otto Koppe (Robert Friese’sche Buchhandlung, Chemnitz), Kurt Horst (Volk und Wissen, Berlin), KurtOskar Wagner (Verlag Technik, Berlin). 111 Unter Vorsitz Beckers gehörten ihm an: H.A. Förster (Bibliographisches Institut, Leipzig), Otto Koppe (Robert Friese’sche Buchhandlung, Chemnitz), Karl Markert (Antiquariat, Leipzig), Wilhelm Schweitzer (Schweitzer’sche Buchhandlung, Dresden). 112 StA-L, 21766 BVII 1149, Bl. 6: Schreiben der Geschäftsstelle des BV an HA Literatur und Buchwesen. 113 StA-L, Börsenverein II, 1485, Bl. 210: Vertrag zwischen der Deutschen Bücherei und dem Börsenverein.
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erzielt [wurde], dass die Geschäftsleitung des Börsenvereins […] alle zu regelnden Probleme der Tätigkeit des Börsenvereins direkt mit dem Leiter der Abteilung Literatur und Buchwesen bespricht […]«.114 Selbst vorgeschlagene Vorsitzende für die oben angeführten Ausschüsse mussten vorher bestätigt werden. Am 28. April 1956 teilte die Geschäftsstelle des Börsenvereins auf Anfrage dem Volkspolizei-Kreisamt Leipzig mit, dass ihm z. Zt. 3.925 Mitglieder aus der DDR angehören, während die Mitgliedschaft westdeutscher Buchhändler durch die Währungsreform 1948 erloschen sei.115 Die Mitgliederbewegung war allzeit heftig. Nach Rückkehr zu freiwilliger Personen- und Firmenmitgliedschaft 1955 gehörten dem Börsenverein neben 80 Verlagen immerhin noch 3.758 Betriebe des vertreibenden Buchhandels an, darunter 630 Volksbuchhandlungen.116 Der Volksbuchhandel hatte sich 1955, nach wiederholter Mahnung, entschlossen, dem Börsenverein beizutreten. Nachdem 1950 und 1953 »die meisten Ausschüsse des Börsenvereins nicht gearbeitet«117 hatten, kam von 1954 an die Ausschussarbeit wieder in Gang: Der Verlegerausschuss befasste sich u. a. mit deutsch-deutschem Urheberrecht, der Zusammenarbeit mit dem neu geschaffenen Büro für Urheberrechte118 und mit einem Normvertrag für Übersetzer. Der Ausschuss für Vertriebsfragen und Werbung, bald wieder getrennt in Sortimenter- sowie Presse- und Werbe-Ausschuss, debattierte die Verkehrs- und Verkaufsordnung, überarbeitete die ›Verordnung über Zulassung, Führung und Übernahme buchhändlerischer Betriebe‹ und befasste sich mit Preis- und Kreditfragen. Der Ausschuss für Schulungsfragen arbeitete an einem neuen Berufsbild, das 1956 als ›Ausbildungsunterlage Buchhändler‹ für verbindlich erklärt wurde. Der Ausschuss für Bibliographie erstellte eine ›Einheitliche Systematik für Verlagserzeugnisse‹ zur Anwendung im Buchhandel und in der Deutschen Nationalbibliographie. Der Ausschuss für Leihbüchereien bereitete eine Vereinbarung über ›Anleitung und Kontrolle gewerblicher Leihbüchereien‹ vor, die 1955 mit dem MfK abgeschlossen wurde. Der Antiquariatsausschuss beschäftigte sich mit Zulassungsbedingungen zum Antiquariatsbuchhandel usw. Das Börsenblatt berichtete ausführlich. Seit 1958 gab es eine ›Beirat‹ genannte eigene Kommission für die Verbandszeitschrift.
114 StA-L, Börsenverein II, 1618, Bl. 67: Aktennotiz über die Beratung zwischen Koll. Selle und Koll. Offermanns am 17. 8. 1959. 115 StA-L, Börsenverein II, 1496, Bl. 114: Geschäftsstelle an VPKA Leipzig am 28. April 1956. 116 StA-L, 21766 BVII 1617, Bl. 80: Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses vom 8. Jan. 1955. 117 StA-L, Börsenverein II, 1485, Bl. 182: Material zum Bericht des Vorstehers auf der gemeinsamen Sitzung von Vorstand und Hauptausschuss am 11. 12. 1956. 118 1956 in Berlin gegründete Einrichtung, die jegliche Veröffentlichung außerhalb der DDR zu genehmigen hatte. 1966 wurde in der »Anordnung über die Wahrung der Urheberrechte durch das Büro für Urheberrechte« [Gesetzblatt II Berlin (1966)21] die Vergabe urheberrechtlicher Nutzungsbefugnisse an Vertragspartner außerhalb der DDR verschärft, ab 1974 mit dem Devisengesetz verbunden, wonach Honorare aus dem nichtsozialistischen Währungsgebiet (NSW) nicht mehr direkt ausgezahlt werden durften, und 1979 durch weitere Verschärfung des § 219 des DDR-Strafgesetzbuches quasi völlig unterbunden. Siehe auch Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 40–41.
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In Verbindung mit Förderung der Buchkunst entfaltete der Börsenverein international anerkannte Aktivitäten: Die seit 1952 wieder alljährlich gekürten Schönsten Bücher aus DDR-Produktion wurden erstmals in mehreren westdeutschen Städten und in London ausgestellt. Auf der 2. Hauptversammlung des Leipziger Börsenvereins am 5. März 1958 konnte der Geschäftsführer wieder einen respektablen Tätigkeitsbericht vorlegen.
Aufbruch Es war zu merken: Im Gerichtsweg steuerte der neu ernannte Geschäftsführer einen neuen Kurs mit Rückenwind aus der 1956 gebildeten Hauptverwaltung Verlagswesen (HVW). Seit Juli 1956 befasste sich der Vorstand auch mit der Zukunft des Vereins. Nachdem »Differenzen über die Aufgaben des Börsenvereins innerhalb des Buchhandels sowie zwischen buchhändlerischen Institutionen und Regierungsstellen […] geklärt werden konnten«, könne er sich jetzt »darum bemühen, in internationalen Buchhandelsorganisationen vertreten zu sein«.119 Der Vorstand steuerte Konsensfelder künftigen Wirkens an, die wichtig werden sollten – – –
für ein neues Selbstverständnis des Börsenvereins, für Qualität und Exportfähigkeit der Buchproduktion der DDR, für Zusammenarbeit mit Verleger- und Buchhandelsverbänden weltweit.
Internationale Kontakte sollten eine Außenpolitik unterstützen, die sich verstärkt um internationale Anerkennung bemühte, die der DDR lange durch die bundesrepublikanische Hallstein-Doktrin120 verwehrt blieb. Formale Re-Demokratisierung der Organisation des Börsenvereins durch neuerliche Satzungsänderung sollte die Wende zu eigenem Profil fördern. Mit der »seit längerer Zeit ersten gemeinsamen Versammlung des Börsenvereins« am 6. März 1957, traditionsgemäß während der Leipziger Frühjahrsmesse, an der über 400 Mitglieder teilnahmen, begann eine öffentliche Diskussion über den Satzungsentwurf sowie über Aufgaben und Stellung des Börsenvereins. Vorangegangen war die Stabilisierung seines Haushalts sowohl durch Vereinbarungen mit den Industrie- und Handelskammern über den verminderten Beitragssatz als auch dank Zusicherung der Zentralen Verwaltung des Volksbuchhandels, dass seine Betriebe wieder aktiv im Börsenverein mitwirken und Beiträge zahlen werden. Mit der dadurch steigenden Summe an Mitgliedsbeiträgen konnte der Börsenverein sein finanzielles Fundament stabilisieren.
119 Wolfgang Böhme: Keine Differenzen in den prinzipiellen Fragen buchhändlerischer Arbeit. In: Börsenblatt (Leipzig) 123 (1956) 52, S. 803–806. 120 Eine nach dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, benannte Doktrin der Bundesrepublik Deutschland, die entsprechend dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik besagte, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR als ›unfreundlicher‹ Akt gegenüber der Bundesrepublik betrachtet werden müsse. Sie galt von 1955 bis 1969. Erst die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt gab sie auf.
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»Es gab nie einen Stopp in der Arbeit des Börsenvereins«, behauptete Günter Hofé, Stellvertreter des Vorstehers, auf der Zusammenkunft im März 1957. Was er in seinem Bericht vernebelte, der Bautzener Buchhändler Rudolf Kretzschmar sprach es aus: Der Börsenverein hat nicht so gearbeitet, wie wir das […] verlangt haben. […] wir haben immer gesagt, daß wir mitarbeiten wollen. Wir sind nicht zugelassen worden. […] Wenn […] der Börsenverein im Westen und im Ausland nicht ganz die erhoffte Resonanz gefunden hat, so ist das […] mit darauf zurückzuführen, daß die andere Welt sagt: »Seid Ihr überhaupt legitimiert? Ihr habt Euch doch alle immer bloß gegenseitig ernannt und berufen! Ihr habt kein Mandat!« Das war die Klage des verstorbenen Kollegen Scharnhorst, daß er sagte: »Ich habe so viel für das Sortiment durchzubringen versucht, aber ich wurde abgeschoben und 121 wieder berufen«.
Seit 1948 war nie wieder so offen Kritik geäußert worden. Doch auch sie verhallte weitgehend folgenlos. In Vorbereitung der neuen Satzung fand am 20. August 1957 eine gemeinsame Sitzung von Vorstand und Hauptausschuss des Börsenvereins statt, auf der Vorsteher Becker die plötzlich wieder aufflammende alte Frage entschieden zurückwies, der Börsenverein müsse vor allem auf Ausgleich zwischen divergierenden Interessen der in ihm vereinten Sparten bedacht sein. Becker hielt diese Problematik für völlig überholt und betonte einmal mehr, dass der Börsenverein seit 1945 kein Unternehmerverein mehr sei, sondern ein Verband, der die »Gesamtinteressen des Berufsstandes gegenüber dem Staat« zu vertreten hat. »Spannungsmomente werden nicht mehr wie früher ausgetragen, sondern [müssten] unter dem Gesichtspunkt unserer Arbeit ›Aufbau des Sozialismus‹ gesehen werden.«122 Dafür, dass jede Gruppe des Buchhandels ihre spezifischen Aufgaben erfüllen kann, muss die erneuerte Satzung bessere Voraussetzungen schaffen. Sie soll dazu beitragen, den Börsenverein durch Aktivierung seiner Mitglieder nach innen zu stärken, um ihn nach außen wirksamer zu machen in einer Zeit internationaler Öffnung. Im gleichen Jahr fand auf Initiative der HVW vom 7. bis 15. April 1957 die 1. Konferenz des Verlagswesens der sozialistischen Länder in Leipzig-Markkleeberg123 statt, vollzog sich die deutsch-deutsche Wiederannäherung der beiden Vereine und bereitete der Leipziger Börsenverein Buchausstellungen im Ausland vor. Zum Satzungsentwurf gab es zahlreiche Vorschläge und manche Einwände. Energisch wandte sich Vorsteher Becker gegen »Ansichten einiger Buchhändler [...], die der Hauptversammlung den Charakter eines Parlaments westlicher Prägung geben möchten«.124 Das generelle Prinzip des ›demokratischen Zentralismus‹ durfte zwar kosmetisch operiert, nicht aber demontiert werden!
121 StA-L, Börsenverein II, 1428, Bl. 42–105: Stenograph. Protokoll der Allgemeinen Buchhändler-Versammlung am 6. 3. 1857. 122 StA-L, 21766 BVII 1498, Bl. 18: Protokoll der gemeinsamen Sitzung von Vorstand und Hauptausschuss am 20. 8. 1957. 123 Seit 1972 berieten Vertreter der leitenden Organe des Verlagswesens sozialistischer Länder regelmäßig in verschiedenen Hauptstädten über politisch-ideologische Grundfragen der Zeit und ihre Auswirkungen auf Verlagsarbeit und Buchvertrieb. 124 Entwurf Satzung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig e.V. In: Börsenblatt (Leipzig) 124 (1957) 34, S. 557–560.
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Die neue Satzung kehrte zurück zu freiwilliger Mitgliedschaft (§ 2), mehr Eigenständigkeit und ein wenig mehr Verbandsdemokratie, indem sie neben Hauptversammlung, Hauptausschuss und Vorstand auch Verleger-, Sortimenter- und Antiquariatsausschuss sowie Ausschuss für Musikalienverlag und -handel sowie eine Revisionskommission zu Organen des Vereins (§ 9) erklärte, die nicht mehr kraft Auftrags, sondern selbstständig operieren und gewählt werden können. Die Hauptversammlung durfte alle 25 Mitglieder des Hauptausschusses wählen und der Hauptausschuss den siebenköpfigen Vorstand, dem auch der Geschäftsführer angehören sollte. Hauptversammlungen würden alle drei Jahre, Mitgliederversammlungen jährlich stattfinden, auf denen bei Bedarf Ausschüsse gewählt werden können. Scharf wandte sich Becker selbst gegen leiseste Kritik: Wir sind nicht der Meinung, [...] es gäbe in unseren Kreisen gar keine andere Meinung mehr, als unsere sozialistische. [...] Wir sind aber der Meinung, [...] daß die Gesamtentwicklung des Buchhandels [...] an einem Punkt angekommen ist, wo die Hauptversammlung zu [...] prinzipiellen Fragen Stellung nehmen, und daß diese Stellungnahme in den verschiedenen 125 Ausschüssen [...] ihre entsprechende Verwirklichung finden soll.
Seine Kritik stützte sich auf die von ihm aktiv mit betriebene funktionale Veränderung des Börsenvereins. Sie sei in vier Etappen erfolgt: »Früher: Vertretung wirtschaftlicher Interessen; 1946: Zusammenschluss aller buchhändlerischen Kräfte zur kulturpolitischen Arbeit; 1952: Einfügung des Buchhandels in den gesamten Kulturaufbau; und nun: Ideologische Offensive und Dezentralisierung.« Diese letzte Phase habe »mit den klaren Feststellungen des 32. Plenums des Zentralkomitees der SED« eingesetzt, »worin […] die Ausbreitung des fortschrittlichen Bewußtseins in unserer Bevölkerung […] so deutlich wird, dass die weitgehende Verlagerung der Funktionen von den zentralen zu den örtlichen, zu den territorialen Dienststellen« erfolgen könne. Nicht revidiert wurde die lediglich beratende Funktion des Börsenvereins. Nach wie vor lag das Entscheidungsrecht allein bei den staatlichen Organen bzw. den Gremien der ›führenden‹ SED! Aber Verjüngung und veränderte soziale Zusammensetzung der Mitgliedschaft sowie geschickte Abstimmungsregie ließen immerhin eine relative Demokratisierung innerhalb bestehender Vereinsstrukturen zu. Sie sollten den demokratischen Gepflogenheiten internationaler Verbände entsprechen, mit denen man verstärkt zusammenarbeiten wollte. Nicht allein stärkere Einbeziehung der Buchhändler in Bezirken und Kreisen, vor allem die Durchführung von »Urwahlen« durch die Hauptversammlung und die Aufhebung der Pflichtmitgliedschaft zugunsten freiwilliger individueller Mitgliedschaft waren von ausschlaggebender Bedeutung.126 Die neue Satzung bestimmte: Mitgliedschaft im Börsenverein sollten alle »Personen erwerben können, die Eigentümer buchhändlerischer Betriebsstätten im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik oder in Groß-Berlin (demokratischer Sektor) sind oder solche verantwortlich leiten« (§ 2,1). Es konnten auch Personen Mitglied werden, die sich »mit dem Verlag, dem Vertrieb, der Vermittlung oder dem Verleih von Gegenstän-
125 Die neue Satzung entspricht der Forderung des Tages. In: Börsenblatt (Leipzig) 124 (1957) 37, S. 602. 126 Heinrich Becker: Die Entwicklung des Börsenvereins im Spiegel seiner Satzungen seit 1945. In: Börsenblatt (Leipzig) 124 (1957) 37, S. 599–602.
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den des Buchhandels befassen oder der Förderung des Buchhandels dienen« (§ 2,2). Nicht mehr nur ›Personalverband‹, verschämt wollte der Börsenverein wieder ›Unternehmerverein‹ werden, freilich – nach offiziellem Verständnis – ein sozialistischer! Erst das Statut von 1967 sollte wieder ganz zu institutioneller Mitgliedschaft übergehen, die im Grunde längst praktiziert wurde. Als Aufgaben wurden bestimmt: 1. Zusammenfassung der im Buchhandel (Verlag, Sortiment usw.) [...] tätigen Kräfte zur Förderung ihrer gemeinsamen Anliegen (§ 1,b); 2. Aufklärung über die Bedeutung des Buches in der Öffentlichkeit; 3. Pflege des Verkehrs mit den Volksvertretungen und ihren Organen, mit Kulturorganisationen und staatlichen Stellen; 4. Zusammenarbeit mit anderen Buchhandelsorganisationen außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik und internationalen Buchhandelsorganisationen; 5. Förderung der Theorie und Praxis des Buchhandels; 6. Beratung der Mitglieder in allen fachlichen Angelegenheiten [...] sowie die Anregung zweckmäßiger Verkehrsformen im Buchhandel; 7. Förderung der Ausbildung des buchhändlerischen Nachwuchses und der Weiterbildung der Buchhändler; 127 8. Herausgabe von buchhändlerischen Veröffentlichungen.
Die neue Satzung wurde am 4. September 1957 von der Hauptversammlung angenommen und kurz darauf vom MfK bestätigt. Sie trat ab 1. Januar 1958 in Kraft und galt fast zehn Jahre. Der Börsenverein, lange argwöhnisch beäugt, hatte seinen Platz in der als ›Kulturaufbau‹ bezeichneten Erziehungsdiktatur DDR ein- und angenommen. Nun konnte er unter neuer Führungsmannschaft Spielräume für eigenständiges Wirken suchen.
Eine neue ›Mannschaft‹ Die Atmosphäre im Leipziger Ballhaus ›Felsenkeller‹ war festlich, mehr noch: gespannt. Über 400 Verleger und Buchhändler aus allen Bezirken der DDR waren am 4. September 1957 zur ersten Hauptversammlung nach Kriegsende zusammengekommen. Ein großer Tag? Vielleicht. Eine Zäsur in der Vereinsgeschichte? Bestimmt. Es war jedoch nicht die erste Versammlung dieser Art in diesem Lokal. Hier war es schon am 6. März hochhergegangen bei der Debatte des Entwurfs der neuen Satzung. Auch diesmal gab es kontroverse Diskussionen, ehe dieser Entwurf einstimmig angenommen wurde. Börsenvereinsvorsteher Becker stellte die neue Satzung in den Kontext der Vereinsentwicklung seit 1945. Er betonte in seiner Rede noch einmal, dass Demokratisierung im sozialistischen Sinn »nicht [...] formale Demokratie [meint], in der wir über diese oder jene Frage plenar abstimmen«. Und Fritz Brilla, Mitverfasser des Entwurfs, sekundierte: Die Anwendung demokratischer Prinzipien dürfe im Börsenverein nicht anders aussehen als in der Gesellschaft. Unverändert bleibe, dass der Verein nur eine beratende
127 Entwurf einer Satzung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig e.V. In: Börsenblatt (Leipzig) 124 (1957) 34, Beilage.
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Funktion habe gegenüber der entscheidenden des Staatsapparates.128 Die Gegensätze zwischen den Vertretern volkseigener Verlage und des Volksbuchhandels einerseits und privaten Unternehmern andererseits waren allenfalls überdeckt, nicht überwunden. Der Riss war noch zu spüren, der seit 1945 durch die Gesellschaft in der SBZ/DDR ging.
Auf neuen Wegen? Am 5. März 1958 strömten wieder Verleger und Buchhändler in den ›Felsenkeller‹ – zur zweiten satzungsgemäßen Hauptversammlung. Die Debatte über die Zukunft des Börsenvereins in einer sogenannten sozialistischen DDR, fast auf den Tag genau im Jahr zuvor begonnen, fand ihre Zuspitzung, als es an die Wahl der Vereinsgremien ging. Klaus Gysi,129 der Walter Janka als Leiter des Aufbau-Verlages abgelöst hatte, konterte schon leiseste Kritik mit ungewöhnlich scharfen Worten: Ob etwas für uns demokratisch ist, hängt nur davon ab, ob es der Entwicklung unserer sozialistischen Demokratie dient! [...] Wir wollen auch ganz offen erklären: Bei allen Menschen, die wir für verantwortliche Funktionen vorschlagen, ist für uns ganz selbstverständlich 130 auch die Frage der persönlichen politischen Garantie entscheidend.
Nach dem 1956 niedergeworfenen Volksaufstand in Ungarn wehte der Wind wieder eisig! Dem ersten gewählten, nicht mehr berufenen Hauptausschuss gehörten an: Heinrich Becker (VEB Bibliographisches Institut, Leipzig), Günter Berndt (Volksbuchhandel Dresden), Kurt Bock (Buchhandlung Genth, Leipzig), Fritz Brilla (Zentrale Verwaltung Volksbuchhandel, Leipzig), Lucie Groszer (Altberliner Verlag, Berlin), Otto Gründer (Buchhandlung Neustrelitz), Klaus Gysi (Aufbau-Verlag, Berlin), Otto Harrendorf (Versandbuchhandel der DDR, Leipzig), Günter Hofé (Verlag der Nation, Berlin), Hans Holm (Urania-Verlag, Leipzig), Richard Köhler (Insel-Verlag, Leipzig), Ludolf Koven (Akademie-Verlag, Berlin), Else Manske-Krausz (Druckerei- und Verlagskontor, Berlin), Karl Markert (Antiquariat, Leipzig), Ernst Nitzsche (Deutscher Buchexport, Leipzig), Dr. Leiva Petersen (Herm. Böhlauʼs Nachf., Weimar), Arno Rammelt (Buch- und Musikalienhandlung Rammelt, Halle), Fritz Schälicke (Dietz Verlag, Berlin), Rudolf Schmalz (Das gute Buch, Halle), Fritz Schrader (Wilhelm Schweitzers Buchhandlung, Dresden), Erich Tamm (Berliner Buchhandelsgesellschaft), Rudolf Vogel (Schulungszentrum des Volksbuchhandels, Leipzig), Kurt Zimmermann (Huchʼs Buchhandlung, Zeitz). Am 26. März 1958 wählte der Hauptausschuss den Vorstand für die Jahre 1958 bis 1961: Heinrich Becker blieb Vorsteher, Günter Hofé sein 1. Stellvertreter, Ludolf Koven wurde 2. Stellvertreter, Otto Harrendorf übernahm die Finanzen. Vorstandsmitglieder ohne Geschäftsbereich wurden Arno Rammelt, Erich Tamm und Kurt Zimmermann. Ebenfalls formierten sich neu der Verlegerausschuss unter Ludolf Koven, der Sortimen-
128 Die neue Satzung entspricht der Forderung des Tages. In: Börsenblatt (Leipzig) 124 (1957) 37, S. 602–603. 129 Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR?, S. 464. 130 Klaus Gysi: Wir denken nicht nur an heute, wir denken an morgen! In: Börsenblatt (Leipzig) 125 (1958) 15, S. 231–234.
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terausschuss unter Hellmut Dietzel (Universitätsbuchhandlung, Berlin), der Ausschuss für Musikalienverlag und -handlung unter Arno Rammelt sowie die Kommission für Auslandsarbeit unter Klaus Gysi. Am 1. Juli 1957 löste Walter Richter den langjährigen Chefredakteur des Börsenblatts Wolfgang Böhme ab. Unter dem Verdacht nachrichtendienstlicher Tätigkeit wurde auf dem Wege zur Frankfurter Buchmesse der Stellvertreter des Vorstehers des Leipziger Börsenvereins, Leiter des Verlages der Nation und Autor Günter Hofé plötzlich verhaftet, was handfesten Skandal auslöste.131 Klaus Gysi wandte sich im Namen des Leipziger Vorstehers empört an den Vorsteher des westdeutschen Börsenvereins, Friedrich Wittig. Neben der Empörung aber betonte er, dass »wir uns trotz allem entschlossen (haben), unsere Stände auf der Messe ordnungsgemäß zu eröffnen – auch den unbesetzten Stand des Verlages der Nation. Wir haben es getan, weil wir vernünftige und sachliche Beziehungen zwischen den Verlegern genau wie solche Beziehungen zwischen den Börsenvereinen der beiden deutschen Staaten für außerordentlich wichtig in beiderseitigem Interesse halten.«132
Präzisierte Ziele Auf der 2. Hauptversammlung im März 1958 hatte Heinrich Becker wieder einmal über »Unsere Aufgabe« gesprochen.133 Interne Diskussionen, die Umbildung staatlicher Verwaltungen und eine nach wie vor schwierige Partnerschaft mit staatlichen Stellen erforderten Präzisierung der Vereinsziele. Der Vorstand beauftragte eine Kommission mit Ausarbeitung einer Grundsatzerklärung. Anlass bot Verstimmung zwischen Börsenvereinsvorstand und ALB. Die hatte über Teilnehmer an der Frankfurter Buchmesse entschieden, ohne Vorschläge des Börsenvereins zu berücksichtigen. Der Vorstand sah sich übergangen. Sein Mitglied Erich Tamm erklärte: »Es geht nicht um die Frankfurter Buchmesse, sondern um die Stellung des Börsenvereins«.134 Der Vorstand wandte sich an Erich Wendt, ehemals Verleger und Vorstandsmitglied im Börsenverein, seit 1957 Stellvertreter des Ministers für Kultur, und bat um ein Gespräch zur Klärung einiger grundsätzlicher Fragen: 1. Welche zentrale Stelle im Gefüge des Ministeriums für Kultur leitet den Börsenverein an? 2. Wie weit wird der Börsenverein bei Beratungen dem (!) gesamten Buchhandel betreffender Fragen eingeschaltet? 3. Wie wird der Börsenverein mit seinen Ausschüssen und Kommissionen in die Durchfüh135 rung der den ganzen Buchhandel betreffenden Maßnahmen einbezogen?
Das Gespräch fand am 19. September 1958 in Berlin statt. Neben Ludolf Koven, Klaus Gysi und Alfred Ernst vom Börsenverein nahmen daran auch Vertreter der Abteilung
131 StA-L, Börsenverein II, 2129, Bl. 18: Ein Plakat forderte ›Freiheit für Günter Hofé‹. 132 StA-L, Börsenverein II, 2129, Bl. 18–20: Klaus Gysi an den Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. Herrn Wittig am 3. Oktober 1963. 133 Heinrich Becker: Unsere Aufgabe. In: Börsenblatt (Leipzig) 125 (1958) 14, S. 210–211. 134 StA-L, 21755 BV II 1149, Bl. 12: Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes am 20. Mai 1958. 135 StA-L, Börsenverein II, 1149, Bl. 18: Schreiben an Minister Erich Wendt vom 4. Juni 1958.
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Kultur des ZK der SED und der ALB teil. Die Aussprache beendete einen »ungewissen Zustand, da die Kompetenzen der einzelnen Organe nicht mehr ganz klar waren«.136 Wendt bestätigte die in einer – zuvor mit der HA Literatur und Buchwesen des MfK und dem Sektor Verlagswesen im ZK der SED abgestimmten − Grundsatzerklärung zusammengefassten Ziele und Aufgaben des Börsenvereins. Ausdrücklich wiederholte er: 1. dass der Börsenverein nur beratende, keine exekutive Kompetenz habe und 2. dass seine Funktionen »keine rein fachlichen Funktionen sind, sondern gleichzeitig politische, gesellschaftliche und erzieherische«.137 Immerhin sollten staatliche Organe künftig bei Entscheidungen über den Buchhandel den Börsenverein hinzuziehen.138 Eine merkwürdige Mischung aus gestärktem Selbstbewusstsein und ratloser Selbstbehauptung offenbart die Forderung, mit der ein verabschiedetes Grundsatzpapier begann: »Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig ist zur Lösung und Durchführung aller auf dem Gebiete des Buchwesens gestellten Aufgaben und Maßnahmen heranzuziehen.« Neben ideologisch-politischer Mobilisierung privater Mitglieder wurden als Schwerpunktaufgaben aufgeführt: Auslandsarbeit, Presse- und Werbearbeit für das Buch, Schaffung eines Zentralarchivs des Buchhandels und Förderung der Herausgabe von Literatur über das Buchwesen sowie Aus- und Weiterbildung in Verlagswesen und Buchhandel.139 Noch 1961 sah der Hauptausschuss in Bezug auf künftige Aufgaben, »die unbedingte Notwendigkeit, das Vertrauensverhältnis innerhalb des gesamten Buchhandels zu festigen«, das, was den privaten Buchhandel angeht, immer noch gestört war.140 Öffentlichkeitsarbeit für das Buch nach innen wie außen, Buchmessen, Buchwochen, Ausstellungen, Publikationen sowie Ausbau von Kontakten nach Ost wie West – damit fand der Leipziger Börsenverein ein Wirkungsfeld, auf dem er seit Ende der 1950er Jahre Achtungserfolge erzielen konnte: Gemeinsam mit dem Deutschen BuchExport und -Import,141 dessen Gesellschafter er 1965 wurde, erschloss er Devisen-Märkte; dazu nutzte er Personen und Institutionen, Leistungen und Traditionen Leipziger Buchkunst, deren Pflege der Börsenverein zu seinem Hauptanliegen machte.
Förderung der Buchkunsttradition Der Potsdamer Drucker und Verleger Eduard Stichnote hatte schon 1947 angeregt, wieder ›Schönste Bücher des Jahres‹ aus ganz Deutschland in Leipzig zu prämiieren. 1949
136 StA-L, Börsenverein II, 1149, Bl. 97: Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses am 17. Okt. 1958. 137 StA-L, Börsenverein II, 1628, Bl. 51–53: Niederschrift über das Gespräch mit Minister Wendt am 19. September 1958. 138 StA-L, Börsenverein II, 1606, Bl. 6: Beschlussprotokoll der Sitzung des Hauptausschusses am 17. Oktober 1958. 139 StA-L, Börsenverein II, 1616, Bl. 9: Beschlussprotokoll Vorstands- und HauptausschussSitzung vom 12. Dezember 1957. 140 StA-L, Börsenverein II, 1610, Bl. 38: Beschlusszusammenfassung der HauptausschussSitzung des Börsenvereins vom 16. Juni 1961. 141 1953 in Leipzig gegründeter zentraler Außenhandelsbetrieb für Ex- und Import von Büchern und anderen Druckerzeugnissen.
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veröffentlichten die Börsenblätter in Leipzig und Frankfurt einen entsprechenden Aufruf. Der Versuch scheiterte an der Abgrenzungspolitik hüben wie drüben. Ab 1952 fand der jährliche Wettbewerb in beiden deutschen Staaten getrennt statt. ›Schönste Bücher der DDR‹ wurden erstmals auf der 2. Verlegerkonferenz des ALV 1952 ausgezeichnet. In der Jury war auch der Börsenverein vertreten. Damit hatte er eine Nische gefunden, in der er sich – wie viele seiner Mitglieder – nützlich machen und abseits ideologisch-politischer Einreden einrichten konnte. Die Idee, wieder Internationale Buchkunst-Ausstellungen (iba) zu veranstalten, geht auf Albert Kapr zurück, den Gründer des Instituts für Buchgestaltung und zeitweiligen Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig.142 Dank der Fürsprache vor allem tschechischer Delegierter auf der Konferenz des Verlagswesens sozialistischer Länder in Leipzig-Markkleeberg konnte der damalige Minister für Kultur, Alexander Abusch, nach zweijähriger Vorbereitung am 1. August 1959 die erste iba nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnen.143 Damit nahm der Börsenverein eine Tradition auf, die 1914 mit der BUGRA und 1927 mit der iba durch Walter Tiemann144 begründet, jedoch durch Nazizeit und Krieg unterbrochen worden war. 1959 stiftete die Stadt Leipzig den Gutenberg-Preis, der bis 1989 jährlich, seit 1990 im Wechsel mit der Stadt Mainz alle zwei Jahre vergeben wird. Um »sozialistische Buchkunst« zu fördern, wurde beim Börsenverein eine eigene Stelle geschaffen. Damit wurde der Börsenverein verantwortlich für die Organisation der Jury-Arbeit zur Auszeichnung der ›Schönsten Bücher der DDR‹ und der iba, die mit künstlerischen und buchwissenschaftlichen Begleitprogrammen 1959, 1965, 1971, 1977, 1982 und 1989 stattfand. In den Zwischenzeiten zeigt der Börsenverein von 1963 bis heute zu den Leipziger Buchmessen die mit einem Wettbewerb und Auszeichnung mit der ›goldenen Letter‹ verbundene Ausstellung ›Schönste Bücher aus aller Welt‹. Mit diesen neuen Arbeitsschwerpunkten gewann der Leipziger Börsenverein internationales Ansehen, was wiederum der Leipziger Buchmesse zugutekam. Durch die Ausstellungen ›Schönste Bücher‹ nicht nur in Leipzig, sondern auch auf internationalen Messen wurden Kontakte zu Buchhändler- und Verlegerverbänden in westlichen Ländern geknüpft. 1959 zeigte der Börsenverein Buchausstelllungen in der National Book League, London, ein Jahr später in der Königlichen Bibliothek Stockholm.
Die bleierne Zeit (1961–1970) Zwischen Beharrung und Aufbruch Aus politischem, mehr noch wirtschaftlichem Interesse war der Börsenverein-Ost stets um sachliche Beziehungen zum Börsenverein-West bemüht. Verstohlen blickte Leipzig immer nach Frankfurt! Im Leipziger Börsenverein kümmerten sich
142 Hübscher, Annemarie: Kapr. In: Bähring/Rüddiger: Lexikon Buchstadt Leipzig, S. 145–146. 143 Funke/Klitzke: 50 Jahre Internationale Buchkunst-Ausstellungen in Leipzig. 144 Walter Tiemann (1876–1951), namhafter Schrift- und Buchgestalter, Illustrator, Theoretiker der Buchkunst, 1920–1940 und 1945–1946 Direktor der heutigen Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig.
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ab 1950 ein Ausschuss für innerdeutsche und Außenhandelsfragen um Warenaustausch, der Vorstand um Alteigentum und Verbandsbeziehungen, seit 1952 eine Kommission für gesamtdeutsche und internationale Fragen um Beteiligung an der Frankfurter Buchmesse, um Buchausstellungen usw.
Mehr als zeitweilige Verstimmungen politischer Natur belasteten Grundsatz- und vermögensrechtliche Fragen die nie ganz abgerissenen Familienbande zwischen beiden Vereinen. Anfang der 1950er Jahre wurden alle Kontakte eingefroren – Folge der Verstaatlichung von Verlagen, deren Inhaber nach Übersiedelung in die Bundesrepublik Eigentums- und Namensrechte beanspruchten, weshalb sie die Teilnahme gleichnamiger Verlagshäuser aus der DDR an Frankfurter Buchmessen bis 1958 verhinderten.145 1957 setzte in dieser schwierigen Beziehung Tauwetter ein: Bemühungen des Leipziger Börsenvereins um Wiederbelebung der Beziehungen zum Frankfurter Verein wurden erleichtert durch eine neue Deutschland-Politik der SED, die weniger auf politische Vereinnahmung, mehr auf wirtschaftliche Zusammenarbeit setzte. Ein Wandel, der einer bis 1961 auf 420 Mio. Valuta-Mark angewachsenen Verschuldung zu verdanken war. Anders als sein Vorgänger Dr. Arthur Georgi ging Reinhart Jaspert, ab 1957 Vorsteher des Frankfurter Börsenvereins, auf Gesprächsangebote aus Leipzig ein. Im Wege stand immer noch die ungelöste Frage des Altvermögens (rd. 450.000 DM). 1956, ein Jahr nach seiner offiziellen Konstituierung, hatte der Frankfurter Börsenverein beim Landgericht München beantragt, ihm das Altvermögen in der Bundesrepublik zu übertragen, nachdem er durch das Bonner Innenministerium als Rechtsnachfolger des alten Vereins anerkannt worden war. Der Leipziger Börsenverein stützte seinen Anspruch auf Altvermögen auf die ihm schon 1947 bescheinigte Funktionskontinuität. Sein Vorschlag gemeinsamer treuhänderischer Verwaltung des umstrittenen Vereinsvermögens bis zu einer Wiedervereinigung war von Dr. Georgi abgelehnt worden. Da zu erwarten war, dass das Münchener Landgericht die Leipziger Rechtsposition nicht akzeptieren werde, schlug der Leipziger Verein Vergleichsverhandlungen vor. Am 26. Juni 1957 traf sich Jaspert mit Hofé und Lucie Groszer146 in Berlin zu einem Gespräch über »Probleme, die den Frankfurter Börsenverein in Bezug auf Leipzig am stärksten bewegen«.147 Jaspert schlug vor, den Streit um Besitzrechte am Haus Weinstraße in München durch dessen Verkauf und Teilung des Ertrags (rd. 386.457 DM) zu zwei Dritteln für Frankfurt und einem Drittel für Leipzig beizulegen, die Erholungsheime in Oberstdorf (Einheitswert 31.800 DM) und Lauenstein (Einheitswert 24.600 DM) in Besitz des Vereins zu übertragen, auf dessen Territorium sie liegen. Ministerium für Kultur und Ministerium der Finanzen in der DDR stimmten zu, »um unter allen Umständen negativ ausfallenden richterlichen Entscheidungen« in einem vom Frankfurter Verein angedrohten Verfahren »zu entgehen«. Ein Vertrag über Vermögensregelung zwi-
145 StA-L, Börsenverein II, 1618, Bl. 23: Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses am 26. März 1968. 146 Damals Vorsitzende der Berliner Buchhändler-Vereinigung. 147 StA-L, Börsenverein II, 1426, Bl. 1: Aktennotiz über Besprechung mit dem Vorsteher des Frankfurter Börsenvereins am 26. Juni 1957.
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schen beiden Vereinen kam zustande und wurde am 17. März 1958 in Frankfurt am Main unterzeichnet. Außerdem wurde in Gesprächen zwischen Hofé und dem Frankfurter Vorstand, vertreten durch Reinhart Jaspert, Dr. Tönjes Lange, Lambert Schneider, Justitiar Dr. Kleine u. a. die Einhaltung des Ladenpreises bei gegenseitigen Importen, Wege aus den Spannungsverhältnissen zwischen gleichnamigen Verlagen, Präsenz des Deutschen Buch-Export und -Imports auf der Frankfurter Buchmesse und gegenseitige Buchausstellungen vereinbart.148 1958 waren erstmals der Außenhandelsbetrieb Deutscher Buch-Export und -Import 149 sowie vier Verlage aus der DDR auf der Frankfurter Buchmesse vertreten. 1961 besuchte die Messe erstmals offiziell eine Delegation des Leipziger Börsenvereins, die mit Vertretern des Frankfurter Börsenvereins zusammentraf. Zwecks immer wichtiger werdenden Exports wurden den in der DDR verbliebenen Alt-Verlagen gleichen Namens z. T. neue implantiert 150 und 1960 der Verlag Edition Leipzig gegründet, der sich neben der Entwicklung eigener exportfähiger Titel um den Auflagenexport aus anderen DDR-Verlagen kümmerte. Konflikte zwischen den antagonistischen politischen Staatsdoktrinen und Streit um Staatsnamen und -wappen sowie vor allem der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 sorgten immer wieder für aufflammende Beziehungskrisen.
Ende einer Ära Wenige Wochen vor dem Bau der ›Berliner Mauer‹ fand am 10. März 1961, während der Leipziger Buchmesse, die 3. Hauptversammlung des Börsenvereins statt. Nicht mehr, wie gut vier Jahre vorher, im Restaurant ›Felsenkeller‹, sondern, wie schon 1958, im Kultursaal des LKG, bezeichnenderweise in der damaligen Leninstraße. Während dort noch Porträts von Reich, Göschen und Perthes, Gemälde aus der Börsenvereinsgalerie, die Stirnwand zierten, prangten nun das Symbol des 7-Jahrplans und die Losung ›Verlage und Buchhandel in sozialistischer Gemeinschaftsarbeit für das große humanistische Ziel der gebildeten Nation‹ hinter dem Präsidium. Zudem fehlte im Präsidium der Mann, der die Geschicke des Leipziger Börsenvereins über zehn Jahre maßgeblich mitbestimmt hatte: Heinrich Becker. Nicht er, sondern sein 1. Stellvertreter Hofé erstattete den Tätigkeitsbericht. Darin nannte er für die kommenden Wahlperioden drei Schwerpunkte: 1. Gesellschafts- und kulturpolitische Orientierung der Mitglieder; 2. Repräsentation des DDR-Buchschaffens im Ausland; 3. Überführung gelegentlicher Konsultation in kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat.
148 StA-L, 21766 BVII 1618, Bl. 23: Niederschrift über Sitzung des Hauptausschusses am 26. März 1958. 149 Bähring/Rüddiger: Lexikon Buchstadt Leipzig, S. 48–49. 150 Z. B. der Verlag Enzyklopädie im VEB Bibliographisches Institut um Einsprüche gegen die Verwendung des Verlagsnamens im westlichen Vertriebsgebiet durch den Mannheimer Verlag zu vermeiden.
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Die Wachablösung an der Spitze des Leipziger Börsenvereins sollte die deutsch-deutschen Beziehungen entlasten.151 Neben Stimmungswandel markierte sie Generationswechsel: Der in die Jahre gekommene Idealist Becker, der Transformation und Umorientierung des Börsenvereins vorangetrieben hatte, wurde kurz vor seinem 70. Geburtstag abgelöst von Klaus Gysi, einem jüngeren Realisten, der unbelastet, redegewandt und polyglott, die Position des veränderten Börsenvereins in einer gewandelten Welt festigen sollte. Situationswandel und Generationswechsel entsprachen der inneren Veränderung des Vereins. Seine Mitgliedschaft war jünger, sozial und politisch homogener geworden. Die Mitgliederzahl war allerdings rückläufig: 1961 gehörten dem Börsenverein 2.621, 1967 noch 2.415, 1980 noch 1.418 und 1986 nur noch 1.186 Mitglieder an. Ursachen waren neben Enteignungen vor allem Aufgabe privater Betriebe altershalber, ihre Umwandlung in volkseigene Verlage bzw. Übernahme durch den Volksbuchhandel. Die Zahl der Buchhändler, die Kommissionshandelsverträge abschlossen, war seit 1959 auf fast 500 gestiegen; die Zahl privater Unternehmen unter den knapp 80 DDR-Verlagen ließ sich an einer Hand abzählen. Der Riss, der seit 1945 durch die DDR-Gesellschaft, auch den Buchhandel und seine Vertretungskörperschaft, ging, verwuchs mit zunehmender Dominanz gesellschaftlichen Eigentums mehr und mehr. Prallten 1957 noch gegensätzliche Interessen im Streit um Funktion und Selbstverständnis des Börsenvereins aufeinander, so glichen Zusammentreffen nach 1961 eher Gesellschafterversammlungen, auf denen man sich über die nächsten Aufgaben und über Leistungsbilanzen verständigte.
Eine ›sozialistische Nation‹ hinter Mauer und Stacheldraht In der Nacht zum 13. August 1961 war an der Grenze zu den Berliner Westsektoren eine Mauer gebaut worden. Sie zementierte den Graben zwischen den beiden Machtblöcken. Der Schock traf im Westen die Politiker, im Osten die Menschen: Ihnen wurde der Notausgang versperrt! Nun mussten sie sich auf Gedeih und Verderb in ihrem gesellschaftlichen Umfeld einrichten. Innerhalb bewachter Grenzen entwickelte sich zwar nicht die proklamierte ›sozialistische Nation‹ mit eigener Kultur, doch eine lebensweltliche Identität, die selbst über die Wiedervereinigung hinaus wirkt. Insofern steht die ›Mauerbau‹ genannte Sicherung der Staatsgrenze am 13. August 1961 für eine gleichsam dritte ›innere Gründung‹ der DDR – nach offizieller Staatsgründung am 7. Oktober 1949 und Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953. Diese gravierenden politischen Einschnitte haben die Entwicklung des Leipziger Börsenvereins beeinflusst.
Souverän, national, einheitsfern – neue Rahmenbedingungen Die Erregung über den zwei Wochen zurückliegenden Mauerbau hatte sich kaum gelegt, als Verleger und Buchhändler während der Leipziger Herbstmesse 1961 wieder zur Mit-
151 Unter westdeutschen Verlegern galt Heinrich Becker vor allem als vehementer »Sozialisierer« und »Enteigner«, mit dem sie nichts zu tun haben wollten.
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gliederversammlung des Börsenvereins im Kultursaal des LKG in der damaligen Leipziger Leninstraße zusammenkamen. Vorsteher Klaus Gysi hielt eine Rede, die auf die veränderte Situation Bezug nahm: Es ist eine Zeit, […] in der Entscheidungen fallen, die […] zwingen, sich mit dem neuen Weg und mit alten Auffassungen auseinanderzusetzen. Es ist doch klar, dass ein solcher Prozess des endgültigen Umorientierens, eines klaren Kursnehmens auf unsere sozialistische Zukunft […] bei manchen Menschen zu starken inneren Auseinandersetzungen führt. […] Es ist ein Augenblick, in dem wir viel enger zusammenrücken […] auch in der Frage der Koordinierung zwischen dem Verlag, dem Buchhandel und der Polygraphie, dass wir einiges, das 152 lange ansteht, jetzt zu lösen haben.
»Der Aufbau des Sozialismus«, heißt es ähnlich im Protokoll einer Sitzung des Hauptausschusses vom Juni 1961, »wird uns vor einige harte Probleme stellen. […] Das bedeutet, dass alle Institutionen […] an Bedeutung gewinnen. […] so müssen wir die Arbeit des Börsenvereins sehen«, zumal unter den Bedingungen eines in sich geschlossenen Marktes. Ständige Abstimmung zwischen Verlagen, Buchhandel und Polygraphie zwecks termin- und qualitätsgerechter Herstellung – das waren sich immer wiederholende planwirtschaftsorganisatorische Probleme, die Kommissionen und Ausschüsse des Börsenvereins beschäftigten. Sie erwuchsen letztlich aus unterschiedlichen Eigentums-, Rangund Unterstellungsverhältnissen: Die polygraphische Industrie war größtenteils parteieigen, die Verlage partei-, organisations- oder staatseigen, der Buchhandel partei-, staatseigen oder privat. Druckaufträge von SED und parteieigenen Unternehmen beanspruchten zudem Vorrang. Aus Kapazitätsengpässen sollte Zentralisierung herausführen. Auch im Börsenverein: Die Zahl der Kommissionen wurde verringert und »die Rolle des Hauptausschusses stärker unterstrichen. […] Er ist das demokratischste und breiteste Organ im Börsenverein«. Es kam darauf an, »die starken Potenzen der Organisation, nämlich die Mitglieder« zu aktivieren.153 Am 21. Dezember 1962 beschloss der Ministerrat die Bildung einer Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur (HV). Ab 1. Januar 1963 vereinigte sie die kulturpolitische mit der wirtschaftlichen Leitung volkseigener Verlage und des Volksbuchhandels. Ihr oblag außerdem die Koordinierung der Pläne und Kapazitäten aller, auch der partei- und organisationseigenen Verlage untereinander wie mit der polygraphischen Industrie, ferner die Zuteilung des Papiers sowie die Anleitung der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken, die überwiegend kommunale Einrichtungen waren. Vor allem aber: Bis Ende 1989 erteilte die HV Druckgenehmigungen nach Vorzensur von den Verlagen eingereichter Manuskripte. Zu ihrem Leiter wurde der bisherige
152 Klaus Gysi: Entscheidend für den Weg unseres Volkes. Auszüge aus der Rede des Vorstehers des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. In: Börsenblatt (Leipzig) 128 (1961) 38, S. 555–559. 153 StA-L, Börsenverein II, 1610, Bl. 115: Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses des Börsenvereins am 16. Juni 1961.
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Chef der Abteilung Literatur und Verlagswesen, Bruno Haid,154 berufen. 1973 wurde er altershalber abgelöst durch Klaus Höpcke, der, wie sein Vorgänger Stellvertreter des Kulturministers, dieses Amt bis November 1989 innehatte. Der Börsenverein wurde ab 1. Januar 1963 der HV zugeordnet. Seine Aufgabe sei es, so der damalige Minister für Kultur, Hans Bentzien,155 auf der Mitgliederversammlung 1963, zur Zusammenarbeit von Buchhandel und Verlagen sowie von Verlagen und Polygraphie beizutragen,156 eine Forderung, die Floskel bleiben musste, solange nicht tatsächlicher, sondern verordneter Bedarf Themenplanung und Auflagenbemessung in den Verlagen bestimmte. Börsenvereinsausschüsse wurden zu Klagemauern systemimmanenter Unzulänglichkeiten!
Kybernetik und Systemtheorie – Unterpfand des Erfolges? Nach 1961 veränderte die sich durchsetzende ›wissenschaftlich-technische Revolution‹ die Wirtschaft im Staate DDR, kaum jedoch Ziele und Programm der Staatspartei SED. Deren nationalpädagogische Vision »allseitig entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten« wies den Verlagen als »geistig-kulturelle Zentren« im »entwickelten sozialistischen Gesellschaftssystem« höhere Eigen- und dem Börsenverein mehr Mitverantwortung zu. Er sollte für die fachliche und die ideologisch-politische Qualifizierung der Mitarbeiter in Verlagen und Buchhandel sorgen und die Verbreitung vor allem der Literatur fördern, die sich in Kellern des LKG stapelte. 1988 teilte eine Mitarbeiterin aus der Abteilung Buchmarktforschung im LKG mit, dass 1.188 Titel im Wert von ca. 6 Mio. Mark der DDR seit über zwölf Jahren fest im LKG lagerten. Zudem rangierten rd. 700 Titel im Wert von rd. 1 Mio. Mark der DDR seit fünf Jahren in der Kategorie ›schwer absetzbar‹.157 Daran vermochte die deshalb seit den 1970er Jahren stark geförderte Buchmarktforschung nichts zu ändern. Die Ursachen lagen tiefer. Sie aber mochte man nicht sehen! Nach wie vor wurden Regungen unangepasster Subjektivität in der Gegenwartsliteratur als ›Revisionismus‹ verurteilt. Das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 hielt Scherbengericht. Honecker, Hager und Abusch inszenierten das Gruselstück ›Rotmäppchen und die böse Wolf‹: Inmitten der ZK-Genossen mit roten Tagungsmappen verteidigte nur Christa Wolf, damals Kandidatin des ZK, ihre an den Pranger gestellten Schriftstellerkollegen von Biermann bis Heym.158 Deren Bücher verschwanden wei-
154 KPD-Funktionär, als stellvertretender Generalstaatsanwalt im Zusammenhang mit den Prozessen gegen Wolfgang Harich und Walter Janka abgesetzt; ab 1. September 1960 als literaturbeflissener Funktionär zum Leiter der Abteilung für Literatur und Verlagswesen im MfK und ihrer Nachfolgeinstitutionen berufen. – Siehe auch Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR, S. 477–478. 155 Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR, S. 96–97. 156 Hans Bentzien: Offener über alle Probleme sprechen! In: Börsenblatt (Leipzig) 130 (1963) 13, S. 211–217. 157 StA-L, Börsenverein II, 3268, Bl. 29: Protokoll der 5. Sitzung der Kommission Aus- und Weiterbildung am 18. 2. 1988. 158 Agde (Hrsg.): Kahlschlag.
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sungsgemäß aus allen Buchhandlungen. Gehorsam ging der Börsenverein auf Distanz zu den Gemaßregelten. Im Börsenblatt wurden ihre Namen nicht mehr erwähnt. 1967 höhlte der VII. Parteitag der SED Ulbrichts Modernisierungsansätze aus, rückte von gesamtdeutschen Gesprächsangeboten ab und pries die DDR als »sozialistisches Vaterland«. Anders als Adenauer und Ehrhard hatte Brandt als Außenminister und späterer Bundeskanzler Verständigungsangebote beantwortet und selbst unterbreitet, ja sogar Bereitschaft zu Zeitungs- und Kulturaustausch signalisiert. Prompt wurde 1968 in einer neuen Verfassung Abgrenzung demonstriert, die DDR als »sozialistischer Staat deutscher Nation« gepriesen und »die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei« auch staatsrechtlich fixiert. Die freilich hatte der Börsenverein, dessen Vorstand fast nur mit ausgewählten, von der führenden SED als zuverlässig bestätigten Nomenklatur-Kadern159 besetzt war, de facto längst anerkannt. Im gleichen Jahr 1968 verwandelten sowjetische Panzer den hoffnungsvollen ›Prager Frühling‹ in eisigen ›Moskauer Winter‹. Dadurch wurden auch Handlungsspielräume des Leipziger Börsenvereins eingeschränkt, vor allem seine Akzeptanz im In- und Ausland beeinträchtigt.
Die Gremien Neben dem Vorsteher Klaus Gysi gehörten einem erneuerten Vorstand an: Günter Hofé (Verlag der Nation, Berlin) und Ludolf Koven (Akademie-Verlag, Berlin) als Stellvertreter, Siegfried Hoffmann (Fachbuchverlag, Leipzig), Arno Rammelt (Georg-FriedrichHändel-Musikalienhandlung, Halle), Kurt Rüddiger (Versandbuchhandel, Leipzig) und Erich Tamm (Berliner Buchhandelsgesellschaft). Im August 1958 war Geschäftsführer Alfred Ernst zum Stadtrat für Kultur in Leipzig berufen worden. Ernst Offermannns, zuvor zuständig für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in der Geschäftsstelle des Börsenvereins, war an seine Stelle gerückt. Im April 1963 folgte ihm der langjährige Leiter des Verlages Neues Leben, Bruno Peterson, der aber nach zweieinhalb Jahren, am 28. Januar 1966, unvermutet verstarb. Noch im Januar des gleichen Jahres wurde Kurt Rüddiger als neuer Geschäftsführer bestätigt. Ihm folgte nach Erreichen der Altersgrenze Hans Baier von 1985 bis zum Ende der DDR. 1964 wählte die Hauptversammlung statutengemäß einen neuen Hauptausschuss, der überwiegend der alte blieb, und einen auf neun Mitglieder erweiterten Vorstand. Vorsteher blieb Klaus Gysi, Stellvertreter wurden Günter Hofé und Rudolf Schmalz (Zentrale Leitung Volksbuchhandel). Wie er wurde auch Heinz Köhler (als Leiter des Verlages Bibliographisches Institut Nachfolger Heinrich Beckers) in den Vorstand gewählt. Da Gysi den in die Kritik geratenen Kulturminister Hans Bentzien ablösen sollte, wurde am 26. Januar 1966 Heinz Köhler zum Vorsteher des Börsenvereins gewählt.
159 Als Nomenklaturkader galten Leiter wichtiger Einrichtungen, die auf Grund erwartbarer politischer Überzeugungen auf einer Liste geprüfter Reservekader zusammengefasst wurden. Dafür gab es nach sowjetischem Vorbild eine Nomenklaturordnung, in der alle genehmigungspflichtigen Funktionen aufgelistet waren, z. B. Institutsdirektoren, Generaldirektoren für Kombinate, Sekretäre von Kreis- und Bezirksleitungen der Parteien u.v. a.m. Auch Vorstandsmitglieder des Börsenvereins zählten zu ›Reisekadern‹.
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Zeitgleich wurden Dr. Günther Hennig (Dietz Verlag, Berlin) und Hans Hünich (LKG, Leipzig) in den Vorstand kooptiert. Im Laufe der Zeit hatte sich eine vage redemokratisierte Organisation des Vereinslebens stabilisiert. Kandidaten zur Wahl für die verschiedenen Gremien wurden vom Vorstand vorgeschlagen – vorher von der SED-Parteigruppe des Vorstandes und des Hauptausschusses, auf jeden Fall von der jeweils übergeordneten staatlichen Leitung ›abgesegnet‹ – und gewählt. Überraschungen, gar Kampfabstimmungen oder andere Abweichungen vom Ritual kamen nicht vor. Auch die neue Satzung änderte 1967 nichts Wesentliches. Interessant war nur, wer wann in welche Funktion gewählt – oder geschoben – wurde. Die Hauptversammlung am 2. November 1967 nahm ein neues, das vierte, Statut an. Es sah nur unwesentliche Veränderungen vor. In den auf elf Mitglieder erweiterten Vorstand wurden gewählt: als Vorsteher Heinz Köhler,160als seine Stellvertreter Günter Hofé, Siegfried Hoffmann, zugleich Vorsitzender des Verlegerausschusses, Rudolf Schmalz, zugleich Vorsitzender des Sortimenterausschusses, sowie Steffi Carnatz (Das internationale Buch, Dresden), Dr. Günther Hennig (Dietz Verlag, Berlin), Otto Herold (Buchexport, Leipzig), Hans Hünich (LKG, Leipzig), Lieselotte Oelsner (Buchhandlung Franz-Mehring-Haus, Leipzig), Erich Tamm (Berliner Buchhandlungsgesellschaft), Dr. Fritz-Georg Voigt (Aufbau-Verlag, Berlin). Sie alle vertraten wichtige Verlage oder Buchhandelsinstitutionen. Nicht unbedingt die Persönlichkeit, mehr die Leitungsfunktion zählte für eine Vorstandskandidatur. Mit der Zeit bildeten sich regelrechte betriebliche ›Erbpachtansprüche‹ auf Vorstandsplätze heraus – vorausgesetzt, die Abteilung Kultur im ZK der SED und die HV stimmten entsprechenden Vorschlägen des Börsenvereinsvorstandes zu. Bedeutsamer als vereinsinterne Veränderungen wurden Umstrukturierungen in der staatlichen Leitung, die nach der 1961 vollzogenen Abgrenzung und dem proklamierten »Sieg sozialistischer Produktionsverhältnisse« mit dem Ziel erfolgten, durch Zentralisierung die politische Einflussnahme auf Verlage, Buchhandel und Börsenverein zu verstärken.
Nicht mehr Börsenverein des deutschen Buchhandels, sondern Verband der Verlage und Buchhandlungen in der DDR Ein neues Statut löste 1967 das von 1958 ab. Es wandelte den Traditionsnamen um, verzichtete auf ›deutsch‹ und erklärte zu Mitgliedern »volkseigene und ihnen gleichgestellte Verlage und Buchhandelseinrichtungen, vertreten durch ihre Leiter; Komplementäre oder Leiter von privaten Verlagen und Betrieben mit staatlicher Beteiligung, Inhaber von Buchhandelsbetrieben mit Kommissionshandelsvertrag und Eigentümer privater Verlage und Buchhandelsbetriebe«. Analog zur Konzentration und Zentralisierung auf staatlicher Ebene sollte der Börsenverein »alle Einrichtungen (erfassen), die Gegenstände des Buchhandels herausgeben, vertreiben und vermitteln.«
160 Bähring/Rüddiger: Lexikon Buchstadt Leipzig, S. 154.
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Paragraph 1 des neuen Statuts bezeichnet den Börsenverein als »Verband der Verleger und Buchhändler in der DDR«. Das macht deutlich: 1. gesamtdeutscher Anspruch, de facto längst überholt, wurde nun auch formell aufgegeben; 2. der Übergang vom privatrechtlichen Verein, ein Status, den es in der DDR seit 1947 nicht mehr gab, zu einem Verband – einer gesellschaftlichen Organisation nach DDR-Recht – wurde nicht länger verheimlicht, sondern – sogar mit Stolz – zugegeben. Schwierigkeiten hatte es schon gegeben, als privatrechtliche Vereine 1947 in der SBZ von der Besatzungsmacht aufgelöst wurden.161 Der damalige Vorsteher, Dr. Ernst Reclam, konnte zwar nicht den Rechtsstatus, aber wenigstens den Namen retten, wegen noch möglicher gesamtdeutscher Optionen.162 Die Rechtsform wurde bewusst in der Schwebe gehalten. Nach Klärung der West-Vermögensfragen entfielen derlei Rücksichten – der Börsenverein war auch formalrechtlich angekommen im ›realen Sozialismus‹ der DDR.
Neue Arbeitsschwerpunkte Zu neu akzentuierten Aufgaben im Statut gehörten: Förderung sozialistischer Gemeinschaftsarbeit; Verantwortung für »Literaturpropaganda und Literaturverbreitung« als Beitrag zur »Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten«; Unterstützung von Ausund Weiterbildung; Repräsentanz des DDR-Buchschaffens im Ausland; Pflege von Verbindungen zu internationalen Verleger- und Buchhändlerverbänden sowie Zusammenarbeit mit »Volksvertretungen, staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen«, um »die Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Gebiete der Literaturentwicklung und Literaturverbreitung verwirklichen zu helfen.«163 Vier Schwerpunkte hob der Vorsteher auf der 5. Hauptversammlung des Börsenvereins am 2. November 1967 besonders hervor: 1. Aktivierung des Buchhandels […] im Hinblick auf die Propagierung sozialistischer Gegenwartsliteratur und des Fachbuches; 2. Aufarbeitung progressiver Traditionen des deutschen Buchhandels; 3. Pflege der Buchkunst bei stärkerer Betonung der Rolle Leipzigs als Buch- und Buchmessestadt; 164 4. Repräsentanz des DDR-Buchschaffens im Ausland.
161 StA-L, Börsenverein II, 1627, Bl. 11 ff.: Niederschrift über eine Besprechung der Herren Becker, Kotzur, Petermann und Heilmann im Buchhändler-Erholungsheim Lauenstein am 14. August 1949. 162 StA-L, Börsenverein II, 1681, Bl. 64: Schreiben Geschäftsstelle an DVV vom 5. 8. 1949. 163 Statut des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. In: Börsenblatt (Leipzig) 134 (1967) 47, S. 897–898. 164 Verleger- und Buchhändlerverband der DDR vor großen Aufgaben. In: Börsenblatt (Leipzig) 134 (1967) 47, S. 891–896.
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Nimmt man noch Aus- und Fortbildung hinzu, so sind tatsächlich die Eckpunkte bezeichnet, die bis zum Ende der 1980er Jahre die Verbandsarbeit bestimmten. Neu formiert wurden als Arbeitsgremien – – – –
die Historische Kommission unter Leitung von Peter Läuter (Dietz Verlag, Berlin, später Teubner Verlag, Leipzig), die Kommission für Öffentlichkeitsarbeit unter Leitung von Harry Fauth (Chefredakteur des Börsenblattes), eine Arbeitsgruppe für ›Schönste Bücher aus aller Welt‹ unter Leitung von Kuno Mittelstädt (Henschelverlag, Berlin) und ein Beirat für das Börsenblatt unter Leitung von Günter Hofé.
Um Buchhandlungen zu ›Zentren des kulturellen Lebens‹ in Städten und Gemeinden zu entwickeln, schloss der Börsenverein Kooperationsvereinbarungen mit dem Deutschen Schriftstellerverband, 1963 mit dem Kulturbund und 1965 mit dem im Jahr zuvor gegründeten Bibliotheksverband der DDR. Entsprechend dem im Nationalen Dokument 165 erhobenen Anspruch der DDR auf das »progressive Erbe« deutscher Geschichte rückte die Arbeit der Historischen Kommission in den Vordergrund. Mit den ab 1965 von ihr betreuten Beiträgen zur Geschichte des Buchwesens sollte das Kirchhoff ʼsche Archiv fortgeführt werden.166 Wie das Börsenblatt erschien ab Januar 1964 auch die Reihe Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im Fachbuchverlag, der anstelle des nach Umprofilierung aufgelösten Verlages für Buch- und Bibliothekswesen für Fachliteratur der Buchbranche zuständig war. Traditionsbezug kam auch in der 1967 beschlossenen Ehrung verdienstvoller Mitarbeiter zum Ausdruck: Aus Anlass des 125. Geburtstages von Wilhelm Bracke167 stiftete der Börsenverein eine nach ihm benannte Medaille in drei Stufen, die Buchhändlern, Verlegern, Buchgestaltern und Bibliothekaren, die sich um Buch und Buchwesen in der DDR verdient gemacht haben, verliehen wurde. Zu den ersten, die zum Tag des freien Buches168 am 10. Mai 1968 diese Auszeichnung erhielten, gehörten Heinrich Becker, Karl Hagemann, Klaus Gysi, der Dietz Verlag und die Deutsche Bücherei. Bis 1989 wurde diese Medaille über 250 Mal verliehen. Zur Aufwertung der Leipziger Buchmesse, die sich, nach Umzug in das 1963 – rechtzeitig zum 1965 gefeierten Jubiläum ›800 Jahre Buch- und Messestadt Leipzig‹169 – neu errichtete Messehaus am Markt wachsenden internationalen Zuspruchs erfreute,
165 Das nationale Dokument. 166 In Band 5 der Beiträge erschienen 1972 aus DDR-Sicht Aufsätze zur Verlags-, Buchhandelsund Buchkunstgeschichte in der DDR. 167 Wilhelm Bracke (1842–1880), Arbeiterführer, Verleger, Publizist. Maßgeblich an der Gründung der SDAP, eines Vorläufers der SPD, beteiligt. Vom Anhänger Lasalles entwickelte er sich zum Verbündeten von Marx und Engels. 168 Gedenktag an die Bücherverbrennung durch fanatisierte Studenten und Nationalsozialisten am 10. Mai 1933. 169 Czok (Hrsg.): 500 Jahre Buchstadt Leipzig, S. 85.
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wurde 1967 beschlossen, die 1918 begründete Verbindung zum Gewandhaus neu zu beleben170 – eine Tradition, die bei Messeeröffnungen bis heute erhalten blieb. Seit Mitte der 1950er Jahre wurden, vom Börsenverein gefördert, Aus- und Weiterbildungsinstitutionen im Buchhandel ausgebaut: Neben der 1945 wieder eröffneten Deutschen Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig171 als Berufsschule waren 1957 durch das MfK eine Fachschule für Buchhändler und 1960 zu berufsbegleitender Fortbildung Betriebsakademien für Verlage und Buchhandel in Berlin und Leipzig gegründet worden. 1958 schon hatte Heinrich Becker angeregt, wieder ein ›akademisches Buchhandelsinstitut‹ zu schaffen, nachdem der vom Börsenverein 1925 gestiftete Lehrstuhl für Buchhandelsbetriebslehre an der Handelshochschule 1945 erloschen war. Doch erst im Mai 1968 wurde auf Weisung des MfK das Institut für Verlagswesen und Buchhandel an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig gegründet 172 und damit das alle Stufen umfassende Aus- und Weiterbildungssystem für Mitarbeiter in Verlagen und Buchhandel abgerundet. Nach 1957 schloss der Börsenverein Kooperationsverträge mit Buchhändler- und Verlegerverbänden in Jugoslawien (1959), Polen (1966), und Ungarn (1969). Intensiv bemühte er sich, Teilnehmer an Internationalen Buchkunst-Ausstellungen und Ausstellungen ›Schönste Bücher aus aller Welt‹ aus westlichen Ländern zu gewinnen. Daraus ergaben sich Kontakte zu Partnerverbänden in Großbritannien, Frankreich, Schweden, Japan sowie besonders in der Schweiz und Österreich. Zwischen den Börsenvereinen Ost und West hingegen kam es erneut zu Beziehungskrisen: 1961, nach Bau der Berliner Mauer, hatten bundesrepublikanische Verleger wie Theodor Steinkopff gegen eine Teilnahme von DDR-Verlagen an der Frankfurter Buchmesse und für Abbruch aller Kontakte zum Börsenverein-Ost plädiert. Die Wogen waren kaum geglättet, da führten bekannt gewordene Beschlagnahmungen von Geschenksendungen wissenschaftlicher Bücher durch den Zoll der DDR unter Bruch einer 1963 erlassenen Sonderregelung zur Empfehlung des Frankfurter Börsenvereins, die Leipziger Buchmesse zu boykottieren. Neue Bestimmungen modifizierten die ab 1954 bestehenden Einfuhrbeschränkungen. Gegenüber Anfragen und Beschwerden drehte und wendete sich der Stellvertreter des DDR-Kulturministers, Erich Wendt, bemüht, die Behinderungen dem Frankfurter Börsenverein in die Schuhe zu schieben.173 Um von der Krise abzulenken, unterbreitete Kulturminister Hans Bentzien Vorschläge zum Zeitungs- und zum Kulturaustausch zwischen beiden deutschen Staaten, die der Börsenverein-Ost gegenüber dem Börsenverein-West sehr unterstützte.174 Beiderseitige wirtschaftliche Interessen erleichterten die Wiederaufnahme von Gesprächen ebenso wie Veränderungen der politischen Großwetterlage in den 1970er Jahren.
170 171 172 173
Mehner: Messekonzerte. Riese: Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig, S. 122 ff. Riese: Zwei Todesfälle und eine Hochzeit. Westdeutsche Verleger und Buchhändler durch den Frankfurter Börsenverein irregeführt. Interview mit dem Ersten Stellvertreter des Ministers für Kultur der DDR, Staatssekretär Erich Wendt. In: Börsenblatt (Leipzig) 131 (1964) 4, S. 63. 174 Erneute DDR-Vorschläge zum Kulturaustausch zwischen beiden deutschen Staaten. In: Börsenblatt (Leipzig) 131 (1964) 29, S. 465.
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Stagnation und Auflösung (1971–1989) Stagnation Im Juni 1971 besiegelte der VIII. Parteitag der SED die Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker an der Spitze des Staates DDR – und damit die Wende in der SED vom Produktions- zum Konsumsozialismus. Mit einer neuen Strategie, der auf rasche Anhebung des Lebensstandards zielenden ›Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‹, erhoffte die SED erhöhte Leistungsmotivation im Wettbewerb der Systeme. Der Börsenverein sollte zur »planmäßigen Entwicklung und Verbreitung von Literatur« und damit zur »Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus« der Bevölkerung beitragen. Als »Sozialpolitik« verbrämt, überrollte das Land Anfang der 1970er Jahre eine dritte Enteignungswelle (nach 1948 und 1952/1956), der die letzten privaten Unternehmen fast alle zum Opfer fielen. Nachdem die verbliebenen 78 Verlage – bis auf vier Ausnahmen (ohne kirchliche Verlage) – in der Hand von Parteien, Massenorganisationen oder verstaatlicht worden waren bzw. aus rechtlichen Gründen unter treuhänderischer Verwaltung standen, wurde nun eine immerhin noch ansehnliche Zahl privater Buchhandlungen aus mannigfachen Gründen vom Volksbuchhandel übernommen. Die jährliche Buchproduktion hatte sich auf rd. 6.500 Titel in einer Gesamtauflage von etwa 130 Mio. Exemplaren eingepegelt, ohne allerdings – trotz eines statistischen Durchschnitts von knapp acht Exemplaren pro Kopf der Bevölkerung – realen Bedarf decken zu können. Der Börsenverein half, Lizenz- und Auflagenexport vor allem in die Bundesrepublik zu steigern, um im Austausch drängende Nachfrage nach Literatur aus westlichen Ländern befriedigen zu können. Weite und Vielfalt hatte der neue Generalsekretär des ZK der SED, Erich Honecker, der Literatur zugestanden und den Bitterfelder Weg verlassen. Vor allem jüngere Autoren vermeinten darin, einen Wandel ›zum Geist der Epoche‹ zu erkennen, den sie freilich weniger im Parteiprogramm der SED vom 22. Mai 1976,175 eher im Demokratiepostulat der Eurokommunisten auf der Internationalen Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas am 23./24. Juni 1976 in Berlin176 und in der Helsinki-Schlussakte von 1975177 sahen. Um in offenkundiger Fehleinschätzung gerufene Geister loszuwerden, verfiel die SED ab 1976 auf Ausbürgerung – direkt im Falle Biermann, was Proteste auslöste,178 indirekt durch großzügige Vergabe unbefristeter Visa an kritische Autoren, die ins westliche Ausland reisen wollten. Deren Texte freilich durften in der DDR nicht erscheinen und auch in der Bundesrepublik oder anderen westlichen Ländern nur nach Genehmigung durch das Büro für Urheberrechte.179
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Fricke (Hrsg.): Programm und Statut der SED. Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas. Schweisfurth (Hrsg.): Dokumente der KSZE. Offener Brief Berliner Künstler. Siehe dazu Kapitel 3.4.2 Das Büro für Urheberrechte (Thomas Keiderling) in diesem Band.
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Der sich nun offiziell ›Verband der Verleger und Buchhändler in der DDR‹ nennende Börsenverein sah wieder einmal schweigend zu! Er hielt sich – wie auch bei den politischen Krisen in Polen, Ungarn und der ČSSR – an Direktiven, die die HV-Leiter Haid und Höpcke bzw. die für Verlagswesen zuständigen Vertreter der Abteilung Kultur im ZK der SED, Lucie Pflug, Ursula Ragwitz oder Arno Lange als ständige Gäste auf Vorstandssitzungen oder Hauptversammlungen des Börsenvereins verkündeten. Inoffiziell aber nahmen weltoffene Verleger durchaus die Kluft wahr, die sich zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung, zwischen Wunsch und Wirklichkeit immer weiter auftat. Obwohl die weltweite Wirtschaftskrise Ende der siebziger Jahre an der DDR nicht spurlos vorüberging, Fünfjahrpläne kaum mehr erfüllt wurden, Wirtschaft und Gesellschaft stagnierten, hielt die SED-Führung an erstarrten Maximen fest. Dogmatik und Exegese gehörten auch in Börsenvereinsgremien zum Tagungsritual. Zugleich sah man besorgt, dass »stabile Preise« für Bücher als »Waren des Grundbedarfs« steigende Herstellungskosten nicht mehr deckten und wachsende Subventionen aus dem Staatshaushalt zu einer Auslandsverschuldung beitrugen, die von 2 Mrd. Valuta-Mark 1970 auf 49 Mrd. Valuta-Mark 1989 anstieg.180 Darum verdrängte Exportorientierung in der Buchproduktion sogar das Primat der Ideologie – ein Dogma, das jahrelang verkündet und praktiziert worden war. Vor dem Hintergrund der nach Aufhebung des bundesrepublikanischen Alleinvertretungsanspruchs wachsenden internationalen Anerkennung des Staates DDR sollte der Börsenverein mit Ausstellungen, Messepräsenz und Öffentlichkeitsarbeit im In- und Ausland helfen, Devisenmärkte zu erschließen sowie den Export ins nicht-sozialistische Währungsgebiet (NSW), zumal in deutschsprachige Länder Westeuropas, zu steigern. In den achtziger Jahren schwand die Bereitschaft zur Identifizierung mit dem Gesellschaftssystem in der DDR immer schneller, zumal unter der jüngeren Generation, der Fügsamkeit und Enge innerhalb autoritärer Strukturen als Preis für soziale Sicherheit zu hoch, die Kluft zwischen Theorie und Praxis beim Aufbau des Sozialismus zu weit waren, dafür Michail Gorbatschows Vision eines gemeinsamen Hauses in Europa anziehender erschien als die erstarrten Dogmen der alten Männer in der SED-Führung. Immer mehr Leser im »Leseland DDR«181 sammelten sich, wenn sie sich nicht der Ausreisewelle anschlossen, in subkulturellen und Oppositionsgruppen – und strömten schließlich zu Montagsdemos in Leipzig und anderswo, die im Oktober 1989, 40 Jahre nach seiner Gründung, das Ende des Staates DDR und damit das Ende eines widersprüchlichen Realisierungsversuchs sozialer Utopie einläuteten. Die meisten Funktionsträger im Börsenvereinsvorstand und in der Geschäftsstelle haben diese Entwicklungen – aus welchen Motiven immer – ignoriert und bis fünf vor zwölf mehr oder weniger blind parteiamtlichen Verlautbarungen geglaubt und demensprechend gehandelt.
180 DDR-Lexikon. 181 Die DDR verstand sich als ›Literaturgesellschaft‹ und pflegte eine Fassade als ›Leseland‹. Siehe auch Koch (Hrsg.): Literatur und Persönlichkeit.
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Endzeit Die Mitgliederzahl des Börsenvereins war bis 1980 auf 1.418, bis 1986 auf 1.186 zurückgegangen. Darunter befanden sich 1980 drei Firmen des Zwischenbuchhandels (LKG, Buchexport, H. G. Wallmann), 668 volkseigene, 11 organisationseigene und 575 private Buchhandlungen. Deren Zahl schmolz bis 1986 auf 369 zusammen. Am 29. Juni 1971, 14 Tage nach den VIII. Parteitag der SED und während der 3. Internationalen Buchkunst-Ausstellung (iba) im Leipziger Messehaus am Markt, fand turnusgemäß die Mitgliederversammlung des Börsenvereins statt. Nur 170 von noch 2.128 Mitgliedern kamen in den Kultursaal des LKG, um Bilanz zu ziehen, einen neuen Vorstand zu wählen und Änderungen am Statut zu beschließen. Eine von Hans Hünich geleitete Arbeitsgruppe zum Statut schlug vor, den Vorstand von elf auf dreizehn Mitglieder zu erweitern, die Geschäftsstelle in ein Sekretariat umzuwandeln und den Begriff »fortschrittliche Literatur« durch »sozialistische Nationalliteratur« (§ 2) zu ersetzen. Aufgabe des Verbandes sei, durch deren Entwicklung und Verbreitung die Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten zu fördern. 1986 führte eine neuerliche Überarbeitung des Statuts nach 15 Jahren wieder nur zu geringen Änderungen, was sowohl auf formale Stabilität des Verbandes als auch auf Stagnation einer formierten Gesellschaft schließen lässt. Eine von Helmut Bähring geleitete Arbeitsgruppe (Dr. Günther Hennig, Hans-Otto Lecht, Rudolf Schmalz, Hans Baier) schlug vor, Wahlperioden analog der Wirtschaftsplanung von drei auf fünf Jahre, den Vorstand (§ 7) von 13 auf 18, den Verlegerausschuss (§ 8) von 20 auf 25 Mitglieder zu erweitern. Neben Verleger- und Sortimenterausschuss sah das überarbeitete Statut (§ 10,2) ständige Kommissionen vor, u. a. für Buchkunst, Qualität der Produktion, Aus- und Weiterbildung, Öffentlichkeitsarbeit/Auslandsinformation, Neue Medien, Urheberrecht sowie eine Historische Kommission und einen Beirat für das Börsenblatt. Die Verbandsmitglieder sollten »sozialistische Gemeinschaftsarbeit« fördern, sich zum »Ringen um höhere Qualität in der Buchproduktion« verpflichten, neue Methoden der Propaganda und Verbreitung des Buches erproben, das Verlagsschaffen der DDR im Ausland propagieren, sich für die Leipziger Buchmesse einsetzen, Buchkunst sowie Aus- und Weiterbildung fördern und »durch enge Zusammenarbeit mit der Partei der Arbeiterklasse, […] Voraussetzungen [schaffen], deren Beschlüsse […] verwirklichen zu helfen«. Rolle und Selbstverständnis des Leipziger Börsenvereins hatte sich von der ersten Satzung nach 1945 bis zum letzten Statut vor 1990 kaum verändert: er begriff sich nach wie vor als ›Hilfsmotor‹ in nach kulturpolitischen Vorgaben der SED gesteuerten ›Prozessen der Literaturvermittlung‹. Im Unterschied zu einer erst gesamtdeutsch, dann sozialistisch definierten ›Nation‹ wurde im Statut von 1987 – analog zur 1974 erneuerten Verfassung der DDR – jeglicher gesamtdeutsch zu deutender Bezug vermieden und ›Nationalliteratur‹ durch das neutrale ›Buch‹ ersetzt. In der Präambel wurde der Verband eindeutig und endgültig als »gesellschaftliche Organisation der Verlage und des Buchhandels in der DDR« bezeichnet.182
182 Statut des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. In: Börsenblatt (Leipzig) 154 (1987) 1, S. 14–16.
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Vorstand, Ausschüsse, Kommissionen Fünf Jahre, von 1966 bis 1971, stand Heinz Köhler an der Spitze des Börsenvereins. Ab 1971 trat Siegfried Hoffmann (Fachbuchverlag, Leipzig) an seine Stelle. Die Mitgliederversammlung vom 29. Juni 1971 hatte neu in den Vorstand gewählt: Hans Bentzien (Verlag Neues Leben, Berlin), Hellmuth Fischer (Zentrale Leitung des Volksbuchhandels, Leipzig), und Ernst Nitzsche (Buchexport, Leipzig). 1974 wurden neben Steffi Carnatz (Buchexport, Leipzig), Heinz Köhler und Ernst Nitzsche neu in den Vorstand gewählt: Jürgen Gruner (Verlag Volk und Welt, Berlin), Otto Herold (Buchexport, Leipzig), Dr. Werner Mussler (Akademie-Verlag, Berlin) und Heinz Neuer (Volksbuchhandel Potsdam). 1977 schieden die langjährigen Mitglieder Hans Hünich, Erich Tamm und Dr. Werner Mussler aus. Dafür kamen neu in den Vorstand Helmut Bähring, der die Leitung des Bibliographischen Instituts übernahm, als Heinz Köhler an die Spitze des LKG berufen wurde, Fred Rodrian (Leiter des Kinderbuchverlags und Vertreter des Schriftstellerverbandes) und Herbert Schuster (VE Verlage für Medizin und Biologie). Vorsteher Hoffmann und seinem 1. Stellvertreter Hofé wurde erneut das Vertrauen ausgesprochen, hinzu kamen Jürgen Gruner als Vorsitzender des Verleger- und Rudi Schmalz als Vorsitzender des Sortimenterausschusses. 1980 rückte Jürgen Gruner zum 1. Stellvertreter des wiedergewählten Vorstehers Hoffman auf, Günter Hofé und Rudi Schmalz blieben Ausschussvorsitzende und zugleich Stellvertreter des Vorstehers. Erst 1983 traten umfangreichere Veränderungen ein: Jürgen Gruner wurde zum Vorsteher, Helmut Bähring wie auch Elmar Faber (Leiter des Aufbau-Verlages in Nachfolge von Dr. Fritz-Georg Voigt) als Vorsitzender des Verleger-, Heinz Neuer als Vorsitzender des Sortimenterausschusses zu Stellvertretern gewählt. Siegfried Hoffmann löste als Direktor des Außenhandelsbetriebes Buchexport Otto Herold, Heinz Börner als Hauptdirektor des Volksbuchhandels Hellmuth Fischer ab. Lieselotte Oelsner schied aus. In den erweiterten Vorstand wurden neu gewählt: Jutta Rühl (Erich-Weinert-Buchhandlung, Magdeburg), Prof. Dr. Lothar Berthold (Akademie-Verlag, Berlin) und Hans-Otto Lecht (als Leiter des Verlages der Nation Nachfolger von Günter Hofé) – einziger Vertreter einer Blockpartei unter lauter SED-Mitgliedern. Am 26. November 1986 versammelten sich wieder 170 Vertreter der Verbandsmitglieder, diesmal im Festsaal des Leipziger Neue Rathauses. Jürgen Gruner wurde wieder zum Vorsteher, Roland Links (Direktor der Verlagsgruppe Kiepenheuer und Vorsitzender des Ausschusses für Buchkunst) sowie Elmar Faber (Vorsitzender des Verlegerausschusses) und Heinz Neuer (Vorsitzender des Sortimenterausschusses) zu seinen Stellvertretern gewählt. Zum auf 18 Mitglieder erweiterten Vorstand gehörten ferner: Prof. Dr. Lothar Berthold, Heinz Börner, Dr. Günther Hennig, Siegfried Hoffmann, Hans-Otto Lecht sowie erstmals Dieter Grüneberg (Verlag Die Wirtschaft, Berlin), Rosemarie Hebbel (Volksbuchhandlung Anna Seghers, Halle), Gerald Nußbaum (Berliner Buchhandelsgesellschaft), Jürgen Petry (LKG, Leipzig), Dr. Katrin Pieper (Kinderbuchverlag, Berlin), Dr. Reginald Pustkowski (Tourist Verlag, Leipzig), Jens Rühl (Erich-WeinertBuchhandlung, Magdeburg), Dr. Erhard Walter (Fachbuchverlag, Leipzig) und Hans Baier, der am 1. Januar das Amt des Geschäftsführers vom altershalber ausscheidenden Kurt Rüddiger übernommen hatte.
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Abb. 2: Mitgliederversammlung des Börsenvereins 1983. Foto: Siegfried Müller.
Die gesellschaftliche Krise erreichte auch Verlagswesen und Buchhandel. Deutlich verlangte Jürgen Gruner in Anwesenheit von Ursula Ragwitz, Abteilungsleiterin im ZK der SED, und ›Buchminister‹ Klaus Höpcke, den Börsenverein als »sozialistisches Demokratiepotential […] fürs Regieren besser zu nutzen, um ›Störfaktoren‹ zu bekämpfen: das für jeden und alle überflüssige Buch, […] die gesellschaftliche Ungerechtigkeit bei der Verteilung sehr geschätzter, sehr gesuchter Bücher.«183
Viele Probleme – kaum Lösungen In den 1970er und 1980er Jahren gewannen die Aktivitäten der Mitglieder des Börsenvereins jenseits politischer Rhetorik stärker praktische Kontur, ohne allerdings notwendige Veränderungen durchsetzen zu können. Vorstand, Ausschüsse und Kommissionen nahmen nach ihren Arbeitsplänen Aufgaben wahr, die sich bezogen auf 1. ständige Projekte wie Öffentlichkeitsarbeit für das Buch im In- und Ausland; 2. auf Grundsatzfragen der perspektivischen Entwicklung von Buch und Buchhandel;
183 Jürgen Gruner: Funktionen des Verbands und das zu nutzende sozialistische Demokratiepotential. In: Börsenblatt (Leipzig) 154 (1987) 1, S. 8.
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Besondere Leistungen lassen sich unter der Rubrik ›Förderung der Buchkultur‹ zusammenfassen. Dazu zählten die jährlichen Wettbewerbe ›Schönste Bücher der DDR‹ (zusammen mit dem MfK) genauso wie die Ausstellungen ›Schönste Bücher aus aller Welt‹ (zusammen mit der Stadt Leipzig) sowie Vorbereitung und Organisation der Internationalen Buchkunst Ausstellungen (iba) 1959, 1965, 1971, 1977, 1982 und 1989. Dadurch erfuhr der Leipziger Börsenverein international Beachtung. Zugleich konnte er so Einfluss nehmen auf Qualität und Exportfähigkeit der unter ständig neuen Mängeln des ohnehin viel zu knappen Papiers, der Qualität der Druckfarben und des Tief- oder Offsetdrucks leidenden Buchproduktion. Besonders gefragt waren die Kommission Buchkunst (Vorsitzender Helmut Bähring 1974–1986; Roland Links 1986–1990) und die Kommission Qualität der Produktion (Vorsitzender Heinz Köhler 1981–1986; Dr. Reginald Pustkowski 1987–1990). Mit Ausstellungen der »Schönsten Bücher« in mehreren Ländern, den Presseinformationen ›DDR Buch‹, den iba Informationen und Broschüren wie Die DDR – ein Land des Buches förderte die Kommission Öffentlichkeitsarbeit/Auslandsinformation (Vorsitzender Hans Baier 1971–1989) die ab 1964 immer dringlicheren Exportanstrengungen der Verlage wie des staatlichen Außenhandelsbetriebes Buchexport. Die Kommission Internationale Arbeit (Vorsitzender Heinz Köhler 1971–1978; Dr. Fritz-Georg Voigt 1978–1984) bereitete Buchausstellungen zusammen mit Verbänden in Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Frankreich und Griechenland vor. Die gemeinsamen Aktivitäten von Börsenverein und Bibliotheksverband zum UNESCO-Jahr des Buches trugen zur Aufnahme der DDR in UNESCO 1972 und UNO 1973 und damit zu ihrer außenpolitischen Anerkennung bei. Oft debattiert, nie gelöst wurden Probleme termin-, qualitäts- und bedarfsgerechter Buchproduktion.184 Der Verlegerausschuss (Vorsitzender Ludolf Koven 1954–1967; Siegfried Hoffmann 1967–1971; Hans Bentzien 1971–1974; Jürgen Gruner 1974–1983; Elmar Faber 1983–1990) und seine Arbeitsgruppe Polygraphie führten immer wieder Beratungen mit Vertretern der Zentrag, der Holding SED-eigener polygraphischer Betriebe, durch, die jedoch aufgrund absoluten Vorrangs von Parteidrucksachen nie recht wirksam wurden. Außerdem befasste sich der Verlegerausschuss mit Planrückständen, Exportfragen und Preisdruck. Zusammen mit der Kommission Urheberrechts- und Lizenzfragen (Vorsitzender Hans-Otto Lecht 1984–1990) überarbeite er Musterverträge für wissenschaftliche und belletristische Literatur. Die Arbeitsgruppe, dann Kommission Neue Medien (Vorsitzender Dr. Erhard Walter 1984–1990), kümmerte sich um Einführung von EDV und Lichtsatz, um nur einige Themen zu nennen. Der Sortimenterausschuss (Vorsitzender Hellmut Dietzel 1958–1962; Lothar Winkel 1962–1967; Rudolf Schmalz 1967–1983; Heinz Neuer 1983–1990) führte BuchhändlerBeratungen im Zusammenhang mit der jährlichen ›Woche des Buches‹ durch, propagier-
184 Lokatis: Mechanismen der Anpassung und Kontrolle in einer differenzierten Verlagslandschaft, S. 97.
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te zusammen mit dem Bibliotheksverband der DDR die Kombination von Buchausleihe und -verkauf und setzte sich immer wieder mit der unbefriedigenden Auslieferungstätigkeit des LKG auseinander. Seine Arbeitsgruppe Musikalien (geleitet von Max Schrottke 1971–1974, von Herbert Schulze 1974–1981, von Hans Lehmann 1981–1989) verwies im Mai 1989 in einer ›Konzeption zur Entwicklung der Musikverlage und des Musikalienhandels bis zum Jahre 2000‹ auf Disproportionen im Angebot. Die Arbeitsgruppe Antiquariat (geleitet von Rudolf Vogel 1971–1978, Dr. Jürgen Schebera 1978–1984, Helmut Kazimirek 1984–1990 [Zentralantiquariat des Volksbuchhandels, Leipzig]) erarbeitete Grundsätze zur Führung von Antiquariaten, analysierte Preisentwicklungen u. a. m. Obwohl die Notwendigkeit historischer Forschung wiederholt betont wurde, ist die Historische Kommission (Vorsitzender Peter Läuter [Dietz Verlag, Berlin] 1971–1974, Dr. Wolfgang Genschorek [B. G. Teubner, Leipzig] 1974–1989) über Ansätze zu konstruktiver Arbeit nie hinausgelangt. Immerhin erschienen 1975 zum 150. Jahrestag der Gründung des Börsenvereins in Band 7 der von Helmut Rötzsch und Karlheinz Selle im Auftrage der Historischen Kommission herausgegebenen Beiträge zur Geschichte des Buchwesens zwei umfangreiche Arbeiten zur Geschichte des Börsenvereins, die von der Historischen Kommission initiiert worden waren.185 Die Fortführung der Beiträge und die Arbeit an zwei Sammelbänden mit Lebensbildern von Verlegern der Arbeiterklasse und »progressiver bürgerlicher Verlegerpersönlichkeiten« waren immer wieder Gegenstand kontroverser Überlegungen seit Ende der 1970er Jahre. Die Kommission Aus- und Weiterbildung (Vorsitzende: Lieselotte Oelsner 1974–1984, Herbert Schuster 1984–1987, Jürgen Petry 1984–1989) aktualisierte Berufsbild und Ausbildungsunterlagen, bemühte sich um Anpassung der Lehrpläne und um engere Zusammenarbeit der Bildungsträger. Der Vorstand erarbeite verbandspolitische Stellungnahmen, befasste sich mit den deutsch-deutschen Beziehungen und mit Grundsatzfragen der Branchen- und Verbandsentwicklung, um über die Abteilung Kultur im Politbüro des ZK der SED und die staatliche HV Einfluss nehmen zu können auf Buchhandel und Verlagswesen betreffende Planungen und Entscheidungen. So entstanden interne Arbeitspapiere, in denen, anders als in veröffentlichten Berichten, die krisenhafte Situation in einzelnen Bereichen der Branche unverblümt dargestellt wurde. Sie blieben aber trotzdem weithin wirkungslos. Darunter waren vorgeschlagene »Maßnahmen zur weiteren Entwicklung des Verlagswesens und Buchhandels der DDR bis zum Jahre 2000« (1987), »Maßnahmen zur weiteren Erhöhung der Qualität der Buchproduktion« (1988) und zur Funktion des »Börsenverein(s) in den neunziger Jahren« (1988/1989). Alle diese Vorlagen zeigen, dass der Vorstand durchaus die kaum gelösten Grundprobleme erkannte, ohne aber unter den gegebenen Bedingungen Änderungen erreichen zu können. Unzureichende Verbandsdemokratie und Information der zuletzt knapp 1.200 Mitgliedsbetriebe, fast ausschließlich Volksbuchhandlungen, mit ca. 12.000 Mitarbeitern, von denen aber nur rd. 200, größtenteils Leiter renommierter Verlage, in Verbandsgremien mitwirkten, während der private Buchhandel nur mit zwei Vertretern beteiligt war; die Begrenztheit des 1989 auf 700.000 Mark angewachsenen Jahresetats des Börsenver-
185 Hoyer/Schäfer: Die fortschrittlichen Traditionen des Börsenvereins; Baier: Zur Entwicklung des Börsenvereins.
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eins, der sich aus Mitgliedsbeiträgen, Einnahmen und einem Beitrag aus dem Staatshaushalt speiste und der Finanzierung immer aufwendigerer Aktivitäten im In- und Ausland diente; Ergebnislosigkeit der Bemühungen um tragfähige Kooperationsbeziehungen zwischen Polygraphie, Verlagen und Sortimentsbuchhandel; unklare Perspektiven von Buchmesse und Buchstadt Leipzig infolge ausbleibender Entscheidungen und dringend erforderlicher Investitionen. Angesichts unzulänglicher Arbeitsbedingungen in Leipziger Verlagen hat sich der Vorstand immer wieder für den Bau eines ›Hauses des Buches‹186 eingesetzt wie auch für bauliche und materiell-technische Verbesserungen bei LKG und im Volksbuchhandel. Immer wieder angemahnt wurden notwendige Investitionen als Voraussetzung für internationale Wettbewerbsfähigkeit der Buchproduktion – ohne Erfolg. Die Planungen des Vorstandes reichten bis weit in die 1990er Jahre und darüber hinaus. So waren z. B. für 1996 und die Jahrtausendwende Internationalen Buchkunst-Ausstellungen (iba) vorgesehen. Dass die Entwicklung in eine ganz andere Richtung gehen würde, sah im Börsenvereinsvorstand selbst Anfang 1989 kaum jemand voraus.
Deutsch-deutsche Annäherung Außenpolitische Veränderungen seit Mitte der 1970er Jahre und wachsende Verflechtungen in Lizenz-, Kompensations- und Kreditgeschäften zwischen Verlags- und Druckereiunternehmen dies- und jenseits der Elbe wirkten sich positiv auf deutsch-deutsche Verbandsbeziehungen aus. Die vom Leipziger Börsenverein auf Pressekonferenzen anlässlich der Leipziger Buchmessen, in Briefen an den Frankfurter Verein und nicht zuletzt im Namens- und Flaggenstreit auf der Frankfurter Buchmesse unterstützten Kampagnen zur staatsrechtlichen Anerkennung der DDR führten zu Erfolgen: Ende 1972 wurde der ›Grundlagenvertrag‹187 zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet, 1973 wurden beide in die UNO aufgenommen.
186 Das ›Haus des Buches‹ wurde 1993 bis 1996 vom wiedervereinigten Börsenverein und dem Kuratorium Haus des Buches auf dem Gelände des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Buchhändlerhauses an der heutigen Pragerstraße/Kreuzung Gerichtsweg als Literaturhaus für Leipzig errichtet. Für Bau und Betrieb des Hauses ist der Börsenverein, für die Veranstaltungstätigkeit das Kuratorium zuständig. Das am 18. April 1990 gebildete Kuratorium Haus des Buches beteiligte sich an den vom Börsenverein übernommenen Baukosten mit den Geldern, die einst für den Bau eines Haus des Buches vorgesehen waren. In dieses sollten unter kaum zumutbaren räumlichen Bedingungen arbeitende Verlage einziehen. Sein Bau wurde zu DDR-Zeiten ab etwa 1969 immer wieder angemahnt, doch nie realisiert. Im letzten Jahr der DDR 1990 übergab das MfK die für den Bau geplanten 30 Mio Mark der DDR einem neu gebildeten Kuratorium Haus des Buches, das rd. die Hälfte in die Baukosten fließen ließ. Seit 1996 residieren in dem modernen Gebäude u. a. Verlage und Vereine, die sich der Literaturförderung widmen, wozu das Literaturhaus Leipzig jährlich rd. 200 Lesungen, Vorträge u. a. anbietet. 187 Kurzbezeichnung für den »Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR«, der am 21. Dezember 1972 abgeschlossen wurde und am 21. Juni 1973 in Kraft trat.
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Kulturpolitische Abgrenzung nach innen bei Kooperationsbereitschaft nach außen auf der Grundlage der ›Zwei-Nationen-These‹ bildeten den Handlungsrahmen für Beziehungen des Leipziger Börsenvereins zu seinem Frankfurter Partner. Gespräche zwischen beiden waren wieder in Gang gekommen. Verlage aus der DDR waren einzeln oder in Kollektivausstellungen, Verlage aus der Bundesrepublik einzeln oder über Kommissionäre bzw. seit 1984 auf einem Gemeinschaftsstand der Frankfurter Ausstellungs- und Messe GmbH in Leipzig vertreten. 1984 trat die DDR dem ISBN-System bei. Angesichts verschärfter Konfrontation zwischen den USA unter Präsident Reagan und der UdSSR unter den Generalsekretären Tschernenko und Andropow einigten sich ost- und westdeutsche Politiker auf eine ›Koalition der Vernunft‹. Diese Sicherheitspartnerschaft der 1980er Jahre förderte die Normalisierung deutsch-deutscher Beziehungen auch zwischen beiden Börsenvereinen. Am 6. Mai 1986 wurde nach 13 Verhandlungsjahren zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten ein ›Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit‹ (Kulturabkommen) unterzeichnet, das noch am selben Tag in Kraft trat.188 1987 fanden am Rande der Buchmessen Gespräche zwischen den Partnervereinen über gegenseitige Buchausstellungen und Aufnahme von DDR-Titeln in das bundesdeutsche Verzeichnis lieferbarer Bücher statt. Am 20. Oktober 1988 wurde in der Berliner Stadtbibliothek die erste von vier Ausstellungen ›Bücher aus der Bundesrepublik Deutschland‹ eröffnet. Mit 3.000 Titeln wurde sie anschließend auch in Rostock, Dresden und Weimar gezeigt. Im Gegenzug wurden im Jahr 1989 ›Bücher aus der DDR‹ in Hamburg, Köln, Heidelberg und München ausgestellt. Die zeitweise gespannten, gleichwohl nie ganz abgerissenen Beziehungen zwischen den Vereinen in Leipzig und Frankfurt und ihre Normalisierung ab den 1980er Jahren haben die Wiedervereinigung 1990 erleichtert.
Es wächst zusammen, was zusammengehört (1989–1990) Der Leipziger Börsenverein am Ende der DDR Seit September 1989 wurden Reformforderungen Hunderttausender auf Montagsdemonstrationen nicht nur in Leipzig unüberhörbar. Honecker wurde bereits am 18. Oktober 1989 zum Rücktritt gedrängt und Egon Krenz zum neuen Parteichef gewählt. Das Land zwischen Ostsee und Erzgebirge war in friedlichem Aufruhr. Am 9. November kam der Börsenvereinsvorstand im Akademie-Verlag, Berlin, zusammen und wollte eigentlich ›business as usual‹ betreiben. Auf Vorschlag Jürgen Gruners wurde jedoch die Tagesordnung verändert, »um aktuelle herangereifte Fragen verlegerischer und buchhändlerischer Wirksamkeit behandeln zu können«. Der Vorsteher forderte »wirkliche sozialistische Demokratie«, eine veränderte Haltung des Verbandes zum privaten Sektor, erinnerte an unbeantwortete Vorschläge, verlangte Entbürokratisierung und Klärung von Kompetenzen »des staatlichen Organs« HV. Um das Gewicht des Börsenvereins in der gegenwärtigen kritischen Situation zu erhöhen, seien wirkliche Wahlen unabdingbar. Deshalb sollten die für 1991 vorgesehenen Verbandswahlen auf Frühjahr 1990 vorgezogen werden.
188 Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit.
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Am Abend desselben Tages fiel die Mauer in Berlin, wurden deutsch-deutsche Grenzen geöffnet.
Rückbesinnung Die Situation war völlig verändert als der Vorstand am 12. Dezember 1989 zu einer erweiterten Sitzung erneut zusammentrat. Unter den Gästen im Haus des Berliner Verlages Volk und Welt befanden sich neben Arno Lange von der Abteilung Kultur im ZK der SED und Karlheinz Selle von der HV im MfK erstmals wieder private Buchhändler. Das verkrustete Ritual solcher Zusammenkünfte brach auf: Nach Jahren vorbereiteter Deklamationen wurde wieder diskutiert – über Standort, Funktion und Selbstverständnis des Börsenvereins. Der Leipziger Börsenverein sah sich angesichts des politischen Aufbruchs aus der Stagnation eines maroden Gesellschaftssystems in einer Existenzkrise. Seine wirkliche Re-Demokratisierung, ja Erneuerung wurde zur Überlebensfrage. Einigkeit unter den meisten Anwesenden bestand darin, dass der erzwungene ›Burgfrieden‹ mit jahrzehntelang akzeptierten Zuständen aufgekündigt, das administrativ-zentralistisch organisierte System des ›real existierenden Sozialismus‹ von Grund auf umgebaut werden und der Börsenverein in die Selbstständigkeit zurückkehren muss. Ob dies als ›sozialistischer Unternehmerverband‹ geschehen kann, als Berufsverband, als rechtsfähige Vertretung der Verleger und Buchhändler oder ob er durch je eigenständige Verlegerund Buchhändlervereinigungen ersetzt werden sollte, in diesen Streitpunkten, die seit jeher die Mitgliedschaft spalteten, gingen die Meinungen ebenso auseinander wie in der Frage nach der künftigen Rolle des Börsenvereins. Obwohl die HV mehrfach angesprochen, ja in Frage gestellt wurde – diesmal schwiegen die Vertreter von ›Partei und Regierung‹, die sonst so gerne ex cathedra die Welt erklärt und den Börsenvereinsmitgliedern gesagt hatten, was sie zu tun haben. Auch der Vorstand war zerstritten und zeigte sich »phantasielos, wo es gilt, radikale Veränderungen in Gang zu setzen; wo es nicht mehr ausreicht, Arbeit zu verbessern«, kommentierte Martin Holtermann, Inhaber einer Evangelischen Buchhandlung in Magdeburg, die Situation.189 Man einigte sich darauf, eine Mitgliederversammlung am 19. April 1990 in Leipzig durchzuführen, und folgende Kommissionen einzusetzen: –
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eine Statuten-Kommission (Dr. Andreas Henselmann, Direktor des Büros für Urheberrechte, Berlin [Vorsitzender], Hans Baier, Harry Fauth, Ursula Grimm, Wolfgang Mitschke, Norbert Molkenbur, Dr. Katrin Pieper, Marion Rödel, Michael Rosenthal, Hans Schulz), die die ganze Breite der Mitgliedschaft repräsentiert; eine Antrags- und Programmkommission (Hans Baier [Vorsitzender], Dr. Harald Böttcher, Rudolf Chowanetz, Dr. Gerhard Dahne, Klaus-Peter Gerhardt, Martin Holtermann, Heinz Neuer, Manfred Schlechte, Dr. Wolfgang Tenzler, Horst Wandrey)
189 Martin Holtermann: Börsenverein – Interessenvertreter aller? In: Börsenblatt (Leipzig) 157 (1990) 3, S. 46.
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eine »Kommission für verlegerische und buchhändlerische Kooperation mit deutschsprachigen Ländern«, die Verhandlungen mit dem Frankfurter Verein vorbereiten soll (Hans-Otto Lecht [Vorsitzender], Hans Kruschwitz, Roland Links, Norbert Mahn, Gerald Nußbaum, Jürgen Petry, Dr. Reginald Pustkowski, Rainer Tietz, Fritz Waniek).
Die ausführliche Debatte wurde auf einer gemeinsamen Sitzung von Verleger- und Sortimenterausschuss und im Börsenblatt fortgesetzt, das sich nicht nur äußerlich infolge Umstellung auf Lichtsatz und Offsetdruck, sondern auch inhaltlich ansprechender und interessanter präsentierte. Über 60 Zuschriften an die Antrags- und Programmkommission waren eingegangen, als der Vorstand am 8. Februar 1990 wieder zusammenkam. Vorsteher Gruner gab einen Brief von Elmar Faber zur Kenntnis, der in Übereinstimmung mit vielen Mitgliedern den Rücktritt des Vorstandes nahelegte. Pragmatische Erwägungen führten dazu, die Mitgliederversammlung nicht vorzuverlegen, den Vorstand noch nicht aufzulösen, lediglich Vertreter des unterrepräsentierten privaten Buchhandels zu kooptieren.
Übergangserneuerung Für den 18. März 1990 waren Buchhändler und Verleger aus den Bezirken der NochDDR sowie Vorsteherin und Hauptgeschäftsführer des Frankfurter Vereins zu einer außerordentlichen Mitgliederversammlung nach Leipzig geladen. Fast auf den Tag genau vor 45 Jahren war mit der amerikanischen Besetzung für die zerstörte Buchstadt der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Nun trafen sich wieder Buchhändler und Verleger, um zwischen Resignation und Hoffnung Wege aus einer Krise zu suchen, in die ihr Verband wie das ganze Land mit dem Scheitern von Planwirtschaft und obrigkeitsstaatlichem Sozialismus geraten war. Doch nicht um Neuanfang ging es, nur um Nachlassverwaltung und Übergang in die Wiedervereinigung. Bundeskanzler Helmut Kohls Konföderationsplan war bald überholt, eine übereilte Währungsunion absehbar, eine Wirtschaftsunion praktisch im Gange, die Strukturen des DDR-Buchmarkts in Auflösung, DDR-Bücher kaum mehr verkäuflich. Die Reprivatisierung hatte begonnen, Existenzangst und Resignation griffen um sich. Ob es daran oder an noch nicht überwundener Ratlosigkeit lag, dass die Diskussion, anders als in den Wochen zuvor, zurückhaltend und lasch wirkte? Auch die Berichte des Vorstehers Jürgen Gruner und der Vorsitzenden von Verleger- und Sortimenterausschuss, Elmar Faber und Heinz Neuer, wirkten, um Glaubwürdigkeit bemüht, matt, verlegen und elegisch. Die Mitgliederversammlung beschloss ein neues Statut, das sich weitgehend an die Satzung des Frankfurter Vereins anlehnte. Auf einen Antrag, dem die Mehrheit der Versammelten zustimmte, wurde lediglich eingefügt, dass das Statut bis zu einer Vereinigung beider Börsenvereine gelten und der neue Vorstand Fusionsverhandlungen mit dem Frankfurter Verein aufnehmen soll. In den achtköpfigen Vorstand nicht mehr berufen, sondern nach 44 Jahren erstmals von der Hauptversammlung frei gewählt wurden Hans-Otto Lecht als Vorsteher, Martin Holtermann als Stellvertreter, Dr. Siegfried Bräuer, Dr. Gerhard Dahne, Roland Links, Roland Quos, Albrecht Reinhold und Manfred Schlechte.
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Hauptleistungen des neuen Vorstands waren Verhandlungen mit dem Frankfurter Börsenverein über Modalitäten einer Zusammenführung, der Aufbau von Landesverbänden und Beratung der Mitglieder beim Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft.
Auf dem Wege zur Wiedervereinigung Die Partner aus Leipzig und Frankfurt waren sich nicht fremd. Sie hatten zumeist Probleme in beiderseitigem Interesse zu lösen gewusst, obwohl 40 Jahre lang der politische Abstand groß und der Handlungsspielraum eng war. Die sich überstürzenden Ereignisse des Jahres 1989/90 veränderten auch die Art des Umgangs zwischen den Vertretungen beider Verbände: »Am Anfang ging es um die Normalität der Beziehungen, dann um gute Nachbarschaft, und dann wurde […] begriffen, wie schnell gedachte Zukünfte von Realitäten überholt werden«.190 Mit unterschiedlichen Hoffnungen und Erwartungen kamen Buchhändler und Verleger aus der DDR zur ersten freien deutsch-deutschen Begegnung am 11. März 1990 in die Deutsche Bücherei in Leipzig. Der Frankfurter Verein hatte eingeladen. Der Ort war mit Bedacht gewählt. 1912 vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig gegründet, 1940 verstaatlicht, 1945 zuerst dem Land Sachsen, seit 1951 dem Staatssekretariat, später Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR unterstellt, war die Deutsche Bücherei auch in den Jahren der Teilung Symbol für den »Konnex« des deutschen Buchhandels und damit ihrem Gründungsauftrag treu geblieben. Die meisten bundesrepublikanischen Verlage hatten ihr auch nach der ›Konkurrenzgründung‹ einer Deutschen Bibliothek zu Frankfurt am Main weiterhin freiwillig Belegexemplare geschickt, wodurch sie für viele in der DDR zu einem »Loch in der Mauer«191wurde. »Wir stehen vor der Herausbildung des gesamtdeutschen Buchmarkts«, erklärte die Vorsteherin des Frankfurter Vereins, Dorothee Heß-Maier, an derart historischem Ort. »Ein einheitlicher Buchmarkt heißt auch eine einheitliche Standesorganisation.«192 Der Leipziger Vorstand hatte ein Papier vorbereitet, das während der Leipziger Buchmesse im März 1990 mit Mitgliedern des Frankfurter Ausschusses für Innerdeutschen Handel besprochen und an zu bildende Verhandlungsdelegationen verwiesen wurde. Eine Leipziger (Hans-Otto Lecht, Martin Holtermann, Dr. Siegfried Bräuer, Alfred Neumann, Hans Baier) und die Frankfurter Verhandlungsdelegation (Dorothee HeßMaier, Dr. Volker Schwarz, Ulrich Osberghaus, Dr. Hans-Karl von Kupsch, Prof. Dr. Becker und Annette Kusche) trafen am 15. Mai 1990 erstmals zusammen. Satzungsgemäße Organe und Kommissionen tagten fortan gemeinsam. Auch die Geschäftsstellen kooperierten. Beide Verhandlungskommissionen verabschiedeten im Hinblick auf die ab 1. Juli 1990 in Kraft tretende Wirtschafts- und Währungsunion ein »Gemeinsames Memorandum«, in dem sich beide Vereine für Erhalt mittelständischer Strukturen bei der Privati-
190 Gefühle zwischen Hoffnung und Lamento. In: Börsenblatt (Leipzig) 157 (1990) 21, S. 393– 398. 191 So das Motto einer Tagung des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesen, Lehmstedt/Lokatis (Hrsg.): Das Loch in der Mauer. 192 Der alte Rahmen kann nicht täuschen. In: Börsenblatt (Leipzig) 157 (1990) 15, S. 269.
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Abb. 3: Treffen der Börsenvereine Frankfurt am Main und Leipzig am 11. März 1990 in Leipzig: Hans-Karl Kupsch, Dorothee Heß-Maier, Hans-Otto Lecht und Jürgen Gruner. Foto: Siegfried Müller.
sierung der Verlags- und Buchhandelsunternehmen in der DDR und gegen Tendenzen aussprachen, »bisherige DDR-Staatsmonopole in neue privatwirtschaftliche umzuwandeln.«193 Das trug dazu bei, die Übernahme ganzer Bezirksbetriebe des Volksbuchhandels und deren Eingliederung in bundesrepublikanische Ketten zu bremsen. Man kam ferner überein, den Leipziger Platz mit Buchmesse und buchhändlerischen Bildungseinrichtungen zu erhalten, das Engagement für Buchkunst mit den Ausstellungen ›Schönste Bücher aus aller Welt‹ fortzuführen und analog zur föderativen Staatsstruktur drei Landesverbände für das Gebiet der DDR zu bilden. Dass der Börsenverein mit Geschäftsstelle und Redaktion des Börsenblatts nicht an seinen Gründungsort zurückkehren wollte – »dieser Verzicht ist für alle, die sich Leipzig traditionsbewusst verpflichtet fühlen, schmerzlich«, räumte der letzte Vorsteher des Leipziger Börsenvereins, Hans-Otto Lecht, ein. Doch »hier war der Realität Rechnung zu tragen, dass unser Verband in vier Jahrzehnen DDR auch nicht annähernd etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Die Gesamtpolitik war dafür nicht geeignet.«194
193 Für mittelständische Strukturen auf DDR-Buchmarkt. Gemeinsames Memorandum der Börsenvereine Leipzig und Frankfurt/M. In: Börsenblatt (Leipzig) 157 (1990) 29, S. 527. 194 Hans-Otto Lecht: Liebesheirat oder Vernunftehe? Außerordentliche Mitgliederversammlung des Leipziger Börsenvereins stimmte der Fusion zu. In: Börsenblatt (Leipzig) 157 (1990) 49, S. 897–901.
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4 Di e B er u fs o rg a n is a ti o n Die Frankfurter Vorsteherin Dorothee Heß-Maier betonte: Wir haben uns die Vorbereitung des Fusionsvertrages nicht leicht gemacht. Immer wieder haben wir […] für die existenziellen Sorgen des Buchhandels im Gebiet der ehemaligen DDR 195 gesprochen. […] Sie alle haben viel Neues aufgebaut und Altes bewahrt.
In der Tat, trotz wirtschaftlich desolater Situation, mit leeren Händen trat der Leipziger Zweig des Börsenvereins nicht in die zu begründende ›Vernunftehe‹: Mit seinem Grundstück am Gerichtsweg und dem Ferienheim Lauenstein betrug das Vermögen rd. 8,5 Mio. DM. Nicht in Zahlen auszudrücken ist, was die Mitarbeiter der Verlage und des Buchhandels an Fachkenntnis, Engagement und Berufsethos in die Buchkultur des wiedervereinigten Deutschland einzubringen hatten. Sichtbaren Ausdruck fanden diese ideellen Werte in der Qualität editorischer Textbearbeitung und in der Buchgestaltung. Dafür hatte sich der Leipziger Börsenverein besonders engagiert, darin wohl auch eine Nische für konstruktives Wirken gefunden, das ihm auf Feldern verbandspolitischer Interessenvertretung auf Grund politischer Konstellationen versagt blieb. Ergebnis der Verhandlungen war ein Vertragsentwurf, der in beiden Börsenblättern veröffentlicht wurde. Am 14. November 1990 schließlich fand in der Alten Börse am Leipziger Naschmarkt, dort, wo seit 1968 die Leipziger Buchmessen alljährlich festlich eröffnet wurden, die letzte Außerordentliche Mitgliederversammlung des Leipziger Börsenvereins statt. Etwa 110 Vertreter aus Mitgliedsunternehmen nahmen daran teil. Um 12.38 Uhr war es soweit: Die Mitglieder des Leipziger Börsenvereins beschlossen einstimmig die Annahme des Vertrages und damit die Fusion der beiden Börsenvereine der deutschen Buchhändler. 14 Tage später, am 28. November 1990, stimmte die Hauptversammlung in Frankfurt ebenfalls zu, sodass der wiedervereinigte Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. zum 1. Januar 1991 seine Arbeit aufnehmen konnte.
Epilog Tiefgreifender und direkter als in Frankfurt am Main haben in Leipzig politische Eingriffe die Entwicklung von Verlagswesen, Buchhandel und deren Standesvertretung nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt. Die handelnden Personen auf der kleinen geschichtlichen Bühne ›Börsenverein‹ standen 1945 unter dem Schockerlebnis von Krieg und Verbrechen. Das sollte sich nie wiederholen! Darum wollten sie im Neubeginn Subjekt historischer Veränderung sein – und blieben doch nur Objekt im großen Spiel um Macht, das gemeinhin Politik genannt wird.
195 Dorothee Hess-Maier: Wichtige Entscheidung. In: Börsenblatt (Leipzig) 157 (1990) 49, S. 900.
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Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Bundesarchiv (BArch) Volksbuchhandel DR 1/1871 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (StA-L) Bestand 21766 Börsenverein II Stadtarchiv Leipzig (SAL) Bestand Stadtverwaltung und Rat (StVuR) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO-BArch) ZK der SED (DY 30/IV 2/1)
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Reimar Riese 4.2
Buchhändlerische Berufsbildung in der Deutschen Demokratischen Republik (1949–1990)
1949 – das Jahr der doppelten Staatsgründung Vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war in den westlichen Besatzungszonen die »grundsätzliche politische Marschrichtung der Westintegration und der Schaffung politischer Verhältnisse mit größerer deutscher Eigenverantwortlichkeit« so weit fortgeschritten, dass am 23. Mai eine Grundgesetz genannte Verfassung beschlossen und am 14. August 1949 die Bundesrepublik Deutschland konstituiert werden konnte. »Zeitlich parallel […] wurde in der SBZ die Volkskongressbewegung […] als ›von oben‹ inszenierte Gegenbewegung gegen die immer sichtbarer werdende Spaltung Deutschlands seit dem Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz von 1947 organisiert, die ebenfalls zu einer Verfassung und zur separaten Staatsgründung am 7. Oktober 1949 führte.«1 Diese Ereignisse folgten einer Entwicklung, die schon in den Besatzungsjahren (1945–1949) auseinanderlief: Truman-Doktrin, Marshall-Plan und Zusammenschluss der englischen und amerikanischen Besatzungszone zur Bizone wurden von der Sowjetunion als Bruch des Potsdamer Abkommens und Konfrontation gewertet. Sie sah sich bestätigt, ›volksdemokratische Revolutionen‹ von Polen bis Bulgarien weiterzuführen und antwortete mit der Gründung eines Informationsbüros kommunistischer und Arbeiterparteien (Kominform), mit dem Auszug aus dem Alliierten Kontrollrat für Deutschland und einer Blockade der Westsektoren Berlins.2 Das deutsche Volk sieht diese beiden Mächtegruppen miteinander ringen […] und fühlt […], dass niemand um diese Realität herumkommt. […] Vor uns liegt das Jahr 1949. Wir wissen nicht, was es auf politischem Gebiet bringen wird, wir wissen aber, dass die politischen 3 Ereignisse von tiefgreifender Wirkung auf die buchhändlerische Arbeit sein werden,
schrieb der von Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVV) 1948 eingesetzte 1. Vorsteher des Börsenvereins, Heinrich Becker, im Börsenblatt zur Jahreswende 1948/49. Die entstehenden Machtblöcke hatten schon während der Besatzungszeit wirtschaftlich wie politisch einschneidende Währungsreformen auseinandergerissen: Sie erfolgten im Juni 1948 zuerst in der amerikanischen und britischen Besatzungszone (Bizone), danach im sowjetischen Besatzungsgebiet. Fortan standen sich im ausbrechenden ›Kalten Krieg‹ auf deutschem Boden zwei Staaten gegenüber, die divergente politische Richtungen einschlugen: Ließ sich die Deutschlandpolitik der Westalliierten vom ›Appeasement‹ mit mehr oder minder entnazifizierten Funktionseliten und einer Restauration
1 Kleßmann: Doppelte Staatsgründung, S. 199–200. 2 Die Westsektoren Berlins konnten nicht mehr über die Transitautobahnen durch die SBZ versorgt werden. Die Amerikaner richteten eine Luftbrücke ein. 3 Heinrich Becker: Jahreswende 1948/1949. In: Börsenblatt (Leipzig) 116 (1949) 1, S. 1–2. https://doi.org/10.1515/9783110471229-018
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wirtschaftlicher Vorkriegsstrukturen leiten, so liefen die Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht auf einen Paradigmenwechsel in Wirtschaft und Gesellschaft hinaus mit tiefgreifenden Folgen für Bildungs- wie Buchwesen. Eine kommunistisch oder sozialistisch genannte »›neue‹ Gesellschaft […] wurde bewusst als Gegenmodell zum liberalen und marktverfassten System geschaffen«.4 Eine sozialistische Kulturrevolution wurde in Gang gesetzt, die das herkömmliche Konzept der Nationalkultur mit dem einer Volkskultur verbinden sollte. Besonders Literatur und Lesen wurde erhebliches Umerziehungspotential zuerkannt. Schon vor Kriegsende hatte 1944 das Politbüro der KPD in enger Zusammenarbeit mit Georgi Dimitroff, damals stellvertretender Leiter der Abteilung Internationale Information beim ZK der KPdSU, die Herausgabe von Lehrbüchern marxistisch-leninistischer Provenienz, anderer politischer Schriften und klassischer deutscher Literatur in Nachkriegsdeutschland vorbereitet.5 Neue Ziele und Normen galten vor allem in einer ›der Zukunft zugewandt(en)‹ Erziehungspolitik gegenüber der jungen Generation. In der Bundesrepublik entschied nach wie vor eine kapitalistisch-liberale Wirtschaft in Selbstverwaltung über alle Belange beruflicher Nachwuchsbildung. In der DDR hoffte zwar der private Buchhandel bis in die 1950er Jahre, Berufsbildung könne wie vor 1933 in der Hand seines Branchenverbandes Börsenverein verbleiben, doch anders als in der autonomen Privatwirtschaft wurde in einer zentralistisch gelenkten Staatswirtschaft allein der Staatsapparat für Planung und Steuerung von Aus- und Fortbildung des beruflichen Nachwuchses zuständig. Mit der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVV) und dem Kulturellen Beirat waren in der SBZ nach dem Zweiten Weltkrieg die Verwaltungen installiert worden, die bis zur Gründung der DDR den Wiederaufbau von Bildungswesen wie auch von Verlagswesen und Buchhandel in Bahnen lenken sollten, auf die sich schon 1944 KPD-Führung unter Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht mit der KPdSU geeinigt hatte. Getreu der Leninschen Forderung: »Literarische Tätigkeit [auch verlegerische und buchhändlerische, R. R.] [soll] keine Quelle des Gewinns von Gruppen oder Einzelpersonen […], überhaupt keine individuelle Angelegenheit« mehr sein, sondern zu »einem Rädchen und Schräubchen des einen einheitlichen […] Mechanismus werden, der von dem […] politisch bewussten Vortrupp der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird«, war der Wiederaufbau des Buchwesens in Angriff genommen worden. Lenin hatte schon 1905 gefordert: »Verlage, Lager, Läden und Leseräume, Bibliotheken und Literaturvertriebe – alles dies muss der Partei unterstehen und ihr rechenschaftspflichtig sein«.6 Nach diesem Prinzip der »Parteiliteratur« wurde durch die SMAD im Verein mit der von ihr 1949 mit politischer Macht belehnten Staatspartei KPD/SED die für eine Erziehungsdiktatur zentrale Sphäre des Buchwesens umgestaltet, planwirtschaftlicher Lenkung und politischer Kontrolle unterworfen. Von 1945 an wurden Partei- oder organisationseigene Verlage als Rückgrat der wieder erstehenden Verlagslandschaft gegründet, ein neuer Typ des Buchhandels, der Volksbuchhandel, ausgebaut und die traditionelle Standesvertretung Börsenverein zum Verband aller im Buchhandel Beschäftigten transformiert.
4 Steiner: Plan, S. 8. 5 Dazu Löffler: Buch, S. 20 ff. 6 Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur, S. 29 ff.
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Berufsbildungspolitik in der DDR Mit Neugründungen und Enteignungen in der Wirtschaft waren bereits in der SBZ Grundlagen für eine neue Gesellschaft gelegt worden.7 Infolge diametral gegensätzlicher Gesellschaftsordnungen bildeten sich in beiden deutschen Staaten auch unterschiedliche gesellschaftspolitische Leitbilder heraus. Sie beeinflussten besonders Grundrichtungen in der beruflichen Aus- und Fortbildung. Berufliche Nachwuchsbildung blieb in der SBZ/DDR nicht länger einzelnen Wirtschaftsbranchen, gar selbstverantwortlichen Individuen überlassen, sondern folgte staatlichen Bestimmungen, die sich nach Zielen zentraler Wirtschafts- und Arbeitskräfteplanung richteten. Als übergeordnetes idealisches Leitbild galt die Erziehung des Einzelnen im sozialen Kollektiv. Dass die Überwindung der Vorkriegsordnung auf diesem Gebiet nicht immer geradlinig verlief, wird am Wechsel von Zuständigkeiten und Ausbildungsordnungen deutlich. Mit Auflösung der SMAD war 1949 die DVV zum Ministerium für Volksbildung der DDR (MfV) mutiert, dem anfangs auch der Buchhandel und sein Börsenverein unterstanden. Das MfV und die bis 1952 daneben bestehenden Volksbildungsministerien der Länder als seine verlängerten Arme blieben immer zuständig für die Hauptrichtung der Schul- und Erziehungspolitik, auch in der Berufsbildung. Organisatorisch waren Universitäten, Hoch- und Fachschulen wie auch Berufsschulen zwar den jeweiligen Fachministerien unterstellt. Die Leitlinien einer auf Durchlässigkeit vom Lehrlingsverhältnis bis zum Hochschuldiplom orientierten Bildungspolitik wurden bis 1951 einheitlich vom Volksbildungsministerium, ab 1951 vom neu gegründeten Staatssekretariat für das Hochschulwesen,8 ab 1958 auf Fachschulwesen erweitert, vertreten, aus dem 1967 das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen hervorging, das bis 1990 bestand. Generell war in letzter Instanz die Staatliche Plankommission9 für Berufsausbildung verantwortlich. Als ein ihr nachgeordnetes Organ trat seit 1. Februar 1966 das Staatliche 7 In der Industrie nahm der Anteil volkseigener gegenüber privaten Betrieben ständig zu. Mitte 1949 gab es 75 zentrale Vereinigungen volkseigener Betriebe, in denen 1.764 Betriebe zusammengeschlossen waren, 1950 bereits über 2.600 zentral geleitete und über 1.800 von den Ländern geführte volkseigene Betriebe. Sie beschäftigten 1950 1,5 Millionen Arbeitnehmer und erwirtschafteten drei Viertel der industriellen Produktion. Die Privatindustrie zählte 1950 etwa 17.000 Betriebe, die 25 % der industriellen Bruttoproduktion erzeugten. Bis 1955 wurde der Staatssektor systematisch ausgebaut: Die Zahl der volkseigenen Betriebe wuchs auf 5.700, die mehr als 83 % der industriellen Bruttoproduktion herstellten. Doch nicht nur in der Industrie, in allen Wirtschaftszweigen, auch im Buchhandel, errichtete die SED- Führung systematisch eine neue Eigentumsordnung. Der Großhandel ging fast völlig auf den Staat über, auch der Einzelhandel veränderte seine Struktur: Während 1950 der private Einzelhandel noch 55 % des Umsatzes erreichte (volkseigener Handel 25 %, Genossenschaften 20 %), sanken die Anteile bis 1955 auf jeweils ein Drittel. – Nach: Steiner: Plan. 8 Gemäß Gesetz über die Neuordnung des Hochschulwesens vom 22. Februar 1951 (2. Hochschulreform) war die Hauptabteilung Hochschulwesen des MfV und die Hochschulabteilungen an den Länderministerien für Volksbildung aufgelöst und ein Staatssekretariat gegründet worden. Gesetzblatt Teil I, Berlin (1951) 23, S. 123. 9 »Die Staatliche Plankommission ist das zentrale Organ des Ministerrates für Planung und Leitung der Volkswirtschaft sowie der Kontrolle der Durchführung der Pläne.« § 3 des Beschlusses der Volkskammer vom 19. Februar 1958. In: Gesetzblatt, Berlin (1958) S. 117.
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Amt für Berufsausbildung beim Ministerrat der DDR hinzu. Es war aus dem Deutschen Institut für Berufsbildung – bis 1950 Zentralinstitut für Berufsbildung, Nachfolgeorgan des 1945 aufgelösten Reichsinstituts für Berufsbildung – hervorgegangen. Zwischen 1954 und 1958 wurde es zeitweilig zum Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung erhoben. Institut bzw. Ministerium sollten alle Maßnahmen der für Berufsausbildung zuständigen Fachministerien und örtlichen Staatsorgane koordinieren sowie Vorschläge für die Staatliche Plankommission ausarbeiten. Mit dieser zentralistischen Organisation waren alle Staatsorgane der DDR bemüht, die sich aus dem Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule von 1946, dem SMAD-Befehl 234 über »Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und der weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten« vom 9. Oktober 194710 sowie aus mannigfachen Berufsausbildungsverordnungen ergebenden Konsequenzen auf allen Ebenen durchzusetzen und »die systematische, planmäßige Sicherung eines allseitig gebildeten Berufsnachwuchses […] für einzelne Berufszweige und Berufsgruppen« zu garantieren.11 Ziel der Berufsbildungspolitik in der DDR war nicht nur schlichtweg Vorbereitung junger Menschen auf einen von ihnen gewählten Beruf, sondern ihre autoritär-systematische Heranbildung zu sozialistischen Facharbeiterpersönlichkeiten, die sich durch hohe Allgemeinbildung, solide berufliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie durch feste politisch-ideologische und weltanschaulich-moralische Haltungen und Verhaltensweisen auszeichnen sollten.12 Allzeit galt die Losung: ›Der Lehrling von heute ist der Facharbeiter von morgen!‹ Nicht allein der Beruf, sondern ebenso die politisch-ideologische Erziehung von Schülern wie von Lehrlingen stand im Mittelpunkt jeglicher Ausbildung – auch der beruflichen – in der DDR. Als wichtigste Einrichtung einer vermeintlich wissenschaftsnahen Berufsausbildung wurde – zumindest für Schwerpunktberufe – die Betriebsberufsschule ins Leben gerufen. Zentrale Betriebsberufsschulen entstanden ab 1948 mit Herausbildung volkseigener Betriebe. In den 1980er Jahren gab es ca. 690 Einrichtungen dieser Art mit einer Kapazität zwischen 200 bis 4.000 Schülern. Durch ihre Gründung sollte ermöglich werden, den das traditionelle duale System der Berufsausbildung belastenden Unterschied zwischen annähernd gleichem Niveau des theoretischen Unterrichts in staatlichen Berufsschulen und den mitunter erheblichen Unterschieden in der praktischen Unterweisung durch die Ausbildungsbetriebe aufzuheben. Betriebsberufsschulen und Lehrwerkstätten großer Kombinate galten als Vorbild für die angestrebte Angleichung von theoretischer und praktischer Ausbildung. Daneben gab es für die übers Land verstreuten überwiegend kaufmännischen ›Splitterberufe‹, wie Buchhändler, Gastronomen u. a., sowohl kommunale Berufsschulen für den laufenden Basisunterricht als auch Zentralberufsschulen für aufbauende Spezialbeschulung. Dort erhielten Lehrlinge in mehrwöchigen Lehrgängen eine speziell auf den Beruf bezogene theoretische Bildung, sofern deren Ausbildungsbetriebe über keine eigenen Berufsschulen verfügten.13
10 11 12 13
Kleßmann: Doppelte Staatsgründung, S. 509–510. StA-L, Börsenverein II, 1545, Bl. 171. Rudolph: Berufsbildung in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 1 ff. Anordnung über die Organisation des Unterrichts in Zentralberufsschulen. In: Gesetzblatt Teil I, Berlin 54, S. 632–634.
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Generell war für die Bildungspolitik in der DDR Zentralisierung und das Streben nach übergreifender Vereinheitlichung charakteristisch, wenngleich nicht immer für alle Berufsgruppen erreichbar. Das erstrebte einheitliche System beruflicher Aus- und Weiterbildung stützte sich auf Gesetze und deren Durchführungsbestimmungen, die den jeweils proklamierten bzw. politisch erwünschten Hauptetappen der Gesellschaftsentwicklung von Zeit zu Zeit angepasst wurden. Schon vor Ende des Zweiten Weltkrieges hatten die Sowjets zusammen mit der Exilführung der KPD die Neugestaltung der Bildungslandschaft als »Form der revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern« geplant.14 Basis dieser Umformung war das am 31. Mai 1946 erlassene »Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule«, das im Laufe der Zeit mehrfach aktualisiert wurde.15 Dieses Gesetz entsprach sowohl der zwischen allen Besatzungsmächten nach dem Zweiten Weltkrieg vereinbarten ›Reeducation‹, also einer gründlichen Revision von Lehrkörper und Lehrinhalten, mit denen Schulen an der deutschen Katastrophe mitverantwortlich geworden waren, als auch der KPD-spezifischen Absicht einer Brechung des Bildungsprivilegs. Durch Aufhebung schichtenspezifischer Schulformen sollte »jedem ein schulischer und sozialer Aufstieg [und Zugang zum gewünschten Beruf, R. R.] unabhängig von der Herkunft ermöglicht werden«.16 Das Gesetz sah nicht nur eine Verstaatlichung aller Schulen, einschließlich der Berufs- und beruflichen Fortbildungsschulen vor, sondern legte auch Vorgaben zu Verantwortlichkeit und Verwaltung der Lehrerschaft fest. Diese neue Einheitsschule umfasste eine nicht mehr nach Jungen und Mädchen getrennte Grundstufe (Grundschule) und Oberstufe (Oberschule, Berufs- und/oder Fachschulen): dem Abschluss der achten Klasse der Grundschule sollte entweder die Berufsausbildung in einem Lehrbetrieb mit Berufsschulbesuch oder der Besuch weiterführender Schulen bis zum Abitur folgen, dem ›Eintrittsbillet‹ zur Hochschule. Schulpolitische Richtlinien hatte der Parteivorstand der SED gleich 1949 beschlossen. Sie galten – mit Veränderungen in der Zeit – bis 1990 und legten als grundsätzliche Anforderung an alle allgemein- wie berufsbildenden Schulen fest: »Vertiefung des antifaschistisch-demokratischen – nach 1952 sozialistischen – Inhalts von Unterricht und Erziehung und die Vermittlung eines allseitigen und systematischen Wissens«.17 Nach dem folgenden ›Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem‹ vom 25. Februar 1965 wurden schulische und betriebliche Berufsausbildung enger verbunden. Es sah eine zehnjährige Polytechnische Oberschul-Pflicht als Grundstufe, in der
14 Dittrich/Griebenow: Die Funktion, S. 537. 15 Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule vom 31. Mai 1946. In: Gesetze, Befehle, Verordnungen, Bekanntmachungen der Landesverwaltung Sachsen, Dresden 1946, Nr. 15, S. 210. Es wurde 1959 ersetzt durch das Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik vom 2. Dezember 1959. In: Gesetzblatt I, Berlin (1959) 67, S. 859 ff.; das wiederum wurde abgelöst durch das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965. In: Gesetzblatt I, Berlin (1965) 6, S. 83 ff. 16 Geißler: Schulgeschichte, S. 131 ff. 17 Schulpolitische Richtlinien für die deutsche demokratische Schule. Beschluss des Parteivorstandes der SED vom 24. August 1949. In: Kleßmann: Staatsgründung, S. 525–527.
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der schulische Lehrstoff durch obligatorische polytechnische Grundausbildungen ergänzt wurde, und eine darauf aufbauende zweijährige Erweiterte Oberschule (EOS) als Oberstufe teilweise in Koppelung von Berufsausbildung mit Abitur vor – eine Möglichkeit, die häufig angestrebt wurde, wenn ein Hochschulstudium, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Frage kam. Seit dem auf dem VI. Parteitag der SED im Jahr 1963 verkündeten Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL) ging man vom zentralistisch gesteuerten Berufsausbildungssystem zugunsten höherer Eigenverantwortung der Ausbildungsstätten und -schulen ab. Sie erhielten erweiterte Mitwirkungsrechte bei Entwicklung von Berufsbildern und Stoffverteilungsplänen. Hierzu wurden auf Beschluss des Ministerrats zur ›Verbesserung der Planung und Leitung der Berufsbildung in der DDR‹ vom 14. Mai 1964 Berufsfachkommissionen gegründet, in denen neben Vertretern der FDJ und des FDGB vor allem Fachexperten aus Ministerien, den Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB), wirtschaftsleitenden Institutionen,18 Wissenschafts- und Kultureinrichtungen19 sowie Territorialverwaltungen20 verantwortlich für Schaffung und Weiterentwicklung der Ausbildungsunterlagen, einschließlich Lehrplänen, für alle Facharbeiterberufe waren.21 Nach vorher eher negativen Erfahrungen meinte man ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, dass Ausbildungsinhalte am sachkundigsten von Fachleuten beurteilt werden könnten, was u. a. auch zu einer Neubelebung der lange eingeschlafenen Kommission für Schulungsfragen des Börsenvereins führte. Ihr wurde zumindest eine gutachterliche Mitwirkungsrolle eingeräumt. Dabei hatten sich alle diese Kommissionen immer auf gesamtwirtschaftliche Berufsbildungsprognosen zu stützen und die vom Staatlichen Amt für Berufsausbildung 1968 erarbeitete ›Richtlinie zur Inhaltsbestimmung von Ausbildungsberufen der in der DDR‹22 zu beachten, die eine Weiterentwicklung der Grundsätze aus dem Jahre 1967 darstellte.23 Trotz gewisser Dezentralisierung blieb die leitende Funktion des Staatlichen Amtes für Berufsausbildung immer gewahrt. Dieses Amt gab Hinweise für die Ausarbeitung von Berufsanalysen sowie zur Erarbeitung von Lehrplänen und Stundentafeln, die sicherstellen sollten, dass Berufsausbildung in der DDR auf der Basis zwar dezentral konzipierter aber staatlich als verbindlich erklärter Rahmenausbildungsunterlagen nach einheitlichen Grundsätzen erfolgt.
18 Wie Vereinigung Interhotel, Zentrales Warenkontor, Verband der Konsumgenossenschaften u. a. m. 19 Wie Zentralstellen für Berufsbildung bei den Fachministerien, etwa Hauptverwaltung Verlage im MfK, u. a. m. 20 Vorwiegend Wirtschaftsräte der Bezirke. 21 Beschluss über die Verbesserung der Planung und Leitung der Berufsbildung in der DDR vom 14. Mai 1964. In: Gesetzblatt Teil II, Berlin (1964) 61, S. 569–574. 22 Richtlinie zur Einführung der Grundlagenfächer in die sozialistische Berufsausbildung. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung und des Staatlichen Amtes für Berufsausbildung. Berlin (1968) 16, S. 1 ff. 23 Grundsätze für die Weiterentwicklung der Berufsausbildung als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems. Beschluss der Volkskammer der DDR vom 11. Juni 1968. In: Gesetzblatt I, Berlin (1968) 12, S. 262 ff.
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Die kompliziert anmutende Leitungsstruktur und die Entwicklung der Bestimmung von Inhalten der Berufsausbildung kann man sich so vorstellen:
Von zentraler Seite her wurden auf der Basis sich abzeichnender übergreifender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen generelle »Überarbeitungsrunden« der Ausbildungsunterlagen aller Facharbeiterberufe angeordnet, die das Ziel hatten: –
–
–
–
den jeweiligen Facharbeiterberuf dahingehend zu untersuchen, ob es möglich war, ihn als breitprofilierten Beruf – Grundberuf mit Spezialisierungsrichtungen – zu konzipieren […]. [Zeitraum 1968–1970] die Ausbildungsinhalte aller Facharbeiterberufe zu überprüfen, ob und wie sie auf die Anforderungen der Intensivierung der Wirtschaft ausgerichtet und mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt verbunden waren. [Zeitraum: 1975–1978] eine Überarbeitung der Ausbildungsunterlagen aller Facharbeiterberufe darauf auszurichten, dass mit der Ausbildung im jeweiligen Beruf (in differenzierten Umfang) den Anforderungen einer modernen Wirtschaft entsprochen werden konnte. Dabei waren u. a. zu berücksichtigen: Der Einfluss der Mikroelektronik, flexibler Automatisierungslösungen, […] [Zeitraum: 1982–1985] sowie der zunehmende Einfluss der CAD/CAM-Technik […] [Zeitraum 1986– 1988].24
24 Körner/Lusky: Berufsfachkommission, S. 12–13.
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In dieses administrativ-zentralistische System sollte – soweit möglich − auch der Buchhandel eingebunden werden. Zur Realisierung des Ministerratsbeschlusses vom 14. Mai 1964 und seiner Durchführungsbestimmung vom 1. Februar 196525 wurden Grundsätze und Beispiele zur Erarbeitung von Berufsanalysen, Berufsbildern, Stundentafeln und Lehrplänen für die Ausbildungsberufe als verbindliches Arbeitsmaterial herausgegeben.26 Damit wurde jegliche wirtschaftliche Selbstverantwortung abgelöst, die für den Buchhandel bis zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 die Ausbildungskommission im Branchenverband Börsenverein wahrgenommen hatte. Im Oktober 1963 verfügte der Staatsrat der DDR die Ausarbeitung neuer Berufsbilder und die Überarbeitung der aus den 1950er Jahren stammenden Ausbildungsunterlagen.27 Der daraufhin vom MfV in den Jahren 1963 bis 1968 herausgegebene Katalog enthielt 183 neue Berufsbilder, die den »Grundsätzen für die Weiterentwicklung der Berufsausbildung als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems« entsprachen und die mit diesem Gesetz eingeleiteten Reformen konkretisieren sollten.28 Die angestrebte Einheitlichkeit der Berufsausbildungsprogramme wurde besonders hervorgehoben nach dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971.29 In einer Verordnung vom 7. Mai 1970 wurde abermals eine neue Systematik der Ausbildungsberufe gefordert, die über das Jahr 1975 hinaus gelten sollte.30 Sie sah eine Einteilung in Grundund Spezialausbildung vor. Neben einer Reduzierung der Zahl an Lehrberufen auf ca. 305 Grundberufe mit etwa 600 Spezialisierungen, ging es vor allem um die allgemein verbindliche Einführung neuer beruflicher Grundlagenfächer wie elektronische Datenverarbeitung, BMSR-Technik und Elektronik.31 Sie wurden für alle Berufe »Bestandteil des berufstheoretischen Unterrichts […] nach zentral vorgegebenen Lehrplänen«.32 Eine entsprechende Erweiterung der Stundentafeln erfolgte auch an der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig, noch ehe sie 1972 zur Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels erklärt wurde, wie auch an der Fachschule für Buchhändler, die 1957 gegründet worden war. In den 1980er Jahren wurde nach dem X. Parteitag der SED33 wiederholt gefordert, in Fortführung dieses Weges in der Berufsausbildung »ein straffes pädagogisches Regime durchzusetzen«,34 eine Forderung, die soweit möglich, auch auf
25 Anordnung über die Festlegung der Verantwortlichkeit für die Ausbildungsberufe vom 1. Februar 1965. In: Gesetzblatt Teil II, Berlin (1965) 21, S. 165–167. 26 Deutsches Institut: Grundsätze. 27 Gesetzblatt Teil I, Berlin (1963) 10, S. 145. 28 Grundsätze für die Weiterentwicklung der Berufsausbildung als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems vom 25. Februar 1965. In: Gesetzblatt Teil I, Berlin (1968) 12, S. 263. 29 C.-H. Janson / W.-D. Keim: Aufgaben der Berufsbildung bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. In: Einheit, Berlin 26 (1971) 7/8, S. 843–844. 30 Verordnung über die Systematik der Ausbildungsberufe vom 7. Mai 1970. In: Gesetzblatt II, Berlin (1970) 47, S. 348 ff. 31 Anordnung zur weiteren schrittweisen Einführung der neuen beruflichen Grundlagenfächer in der Berufsausbildung« vom 13. Mai 1969. In: Gesetzblatt Teil II, Berlin (1969) 44, S. 281– 282. 32 Bienert/Köther (Beab.): Sozialistisches Bildungsrecht, S. 187. 33 11.–16. April 1981 in Berlin. 34 Knauer/Männich: Entwicklung, S. 26.
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den Buchhändlerberuf – unter verstärkter Einbeziehung außerunterrichtlicher Elemente der Kollektiverziehung wie Arbeit in FDJ-Gruppen usw. – ausgedehnt wurde. Diese immer mehr politisierten Lehrprogramme wurden zunehmend auf Belange des Volksbuchhandels zugschnitten, der seit den 1970er Jahren zum Hauptarbeitgeber für ausgelernte Buchhandels-Facharbeiter geworden war. Gewiss konzentrieren sich die aufgezählten Gesetze und Regelungen überwiegend auf massetaugliche Schwerpunktberufe in der Industrie, weniger auf handwerkliche, kaufmännische oder gar über das Land verteilte ›zersplitterte‹ kulturwirtschaftliche Berufe wie den Buchhandel. Doch in ihrer Tendenz verdeutlichen sie Hintergrund und Zusammenhang, vor dem diverse Ausbildungsordnungen auch für den buchhändlerischen Nachwuchs erarbeitet und beschlossen wurden. Insbesondere erklären sie die Bedeutungs- und Einflusslosigkeit, in die der Börsenvereinsausschuss für Schulungsfragen nach 1950 versank, wie auch sein scheinbares Wiederaufleben in den späten 1960er Jahren.
Das Berufsausbildungswesen im Buchhandel Der Auf- und Ausbau des beruflichen Ausbildungs- und Schulwesens in allen Bereichen war, zumal nach den Verlusten im Zweiten Weltkrieg, von besonderer Bedeutung für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft in der jungen DDR. In Bezug auf Verbreitung des Buches war er unverzichtbar für die Entwicklung einer totalitären Erziehungsdiktatur, die in der DDR praktiziert wurde. Die mit dem allgemeinen Schul- und Bildungswesen vielfach verzahnte Berufsausund -fortbildungspolitik führte – wie gezeigt – ab den 1950er Jahren von der traditionellen Lehre in Monoberufen hin zu einer nach Grund- und Spezialwissen strukturierten Bildung und Erziehung politisierter disponibler Facharbeiter auch im Buchhandel. So wie die Umgestaltung der Verlags- und Buchhandelslandschaft schrittweise erfolgte, vollzog sich auch der Übergang vom Leitbild des individuellen, selbstverantwortlichen Unternehmers als Ausbildungsziel im kapitalistischen Wirtschaftssystem hin zum Volksbuchhändler im sozialistischen Wirtschaftssystem in mehreren Schritten. Dafür stehen Präzisierungen des Berufsbildes und Novellierungen staatlicher Ausbildungsordnungen.
Die »Ausbildungsordnung des Lehrberufs Buchhändler« von 1949 Als erste trat die »Ausbildungsordnung des Lehrberufs Buchhändler«35 am 15. Oktober 1949 in Kraft. Darin wurden Grundsätze der Berufsausbildung und Lehrabschlussprüfungen in Verlagen und Buchhandlungen einheitlich geregelt. Beraten und beschlossen wurden Muster-Ausbildungsvertrag und Prüfungsordnung noch vom BörsenvereinsAusschuss für Berufsbildung. Sie waren aber nicht mehr allein vom Branchenverband Börsenverein, sondern maßgeblich auch von den Ministerien für Volksbildung und für Arbeit und Gesundheitswesen erarbeitet und in Kraft gesetzt worden. Sie legten u. a.
35 Neue Ausbildungsordnung für den Buchhandel. In: Börsenblatt, Leipzig 116 (1949) 48, S. 397–400.
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fest, dass der Berufsschulunterricht künftig zentral erteilt werden sollte, eine Aufgabe, die ab 1950 die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig (DBL) als zentrale Berufsschule für die ganze DDR übernahm. Dafür wurden nach einem speziellen Lehrplan vier- bis sechswöchige Kurse eingerichtet, die Lehrlinge aus allen Bezirken der DDR einmal pro Lehrjahr besuchen mussten – mit Ausnahme Berlins, wo nach wie vor das Besatzungsstatut galt, was zu eigenen Institutionen führte.36 Der Besuch dieser Spezialkurse war Voraussetzung für die Zulassung zur Lehrabschlussprüfung. Der Ausschuss des Börsenvereins hatte zwar schon 1948, um befürchtetem Bedeutungsverlust zu begegnen, ein Berufsbild mit Prüfungsordnung und Lehrplänen für die DBL erarbeitet. Es lehnte sich an jenes aus der Zeit vor 1933 an. Diese Ausbildungsvorstellung genügte jedoch nicht mehr den Bedingungen und Perspektiven des unter politischem Vorzeichen im Umbau begriffenen Verlagswesens und Buchhandels in der DDR, zumal sich die Politik damals stark am sowjetischen Vorbild orientierte. Auf Anregung der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVV) der SBZ und des Fachausschusses Buchhandel beim Zentralausschuss für Berufsbildung der damaligen Deutschen Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge war deshalb schon im November 1948 eine alternative staatliche Ausbildungsordnung erarbeitet worden, die den in Gang gesetzten gesellschaftlichen Veränderungen mehr entsprechen sollte. Diesem Wandel folgte das politisch gewollte neue Berufsverständnis: Der Buchhändler wurde nicht als Händler geschätzt, der verkaufen will, sondern als kundiger Vermittler, der beraten soll. Schon 1946 hatte der damalige Leiter der Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen beim Volksbildungsamt der Stadt Leipzig und späterer Erster Vorsteher des Leipziger Börsenvereins, Heinrich Becker, seinen Oberbürgermeister, den Sozialdemokraten Erich Zeigner, in einer vertraulichen Denkschrift gemahnt: Mit Wiederbeginn der verlegerischen Arbeit in der Ostzone bedürfen Fragen der buchhändlerischen Organisation dringend einer Lösung. […] Da wir dringendes Interesse daran haben, dem bürgerlich-liberalistischen Sortimenter mit aesthetisch reaktionärer Gesamttendenz einen neuen Buchhändlertyp (Volksbuchhändler) entgegenzusetzen, muss ein Verteilerapparat ge37 schaffen werden, welcher unserer Lenkung unterliegt.
Becker, wie andere Funktionäre auch, dachte an Buchhandlungen, die als nichtkommerzielle gesellschaftliche Institutionen in der Tradition des Literaturvertriebs der organisierten Arbeiterbewegung zumeist spontan von regionalen KPD- und SPD-Organisationen, vom Gewerkschafts-, vom Kulturbund und bisweilen auch von Kommunen nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden waren. Als primär kulturpolitische Einrichtungen mit erzieherisch-propagandistischem Anspruch leiteten sie Namen und Selbstverständnis von der Volksbuchhandlung Hottingen-Zürich her, die während des Sozialistengesetzes Zentrum des Literaturvertriebs der SPD war. Diese Grundauffassung sollte 40 Jahre lang das den Programmen dualer Aus- und Weiterbildung zugrunde liegende und sie zugleich reformierende buchhändlerische Be-
36 Riese: Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt, S. 177 ff. 37 StadtA-L, StVuR I 9157, Bl. 64: Heinrich Becker: Vertrauliche Denkschrift »Betrifft den Buchhandel« vom 17. April 1946 an OBM Erich Zeigner.
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rufsbild prägen. Pragmatisch-wirtschaftliche Aspekte traten gegenüber politisch-propagandistischen, berufspraktische gegenüber berufstheoretischen zurück. Vom Buchhändlerlehrling wurde mehr als von Lehrlingen anderer Handelssparten erwartet, dass er »durch regelmäßiges Lesen der Tagespresse und Anteilnahme am gesamten kulturellen Leben für seine allseitige und gegenwartsbezogene Weiterbildung« Sorge trägt. Seine Ausbildung sollte stets den »Erfordernissen der Zeit angepasst« werden.38 Um das zu gewährleisten und zu kontrollieren, sollten der Berufsschulunterricht – für Buchhändler in Form der ›Splitterberufsschulung‹ – zentral erteilt und Prüfungsordnungen für kaufmännische Berufe weitgehend vereinheitlicht werden. Die Rolle einer Zentralberufsschule war der DBL zugedacht worden.39 Bei ihr bestand anfangs eine zentrale Prüfungskommission in Leipzig, später gab es Prüfungskommissionen in einzelnen Bezirken der DDR.
Die Ausbildungsordnung von 1952/56 Nach Lenins Lehre von den zwei Taktiken in der proletarischen Revolution40 ging die nach Ende des Zweiten Weltkrieges die als deren erste Phase verkündete antifaschistischdemokratische Ordnung in die nächste über: in eine kaum mehr verhüllte Diktatur des Proletariats, sprich Diktatur der nach der 1. Parteikonferenz 1949 zu einer ›Partei neuen Typus‹ formierten SED. Deren Vormachtstellung stützte sich bis zum Ende der DDR auf über 20.000 hauptamtliche Funktionäre in Betriebsparteigruppen, im zentralistisch organisierten Staatsapparat, in Schulen und Universitäten, in Verlagen und Volksbuchhandlungen. Entmündigte ›Blockparteien‹ und diverse Verbände, wie der Börsenverein, hatten als ›Transmissionsriemen‹ Verbindung zu SED-fernen Gesellschaftsschichten zu halten, sie ›anzuleiten‹ und im sozialistischen Sinne zu erziehen. Medien und Literatur wurden geschätzt als staatlich alimentierte Mittel der Bewusstseinsbildung. Zensoren wachten, dass nur ›fortschrittliche‹ Werke erschienen. Buchhändler hatten dafür zu sorgen, dass das »richtige Buch zur richtigen Zeit in die richtigen Hände« gelangte.41 Die 1952 nach Bruch mit tradierten bürgerlichen Konventionen grundlegend erneuerte Ausbildungsordnung, die von Fachleuten wie von Lehrern an der DBL und anderen Experten – u. a. Rudolf Vogel (Zentrale Verwaltung Volksbuchhandel), Dr. Heinz Bär (Fachbuchverlag) und Harry Fauth (Börsenblatt) – erarbeitet und von Praktikern, wie den Buchhändlern Kurt Bock (Fa. Genth, Leipzig), Karl Markert (Antiquariat, Leipzig), Kurt Bäß (Volksbuchhandlung August-Bebel-Haus, Potsdam) und anderen, begutachtet wurde,42 ging vom Doppelcharakter des Berufs aus und verfügte: Die »Aufgabe der Vermittlung geistiger Werke vom Verfasser zum Leser macht den Buchhandel in erster Linie zum Kulturberuf«. Die erst nach kontroversen Diskussionen 1956 für verbindlich
38 StA-L, Börsenverein II, 1547, Bl. 138: Aktennotiz der Geschäftsstelle des Börsenvereins, o. D. 39 StA-L, Börsenverein II, 1547, Bl. 128 ff.: Niederschrift über die konstituierende Sitzung für die Einrichtung einer Splitterberufsschule. 40 Lenin: Zwei Taktiken der Sozialdemokratie. 41 Fritz Apelt: Das richtige Buch in die richtigen Hände. In: Börsenblatt (Leipzig) 119 (1952) 1, S. 1–3. 42 Regierung: Ausbildungsunterlagen Buchhändler, Titelbl. recto.
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erklärte Ausbildungsordnung postulierte dementsprechend ein einheitliches berufliches Arbeitsfeld mit verschiedenen »Stufen und Sparten […], zwischen denen zwar die engste Verbindung und auch eine berufliche Übergangsmöglichkeit besteht, […] [für das aber] die dreijährige Ausbildung nur jeweils ein Spezialgebiete (Verlag, Sortiment, Großbuchhandel usw.) umfasst«.43 Sie legte auch fest, dass die Ausbildung mit einer Lehrabschlussprüfung endet, die vor dem Prüfungsausschuss der DBL abzulegen ist.44 1951 war der erste Fünfjahrplan und damit der Übergang zu langfristiger Planung und zentralistischer Wirtschaftsführung beschlossen worden.45 Privates Eigentum, auch in Verlagswesen und Buchhandel, wurde mehr und mehr verdrängt und ›vergesellschaftet‹, d. h. in Volkseigentum überführt. Nachdem die drei Westmächte im März 1952 den sowjetischen Vorschlag abgelehnt hatten, bei Neutralisierung des Staates eine gesamtdeutsche Regierung zu bilden, mit der ein Friedensvertrag abgeschlossen werden könnte, intensivierten sie stattdessen mit Aufhebung des Besatzungsstatuts durch den Deutschlandvertrag im Mai 1952 die Westintegration der Bundesrepublik. Als Antwort verkündete in der DDR Walter Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli desselben Jahres 1. den planmäßigen Aufbau des Sozialismus und 2. eine verstärkte Auseinandersetzung mit Resten der ›alten‹ Gesellschaft. Im Zuge einer Gebietsreform wurden im Juli 1952 die fünf Länder der DDR in 14 Bezirke umgewandelt. Die zu Ländergesellschaften zusammengefassten 322 SEDeigenen Volksbuchhandlungen wurden einer am 1. September 1952 gebildeten Hauptabteilung Volksbuchhandel im ebenfalls bis 1958 SED-eigenen Leipziger Kommissionsund Großbuchhandel (LKG) unterstellt.46 Während bis 1952 in der Berufsbildung noch auf eine mögliche gesamtdeutsche Lösung Rücksicht genommen wurde, erfolgte nun in einer Durchführungsbestimmung zur Ausbildungsordnung die offene Bevorzugung von Inhalten des Volksbuchhandels gegenüber denen privater Buchhändler. Die Lehrzeit wurde im Volksbuchhandel einseitig auf zweieinhalb Jahre verkürzt, während sie im privaten Buchhandel nach wie vor drei Jahre betrug. Erst nach heftigem Widerspruch des Börsenvereins musste die Sonderregelung zurückgenommen werden. 1956 betrug die Lehrzeit wieder einheitlich drei Jahre.47 Auf der 1. Buchhändlertagung im Mai 1951 in Leipzig war trotz Meinungsverschiedenheiten die Einführung zentraler Planung auch im Wirtschaftszweig Verlage und Buchhandel begrüßt worden. Buchproduktion und -vertrieb sollten sich nicht zufällig oder »nach merkantilen Absatzmöglichkeiten« entwickeln.48 Politisch gewollt wurden
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Regierung: Ausbildungsunterlage Buchhändler, S. 11. Regierung: Ausbildungsunterlage Buchhändler, S. 8. Siehe Steiner: Von Plan zu Plan, S. 10 ff. 1946 wurden die Volksbuchhandlungen – Eigentum regionaler Parteiorganisationen – zu Ländergesellschaften zusammengefasst: ›Welt im Buch‹ in Mecklenburg, ›Unterhaltung und Wissen‹ in Brandenburg, ›Das gute Buch‹ in Sachsen-Anhalt, Buch und Kunst‹ in Sachsen, ferner zu einer Thüringer und Berliner Buchhandelsgesellschaft (1950). 47 Sechste Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Systematik der Ausbildungsberufe vom 6. August 1956. − In: Gesetzblatt I, Berlin (1956)74, S. 661. 48 Heinrich Becker: Das Jahr 1951 und der Buchhandel. In: Börsenblatt (Leipzig) 118 (1951) 51/52, S. 680–681.
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jetzt andere Strategien buchhändlerischen Handelns, was neue Schwerpunkte in der Ausbildung des Berufsnachwuchses nach sich zog. Nachdem 1954 die SED-eigenen Buchhandelsunternehmen und auch LKG aus Parteieigentum entlassen und in Volkseigentum überführt wurden, das entsprechend allgemeiner staatlicher Verwaltungskonzentration einer Zentralen Verwaltung des Volksbuchhandels unterstellt wurde, wuchs das Handelsnetz des Volksbuchhandels auf über 650 Zweigstellen.49 Während die schulische Ausbildung des Berufsnachwuchses privater Buchhandlungen ab 1945 traditionell an der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt, ab 1950 in Form der Splitterberufsschulung, kombiniert mit dem Besuch örtlicher kaufmännischer Berufsschulen in Leipzig fortgeführt wurde,50 begann der Volksbuchhandel mit dem Aufbau eigener Berufsausbildungsinstitutionen. Die Stabilität von Staat und Gesellschaft der DDR sollte durch Gewinnung und Integration der jungen Generation erhöht werden. Deshalb stellte der Beschluss des Politbüros der SED vom 29. Juli 1952 »Zur Erhöhung des wissenschaftlichen Niveaus des Unterrichts und zur Verbesserung der Parteiarbeit an den allgemeinbildenden Schulen«51 auch den berufsbildenden Institutionen für die kommenden Jahre die Aufgabe, Jugendliche zu »allseitig entwickelten Persönlichkeiten« zu erziehen, die »fähig und bereit sind, den Sozialismus aufzubauen«, wofür sie sich »die Grundlagen der Wissenschaft und der Produktion aneignen« sollen. Die geforderte »führende Rolle der Partei«52 zielte darauf ab, an allen Schulen die Einheit von Bildung und Erziehung auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus durchzusetzen. Deshalb und weil die »Ausbildungsverordnung von 1949« zwar Prinzipien schulischer Ausbildung festlegte, doch die Auswahl in der Praxis zu vermittelnder Fertigkeiten weitgehend den Ausbildern überließ – Subjektivismus, war mit dem Kollektivprinzip in der Erziehung gar nicht zu vereinen –, begannen Vertreter des Amtes für Literatur, der Hauptabteilung Volksbuchhandel im LKG und der DBL Pläne auszuarbeiten, die stärker »der stürmischen Entwicklung des volkseigenen Buchhandels und Verlagswesens und damit verbundener Veränderungen« Rechnung tragen sollten.53 Die Kommission für Schulungsfragen des Börsenvereins hielt allerdings Abänderungen der begutachteten und den zuständigen Regierungsstellen 1952 zur Verabschiedung eingereichten Ausbildungsunterlagen für notwendig. Auch deshalb konnten die 1952 fixierten Ausbildungsunterlagen erst per 1. September 1956 durch das DDR-Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung für verbindlich erklärt werden. Erst dann stimmte das MfK dieser »Anleitung für Betriebsleiter und Lehrausbilder zur einheitlichen Ausbildung des buchhändlerischen Nachwuchses in der Deutschen Demokratischen Republik« zu. Festgelegt wurde darin, »welche Kenntnisse in welchem Ausbildungsabschnitt vermittelt werden« müssen,54 um dem Berufsbild zu entsprechen, das einem
49 Börner/Härtner: Leseland, S. 61. 50 Riese: Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt, S. 175 ff. 51 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands: Dokumente. Bd. 4. Berlin: Dietz 1954, S. 116– 128. 52 Die SED verstand sich als ›bewusster und organisierter Vortrupp der Arbeiterklasse und des werktätigen Volkes‹, deren Ziel es ist, nach den Lehren von Marx, Engels und Lenin die entwickelte sozialistische Gesellschaft als Vorstufe zum Kommunismus zu gestalten. 53 Bewer: Geschichte der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt, S. 107. 54 Fauth/Hünich: Geschichte des Buchhandels, S. 116.
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neuen Einheitslehrvertrag zugrunde lag. Die Bestimmungen galten für die schulische Ausbildung an der Buchhändler-Lehranstalt in Leipzig wie für die praktische Unterweisung in den Buchhandelsbetrieben. Präferiert wurde die Erziehung im Kollektiv, d. h., »wenn möglich, sollen alle Lehrlinge in geschlossenen Lernaktiven zusammengefasst werden, betreut und angeleitet von einem qualifizierten, gesellschaftlich bewussten Lehrausbilder«.55 Diese Ordnung galt als »Novum in der Berufsausbildung«,56 denn sie modifizierte das einheitliche Berufsbild des Buchhändlers nach vermeintlich sozialistischem Verständnis. Unter Verzicht auf gesamtdeutsche Rücksichten wurde detailliert festgelegt, was Verleger, Sortimenter oder Zwischenbuchhändler jeweils für eine erfolgreiche Berufsausübung in der DDR wissen müssen und können sollen. Wobei man sich am Volksbuchhandel orientierte. Es wurde sogar eine zwischen privat und Volksbuchhandel getrennte Ausbildung in eigenem Schulungszentrum und getrennte Prüfungen erwogen, letztere aber am Ende verworfen.57 Einheitlich endete ab 1952 die Lehrzeit für alle Handels- und Gewerbszweige mit einer Prüfung zum Facharbeiter und einem weitgehend vereinheitlichen Facharbeiterzeugnis. In der Ausbildungsordnung vorgegebene Themen- und Stoffverteilungspläne blieben bis 1962 verbindlich.
Der Ausbildungsrahmenplan von 1962 Auf Grund immer häufigerer Klagen über die Qualität schulischer Ausbildung an der DBL trat nach längerer Pause 1958 die Börsenvereins-Kommission für Schulungsfragen wieder zusammen.58 Sie nahm sich vor, »für eine ständige Verbesserung des fachlichen und kulturellen Niveaus der im Buchhandel tätigen Kräfte bemüht zu sein und die Schaffung eines sozialistischen Buchhandels in der DDR mit allen Kräften zu fördern«. Sie hatte, wie alle Kommissionen und Fachausschüsse des Branchenverbandes Börsenverein, aber nur beratende, keine entscheidende Funktion.59 In den 1960er Jahren erkannte die SED in der einsetzenden wissenschaftlich-technischen Revolution eine neue Herausforderung und entscheidende Zukunftsaufgabe. Neben Boden, Kapital und Arbeit wurde Wissenschaft als Produktivkraft anerkannt. Die »Grundsätze zur weiteren Entwicklung des Systems der Berufsbildung in der DDR« waren auf dem III. Berufspädagogischen Kongress im Jahr 1960 beraten und per Beschluss des Ministerrats am 30. Juni des gleichen Jahres für die Gestaltung des Berufsbildungssystems verbindlich erklärt worden. Ergebnis dieser Strukturreform war die Einführung einer breiten Grund- und einer darauf aufbauenden Spezialausbildung mit dem Ziel, die Disponibilität künftiger Facharbeiter zu erhöhen. Für alle Industrie- und Handelszweige wurden im MfV und dem Deutschen Institut für Berufsausbildung neue
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Regierung: Ausbildungsunterlage, S. 7. Fauth/Hünich: Geschichte, S. 116. StA-L, Börsenverein II, 1617, Bl. 58: Arbeitsplan des Vorstandes des Börsenvereins für 1959. StA-L, Börsenverein II, 1606, Bl. 21: Beschlussprotokoll der Sitzung des Hauptausschusses am 17. Oktober 1958. 59 StA-L, Börsenverein II, 1500, Bl. 37: Aufgaben der Kommission für Schulungsfragen im Börsenverein.
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Ausbildungspläne aufgestellt. Für den Beruf des Buchhändlers revidierten Praktiker, mehrheitlich aus der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels, die Lehrpläne, die vom MfV und vom Börsenverein gebilligt wurden. Berufliche Kenntnisse wurden danach in Grund- und Spezialwissen unterteilt. Was für technische Berufe machbar erschien, erwies sich allerdings für Kulturberufe schwerer durchführbar. Trotzdem unterschieden die vom Deutschen Institut für Berufsausbildung erlassenen Ausbildungsunterlagen eine allgemeine Grundausbildung und darauf aufbauende Spezialausbildungen nach Zweigen, also für Buchhändler nach Buch-, Kunst- und Musikverlag, nach Einzel- und Großbuchhandel. Der schulische Unterricht hatte nach detaillierten Lehrplänen zu erfolgen. Die Lehrzeit wurde einheitlich auf 2 ½ Jahre festgelegt (1 Jahr Grund-, 1 ½ Jahr Spezialausbildung), nicht zuletzt weil auch die Eingangsvoraussetzungen nach zehn Jahren Schulpflicht in der POS deutlich verbessert worden waren. Nach dem Einheitlichen Bildungssystem war in der allgemeinbildenden Schule »ab 1. September 1960 mit der breiten Grundausbildung begonnen (worden) und damit ein entscheidender Schritt zur weiteren Entwicklung der Berufsausbildung getan«.60 Die ab 1948 bestehende, aber kaum mehr aktive Kommission für Schulungsfragen war 1954 als einer der Fachausschüsse des Börsenvereins wiederbelebt worden, um »brennende Nachwuchsprobleme« zu behandeln.61 Sie tagte aber nur selten. Im Zuge der auf Experten setzenden Bildungspolitik wurde der Ausschuss auf Anregung des Sektors Literaturpropaganda der ALB des Ministeriums für Kultur ersetzt durch eine neu berufene Kommission für Ausbildungsfragen, die »eine beratende, koordinierende und kontrollierende Funktion ausüben und hierbei besonders die Hinweise der Partei der Arbeiterklasse und die Anordnungen, Richtlinien und andere gesetzliche Maßnahmen der staatlichen Organe sowie ihre praktische Anwendung in den schulischen Einrichtungen des Verlagswesens und des Buchhandels beachten« soll.62 Diese neu berufene Kommission fungierte als vorgeschriebene Berufsfachkommission für Buchhandel. Was man darunter tatsächlich zu verstehen hat, offenbart ein Blick ins Arbeitsprogramm dieser Kommission: es unterscheidet sich kaum von dem aus dem Jahre 1958 und ist ebenso allgemein wie unverbindlich. Beschlossen wurde in der konstituierenden Sitzung am 10. Februar 1965: 1.) Kenntnisnahme und Koordinierung aller Qualifizierungs- und Ausbildungspläne, insbesondere der DBL, der Fachschule für Buchhändler, des Schulungszentrums des Volksbuchhandels und der Betriebsakademien […]. 2.) Schaffung von Berufsbildern bzw. Ausbildungsrichtlinien […]. 3.) Zusammenarbeit und Abstimmung der verschiedenen Prüfungskommissionen […]. Mit Hilfe des Ministeriums für Kultur sind einheitliche Maßstäbe […] zu erlangen. 4.) Alle Bemühungen auf dem Gebiete der Erwachsenenqualifizierung sind zu ermitteln. […] 5.) Förderung der Entwicklung und Herausgabe von Fach- und Sachbüchern z. B. auf dem 63 Gebiete der Wissenschaftskunde, des Rechnungswesens […] und anderer Bereiche.
60 Regierung: Ausbildungsunterlagen, S. 4. 61 StA-L, Börsenverein II, 1491, Bl. 13: Niederschrift Vorstandssitzung vom 24. Juni 1954. 62 StA-L, Börsenverein II, 160, Bl. 113: Ministerium für Kultur, Abt. Literatur und Buchwesen. Protokoll einer Aussprache mit Leitern der Schulungseinrichtungen des Volksbuchhandels vom 17. 12. 1962. 63 StA-L, Börsenverein II, 67, Bl. 25: Arbeitsprogramm der Kommission für Schulungsfragen.
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Diese Unbestimmtheit lässt auf Verlegenheit schließen, in der Vorstand und Hauptausschuss des Börsenvereins der Weisung nachkamen, eine Kommission neu zu berufen, »die längere Zeit nicht bestand«.64 Als Leiter dieser Kommission wurde im Einvernehmen mit der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) Heinz Neuer gewählt, Leiter der Volksbuchhandlung Das gute Buch Berlin. Trotzdem galt die Konstituierung dieser Kommission als wichtige Aufgabe in den Arbeitsplänen des Hauptausschusses des Börsenvereins seit 1961.65 Im Mai 1965 hatte sie den Entwurf »eines Berufsbildes für mittlere Kader« im Buchhandel zu begutachten und »die Bildung einer Prüfungskommission für Verlagslehrlinge in Leipzig« zu prüfen.66 »Zur Verbesserung der gesamten Qualifizierungsarbeit in unserem Bereich« bildete auch die HV 1965 einen eigenen »Beirat für Fragen der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter unserer nachgeordneten Einrichtungen« (unter Leitung ihres Kaderleiters Scheidereiter), und bat den Vorsitzenden der Börsenvereins-Kommission für Schulungsfragen, darin mitzuwirken »bei der Gestaltung von Lehrplanunterlagen unserer Bildungseinrichtungen« (DBL, Fachschule für Buchhändler, Betriebsakademien in Berlin und Leipzig, R. R.) sowie »bei der Vereinheitlichung von Organisationsfragen der Betriebsakademien und des Schulungszentrums der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels […].«67
Berufsbild und Ausbildungsunterlagen für die sozialistische Berufsausbildung in Buchhandel und Verlagswesen 1963 Nach Auflösung des Druckerei- und Verlagskontors (DVK) und seiner Überführung in die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur am 1. Januar 1963, nach Einführung der lochkartenmaschinellen Datenverarbeitung und einer eigenen Abteilung für Buchmarktforschung im LKG traten nach Bestätigung durch das Amt für Berufsausbildung neue Ausbildungsunterlagen für die sozialistische Berufsausbildung in Buchhandel und Verlagswesen in Kraft.68 Die erneuerten Ausbildungsunterlagen stellten einen Einschnitt insofern dar, als die Berufsausbildung in das einheitliche sozialistische Bildungssystem integriert werden sollte, wofür entsprechende Durchführungsbestimmungen sorgten. In ihrer Präambel hieß es programmatisch: Nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse (erfordert) die Verwirklichung der Aufgaben des Programms des Sozialismus, das der VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei beschlossen hat, die Meisterung der technischen Revolution und die Entwicklung der sozialistischen Gemeinschaft […] eine höhere Qualität unseres Bildungswesens, das einheitliche sozialistische Bildungssystem.
64 Aus der Arbeit der Ausschüsse und Kommissionen. In: Börsenblatt, Leipzig 130 (1965) 13, S. 263. 65 StA-L, Börsenverein II, 1514, Bl. 2: Börsenverein-Hauptausschuss, Arbeitsprogramm für das Jahr 1961. 66 Aus der Arbeit der Ausschüsse und Kommissionen. In: Börsenblatt, Leipzig 130 (1965) 11, S. 234. 67 StA-L, Börsenverein II, 68, Bl. 20–21: Schreiben der HV an Genossen Neuer vom 23. 11. 1965. 68 Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung, Berlin (1963) 21.
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Ziel sei »die Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter Persönlichkeiten«.69 Die einzelnen Ausbildungsstufen von der allgemeinbildenden Schule über die Berufsschule bis hin zu Fach- oder Hochschule wurden zu einem noch durchlässigeren System gestaltet. Auf Weisung des MfV wurde naturwissenschaftlich-technischer Unterricht selbst in der Ausbildung für Kulturberufe derart ausgebaut, dass die Verbindung zur beruflichen Praxis verloren zu gehen drohte. Praktiker aus dem Buchhandel drangen deshalb auf Änderung der betreffenden Anordnung.70 Unter Nummer 5.152 enthielt der vom Staatlichen Amt für Berufsausbildung herausgegebene Katalog das überarbeitete Berufsbild ›Buchhändler‹. Es unterscheidet sich freilich kaum von vorangegangenen. Zwar sei der erwartete Einfluss des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf seine volkswirtschaftliche Leistungskraft gering zu veranschlagen, aber »bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus […] kommt der Literatur eine bedeutungsvolle Aufgabe als bewusstseinsbildende Kraft zu. […] (Daraus) ergibt sich die kulturpolitische Verantwortung und Verpflichtung des Verlagswesens und des Buchhandels«. Deshalb sei es »Aufgabe der literaturverbreitenden Einrichtungen des Wirtschaftszweiges […] die Gegenstände des Buchhandels in vielfältiger Weise bei der Bevölkerung zu propagieren und zu verkaufen sowie neue Bedürfnisse zu wecken.« Diese Tätigkeit sei »nicht nur als reine Handelsfunktion zu betrachten, da die Gegenstände des Buchhandels eine kulturpolitisch-ideologische Bestimmung der Mittlerfunktion zwischen Produzent und Verbraucher bedingen«.71 In dieser immer wieder betonten erzieherisch-propagandistischen Rolle wird der entscheidende Unterschied des Buchhändlerberufs zu anderen kaufmännischen Berufen gesehen. Das ist gleichsam der cantus firmus aller Berufsbildvarianten. Facharbeiterprüfungen erfolgten bis 1962 zentral in Leipzig. 1963 wurden in den Bezirken Kommissionen gebildet, die Lehrabschlussprüfungen zum Facharbeiter Buchhandel vornahmen.
Novellierung von Berufsbild und Ausbildungsunterlagen 1969 Einer auf dem VII. Parteitag der SED 1967 von Walter Ulbricht erhobenen Forderung folgend,72 beschloss die Volkskammer der DDR am 11. Juni 1968 »Grundsätze für die Weiterentwicklung der Berufsausbildung als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems«.73 Vor allem sollte die Berufsausbildung der erhofften Dynamik angepasst werden, die die Einführung der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Volkswirtschaft der DDR auslösen würde. Diese Selbsteinschätzung ging davon aus, dass bis 1980 und weit darüber hinaus neben effizienter Organisation vor allem Automa-
69 Gesetzblatt Teil I, Berlin (1965) 6, S. 86. 70 StA-L, Börsenverein II, 161, Bl. 4: Beschlussprotokoll der Sitzung des Sortimenterausschusses am 2. April 1965. 71 Ministerrat der DDR: Berufsbilder für Ausbildungsberufe, S. 491. 72 Ulbricht: Die gesellschaftliche Entwicklung, S. 248. 73 Grundsätze für die Weiterentwicklung der Berufsausbildung als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems. Beschluss der Volkskammer der DDR vom 11. Juni 1968. Gesetzblatt, I Berlin (1968)12, S. 262 ff.
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tisierung, Chemisierung, Kybernetik und elektronische Datenverarbeitung die Entwicklungsrichtungen in Produktion und Handel bestimmen. Woraus die Forderung abgeleitet wurde, dass sich alle Lehrlinge in ihrer Ausbildung neben Beherrschung der EDV auch Kenntnisse der marxistisch-leninistischen Organisationswissenschaft und der sozialistischen Betriebswirtschaft aneignen müssten. Ausbildungspläne für alle Berufe, auch für das Berufsbild Buchhändler nebst Rahmenausbildungsunterlagen, wurden entsprechend überarbeitet: Die Ausbildungsberufe wurden nun in vier Gruppen unterteilt: 1. Grundberufe; 2. Ausbildungsberufe, die in Grundberufe integriert sind; 3. Ausbildungsberufe, die den Grundberufen verwandt und zugeordnet sind; 4. Ausbildungsberufe, die keinem Grundberuf zugeordnet werden können. Zur letzten Gruppe zählte der Buchhändlerberuf. Weitere wesentliche Neuerungen waren eine Verkürzung der Lehrzeit von Absolventen der zehnklassigen Polytechnischen Oberschule auf zwei Jahre und die Einführung neuer Lehrpläne für den schulischen Unterricht, wobei Fächer wie Elektronik, Elektronische Datenverarbeitung (EDV) und Betriebsmeß-, Steuer- und Regelungstechnik (BMSR-Technik) aufgenommen werden mussten. Dafür galten zentrale Lehrpläne. Die Ausbildungsunterlagen traten nach Bestätigung durch das Amt für Berufsausbildung am 1. September 1969 in Kraft.74 Die Einführung von Grundberufen und darauf aufbauender Spezialisierungsrichtungen folgte der überwiegenden Tendenz zu Systematisierung und ›Verwissenschaftlichung‹. Mit Einführung der zehnklassigen POS hatten sich die Eingangsbedingungen in die berufliche Ausbildung erheblich verbessert. Schneller als der Börsenverein für den noch verbliebenen privaten Buchhandel stellte sich der Volksbuchhandel darauf ein. In Besprechungen zwischen MfK, Volksbuchhandel und Schulen über die »Anwendung der neuen Ausbildungsunterlagen für die Berufsausbildung« war der Börsenverein schon nicht mehr einbezogen worden. Dessen Geschäftsleitung reagierte verärgert darüber, »dass der Börsenverein noch nicht einmal informiert wird über bestimmte Maßnahmen, die den Buchhandel betreffen«.75 Ohne den Börsenverein auch nur zu informieren, hatte die Zentrale Leitung des Volksbuchhandels schon 1962 dem MfV Vorschläge zur Verbesserung der Lehrausbildung eingereicht. Neben der seit 1959 als Lehrbetrieb fungierenden »Bücherstube Gutenberg« richtete der Volksbuchhandel 1963 ein eigenes Lehrkabinett ebenfalls in Leipzig ein, das neben der Erwachsenenqualifizierung berufsfremder Mitarbeiter auch der Ausbildung von Schulabgängern diente. Lehrhefte wurden entwickelt, die ausschließlich von Theorie und Praxis des Volksbuchhandels ausgingen, eigene Prüfungsausschüsse eingerichtet und Prüfungen abgenommen. 1963 begannen 94 Abgänger der POS und 75 Abgänger der EOS die Ausbildung. Statt der vorgeschriebenen Lehrzeit von 2 ½ Jahren sollte sie im Volksbuchhandel für POS-Abgänger nur noch 1 ½ und für Abiturienten ein Jahr betragen. Die Situation im Buchhandel war seit den 1960er Jahren von zunehmendem »Rückgang des Handelsnetzes im Privatsektor« bestimmt. Auf Grund von Überalterung und weitgehend unterbundener Vererbung wurden immer häufiger Privat- oder Kommissionsbuchhandlungen übernommen und als »Geschäfte des Volksbuchhandels« weiterge-
74 Abgedruckt in: Börsenblatt (Leipzig) 132 (1965) 16, S. 913 ff. 75 StA-L, Börsenverein II, 161, Bl. 112: Durchschlag eines Schreibens von Ernst Offermanns an Klaus Gysi, 12. 1. 1963.
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führt.76 1967 beispielsweise bestanden 785 Volks- und 103 Kommissionsbuchhandlungen. Diese Tendenz wirkte sich auf die Lehrlingszahlen aus: 1971 wurden 625, 1972 459 Lehrlinge im Volksbuchhandel ausgebildet. Während der Anteil an Lehrlingen aus Volksbuchhandlungen ungeachtet gelegentlicher Schwankungen ständig stieg, ging der aus privaten Unternehmen immer weiter zurück. 1970 kamen von 208 Lehrlingen, die sich zur Facharbeiterprüfung anmeldeten, 160 aus Volks-, aber nur 20 aus privaten Buchhandlungen. Ähnlich blieb das Verhältnis in den Folgejahren. 1971 standen 286 Prüflingen aus Volksbuchhandlungen 33 aus privaten Unternehmen gegenüber, ein Jahr später verschlechterte sich das Verhältnis deutlich auf 133 zu 9. Analog zum auf über 700 Volksbuchhandlungen angewachsenen Handelsnetz dominierten in der Nachwuchsausbildung Lehrlinge aus diesen Unternehmen. Die allgemeine Qualifikationssituation war von erheblichen Unterschieden zwischen Privat- und Volksbuchhandel bestimmt. Nach längerer Pause wurde in einer Sitzung des nunmehr Kommission für Aus- und Weiterbildung des Börsenvereins genannten Gremiums am 18. Februar 1968 festgestellt, dass zwar »innerhalb der letzten 16 Jahre das Qualifikationsniveau um 50 % gestiegen ist«; derzeit besäßen 2,6 % der Mitarbeiter im Buchhandel einen Hochschulabschluss, aber 21 % der Buchhandels-Mitarbeiter seien immer noch ohne Ausbildung. Was die Facharbeiterausbildung anlange, so seien 1967 insgesamt 141 Lehrlinge ausgebildet worden, davon 121 aus dem Volksbuchhandel. Kritisch müsse jedoch festgestellt werden, »dass die Lehrlingsbilanzen im Buchhandel weiterhin gekürzt werden«. Was die Erwachsenenqualifizierung beträfe, so unternehme insbesondere der Volksbuchhandel viel. 1967 besuchten 5.997 seiner Mitarbeiter »Lehrgänge unterschiedlichster Art«. Bemängelt wurden Lücken in der Aus- und Weiterbildung für Spezialbereiche des Buchhandels und die Situation an der DBL. Begrüßt wurden die ersten Lehrgänge zur EDV im Buchhandel, die ausgebaut werden müssten.77 Differenzen zwischen Volks- und Privatbuchhandel ergaben sich auch hinsichtlich Entlohnung und Dauer der Lehrzeit. Auf Protest des Börsenvereins wurde die Lehrzeit ab 1965 wieder einheitlich auf 2 ½ Jahre (ein Jahr Grund-, 1 ½ Jahre Spezialausbildung) ausgedehnt.78 Obwohl das Berufsbild nach wie vor die kulturell-kommunikative und erzieherischpropagandistische Funktion des Buchhändlers in den Vordergrund stellte, wurde, zumal in Zeiten drückenden Devisenmangels, wirtschaftlichen Aspekten in der Groß- wie Einzelhandelstätigkeit zunehmend größere Aufmerksamkeit zugemessen, was sich auch in detaillierten schulischen Lehr- und Stundenplänen niederschlug, die einesteils von der Zentralleitung (ZL) des Volksbuchhandels, anderenteils von Lehrern an der DBL zusammen mit Ausbildern in den Betrieben aufgestellt wurden. Staatliche Politik wie auch konkrete Situation im Buchhandel der DDR ermutigten schließlich die ZL des Volksbuchhandels, die Ausbildung des Berufsnachwuchses 1972 ganz in eigene Hände zu nehmen: die bisher für den Buchhandel aller Eigentumsformen
76 BArch, DR 1/1778: Jahresbericht des Volksbuchhandels 1967. 77 StA-L, Börsenverein II, 1021, Bl. 27–29: Protokoll der 5. Sitzung der Kommission Aus- und Weiterbildung am 16. 2. 1968. 78 StA-L, Börsenverein II, 160, Bl. 54: Schreiben der DBL zur Situation in der Ausbildung des Buchhändlernachwuchses vom 18. 6. 1962.
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zuständige DBL wurde einfach zur Betriebsberufsschule (BBS) des Volksbuchhandels erklärt. Still, ja ein wenig verlegen endete damit eine wichtige Periode in der Geschichte dualer Ausbildung des Nachwuchses für alle Zweige und Eigentumsformen des Buchhandels in Deutschland, die lange Zeit vom Börsenverein bestimmt und von seiner Deutschen Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig als zentraler Berufsfachschule realisiert worden war.
Berufsbild Buchhändler in den 1980er Jahren Der Entwicklung in den 1980er Jahren lag ein Beschluss des ZK der SED vom 28. Juni 198379 zu Grunde, wonach »die Prognose der Hauptrichtungen der langfristigen volkswirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Entwicklung als bestimmend für Konzeption der perspektivischen Gestaltung der Aus- und Weiterbildung der Ingenieure und Ökonomen dargestellt wird«.80 Dieser Trend sollte helfen, mit den wissenschaftlichtechnischen Innovationen des Westens Schritt zu halten. Für Kulturberufe mit wirtschaftlichem Einschlag, wozu der Buchhändlerberuf gerechnet wurde, war diese Tendenz in der Entwicklung der Berufsbildung jedoch – mit Ausnahme von Tätigkeiten im LKG – von geringem Einfluss. Vorrangig waren alle Maßnahmen zur Vervollkommnung der Berufsausbildung auf das volkswirtschaftliche Ziel der Intensivierung von Produktion und Distribution ausgerichtet. Den Buchhandel betrafen sie kaum. Allerdings berührten Fächer wie Automatisierungs- und Rechentechnik Lehrplan und Stundentafeln in diversen Bildungseinrichtungen des Wirtschaftszweigs Verlage und Buchhandel durchaus. Das stellte nicht zuletzt höhere Anforderungen an die Lehrkräfte sowohl der DBL und ab 1972 der BBS des Volksbuchhandels81 als auch der Fachschule für Buchhändler. Ihr war 1957 die Weiterbildung zu mittleren Kadern im Buchhandel übertragen worden. 1960 folgten Betriebsakademien in Berlin und Leipzig für berufsbegleitende Erwachsenenqualifizierung sowie 1968 das Institut für Verlagswesen und Buchhandel an der Leipziger Karl-Marx-Universität, das für berufliche Qualifizierung von ›Führungskadern‹ in Leitungsfunktionen verantwortlich war. Die Lehrprogramme auf allen Niveaustufen und an allen Institutionen lehnten sich eng an vorgegebene Themenpläne an. Nachdem am 1. Januar 1963 die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur gebildet und mit der »Herstellung einer einheitlichen politisch-ideologischen und ökonomischen staatlichen Leitung des Verlagswesens und des Groß- und Einzelbuchhandels«82 beauftragt worden war, wurde beschleunigt ein »einheitliches System der Aus- und Weiterbildung in Verlagswesen und Buchhandel« auf- und ausgebaut, das, ähnlich wie in anderen Wirtschaftszweigen, sämtliche Einrichtungen von der Lehrlingsausbildung über berufliche Weiterbildung und nebenberufliche Qualifizierung bis zur fachspezifischen Hochschulbildung integrieren sollte.
79 Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 28. Juni 1983/Beschluss des Ministerrates der DDR vom 7. Juli 1983. In: Die Fachschule, Berlin 30 (1983) 9, S. 193 ff. 80 Hücker: Entwicklungslinien, S. 190. 81 Marie-Luise Bewer: Neue Lehrpläne – neue Anforderungen an Schüler und Lehrer. In: Börsenblatt (Leipzig) 138 (1971) 3, S. 61–62. 82 Gesetzblatt II, Berlin (1963) 9.
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Nach den IX. und X. Parteitagen der SED wurden 1986/87 die Ausbildungsunterlagen wichtiger Berufe mit dem Ziel erneuert, Lehrlingen eine bessere Vorbereitung für weiterführende Hochschulen zu bieten. Die heute als Schlüsseltechnologie bekannte Handlungskompetenz sollte Spezialisierung in den Grundberufen ersetzen, um Lehrlinge disponibler einsetzen zu können. Den Buchhandelsberuf betrafen solche Tendenzen jedoch nur am Rande.
Einrichtungen buchhändlerischer Aus- und Weiterbildung in der DDR Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig Nach Vorstellungen von Friedrich Christoph Perthes83 gründet 1853 der Vorsitzende des Vereins der Buchhändler zu Leipzig, Friedrich Fleischer, die »Buchhändler-Lehranstalt« als Berufsschule für duale Ausbildung Leipziger Buchhandelslehrlinge.84 Sie wurde von 1905 an vom damaligen Direktor Curt Frenzel durch zusätzliche Einjährigen-Fachkurse zur ersten deutschen Berufsfachschule des Buchhandels erweitert. 1928 vom Börsenverein übernommen und für Lehrlinge bzw. Gehilfen aus ganz Deutschland geöffnet, erlangte sie vor 1933 als Deutsche Buchhändler-Lehranstalt (DBL) national wie international Anerkennung. 1934 bis 1944 wurde ihr von den zur Macht gelangten Nationalsozialisten eine »Reichsschule des Deutschen Buchhandels« vor die Nase gesetzt, in der Buchhandelslehrlinge aus allen Teilen Deutschlands Vierwochenkurse besuchen mussten, um vor der Zulassung zur Gehilfenprüfung eine straffe politische Schulung zu absolvieren. Beide Einrichtungen, manchmal verwechselt, gar gleichgesetzt, unterscheiden sich jedoch grundlegend.85 Obwohl ein 1911 als Anbau zum Buchhändlerhaus errichtetes eigenes Gebäude ebenso wie Buchhändler- und Buchgewerbehaus durch Luftangriff am 4. Dezember 1943 zerstört wurde, blieb die Schule in Notquartieren bis in die letzten Kriegswochen hinein in Betrieb. Nach der Besetzung Leipzigs durch die Rote Armee wurde auf sowjetischen Befehl die DBL zusammen mit einer Reihe von Berufsfachschulen, »die weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus bekannt sind, und z. T. als einzige ihrer Art in Deutschland gelten«,86 am 15. Oktober 1945 wiedereröffnet. Gemäß »Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule« vom Mai 1946 wurde die bislang private, dem Börsenverein gehörige Einrichtung verstaatlicht und ab 1. September 1946 der Stadtverwaltung Leipzig zugeteilt. Die wies ihr als Ersatzgebäude ein Haus in der Leipziger Königstraße 26 (heute Goldschmidtstraße) zu, das – nach dem die vorher dort beheimatete Musikbibliothek Peters der Leipziger Stadtbibliothek übereignet wurde – für den Schulbetrieb einigermaßen instand gesetzt wurde. Zunächst nur als Provisorium gedacht, sollte das Gebäude für 46 Jahre Standort der Schule bleiben: von 1946 bis 1972 als DBL, von 1972 bis 1992 als Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels »Erich Wendt«87 und von 1990 bis 1993 wieder als DBL. Kurz vor ihrem 150. Gründungstag, 83 84 85 86 87
Perthes: Der deutsche Buchhandel. Riese: Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt. Riese: Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt, S. 105–113. StadtA-L, StVuR 9840: Bericht zur Schulsituation 1946. Erich Wendt (1902–1965) kommunistischer Funktionär, gelernter Schriftsetzer, 1923 verhaftet, 1925–1928 Redakteur beim Verlag der Kommunistischen Jugendinternationale, Wien,
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Abb. 1: Das Haus der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt, 1972 umbenannt in Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels »Erich Wendt« in Leipzig, Goldschmidtstraße, 1991. Foto: Siegfried Müller.
wurde sie 1993 mit der Buchdrucker-Lehranstalt in das Berufliche Schulzentrum für Buch, Büro, Druck, Medien, Sprachen und Kultur der Stadt Leipzig integriert, das sich in einem von Otto Droge errichteten Bau im Stile der 1920er Jahre am heutigen Gutenbergplatz befindet, unweit der Stelle, an der sich ihr eigener zerstörter Schulbau befand. In den Jahren der DDR bildete die DBL Buchhandelslehrlinge nach mehrfach revidierten Lehrplänen und Stundentafeln aus, die sich nach staatlich vorgegebenen Ausbildungsordnungen richteten und ein Berufsbild umsetzten, das vermeintlich sozialistischen Idealen folgte. Zwecks Zentralisierung schulischer Betreuung auch für Lehrlinge aus verstreuten Kleinbetrieben, für die eine eigene Zentralberufsschule zu schaffen nicht
1931 Emigration, bis 1936 Buchhändler bei der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, 1936–1938 als Opfer stalinistischer Säuberungen nach Sibirien verbannt, nach Rehabilitierung 1942–1947 Mitarbeiter von Radio Moskau, 1947–1951 Leiter des AufbauVerlages in Berlin, 1951–1957 Vizepräsident des Kulturbundes, 1957–1965 Staatssekretär im MfK, zuständig für Buchhandelsangelegenheiten. s. a. Erich Wendt zum 60. Geburtstag. In: Börsenblatt 129 (1962) 35, S. 511.
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möglich war, darunter für viele kaufmännische Berufe, insbesondere den Buchhandel, zu erreichen, ging man ab Januar 1950 zur ›Splitterberufsschulung‹ über.88 Parallel zur praktischen Ausbildung in den Lehrbetrieben hatten Lehrlinge zweimal wöchentlich örtliche kaufmännische Berufsschulen und am Ende jedes Ausbildungsjahres einen sechswöchigen Spezialkurs an der DBL in Leipzig zu besuchen, der auf die Gesellenprüfung, ab 1950 in Facharbeiterprüfung umbenannt, vorbereiten sollte. Bis heute besuchen Auszubildende des Buchhandels aus den östlichen Bundesländern (mit Ausnahme Berlins) am Ende jedes Ausbildungsjahres einen zentralen Kurs in Leipzig. Als ihr 1951 ein Internat für auswärtige Schüler zugewiesen worden war, begann der erste sogenannte Republikkurs mit 24 Lehrlingen, von denen die Mehrheit noch aus privaten Buchhandlungen kam.89 Im Laufe der Zeit erlangten Lehrlinge aus Volksbuchhandlungen das Übergewicht. Von 1951 bis 1989 nahmen ca. 2.000 Lehrlinge an solchen Republikkursen teil. Dazu kamen Lehrgänge für Bibliothekshelfer, Zootierpfleger und ab 1952 sogenannte Praktikanten- oder Umschülerkurse im Auftrage des Volksbuchhandels, sodass sich das Lehrpersonal der DBL – durchschnittlich zehn bis dreizehn hauptamtliche und eine wechselnde Anzahl nebenamtlicher Lehrkräfte – oft überlastet sah. Einen Höhepunkt bildete der 100. Geburtstag der DBL. Bezeichnenderweise wurde dieses Ereignis nicht am eigentlichen Gründungstag, dem 2. Januar, gefeiert, sondern erst am 9. Mai 1953, dem Vorabend des ›Tages des freien Buches‹, an dem die DDR alljährlich der Bücherverbrennungen gedachte, die am 10. Mai 1933 stattgefunden hatten. Das Börsenblatt merkte dazu an, diese Verschiebung stehe »für die grundsätzliche Strukturwandlung, die diese einzige Buchhändlerschule Deutschlands seit dem Jahre 1945 durchgemacht hat«.90 Mit dem Ziel, die DDR zu einer ›gebildeten sozialistischen Nation‹ zu entwickeln, sollte »die Berufsausbildung der Jugendlichen breit und umfassend erfolgen«, auf die allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS) aufbauen und die Jugend auch im Buchhandel zu klassenbewussten Facharbeitern erziehen.91 Die »Systematik der Ausbildungsberufe« legte 1959 endgültig fest, dass die unter Nummer 5.152 registrierte Berufsausbildung für Buchhändler den Abschluss der POS voraussetzt und 2 ½ Jahre dauert, während für immer häufiger in den Beruf drängende Abiturienten die Lehrzeit nur zwei Jahre betragen sollte. Der Rahmen-Ausbildungsplan wurde mehrfach überarbeitet. Ab 1. September 1960 wurde »mit der breiten Grundausbildung begonnen«.92 Darauf aufbauend waren für Bucheinzelhändler, Buchgroßhändler, Verlagsbuchhändler, Musikalienhändler usw. spezielle Ausbildungen vorgesehen, was eine Umstellung der Lehrpläne an der DBL wie auch in den Ausbildungsbetrieben erforderte.
88 Gesetzblatt, Teil I, Berlin (1958) 6, S. 632–634. 89 Das Internat ist fertig. Sechswochenkurse für Buchhandelslehrlinge – ein Schritt zur Zentralisierung der Splitterberufsausbildung. In: Börsenblatt (Leipzig) 118 (1951) 27, S. 331–333. 90 Jeder junge Buchhändler ein bewußter Kämpfer für den Sozialismus! Am 9. Mai beging die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt im Weißen Saal des Leipziger Zoo feierlich ihr 100jähriges Jubiläum. In: Börsenblatt (Leipzig) 120 (1953) 21, S. 416–418. 91 Deutsches Institut für Berufsbildung: Ausbildungsunterlagen, S. 5. 92 Deutsches Institut für Berufsbildung: Ausbildungsunterlagen, S. 4.
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Mit Beginn des neuen Lehrjahres am 1. September 1960 war die Zentralisierung der beruflichen Nachwuchsausbildung im Buchhandel nach der DDR-Berufsausbildungspolitik weitgehend abgeschlossen. Die von Gründung der DBL an eigenverantwortlich durchgeführten Lehrabschlussprüfungen waren schon 1956 abgelöst worden durch Erlass einer einheitlichen Ordnung für alle Ausbildungsberufe zur Prüfung zum Facharbeiter, die auch für den Buchhandel galt. Die Verantwortung wurde speziell eingesetzten Prüfungsausschüssen übertragen. 1969 waren neue »Ausbildungsunterlagen für die sozialistische Berufsausbildung in Verlagswesen und Buchhandel« in Kraft getreten. Deren Lehr- und Stoffverteilungspläne beruhten auf den »Grundsätze[n] für die Weiterentwicklung der Berufsausbildung als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems«. Sie richteten besondere Aufmerksamkeit auf die Vermittlung technisch-naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Die DBL äußerte sich überzeugt, dass auch der Buchhändler naturwissenschaftliche Kenntnisse benötigt. Die vorgeschriebenen neuen Fächer wie Elektronische Datenverarbeitung, Betriebsökonomik, Technik der geistigen Arbeit u. a. m. stellten höhere Anforderungen sowohl an die Lehrkräfte der DBL wie an die Ausbilder in den Betrieben. Die 1983 in Fortsetzung dieser Entwicklung vom ZK der SED und vom Ministerrat der DDR-Regierung beschlossenen »Maßnahmen zur weiteren Vervollkommnung der Berufsausbildung« waren auf die Intensivierung in Produktion und Distribution ausgerichtet und deshalb allenfalls für größere Betriebseinheiten im Netz des Volksbuchhandels von Belang. Der Volksbuchhandel, einschließlich LKG, der in den 1970er Jahren rund 6.000 Beschäftigte zählte, reagierte mit eigenen Ausbildungsprogrammen auf Umstellungen im allgemeinbildenden Schulsystem: Von 1963 an sollte ein eigenes Lehrkabinett in Leipzig nicht nur die Qualifizierung von berufsfremden Mitarbeitern, sondern unabhängig von der DBL auch die Schulung von Lehrlingen übernehmen. Eigenen Lehrbriefen folgte 1977 ein im Auftrage der Berufsfachkommission ›Buchhändler‹ bei der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels herausgegebenes Lehrbuch für Buchhändler, auf dem fortan eigene Prüfungen fußten.93 Es war vorauszusehen: »Die DBL wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1972 in die Betriebsberufsschule (BBS) des Volksbuchhandels der DDR umgewandelt«,94 meldete das Leipziger Börsenblatt lakonisch. In einem vom Stellvertreter des Ministers für Kultur und Leiter der HV Verlage und Buchhandel, Bruno Haid, am 17. November 1971 unterzeichneten Statut »für die aus der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt hervorgegangene Betriebsberufsschule« werden deren Arbeitsweise und Struktur als einer dem Hauptdirektor der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels unterstellten »Einrichtung des sozialistischen Bildungswesens für die Berufsausbildung von Buchhändlerlehrlingen« festgelegt. Dieser Wandel entsprach der aus politischen Gründen vorangetriebenen Entwicklung: Sie sollte von an freien Bedürfnissen – ihrer Erfassung und Beeinflussung durch Marketing-orientiertem kapitalistischen Handel im privaten Buchvertrieb zu sozialistischer Planwirtschaft mit autoritärem Bildungs- und Erziehungsauftrag im kollektivistischen Volksbuchhandel führen. Aus diesen – ungeachtet gewisser Ähnlichkeiten – prinzipiell differenten Maximen mussten sich unterschiedliche Handlungsweisen, abge-
93 Autorenkollektiv: Lehrbuch für Buchhändler. 94 Börsenblatt (Leipzig) 139 (1972) 10, S. 166.
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leitet aus erwünschter utopischer Theorie, in der beruflichen Praxis ergeben, auf die in der Ausbildung vorbereitet werden sollte. Daher folgte der Übergang der DBL mit einem traditionellen Lehrprogramm in die BBS des Volksbuchhandels der immanenten Logik der Gesellschaftspolitik in der DDR. Ausdrücklich verfügt wurde, dass die Ausbildung nach der geltenden Rahmenausbildungsunterlage in erster Linie für den Arbeitskräftebedarf des Volksbuchhandels erfolgt. Andere Betriebe können Jugendliche nur auf Grundlage vertraglicher Vereinbarungen »zur berufstheoretischen Ausbildung in die BBS« delegieren.95 Die Umwandlung der DBL in eine Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels ist auch im Lichte nur krampfhaft zu nennender Abgrenzungs- und Souveränitätsbestrebungen von Partei- und Staatsführung der DDR zu sehen. Das Adjektiv ›deutsch‹ in Bezeichnungen, ja im Namen von Institutionen, schlechthin alles, was an gesamtdeutsche Bezüge erinnern könnte, wurde – mit Ausnahme der Namens SED und ihrer Parteizeitung Neues Deutschland – rigoros getilgt. Eine Deutsche Buchhändler-Lehranstalt durfte es folglich ebenso wenig geben wie einen ›deutschen Buchhandel‹. Um ja keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, verlieh man der nunmehrigen Betriebsberufsschule (BBS) den Namen »Erich Wendt«. Mit Unterstellung unter die Zentrale Leitung Volksbuchhandel und ihrer Eingliederung in diesen Unternehmensverbund verlor die DBL endgültig ihren souveränen Status als Berufsschule für die 1853 erstmals praktizierte duale Ausbildung im deutschen Buchhandel, nachdem sie schrittweise 1945 ihre private Eigentumsform, 1949 ihre gesamtdeutsche Bedeutung und 1950 den immer erstrebten Fachschulrang verlor. Sie wurde zur Zentralen Berufsschule des Buchhandels (ZBB) in der DDR erklärt; Vertreter der verantwortlichen Stadtverwaltung hatten schon 1948 gemeint, dass für den selbst erhobenen Anspruch, nicht nur Berufsschule, sondern auch buchhändlerische Fachschule sein zu wollen, nicht die nötigen Voraussetzungen vorlägen.96 Als Wirtschaft und Staat der DDR im Herbst 1989/90 implodierten, verlor die BBS ihren Trägerbetrieb: die Schule wurde unter dem Direktorat von Heide Waschkies wieder, was sie war – vom Börsenverein getragene DBL. Sie blieb zentrale Berufsschule für buchhändlerischen Nachwuchs in den ehemals zur DDR gehörenden östlichen Bundesländern der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. Die westdeutsche Fraktion des Börsenvereins hatte in den 40 Jahren deutscher Teilung mit den in Fortführung der DBL-Tradition errichteten Schulen des Deutschen Buchhandels in Frankfurt-Seckbach längst eine eigene erfolgreiche Berufsfachschule aufgebaut. Zwei konkurrierende Einrichtungen in einer Hand waren auf Dauer kaum mehr nötig, zumal die Zahl der Interessenten an einer Buchhändler-Lehre im Zeitalter der Digitalisierung rückläufige Tendenzen aufweist und sich für Abiturienten, die den verzweigten und immer anspruchsvolleren Beruf des Buch- und Medienkaufmanns erlernen wollen, an den Universitäten Mainz, München, Erlangen und Leipzig sowie an den Fachhochschulen in Stuttgart und Leipzig inzwischen spezielle Studiengänge etabliert haben, die auf verantwortliche Aufgaben in dieser Branche vorbereiten.
95 Statut für die Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels der DDR. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Kultur, Berlin (1972) 1, S. 14 ff. 96 Riese: Die Deutsche Buchhändler-Lehranstalt (2017), S. 179 ff.
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Deshalb entschloss sich der wiedervereinigte Börsenverein 1992, die Schule der Stadt Leipzig zu übertragen. Die vereinigte sie 1993, kurz vor ihrem 150. Geburtstag, mit der Buchdrucker-Lehranstalt zur Gutenbergschule, dem Beruflichen Schulzentrum für Buch, Büro, Druck, Medien, Sprachen und Kunst. Die DBL zog daraufhin von der Goldschmidtstraße 26, wo sie in Räumen der von dem Musikverleger Max Abraham 1894 gestifteten Musikbibliothek Peters97 von 1946 bis 1992 primitiv untergebracht war, in den von Otto Droge im Stile der 1920er Jahre errichteten Bau am Gutenbergplatz (früher Platostraße), fast gegenüber der Stelle, an der ihr altes, 1943 zerstörtes Schulhaus gestanden hatte. An der Fassade des modernen Gebäudes prangt die vom einstigen Vorsteher des Börsenvereins, Gerhard Kurtze, gestiftete Aufschrift »Deutsche Buchhändler-Lehranstalt, gegründet 1853«. Der gut lesbare Name verweist auf die lange Tradition und wechselvolle Schulgeschichte in einer Epoche, da Bücher nicht nur unterhalten, sondern das gesellschaftliche Gewissen ihrer Zeit repräsentieren und beeinflussen wollten. Seit 2011 präsentiert das Berufliche Schulzentrum im rekonstruierten Gebäude mit erweiterten technischen Möglichkeiten ein aktualisiertes Angebot der Berufsschulausbildung für Buchhändler, Medienkaufleute, Fachangestellte für Medien und Informationsdienste sowie Kaufleute für audio-visuelle Medien.
Fachschule für Buchhändler Der Verlust einer »Berufsfachschule des Buchhandels« wurde in der DDR wiederholt beklagt. Je häufiger Abiturienten im Buchhandel berufliche Chancen suchten, desto deutlicher zeichnete sich ein Fortbildungsstreben ab, dem nach 1950 nur schwer zu entsprechen war. Auch erforderten zunehmende Konzentration, damit wachsende Komplexität und Kompliziertheit buchhändlerischer Tätigkeiten ständige Erweiterung und Vertiefung beruflichen Wissens. 1953, im 100. Jahr der Gründung der DBL, waren Klagen über mangelnde Qualität des Unterrichts an der DBL immer lauter geworden. Der damalige Leiter der Hauptabteilung Volksbuchhandel im LKG und spätere Hauptdirektor der Zentralen Leitung (ZL) Volksbuchhandel, Erich Heß, bemängelte, dass eine Berufsausbildung, wie sie zur Zeit in der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt erfolgt, den Anforderungen nicht mehr voll genügen kann.[…] Die Deutsche BuchhändlerLehranstalt führt keine Spezialausbildung durch, sondern arbeitet nach einem Ausbildungsprogramm für Lehrlinge und entspricht demzufolge einer Berufsschule, während fast sämtliche Berufe über Fachschulen verfügen. […] An den Buchhandel werden […] in gesteigertem Maße Fragen des politischen und kulturellen Lebens, Fachfragen aller Berufe herangetragen, 98 so dass der Ausbildung des Buchhändlers mehr Beachtung geschenkt werden sollte.
97 Die vom Musikverleger Max Abraham der Stadt Leipzig gestiftete wertvolle Musikbibliothek wurde nach 1946 von der Leipziger Stadtbibliothek übernommen; siehe Knopf: Buchstadt Leipzig, S. 46. 98 Erich Heß: Vier Probleme, die der Lösung harren. In: Börsenblatt, Leipzig 120 (1953) 50, S. 1066.
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Dieser Artikel drückte eine Meinung aus, die in vielen Zuschriften bestätigt wurde. Die Geschäftsstelle des Börsenvereins kam zu dem Schluss, dass eine Fachschule »nicht nur den jahrelangen Forderungen der Mitarbeiter aller Zweige unseres Berufes« entgegen käme, sondern dass sie »auch eine, im Vergleich mit anderen Wirtschaftszweigen längst herangereifte Notwendigkeit« sei.99 Zwecks weiteren Ausbaus eines sozialistischen Systems der Literaturentwicklung und -verbreitung, als dessen Hauptstützen Verlage, Buchhandel und Bibliotheken galten, waren 1953/54 in Berlin und Leipzig zunächst Fachschulen für wissenschaftliches Bibliothekswesen, die dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, und nur in Leipzig eine Fachschule für Bibliothekare (an öffentlichen Bibliotheken), die dem Ministerium für Kultur unterstand, eröffnet worden. Auf Vorschlag auch des Börsenvereins wurde schließlich 1957 eine eigene Fachschule für Buchhändler durch die HV Verlagswesen des Ministeriums für Kultur (ab 1963 HV Verlage und Buchhandel) gegründet. Sie kann als erste staatliche Einrichtung dieser Art in Gesamtdeutschland gelten, deren Besuch kostenlos war. Das unterschied sie von der in Nachfolge der Leipziger DBL – und nach deren Modell – vom Frankfurter Börsenverein 1952 zunächst in Frankfurt begründeten, dann 1959 in Frankfurt-Seckbach geschaffenen Schule des Deutschen Buchhandels. Die neue Fachschule in Leipzig, so der damalige Börsenvereinsvorsteher Heinrich Becker in seiner Eröffnungsrede, sollte, anknüpfend an die DBL-Tradition, »mittlere Kader heranbilden für die Stimulierung, Durchsetzung und Beherrschung kulturpolitischer und ökonomischer Prozesse im Verlagswesen und Buchhandel«. Gemeint war schlicht, die Fachschule habe die »Aufgabe, geeignete Mitarbeiter der Verlage, des Zwischenbuchhandels und des Sortiments nach erfolgreicher Lehrausbildung und Bewährung in der buchhändlerischen Praxis für leitende und mittlere Positionen und mit einem Berufsverständnis als ›sozialistischer Kulturfunktionär‹ zu qualifizieren«.100 Mit anderen Worten: Die Absolventen der Fachschule sollten als Buchhandlungsleiter oder Abteilungsleiter in einer größeren Buchhandlung als Leiter einer Verlagsauslieferung, Werbeoder Vertriebsleiter im Sortiments- wie Zwischenbuchhandel oder im Verlag einsetzbar sein. Zum Studium konnte sich bewerben, wer über Abitur, mittlere Reife oder »nachweislich über entsprechend allgemeinbildende Kenntnisse« verfügte, die Facharbeiterprüfung mit Erfolg abgelegt hatte, danach mindestens ein Jahr in einem Buchhandelsbetrieb tätig war und das Höchstalter von 35 Jahren in der Regel nicht überschritten hatte. Als Voraussetzung für die Aufnahme in die Fachschulausbildung wurde pflichtschuldig »eine positive Einstellung zur Politik der Deutschen Demokratischen Republik« gefordert, »die sich in der Bereitschaft ausdrücken muss, am Aufbau des Sozialismus […] und an der Wiedervereinigung des deutschen Vaterlandes mitzuarbeiten und die Errungenschaften der Werktätigen […] zu verteidigen«.101 Welche Rolle eine »positive Einstellung zur Politik der DDR (und) Aktivität für den Sieg des Sozialismus«102 tatsäch-
99 StA-L, Börsenverein II, 161, Bl. 84: Übersicht der Geschäftsstelle des Börsenvereins zur Situation in der Ausbildung des Berufsnachwuchses. 100 Archiv der Fakultät Medien der HTWK Leipzig: Redemanuskript von 1957. 101 Archiv der Fakultät Medien der HTWK Leipzig: Redemanuskript von 1957. 102 Archiv der Fakultät Medien der HTWK Leipzig: Merkblatt über das Studium an der Fachschule für Buchhändler.
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Abb. 2: Einweihung des Neubaus der Fachschule für Buchhändler und Bibliothekare in Leipzig-Schönefeld, 1985. Foto: Siegfried Müller.
lich gespielt haben, sei dahin gestellt. Von den 1970er Jahren an wurde eine Delegierung durch den Betrieb gefordert. ›Leitende Mitarbeiter‹ in mittleren Positionen gab es in der DDR infolge einsetzender Konzentration in Verlagswesen und Buchhandel nach einer gewissen Konsolidierung von Wirtschaft und Gesellschaft ab Mitte der 1950er Jahre immer mehr. Auch in einer zentralistischen Verwaltungswirtschaft mit einem Gewirr staatlicher Subventionen sollte sich der Wirtschaftszweig Verlage und Buchhandel bei aller proklamierten Priorität ideologisch-politischer Funktionen letztlich auch ›rechnen‹. Der wachsende Widerspruch zwischen Kulturpolitik und Ökonomie – im Klartext: zwischen Angebot und Nachfrage, Produktion und Absatz – wurde zunehmend zum Problem. Lösungen wurden in den 1950er Jahren von einer kulturökonomischen Konferenz erwartet. Vergeblich. Deshalb suchte man sie in ständiger ›fachlicher Qualifizierung‹. Mit drei Mitarbeitern – zwei Dozenten und einer Sekretärin – und 45 Studierenden nahm die Fachschule am 1. September 1957 im Vorort Leipzig-Leutzsch ihre Tätigkeit auf. Sie bestand von 1957 bis 1992/93. Über mangelnden Zuspruch brauchte sie zu keiner Zeit zu klagen. Das hatte nicht nur mit dem Beruf, sondern auch damit zu tun, dass trotz mancher harschen Töne nach außen die Fachschule, benachbart zu der für Bibliothekare an öffentlichen Bibliotheken, nach innen eine friedliche Insel am Rande der Stadt bildete, wo man Freiräume finden konnte. 1960 wurde zusätzlich zum anfangs zwei-, ab 1965 dreijährigen Direktstudium ein drei-, ab 1965 vierjähriges Fernstudium eingerichtet. In den Jahren zwischen 1957 und 1994 haben insgesamt 801 Direkt- und ab 1960 zusätzlich 1.224 Fernstudenten die Fachschule besucht. In diesen Zahlen inbegriffen sind Absolventen dreier Sonderstudiengänge für leitende Mitarbeiter aus Zeitungsverla-
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gen, die nach 1964 im Auftrag der Zentrag,103 der Holding SED-eigener Druckereien, Buch- und Zeitungsverlage, durchgeführt wurden. Daneben wurden ab 1962 etwa 60 »langjährig im Beruf stehenden und […] besonders bewährten Mitarbeitern Fachschulabschlussprüfungen auf externem Wege abgenommen«,104 nicht zuletzt, um Gehaltsansprüche besser begründen zu können. Nicht ohne Stolz wurde anlässlich des Jubiläums »20 Jahre Fachschule für Buchhändler« aufgerechnet, dass u. a. 14 Bezirksdirektoren des staatlichen Volksbuchhandels und 20 Absatzleiter prominenter Verlage aus ihr hervorgegangen seien.105 Der Studiengang folgte einem mindestens dreimal reformierten Lehrplan, der neben klassischen Gebieten wie Rechnungswesen, Technik der Buchherstellung, Geschichte des Buchwesens, Sprachen, Literatur- und Wissenschaftskunde auch Fächer wie Dialektischer und historischer Materialismus, Politische Ökonomie sowie politische und ökonomische Geographie umfasste.106 Gemäß Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem erfolgte 1965 eine Erweiterung des Lehrstoffes, sodass die Ausbildungszeit im Direktstudium von zwei auf drei Jahre, im Fernstudium von drei auf vier Jahre verlängert wurde. Außerdem wurden vom Studienjahr 1967/68 an Weiterbildungskurse für Fachschulabsolventen eingerichtet. Wenn in den ersten Jahren Kenntnisse und Erfahrungen aus der Verlags- und Buchhandelsarbeit vermittelt wurden, bemerkt der langjährige Direktor der Fachschule, Werner Kahlenberg, »drängte die gesellschaftliche Entwicklung immer mehr dazu, die einzelnen Lehrgegenstände in allgemeine gesellschaftliche Zusammenhänge einzugliedern und solche Überlegungen auch in die Gestaltung des Studienplanes aufzunehmen«.107 So wurde die zunehmende Politisierung des Fachschulstudiums umschrieben. In einem unter Federführung der Fachschule erarbeiteten, 1967 vom MfK bestätigten Berufsbild »Buchhändler mit Fachschulabschluss« wurden nicht nur die lange umstrittene Qualifikationsbezeichnung geklärt, sondern auch ein systematisch gegliederter Fächerkanon fixiert, der, abgesehen von ideologischem Ballast, mit Kulturtheorie, Mathematik/Statistik, Grundlagen der Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft, Sprachen, Geschichte des Buchhandels, Planung, Leitung und Organisation im Wirtschaftszweig Verlage und Buchhandel, Öffentlichkeitsarbeit, Bibliographie und Information/Dokumentation damals durchaus modernen Anforderungen entsprach. Dieser Fächerkanon wurde 1976 und 1985 inhaltlich leicht verändert und strukturell vereinfacht, um Praktika mehr Raum zu geben.108
103 1945 gegründete Zentrale Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft mbH. Als spätere Vereinigung Organisationseigener Betriebe (VOB Zentrag) unterstand sie dem ZK der SED und wurde direkt vom Apparat des ZK geleitet. 104 Werner Kahlenberg: Zehn Jahre Fachschule für Buchhändler. In: Börsenblatt (Leipzig) 134 (1967) 30, S. 577. 105 Zahlen bestätigen 20jährige Leistungen. Bilanz der Fachschule für Buchhändler. In: Börsenblatt (Leipzig) 144 (1977) 38, S. 742. 106 Archiv der Fakultät Medien der HTWK Leipzig: Werner Kahlenberg: Ansprache zur Eröffnung der Fachschule für Buchhändler. Manuskript. 107 Werner Kahlenberg: Zehn Jahre Fachschule für Buchhändler. In: Börsenblatt (Leipzig) 134 (1967) 30, S. 577. 108 Riese: Struktur, S. 93.
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Abb. 3: Blick ins Klassenzimmer der Fachschule für Buchhändler und Bibliothekare in LeipzigSchönefeld, 1987. Foto: Siegfried Müller.
Der Erneuerungsprozess nach der deutschen Wiedervereinigung führte die Leipziger Fachschulen für Buchhändler, Bibliothekare und Museologen im Fachbereich Buch und Museum, jetzt Fakultät Medien, zusammen, der 1992 in der in Leipzig gegründeten Fachhochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) eingerichtet wurde.
Betriebsakademien des Wirtschaftszweigs Verlage und Buchhandel Ab der 3. Parteikonferenz der SED im März 1956 erlangte politisch-ideologische Ausrichtung Vorrang in Bildung und Praxis. Der V. Parteitag der SED im Juli 1958 stellte »das Ziel, in absehbarer Zeit die sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR zum Siege zu führen« und maß dem Staat neben der wirtschaftsleitenden verstärkt »kulturell-erzieherische Funktion« zu.109 Unter dem Motto ›Greif zur Feder Kumpel‹ begann im April 1959 auf einer Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages der »Bitterfelder Weg« zu einer ›sozialistischen Volkskultur‹. Mit einem ›Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung‹ (NÖSPL) wurde in der Ulbricht-Ära versucht, hinkender Wirtschaftsleistung durch Verbindung sozialistischer Produktionsverhältnisse mit »Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution«, mit Kybernetik und Systemtheorie aufzuhelfen. Mit dem proklamierten Ziel einer »gebildeten sozialistischen Nation« wurde im Wirtschaftszweig Verlage und Buchhandel nicht nur die Berufsausbildung reformiert, sondern auch der berufsbegleitenden Weiterbildung größere Aufmerksamkeit geschenkt: 1960 wurden – wie in fast allen Wirtschaftszweigen – auch Betriebsakademien Verlage und Buchhandel in Berlin und Leipzig eingerichtet, die durch Lehrgänge und Vorträge
109 Streisand: Kultur in der DDR, S. 89.
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der nebenberuflichen Erwachsenenqualifizierung dienen sollten. Besonders beliebt und allzeit stark besucht waren Sprachlehrgänge sowie Vorträge zu Literatur und Kunst, die meist vor Beginn der Arbeitszeit am Morgen oder an Nachmittagen stattfanden. Auf Grund einer »Verordnung über die Bildungseinrichtungen zur Erwachsenenqualifizierung« wurden die von der HV initiierten betrieblichen Einrichtungen ab 1. April 1963 in staatliche Bildungsstätten umgewandelt, was ihre Wirkungsmöglichkeiten erweiterte. Ihre Lehrangebote orientierten sich im Wesentlichen an den »Grundsätze(n) für die Weiterentwicklung der Berufsbildung als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems«, die 1959 und 1965 von der Volkskammer der DDR beschlossen wurden. Eine regelrechte ›Qualifizierungswut‹ erfasste – nicht ganz freiwillig − ›leitende Kader‹ in Verlagen, wie Verlagsleiter, Cheflektoren usw. Da mittlerweile an den Hochschulen eine ›sozialistische Intelligenz‹ herangewachsen war, wurde als Voraussetzung für Leitungsfunktionen spätestens ab den 1960er Jahre formale Hochschulqualifikation erwartet, allein um in Gehaltshierarchien richtig eingeordnet werden und auch internationalen Geschäftspartnern ›auf Augenhöhe‹ begegnen zu können. Unverbindliche Angebote der Betriebsakademien reichten dafür nicht aus. Deshalb entschlossen sich Führungskräfte häufig, neben dem Beruf ein Direkt- oder häufiger ein Fernstudium an einer Hochschule aufzunehmen. Da es buchwissenschaftliche Studiengänge in der DDR bis 1968 so gut wie nicht gab, wählten die meisten Interessenten ein professionsnahes Studium der Kulturwissenschaft an den Universitäten Berlin, Leipzig oder Jena, zumal dieses im Vergleich zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Studienangeboten als weniger anspruchsvoll und eher politisch ›bekenntnisorientiert‹ galt. Inwieweit dergleichen Erwartungen neben dem beruflichen Rang des Studierenden das Erlangen fachspezifischer Qualifizierungsgrade an Hochschulen tatsächlich erleichtert haben, sei dahingestellt.
Das Institut für Verlagswesen und Buchhandel an der Karl-Marx-Universität in Leipzig 1925 hatte der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig die weltweit erste Professur für Buchhandelsbetriebslehre an der Handelshochschule Leipzig gestiftet. Bis 1945 hatte die Stelle Gerhard Menz inne, der in der NS-Zeit zwar Opportunist, aber nicht Mitglied der NSDAP gewesen war.110 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Handelshochschule von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig mit Menz als Professor für Betriebswirtschaftslehre übernommen. Das Fach Buchhandelsbetriebslehre fand an der Universität jedoch keine Fortsetzung. Nach Gründung der DDR regten Direktoren bedeutender Leipziger Bibliotheken – der Deutschen Bücherei, der Universitätsbibliothek u. a. – eine Wiederaufnahme buchhandelshistorischer Forschung am ›Leipziger Platz‹ an. Aktenkundig wurde der Gedanke eines Buchhandelsinstituts am 20. Mai 1958, vorgeschlagen von Heinrich Becker, dem Vorsteher des Börsenvereins, als er Restbeständen der im Krieg weitgehend verbrannten Börsenvereinsbibliothek an die Deutsche Bücherei übergab. Bibliothek und Archiv werden seitdem im Deutschen Buch- und Schriftmuseum, seit 1950 Teil der heutigen Deutschen Nationalbibliothek, bewahrt, erschlossen und der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht.
110 Altenhein: Gerhard Menz, S. 9–28.
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Im Zusammenhang mit der Fachschulgründung beklagte der Börsenverein 1962 das Fehlen sowohl buchhändlerischer Fachliteratur als auch »einer Forschungseinrichtung für Verlags- und Buchhandelsfragen«. Neben Unterstützung der Fachschule und Lösung »einer Reihe wichtiger Forschungsprobleme« sei »die Entwicklung einer marxistischen Buchhandelsgeschichte notwendig, dabei besonders die Geschichte des sozialistischen Buchhandels und Verlagswesens«. 1963 schlug der damalige Vorsitzende der Historischen Kommission des Leipziger Börsenvereins, Johannes Müller, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig, erneut vor, zur Förderung buchhandelshistorischer Forschung »an der Karl-Marx-Universität Leipzig ein Institut für Buchhandel und Verlagswesen zu gründen«. Am 10. März 1964 wurde der Vorschlag beim Rektor der Universität beraten, aber angesichts fehlenden Personals sowie allzu vager Ausbildungsziele vorläufig zurückgestellt. Ganz andersartige Pläne wurden um diese Zeit auch im MfK geschmiedet: Man wollte das im Aufbau begriffene Bildungs- und Erziehungssystem für Beschäftigte in Verlagen und Buchhandel durch ein Hochschulinstitut krönen. Die Intentionen des MfK stützten sich auf Beschlüsse der Staatspartei SED. Deren Vision »allseitig entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten« wies kulturverbreitenden Einrichtungen, vor allem Verlagen, Buchhandlungen und Bibliotheken, als »geistig-kulturelle Zentren« im »entwickelten sozialistischen Gesellschaftssystem« besondere politisch-ideologische Bildungsverantwortung zu. Zwei Jahre nach dem ›Mauerbau‹ in Berlin beschloss der VI. Parteitag der SED 1963 ein neues Parteiprogramm. Darin wurde »die Weiterführung der sozialistischen Revolution auf dem Gebiete der Ideologie und Kultur als eine zentrale Aufgabe« hervorgehoben.111 In diesem Kontext beschloss die Volkskammer der DDR am 25. Februar 1965 das »Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem«, das Universitäten verstärkt politisch-ideologische Erziehungsaufgaben zuwies.112 Das 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965, als »Kahlschlag«-Plenum berüchtigt,113 verpflichtete auch Schriftsteller und Künstler auf das national-pädagogische Ziel der Formung sozialistischer Persönlichkeiten.114 Dazu erließ Ulbrichts Staatsrat im November 1967 den Beschluss »Über die Aufgaben der Kultur bei der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft«. Das MfK sah sich vollends legitimiert, die ›politisch-ideologische Bildung und Erziehung‹ der Mitarbeiter in Verlagswesen und Buchhandel zu intensivieren. Nach Gründung der Fachschule für Buchhändler 1957 und der Betriebsakademien für Erwachsenenqualifizierung in Berlin und Leipzig 1960 fehlte in dem angestrebten einheitlichen System beruflicher Aus- und Weiterbildung nur noch ein Hochschulinstitut mit Promotionsrecht zur Qualifizierung von Führungskräften. Das Interesse der Leipziger Universitätsleitung kam Verantwortlichen im MfK durchaus entgegen. Im November 1966 berief der Leiter der HV, Bruno Haid, eine Vorbereitungsgruppe zur Gründung eines entsprechenden Instituts an der Universität der ›Buchstadt‹ Leipzig. Ihre Leitung übernahm der Direktor der Leipziger Betriebsakademie, der Journalist Wolfgang Sielaff. Der hatte in einer Dissertation mit dem pompösen
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Selle: Zur Geschichte des Verlagswesens der DDR, S. 57. Krause: Alma mater Lipsiensis, S. 367. Agde (Hrsg.): Kahlschlag. Selle: Zur Geschichte des Verlagswesens der DDR, S. 61.
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Titel Zu Problemen der Erwachsenenqualifizierung in der Betriebsakademie unter besonderer Berücksichtigung der gegenwärtigen und perspektivischen Bedingungen von Ziel und Inhalt der Erziehung und die Konsequenzen für die Organisation der Erziehung, dargestellt an der Situation im Bereich des Ministeriums für Kultur ein Stufenmodell für ein solches Bildungs- und Erziehungssystem vorgeschlagen, dessen Zentrum eine der HV direkt unterstellte Betriebsakademie und ein Hochschulinstitut bilden sollten. Eine 21-seitige »Konzeption zur Errichtung eines Instituts für alle Bereiche des Verlagswesens und Buchhandels an der Karl-Marx-Universität« wurde am 26. Januar 1967 im MfK angenommen und verabschiedet. Anders als die buchhandelshistorisch ausgerichteten Vorstellungen der Universitätsleitung wurden darin politisch-ideologische Erziehungsaufgaben in den Vordergrund gerückt und damit die Bahnen vorgezeichnet, in denen das Institut für Verlagswesen und Buchhandel (IVB) entstehen und sich entwickeln sollte. Die Universitätsleitung war in dergleichen Überlegungen nicht einbezogen, ja nicht einmal eingeweiht worden. Im Gegenteil! Ihre Vorbehalte gegen derartige ›Schulungsvorstellungen‹ wurden erst durch den Stellvertreter des Ministers für das Hoch- und Fachschulwesen vom Tisch gefegt, mit dem Hinweis, »dass den Universitäten und Hochschulen zukünftig bedeutend mehr Aufgaben der fachlichen Weiterbildung erwachsen als das bisher der Fall ist«.115 Am 13. September 1967 signalisierte Kulturminister Klaus Gysi dem Rektor der Leipziger Universität »in Übereinstimmung mit der Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED und dem Minister für das Hoch- und Fachschulwesen« den Erlass einer »Anordnung zur Errichtung eines Instituts für Verlagswesen und Buchhandel an der KarlMarx-Universität«.116 In dieser Gründungsurkunde wurde u. a. festgelegt, dass das IVB zunächst 20 Direkt-, später weitere 20 Fernstudenten auszubilden, Lehrgänge für ›leitende Kader‹ sowie Forschungsaufgaben für das MfK durchzuführen hat. Über das Ministerium der Finanzen wurden zusätzlich jährlich 260.000 Mark (Ost) und über die Bezirksplankommission sieben Planstellen117 zur Verfügung gestellt. Das MfK erkaufte sich also durch die von ihm veranlasste Finanzierung Mitspracherecht bei Berufung von Direktor und Abteilungsleitern sowie maßgeblichen Einfluss auf Lehre und Forschung. Das IVB war, ähnlich dem 1955 geschaffenen Literaturinstitut – bekannter unter dem 1959 hinzu gefügten Namen »Johannes R. Becher«118 – eine typische Gründung der DDR. Seine Vorgeschichte ist aufschlussreich für Charakter und Wirkungsbereich. Es konnte nie recht heimisch werden unter dem Dach der Universität, unter dem es nicht einmal ›wohnte‹: Es bezog zusammen mit der Betriebsakademie Verlage und Buchhandel eine von LKG angemietete Etage in dem Bürokomplex Thiemesʼ Hof, einem baufälligen Geschäftshaus in der Leipziger Querstraße, einstmals die Verlagsavenue der Buchstadt Leipzig. Am 2. April 1968 wurde eine Vereinbarung zwischen dem Minister für Kultur und dem Rektor der Universität abgeschlossen – Arbeitsgrundlage für das wenig beachtete
115 UAL R 60, Bd. 2, Bl. 36–37: Schreiben an Prof. Kossok. 116 UAL R 60, Bd. 2, Bl. 24–26: Schreiben Minister Gysi an den Rektor Prof. Müller. 117 1 Direktor (Professor), 2 Abteilungsleiter (Oberassistenten), 1 wissenschaftlicher Mitarbeiter, 2 befristete Assistenten, 1 wissenschaftliche(r) Sekretär(in) 118 Herzog (Hrsg.): Das literarische Leipzig, S. 322–325.
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und noch weniger angesehene IVB bis 1990 und Rechtsgrundlage für seine Abwicklung 1992. Dem Primat der Kulturpolitik gemäß wurde das IVB nicht der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, sondern der nach der Hochschulreform 1969 gebildeten Sektion Kultur- und Kunstwissenschaften zugeordnet, in der es allerdings immer Fremdkörper blieb, was seiner doppelten Unterstellung geschuldet war: Allzeit gehorchte das IVB mehr der HV als den zuständigen Universitätsgremien. Die Institutsgründung wurde im westlichen Teil Deutschlands – wenngleich unter irrigen Vorstellungen – neidvoll beachtet, war doch auch dort ein Hochschulinstitut zur Förderung von Führungsnachwuchs und Forschung im Buchhandel erwünscht, aber nach den wilden 1968er Jahren nicht erreicht worden. Die inhaltliche Ausrichtung wurde bis in die späten 1970er Jahre durch die HV bestimmt, die das IVB als ihr »wissenschaftliches Zentrum [betrachtete], das Aufgaben auf dem Gebiete der Forschung und Aus- und Weiterbildung zu lösen hat«.119 Dadurch blieben solide Forschung und Lehre nur auf Randgebieten möglich. Hoffnungen auf buchhistorisch geprägte Eigenständigkeit mussten auf unbestimmte Zukunft verschoben werden. Stattdessen dominierten Untersuchungen zur »Rolle des Verlages als geistigkulturelles Zentrum der sozialistischen Gesellschaft«, zu »Kulturfunktionen des Buches« und seinen »Einflussmöglichkeiten auf die Bildung sozialistischer Persönlichkeiten« oder zur »Sozialistischen Leitungstätigkeit im Wirtschaftszweig Verlage und Buchhandel«. Sollte die ›Dichterpflanzschule‹ »Johannes R. Becher« angehende Schriftsteller auf den »Bitterfelder Weg« lenken, so das IVB im anfangs einjährigen postgradualen Direktstudium, ab 1976 im zweijährigen postgradualen Fernstudium wie zuzüglich auch in vierwöchigen Weiterbildungslehrgängen Lektoren ideologisch-politisch so ›runderneuern‹, dass sie als ›Entwicklungslektoren‹ Fachautoren, für die es kein Literaturinstitut gab, allzeit auf die von Partei und Regierung gewiesenen Wege führen und ›Abweichungen‹ verhindern konnten. Zum postgradualen Studium am IVB durfte man sich nicht individuell bewerben, sondern wurde ausschließlich über die Kaderleitung der HV delegiert. Die widersprüchliche Wirklichkeit im Wirtschaftszweig Verlage und Buchhandel förderte im Laufe der Entwicklung Versachlichung in Ausbildungs- wie Forschungsinhalten. Die politisch aufgeladene Situation der Anfangszeit lockerte sich in den 1970er Jahren auch dank personeller Veränderungen.120 Probleme der Gestaltung von Lehrbüchern, Fachbüchern und Fachzeitschriften sowie von Sach- und Kinderbüchern, ferner Buchmarkt- und Leserforschung und die lange vernachlässigte Buchhandelsgeschichte rückten ab 1976 stärker in den Mittelpunkt. Das spiegelte sich in themenbezogener Sacharbeit, in Arbeitskreisen, in Veröffentlichungen, Fachtagungen und nicht zuletzt auch darin wider, dass das IVB und einzelne seiner Mitarbeiter maßgeblich an Vorbereitung und Durchführung der Internationalen Buchkunst-Ausstellungen (iba) 1982 und 1989 beteiligt waren.
119 Selle: Zur Geschichte des Verlagswesens der DDR, S. 69. 120 Riese: Zwischenspiele, S. 43–77.
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24 Jahre, von 1968 bis 1992, hat das IVB in Leipzig bestanden. In dieser Zeit haben etwa 250 Lektoren und Redakteure ein postgraduales Studium absolviert, wurden neben regulärem Studienbetrieb etwa 40 Weiterbildungslehrgänge durchgeführt, acht Dissertations-, zwei Habilitationsschriften und 225 Diplom- bzw. Abschlussarbeiten erfolgreich verteidigt, sechs mittlerweile völlig überholte Lehrbriefe und ungezählte Artikel in Fachblättern verfasst, von denen »blieb, der durch sie hindurchging, der Wind« (Brecht). Das Arbeitsfeld am IVB wurde umrissen durch acht Lehrgebiete: »Philosophisch-ästhetische« bzw. »Kulturpolitische Grundlagen der Verlags- und Buchhandelsarbeit«, »Verlegerische Entwicklung von Fach- und Sachliteratur«, »Verlegerische Entwicklung belletristischer Literatur« und »Literaturverbreitung in Verlagen und Buchhandel« zudem »Geschichte des Buchwesens«, »Bibliographie und Information/Dokumentation«, »Technik der Buchherstellung« sowie »Urheber- und Verlagsrecht«. Auffallen dürfte an dieser Aufzählung, dass heute im Vordergrund stehende Fachgebiete wie Betriebswirtschaft oder Marketing fehlen, was der kulturpolitischen Schwerpunktsetzung geschuldet war, die in der Praxis freilich oft in Widerspruch geriet zu einer ergebnis- und zahlenorientierten Wirtschaftsplanung. Eine Neuorientierung nach dem Zusammenbruch der DDR verlief trotz hoffnungsvoller Ansätze ergebnislos: 1992 wurde das IVB offiziell abgewickelt. Die Wiederaufnahme buchwissenschaftlicher Forschung und Lehre an der Leipziger Universität erfolgte erst 1994 durch eine neue Professur am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft (KMW) – errichtet wieder auf Grund eines äußeren Anstoßes, diesmal erneut durch den Börsenverein unter seinem Vorsteher Gerhard Kurtze, der sich auch für eine Anschubfinanzierung einsetzte. Die Professur übernahm zuerst Dietrich Kerlen. Nach seinem plötzlichen Tod trat 2005 Siegfried Lokatis die Nachfolge an. Er hat die Stelle bis heute, 2022, inne.
Epilog Von 1949 an waren Auf- und Ausbau beruflicher Bildungsinstitutionen für Mitarbeiter des Verlagswesens und Buchhandels in der DDR vom Streben nach einem einheitlichen System bestimmt, das fest in der Gesellschaftspolitik des Staates DDR eingebettet war. Die Einrichtungen dieses Erziehungs- und Bildungssystems – Berufsschule, Fachschule, Hochschulinstitut und Betriebsakademien – unterhielten allerdings in den 40 Jahren DDR kaum Beziehungen zueinander. Auch darum trat der erwartete Effekt nicht wirklich ein. In der Berufsschule – Fortsetzung der allgemeinbildenden Schule – ging es im ›Oberlehrerstaat‹ DDR vor allem um das Narrativ, dass ein sozialistisches Wirtschaftsund Gesellschaftssystem in jeder Hinsicht dem kapitalistischen überlegen sei. Darum sei es lohnend für junge Menschen, sich als Facharbeiter für den Sozialismus einzusetzen. Doch die erlebte Praxis erwies sich keineswegs als Kriterium der Wahrheit. Deshalb bezeichneten immer öfter Lehrlinge, nicht selten gerade Buchhandels-Lehrlinge, den obligatorischen Politunterricht, der einen wachsenden Teil der Zeit in Berufs- und Fachschulen einnahm und darüber hinaus alle Fächer durchdrang, schlicht als Märchenstunde. Im buchhändlerischen Bildungssystem der DDR hatten sich im Laufe der Entwicklung des ›realen Sozialismus‹ mit zunehmendem Zwang zu Devisen-bringendem Export
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auch von Büchern ins ›Nichtsozialistische Währungsgebiet‹ (NSW) ökonomisches Kalkül und Marketing gegenüber volksbuchhändlerisch-politischen Intentionen durchgesetzt. Berufstheoretische Dogmen wurden im Lichte praktischer Erfahrung fragwürdig. Leise aber stetig vollzog sich ›Wandel durch Annäherung‹. Der bereitete die Implosion des sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems auch in Verlagswesen und Buchhandel der DDR vor, was 1990 zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschland und zur Wiederherstellung des gestörten »Nexus« im deutschen Buchhandel führte, denn »alle im Dienst des Buches Tätigen sind zwangsläufig zusammengeschlossen«, zumal die in einem Land!121
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Archiv der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt Archiv der Fakultät Medien der HTWK Leipzig Bundesarchiv Berlin (BArch) Ministerium für Kultur Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (StA-L) Bestand 21766 Börsenverein der Deutschen Buchhändler II (Börsenverein II) Stadtarchiv Leipzig (StadtA-L) Bestand Stadtverwaltung und Rat (StVuR) Universitätsarchiv Leipzig (UAL)
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121 Menz: Der deutsche Buchhandel, S. 55.
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Verlage Christoph Links
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Historischer Überblick
Die Handlungsspielräume der Verlage während der DDR-Zeit unterschieden sich grundsätzlich von denen in allen anderen Epochen der deutschen Buchhandelsgeschichte. Die einzelnen Firmen konnten nur sehr bedingt aus sich heraus handeln, da sie in gesamtgesellschaftliche und organisatorische Rahmenbedingungen eingebunden waren, die ihnen enge Grenzen setzten. Die DDR als sozialistischer Staat verfolgte das Ziel, an die Stelle der Marktregulierung mit der Konkurrenz privater Unternehmen eine zentrale Steuerung zu setzen, die den mehrheitlich vergesellschafteten, also nicht mehr privaten Betrieben Aufgaben nach einem gesamtstaatlichen Plan zuwies.1 Damit sollten die Inhalte kontrolliert und Überschneidungen in der Produktion vermieden sowie eine größere Effektivität der Betriebe erreicht werden. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen und der vielfältigen aktuell-politischen Vorgaben versuchten die Akteure in den Verlagen, ihre Bewegungsspielräume so weit als möglich zu nutzen, um inhaltlich anspruchsvolle, gut edierte und hochwertig ausgestattete Bücher zu produzieren, die auch im internationalen Vergleich Bestand hatten. Die Geschichte des DDR-Verlagswesens ist somit die spannende Geschichte des Ringens um die Selbstbestimmung einer Zunft, die sowohl von Konsens als auch von Konflikten mit dem Staat geprägt ist.
Sowjetische Prägungen Das komplexe System der planmäßigen Steuerung des gesamten Literaturbetriebes in der DDR hat sich im Laufe der vier Jahrzehnte zwischen 1949 und 1989 schrittweise herausgebildet und weiter ausdifferenziert. Dies geschah in mehreren Etappen. Ausgangspunkt waren die prägenden Entscheidungen in der Zeit der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949. Die vier alliierten Siegermächte hatten bereits vor der endgültigen Kapitulation des NS-Staates gemeinsam beschlossen, das Erzeugen und Vertreiben von Büchern im besetzten Deutschland vorläufig zu verbieten2 und deren Produktion künftig von einer Zulassung der Verlage nach entsprechender politischer Überprüfung der Verleger abhängig zu machen, verbunden mit einer Vorzensur für alle Buchpublikationen.3 Diesem Grundsatz folgten zunächst die amerikanische, britische, französische und sowjetische Militärverwaltung jeweils in ihren Zonen, wobei jedoch bald unterschiedliche Maßstäbe galten. Die US-Behörden verzichteten bereits nach ei-
1 Vgl. u. a. Judt: Aufstieg und Niedergang der »Trabi-Wirtschaft«. 2 Militärregierung Deutschland, Kontrollgebiet des Obersten Befehlshabers, Gesetz Nr. 191 vom 24. 11. 1944, aktualisiert am 12. 5. 1945. Zitiert nach Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, S. 1489. Siehe auch Adam: Der Traum vom Jahre Null, S. 22. 3 Ausführlich in Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels, S. 77–96 und 102–119. https://doi.org/10.1515/9783110471229-019
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nem halben Jahr auf die Vorzensur, die Briten nach zwei, die Franzosen nach drei Jahren, während die Sowjetischen Militäradministration (SMAD) bis zur formalen Übergabe der Macht an die DDR 1949 daran festhielt und die DDR-Behörden diese Praxis dann bis 1989 fortsetzten.4 Bei der Lizenzierung ging man im West- und im Ostteil Deutschlands ebenfalls unterschiedliche Wege. Die Lizenzpflicht für Buchverlage entfiel im Westen schrittweise je nach Zone bis 1949, im Osten blieb sie über 44 Jahre erhalten. Zunächst erhielten bis 1949 in den drei Westzonen mehr als 800 Verlage eine Lizenz, die sowjetische Militärverwaltung gestattete etwa 200 Verlagen die Buchproduktion.5 Zuvor hatten auf ostdeutschem Gebiet mit der Buchmetropole Leipzig 1.028 Verlage gewirkt (Stand von 1927), wobei einige jedoch in der NS-Zeit geschlossen wurden und viele am Ende des Krieges wegen fehlender Papierzuteilung ihre Tätigkeit ruhen lassen mussten.6 Zunächst hatte die SMAD versucht, das sowjetische Modell direkt auf ihre Besatzungszone zu übertragen, wonach es für jeden Themenbereich einen Verlag geben sollte, der entweder in staatlicher Hand war oder einer Partei bzw. parteikontrollierten Institution unterstehen sollte. Private Verlage waren nicht vorgesehen. Doch zeigte sich sehr schnell, dass das so nicht funktionierte. Zum einen existierte noch kein ausreichendes Netz politisch zuverlässiger Organisationen, zum anderen verlangte das nach wie vor gültige Bürgerliche Gesetzbuch, dass Firmen nur von konkreten Personen gegründet werden konnten. Man wählte daher den Weg, vertrauenswürdige Genossen quasi treuhänderisch mit dem Geld des Staates oder von Organisationen zu versehen und diese GmbHs gründen zu lassen, in die dann der Auftraggeber mit einer größeren Summe einstieg und die Mehrheit übernahm. Die privaten Verlage wurden zunächst nicht berücksichtigt, was sich als problematisch erwies, da für den Wiederaufbau Ostdeutschlands gerade die Fachliteratur der etablierten Verlage benötigt wurde. Hinzu kam, dass sich die traditionsreichen Verlage mit ihrem großen Rechtepotenzial anschickten, in die Westzonen abzuwandern, wo nicht NS-belastete Verleger sehr schnell eine Zulassung erhielten. Um dem entgegenzuwirken, entschieden die sowjetischen Kulturoffiziere, wichtige Privatverlage in Arbeitsgemeinschaften (AG) zusammenzufassen und den AGs Lizenzen zu erteilen, sodass die Privatverlage unter Kontrolle waren und nicht einzeln handeln konnten. So entstanden fünf derartige AGs mit insgesamt 20 Verlagen, darunter eine AG der medizinischen Verlage und eine der technischen Fachverlage. Da sich damit nicht alle Verlage erfassen ließen, die man im Lande behalten wollte, ging die SMAD anschließend dazu über, wichtigen Privatverlagen auch Einzellizenzen zu erteilen.
4 Zur Zensurgeschichte in der DDR siehe in der reichhaltigen Literatur u. a. Marschall-Reiser: Zensur oder Druckgenehmigung? sowie Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«. 5 Bettina Jütte listet in ihrer Studie 195 Verlage auf (170 Einzellizenzen, 5 Lizenzen für Arbeitsgemeinschaften mit insgesamt 25 angeschlossenen Verlagen), wobei jedoch einige Verlage fehlen, die in den 1947 in Leipzig und 1949 in Berlin publizierten Lizenzhandbüchern enthalten sind; Jütte: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone. 6 Das Verlagswesen in Ostdeutschland und der SBZ. In: Steinlein/Strobel/Kramer: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur SBZ/DDR, S. 12–16, hier S. 12.
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Nicht verhindert werden konnte allerdings, dass nach der wirtschaftlichen Teilung Deutschlands durch die Währungsreform 1948 in den drei Westzonen zahlreiche Verlage aus dem Osten abwanderten. Der ursprünglich angedachte freie Austausch von Druckschriften und Filmen zwischen den vier Besatzungszonen, wie er vom alliierten Kontrollrat noch im Juni 1947 angestrebt worden war,7 kam mit der Aufspaltung in zwei Währungen weitgehend zum Erliegen. Verlage, die traditionell ihr Hauptabsatzgebiet im größeren westlichen Teil Deutschlands hatten, sahen sich durch die verschiedenen Währungen in West und Ost mit ständig schwankenden Umtauschkursen und enormen Liefer- und Verrechnungsproblemen konfrontiert, sodass sie sich zu einer Sitzverlagerung oder doch zumindest zur Eröffnung einer Dependance in einer westlichen Zone veranlasst sahen. Dies wiederum nahmen die Behörden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und später auch in der DDR oft zum Anlass, um den traditionellen Stammsitz im Osten unter Treuhandverwaltung zu stellen und ihn anschließend zu verstaatlichen oder zu liquidieren. Betroffen waren insgesamt rund 120 Verlage.8 Im Jahr 1950 waren von den 200 von der SMAD lizenzierten Verlagen noch etwa 150 aktiv.9
Politische Lizenzvergabe Die DDR-Behörden begannen ab 1951 im Zuge der planmäßigen Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse mit der systematischen Zurückdrängung privaten Eigentums. Im Verlagsbereich geschah dies vor allem über die selektive Vergabe neuer Lizenzen durch das neu geschaffene Amt für Literatur und Verlagswesen. Dieses war per »Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur« vom 16. August 1951 zum 1. September 1951 ins Leben gerufen worden.10 Am 3. Oktober 1951 beschloss das Amt streng vertrauliche »Richtlinien für die Neulizenzierung der Verlage«. Sie sahen vor, dass die Verleger einzeln vorgeladen werden sollten, um ihnen entweder feierlich eine neue Lizenzurkunde zu überreichen oder ihnen mündlich »die Gründe der Ablehnung und die Möglichkeiten der Abwicklung« ihrer Verlage zu erläutern.11 Die neuen Lizenzen sollten nicht chronologisch fortlaufend erteilt werden, sondern nach fünf Themengruppen, die wiederum unterteilt wurden in volkseigene, also staatliche, und organisationseigene Verlage sowie Privatverlage. Die politischen Verlage erhielten danach die Nummernblöcke 1 bis 50 für volks- und organisationseigene Verlage
7 Alliierter Kontrollrat: Direktive Nr. 55: Austausch von Druckschriften und Filmen im Interzonenverkehr, 25. 6. 1947. In: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland 1947, S. 286. 8 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, Börsenvereins nach 1945 W2/7: 2779, 34 Bl.: Börsenverein des deutschen Buchhandels, Ausschuß für Fragen des Interzonenhandels: Abschlußschreiben zur Fragebogenaktion »Früher in der SBZ ansässige Verlage« mit Liste der angeschriebenen Verlage, 17. 9. 1965. 9 BArch DR 1/1934, 9 Blatt, o. Pag.: Aufstellung für die Hauptabteilung Literatur im Ministerium für Volksbildung über die Anzahl der Verlage, 1. 3. 1950. Hier werden 154 Verlage aufgelistet. 10 Gesetzblatt der DDR Nr. 149 vom 19. 12. 1951. In: Börsenblatt (Leipzig) 119 (1952), 1, S. 12–13. 11 BArch DR 1/1889: Berlin, Amt für Literatur und Verlagswesen, Abt. Verlagswesen, Hauptreferat Lizenzen: Richtlinien für die Neulizenzierung der Verlage, 3. 10. 1951, Abschrift vom 5. 10. 1951.
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und 51 bis 100 für Privatverlage, Fachverlage 101 bis 150 und 151 bis 200, Wissenschaftsverlage 201 bis 250 und 251 bis 300, Belletristik und Jugendbuchverlage 301 bis 350 und 351 bis 400 sowie sonstige Verlage, darunter private und kirchliche Verlage, 401 bis 450 und 451 bis 500.12 (1960 kam für neu gegründete Verlage ein weiterer Block ab Nummer 600 hinzu.) Nach dieser Logik wurden die neuen Lizenzen ab dem 9. Oktober 1951 vergeben. So erhielt beispielsweise der Verlag der Sozialistischen Einheitspartei (SED) Dietz die Lizenznummer 1, gefolgt vom Gewerkschaftsverlag Tribüne (Nr. 2) und dem Verlag der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) Kultur und Fortschritt (Nr. 3). Bei den Fachverlagen machte der VEB Deutscher Landwirtschaftsverlag den Anfang (Nr. 101), bei den Wissenschaftsverlagen der VEB Verlag Technik (Nr. 201), und bei den Belletristikverlagen stand der Aufbau-Verlag im Besitz des Kulturbundes ganz vorn (Nr. 301). Parallel dazu entstanden nach Abstimmung mit der Abteilung Propaganda im Zentralkomitee (ZK) der SED Aufstellungen, welche Verlage keine Lizenz mehr erhalten sollten. So hieß es etwa nach einer Beratung am 6. Oktober 1951 zum Leipziger Verlag Otto Harrassowitz: »Lizenz wird nicht erneuert. Die Produktion ist für uns nicht von besonderer Bedeutung. Werke, an denen wir noch interessiert sind, sollen beim Bibliographischen Institut Leipzig herauskommen.«13 Entsprechend verfuhr man dann mit ihm: Erst wurde er enteignet, dann noch bis 1959 als volkseigener Betrieb weitergeführt und schließlich in den staatlichen Verlag für Buch- und Bibliothekswesen integriert. Nach Erlass der »Ersten Durchführungsbestimmung« zur »Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur« erstellte das Amt für Literatur und Verlagswesen am 19. Dezember 1951 eine Liste mit insgesamt 50 Verlagen, die keine neue Lizenz erhielten. Dazu gehörten etwa sechs Privatverlage, die im April 1946 innerhalb der Arbeitsgemeinschaft Thüringischer Verlage mit einer SMA-Lizenz versehen worden waren, und renommierte große Häuser wie der 1815 gegründete juristische Fachverlag Carl Heymanns in Berlin, der inzwischen einen Großteil seiner Aktivitäten in die Westzonen verlagert hatte. Betroffen waren auch Verlage wie etwa der Peter-Paul-Verlag im mecklenburgischen Feldberg, dessen Kinder- und Jugendbücher eine Konkurrenz zum SEDeigenen Kinderbuchverlag darstellten. Bis Ende 1952 wurde durch diese Lizenzierungspolitik die Existenz der Hälfte der Verlage in Ostdeutschland zerstört. Die Zahl der zugelassenen Verlage sank nach einer Aufstellung des Amtes für Literatur vom 6. Dezember 1952 von 151 auf lediglich 75 Verlage.14 Mehr als zwei Drittel der verbliebenen Verlage waren partei- und organisationseigen (31) oder volkseigen, bzw. unter staatlicher
12 BArch DR 1/1889: Berlin, Amt für Literatur und Verlagswesen, Abt. Verlagswesen, Hauptreferat Lizenzen: Richtlinien für die Neulizenzierung der Verlage, 3. 10. 1951, Abschrift vom 5. 10. 1951, S. 2. 13 BArch DR 1/1871, Bl. 52: Berlin, Sekretariat des ZK der SED, Abt. Propaganda: Neulizenzierung der im Gebiet der DDR und des demokratischen Sektors von Groß-Berlin arbeitenden Verlage, 9. 10. 1951. 14 BArch DR 1/1871, Bl. 1–9: Berlin, Vertrauliches Schreiben des Amtes für Literatur und Verlagswesen, Hauptabteilung Verlagswesen und Buchhandel, an das Zentralkomitee der SED, Abteilung Propaganda, 6. 12. 1952.
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Treuhandschaft (21). Der Anteil der Privatverlage hatte sich von 120 auf 23 reduziert, also auf weniger als 20 %. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 führte dazu, dass während des etwas liberaleren »Neuen Kurses« der SED-Politik in den Monaten danach fünf private Verlage zugelassen wurden, denen man in den zwei Jahren zuvor eine Lizenz verweigert hatte. Lizenzen erhielten nun die Verlage Wolfgang Jess in Dresden, Erich Röth in Eisenach, Gebrüder Knabe in Weimar, A. Ziemsen in Wittenberg und die Evangelische HauptBibelgesellschaft in Berlin.15 Da 1953 zugleich weitere Verlage geschlossen wurden, erhöhte sich die Gesamtzahl der aktiven genehmigten Verlage auf lediglich 76.16 Eine Übersicht dazu gab es offiziell allerdings nicht. Die Gesamtliste musste vertraulich behandelt werden, selbst das Leipziger Börsenblatt durfte bei Anfragen keinen Überblick geben, wer lizenziert worden war und wer nicht.17 In der Bundesrepublik erarbeitete ab 1953 der Frankfurter Börsenverein eine jährliche Aufstellung zum Verlagswesen in allen Teilen Deutschlands.18 Darin wurde auf der Grundlage der Angaben in der Deutschen Nationalbibliographie jeweils die Zahl der aktiven Verlage in der DDR registriert, die – wenn auch auf anderer Zahlenbasis – erkennbar zurückging. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich bei den nicht zentral lizenzierten Verlagen, also kleineren Regionalverlagen, die ihre Produktionserlaubnis von den Sowjetischen Militäradministrationen in den einzelnen Ländern oder nach 1949 von den Landesregierungen erhalten hatten. Diese verloren ihre Gültigkeit nach Auflösung der fünf ostdeutschen Länder und deren Umwandlung in 15 Bezirke zum Jahresende 1952.19 Das Amt für Literatur forderte im Mai 1953 alle Räte der Bezirke und großen Städte dazu auf, »endlich die von allen maßgeblichen Stellen – und nicht zuletzt auch von den fortschrittlichen lizenzierten Verlagen – geforderte Bereinigung des Verlagswesens« konsequent durchzusetzen. Es sollte also weiteren Verlagen die Zulassung entzogen werden. Als Argumente für die Marktbereinigung dienten »die politische Wachsamkeit und das Sparsamkeitsregime«.20 Enteignet wurden in der Folgezeit auch Verlage, deren Inhaber ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik nahmen. Eine Weiterführung des Unternehmens in der DDR durch einen berufenen Prokuristen oder Geschäftsführer war nicht statthaft. Grundlage für
15 BArch DR 1/1934, o. Pag., Bl. 2–3: Berlin, Amt für Literatur und Verlagswesen: Zahlenmäßige Übersicht über die lizenzierten Verlage der DDR, 26. 10. 1953. 16 Die ebenfalls 1953 beschlossene Aufhebung der Benachteiligung von Privatverlagen in Steuerfragen galt nur vorübergehend. Vgl. BArch DR 1/1901, 3 Blatt, o. Pag.: Berlin, Amt für Literatur und Verlagswesen: Richtlinien für die Arbeit der Fachabteilungen des Amtes auf der Grundlage des neuen Kurses, 8. 8. 1953. 17 BArch DR 1/1937, 3 Blatt, o. Pag.: Berlin, Briefwechsel zwischen dem Amt für Literatur und Verlagswesen sowie dem Börsenblatt (Leipzig), 7. 4. 1954 und 13. 4. 1954. 18 Taubert: Über das Verlagswesen (1951); Taubert: Buchproduktion und Verlagswesen (1954 und 1956). 19 BArch DR 1/1936, o. Pag.: Berlin, Amt für Literatur und Verlagswesen: Beendigung der Tätigkeit nichtlizenzierter Verlage, 23. 5. 1953. 20 BArch DR 1/1936: Berlin, Amt für Literatur und Verlagswesen: Beendigung der Tätigkeit nichtlizenzierter Buch und Zeitschriftenverlage, Schreiben an den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, 28. 5. 1953.
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dieses Vorgehen war die Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten vom 17. Juli 1952, in der es gleich in § 1 hieß: »Das Vermögen von Personen, die das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlassen, ohne die polizeilichen Meldevorschriften zu beachten, oder hierzu Vorbereitungen treffen, ist zu beschlagnahmen.« In § 6 folgte: Das im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik befindliche Vermögen von Personen deutscher Staatsangehörigkeit, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands oder in den von westlichen Besatzungsmächten besetzten Sektoren Berlins haben, wird in den Schutz und die vorläufige Verwaltung der Organe 21 der Deutschen Demokratischen Republik übernommen.
Verschärft wurden diese Bestimmungen noch durch die Anordnung Nr. 1 über die Behandlung des Vermögens von Personen, die die Deutsche Demokratische Republik nach dem 10. Juni 1953 verließen,22 und die dazugehörige Anordnung Nr. 2 vom 20. August 1958, in der es in § 1 heißt: Das Vermögen von Personen, die die Deutsche Demokratische Republik ohne erforderliche Genehmigungen nach dem 10. Juni 1953 verlassen haben oder verlassen, wird durch staatliche Treuhänder verwaltet. Für die Zeit der Treuhandverwaltung stehen dem Eigentümer Erträge nicht zur Verfügung. Verfügungen des Eigentümers über das treuhänderisch verwaltete Vermögen sind unzulässig. Die Einsetzung der staatlichen Treuhänder erfolgt durch das zu23 ständige Fachorgan des Rates der Stadt oder der Gemeinde.
Der Name des Verlages und seine weitere Tätigkeit auf dem Gebiet der DDR blieben davon meist unberührt, der Export von Büchern ins westliche Ausland war fortan aber durch die im Westen wiedererstandenen Firmen gleichen Namens blockiert. In den 1950er Jahren gab es mehrere Veränderungen in der Kontroll- und Anleitungsstruktur der DDR-Verlage, die man zeitweilig in politische und wirtschaftliche Unterstellungen gliederte.24 Das 1954 gegründete Ministerium für Kultur drängte 1959 auf eine Profilierung und Neuordnung der Verlagslandschaft. Ausgangspunkt waren die technischen Fachverlage, da für die Fach- und Hochschulausbildung nach wie vor viele Bücher aus der Bundesrepublik eingeführt werden mussten und man sich in diesem Bereich unabhängig machen wollte. Daher entstand zum 1. Januar 1960 eine ganze Reihe neuer Sach- und Fachbuchverlage, was die erste Phase der Neuprofilierung des DDR-Verlagswesens einleitete. Parallel dazu wurden in Berlin und Leipzig Betriebsakademien für Verlage und Buchhandel zur Fortbildung der Verlagsmitarbeiter gegründet. (1968 folgte die Gründung des Instituts für Verlagswesen und Buchhandel an der KarlMarx-Universität Leipzig zur Qualifizierung von Führungskräften und zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung.25)
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Gesetzblatt Nr. 100 vom 26. 7. 1952, S. 615. Gesetzblatt Nr. 130 vom 11. 12. 1953, S. 1231. Gesetzblatt I, Nr. 57 vom 12. 9. 1958, S. 664. Ausführlich dazu siehe Kapitel 3.4.1 Die staatliche Literaturbehörde (Siegfried Lokatis) in diesem Band. 25 Siehe dazu Kapitel 4.2 Die Buchhändlerische Berufsbildung (Reimar Riese) in diesem Band.
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Zentrale Profilierung des Verlagswesens Nach dem Mauerbau 1961 war das Wirtschaftsgebiet der DDR derart abgeschottet, dass die SED-Führung dazu überging, unabhängig von der jeweiligen Eigentumsform frei über die Betriebe im Land zu verfügen. Am 31. Juli 1962 fasste das Politbüro des Zentralkomitees der SED einen Beschluss (Nr. 34/62–385) zur »Verbesserung der Arbeit im Verlagswesen und im Buchhandel«, wonach unter anderem als zentrales Leitungsgremium für alle Verlage eine Hauptverwaltung (HV) Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur gebildet werden sollte. Dazu folgte dann am 7. Januar 1963 ein entsprechender Regierungsbeschluss.26 Verbunden damit war der Beginn einer quasi treuhänderischen Verwaltung von partei- und organisationseigenen Verlagen durch die neue Hauptverwaltung. Dies galt konkret für die sechs parteieigenen Verlage Eulenspiegel, Henschel, Kinderbuchverlag, Mitteldeutscher Verlag, Urania, Volk und Welt sowie die drei organisationseigenen Verlage Aufbau (Kulturbund), Neues Leben (FDJ), Kultur und Fortschritt (DSF). Sechs Verlage blieben von der neuen Regelung ausgenommen und wurden der SED-Firmenverwaltung Zentrag direkt unterstellt: Deutscher Bauernverlag, Sportverlag, Verlag Die Wirtschaft, Verlag für die Frau, Zeit im Bild und Junge Welt (FDJ). Die 1952 gegründete Holding Druckerei- und Verlagskontor wurde aufgelöst. Im Zuge einer zweiten Phase der offiziellen Profilierung des Verlagswesens erfolgten zwischen 1963 und 1965 die Zusammenlegungen zahlreicher belletristischer Verlage und eine Reduzierung auf knapp 80 Editionshäuser insgesamt. Dies ging einher mit der Ausschaltung weiterer Privatverlage, so wie auch in der DDR-Volkswirtschaft Anfang der 1970er Jahre der Anteil des Privateigentums insgesamt durch Verstaatlichungen oder staatliche Beteiligungen deutlich zurückgedrängt wurde.27 Offiziellerseits war man stolz darauf, dass die Verlage in der DDR nunmehr befreit vom Druck der Produktion um des Profites willen und gelöst von den Gesetzen des kapitalistischen Konkurrenzkampfes untereinander auf der Basis einer sinnvollen sozialistischen Arbeitsteilung28 tätig werden konnten. Nach staatlichem Verständnis reichten 78 Verlage aufgrund der »planmäßigen Profilierung zur Deckung des Literaturbedarfs der Bevölkerung der DDR, einschließlich des Exports« dafür aus.29 In den Übersichtsdarstellungen des Leipziger Börsenvereins Verlage der Deutschen Demokratischen Republik, die ab 1967 etwa alle drei Jahre als kleine quadratische Broschüren erschienen, war jedem aufgeführten Verlag ein klares Profil zugeschrieben. (Neben diesen offiziellen Lizenzverlagen existierten Dutzende kleinere Kalender-, Malbuch- und Heimatverlage sowie Verlagsabteilungen in staatli-
26 Anordnung über die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel vom 7. 1. 1963. In: Gesetzblatt II 1963, S. 40. Es folgten die Anordnungen 2 vom 7. 3. 1963 (Gesetzblatt II 1963, S. 177), 3 vom 3. 2. 1964 (Gesetzblatt II 1964, S. 170) und 4 vom 5. 3. 1965 (Gesetzblatt II 1965, S. 380). 27 BArch DR 1/7189: Beschluß des Ministerrates über die Regelung für Betriebe mit staatlicher Beteiligung und über die Aufgabe des staatlichen Gesellschafters bei der schrittweisen Übernahme dieser Betriebe in Volkseigentum vom 16. 2. 1972; Judt: DDR-Geschichte in Dokumenten, S. 121. 28 Humboldt-Universität zu Berlin: Lehrmaterial Buchhandel und Verlagswesen der DDR, S. 26. 29 Humboldt-Universität zu Berlin: Lehrmaterial Buchhandel und Verlagswesen der DDR, S. 29.
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Abb. 1: Verlegertreffen im Göschenhaus Grimma, 1986. Vordere Reihe v. l. n. r.: Arno Lange (ZK der SED), Siegfried Hoffmann (Fachbuch), Hans Marquardt (Reclam), Fred Rodrian (Kinderbuchverlag), Eberhard Günther (Mitteldeutscher Verlag), Gerhard Keil (Seemann). Hintere Reihe: unbekannt, Karlheinz Selle (HV Verlage), Jürgen Gruner (Volk und Welt), drei Personen unbekannt, Elmar Faber (Aufbau), unbekannt, Hans-Otto Lecht (Nation), Lothar Berthold (Akademie). Liegend Roland Links (Kiepenheuer-Gruppe). Foto: Helfried Strauß.
chen Einrichtungen wie etwa der Bauakademie oder dem Zentralhaus für Kulturarbeit, die über die Räte der Bezirke ihre jeweiligen Druckgenehmigungen erhielten.30) Bis zum Ende der DDR blieb die Struktur im Verlagsbereich in etwa gleich. Zirka die Hälfte der Verlage war in staatlichem Besitz, rund 40 % gehörten Parteien und Organisationen, und weniger als 10 % verblieben formal in Privatbesitz, auch wenn die meisten davon durch staatliche Treuhänder verwaltet wurden oder eine staatliche Beteiligung hatten. Da es den Privateigentümern, die unmittelbar nach Kriegsende eine persönliche Lizenz auf Lebenszeit erhalten hatten, untersagt war, ihre Verlage zu vererben oder privat weiterzuverkaufen, blieben im Alters- oder Todesfall nur drei Alternativen: Schließung des Unternehmens (auch wenn es eine jahrhundertelange Tradition hatte), Verkauf an den Staat oder an die SED. Da kaum ein Verleger das eigene Lebenswerk oder das seiner Vorfahren im Nichts versinken sehen wollte, wurden zumeist Möglichkeiten des Verkaufs gesucht. Da der Staat, konkret das Ministerium für Kultur, nur geringe Preise nach einem komplizierten und für den Verkäufer ungünstigen Bewertungsverfahren zahlte und die Begleichung dann noch in zehn Jahresraten erfolgte, be-
30 Siehe dazu Kapitel 5.3.11 Kleinverlage ohne Lizenz (Christoph Links) in Band 5/2.
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vorzugten die meisten Privatverleger am Ende ihrer Laufbahn einen Verkauf an die SED, da diese in der Regel einen höheren Wert zahlte und die komplette Summe sofort überwies.31 (Formal erfolgte die Abwicklung der Verkäufe aber zumeist über einen Verlag, der nicht offiziell der SED gehörte, sondern von der HV Verlage treuhänderisch für diese verwaltet wurde.) Die Verlage der DDR produzierten in den 1980er Jahren zusammen in der Regel 6.500 Titel pro Jahr (wovon allerdings nur 4.500 Buchtitel im engeren Sinne waren,32 bei den übrigen handelte es sich um Noten, Kunstblätter oder Postkarten) mit einer Gesamtauflage von 140 bis 150 Millionen Exemplaren.33 Rechnet man die hochauflagigen politischen Broschüren heraus, so lag die Durchschnittsauflage bei Büchern immer noch bei etwa 20.000 Exemplaren,34 was ein überaus rentables Wirtschaften ermöglichte. Die relativ große Nachfrage – im Durchschnitt kaufte jeder DDR-Bürger pro Jahr acht Bücher – hatte unter anderem damit zu tun, dass in literarischen Texten teilweise Themen angesprochen wurden, die in den Medien tabu waren, und dass viele Menschen in Aus- und Weiterbildungskursen auf entsprechende Fachliteratur angewiesen waren. Förderlich waren zugleich die geringen Preise, die aus politischen Gründen auf dem Niveau der späten 1960er Jahre festgeschrieben worden waren.
Grundmerkmale der DDR-Verlagslandschaft Die Struktur der Verlage sah in der Endphase der DDR so aus: Es gab 16 Verlage, die unter anderem belletristische Literatur verlegten (22 % des Titelaufkommens), wovon einige auf deutsche Gegenwartsliteratur, andere auf ausländische Autoren und wieder andere auf Werke der sogenannten Erbeliteratur spezialisiert waren. Des Weiteren bestanden 39 Fachverlage (zusammen mit der politischen Literatur 46 % der Titel), sieben Verlage für Kinder- und Jugendliteratur (14 % der Titel), sieben Musikverlage und fünf Kunstverlage (zusammen 7 % der Titel), drei kirchliche Verlage und ein Verlag für Blindendruckerzeugnisse. Regional konzentrierte sich das Verlagsgeschäft im Wesentlichen auf zwei Städte: Leipzig mit 36 Verlagen und Berlin mit 32 Verlagen (allerdings den deutlich größeren). Weitere Verlagsstandorte waren Bautzen, Dresden, Gotha, Halle (Saale), Pößneck, Rostock, Rudolstadt und Weimar.35
31 Auskunft von Karlheinz Selle (Mitarbeiter des Amtes für Literatur bzw. der HV Verlage 1951–1990) im Gespräch am 24. 9. 2007. 32 Auskunft von Gottfried Rost (Deutsche Bücherei) nach einer Mitteilung von Klaus G. Saur, 30. 7. 2008. 33 Zentrale Leitung des Volksbuchhandels: Dokumentation zur Verlagskunde, S. 8. 34 Bereits Ende der 1960er Jahre wurde die Durchschnittsauflage mit 21.410 Exemplaren angegeben. Vgl. Börsenverein: Deutsche Demokratische Republik, S. 4. 35 Börsenverein: Deutsche Demokratische Republik, S. 9–10. Analoge Angaben finden sich in Veröffentlichungen aus der Bundesrepublik, beispielsweise im Lexikon des gesamten Buchwesens, S. 289. Sie stützen sich im Wesentlichen auf die Angaben des Leipziger Börsenvereins mit seinen regelmäßig erscheinenden Informationsbroschüren: Verlagswesen und Buchhandel in der Deutschen Demokratischen Republik, 1984 und 1986.
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Das zentrale Kontroll- und Steuerungssystem, das mit einigen Modifizierungen bis zur Friedlichen Revolution im Herbst 1989 fortbestand, war bestimmt durch den weisungsgebenden Apparat der SED (Politbüro und Sekretariat des ZK der SED sowie die Kulturabteilung des ZK) und die nachgeordneten staatlichen Stellen, vornehmlich die ab 1963 existierende HV Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur. Durch sie wurde eine ganz besondere Verlagslandschaft geformt, die durch fünf Grundmerkmale gekennzeichnet war: 1) 2) 3) 4) 5)
Die Verlage konnten nicht allein über ihre Programme entscheiden. Die Verlage durften die Auflagenhöhen ihrer Bücher nicht frei bestimmen. Die Verlage konnten die Preise für ihre Bücher nicht selbständig festsetzen. Die Verlage durften nur sehr eingeschränkt über ihre Gewinne verfügen. Die Verlage verfügten über monopolartige Bedingungen beim Vertrieb ihrer Bücher.
Programmhoheit Mit der Erteilung einer Lizenz durch die DDR-Behörden wurde zugleich das Profil eines Verlages festgeschrieben. So heißt es beispielsweise in der Lizenzurkunde des SeemannVerlages vom 26. Oktober 1951: »Die Lizenz ist auf folgende Verlagsgebiete beschränkt: Kunstmappen, Kunstblätter, Kunstlexika.« 1956 wurde sie um Kunstbücher erweitert. Für den Fall, dass sich ein Verlag nicht daran hielt, war am Ende der Lizenzurkunde festgehalten: »Diese Lizenz […] ist nicht übertragbar und kann durch das Amt für Literatur und Verlagswesen der DDR jederzeit entzogen werden.«36 Innerhalb des festgesteckten Themenbereichs hatten die Verlage in jährlichen Themenplänen und in Perspektivplänen, die über fünf Jahre reichten, genau anzugeben, welche Titel sie veröffentlichen wollten. Waren Titel darunter, die nicht zum festgelegten Profil passten, mussten sie in der Regel entfernt werden. So wurde beispielsweise dem auf Kinder- und Jugendbücher spezialisierten Peter-Paul-Verlag im mecklenburgischen Feldberg ein Nachdruck der Erzählungssammlung Aufzeichnungen eines Jägers von Iwan Turgenjew aus dem Jahr 1852 untersagt, da das Werk »nicht in das Lizenzgebiet des Verlages« gehöre.37 Diese thematischen Planungen mussten nicht nur mit den zuständigen staatlichen Stellen (Amt für Literatur und seine Nachfolgeeinrichtungen), sondern auch mit anderen Verlagen ähnlichen Profils abgestimmt werden. Hierzu gab es ab 1958 insgesamt 37 Literaturarbeitsgemeinschaften (LAG), in denen »die ideologisch-politische, kulturpolitische und fachwissenschaftliche Bedeutung der einzelnen Titel und Themen, […] die Proportionen der Literaturgruppen, die Absatzfähigkeit der Titel und der Valutabedarf« beraten wurden.38 Beteiligt waren an diesen Planungsgemeinschaften die Verleger und
36 SStA-L, 21107 VEB E. A. Seemann, Leipzig 2254: Amt für Literatur und Verlagswesen der DDR: Lizenzurkunde Nr. 460 vom 26. 10. 1951. 37 Archiv Feldberger Seenlandschaft, Peter-Paul-Verlag, Korrespondenzordner 1111, o. Pag.: Leiter des Amtes für Literatur und Verlagswesen/F. Apelt an den Peter-Paul-Verlag, 14. 1. 1952. 38 Börsenverein: Verlage der Deutschen Demokratischen Republik, S. 53.
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Abb. 2: Lizenzurkunde der DDR-Regierung mit der Genehmigung zur Ausübung verlegerischer Tätigkeit für den Seemann Verlag, 1956. Archiv Seemann Verlag.
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Cheflektoren einer Sparte (etwa Kinderliteratur oder Auslandsbelletristik oder technische Fachliteratur), Vertreter des Buchhandels und der Bibliotheken, Mitarbeiter des Schriftstellerverbandes und literaturwissenschaftlicher Institute sowie der zuständigen Abteilung der Hauptverwaltung Verlage und des Büros für Urheberrechte, das über die Valuta für den Lizenzeinkauf entschied.39 Wenn ein vom Verlag vorgesehener Titel die Zustimmung der HV Verlage und der LAG erhalten hatte und in wichtigen Fällen auch die Abstimmung mit der Abteilung Kultur im ZK der SED positiv verlaufen war, bedeutete dies noch nicht, dass er auch wirklich erscheinen konnte. Jedes Manuskript benötigte vor der technischen Herstellung eine Druckgenehmigung. Die genaue Prüfung des Textes auf möglicherweise unzutreffende oder kritische Äußerungen (etwa über die DDR oder die Sowjetunion oder einzelne Funktionäre) erfolgte durch die HV Verlage, die zu dem eingereichten Manuskript neben zwei Gutachten des Verlages (eines vom zuständigen Lektor, eins von einem außenstehenden Experten) in Zweifelsfällen ein eigenes Drittgutachten bei einem der SED angeschlossenen wissenschaftlichen Institut oder einem politisch zuverlässigen Wissenschaftler bestellte. Ohne die Erteilung einer Druckgenehmigungsnummer war es jedem polygrafischen Betrieb verboten, ein Verlagsmanuskript zu setzen oder zu drucken. Der Gesamtvorgang ist als Zensurverfahren in die Verlagsgeschichte eingegangen.
Auflagenentscheidung Innerhalb der gesamtstaatlichen Planung waren alle Rohstoffe bewirtschaftet. Auch für Papier gab es langfristig geplante Zuteilungen nach Mengen und Qualität. Die Produktionskapazitäten im eigenen Land waren begrenzt, für Importe fehlten die Devisen. Da die staatsbestimmende SED für ihre parteieigenen Verlage und ihre Propagandaaktionen (etwa Broschüren von ihren ZK-Tagungen und zu ihren Parteitagen) jederzeit frei über geeignetes Papier verfügen wollte, behielt sie sich den Letztentscheid über die Zuteilung dieser für Verlage lebensnotwendigen Ressource vor. Das höchste Gremium war bei Papier daher nicht die Staatliche Plankommission, sondern ab 1963 die Papierkommission des ZK der SED.40 Sie befand, wie viel Papier welcher Qualität über die HV Verlage gemäß den genehmigten Programmplanungen an die Verlage aufgeteilt wurde. Der Verlag konnte also nur so viele Exemplare von einem Titel drucken lassen, wie ihm dafür Papierkontingente zugeteilt worden waren – völlig unabhängig vom realen Bedarf. Die Verantwortlichen in den Verlagen standen daher oft vor der Frage, ein neues Buch oder von einem begehrten Titel ähnlicher Ausstattung eine Nachauflage drucken zu lassen. Im Falle von wiederholt auftretenden Papierkürzungen war zu klären, welche Titel verschoben oder ganz gestrichen werden mussten.41
39 Siehe dazu Kapitel 3.4.2 Das Büro für Urheberrechte (Thomas Keiderling) in diesem Band. 40 Zur wechselnden Zusammensetzung des Gremiums siehe das Archivkonvolut der Papierkommission des ZK der SED im Bundesarchiv: BArch DY 30/IV/2.118/1 f. 41 Ausführlich wird die Papierzuweisung an die Verlage in einem gesonderten Abschnitt behandelt bei Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 169–177.
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Preisfestsetzung Konnten in den 1950er Jahren die Buchpreise von den Verlagen zunächst noch relativ frei kalkuliert werden, so setzte sich bald die »planmäßige Preisbildung« durch, die den Preis nicht so sehr als Ausdruck der Kosten, sondern vielmehr als Verteilungs- und Stimulierungsinstrument behandelte. Für Waren des Grundbedarfs wie etwa Brot, Butter und Milch gab es nach der Machtübernahme durch Erich Honecker einen staatlich verfügten Preisstopp, wodurch der Gestaltungsspielraum auch der Verlage erheblich eingeschränkt wurde, da Bücher (aus nachvollziehbaren Gründen) als Lebensmittel behandelt wurden. Danach durften bei Büchern mit gleichen Ausstattungsmerkmalen, etwa bei eingeführten Reihen, ab 1972 die Preise nicht mehr erhöht werden. Für sie gab es staatliche Preistabellen, an die sich alle Verlage zu halten hatten. Da in den 1980er Jahren die Produktionskosten bei Druck und Papier stiegen, waren bestimmte Editionen nicht mehr kostendeckend herzustellen. Bekanntestes Beispiel ist die Insel-Bücherei, deren illustrierte Bändchen im Festeinband mit handaufgeklebtem Titeletikett nach wie vor nur 1,25 Mark kosten durften, obwohl 6,– Mark kaufmännisch erforderlich gewesen wären. Viele frisch erworbene Bücher wanderten daher vom Kunden für 8,– Mark sofort ins Antiquariat, das außerhalb der Preisvorgaben agieren konnte, wo sie dann für 10 bis 15 Mark umgehend neue Käufer fanden. Ähnliches geschah mit der Spektrum-Reihe internationaler Gegenwartsliteratur des Verlages Volk und Welt (pro Band in englischer Broschur 2,80 Mark) oder der leinengebundenen Bibliothek deutscher Klassiker im Aufbau-Verlag (jeder Band 5,– Mark). Die Verlage reagierten auf dieses Dilemma, indem sie die Titelzahl in den bereits eingeführten Reihen reduzierten und neue Editionen erfanden, für die noch keine Preisvorgaben existierten, um so eine Querfinanzierung zu schaffen. So führte beispielsweise der Aufbau-Verlag in den 1970er Jahre die neue Reihe Taschenbuch der Weltliteratur ein, nur weil die bb-Reihe (»billige bücher«) im Preis nicht erhöht werden durfte. Eine Alternative war, die Qualität der Bücher abzusenken und etwa billigeres, holzhaltiges Papier einzusetzen. Um die Wirtschaftlichkeit der Verlage zu erhalten, empfahl das Kulturministerium in den 1980er Jahren den Verlagen Nachauflagen von Bestsellern in großformatigen Ausgaben auf einfachstem Papier, die billig auf Rollenoffsetmaschinen in den Zeitungsdruckereien erzeugt wurden (»Brolin-Ausgaben«), aber zu vergleichsweise hohen Preisen (mitunter sogar über den Originalausgaben im Festeinband) verkauft werden durften. In jedem Fall lag die Preisfestsetzung nicht bei den kaufmännisch eigentlich Verantwortlichen, sondern beim Staat, der die Preise politisch gestaltete.
Gewinndisposition Durch die Verstaatlichung vieler Privatverlage, die Gründung neuer staatlicher und organisationseigener Verlage sowie eine Lizenzpolitik, die jede Vererbung privater Verlagszulassungen ausschloss, wurden die Eigentumsverhältnisse in der Verlagsbranche grundlegend verändert. Seit den 1970er Jahren gab es unter den 78 offiziell lizenzierten Verlagen lediglich sechs private und drei kirchliche Verlage. 37 Verlage gehörten dem Staat, 32 Parteien und gesellschaftlichen Organisationen, wobei 14 SED-eigene Verlage treuhänderisch vom Ministerium für Kultur verwaltet wurden, sodass der eigentliche
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Eigentümer nicht zu erkennen war.42 Die staats- und organisationseigenen Verlage mussten im Schnitt 80 % ihrer Gewinne an den Staatshaushalt bzw. die jeweilige Parteikasse abführen. Rücklagen für neue Buchreihen oder Infrastrukturarbeiten an den Gebäuden konnten nicht selbständig gebildet werden, sondern mussten als Investitionsmittel bei der Hauptverwaltung mit ausführlicher Begründung langfristig beantragt werden. Bei den privaten Verlagen betrug die Steuer auf Gewinne bis zu 87 %, sodass unternehmerisches Engagement, das zu höheren Einkünften und somit zum Wachstum der Firma führen konnte, weitgehend unterbunden wurde. Den Verantwortlichen der Verlage war damit insgesamt ein selbständiges wirtschaftliches Handeln nur sehr begrenzt möglich.
Monopolstellung Die Lizenzpolitik gegenüber Verlagen wurde nicht nur dazu genutzt, den privatwirtschaftlichen Sektor zurückzudrängen, sondern auch, um den verbliebenen volkseigenen und organisationseigenen Verlagen bessere Einnahmen zu ermöglichen. Es sollte »durch eine Abgrenzung der Arbeitsgebiete und eine Zusammenfassung der Kräfte eine bessere und planmäßigere Verlagsarbeit erreicht« werden,43 wie es offiziell vom Amt für Literatur zu Beginn der Neulizenzierungen 1951 hieß. Es ging zugleich darum, inhaltliche Überschneidungen zu beseitigen, damit jeder Verlag für sich ein eigenes Absatzfeld hatte, was ihn wirtschaftlich besonders ertragreich machte, da er quasi über eine Monopolstellung auf dem Buchmarkt verfügte. Im Ergebnis dessen hatten die zugelassenen DDR-Verlage eine im Vergleich zur Bundesrepublik höhere Rentabilität, wie das Amt für Literatur in einem Rechenschaftsbericht 1954 stolz vermerkte: »Die durchschnittliche Titelzahl eines DDR-Verlages im Jahr ist über 10 mal so hoch wie die eines westdeutschen Verlages, und die durchschnittliche Auflagenhöhe je Verlag liegt bei uns 25– 30 mal höher als in Westdeutschland.«44 Diesem Konzept war auch die beschriebene Profilierung des Verlagswesens zu Beginn der 1960er Jahre verpflichtet. Die Programmbereiche der Verlage sollten noch klarer voneinander abgegrenzt sowie inhaltliche Überschneidungen durch den Austausch von Reihen und die Zusammenlegung von Verlagen ausgeschlossen werden. Davon waren in der Folgezeit zahlreiche Verlage unterschiedlicher Eigentumsformen betroffen. Staatliche Verlage wurden per Regierungsbeschluss von einem Tag zum anderen geschlossen; organisationseigene und staatliche Verlage erlebten zentral angewiesene Verschmelzungen; Privatverlage wurden von Parteiverlagen aufgekauft. Am Ende dieses Prozesses blieben von den einst rund 200 Verlagen, die nach 1945 eine sowjetische Lizenz erhalten hatten, 78 Editionshäuser übrig. Für jeden Themenbereich sollte es möglichst nur einen Verlag geben; bei der Belletristik ließ man allerdings mehrere zu. Für die Autoren bedeutete dies, dass sie bei Ablehnung ihres Manuskriptes kaum eine Alternative hatten. Für die Verlage allerdings hatte es den wirtschaftlichen Vorteil,
42 Vgl. Links: Das Schicksal der DDR-Verlage, S. 5–8. 43 BArch DR 1/1870, o. Pag., 5 Blatt, hier Bl. 1: Berlin, Amt für Literatur und Verlagswesen, Hauptabteilung Verlagswesen: Arbeitsplan IV. Quartal 1951, 20. 9. 1951. 44 BArch DR 1/1108 o. Pag., 13 Blatt, hier Bl. 2: Berlin, Amt für Literatur und Verlagswesen: Auszüge aus einem Rechenschaftsbericht über die Arbeit des Amtes, o. D. [vermutlich Frühjahr 1954].
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dass sie auf dem Markt konkurrenzfrei allein agierten und entsprechende Monopolgewinne einfahren konnten. Bis auf zwei Wissenschaftsverlage waren alle Betriebe höchst profitabel und konnten teilweise Nettoumsatzrenditen von 20 bis 30 % erzielen.
Die innere Struktur der Verlage Die von außen erfolgten Prägungen der einzelnen Verlagshäuser und die vom Staat geschaffenen Rahmenbedingen blieben nicht ohne Auswirkungen auf die innere Struktur der Verlage. Im Vergleich zu Editionshäusern in der Bundesrepublik zeichneten sich die Verlage in der DDR durch auffällig große Lektorate und grafische Abteilungen aus, während die Bereiche Vertrieb und Werbung eher klein waren. Exemplarisch wird dies am Aufbau-Verlag, dem Leitverlag für Belletristik, deutlich. Von den 185 Mitarbeitern im Jahr 1984 waren 84 im Lektorat plus Zeitschriftenredaktion (45 %) und 16 im rein künstlerischen Bereich (9 %) beschäftigt, zusammen also 54 %. Die Produktionsabteilung (Herstellung einschließlich Korrektoren) hatte nur 14 Mitarbeiter (8 %); im Vertriebsbereich (einschließlich der angestellten Vertreter im Außendienst) waren 17 Kollegen beschäftigt (9 %); für die Werbung (nebst Redakteur der Verlagszeitschrift) waren zehn Mitarbeiter (5 %) tätig. Der Rest entfiel auf die Bereiche Ökonomie (einschließlich Buchhaltung) mit 17 Mitarbeitern (9 %), auf die allgemeine Verwaltung (mit Pförtner, Kraftfahrer, Haushandwerker und Köchen), zu der 19 Mitarbeiter (10 %) gehörten, sowie die Verlagsleitung nebst Personalabteilung (»Kaderleitung«) mit acht Mitarbeitern (4 %).45 Generell hatten DDR-Verlage einen vergleichsweise hohen Personalbestand in Bezug auf den Titelausstoß. Die 185 Mitarbeiter des Aufbau-Verlages produzierten im Durchschnitt der 1980er Jahre rund 360 Titel (einschließlich Nachauflagen) im Jahr und gaben eine Zeitschrift heraus, was einem Verhältnis von etwa eins zu zwei entspricht. Ähnlich war es beim Jugendbuchverlag Neues Leben, wo zur selben Zeit 90 Mitarbeiter etwa 200 Titel pro Jahr veröffentlichten,46 oder beim Mitteldeutschen Verlag in Halle, wo 1988 auf 76 Mitarbeiter 146 Bücher entfielen, davon 53 Novitäten.47 Anders gestaltete sich das Verhältnis beim Verlag für Auslandsliteratur Volk und Welt, in dem neben dem Lektorat eine fast genauso große Redaktion bestand, in der die Übersetzungen stilistisch redigiert wurden, und es beinahe für jede Literatur des Auslands einen Lektor gab.48 Dort edierten 150 Mitarbeiter 150 Erst- und Nachauflagen im Jahr. Das Verhältnis betrug somit eins zu eins, eine in westlichen Ländern kaum vorstellbare Relation. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen sind Verhältnisse von eins zu fünf bis zu eins zu zehn und mehr (bei integrierter Taschenbuchabteilung) üblich. Möglich wurde die intensive und gewissenhafte Arbeit am Text und an der künstlerischen Ausstattung der Bücher, die bis heute zu Recht gelobt wird, letztlich durch die monopolartige Stellung der Verlage auf dem abgeschotteten DDR-Markt, wodurch hohe Auflagen und entsprechend hohe Gewinne erreicht werden konnten. Diese Konstellation blieb eine Ausnahme in der deutschen Verlagsgeschichte.
45 46 47 48
Vgl. Das Haus in der Französischen Straße, S. 514–519. Vgl. Jedes Buch ist ein Abenteuer, S. 252–254. Vgl. Mitteldeutscher Verlag 1946–2006, S. 49 und 172–180. Links: Als noch Milch und Honig flossen.
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Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Archiv Feldberger Seenlandschaft in der Hans-Fallada-Bibliothek Bestand Peter-Paul-Verlag Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) Ministerium für Kultur der DDR (DR 1) Papierkommission des ZK der SED (DY 30/IV/2.118) Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main Bestand Börsenvereins nach 1945, Wirtschaftsarchiv W2/7 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SStA-L) 21107 VEB E. A. Seemann, Leipzig
Periodika Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland 1947 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Leipzig) 119 (1952)
Gedruckte Quellen Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig: Deutsche Demokratische Republik – ein Land des Buches. Leipzig o. J. [1969]. Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig: Verlage der Deutschen Demokratischen Republik. Leipzig 1973. Gesetzblatt der DDR (GBl. I und II), Berlin 1952 – 1964. Das Haus in der Französischen Straße. 40 Jahre Aufbau-Verlag. Ein Almanach. Berlin: AufbauVerlag 1985. Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Bibliothekswissenschaft und wissenschaftliche Information: Lehrmaterial Buchhandel und Verlagswesen der DDR, Berlin 1973. Jedes Buch ist ein Abenteuer. 40 Jahre Verlag Neues Leben. Ein Almanach. Berlin: Neues Leben 1986. Lexikon des gesamten Buchwesens. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Hiersemann 1989. Verlagswesen und Buchhandel in der Deutschen Demokratischen Republik. Leipzig 1984 und 1986. Zentrale Leitung des Volksbuchhandels der DDR: Dokumentation zur Verlagskunde DDR-Verlage. Unterrichtshilfe für die Berufsausbildung Facharbeiter Buchhändler, Leipzig 1988.
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JUDT, Matthias (Hrsg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin: Ch. Links 1997. JÜTTE, Bettina: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949). Berlin/ New York: De Gruyter 2010. LINKS, Christina: Als noch Milch und Honig flossen – Ein Verlag als Literaturinstitut. In: Simone Barck / Siegfried Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt. 2. Aufl. Berlin: Ch. Links 2005, S. 62–64. LINKS, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. 2. Aufl. Berlin: Ch. Links, 2010. LÖFFLER, Dietrich: Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick. Berlin: Ch. Links 2011. MARSCHALL-REISER, Johanna: Zensur oder Druckgenehmigung? Administrative Anbindung und Regelungen zum Verfahren in der DDR. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 20 (2012), 1, S. 68–84. Mitteldeutscher Verlag 1946–2006. Verlagsgeschichte und Gesamtkatalog, Halle: Mitteldeutscher Verlag 2006. STEINLEIN, Rüdiger / STROBEL, Heidi / KRAMER, Thomas (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990. Stuttgart/Weimar: Metzler 2006. TAUBERT, Sigfred: Über das Verlagswesen in der Bundesrepublik, in Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone. Frankfurt a. M.: Börsenverein Deutscher Verleger- und BuchhändlerVerbände 1953. TAUBERT, Sigfred: Buchproduktion und Verlagswesen der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands im Jahre 1953. Frankfurt a. M.: Börsenverein Deutscher Verleger- und BuchhändlerVerbände 1954. UMLAUFF, Ernst: Der Wiederaufbau des Buchhandels. Beiträge zur Geschichte des Büchermarktes in Westdeutschland nach 1945. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1978.
Christoph Links 5.2
Alltag in den DDR-Verlagen
Auch wenn die Grundabläufe in den Verlagen überall auf der Welt ziemlich ähnlich sind, war die innere Organisation in den Betrieben der DDR und deren Einbindung in das gesellschaftliche Umfeld deutlich verschieden von Verlagen in der Bundesrepublik oder anderen Staaten mit marktwirtschaftlichen Verhältnissen. Dies hatte primär mit der Rolle staatlicher bzw. organisationseigener Betriebe (90 % der Verlage) innerhalb einer zentral gesteuerten Planwirtschaft zu tun. Das betraf sowohl das vorgegebene Produktionsprofil und die dafür zugeteilte Materialmenge (Papier) nebst den erforderlichen Herstellungskontingenten (Druckereikapazitäten) als auch die erwartete Ausstrahlung des Verlages in die Gesellschaft hinein. Jeder Betrieb sollte innerhalb eines klar vorgegebenen Rahmens auf seine Weise eine gesamtgesellschaftlich nützliche Aufgabe erfüllen.1 Dabei trug er zugleich Verantwortung für die Mitarbeiter, die im Betrieb nicht nur »sozialistisch arbeiten und lernen«, sondern mit Hilfe des Betriebskollektivs auch »sozialistisch leben« sollten,2 wie es in einer offiziellen Parole hieß. Der Betrieb war somit mehr als nur Arbeitsstätte, er war zugleich als lebensweltliches Zentrum für die Menschen gedacht – mit sozialen Leistungen, Kultur- und Freizeitangeboten. Da zudem Vollbeschäftigung herrschte und Betriebe keine Mitarbeiter ohne gravierende (politische oder kriminelle) Verfehlungen entlassen konnten, war es Aufgabe der Betriebskollektive, »alle mitzunehmen und keinen zurückzulassen«, wie es offiziell hieß, auch wenn die Arbeitsleistungen von jemandem nicht in ausreichendem Maße erbracht wurden. Diese generellen Rahmenbedingungen müssen bei der Beurteilung der Tätigkeit der DDRVerlage mitbedacht werden.
Betriebsaufbau und Entscheidungsstrukturen Die Grundstruktur der DDR-Verlage entsprach zunächst dem historisch gewachsenen Aufbau aller Verlage. Unterhalb des Verlagsleiters (ab den 1970er Jahren des Verlagsdirektors) gab es für den Lektoratsbereich einen Cheflektor (vergleichbar den heutigen Programmleitern), der den einzelnen Lektoraten mit ihren Lektoratsleitern vorstand. Daneben agierten der Direktor für Ökonomie (Kaufmännischer Leiter), dem üblicherweise nicht nur die Abteilung Rechnungsführung und Statistik mit Finanz- und Honorarbuchhaltung unterstand, sondern auch der wichtige Planungsbereich. Hinzu kamen die Abteilungen Produktion (Herstellung), Gestaltung und Typografie, Vertrieb (inkl. Export), Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, die Kaderleitung (Personalabteilung) und die allgemeine Verwaltung.3 In einigen Verlagen bestanden zudem noch Zeitschriftenredaktionen.
1 Judt: Aufstieg und Niedergang der »Trabi-Wirtschaft«, hier speziell der Abschnitt Machtverhältnisse und planwirtschaftliches System, S. 92–94. 2 Kimmel: Hauptsache Arbeit. 3 Eine personell genau aufgeschlüsselte Strukturbeschreibung zum Aufbau-Verlag findet sich beispielsweise in dem Band: Das Haus in der Französischen Straße, S. 514–519. https://doi.org/10.1515/9783110471229-020
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Die entscheidenden Spitzenpositionen – Verlagsleiter, Cheflektor, Ökonomischer Direktor (bei großen Verlagen auch der Hauptbuchhalter) – wurden vom Eigentümer bestimmt, also vom Staat (hier ab 1963 vor allem von der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur sowie anderen Ministerien und Institutionen), den Vorständen der verschiedenen Parteien oder den Kirchenleitungen. Selbst bei den wenigen verbliebenen privaten Verlagen redete der Staat mit, da es entweder staatliche Beteiligungen gab oder diese Unternehmen mit staatseigenen Betrieben assoziiert waren. Für eine formelle Berufung in eine der drei Spitzenpositionen war bei den staatlichen und SED-eigenen Verlagen Voraussetzung, dass es sich um einen Genossen der SED handelte, der zu den sogenannten Nomenklaturkadern des Zentralkomitees gehörte, also entsprechend überprüft war und parteipolitische Schulungen hinter sich hatte. Im gesamtgesellschaftlichen Gefüge galten »Verlage als ideologische und geistig-kulturelle Institutionen der sozialistischen Staatsmacht unter Führung und im Auftrag der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei«.4 Für die Führung der Betriebe galt das Prinzip der Einzelleitung bei kollektiver Beratung.5 Letztendlich musste der Verlagsleiter für alles verantwortlich zeichnen, wobei für inhaltliche Fragen der Manuskripte der Cheflektor und bei wirtschaftlichen Problemen der Ökonomische Direktor mit in die Verantwortung genommen wurden.6 In den 1950er und 1960er Jahren wurden Verlagsleiter und Cheflektoren bei politischen »Fehlern« relativ schnell abgesetzt, womit ihre Tätigkeit in der Verlagsbranche oft auch beendet war. (Der Leipziger Urania-Verlag beispielsweise hatte zwischen 1948 und 1964 vier Verlagsleiter und vier Cheflektoren.) In den 1970er und 1980er Jahren war man staatlicherseits auf mehr Kontinuität bedacht und beließ es bei Verfehlungen der Verlagsdirektoren eher bei einer Parteistrafe oder Aberkennung der Jahresendprämie. An den regelmäßigen (wöchentlichen oder 14-tägigen) Sitzungen der Verlagsleitung nahmen neben den genannten drei Hauptverantwortlichen die Leiter der wichtigsten Abteilungen sowie der Sekretär der SED-Grundorganisation und der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) teil. Gegenstand der Beratung war stets der Stand der Planerfüllung (Planrapport). Die Verlage hatten – analog zu allen anderen Betrieben – zu Jahresbeginn eine staatliche Planvorgabe erhalten, die – nach vielen ökonomischen Einzelpositionen aufgegliedert – im Kern festlegte, wie viel Umsatz (Nettowarenproduktion), Gewinn und Export mit wie viel Tonnen Papier im vorgegebenen inhaltlichen Profil zu erzielen waren. Die Aufgabe der Verlage bestand jetzt darin, innerhalb dieser Festlegungen Titel zu bestimmen, mit denen sie sowohl die Interessen der Leser befriedigen als auch die ökonomischen Vorgaben erfüllen konnten. Dies war insofern kompliziert, als es oft nur bestimmte Mengen einer Sorte Papier (holzhaltig, holzfrei, Bilderdruckqualität) gab, die bestimmten Druckereien zugeteilt waren, die wiederum nur bestimmte Formate und Bindetechniken bedienen konnten. Planungs- und Herstellungsleiter hatten nun die Aufgabe, die inhaltlichen und ästhetischen Wünsche von Lektorat und künstlerischer Abteilung mit den praktischen Möglichkeiten des strengen Planungskorsetts in Übereinstimmung zu bringen. Bei jeder Veränderung (Termin-
4 Selle: Zur Geschichte des Verlagswesens der Deutschen Demokratischen Republik, S. 65. 5 Lepsius: Handlungsräume und Rationalitätskriterien, S. 361. 6 Siehe hierzu auch bei Köhler-Hausmann: Literaturbetrieb in der DDR, S. 98–100.
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verschiebung bei Abgabe des Manuskripts durch den Autor oder verspätete Lieferung der Illustrationen oder Umstellung von Schwarzweiß-Abbildungen auf vierfarbige Fotos) war ein komplexer Umplanungsprozess mit allen polygrafischen Partnern erforderlich. Oft gelang die pünktliche Fertigstellung von Büchern in der gewünschten Qualität nur durch gute persönliche Kontakte des Herstellungsleiters mit den jeweiligen Druckereileitern, sodass außerhalb des unbeweglichen Regelwerkes Sonderlösungen gefunden werden konnten.7 Dass an den Geschäftsleitungssitzungen auch die Vertreter der Staatspartei SED und der Einheitsgewerkschaft FDGB teilnahmen, war eine Besonderheit der DDR. Von den fünf im Land zugelassenen Parteien hatte nur die SED das Recht, eigene Betriebsorganisationen zu bilden, alle anderen Parteien waren nach dem Territorialprinzip an den Wohnorten der Mitglieder organisiert. In den Buchverlagen waren etwa 10 bis 20 Prozent der Mitarbeiter SED-Mitglieder. (In Zeitungsverlagen, die keine Vorzensur hatten, lag der Anteil dagegen oft bei mehr als 50 Prozent.) Sobald sich fünf Genossen in einem Betrieb befanden, bildeten sie eine eigene Parteiorganisation, andernfalls wurden sie einem Nachbarbetrieb zugeordnet. Sie wählten eine Parteileitung, die wiederum den Parteisekretär bestimmte, der nun an allen betrieblichen Leitungsentscheidungen teilnahm, um so eine zusätzliche Kontrolle zu sichern. Das war besonders in der Formierungsphase der 1950er und 60er Jahre wichtig, als eine starke Politisierung der Verlage durchgesetzt werden sollte. Später verringerte sich der Einfluss der Betriebsparteiorganisationen auf die Entscheidungen der Verlagsleitungen. Das hatte damit zu tun, dass der ehrenamtliche Betriebsparteisekretär der lokalen SED-Kreisleitung unterstand, während die Verlagsdirektoren vom SED-Zentralkomitee in Berlin berufen bzw. bestätigt worden waren, womit diese eine höhere politische Anbindung als die Parteisekretäre hatten. Außerdem war es in allen Verlagen gängige Praxis, dass der Direktor zugleich Mitglied der betrieblichen Parteileitung war, also an ihm vorbei nichts entschieden werden konnte. Der langjährige Verleger des Leipziger Urania-Verlages Horst Bullan beispielsweise berichtete 2003 in einem Zeitzeugeninterview davon, dass er den SED-Parteisekretär in seinem Haus klar dominiert habe. Er selbst bezeichnete seine Organisationsform als »militärische Demokratie«.8 Auch Helmut Bähring, Chef des Bibliographischen Instituts Leipzig, gab an, dass die Betriebsparteiorganisation bei ihm im Verlag »keine große Rolle gespielt« habe.9 Der Gewerkschaftsvertreter war zwar politisch eher einflusslos, aber im Betrieb für die meisten sozialen Belange zuständig, weshalb er auf das Betriebsklima einen wichtigen Einfluss hatte, da nahezu alle Mitarbeiter Mitglied im FDGB waren. Mit der Gewerkschaftsleitung wurden die Arbeitszeiten ausgehandelt (in der Regel Festarbeitszeit,
7 Zahlreiche Belege dafür finden sich in den Zeitzeugeninterviews, die von der Historischen Kommission des Frankfurter Börsenvereins Anfang der 1990er Jahre und im Rahmen des Oral-History-Projektes des Studienganges Buchwissenschaft an der Universität Leipzig Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre mit früheren Verlagsmitarbeitern der DDR geführt wurden. Die mehrheitlich transkribiert vorliegenden Leitfadeninterviews befinden sich im Archiv der Historischen Kommission des Börsenvereins. 8 Bullan, Zeitzeugeninterview, S. 16. 9 Bähring, Zeitzeugeninterview, S. 21.
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bei den Lektoren teilweise mit Hausarbeitstagen verbunden), sie hatte bei der Prämienverteilung mitzusprechen, über sie erfolgte die Verteilung der betriebseigenen Ferienplätze, sie kümmerte sich um das Betriebsferienlager für die Kinder der Angestellten und ggf. die Betriebssportgemeinschaft, sie organisierte die Betreuung der Jubilare und richtete die Weihnachtsfeier und andere Festlichkeiten aus. Probleme bei der Mittagsversorgung oder bei einer Zweckentfremdung des Frauenruheraumes wurden bei der BGL vorgetragen. Größere Verlage verfügten zudem über eine Konfliktkommission bei der BGL, die arbeitsrechtliche Fragen mit der Betriebsleitung auf Schlichtungsbasis zu klären versuchte, um Arbeitsgerichtsprozesse zu vermeiden.10 (Diese Laiengerichte existierten seit 1953 und galten als Arbeitsgerichte erster Instanz. Gegen deren Entscheidungen konnte beim Kreisgericht Einspruch erhoben werden, was aber nur in 10 Prozent der Fälle geschah.) Die Betriebsleitungen waren insgesamt an einem weitgehenden Konsens mit der Gewerkschaft interessiert, deren gewählter Vertreter bei allen wichtigen Fragen frühzeitig eingebunden wurde. Dass es zu keinem ernsten Widerstand gegen die Direktion kam, dafür sorgte schon die Tatsache, dass der BGL-Vorsitzende zumeist auch SED-Mitglied war.
Tagesablauf, Arbeitszeiten Da die DDR als »arbeiterliche Gesellschaft« (Wolfgang Engler) stark von der Großproduktion mit ihrem Schichtbetrieb geprägt war, hatte dies auch Auswirkungen auf alle übrigen Bereiche, speziell in den Industrieregionen wie etwa Halle/Leipzig. Die Kinderkrippen und Kindergärten öffneten bereits häufig um 6.00 Uhr, der Schulunterricht begann vielerorts um 7.00 Uhr, Universitätsvorlesungen starteten um 8.00 Uhr. Um 8.00 Uhr öffneten auch die Postämter. Zu dieser Zeit konnten die Betriebe ihre Geschäftspost abholen, womit dann zumeist auch in den Verlagen die Arbeit begann. Im Leipziger Raum hatten sich die Belegschaften mehrheitlich dafür ausgesprochen, um 7.00 Uhr oder 7.30 Uhr mit der Arbeit zu beginnen, die dann um 16.00 Uhr bzw. 16.30 Uhr beendet war. In Berlin begannen die Verlage mehrheitlich zwischen 7.30 und 8.00 Uhr. Besuche von Autoren und freien Mitarbeitern erfolgten ab 10.00 Uhr, sodass die ersten Stunden für interne Klärungsprozesse zur Verfügung standen. Die Arbeitszeit betrug ab 1967 täglich 8 ¾ Stunden und damit etwas mehr als in der Bundesrepublik. In der DDR gab es auch fünf Feiertage weniger, und der Mindesturlaub belief sich lange Zeit lediglich auf 15 Tage. In den Lektoraten entstanden – wie in allen Verlagen – zusammen mit den Autoren die Ideen für neue Bücher, wobei ausgesprochen langfristig gearbeitet wurde. Neben dem Plan für das Folgejahr waren überall Perspektivpläne für mindestens fünf Jahre gefordert. Junge belletristische Autoren bekamen Entwicklungslektoren zur Seite gestellt, die mit ihnen über mehrere Jahre eine Romanidee oder ein Gedichtkonvolut bis zur Manuskriptreife brachten. In den Fachverlagen wurden zusammen mit Universitäten und wissenschaftlichen Instituten Herausgeberkollektive gebildet, die Autoren für neue Sammelwerke gewannen und anleiteten. Je nach Entwicklungsstand der Projekte erfolgten dann jährlich die Anpassung der Perspektivpläne und die Einspeisung in den aktu-
10 Markovits: Gerechtigkeit in Lüritz, S. 64.
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ellen Jahresplan. Aufgabe des Cheflektors war es, aus dem Angebot der einzelnen Lektorate ein Gesamtprogramm zusammenzufügen, das vom inhaltlichen Angebot her überzeugte und nach Absprache mit der Produktionsabteilung auch mit der absehbaren Papiermenge und den zugeteilten Druckereikapazitäten zu bewältigen war. Dieser Plan ging dann zur Bestätigung an die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, von wo es Einwände oder Ergänzungswünsche geben konnte. Bei der Aufstellung der Verlagsprogramme waren auch die Verlagsbeiräte beteiligt, die ab Mitte der 1950er Jahre angeregt wurden und sich bis Mitte der 1960er Jahre durchgesetzt hatten.11 Je nach Verlagsprofil arbeitete etwa der Leipziger Fachbuchverlag mit Dozenten aus den Hoch- und Fachschulen der entsprechenden Disziplinen zusammen, der Hallenser Fotokinoverlag konsultierte die Gesellschaft für Fotografie im Kulturbund, und der Berliner Aufbau-Verlag traf sich regelmäßig mit Vertretern des Schriftstellerverbandes und seiner Nachwuchskommission. Diese Begegnungen fanden in der Regel in den jeweiligen Verlagen statt, die dafür entsprechende Sitzungsräume hatten und die Gäste auch beköstigten. Auf diese Weise sollte der gesellschaftliche Bedarf an entsprechender Literatur ermittelt werden. Fälle von thematischen Überschneidungen sollten aus Gründen der Ersparnis an Papier und Verlagsaufwand vermieden werden, weshalb es für alle Sparten verlagsübergreifende Literaturarbeitsgemeinschaften gab, in denen die Perspektiv- und Jahrespläne abgestimmt wurden. Zu jedem Thema sollte ja möglichst nur ein Buch erscheinen, das dann in großer Auflage kostengünstig produziert werden konnte. Daher war es beispielsweise möglich, dass das für lange Zeit einzige Pilzbestimmungsbuch der DDR beim Urania-Verlag eine Gesamtauflage von 500.000 Exemplaren hatte. Der Rat für jeden Gartentag kam auf mehr als eine Million. Die vielfältigen Abstimmungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen mit verschiedensten Partnern führten dazu, dass viele Arbeitstage durch lange Sitzungen geprägt waren und die gewünschten Ansprechpartner im Verlag oft schwer zu erreichen waren.
Entlohnung, Kollegialität Unter den Mitarbeitern herrschte zumeist eine große Kollegialität. Man konnte nach geltendem Arbeitsrecht so gut wie nicht gekündigt werden, die Löhne und Gehälter waren nach einem Rahmenkollektivvertrag (der letzte wurde 1982 geschlossen) im Wesentlichen gleich (nur in den verbliebenen sechs Privatverlagen wurde etwas weniger gezahlt), und durch die klar definierten Funktionsgruppen wusste auch jeder, was der andere verdient. Spätestens beim monatlichen Bezahlen des nach Einkommen gestaffelten Gewerkschaftsbeitrages wurde es offensichtlich. Das Gehalt innerhalb der Gruppen war für Frauen und Männer gleich, wobei die Leitungsfunktionen zumeist von Männern besetzt waren, obwohl in den Verlagen mehrheitlich Frauen (zumeist über 60 Prozent) arbeiteten. Verheiratete Frauen erhielten ab 1952 einen bezahlten, arbeitsfreien Haushaltstag pro Monat, der ab 1965 auch unverheirateten Frauen zustand, wenn sie Kinder hatten. (1977 wurde der Anspruch auf alleinerziehende Väter ausgeweitet.) Das Renteneintrittsalter für Frauen betrug 60 Jahre, für Männer 65.
11 Beyer: Zeitzeugenbericht, S. 3.
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Die Gehälter in den Buchverlagen lagen etwas über dem Durchschnitt vergleichbarer Tätigkeiten in kommunalen Kultureinrichtungen, aber deutlich unter den Bezügen in SED-eigenen Tageszeitungen oder Zeitschriften. Während das durchschnittliche Arbeitseinkommen 1985 bei 1.130 M lag,12 verdienten Verlagslektoren zu dieser Zeit rund 1.200 M, während Redakteure in den Zeitungen etwa 1.400 M erhielten. Da ein Aufstieg innerhalb des Verlages immer auch mit einer stärkeren Einbindung ins System verbunden war, was u. a. zahlreiche Abendsitzungen bedeutete, herrschte nur ein begrenzter Drang »nach oben«. Lektoren waren oft froh, wenn sie in einer literarischen Nische agieren und sich ganz auf ihre Autoren und deren Texte konzentrieren konnten und nicht noch zusätzliche Planungs- und Abstimmungsrunden besuchen mussten.13 Ähnlich war es bei Grafikern und Typografen. Die Kollegen kannten sich meist auch privat, wussten um die Lebensbedingungen der anderen in der Abteilung und tauschten sich intensiv aus. Das ergab sich schon daraus, dass zumeist mehrere Kollegen in einem Zimmer saßen, wo auch viele private Telefongespräche geführt wurden, da nur wenige zu Hause einen eigenen Telefonanschluss hatten. Oft entwickelten sich Freundschaften mit Gleichgesinnten, mitunter auch Liebesverhältnisse (»Betriebsehen«). Dazu trug das System der Brigaden bei, das nach sowjetischem Vorbild ab 1958 in der Industrie das traditionelle Meistersystem ersetzte und danach schrittweise auch auf alle anderen Betriebe übertragen wurde. Es handelte sich ursprünglich um Produktionskollektive, die ihren eigenen Brigadier wählten, ihre Arbeit weitgehend selbst organisierten und mit anderen Kollektiven im Wettbewerb um die beste Planerfüllung standen. Die erfolgreichsten Brigaden erhielten dann Auszeichnungen, hohe Prämien oder begehrte Urlaubsplätze.14 Diese Art des Wettstreits sollte an die Stelle der Konkurrenz von Kollegen und Abteilungen treten. In den Verlagen wurden Brigaden ab Mitte der 1960er Jahre eingeführt. Da hier die Abteilungen oft recht klein waren, wurden mitunter mehrere Arbeitsgruppen zu einer Brigade zusammengefasst. Sie bemühten sich fortan im Rahmen des betrieblichen Wettbewerbs um den Titel »Kollektiv der sozialistischen Arbeit«, wozu gemäß dem Motto »sozialistisch arbeiten, lernen und leben« nicht nur eine gute Planerfüllung gehörte, sondern auch die Qualifizierung einzelner Mitarbeiter (etwa über die Betriebsakademien) und gemeinsame Freizeitaktivitäten, wie der Besuch von Kultur- und Sportveranstaltungen oder Exkursionen. Dies alles wurde häufig in einem Brigadetagebuch mit vielen Fotos und Belegen dokumentiert, was am Ende für die Prämierung mit ausschlaggebend war.15 Die Brigaden übernahmen auch Patenschaften über Schulklassen (meist von Kindern der Mitarbeiter), die dann die Kollegen besuchten und einen Einblick in das betriebliche Leben erhielten. Angehörige der Patenbrigaden unterstützten ihrerseits die Ausgestaltung von schulischen Zirkeln und Veranstaltungen der Jugendorganisation FDJ. Kollektivbildend wirkten sich auch die eigentlich ungeliebten »Subbotniks« aus. Das waren (zwangs-)freiwillige unbezahlte Arbeitseinsätze an den ansonsten arbeitsfreien Sonnabenden. (Der Name rührt vom russischen Wort subbota für Samstag her.) Dabei wurden gemeinschaftlich all jene Arbeiten ausgeführt, zu denen man während der lau12 13 14 15
Statistisches Jahrbuch der DDR, S. 144. Fensch: Zeitzeugenbericht. Siehe dazu ausführlich: Reichel: »Sozialistisch arbeiten, lernen und leben«. Claus: Zeitzeugeninterview, S. 44–45.
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Abb. 1: Fröhlicher Stierkamp beim Betriebsfest 1984 der Kiepenheuer-Verlagsgruppe Leipzig in der Mottelerstraße: der Direktor für Ökonomie Bernd Friedemann als Stier, ihm gegenüber das Lektorat. Foto: Helfried Strauß.
fenden Arbeit nicht so recht kam: Arbeitszimmer umgestalten, neue Regale installieren, aufräumen, entrümpeln etc.16 Zur mehrheitlich kollegialen Atmosphäre in den Verlagen trugen auch die vielen Feiern bei. Das waren nicht nur die alkoholträchtigen Prämienfeiern in den Brigaden, sondern auch Jubiläen der Betriebszugehörigkeit, die es oft zu begehen galt, da die meisten Verlagsmitarbeiter sehr lange an einem Arbeitsplatz verweilten. Durch die weitgehende Spezialisierung (zugespitzt: ein Verlag für einen Themenbereich) war es schwierig, eine gleichwertige Arbeit an anderer Stelle zu finden. Hinzu kamen Feiern in den jeweiligen Abteilungen zu runden (und mitunter auch weniger runden) Geburtstagen, zum Ausstand vor dem Urlaub und zum Einstand nach dem Urlaub, wie das ein Außengrafiker des Berliner Eulenspiegel Verlages wiederholt erlebt hat.17 Zeit dafür war vorhanden, da es deutlich weniger Termindruck als in Verlagen der Bundesrepublik gab. Das hatte damit zu tun, dass es nicht zwei Programme mit festen Terminen im Frühjahr und Herbst gab, sondern die Titel ganzjährig erschienen, so wie die Druckereien sie gerade fertigstellten. Dann wurden sie zwei Wochen vor Auslieferung im »Vorankündigungsdienst« (VD) der zentralen Verlagsauslieferung LKG in Leipzig per BörsenblattBeilage avisiert und konnten von den Buchhändlern bestellt werden.
16 Kluy: Erinnerungen, S. 84. 17 Gubig: Büchermachen auf einem fremden Stern, S. 52 .
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Abb. 2: Fasching im Aufbau-Verlag, Februar 1989. Foto: Günter Prust.
Von den Verlagen wurden zumeist auch jährliche Betriebsfeiern ausgerichtet, bei denen beispielsweise die Lohnbuchhalterin mit dem Cheflektor tanzte oder die Telefonistin mit dem Direktor. Außerdem veranstalteten Verlagsleitung und Gewerkschaftsorganisation jedes Jahr zum 8. März eine Frauentagsfeier, bei der es u. a. kleine Geschenke und Auszeichnungen mit dem Titel »Aktivist der sozialistischen Arbeit« gab und die Herren den Damen Kaffee und Wein einschenkten.18 In einigen Häusern wurden zudem rauschende Faschingsfeste gefeiert. Verfügte der Verlag über entsprechende Säle für alle Mitarbeiter, konnte in den eigenen Räumen gefeiert werden, ansonsten wurde eine passende Lokalität angemietet.
Kultur- und Freizeitaktivitäten Die Betriebe in der DDR deckten nicht nur die Arbeitswelt ab, sondern wirkten auch sonst tief in das Leben der Menschen hinein. Das lag daran, dass es in größeren Produktionseinheiten eigene Arztpraxen (Betriebspoliklinik) und Verkaufseinrichtungen gab, und über die Gewerkschaften generell begehrte Ferienplätze vergeben wurden, da es ansonsten deutlich zu wenig frei verfügbare Angebote an Ferienunterkünften gab.19 Das konnten Reisen ins sozialistische Ausland oder zu den FDGB-Ferienheimen an der Ostsee oder im Thüringer Wald sein oder zu den Einrichtungen des jeweiligen Branchenver-
18 Güntzel: Zeitzeugeninterview. 19 Hohl: Zeitzeugeninterview.
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bandes (konkret des Börsenvereins oder des Volksbuchhandels). Hinzu kamen Plätze in den betrieblichen Ferieneinrichtungen. Viele Verlage hatten sich im Laufe der Jahre Bungalows im Mecklenburger Seengebiet oder im Erzgebirge zugelegt, die aus betrieblichen Mitteln erbaut und unterhalten wurden. Der Kinderbuchverlag glänzte mit Ferienplätzen in dem von ihm übernommenen ehemaligen Wohnhaus von Hans Fallada in Carwitz mitten in der Feldberger Seenlandschaft. Für die Kinder gab es in den langen Sommerferien von acht Wochen ein Angebot an Ferienlagerplätzen für zwei oder drei Wochen, die zumeist in Kooperation mit anderen Betrieben zur Verfügung gestellt wurden. Das war insofern wichtig, als der Grundurlaub der Verlagsmitarbeiter in den ersten zwei Jahrzehnten nur 15, später dann 18 oder 20 Tage betrug. Die Kulturobleute der betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen hatten Zugriff auf Eintrittskarten zu begehrten Konzerten und Theateraufführungen, die dann den aktivsten Mitarbeitern oder (bei ausreichendem Kontingent) allen interessierten Kollegen zur Verfügung gestellt wurden. Die Verlage hatten darüber hinaus oft besondere Beziehungen zu Theatern und Kultureinrichtungen, da sie mit ihren Autoren dort regelmäßig Lesungen und Veranstaltungen ausrichteten. Der Verlag Volk und Welt beispielsweise gestaltete über Jahre die Reihe »Jazz – Lyrik – Prosa« mit den Jazz-Optimisten und prominenten Schauspielern,20 der für Humor zuständige Eulenspiegel Verlag füllte mit seinem Programm »Lachen und lachen lassen« den großen Palast der Republik in Berlin. Auch sportliche Aktivitäten wurden in der DDR über die Betriebe vermittelt, die eigene Betriebssportgruppen (BSG) unterhielten. Für Verlage und Druckereien war die BSG Rotation zuständig, in deren Vereinen auch Verlagsmitarbeiter und deren Kinder etwa Fußball, Handball oder Volleyball spielen konnten, was mit Trainingsmöglichkeiten auf entsprechenden Plätzen und im Winter in Sporthallen verbunden war. Der Dresdner Sachsenverlag beispielsweise, der bis 1962 existierte, gründete bereits 1950 die BSG Sachsenverlag Dresden, die später in BSG Rotation Dresden und dann in SC Einheit Dresden umbenannt wurde. Weniger beliebt war die Teilnahme an den paramilitärischen Kampfgruppen der DDR, die in größeren Verlagen gebildet werden mussten und mit Übungen an den Wochenenden verbunden waren. Der Alltag in den Verlagen der DDR und anderer sozialistischer Länder unterschied sich somit in vielen Punkten deutlich von der Situation in den Verlagen in Westeuropa, auch wenn die unmittelbare Buchproduktion ziemlich ähnlich war. Die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen engten den Handlungsspielraum der einzelnen Betriebe in der DDR merklich ein, weshalb es sehr von den jeweiligen Führungspersönlichkeiten abhing, inwieweit jenseits der strengen Vorgaben der Gestaltungsspielraum erweitert und partiell eigene Wege beschritten werden konnten.
Literatur- und Quellenverzeichnis Interviews und Zeitzeugenberichte BÄHRING, Helmut: Zeitzeugeninterview von Thomas Keiderling und Stephan Niedermeier am 7. und 14. 11. 1997. Archiv der Historischen Kommission des Börsenvereins, Leipzig.
20 Sellhorn: Jazz – Lyrik – Prosa.
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BEYER, Rolf (Ökonomischer Leiter im Deutschen Verlag für Grundstoffindustrie): Zeitzeugenbericht vom 13. 10. 2016 im Rahmen des Seniorenstudiums an der Universität Leipzig. Archiv der Historischen Kommission des Börsenvereins, Leipzig. BULLAN, Horst: Zeitzeugeninterview von Patricia Zeckert und Birgit Raschdorf am 3. 1. 2003. Archiv der Historischen Kommission des Börsenvereins, Leipzig. CLAUS, Ingeborg (Leiterin der Bildredaktion im Lexikonbereich des Bibliographischen Instituts): Zeitzeugeninterview von Volker Titel und Susanne Schottke am 5. 11. 1998. FENSCH, Edda (Anglistiklektorin im Verlag Neues Leben): Zeitzeugenbericht vom 13. 11. 2017. Archiv der Historischen Kommission des Börsenvereins, Leipzig. GÜNTZEL, Ingbert (leitender Mitarbeiter im Zentralantiquariat Leipzig): Zeitzeugeninterview von Stephan Niedermeier am 13. 7. 1998. Archiv der Historischen Kommission des Börsenvereins, Leipzig. HOHL, Dorothe (Absatzleiterin bei Edition Peters): Zeitzeugeninterview von Thomas Keiderling am 1. 12. 1998. Archiv der Historischen Kommission des Börsenvereins, Leipzig. KLUY, Maja: Erinnerungen an meine Zeit als Künstlerische Leiterin im Verlag Edition Leipzig. Archiv der Historischen Kommission des Börsenvereins, Leipzig.
Gedruckte Quellen Das Haus in der Französischen Straße. Vierzig Jahre Aufbau-Verlag. Ein Almanach. Berlin: Aufbau-Verlag 1985, S. 514–519. 50 Jahre Urania-Verlag 1924–1974. Leipzig, Jena, Berlin: Urania 1974. GUBIG, Matthias: Büchermachen auf einem fremden Stern. In: 50 Jahre Eulenspiegel Verlag. Die traun sich was. Geschichte, Geschichten, Gesamtverzeichnis. Berlin: Eulenspiegel Verlag 2004. Statistisches Jahrbuch der DDR. Berlin: Haufe 1990. SELLHORN, Werner Josh: Jazz – Lyrik – Prosa. Zur Geschichte von drei Kultserien. Berlin: Ch. Links 2009.
Forschungsliteratur JUDT, Matthias: Aufstieg und Niedergang der »Trabi-Wirtschaft«. In: Matthias Judt (Hrsg.): DDRGeschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin: Ch. Links 1997, S. 87–102. KIMMEL, Elke: Hauptsache Arbeit, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hrsg.): Alltag: DDR. Geschichten, Fotos, Objekte. Berlin: Ch. Links 2012, S. 229–232. KÖHLER-HAUSMANN, Reinhild: Literaturbetrieb in der DDR. Schriftsteller und Literaturinstanzen. Stuttgart: Metzler 1984 (Metzler Studienausgabe). LEPSIUS, M. Rainer: Handlungsräume und Rationalitätskriterien der Wirtschaftsfunktionäre in der Ära Honecker, in: Theo Pirker u. a.: Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1995, S. 347–362. MARKOVITS, Inga: Gerechtigkeit in Lüritz. Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte. München: C. H. Beck 2006. REICHEL, Thomas: »Sozialistisch arbeiten, lernen und leben«. Die Brigadebewegung in der DDR (1959–1989), Köln: Böhlau 2011. SELLE, Karlheinz: Zur Geschichte des Verlagswesens der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Abriß der Entwicklung des Buchverlagswesens 1945–1970. In: Karl-Heinz Kalhöfer / Helmut Rötzsch (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 5. Leipzig: Fachbuchverlag 1972, S. 16–72.
5.3
Verlage nach Sparten
5.3.1 Belletristikverlage und Taschenbuch Konstantin Ulmer 5.3.1.1 Aufbau-Verlag Nach seiner Gründung im August 1945 entwickelte sich der Aufbau-Verlag schnell zum bedeutendsten Verlag der SBZ beziehungsweise der DDR. Die Programmschwerpunkte zeichneten sich bereits in den ersten Jahren ab: Neben dem klassischen, humanistischen Erbe avancierte vor allem die Literatur des Exils zum Markenkern des Aufbau-Verlags. Die Rückkehrer wurden in Berlin von der Verlagsmannschaft um Erich Wendt, Max Schroeder und Walter Janka mit offenen Armen empfangen. Später war Aufbau auch für zahlreiche bedeutende Gegenwartsautoren wie Erwin Strittmatter, Christa Wolf und Christoph Hein verantwortlich und versuchte die Balance zwischen literarisch-künstlerischen Autonomisierungstendenzen und den Ansprüchen zu halten, die an den Vorzeigeverlag der DDR von staatlicher Seite gerichtet waren. Elmar Faber öffnete als Verlagsleiter Aufbau schließlich Ende der 1980er Jahre auch für die Literatur aus dem Umkreis des Prenzlauer Bergs und versuchte, den Verlag durch die Wendezeit zu manövrieren. In seiner Amtszeit verantworteten 180 Mitarbeiter jährlich in der Regel 300 bis 360 Titel (Erst- und Nachauflagen). Insgesamt erschienen im Aufbau-Verlag zwischen 1945 und 1990 4.500 Erstauflagen mit einer Gesamtauflagenhöhe von 125 Mio. Exemplaren.
Die Gründung und die ersten Bücher Der Aufbau-Verlag erhielt am 18. August 1945 eine Arbeitserlaubnis von der Sowjetischen Militäradministration, der am 28. November die offizielle Lizenz folgte.1 Gegründet wurde das Unternehmen von vier Gesellschaftern als GmbH. Während die Berliner Verlagsfachleute Kurt Wilhelm und Otto Schiele, beide bis kurz vor Kriegsende in der Otto Elsner Verlagsgesellschaft tätig, die operative Verlagsleitung übernahmen, brachten die Multifunktionäre Heinz Willmann und Klaus Gysi als Exilanten bzw. Widerstandsaktivisten die politische Legitimation mit. Die Verlagsmannschaft bezog Mitte September ein ehemaliges Bankgebäude in der Französischen Straße 32. Die Gründung als GmbH war der rechtlichen Situation geschuldet. Dass der Aufbau-Verlag später als organisationseigener Verlag des Kulturbunds geführt werden sollte, ließ aber bereits der Gesellschaftsvertrag erahnen.2 Zwei Wochen nach der Gründung ging als erster von den insgesamt zwölf Titeln des Jahres 1945 das Manifest des Kulturbundes zur demokratischen
1 Vgl. SBB, IIIA, Dep38, 537, Bl. 6: Urkundenrolle Nr. 1/45 des Notars Wilhelm Hünnebeck, 17. August 1945. 2 Im § 4 hieß es: »Bei dem Geschäftsgebaren der Gesellschaft ist darauf zu achten, daß die Belange des ›Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹ in jeder Form gewahrt werden.« SBB, IIIA, Dep38, 502, Bl. 251: Urkundenrolle Nr. 1/45 des Notars Wilhelm Hünnebeck, 17. August 1945. https://doi.org/10.1515/9783110471229-021
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Erneuerung Deutschlands in Satz. Neben dem Gründungsaufruf versammelte das vierzigseitige Bändchen in einer Auflage von 50.000 Exemplaren die Redebeiträge der Gründungskundgebung des Kulturbunds vom 3. Juli 1945. Ab September 1945 erschien mit dem Aufbau außerdem eine vom Kulturbund herausgegebene, diskursprägende Zeitschrift im Aufbau-Verlag. Herausgeber war zunächst Klaus Gysi, der 1949 von Bodo Uhse abgelöst werden sollte.3 Die Wochenzeitung des Kulturbunds, der Sonntag, kam im Juli 1946 hinzu.4 Als Spiritus Rector des Verlags fungierte in den Gründungsjahren der Präsident des Kulturbunds, Johannes R. Becher. Becher hatte im sowjetischen Exil ab 1944 in der prominent besetzten Arbeitskommission zur Gestaltung des neuen Deutschlands den Bereich geleitet, der sich mit der ideologischen Umerziehung der Deutschen beschäftigte. Aufbau, so zeigte sich bald, sollte sich vor allem als Verlag der emigrierten Autoren etablieren, von denen viele den Aufrufen des Kulturbunds folgten, in die SBZ zurückzukehren und beim Wiederaufbau mitzuhelfen. Ein erster Bestseller des Verlags war der 1945 erstmals erschienene Roman Stalingrad von Theodor Plievier, ein zweites maßgebliches Buch der ein Jahr später erstmalig in Deutschland verlegte Roman Das siebte Kreuz von Anna Seghers. Beim von Becher mit viel Pathos beschworenen Aufbauwerk sollten aber auch diejenigen Autoren nicht fehlen, die im Land geblieben waren. Erfolgreich umwarb Becher beispielsweise den Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann, den Hitler noch 1944 auf die sechs Köpfe starke Schriftsteller-Sonderliste unersetzlicher Künstler gesetzt hatte, die der »Gottbegnadeten-Liste« beilag. Auch Hans Fallada, der während des Nationalsozialismus erfolgreiche Unterhaltungsromane geschrieben hatte, wurde durch Bechers Vermittlung zum Aufbau-Autor, genauso wie der christlich-konservative Ernst Wiechert. Die Programmnachbarschaft war freilich nicht allen antifaschistischen Autoren recht, zumal die materielle Basis klein und die Wirkungsmöglichkeiten groß waren. Die Startauflagen des Aufbau-Verlags, für gewöhnlich 20.000 bis 30.000 Exemplare, waren bis zur Währungsreform trotz der eingeschränkten Vertriebsmöglichkeiten in der Regel sehr schnell ausverkauft. Eine große Rolle in der Programmpolitik kam zudem der Pflege des klassischen Erbes zu, eingeleitet 1945 mit Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen. Als erste Werkausgabe erschien 1946 eine Auswahl Gottfried Kellers in vier Bänden.
Die neue Leitung: Wendt, Schroeder, Janka Die wachsende politische Spannung manifestierte sich im Verlag 1947 schließlich auch personell: Der ebenso erfolgreiche wie herrische Verlagsleiter Kurt Wilhelm ging im April des Jahres nach diversen Konflikten mit dem Kulturbund und dessen kulturpolitischen Protagonisten in den Westen.5 Unmittelbar zuvor hatte der aus dem US-Exil zurückgekehrte Max Schroeder (1900–1958) als Cheflektor bereits die Verantwortung für
3 Vgl. zum Aufbau Günter Wirth: Von Aufbau und Sonntag. 4 Zur Gründungsgeschichte des Verlags vgl. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 15–33. 5 Vgl. der Schriftverkehr zwischen Wilhelm, Schiele, Becher, Willmann u. a. in BArch, DY 27/ 799.
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das Programm übernommen. Schroeder, ein universell gebildeter Literaturvermittler, baute gemeinsam mit dem Wilhelm-Nachfolger Erich Wendt (1902–1965), der aus der Sowjetunion nach Berlin zurückgekehrt war, den Exilschwerpunkt des Verlags aus. Noch 1947 erschienen Titel von Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Egon Erwin Kisch und Ludwig Renn, außerdem der legendäre Band LTI von Victor Klemperer über die Sprache im Dritten Reich. 1948 wurden im Rahmen der Aurora-Bücherei erstmalig Werke von Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf verlegt.6 Symbolisch besonders wichtig war für den Verlag der US-Exilant Heinrich Mann, dem Max Schroeder kurz nach seinem Eintritt in den Verlag mitgeteilt hatte, dass Aufbau eine Werkausgabe Manns als »eine seiner vornehmlichsten Aufgaben« betrachte.7 Der erste von 13 Bänden erschien 1951 schließlich postum. Auch andere Exilanten wie Bodo Uhse, Friedrich Wolf und Arnold Zweig machte Aufbau mit Werkausgaben zu modernen Klassikern. Ungeachtet einiger Absatzprobleme nach der Währungsreform war die Bilanz zum fünfjährigen Jubiläum 1950 beachtlich. 236 Erst- und 187 Nachauflagen in über 6,3 Mio. Exemplaren waren bis dahin erschienen.8 Nachdem Wendt 1951 zum Bundessekretär des kriselnden Kulturbunds berufen worden war, übernahm Walter Janka (1914–1994), der in Mexiko beim Exilverlag El Libro Libre gewirkt hatte und 1950 als stellvertretender Geschäftsführer im Aufbau-Verlag gelandet war, mehr und mehr das Tagesgeschäft.9 Ab 1954 hatte er schließlich auch offiziell die Verlagsleitung inne. Janka erwies sich als Durchreißer, der viele infrastrukturelle Neuerungen etablierte. Aus der kriegsbeschädigten Kassenhalle des ehemaligen Bankgebäudes wurden bald Kantine und Clubraum. Ab 1953 warb die Zeitung Der Bienenstock für die Verlagsproduktion. Ein weiterer Punkt, der auf Jankas Agenda weit oben stand, war eine neue Fahrzeugflotte. Für die SED schien Janka zunächst ein Glücksgriff zu sein. Ihre Verlagspolitik stimmte in einem erstaunlichen Maße mit den Forderungen überein, die der Verleger bereits im Frühjahr 1945 in seinem Aufsatz Buch und Verlag im kommenden Deutschland aufgestellt hatte.10 Der Einfluss des politischen Felds auf die Verlage im Allgemeinen und den AufbauVerlag im Speziellen spiegelte sich in den beginnenden 1950er Jahren auch programmatisch wider. Mit der Bibliothek fortschrittlicher deutscher Schriftsteller (BFDS), die im März 1950 durch eine Kulturverordnung ins Leben gerufen worden war, erschien bei Aufbau ab 1951 im wahrsten Sinne Planungsliteratur. FDGB und FDJ, die den Vertrieb übernehmen sollten, damit die hochwertigen, auf holzfreiem Papier gedruckten Bände tatsächlich in Arbeiterhände kamen, waren mit der Aufgabe allerdings massiv überfor-
6 In der Aurora-Bücherei erschien bei Aufbau auf Grundlage eines Generalvertrags vom 24. Mai 1948 das Programm des Aurora-Verlags, den Wieland Herzfelde 1944 in Nachfolge des MalikVerlags registrieren hatte lassen. Vgl. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 76–81. 7 Brief von Max Schroeder an Heinrich Mann, 23. April 1947. Abgedruckt in: Faber/Wurm (Hrsg.): Allein mit Lebensmittelkarten, S. 191. 8 Zum Jubiläum erschien der Almanach Fünf Jahre mit einem Vorwort von Erich Wendt, Beiträgen von Verlagsautoren und einer Verlagsbibliographie. 9 Zu Janka im Aufbau-Verlag siehe »Helle Panke« e. V. (Hrsg.): Partisan im Kulturbetrieb; Marschall: Aufrechter Gang im DDR-Sozialismus sowie Schneider: Annäherung an einen Unbeugsamen. 10 Vgl. Janka: Buch und Verlag im kommenden Deutschland.
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dert. Dass die Reihe zwar als Fehlschlag, aber nicht als wirtschaftliche und literaturpolitische Katastrophe in die Literaturgeschichte der DDR einging, hing vor allem mit zwei Titeln zusammen: Mit dem Hermann-Hesse-Band Peter Camenzind. Unterm Rad und Thomas Manns Buddenbrooks erschienen in der BFDS zwei deutschsprachige Nobelpreisträger erstmalig in der DDR – in beiden Fällen zunächst ohne Lizenz. 1954 wurde die stark subventionierte Reihe dann eingestellt. Ein Jahr zuvor, im Frühjahr 1953, war es im und um den Aufbau-Verlag zu politischen Friktionen gekommen, nachdem Hanns Eislers Opernlibretto Dr. Faustus (1952) im Rahmen der Formalismus-Kampagne massiv angegriffen worden war.11 Die rigide Diskurspolitik der Literaturfunktionäre verhinderte allerdings nicht den Dissens. Nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, bei dem die Verlagsmitarbeiter eher zurückhaltend agiert hatten, entwickelte sich Aufbau langsam zu einer Arena von Akteuren, die mit der dogmatischen Politik der Ulbricht-Regierung unzufrieden waren. Wichtigster Ideengeber der Debatte war der junge Lektor Wolfgang Harich (1923–1995), der 1950 zunächst als freier Mitarbeiter zu Aufbau gekommen war und 1954 die Leitung des neu geschaffenen Lektorats Klassisches Erbe und Philosophie übernahm.12 Walter Janka wiederum engagierte sich zunehmend in Fragen der Kulturpolitik, sprach über Probleme in der Druckindustrie, übte Kritik an der Vorzensur und trieb sein Engagement für den deutsch-deutschen Austausch auf die Spitze, indem er die Gründung einer Westfiliale plante und sogar zu finalen Gesprächen nach Hamburg reiste. Die Filialgründung scheiterte schließlich am Veto Ulbrichts.13 Neben politischen Aspekten gab es einen juristischen Punkt, der gegen eine westdeutsche Zweigstelle sprach: Aufbau, ein organisationseigener Betrieb des Kulturbunds, war am 5. Mai 1955 in das Handelsregister C umgetragen worden, in dem die volks- und organisationseigenen Unternehmen versammelt waren. Janka hatte das zunächst begrüßt, sich dann aber mit dem Argument dagegen gewehrt, dass die Umtragung den Westverkehr erschwere. Er forderte im Oktober gegenüber dem Druckerei- und Verlagskontor, einer SED-eigenen Holding, die seit 1952 für die ökonomische Verwaltung des Verlags zuständig war und alle ihm unterstellten Verlage aufgefordert hatte, eine Umtragung durchzuführen, erfolglos eine Rückübertragung ins Handelsregister B und die gleichzeitige Rückumwandlung in eine GmbH.14 Aufbau blieb ein organisationseigener Verlag des Kulturbunds und wurde fortan im Handelsregister als ein Unternehmen geführt, das einem volkseigenen gleichgestellt war. Auch programmatisch waren die Mittfünfziger eine Zeit des Aufbruchs. Die Veröffentlichung moderner Autoren wurde vom Aufbau-Lektorat erfolgreich (Jean-Paul Sartre, Ernest Hemingway, Alberto Moravia) oder nicht erfolgreich (Franz Kafka, Marcel Proust) vorangetrieben.15 Immer deutlicher zeichnete sich eine Art Grunddialektik im 11 Zur Faustus-Debatte Bunge (Hrsg.): Die Debatte. Vgl. auch Anderson: Liebe im Exil, S. 388– 396. 12 Aufschlussreich über die beeindruckende Karriere Harichs im Ost-Berlin der Nachkriegszeit ist bis heute eine Titelgeschichte aus dem Spiegel nach der Verhaftung des Lektors. Vgl. Schlag ins Genick, S. 13–24. 13 Vgl. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 179–185. 14 Vgl. z. B. SBB, IIIA, Dep38, 502, Bl. 13: Janka an DVK, 9. 3. 1956. 15 Proust stand sogar noch im Mai 1957 zur Debatte, während die Kurskorrektur nach der Harich/Janka-Affäre bereits angelaufen war. Vgl. Faber/Wurm (Hrsg.): Autoren- und Verlegerbriefe, Bd. 2, S. 317–318.
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Abb. 1: Georg Lukács und Frau mit Walter Janka und Heinz Zöger im Aufbau-Verlag, Mai 1955. Foto: Aufbau Verlag.
Programm ab: Parallel zum anspruchsvollen literarischen Kurs, für den die selbstbewusste Verlagsmannschaft, der Einfluss der Leipziger Professoren Ernst Bloch16 und Hans Mayer sowie des omnipräsenten Georg Lukács als (Paratext-)Autoren und Berater sowie das grenzüberschreitende Engagement des Verlags standen, verlief weiterhin die heteronome, am Offizialdiskurs orientierte Linie. Mehr noch als literarische Sammlungen mit Titeln wie Das neue Profil. Erzählungen, Reportagen und Skizzen über die Großbauten des Kommunismus (1953) standen dafür die Gratulationsbände für Politiker wie Grotewohl (zum 60. Geburtstag 1954) oder Pieck (zum 80. Geburtstag 1956). Fragwürdiger Höhepunkt der Huldigungsschriften war der postum zum 75. Geburtstag Stalins erschienene Band Du Welt im Licht. J. W. Stalin im Werk deutscher Schriftsteller (1954).
Die Verhaftung der »Harich-Gruppe« Das Buch wurde bald von der Geschichte überholt: Nachdem Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 eine ebenso unverhohlene wie massive Kritik an Stalin und am Personenkult geäußert hatte, zog im Aufbau-Verlag und vor allem in den Redaktionen von Sonntag und Aufbau endgültig Tauwetter ein. Als die Reformwilligen im Zuge des Ungarn-Aufstands im Herbst 1956 immer wagemutiger wurden, schlug das Regime schließlich zurück: Harich und Janka wurden Ende 1956
16 Vgl. zu Bloch und dem Aufbau-Verlag Jahn (Hrsg.): »Ich möchte das meine unter Dach und Fach bringen …«.
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verhaftet und 1957 in getrennten Prozessen gegen die »Harich-Gruppe«17 zu zehn beziehungsweise fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Beim Prozess gegen Harich wurden im Gerichtssaal zudem die Sonntag-Redakteure Gustav Just und Heinz Zöger verhaftet und später verurteilt. Etliche Mitarbeiter wurden zudem im Rahmen des Prozesses verhört, unter Druck gesetzt und, sofern sie SED-Mitglieder waren, von der Parteikontrollkommission gemaßregelt. Einige verließen den Verlag zu anderen Institutionen in der DDR oder flohen in den Westen. Die Chiffre 1956 wuchs zu einem Trauma heran, das sich in die Verlags-DNA einbrannte.18 Einen Schlussstrich unter sein Engagement in der Französischen Straße zog auch der Aufbau-Chefredakteur Uhse: Er ergab sich nach der Verhaftung seines Freundes Janka dem Ritual der Selbstkritik und bat den Kulturbund schließlich um Ablösung. Die Zeitschrift wurde nach einem missglückten Neustart unter der Leitung Rolf Schneiders Anfang 1958 endgültig eingestellt. Als Nachfolger Jankas wurde 1957 Klaus Gysi (1912–1999) eingesetzt, der seine politische Eignung im November 1956 als kommissarischer Leiter des Sonntag bewiesen hatte. Er sollte den Verlag wieder auf Linie bringen. Unterstützt wurde er dabei von zwei ehemaligen Verlagsmitarbeitern, nämlich von der Ex-Parteisekretärin Lucie Pflug, die mittlerweile Leiterin des Sektors Verlage beim ZK der SED war, und von seinem Vorvorgänger Erich Wendt. Zudem sollte Joachim Schreck, vorher in der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED, als neuer Parteisekretär das Lektorat ideologisch festigen. In die Zeit der personellen Neustrukturierung fiel auch der Tod Max Schroeders im Januar 1958.19 Der verlagsgeschichtliche Einschnitt ließ sich bald auch im Programm ablesen. Gysi hatte kurz nach seinem Antritt als Verlagsleiter vor dem Präsidialrat des Kulturbunds verkündet, dass im Fokus der Vertriebsarbeit wieder eine »Grundliteratur« der sozialistischen Klassik um Abusch, Becher, Seghers und Friedrich Wolf stehen müsse, damit die »heutige Generation« nicht mit Modernisten wie Hemingway, Werfel oder Thomas Wolfe aufwachse.20 Das war ein Zugeständnis an die von der SED verkündete Parole von der »sozialistischen Kulturrevolution«, die sich wesentlich auf den sozialistischen Realismus stützen sollte und bei dem die künstlerische Methode mit der Weltanschauung des Autors unmittelbar verbunden war. Die Linie, für die im Aufbau-Verlag die Namen Bloch, Lukács und Mayer standen, wurde nach und nach getilgt. Der schmale Grat, auf dem das Lektorat um den neuen Cheflektor Günter Caspar (1924–1999)21 ab 1957 wanderte, zeigte sich in einer neuen »Experimentalreihe«, die den Namen Die Reihe trug und auf circa 100 Seiten Platz je Band für inhaltlich und genretechnisch Ungewöhnliches bieten
17 Vgl. Kertzscher: Die Verschwörung der Harich-Gruppe. 18 Dass die Verhaftungen und ihre Folgen tatsächlich eine individuell und auch institutionell traumatisierende Dimension hatten, lässt sich auch an den zahlreichen Darstellungen (und Gegendarstellungen) der Betroffenen ablesen, die um 1990 erschienen sind. Vgl. z. B. Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit; Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit und Just: Zeuge in eigener Sache. 19 Vgl. zur Restaurationsphase im Aufbau-Verlag von 1957 bis 1961 Wurm: Der frühe AufbauVerlag, S. 202–221. 20 SBB, IIIA, Dep38, 3212: Vortrag Gysis vor dem Präsidialrats des Kulturbunds, 3. Mai 1957. 21 Zu Caspar, einem der wichtigsten Belletristik-Lektoren der DDR-Geschichte, dessen Selbstbeschreibung in Caspar: Im Umgang, S. 174–205.
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Abb. 2: bb-Taschenbücher im Straßenverkauf, Ende der 1950er Jahre. Foto: Aufbau-Verlag.
sollte. Nachdem in den Jahren 1957 und 1958 zahlreiche geplante Titel zu erheblichen literaturpolitischen Konflikten geführt hatten und einzelne – wie der Gedichtband Echos von Günter Kunert – nicht hatten erscheinen können, wurde ab 1959 vermehrt Betriebsund Landwirtschaftsprosa in der Reihe publiziert, die den kulturpolitischen Forderungen der Bitterfelder Konferenz vom April 1959 entsprach oder die massive Kampagne der SED im Rahmen der Zwangskollektivierung landwirtschaftlicher Betriebe begleitete. In der internen Hierarchie standen sie dennoch weit hinter den sozialistischen Klassikern zurück. 1961 wurde Die Reihe schließlich eingestellt. Stattdessen reüssierte die 1958 ins Leben gerufene Taschenbuchreihe bb, mit der Aufbau Massenauflagen in günstigen Ausgaben an die Leser brachte.22 Ein beachtlicher Verkaufserfolg im Bereich der Gegenwartsliteratur gelang dem Verlag mit dem Roman Die Abenteuer des Werner Holt (1960/ 1963) von Dieter Noll, auch weil der erste Band auf dem Lehrplan der Polytechnischen Oberschule stand. Die klassische Literatur wurde mit der Bibliothek der Weltliteratur gefördert, einem Gemeinschaftsunternehmen verschiedener Verlage, das 1962 mit Kellers Der grüne Heinrich und Fontanes Effi Briest eröffnet wurde und bis 1991 auf 65 Titel bei Aufbau kommen sollte. Rütten & Loening steuerte nach dem Zusammengehen der beiden Verlage 1964 weitere 18 Titel bei. Aufbau war auch im deutsch-deutschen literarischen Feld, in dem um 1960 ein reger Austausch informeller und offizieller Art herrschte, umtriebig.23 Der Mauerbau im August 1961 stellte die geknüpften Beziehungen freilich auf eine harte Probe. So wurde beispielsweise Erwin Strittmatters Wundertäter, den der Frankfurter Verlag S. Fischer in Lizenz genommen und bereits gedruckt hatte, wieder eingestampft. Ein Jahr später kam es zu einer heftigen Kontroverse in den Feuilletons, als der LuchterhandVerlag Das siebte Kreuz von Anna Seghers in Westdeutschland veröffentlichte.24 In der DDR wiederum wurde eine harte Kampagne gegen Günter Grass gefahren, der den
22 Siehe Kapitel 5.3.1.11 Das Taschenbuch (Jane Langforth) in diesem Band.. 23 Zu den deutsch-deutschen literarischen Beziehungen bis 1972 mit vielen Beispielen aus der Aufbau-Verlagsgeschichte siehe Frohn: Literaturaustausch. 24 Vgl. Ulmer: Ein Loch im literarischen Schutzwall.
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Mauerbau in zwei offenen Briefen kritisiert hatte. Noch drei Monate zuvor hatte Strittmatter auf dem V. Schriftstellerkongress dem westdeutschen Autor in einem Akt von Kompetenzüberschreibung die Drucklegung seines Romans Die Blechtrommel in der DDR versprochen, sollte sein Ochsenkutscher einen Westverlag finden.25 Zu einem Abbruch der Beziehungen führte der Mauerbau aber keineswegs. Das Interesse aus Westdeutschland an einer Lizenzausgabe konnte sogar ein wichtiges Argument im Veröffentlichungsprozess sein, wie die langwierige Publikationsgeschichte des umstrittenen Pikaro-Romans Bonifaz von Manfred Bieler zeigte, der 1963 bei Aufbau und bei Luchterhand erschien.
Die »Profilierung« und ihre Folgen Die SED, nach dem Mauerbau auf eine weitere Normierung des Literaturbetriebs bedacht, strukturierte derweil im Zuge einer »Profilierung« das Verlagsfeld um. Um Verlagsbelange programmatischer, ideologischer und wirtschaftlicher Art sollte sich ab dem 1. Januar 1963 eine neue »Superbehörde« kümmern, die Hauptverwaltung (HV) Verlage und Buchhandel, angesiedelt im Ministerium für Kultur. Zeitgleich mit der Gründung der HV wurde Aufbau Komplementär bei der Philipp Reclam jun. KG in Leipzig, einem der verbliebenen Privatverlage in der DDR. Kurz vorher hatte das Politbüro bereits das organisatorische Verhältnis von Verlag und Kulturbund überdacht und die Abführung der Gewinne neu geregelt. Ein gänzlich neuer Aufbau-Verlag entstand dann zum 1. Januar 1964: Im Zuge der Neustrukturierung des Verlagsfelds zog der Verlag Rütten & Loening unters AufbauDach.26 Während Rütten & Loening im Rahmen einer »sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft« formal noch existierte, schluckte Aufbau den Volksverlag aus Weimar einschließlich des Teilunternehmens Arion gleich mit Programm und Namen.27 Aus anderen Häusern kamen Anfang 1964 zudem noch einige Einzelautoren dazu. Vom Parteiverlag Dietz übernahm Aufbau beispielsweise die Pflege des Werks von Louis Fürnberg, F. C. Weiskopf und Martin Andersen Nexö, vom Gewerkschaftsverlag Tribüne kam Hans Marchwitza. Der Zugewinn für das Programm war auch in den anderen Bereichen groß: Rütten & Loening brachte neben einer imposanten Verlagsgeschichte beispielsweise etliche Neuübersetzungen russischer und französischer Klassiker als Erbmasse mit, darunter Werkausgaben von Nikolai Leskow, Lew Tolstoi, Anton Tschechow, Guy de Maupassant, Romain Rolland und Emile Zola. Zudem verantwortete der Verlag zwei einflussreiche literaturwissenschaftliche Reihen, die 1955 von Werner Krauss und Hans Mayer gegründeten Neuen Beiträge zur Literaturwissenschaft sowie die von Hans Kaufmann und Hans-Günther Thalheim herausgegebenen Germanistischen Studien, die 1959 gegründet worden waren. Mit den Weimarer Beiträgen, der Neuen Deutschen Literatur sowie Sinn und Form wurden fortan außerdem die wichtigste literaturwissenschaftliche und die beiden wichtigsten literarischen Zeitschriften der DDR über den AufbauVerlag beziehungsweise Rütten & Loening vertrieben.
25 Vgl. Ulmer: VEB Luchterhand?, S. 397–399. 26 Vgl. zur Verlagsgeschichte des Verlags Rütten & Loening Wurm: 150 Jahre Rütten & Loening. Siehe auch das folgende Kapitel 5.3.1.2 Rütten & Loening (Carsten Wurm) in diesem Band. 27 Siehe auch Kapitel 5.3.1.3 Volksverlag Weimar (Carsten Wurm) in diesem Band.
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Parallel zur verordneten Strukturreform war an einer internen Neugliederung gearbeitet worden, die unter anderem die Lektoratsstruktur des Aufbau-Verlags betraf. Den vier relativ selbstständig arbeitenden Lektoraten Zeitgenössische deutsche Literatur, Deutsches Erbe, Auslandsliteratur sowie Literaturwissenschaft stand der Romanist FritzGeorg Voigt (1925–1995), der seit 1952 zur Aufbau-Belegschaft gehörte, als Cheflektor vor. Sein Vorgänger Günter Caspar übernahm die Leitung des Zeitgenossen-Lektorats, dessen Autorenstamm beispielsweise um die viel gelesene Rütten-Autorin Rosemarie Schuder oder ihren jungen Kollegen Hermann Kant gewachsen war. Das Auslandslektorat leitete Ruth Glatzer (geb. 1928), die mit Rütten & Loening zu Aufbau gekommen war. Der Schroeder-Schüler Jürgen Jahn, ab 1954 im Verlag, stand dem neu gegründeten Lektorat Literaturwissenschaft vor. Das vierte Lektorat in der neuen Struktur, das Lektorat Deutsches Erbe, führte Peter Goldammer. Nachdem Voigt 1966 Klaus Gysi, der von der SED zum Kulturminister ernannt wurde, als Verlagsleiter abgelöst hatte, Glatzer als Cheflektorin nachgerückt war und Helga Wendler die Leitung des Auslandslektorats übernommen hatte, war neben der strukturellen auch die personelle Kontinuität für einige Jahre gesichert. Da die Verlagsmannschaft im Zuge der Profilierung deutlich gewachsen war, musste sich der Verlag auch räumlich erweitern. Werbung, Vertrieb und die Redaktion des Sonntag zogen in die Berliner Niederwallstraße 39. Arbeitsräume gab es auch in Leipzig. Das wichtigste neue Aufbau-Haus war die Zweigstelle in der Weimarer Puschkinstraße, in der ein Teil des Lektorats Deutsches Erbe unterkam. In Weimar, das fortan auch in den Impressen als Verlagsstandort aufgeführt war, konnte Aufbau an die Tradition und das Netzwerk des Volksverlags anknüpfen. Seit 1955 erschien im Volksverlag beispielsweise die Bibliothek deutscher Klassiker (BDK), die von den Nationalen Forschungsund Gedenkstätten unter Leitung Helmut Holtzhauers herausgegeben wurden. Die Reihe mit den populären Leseausgaben von Hans Sachs bis Fontane in hochwertiger Ausstattung war ein Sammelobjekt in der DDR und ein Exportschlager, weil die BDK in der Bundesrepublik kaum oder gar nicht gepflegte Autoren wie Börne, Schubart oder Weerth in sorgsam edierten, günstigen Ausgaben veröffentlichte.28 Besonders im Fokus stand fortan das Lektorat Zeitgenössische deutsche Literatur. Die Debüts der jüngeren Autorengeneration aus der »Sächsischen Dichterschule«29 erschienen zwar überwiegend im Mitteldeutschen Verlag (Braun, Czechowski, Greßmann, Jentzsch, Mickel) und im Verlag Neues Leben (Rainer und Sarah Kirsch), doch pflegte Aufbau durch Anthologien wie Nachricht von den Liebenden (1964) und den Almanach Neue Texte, der 1962 erstmalig erschienen war, den Kontakt zu den Nachwuchsautoren. Vorsichtig agierte das Lektorat zunächst auch im Bereich der jungen Prosa. Politisches Vorzeigeprojekt war die Lizenzausgabe von Max von der Grüns Irrlicht und Feuer, dessen Lesereise durch die DDR im November 1964 zu einem medial begleiteten Großereignis wurde. Ohne langen Vorlauf schob Aufbau noch eine zweite und dritte Auflage
28 Siehe zur Bibliothek deutscher Klassiker: Gärtner: »Bibliothek deutscher Klassiker«; Golz: »Das alte Wahre, faß es an« sowie Kapitel 5.3.1.3 Volksverlag Weimar (Carsten Wurm) in diesem Bd. 29 Der Begriff der »Sächsischen Dichterschule« stammt von Adolf Endler. Vgl. allg. Berendse: Die »Sächsische Dichterschule« sowie Geist: Die wandlose Werkstatt.
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des bundesrepublikanischen Arbeitswelt-Romans nach. Auch der buchclub 65, zum 1. Januar 1965 als Gemeinschaftsprojekt von sechs Verlagen (darunter Aufbau sowie Rütten & Loening) gegründet, nahm den Titel prompt ins Programm. Kurz darauf wurde von der Grüns Roman zum ersten westdeutschen Buch überhaupt, das von der DEFA verfilmt wurde. Die Dortmunder »Gruppe 61«, als deren Vorzeigeautor von der Grün galt, stellte Aufbau auch mit einer aufwändigen Artikelserie im Sonntag und der Anthologie Seilfahrt (1967) vor.30 Im Sommer 1965 feierte der Verlag sein 20. Gründungsjubiläum. Die Gesamtauflage der Publikationen in Buchform war auf 43,6 Mio. Exemplare gewachsen. An der Spitze standen als meistverkaufte Einzeltitel Das siebte Kreuz von Seghers und der jährlich aufgelegte Abreißkalender Jahresweiser durch alte und neue Kunst. Mit über 500.000 Exemplaren wurden außerdem noch Willi Bredels Trilogie Verwandte und Bekannte und Arnold Zweigs Grischa-Zyklus, der aus sechs Titeln bestand, in der Statistik aufgeführt.31 Das Jubiläumsprogramm war beispielhaft für die Aufbau-Philosophie. So war neben repräsentativen Titeln wie dem neuen Seghers-Erzählungsband Die Kraft der Schwachen, einem als Fragment veröffentlichten zweiten Teil von Uhses Patrioten und dem Briefwechsel zwischen Heinrich und Thomas Mann für den Spätherbst Hermann Kants Roman Die Aula im hauseigenen Verlag Rütten & Loening angekündigt, der bis zur Wende auf über 25. Auflagen kommen und auch in der Bundesrepublik mehr als 200.000 Mal verkauft werden sollte. Mit gleich zwei Büchern wagte man sich in der Französischen Straße – ebenfalls unter dem Label Rütten & Loening – an den deutschschwedischen Autor Peter Weiss. Auch von dem westdeutschen Autor Martin Walser erschien nach langen Vorbereitungen ein Band mit drei Stücken. Den größten Coup landete aber das Lektorat für internationale Literatur: Neben Maxim Gorki, Jack London, Martin Anderson Nexö und dem italienischen Kleine-Leute-Chronisten Alberto Moravia erschien nach einer längeren Pause wieder ein Sartre-Buch, Die Wörter, mit Rowohlt-Lizenz – und das ausgerechnet in der Übersetzung von Hans Mayer, der mittlerweile nicht mehr in Leipzig, sondern in Hannover lehrte. Doch wenig später beendete das 11. Plenum des SED-Zentralkomitees, als »Kahlschlag«-Plenum in die Kulturgeschichte eingegangen, die Tauwetterphase in der DDR. Der Aufbau-Verlag stand nicht im Zentrum der Kritik, kam aber auch nicht ungeschoren davon. So musste der Verlagsalmanach Neue Texte mit Gedichten von den Kirschs, Reiner Kunze, Karl Mickel und anderen eingestampft werden. Der Nachfolgeband erschien 1967 erst, nachdem Gedichte von Bernd Jentzsch und Axel Schulze gestrichen worden waren.32 Zudem wurde Fritz Rudolf Fries’ Jazzroman Der Weg nach Oobliadoh nicht im Aufbau-Verlag, sondern 1966 in der Bundesrepublik bei Suhrkamp veröffentlicht. Folgen hatte 1968 auch die Niederschlagung des Prager Frühlings für den Verlag. Die offensichtlichste war die Entlassung des Lektors Schreck, der sich gegen den Ein-
30 Vgl. zur westdeutschen Arbeiterliteratur im Aufbau-Verlag Ulmer: VEB Luchterhand?, S. 115–126. 31 Vgl. die Gratulation im Neuen Deutschland zum 20. Gründungsjubiläum am 16. August 1965 mit dem Glückwunschschreiben des Zentralkomitees und einer Auflistung der erfolgreichsten Bücher des Verlags. 32 Vgl. BArch, DR 1/2089a, Bl. 9: Brief von Voigt an Günther (HV Verlage und Buchhandel), 25. 7. 1967.
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marsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag ausgesprochen hatte, Anfang 1969. Auch in Bezug auf das Programm hatte Schreck vorher für Aufsehen gesorgt, weil er sich vehement für Buchausgaben der jungen Lyriker im Aufbau-Verlag eingesetzt hatte. Während er im Fall von Reiner Kunze damit erfolglos geblieben war, hatte er Karl Mickels Vita nova mea (1966), Sarah Kirschs landaufenthalt (1967) und Kurt Bartschs zugluft (1968) durchgebracht. Unmittelbar nach den Ereignissen in Prag erschien zudem die Anthologie Saison für Lyrik in der Taschenbuchreihe bb, die bald zum Corpus delicti erklärt und auf dem VI. Schriftstellerkongress abgeurteilt wurde. Auf dem Schriftstellerkongress wurden auch einige Prosabände des Aufbau-Verlags namentlich kritisiert, darunter Alfred Wellms Pause für Wanzka, dessen Veröffentlichung Margot Honecker zu verhindern versucht hatte.33 Besonders gefürchtet schienen aber weiterhin die Gedichte zu sein. Zur politischen Buße trat das Lektorat Zeitgenössische deutsche Literatur schließlich 1970 an: Günther Deicke und Uwe Berger, in der ersten Hälfte der 1950er Jahre beide im Schroeder-Lektorat angestellt und seit den Mittfünfzigern mit festhonorierten Verträgen als freie Mitarbeiter ausgestattet, gaben den knapp 400 Seiten starken Band Lyrik der DDR heraus, der nicht nur seinem Titel nach offiziell-repräsentativen Charakter hatte. Die im Westen viel gelesenen Biermann, Huchel und Kunze fehlten.
Konjunktur im deutsch-deutschen Austausch Gewachsen war in der Bundesrepublik um 1970 auch das Interesse an der Prosa aus der DDR, was sich exemplarisch an zwei deutsch-deutschen Publikationsgeschichten nachvollziehen lässt: Derjenigen von Jurek Beckers Jakob der Lügner und derjenigen von Hermann Kants Das Impressum.34 Vor allem Kants Roman erwies sich als eine Art Praxisprobe für die berühmte Sentenz des neuen Ersten Sekretärs Erich Honecker auf dem 4. ZK-Plenum im Dezember 1971, dass es, »[w]enn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, […] auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben« kann.35 Die relative Offenheit für formalästhetische Innovation, die das Statement Honeckers andeutete, versuchte der Aufbau-Verlag unter anderem mit einer neuen Reihe aufzunehmen, der Edition Neue Texte (ENT), die mit ihrem Fokus auf kleine Formen an Die Reihe und mit ihrem Namen an die Almanach-Serie Neue Texte anknüpfte. Mit Lesen und Schreiben erschien in der ENT 1972 das erste Buch von Christa Wolf im Aufbau-Verlag. Für Aufsehen sorgten bald darauf auch zwei Bände von Wolfs Programmkolleginnen, die sich der »Frauenfrage« in der DDR von zwei verschiedenen Seiten näherten: Während Sarah Kirsch mit Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Rekorder (1973) einen großen Beitrag zur Rehabilitierung der – im Westen seit den späten 1960er Jahren äußerst beliebten – Dokumentarliteratur in der DDR leistete, legte Irmtraud Morgner einen fantastischen Montageroman mit dem Titel Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura (1974) vor. Morgners Buch wurde zum größten Schelmenstück in der langen Reihe von Publikationskontroversen im Aufbau-Verlag, weil zwei Texte in den Roman montiert
33 Siehe dazu Wurm: Nachwort in Wellm: Pause für Wanzka, S. 349–365. 34 Vgl. zu den beiden Beispielfällen Ulmer: VEB Luchterhand?, S 146–170. 35 Honecker: Hauptaufgabe, S. 287.
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waren, über deren Erscheinen in selbstständiger Form negativ beschieden worden war.36 Parallel zu der Etablierung einer »weiblichen Literatur« – ab den Mittsiebzigern debütierten beispielsweise Helga Schubert (1975), Christa Müller (1975/79), Helga Königsdorf (1978) und Rosemarie Zeplin (1980) im Aufbau-Verlag – vollzog sich ein Wechsel im Lektorat, das ab 1971 offiziell als Lektorat DDR-Literatur geführt wurde, intern aber weiterhin als Lektorat Zeitgenössische deutsche Literatur lief: Während mit Sigrid Töpelmann (1972) und Angela Drescher (1974) junge Lektorinnen in die Französische Straße kamen, wechselte der altgediente Günter Schubert im Februar 1975 als Cheflektor zum Eulenspiegel Verlag.37 Eine interessante Entwicklung war parallel bei der Veröffentlichung westdeutscher Literatur zu beobachten, von der Aufbau ab 1972 wieder deutlich mehr Lizenzausgaben veröffentlichte als noch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Zunehmend im Fokus standen Autoren, die der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) angehörten oder ihr nahestanden. So erschienen 1974/75 wichtige Bücher von Franz Josef Degenhardt (Zündschnüre), Gerd Fuchs (Beringer und die lange Wut) und Uwe Timm (Heißer Sommer). Günter Herburger wurde mit dem Erzählungsband Nüssen vorgestellt. Martin Walser konnte mit dem Band Fiction. Die Gallistl’sche Krankheit nach zehnjähriger Pause wieder bei Aufbau erscheinen. Hauptverantwortlich für die westdeutsche Literatur war in der Französischen Straße das Verlagsurgestein Annie Voigtländer. Sie betreute neben den Degenhardt- und Wallraff-Titel auch Bücher wie die »Festschrift« Unsere Siemenswelt von F. C. Delius (1974) oder die Werkkreis-Anthologie Hierzulande – heutzutage (1975). Im Windschatten der parteinahen oder parteigebundenen Linken konnte der Verlag auch Autoren wie Peter Härtling publizieren, der mit dem Roman Eine Frau (1976) zum Aufbau-Autor wurde.38
Die Ausbürgerung Biermanns und die Folgen Im November 1976 kam es dann erneut zu einem einschneidenden Ereignis in der Kulturgeschichte der DDR: Die Regierung der DDR entzog dem unbequemen Liedermacher Wolf Biermann nach einem Auftritt in Köln die Staatsbürgerschaft. Historisch bedeutsam war die Ausbürgerung vor allem wegen ihrer Folgen. Noch am Tag der Ausbürgerung, dem 16. November 1976, traf sich eine Gruppe von Schriftstellern im Haus von Stephan Hermlin und verfasste »eingedenk des Wortes aus Marxens ›18. Brumaire‹, dem zufolge
36 Es handelte sich hierbei um Teile des Prosastücks Rumba auf einen Herbst, das 1965 bereits genehmigt worden, dann aber dem Kahlschlag des 11. Plenums zum Opfer gefallen war, sowie die Gute Botschaft der Valeska, die Laura am Begräbnistag der Trobadora aus der Offenbarung liest, von deren Herausnahme das Erscheinen einer seit 1970 umkämpften Anthologie mit Geschlechtertausch-Geschichten abhängig gemacht wurde, die schließlich 1975 mit dem Titel Blitz aus heiterm Himmel (Hrsg. von Edith Anderson) bei Hinstorff veröffentlicht wurde. 37 Einen interessanten Einblick in die Lektoratsarbeit und -struktur bietet ein Interview, das Roland Berbig und Katrin von Boltenstern mit Angela Drescher geführt haben. Vgl. Berbig/ Boltenstern/Drescher: »Wir hatten eigentlich fast nur Quereinsteiger«. 38 Zur Veröffentlichung von Herburger und Härtling vgl. Ulmer: VEB Luchterhand?, S. 192–214.
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die proletarische Revolution sich unablässig selber kritisiert«,39 eine Petition mit der Aufforderung, den Entschluss zu überdenken. Zehn der zwölf prominenten und bestens vernetzten erstunterzeichnenden Autoren – neben Hermlin Sarah Kirsch, Günter Kunert, das Ehepaar Wolf, Franz Fühmann, Jurek Becker, Heiner Müller und Rolf Schneider – hatten bereits Bücher im Aufbau-Verlag veröffentlicht. Über 100 Künstlerinnen und Künstler setzten in den nächsten Tagen ihre Unterschrift unter die Petition, die über die französische Nachrichtenagentur AFP veröffentlicht worden war. Andere – neben Hermann Kant beispielsweise auch Irmtraud Morgner – äußerten ihre Zustimmung zum Entschluss der Regierung. Neben der Spaltung im literarischen Feld hatte die Kontroverse noch zwei weitere Folgen, die mittelbar auch den Aufbau-Verlag betrafen: Erstens reisten etliche Schriftsteller – 1977 beispielsweise Sarah Kirsch, 1979 dann auch Günter Kunert – in die Bundesrepublik aus. Zweitens gingen viele der angehenden Autoren aus der nachkommenden Generation den Loyalitätspakt mit der Staats- und Parteiführung, der für die Aufbau-Generation noch selbstverständlich gewesen war, gar nicht erst ein. In der Französischen Straße wurde das zum Problem, als Franz Fühmann zwei talentierte Lyriker, Frank-Wolf Matthies und Uwe Kolbe, dem Verlag empfahl. Während Matthies vom Lektorat abgelehnt wurde und bei Rowohlt in der Bundesrepublik erschien, veröffentlichte Aufbau Kolbes Gedichtband Hineingeboren, der der Generation der »Hineingeborenen« ihren Namen gab, 1980 nach einer zähen Auseinandersetzung mit der HV Verlage und Buchhandel. Im Lektorat Deutsches Erbe waren zumindest in einem Fall die Nachbeben der Causa Biermann zu spüren. Aufbau musste den Roman Ruhe und Ordnung von Ernst Ottwalt, der als exilierter Kommunist zu Beginn des Großen Terrors in der Sowjetunion verhaftet worden und 1943 in einem Gulag ums Leben gekommen war, einstampfen, weil der westdeutsche Rechteinhaber Andreas W. Mytze als Staatsfeind der DDR galt.40 Mehr Erfolg hatte das Erbe-Lektorat bei anderen weitgehend vergessenen Exil-Autoren, beispielsweise bei Balder Olden, Jo Mihaly oder Hermynia Zur Mühlen. Deutlich problematischer war wiederum die Publikation der November-Tetralogie von Alfred Döblin, die eigentlich zum 100. Geburtstag des Dichters 1978 angedacht war, aber erst 1981 erscheinen konnte. Eine Herkulesaufgabe war auch die dreibändige, über 2.500 Seiten starke Anthologie Deutschsprachige Erzählungen, in der das Weimarer Lektorenduo Konrad Paul und Wulf Kirsten einen Überblick über die Prosa zwischen 1900 und 1945 gab. Die Sammlung eignete sich als Schmuggelort, konnten doch im Schatten des Gesamtkonzepts Autoren wie Bernard von Brentano, Ernst Glaeser, Theodor Plievier und Gustav Regler untergebracht werden. Sie fügten sich – ähnlich wie Döblin – als linke Exilanten zwar eigentlich ins antifaschistische Erbe, das der Aufbau-Verlag für sich beanspruchte, galten aber in der DDR als Renegaten. Durchbrüche gab es in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre auch bei der Literatur des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1976 und 1979 erschienen Fontanes Wanderungen durch
39 Die Petition mit ihren Unterzeichnern ist beispielsweise abgedruckt bei Berbig (Hrsg.): In Sachen Biermann, S. 70–71. 40 Der Druckgenehmigungsvorgang ist überliefert in BArch, DR 1/2113, Bl. 236–249. Vgl. aus Aufbau-Perspektive SBB, IIIA, Dep38, 2395, Bl. 12–13: Begründung und Zielstellung für eine Reise von Koll. Gotthard Erler zu Frau Ilse Bartels, Allgäu/BRD vom 18.–21. Juli 1977.
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die Mark Brandenburg in vier Bänden bei Aufbau, ehe 1987 ein fünfter Band folgte. Für Aufsehen sorgte 1978 auch die vierbändige Kleist-Ausgabe von Siegfried Streller, an der Peter Goldammer, 1975 als Lektoratsleiter von Gotthard Erler (geb. 1933) abgelöst und mittlerweile bei den Forschungs- und Gedenkstätten Weimar tätig, mitgewirkt hatte. Mit einem »Ergänzungsprogramm« in der Bibliothek deutscher Klassiker, die 1974 eigentlich als abgeschlossen deklariert und – abgesehen von Nachauflagen für den Export – eingestellt worden war, stellte der Aufbau-Verlag zudem einige Autoren der Romantik vor. Hervorzuheben ist zudem die Ausgabenvielfalt – vom Lesebuch über die BDK-Ausgaben bis hin zu historisch-kritischen Werkausgaben – mit der das Lektorat Deutsches Erbe die unterschiedlichen Leseinteressen in einer Breite bediente, die in der deutschsprachigen Verlagslandschaft historisch einzigartig ist. Ermöglicht wurde diese Vielfalt durch die enge Zusammenarbeit mit gut ausgestatteten Institutionen wie der Berliner Akademie der Künste und den Weimarer Forschungs- und Gedenkstätten sowie durch die komfortable Personalsituation im eigenen Haus. Etwa 15 Erbe-Lektoren standen in der Regel auf der Gehaltsliste, verstärkt durch einige Lektoratsmitarbeiter. Lektoratseigene Korrektoren übernahmen Vorarbeiten für das acht- bis zehnköpfige hauseigene Korrektorat. In der Weimarer Dependance waren drei eigene Typografen und außerdem eine Redakteurin beschäftigt, die ausschließlich für Anmerkungen zuständig war.
Weltliteratur im politischen Spannungsfeld Das größte Lektorat im Aufbau-Verlag war in den Endsiebzigern das Lektorat Auslandsliteratur. Circa 25 Lektoren betreuten die in vier Fachgebiete, Anglistik, Romanistik I, Romanistik II, Slawistik, aufgeteilte fremdsprachige Literatur. Sie unternahmen zwischen 10 und 15 Dienstreisen pro Jahr, die meisten ins sozialistische Ausland, aber auch »Valutareisen« ins »nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet«.41 Besonders wichtig war diesbezüglich Frankreich, schließlich war Aufbau nicht nur der Verlag der großen französischen Erzähler des 19. Jahrhunderts, von Balzac, Flaubert (bei Rütten & Loening), Maupassant, Stendhal und Zola (ebenfalls bei Rütten & Loening), sondern hatte mit dem Romancier und Castro-Biographen Robert Merle auch einen zeitgenössischen BestsellerAutor aus Frankreich seit 1957 im Programm. Hoch oben auf der internen Agenda stand Mitte der 1970er Jahre die lateinamerikanische Literatur. Ein Jahrzehnt früher hatte Aufbau den Kolumbianer Gabriel García Márquez mit Unter dem Stern des Bösen (1966) und Kein Brief für den Oberst (1968) für den deutschen Sprachraum entdeckt. Der Welterfolg Hundert Jahre Einsamkeit erschien 1975 allerdings mit Lizenz des Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch. Anna Seghers hatte geholfen, einer positiven Lesart der magisch-realistischen Literatur in der DDR den Weg zu ebnen, indem sie João Guimarães Rosas hochkomplexen Roman Grande Sertão im Vorwort der 1969 erschienenen Aufbau-Ausgabe als »[n]euartig für uns, fremd bis zur Wildheit und bis zum Glück« bezeichnet hatte.42
41 Zu den Auslandsreisen der Aufbau-Lektoren SBB, IIIA, Dep38, 415. 42 Zitiert nach Kirsten: Lateinamerikanische Literatur in der DDR, S. 114. In dem Buch finden sich auch zahlreiche Beispiele für den Umgang mit lateinamerikanischer Literatur im AufbauVerlag, die prägenden Autoren und Verlagsakteure.
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Der größte Teil der Publikationen des Auslandslektorats fiel auf die Literatur aus den sozialistischen Bruderstaaten. Auch hier gab es freilich immer wieder Probleme. Vor allem der Umgang mit der polnischen Literatur, repräsentiert durch Jarosław Iwaszkiewicz und Jerzy Andrzejewski, war stets ein Vabanquespiel. Auch der Kontakt ins blockfreie Jugoslawien, in erster Linie durch den Nobelpreisträger Ivo Andrić im Programm präsent, war von der politischen Großwetterlage abhängig. Dass die tschechoslowakische Literatur in den Endsiebzigern etwas weniger Probleme machte, hing vor allem damit zusammen, dass die beiden großen tschechischen Namen im Aufbau-Programm, Karel Čapek und Jaroslav Hašek, als klassische Autoren liefen. An erster Stelle stand im Auslandslektorat freilich die Sowjetunion. Um 1980 waren bereits mehr als 150 Autoren aus der russischen und sowjetischen Literatur bei Aufbau mit Einzelausgaben erschienen, zudem war eine zweistellige Anzahl von Anthologien aufgelegt worden. Vor allem die Klassiker wie Gorki, Dostojewski, Makarenko, Turgenjew, Puschkin, Tolstoi sowie Tschechow und Leskow (bei Rütten & Loening) lagen auch in den verlagsinternen Verkaufsstatistiken weit vorn.43 1977 eröffnete der Verlag schließlich die Taschenbibliothek der Weltliteratur, die bis 1990 als Paperback-Reihe auf schlechtem Papier in großen Auflagen durch die klassische Literatur aller Kontinente führte. Wie wichtig der Verlag die Vermittlung fremdsprachiger Literatur nahm, zeigten auch die 1978 aufgelegten Übersetzerpreise. Unter den fünf Preisträgern des ersten Jahres waren der 1957 im Harich/Janka-Prozess verurteilte Gustav Just und Werner Creutziger. Genau wie ein anderer wichtiger Vermittler im literarischen Feld der DDR, Henryk Bereska, hatte Creutziger in den 1950er Jahren zur Aufbau-Belegschaft gehört und war aus politischen Gründen aus dem Verlag ausgeschieden. Obwohl sich etliche weitere große Autorennamen nennen ließen, die das AufbauAuslandslektorat in die DDR brachte – den »portugiesischen Zola« Eça de Queiroz zum Beispiel –, stand es in der internen Hierarchie hinter dem Zeitgenossen-Lektorat und dem Lektorat Deutsches Erbe zurück. Einer der Gründe dafür war sicherlich, dass Volk und Welt seit der Profilierungsmaßnahme 1964 in der öffentlichen Wahrnehmung als »Fenster zur Welt«44 galt. Ein weiterer Aspekt waren die Titelzahlen. Im Auslandslektorat kamen auf eine Lektoratsstelle in den Mittsiebzigern circa zweieinhalb Titel pro Jahr, darunter einige Ausreißer nach oben. In der Gesamtstatistik standen circa vier Titel pro Lektorenkopf. Dass diese Zahlen auch damit zusammenhingen, dass von Kürzungen in der Papierzuteilung und Einschränkungen bei den Druckereikapazitäten das Auslandslektorat oft am stärksten betroffen war und die Übersetzungsprozesse viel Zeit in Anspruch nahmen, wurde in der Französischen Straße manchmal ausgeblendet.
Publikationskonflikte für die neue Leitung Anfang der 1980er Jahre kam es zu wichtigen personellen Veränderungen im Verlag. 1980 übernahm Ursula Popp die Leitung des Auslandslektorats. 1982 beerbte Sigrid Töpelmann Günter Caspar als Leiterin des Lektorats DDR-Literatur. Im Mai 1983 löste
43 Einen Überblick über die meistverkauften Titel bietet Wurm: Jeden Tag ein Buch, S. 143– 150. 44 Siehe Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt.
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schließlich Elmar Faber (1934–2017), der von Edition Leipzig in die Französische Straße kam, Fritz-Georg Voigt als Verlagsleiter ab. Die Gesundheit Voigts war stark angegriffen, was wohl auch mit seiner Doppelrolle als Verlagsleiter und Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit sowie mit den zahlreichen Publikationskonflikten zusammenhing.45 In den letzten Jahren seiner Amtszeit hatte es beispielsweise zähe Auseinandersetzungen um den dritten Band von Erwin Strittmatters Wundertäter (1980) und das zweite Buch des Newcomers Christoph Hein im Aufbau-Verlag, Der fremde Freund (1982), gegeben. Erst in Fabers Ära konnten Irmtraud Morgners »Hexenroman« Amanda (1983) und Christa Wolfs Kassandra mit den dazugehörigen Voraussetzungen einer Erzählung erscheinen. Wolfs Band, der, im Impressum auf 1983 datiert, Ende Januar 1984 ausgeliefert wurde, sorgte nicht nur literarisch-thematisch für viel Aufregung: Als Ergebnis der langwierigen Verhandlungen zwischen der Autorin, dem Aufbau-Verlag und der HV Verlage respektive dem ZK und dem Politbüro der SED waren zwar einige inkriminierte Passagen gestrichen, aber durch eckige Klammern mit Auslassungspünktchen kenntlich gemacht. Weil die westdeutsche Ausgabe bereits seit einem Dreivierteiljahr auf dem Markt war, ließen sich die zensierten Stellen mit etwas Mühe und den richtigen Kontakten füllen.46 Zu Fabers unmittelbarem Erbe gehörten auch die Konflikte um zwei autobiographische Bücher. Walther Victors Kehre wieder über die Berge war zwar im Spätherbst 1982 neuaufgelegt worden, doch war die Auslieferung im Sommer 1983 von Kurt Hager gestoppt worden. Im Dezember kam nach einer fast dreijährigen Auseinandersetzung schließlich Dialog mit meinem Urenkel von Jürgen Kuczynski zur Auslieferung. Beide Beispiele zeigen, dass der Vorzeigbarkeit der antifaschistischen Vorzeigelebensläufe enge Grenzen gesetzt waren, da die Biographieschreibung den Maximen der marxistisch-leninistischen Historiographie verpflichtet war, nach der die gesetzmäßige Entwicklung der Geschichte die Darstellung bestimmte, nicht das Individuum. Dass die Ergebnisse oft dementsprechend spröde waren, hatte auch das Aufbau-Lektorat mehrfach feststellen müssen. Als Alexander Abusch 1979 den ersten Band seiner Memoiren bei Aufbau hatte unterbringen wollen, lehnte Annie Voigtländer das Manuskript beispielsweise als »sehr nüchtern, sehr unliterarisch«47 ab, sodass Dietz die Parteihagiographie letztlich übernahm. Mit den Autobiographien veränderte sich im Aufbau-Verlag auch der Zugang zum biographischen Roman, was vor allem mit einem Titel zusammenhing: 1985 veröffentliche Aufbau Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz von Sigrid Damm, einer ehemaligen Mitarbeiterin der HV Verlage und Buchhandel. Ein Jahr später folgte Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln von Werner Mittenzwei. 1988 lagen schließlich die ersten Bände der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe Brechts vor, einem Gemeinschaftsprojekt von Aufbau und Suhrkamp.
45 Eine umfassende Untersuchung zum Themenkomplex Aufbau-Verlag/Stasi steht noch aus. Ein Manuskript des langjährigen Aufbau-Lektors Jürgen Jahn zum Thema ist nicht veröffentlicht. Einige Beispiele sind im Standardwerk Joachim Walthers angeschnitten, vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur. 46 Zu Kassandra Ulmer: VEB Luchterhand?, S. 342–359. 47 SBB, IIIA, Dep38, 543, Bl. 15: Notiz zum Gutachten zu Abuschs Memoiren von Annie Voigtländer, 15. 12. 1979.
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Abb. 3: Das Haus in der Französischen Straße, Sitz des Aufbau-Verlages, 1990. Foto: Günter Prust.
Vom historischen Gedächtnis des Verlags zeugten die Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag im Jahr 1985. So hatten auf einer Lesung im Theater im Palast aktuelle AufbauAutoren selbstgewählte Texte von Aufbau-Autoren der Emigrantengeneration gelesen. Auch das Weimarer Nationaltheater wurde mit einer Traditionslesung bespielt. Im neuen Haus der sowjetischen Kultur in Berlin fand eine große Verlagsfeier mit prominenten Gästen statt, die in der Französischen Straße fortgesetzt wurde. Für die Festrede war Stephan Hermlin verantwortlich. Auch das Fernsehen war bei der Feier zu Gast. Anfang September war zudem eine große Ausstellung in der Staatsbibliothek eröffnet worden. Darüber hinaus hatte der Verlag einen Schaufenster-Fotowettbewerb für Buchhandlungen ausgeschrieben. Auch in der Bundesrepublik beteiligten sich zwischen Kiel und Freiburg 25 Buchhandlungen an Lesungen und Diskussionen zum Verlagsjubiläum, 1986 folgte schließlich eine Ausstellung in Köln und eine Bücherschau in Saarbrücken. Begleitend zum Veranstaltungsprogramm waren einige Bücher erschienen, die der Verlagsgeschichte gewidmet waren. Neben einer Reprint-Kassette mit sechs Titeln aus der ersten Produktion 1945 und einer zweibändigen Bibliographie hatte Aufbau mit dem Almanach Das Haus in der Französischen Straße eine erste umfangreiche Verlagsgeschichte vorgelegt. Mittlerweile waren gut 7.000 Titel – darunter 3.900 Erstauflagen – in mehr als 107 Mio. Exemplaren erschienen. Dessen ungeachtet bestanden weiterhin auffällige Lücken im Programm. In einem Interview im Rahmen der Feierlichkeiten hatte Faber die Erschließung marginalisierter
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Perioden und Strömungen gefordert und dabei das Mittelalter, den Expressionismus und den Konstruktivismus genannt.48 Auch Hermlin wies in seiner Rede auf etliche Autoren hin, die man zum aktuellen Verlagsprogramm »hinzuträumen« könne. Er nannte dabei die Namen Lukács, Bloch, Benjamin, Jahnn und vor allem Wolfgang Hilbig.49 Gerade mit der jungen Dichtergeneration tat sich Aufbau allerdings schwer. Die Gespräche des Verlags mit den Herausgebern (Sascha Anderson und Elke Erb) und Autoren der Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung waren 1985 endgültig gescheitert, der Band deswegen beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.50 Systematisch wurden die Dichter, nach ihrem geographischen Zentrum als Autoren des Prenzlauer Bergs getauft, erst ab 1988 mit einer Reihe erschlossen, die den vielsagenden Titel Aubau – Außer der Reihe trug und Dichter wie Bert Papenfuß-Gorek vorstellte. Zum Event wurde das »Lyrikspektakel«, das der Aufbau-Verlag im Dezember 1988 im Berliner Kino Babylon veranstaltete und das mit Non-Stop-Lesungen, experimentellem Film, Modenschau und Musik ein Beispiel für die Verschiebungen im literarischen und im politischen Feld war, in denen die oppositionelle Gegenöffentlichkeit immer mehr Raum gewinnen konnte. Ähnliche Öffnungsprozesse ließen sich bei der sowjetischen Literatur nachvollziehen. Viktor Astafjew lieferte mit Der traurige Detektiv (1988) ein sowjetisches Provinzmosaik, aus dem sich der Niedergang des sozialistischen Mutterlands ablesen ließ. Der Kasache Abdishamil Nurpeissow, seit 1971 Aufbau-Autor, thematisierte in dem Buch Der sterbende See (1988) die Zerstörung des Aralsees. Auf der personellen Seite entsprach die Ablösung der langjährigen Cheflektorin Ruth Glatzer durch Hanns Kristian Schlosser im Jahre 1988 dieser Entwicklung. Schlosser verstarb im folgenden Jahr unerwartet.
Die Wendezeit Der Aufbau-Verlag begleitete die gesellschaftliche Emanzipationsbewegung mit der Reihe Texte zur Zeit, die Anfang 1990 mit Helga Königsdorfs Ein Moment Schönheit eröffnet wurde. Zeitgleich erschien in der Reihe mit Lizenz des Rowohlt-Verlags der Erinnerungsband Walter Jankas mit dem Titel Schwierigkeiten mit der Wahrheit, den der 1956 geschasste Verleger bereits Ende Oktober 1989 im Deutschen Theater vorgestellt hatte. Zur Buchmesse 1990 lud Aufbau Günter Grass, der jahrelang als »die literarische Unperson der DDR«51 gegolten hatte und von dem nun Reden und Gespräche unter dem Titel Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot sowie das »deutsche Trauerspiel« Die Plebejer proben den Aufstand, das 1966 maßgeblich zu seinem Ruf in der DDR beigetragen hatte, veröffentlicht wurden. Bereits 1989 waren eine Prosaauswahl des 1984 verstorbenen Grass-Freunds Uwe Johnson und Der Weg nach Oobliadooh von Fritz Rudolf Fries erschienen. Die Möglichkeit, bisher Undruckbares zu veröffentlichen, wurde auch mit Büchern von Alexander Solschenizyn und Johannes Mario Simmel genutzt. Neben dem Programm wurde Ende 1989/Anfang 1990 auch die Struktur
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SBB, IIIA, Dep38, 493, Bl. 70: Interview Elmar Faber für Der Morgen [ohne Datum]. Hermlin: Rede, S. 12–13. Zur deutsch-deutschen Geschichte der Anthologie Michael: Berührung. Dahn: Ästhetik der Zuständigkeit, S. 9.
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Abb. 4: Reinhard Jirgl, Gerhard Wolf, Elmar Faber, Hanns Kristian Schlosser, Bert PapenfußGorek und Rainer Schedlinski bei der Premiere von Aufbau – Außer der Reihe am 28. Januar 1989 im Berliner Club »Die Wabe«. Foto: Günter Prust.
überdacht: Das Schwesterlabel Rütten & Loening wurde als Marke für bibliophile Ausgaben profiliert, große Werkeditionen sollten fortgeführt und neue geplant werden. Ein Autorenbeirat nach dem Vorbild Luchterhand sollte Mitsprache und ein eigener Taschenbuchverlag Zweitverwertung garantieren. Bis zu dessen Programmstart im Jahr 1991 waren in der bb-Reihe 622 Titel in insgesamt 39,5 Mio. Exemplaren erschienen. Doch auch die Verwerfungen der Wende waren in der Französischen Straße schnell spürbar. Unter den zahlreichen Büchern, die auf den Mülldeponien und in stillgelegten Tagebauen landeten, waren selbstverständlich auch viele des Aufbau-Verlags. Zeitgleich wurde in den westdeutschen Feuilletons ein symbolischer Abgesang auf die DDR angestimmt. Wenige Tage vor dem Erscheinen von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt im Juni 1990 bei Aufbau und – noch als Lizenzausgabe – bei Luchterhand hatten Ulrich Greiner in der Zeit und Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Autorin als privilegierte Staatsdichterin dargestellt, die sich, in Sklavensprache schreibend, Zensur und Selbstzensur unterworfen habe. Wolfram Schütte führte in der Frankfurter Rundschau das Feld der Verteidiger an, in das sich viele Autoren wie Günter Grass, Walter Jens, Lew Kopelew und Adolf Muschg einreihten, die aus dem »Fall Christa Wolf« den deutsch-deutschen Literaturstreit machten, in dem es bald nicht nur um die Autorin, sondern um die politisch engagierte Autorschaft im Allgemeinen ging.
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Auch andere Aufbau-Autorinnen und Autoren waren Streitgegenstand.52 Darüber hinaus traf die Veränderung in der urheberrechtlichen Schutzfrist den Aufbau-Verlag, weil jetzt Titel von Franz Kafka, Joseph Roth und anderen wieder geschützt waren. Der gemeinsame Buchmarkt führte außerdem dazu, dass die Autoren bei neuen Verträgen nicht an ihren Stammverlag im Osten gebunden waren und sich viele für Westverlage entschieden. Das Lektorat Literaturwissenschaft wurde kurzerhand aufgelöst, die Mitarbeiterzahl von 180 auf – zunächst – 120 reduziert. Als kompliziert erwies sich in dieser Zeit die Frage nach der Rechtsform und den Eigentumsverhältnissen. Bereits vor dem Beschluss der Modrow-Regierung über die Gründung einer Treuhandanstalt für die Verwaltung des Volkseigentums am 1. März 1990 hatte Verlagsleiter Faber das Gespräch mit der PDS gesucht, da sich der Kulturbund in Auflösung zu befinden schien. Die SED-Nachfolgepartei bemühte sich daraufhin, Aufbau sowie Rütten & Loening schnellstmöglich in Volkseigentum zu überführen, um seine Fortexistenz zu sichern. Gleichzeitig stattete sie die beiden Verlage auf dem Weg in die Marktwirtschaft mit 9,6 Mio. Mark Anschubkapital aus Parteivermögen aus. Das Ministerium für Kultur stimmte der Überführung in Volkseigentum am 14. März 1990 zu. Während die Presse bereits vom »VEB Aufbau-Verlag« schrieb,53 fügte die PDS nachträglich eine Zusatzklausel ein, die den Kaufpreis im Falle eines Weiterverkaufs festlegen sollte. Die Klausel wiederum akzeptierte das Ministerium nicht. Doch letztlich schien das nur eine Fußnote zu sein: Als die Treuhand zum 1. Juli mit ihrer Arbeit begann, waren unter den circa vier Mio. Menschen, die in den 8.500 ehemals volkseigenen Betrieben arbeiteten, vermeintlich auch diejenigen des Aufbau-Verlags. Geschäftsführer der angeblich umgewandelten Aufbau-Verlag GmbH i. A. waren Elmar Faber, Gotthard Erler und Peter Dempewolf.54 Sie sollten den DDR-Verlagsriesen, der bis dahin circa 4.500 Erstauflagen und gut 125 Mio. Bücher verlegt hatte und sowohl im Bereich der Gegenwartsliteratur als auch im Bereich der Erbeeditionen unzweifelhaft der wichtigste Verlag des untergehenden Staates war, in die Zukunft führen. Der Eröffnungsmonat der GmbH, begleitet von der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der beiden deutschen Staaten zum 1. Juli, erwies sich freilich als Katastrophe. Am Monatsende hatte Aufbau Bücher für 300.000 DM umgesetzt, nachdem es im ersten Halbjahr noch 15 Mio. DDR-Mark gewesen waren. Zur kurzfristigen Rettung trug ausgerechnet das Buch Der Sturz bei, ein Band mit Gesprächen von Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg mit Erich Honecker, der sich nach der Veröffentlichung im Dezember 1990 150.000 Mal verkaufte.
Die Entwicklung ab 1991 Im Oktober 1991 fand die Treuhandanstalt schließlich in einer Gruppe um den Frankfurter Investor Bernd F. Lunkewitz (geb. 1947) einen Käufer für den Aufbau-Verlag und Rütten & Loening. Der Auftakt verlief für den Neuverleger alles andere als konfliktlos: Unmittelbar nach dem Unterzeichnen des Kaufvertrags durchsuchten am 7. Oktober
52 Vgl. Deiritz/Krauss: Der deutsch-deutsche Literaturstreit. 53 Vgl. Hank: »Wir üben uns in Flexibilität«. 54 Vgl. zu den Wendeturbulenzen Wurm: Gestern, S. 135–154.
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1991 Polizei und Justiz das Gebäude in der Französischen Straße 32 und die Privatwohnungen von Faber, Erler und Dempewolf. Äußerer Anlass für die Aktion war, dass die Verlage in der DDR deutlich mehr Exemplare von Lizenztiteln hatten drucken lassen, als vertraglich vereinbart gewesen waren. Mit den »Plusauflagen«, von der HV Verlage und Buchhandel gebilligt, wollte die DDR der notorischen Devisenknappheit entgegenwirken. Betroffen waren auch Rechtserben und im Westen lebende Autoren, mit denen der Verlag direkt Verträge abgeschlossen hatte. Aufbau selbst hatte durch die Plusauflagenpraxis keine finanziellen Vorteile gehabt, weil die Gewinne an den Kulturbund und die SED abgeführt worden waren. Letztlich musste die Treuhand für die Nachzahlungsansprüche der gehörnten Verlage und Autoren bezahlen. Nach dem konfliktreichen Start führte Lunkewitz den Verlag in sein »zweites Leben« und leitete eine notwendige Programm- und Strukturreform ein. Die Unternehmensführung modernisierte Werbung und Vertrieb, stärkte den neu entstandenen Taschenbuchverlag – zunächst als atv, später als atb geführt – und veränderte das Profil des Verlags Rütten & Loening, der fortan als unterhaltungsliterarische Marke aufgebaut wurde. Im Frühjahr 1994 kaufte Lunkewitz zudem noch den Leipziger Gustav Kiepenheuer Verlag hinzu. Wichtige Erfolgstitel der 1990er Jahre waren beispielsweise Victor Klemperers Tagebücher Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1995) und der historische Roman Die Päpstin (1996) von Donna W. Cross, der sich innerhalb kürzester Zeit zum meistverkauften Titel der Verlagsgeschichte entwickelte. Die Mitarbeiterzahl, von 180 auf unter 40 reduziert, wuchs mit dem Programm wieder langsam an. Schwarze Zahlen schrieb die Verlagsgruppe erstmals 1998 wieder. Überschattet wurde die positive Entwicklung des Verlags von einem Rechtsstreit: Nachdem Zweifel aufgekommen waren, ob die Treuhand jemals als rechtmäßige Eigentümerin des Aufbau-Verlags hatte auftreten dürfen, weil der Verlag niemals Eigentum der SED gewesen war und deswegen nicht wirksam in Volkseigentum hatte überführt werden können, kaufte Lunkewitz Aufbau und Rütten & Loening 1995 ein weiteres Mal, dieses Mal vom Kulturbund. Zudem klagte er gegen die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS), als die die Treuhand ab 1995 firmierte, bis ihm der Bundesgerichtshof am 3. März 2008 in einem letztinstanzlichen Urteil Recht gab, dass die Treuhand den Kaufvertrag nicht erfüllt hatte. In der Folge kam es zu Differenzen zwischen Lunkewitz, der auf Schadenersatz pochte und keine weiteren Millionenbeträge zur Verfügung stellen wollte, und der Geschäftsleitung um René Strien und Tom Erben, bis diese am 30. Mai 2008 Insolvenz anmeldete. Zum 1. November 2008 übernahm Matthias Koch als Käufer den Geschäftsbetrieb und zog mit der Verlagsgruppe nach einer Zwischenstation im Mai 2011 in das Aufbau Haus am Moritzplatz.55 Der Verlag setzt weiterhin auf die klassische Aufbau-Literatur der Gründerjahre (zum Beispiel mit Fallada und Feuchtwanger), behandelt im Sachbuch – neben vielen anderen Themen – das ureigene Thema DDR (unter anderem mit Büchern von Wolfgang Engler und Friedrich Schorlemmer), veröffentlicht junge Autoren, die teilweise bei Blumenbar erscheinen, einem 2012 als Imprint übernommenen Independent-Verlag, und verlegt Unterhaltungsliteratur, vorrangig unter dem Label Rütten & Loening. Zu Beginn des Jahres
55 Die Nachwendegeschichte der Verlagsgruppe ist konzise zusammengefasst in Links: Das Schicksal der DDR-Verlage, S. 254–258.
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2019 wurde der Sachbuchverlag Ch. Links Teil der Verlagsgruppe. Damit ist Aufbau – bei allen strukturellen Veränderungen – der letzte Verlagsriese aus dem literarischen Feld der DDR, der in selbstständiger Form überlebt hat.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Bundesarchiv Berlin (BArch) Ministerium für Kultur (DR 1) Kulturbund der DDR (DY 27) Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) Aufbau-Archiv, IIIA, Dep38
Gedruckte Quellen ANDERSON, Edith: Liebe im Exil. Erinnerungen einer amerikanischen Schriftstellerin an das Leben im Berlin der Nachkriegszeit. Berlin: BasisDruck 2007. CASPAR, Günter: Im Umgang. Zwölf Autoren-Konterfeis und eine Paraphrase. Berlin, Weimar: Aufbau 1984. Fünf Jahre. Ein Almanach. Berlin: Aufbau 1950. FABER, Elmar: Verloren im Paradies. Ein Verlegerleben. Berlin: Aufbau 2014. GLATZER, Ruth / ERLER, Gotthard (Hrsg.): Das Haus in der Französischen Straße. 40 Jahre Aufbau-Verlag. Ein Almanach. Berlin, Weimar: Aufbau 1985. FABER, Elmar / WURM, Carsten (Hrsg.): Autoren- und Verlegerbriefe. 1945–1969. 3 Bd. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1990–1992. HANK, Rainer: »Wir üben uns in Flexibilität«. Aus dem Eigentum der SED entlassen, kämpft der VEB Aufbau Verlag um das Überleben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 3. 1990. HERMLIN, Stephan: Rede anläßlich des vierzigjährigen Bestehens des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar gehalten am 25. September 1985. Berlin, Weimar: Aufbau 1985. HOEFT, Klaus-Dieter / STRELLER, Christa: Aufbau-Verlag 1945–1984. Eine Bibliographie. Berlin, Weimar: Aufbau 1985. HONECKER, Erich: Hauptaufgabe umfaßt auch weitere Erhöhung des kulturellen Niveaus. Schlußwort auf der 4. Tagung des ZK der SED, Dezember 1971. In: Gisela Rüß (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Stuttgart: Seewald, 1976, S. 287–288. JANKA, Walter: Buch und Verlag im kommenden Deutschland. [Erstveröffentlichung in »Freies Deutschland«, México, D. F., 4. Jahrgang, Nr. 4, März 1945]. In: Akademie der Künste (Hrsg.): Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Band 4, Kommentare. Berlin, Weimar: Aufbau 1979, S. 440–445. KERTZSCHER, Günter: Die Verschwörung der Harich-Gruppe. In: Neues Deutschland, 10. 3. 1957, S. 2. Schlag ins Gesicht. Harich. In: Der Spiegel, 19. 12. 1956, S. 13–24.
Forschungsliteratur BARCK, Simone / LOKATIS, Siegfried (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt. 2. Auflage. Berlin: Ch. Links 2005. BERBIG, Roland u. a. (Hrsg.): In Sachen Biermann. Berlin: Ch. Links 1994.
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In: Siegfried Lokatis / Theresia Rost / Grit Steuer (Hrsg.): Vom Autor zur Zensurakte. Abenteuer im Leseland DDR. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2014, S. 165–174. ULMER, Konstantin: VEB Luchterhand? Ein Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben. Berlin: Ch. Links 2016. ULMER, Konstantin: Man muss sein Herz an etwas hängen, das es verlohnt. Die Geschichte des Aufbau Verlages 1945–2020. Berlin: Aufbau 2020. WALTHER, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Ch. Links 1996. WIRTH, Günter: Von Aufbau und Sonntag, Aquarianern und Zinnfiguren. Persönliche Marginalien zur Kulturbund-Publizistik. In: Simone Barck u. a. (Hrsg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«. Zeitschriften in der DDR. Berlin: Ch. Links 1999, S. 304–316. WURM, Carsten: 150 Jahre Rütten & Loening. Mehr als eine Verlagsgeschichte. 1844–1994. Berlin: Rütten & Loening 1994. WURM, Carsten: Jeden Tag ein Buch. 50 Jahre Aufbau-Verlag. 1945–1995. Berlin: Aufbau 1995. WURM, Carsten: Nachwort. In: Alfred Wellm: Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar. Leipzig: Faber & Faber 1995, S. 351–365. WURM, Carsten: Der frühe Aufbau-Verlag. 1945–1961. Konzepte und Kontroversen. Wiesbaden: Harrassowitz 1996. WURM, Carsten: Gestern. Heute. Aufbau. 70 Jahre Aufbau Verlag 1945–2015. Berlin: Aufbau Verlag 2015.
Carsten Wurm 5.3.1.2 Rütten & Loening Der Verlag Rütten & Loening gehörte neben dem Verlag Phil. Reclam jun. und dem Hinstorff Verlag zu den ältesten belletristischen Verlagen, die in der DDR ihre Arbeit fortsetzen konnten. 1936 zwangsweise von den letzten jüdischen Eigentümern an einen Potsdamer Verleger verkauft und 1946 enteignet, stand die in Potsdam ansässige Firma zunächst unter Sequesterverwaltung der SMAD, wurde dann 1950 in SED-Eigentum überführt, 1952 liquidiert, nach Berlin verlegt und unter dem Dach des SED-eigenen Verlages Volk und Welt neu gegründet. Hier wurde ein Belletristik-Programm mit den Schwerpunkten Deutsches Erbe, Weltliteratur und zeitgenössische deutsche Literatur sowie ein literatur- und geschichtswissenschaftliches Programm aufgebaut. Von 1957 bis 1960 führte eine gemeinsame Geschäftsleitung Rütten & Loening zusammen mit dem Verlag Das Neue Berlin, während die Lektorate unabhängig voneinander tätig blieben. 1961 wurde Das Neue Berlin mit dem Eulenspiegel Verlag zusammengeschlossen und Rütten & Loening wieder allein fortgesetzt. Im Rahmen der Neuordnung des Verlagswesens Anfang der 1960er Jahre büßte Rütten & Loening dann aber 1964 endgültig seine Selbständigkeit ein. Die Firma blieb zwar erhalten, doch die Belegschaft wurde mit der des Aufbau-Verlages zusammengelegt und das Programm von gemeinsamen Fachlektoraten erarbeitet. Rütten & Loening spezialisierte sich vor allem auf deutsche Klassik und Auslandsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Zur Firmengeschichte bis 1945 Die Literarische Anstalt Rütten & Loening wurde 1844 in Frankfurt am Main von Joseph Rütten und Carl Friedrich Loening als eine Stimme des oppositionellen Bürgertums gegründet.1 Das Unternehmen machte sich schnell einen Namen mit Büchern von liberalen und linken Autoren, darunter Karl Marx, Friedrich Engels und Pierre-Joseph Proudhon, und nahm während der 1848er Revolution für die in Frankfurt tagende Deutsche Nationalversammlung Partei. Nach der Niederschlagung der Revolution mussten etliche Verlagsautoren fliehen, und Loening wurde 1852 der Stadt verwiesen. Die Buchproduktion kam fast ganz zum Erliegen. So hätte sich die Tätigkeit wohl fortan auf das Sortimentsgeschäft beschränkt, wäre nicht ein Buch aus der Anfangszeit zu einem Longseller geworden: der Struwwelpeter (1845) von Heinrich Hoffmann. 1879 übernahm die zweite Generation den Verlag: Heinrich August Oswalt, ein Neffe Joseph Rüttens, und Gottfried Eugen Loening, ein Sohn von Carl Friedrich Loening. Die Firma spezialisierte sich vor allem auf Literaturwissenschaft und wurde ein führendes Haus für die Goethe-Philologie, die sich um das Jahr 1880 etablierte, und entwickelte das heute noch erscheinende Goethe-Jahrbuch. In der dritten Generation führte der Sohn von Oswalt, Wilhelm Ernst Oswalt (1877–1942), das Unternehmen ab der Jahrhundertwende mit einem wiederum
1 Zur Frühgeschichte des Verlages siehe Frommhold: Hundertzehn Jahre Rütten & Loening; Staude: Rütten & Loening: Verlagsgeschichte und Politik; Staude: Der Verlag Rütten & Loening 1936 bis 1950; Wurm: … mehr als eine Verlagsgeschichte. https://doi.org/10.1515/9783110471229-022
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gänzlich geänderten Programm fort. Zeitgenössische Belletristik des In- und Auslandes bestimmte das Bild, vor allem Bücher von russischen und skandinavischen Autoren. Durch Martin Buber (1878–1965), der nicht nur einer der produktivsten Autoren des Hauses wurde, sondern eine Zeitlang vertraglich gebundener Programmberater des Verlages war, hatte der Verlag Anteil an der jüdischen Renaissance des frühen 20. Jahrhunderts. 1913 gewann Oswalt seinen Jugendfreund Adolf Neumann (1878–1953) als Prokuristen und ab 1922 als Teilhaber, der besonders während der Zeit der Weimarer Republik durch neue Marketingmethoden für Erfolge auf dem Buchmarkt sorgte. Mit den Nobelpreisträgern Romain Rolland und Sigrid Undset sowie den deutschen Erfolgsautoren Rudolf G. Binding und Waldemar Bonsels wurde Rütten & Loening eine wichtige Adresse auf dem Buchmarkt der Weimarer Republik. Auf Weisung der Reichsschrifttumskammer mussten Oswalt, zwei weitere Miteigentümer aus seiner Familie und Neumann 1936 den Verlag im Zuge der »Arisierung« des Verlagswesens verkaufen. Für die Summe von 75.000 RM ging der Verlag an den Verleger Dr. Albert Hachfeld (1890–1984),2 der den Firmensitz zum 1. Juni 1936 an seinen Potsdamer Stammplatz verlegte. Ausgenommen aus dem Verkauf wurden die Verlagsrechte und Bestände an den jüdischen und pazifistischen Autoren, wie Micha Josef Bin Gorion, Gustav Landauer, Rolland und Undset. Eine wesentliche Neuerung im Programm war die deutsche Klassik, die in drei erfolgreichen Reihen gebündelt erschien: Trösteinsamkeit. Eine Sammlung deutscher Meistererzählungen, Aus dem ewigen Schatz deutscher Lyrik und Der Zauberspiegel. Eine Sammlung deutscher Romane. Die schmalen Bändchen der Erzähl- und der Lyrikreihe, Pappbändchen im Format der Insel-Bücherei, feierten große Erfolge, namentlich als sie im Auftrag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda als Feldpostausgaben zum Fronteinsatz kamen. Wie andere belletristische Firmen auch erlebte Rütten & Loening mitten im Krieg eine Phase höchster Prosperität und konnte für 1943/44 einen Gewinn von annähernd 2 Mio. RM erzielen. Als die Lichter für die meisten Verlage bereits ausgingen, wurde Rütten & Loening am 26. August 1944 bescheinigt, dass seine Produktion kriegswichtig war und trotz der weitgehenden Stilllegung des Verlagswesens im Zeichen des »totalen Krieges« weitergehen konnte.3
Die Nachkriegsentwicklung (1945–1951) Bald nachdem Potsdam am 27. April 1945 von sowjetischen Truppen besetzt worden war, erging an Albert Hachfeld der Befehl, das Verlagshaus in der Viktoriastraße 54 binnen Stunden zu räumen. Über der repräsentativen Villa mit Vorgarten und Nebengelass prangte in den folgenden Jahren der rote Stern einer sowjetischen Kommandantur. Nachdem sich Hachfeld gerade erst in neuen Räumen eingerichtet hatte, wurden seine Verlage am 3. Oktober 1945 unter Sequesterverwaltung der SMAD in der Berliner Normannenstraße gestellt. Am 28. Dezember 1945 erhielt er von der Provinzialregierung Brandenburg den Bescheid, dass ihm die Fortführung seiner Verlage Bonneß & Hach-
2 Zu Hachfeld und seinen Unternehmen siehe Tripmacker: Verwehte Spuren, S. 76–102. 3 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 92, Bl. 164: Präsident der Reichsschrifttumskammer an Rütten & Loening, 26. 8. 1944.
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feld, Rütten & Loening, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion sowie Artibus et Literis untersagt sei, »weil Sie Parteigenosse waren und Ihre Verlage mit der Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums eng verbunden waren«.4 Am 9. September 1946 wurde Hachfeld dann auf Beschluss der Provinzialregierung entschädigungslos enteignet, endgültig bestätigt am 15. Juli 1948. Ausgenommen blieb der Verlag Bonneß & Hachfeld, weil sein Kampagnon August Bonneß wegen »defaitistischen Reden« hingerichtet worden war und Hachfeld seinen Anteil an der Firma auf die Witwe übertragen hatte. Die problematische Übernahme von Rütten & Loening im Rahmen der »Arisierungs«-Politik des NS-Staates wurde zur Begründung der Enteignung nicht herangezogen. Als kommissarischer Leiter der beschlagnahmten Firmen setzte die Militärverwaltung Ulrich Riemerschmidt (eigentl. Schmidt, 1912–1989) ein, der von 1938 bis 1943 in Berlin einen kleinen Verlag geführt hatte.5 Im Rahmen der Kriegswirtschaft war der auf Belletristik und Kunst spezialisierte Verlag Ulrich Riemerschmidt geschlossen worden, nachdem der Verleger bereits zur Wehrmacht einberufen worden war. Weil er ein Medizinstudium begonnen hatte, war er im Sanitätsdienst beschäftigt gewesen6 und deshalb vermutlich vor einer längeren Kriegsgefangenschaft bewahrt worden. Riemerschmidts Mandat sah anfangs nur die Verwaltung der Verlage vor, nicht die Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebes. Doch er handelte mit der Provinzialverwaltung, die zur Verbreitung ihrer Gesetze und Erlasse den Verlag des Informationsamtes gründen wollte, die Schaffung einer Potsdamer Verlagsgesellschaft GmbH aus, in die er als Treuhänder der Hachfeldschen Firmen deren Rechte einbrachte. Am 31. Oktober 1946 wurde der Vertrag zur Gründung der Potsdamer Verlagsgesellschaft mbH mit den drei »Produktionsgruppen« Rütten & Loening, Athenaion und Verlag des Informationsamtes geschlossen. Das Stammkapital hielten die Landesregierung (19.000 RM) sowie Ulrich Riemerschmidt und Carl Seybold, ein Potsdamer Verlagsbuchhändler (je 500 RM).7 Am 2. November 1946 übertrug Riemerschmidt als Treuhänder der Sequestermasse der alten Gesellschaft die Firmen- und Titelrechte von Athenaion und Rütten & Loening für die Dauer von zehn Jahren und den Betrag von 10.000 RM an die neue Gesellschaft. Zusätzlich sollte der Treuhandmasse für wiederaufgelegte alte Titel eine Lizenzgebühr von 2 % des abgesetzten Buches gutgeschrieben werden. Am 19. Dezember 1946 erteilte die SMAD auf einer Festsitzung des Kulturellen Beirates der Potsdamer Verlagsgesellschaft die Lizenz Nr. 120.8 Die Firmen hatten ihren Sitz in der Lennéstraße 9 unweit von
4 Alle Daten zur Eigentumsentwicklung bis 1957 siehe SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 90, Bl. 4–63: Irene Gysi: Angaben über die Entwicklung des Verlages Rütten & Loening, ca. 1956; Nr. 91, Bl. 84–91: Ingeborg Gentz: Bericht über die Rechtsverhältnisse des Verlages Rütten & Loening, 21. 9. 1956. 5 Altenhein: Kunst-Dienst statt Kriegsdienst. 6 Vgl. den Lebenslauf für die SMAD: SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 92, Bl. 195: Ulrich Rimeršmidt: Avtobiografija, 9. 6. 1946. 7 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 85, Bl. 11–14: Urkunde Nr. 6/1946 [Gründung der Potsdamer Verlagsgesellschaft m.g.H.], 31. 10. 1946: Irene Gysi: Angaben über die Entwicklung des Verlages Rütten & Loening, S. 2–4. 8 Ludwig Koven: Verleger-Tagung am 19. Dezember 1946 in Berlin. In: Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 2/1947, S. 13; Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 203, 277.
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Schloss Sanssouci, später in der Seestraße 43 nahe dem Heiligen See. Die drei Produktionsgruppen zusammen hatten 30 Mitarbeiter.9 In einem Rundschreiben verkündete Riemerschmidt die Pläne: Die Produktionsgruppe Rütten & Loening beabsichtigt, neben der besonderen Pflege des Kinder- und Jugendbuches seine grossen Lyrik-, Novellen- und Romanreihen, auf die Weltliteratur hin ausgedehnt, fortzusetzen. In Wahrung seiner mehr als hundertjährigen Tradition, die in den letzten Jahrzehnten unter anderem eng mit den Namen Roman Rolland und Sigrid Undset verknüpft gewesen ist, wird er sich mit eigener Sorgfalt dem schöngeistigen Schrifttum der Gegenwart widmen. Die ersten neuen Veröffentlichungen befinden sich in Herstel10 lung, mit ihrem Erscheinen ist demnächst zu rechnen.
Rund 80 Titel wollte der Verlag im Jahr 1947 drucken, doch tatsächlich sind auf Grund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Zeit deutlich weniger publiziert worden. Nachzuweisen sind 13 Titel, davon vier Neuerscheinungen von Anatole France, Nikolai Gogol, Alexander Puschkin und Iwan Turgenjew. Für 1948 weist der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek 20, teils zweibändige Titel aus, für 1949 zwölf Titel sowie den ersten Jahrgang der neu gegründeten Zeitschrift Sinn und Form. Die von Johannes R. Becher und Paul Wiegler begründete und von Peter Huchel redigierte Zweimonatsschrift, die ab 1950 von der Deutschen Akademie der Künste herausgegeben und finanziert wurde,11 entwickelte sich zum langlebigsten Verlagsobjekt und hielt den Namen von Rütten & Loening bis zum Verlagswechsel 1993 nachhaltig in Ost und West im Gespräch. Die Reputation der Zeitschrift brachte den Verlag in Kontakt zu einer Fülle von Autoren, wie Erich Arendt, Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Werner Krauss, Hans Mayer, Ernst Niekisch und Arnold Zweig, von denen sich ab 1949 Bücher in dessen Programm wiederfanden. Außerdem begann der Verlag 1950 kurzzeitig wieder mit Kinder- und Jugendliteratur, vorwiegend illustrierte Ausgaben von Märchen der Brüder Grimm und Wilhelm Hauffs. Daneben gab es eine rege Tätigkeit zur Verwertung halbfertiger Kriegsproduktion. Bei der Buchbinderei Pustet in Regensburg waren bspw. 1946 Rohbögen kompletter Auflagen von neun Titeln aus den Reihen Trösteinsamkeit und Aus dem ewigen Schatz deutscher Lyrik vorhanden. Sie wurden aufgebunden und ohne Jahresangabe auf den Markt gebracht, wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, um die sonst notwendige Zensur zu umgehen. So konnten die 13 Mitarbeiter der Produktionsgruppe Rütten & Loening 1948 20 Titel fertigstellen und einen Gewinn von 29.500 RM erzielen.12 Das neue Kapitel in der Verlagsgeschichte begann also hauptsächlich mit der Verwertung alter Rohbögen. Im Zuge der Gründung der DDR und der Abtretung von Besatzungsrechten der SMAD an die SED-Regierung im Herbst 1949 hob die SMAD die Sequesterverwaltung
9 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 92: Protokoll der Gesellschafterversammlung vom 30. Juni 1947. 10 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 92, Bl. 142: Ulrich Riemerschmidt, Rundschreiben, o. D. [ca. 1947]. 11 Schoor: Das geheime Journal, S. 69–70. 12 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 92, Bl. 12–32: Wirtschaftsprüfbericht für das Jahr 1948. – Die Potsdamer Verlagsgesellschaft hatte 1948 insgesamt 36 Mitarbeiter.
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über die enteignete Firma Rütten & Loening auf und übergab sie mit Wirkung vom 1. Januar 1949 »der Brandenburgischen Grundstücks- und Vermögensverwaltung, Potsdam, als Eigentum des Volkes zur Verwaltung und Nutznießung«.13 Nach Verhandlungen zwischen der Hauptabteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe beim ZK der SED, der brandenburgischen Landesleitung der SED und der Landesregierung Brandenburg wurde die Sequestermasse von Rütten & Loening und Athenaion sowie auch die neugegründete Potsdamer Verlagsgesellschaft in SED-Eigentum überführt. Unter der Kontrolle der SED-eigenen Zentrag gründeten am 3. April 1950 drei führende Potsdamer Genossen aus dem brandenburgischen Ministerium für Volksbildung, Margarethe Lehmann, Arno Hausmann und der Minister für Volksbildung Fritz Rücker selbst, als Treuhänder eine Rütten & Loening GmbH. Riemerschmidt wurde wiederum zum Geschäftsführer bestimmt.14 Bei der Abtretung zum Nachteil des Landes Brandenburg wurde keine Kaufsumme gezahlt. Unberücksichtigt blieben dabei die Ansprüche der ehemaligen jüdischen Eigentümer Adolf Neumann, der das Exil in Norwegen überlebt hatte, und Heinrich Oswalt, Sohn und Erbe des im KZ Sachsenhausen ermordeten Wilhelm Ernst Oswalt. Riemerschmidt stand mit Neumann in Verbindung, weil die Alteigentümer im Rahmen der »Arisierung« 1936 im Besitz der Rechte aller für Hachfeld in Nazideutschland uninteressanten linken und jüdischen Autoren geblieben waren, darunter die Nobelpreisträger Romain Rolland und Sigrid Undset, auf die Riemerschmidt beim Neubeginn Wert legte. Eine Rückgabe der Firma wurde entsprechend der Rechtsauffassung in der DDR und der betriebenen antikapitalistischen Enteignungspolitik der SED nicht diskutiert. Doch Riemerschmidt einigte sich mit Hanns Neumann, dem Sohn von Adolf Neumann, auf die Gründung einer zweiten Rütten & Loening Verlags GmbH, die am 19. Juni 1950 in Frankfurt am Main notariell beglaubigt wurde: 50 % der Anteile hielt die Potsdamer Verlagsgesellschaft Produktionsgruppe Rütten & Loening Potsdam, 50 % Hanns Neumann.15 Das geschah allem Anschein nach ohne Wissen der SED-Gesellschafter. Am 20. Dezember 1950 trat Riemerschmidt dann die Potsdamer Anteile notariell an Hanns Neumann ab und setzte sich zwischen den Festtagen am Ende des Jahres mit verschiedenen Produktionsunterlagen auf einem Lastwagen in den Westen ab.16 Doch zum vorgesehenen Eintritt Riemerschmidts in die Frankfurter GmbH kam es nicht, weil er sich bald mit Hanns Neumann und dessen Vater Adolf Neumann überwarf.17 Die Frankfurter GmbH wurde zur Keimzelle des westdeutschen Verlages Rütten & Loening, den die Familie Neumann jedoch auf Grund geschäftlichen Misserfolgs bald abgeben
13 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 91, Bl. 84–91: Ingeborg Gentz: Bericht über die Rechtsverhältnisse des Verlages Rütten & Loening, 21. 9. 1956, S. 6. 14 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 90, Bl. 4–63: Irene Gysi: Angaben über die Entwicklung des Verlages Rütten & Loening, S. 4. 15 Staude: Rütten & Loening: Verlagsgeschichte, S. 98. 16 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 90, Bl. 4–63: Irene Gysi: Angaben über die Entwicklung des Verlages Rütten & Loening, S. 21–22. 17 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 93: Adolf Neumann an Rütten & Loening, 18. 7. 1951. Riemerschmidt blieb in der Branche, war u. a. bei Holle, Ullstein und Ellermann tätig; Hartmut Panskus: Ein Leben für und mit Büchern. Börsenblatt (Frankfurter Ausgabe), 19. 9. 1987, S. 2271.
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musste. Er ging durch verschiedene Hände, bis er im April 1960 vom BertelsmannKonzern gekauft wurde und in Hamburg, später in München unter leicht geänderter Schreibweise, Rütten + Loening, mit Karl Ludwig Leonhardt (1922–2007) und Ivo Frenzel (1924–2014) als Verlagsleiter eine kurze Zeit der Blüte erlebte.18 Bertelsmann verkaufte die Firma zum 1. Januar 1968 ohne Titelrechte an den Scherz Verlag, Bern und München, der den Verlag unter dem Namen Rütten + Loening in der Scherz Gruppe noch rund zwei Jahre fortführte, den Geschäftsbetrieb dann beendete und die Firma 1992 im Handelsregister löschen ließ.19 Den Misserfolg der Familie Neumann mit dem Neustart des Verlages in Frankfurt am Main hatte nicht zuletzt die Entscheidung des Wiedergutmachungsamtes Berlin (West) vom 1. April 1951 verursacht, nach der der Verlagsverkauf von 1936 rechtmäßig gewesen sei, weil eine Verkaufssumme geflossen war. Dementsprechend erhielten die Alteigentümer keine Entschädigung für das erlittene Unrecht, und der Vertrag von 1936 blieb wirksam. Hanns Neumann musste sich mit Albert Hachfeld, dessen Enteignung außerhalb des Territoriums der DDR nicht rechtswirksam war, über die Rechte an Rütten & Loening einigen. Schon am 9. September 1952 meldete Neumann Konkurs an.20 Hachfeld konzentrierte sich auf die Wiederbelebung von Athenaion in Konstanz und später in Frankfurt am Main. Wie aus dieser firmengeschichtlichen Entwicklung ersichtlich, war die Lage bei Rütten & Loening besonders kompliziert. Analog zu anderen Parallelverlagen wurden auch in diesem Fall die Gerichte bemüht. Bertelsmann untersagte Rütten & Loening Ost die Führung des Firmennamens in der Bundesrepublik und bekam dafür vor dem Landgericht Bielefeld, 2. Kammer für Handelssachen, und dem Oberlandesgericht Hamm in Westfalen am 1. März 1962 bzw. am 9. Oktober d.J. in zwei Instanzen Recht. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die Enteignung von Hachfeld durch die SMAD rechtswidrig war und dieser daher 1951 das Firmenrecht an die Vorgänger der Hamburger Firma übertragen konnte.21 Nicht bestritten wurde allerdings von Bertelsmann, dass die Berliner Firma unter dem Namen in der DDR agieren und ihre Titel in Lizenz in der Bundesrepublik erscheinen lassen konnte. So kam es schon kurze Zeit später zwischen den beiden namensgleichen Verlagen zum Austausch von Lizenzen und 1966 zu einem aufsehenerregenden gemeinsamen Auftritt der Verlage und ihrer Autoren Christian Geissler und Hermann Kant im Rahmen der Frankfurter Buchmesse. Ab 1967 erhob München gegen Messeauftritte von Rütten & Loening Berlin »keinerlei Einwände«22 mehr. 18 Körner: Gütersloh, Globke, Gala. 19 Staude: Rütten & Loening: Verlagsgeschichte, S. 104–110. 20 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 99, Bl. 129–144: Urteil des Landgerichts Bielefeld, 2. Kammer für Handelssachen vom 13. 3. 1962, S. 3. 21 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 99, Bl. 129–144: Urteil des Landgerichts Bielefeld, 2. Kammer für Handelssachen, im Rechtsstreit Rütten & Loening Hamburg gegen Rütten & Loening Berlin vom 1. 3. 1962; Bl. 30–39: Urteil des Oberlandesgerichts Hamm in Westfalen im Rechtsstreit Rütten & Loening Hamburg gegen Rütten & Loening Berlin vom 9. 10. 1962. 22 SBB-PK, Aufbau-Verlag, Nr. 402, Bl. 115: Rütten + Loening München/Ivo Frenzel an Rütten & Loening Berlin, 24. 4. 1967; Frohn: Literaturaustausch, S. 258–259. Siehe auch den Bericht mit Fotos von Harry Fauth: Bedarf ist groß, aber 4 von 5 wissen nicht Bescheid. In: Börsenblatt (Leipzig) 133 (1966) 34 (25. 10.).
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Mit Riemerschmidts Flucht geriet die Potsdamer Firma in eine Schieflage. Der neu berufene Verlagsleiter Walter Gerull (1898–1978), bislang Lektor im Verlag, hatte eine wenig glückliche Hand und wurde nach wenigen Monaten entlassen. Der Cheflektor Werner Wilk (1900–1970) setzte sich 1951 ebenso wie jener in den Westen ab, vor allem, weil er nach einer scharfen Debatte um seinen Roman Wesenholz (Rütten & Loening 1949) für seine Schriftstellerkarriere in der DDR keine Zukunft sah.
Unter dem Dach von Volk und Welt (1952–1963) Angesichts der geschäftlichen Schwierigkeiten beschloss die Zentrag die Liquidation von Rütten & Loening zum 13. April 1951, ebenso von der angesehenen Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion und der Potsdamer Verlagsgesellschaft. Die Vermögenswerte von Rütten & Loening wurden am 22. März 1952 auf den SED-eigenen Berliner Verlag Volk und Welt übertragen. Am 24. März 1952 gründete dieser auf Initiative von Hans Holm, dem zuständigen Zentrag-Abteilungsleiter, in der Regie von Bruno Peterson, dem Verlagsleiter von Volk und Welt, einen neuen Verlag Rütten & Loening, der von Volk und Welt alle Rechte der alten Firma übernahm. Die Gesellschafter waren Eva Manske-Krausz, Kurt Lemmer sowie die Volk und Welt GmbH.23 Der Verlag mit Sitz in der Taubenstraße 1–2, dem Gebäude von Volk und Welt, wurde im Auftrag der SED von dem 1952 neu gegründeten Druckerei- und Verlagskontor geführt, in die Planwirtschaft integriert und vom Amt für Literatur ideologisch angeleitet und zensiert. Bei der Entscheidung für die Fortführung der Firma spielte eine wichtige Rolle, dass im Vormärz zu den Autoren von Rütten & Loening Karl Marx und Friedrich Engels gehört hatten.24 Der Originalverlag der Begründer des Marxismus sollte erhalten bleiben. Zum MarxJahr 1953 druckte Rütten & Loening ein Reprint des rettenden Buchs, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik von Marx und Engels, schön in Halbleder gebunden – geeignet als repräsentatives Geschenk. 1957 wurde Rütten & Loening mit dem ebenfalls SED-eigenen Verlag Das Neue Berlin zusammengeschlossen und von einer gemeinsamen Leitung geführt.25 Die Programme wurden aber von separaten Lektoraten erarbeitet. 1961 löste die SED Das Neue Berlin wieder heraus, um den Verlag mit dem Eulenspiegel Verlag zu verschmelzen und das neue Unternehmen zur wichtigsten Adresse für Unterhaltungsliteratur zu machen. Die Verlagsleitung lag von 1951 bis 1956 in den Händen von Irene Gysi (1912– 2007), einer der wenigen Frauen, die in der Frühzeit des DDR-Verlagswesens eine Lei-
23 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 91, Bl. 2–7: Urkunde 303 von Ingeburg Gentz [Gründung des Verlages Rütten & Loening G.m.b.H,], 24. 3. 1953; SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 91, Bl. 84–91: Ingeborg Gentz: Bericht über die Rechtsverhältnisse des Verlages Rütten & Loening, 21. 9. 1956, S. 5. Zur Nachkriegsgeschichte des Verlages siehe auch Staude: Rütten & Loening nach 1945 und Wurm: … mehr als eine Verlagsgeschichte. 24 Gespräch mit Irene Gysi 1994; siehe auch die Gratulation von Walter Ulbricht, ZK der SED, zum 110-jährigen Bestehen des Verlages (Neues Deutschland, 10. 12. 1954). Darin ist fast nur von Marx und Engels die Rede: »Der Verlag ›Rütten & Loening‹ kann stolz darauf sein, dass seine früheste Tätigkeit mit dem Namen der größten Denker unserer Nation Karl Marx und Friedrich Engels besonders eng verknüpft ist.« 25 Siehe Kapitel 5.3.1.9 Verlag Das Neue Berlin (Sabine Theiß) in diesem Band.
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tungsfunktion ausübten. Sie stammte aus einer Unternehmerfamilie mit jüdischen Wurzeln, war mit dem Kulturbund-Funktionär und späteren Leiter des Aufbau-Verlages Klaus Gysi verheiratet und hatte bereits für kurze Zeit, von 1949 bis 1951, die Leitung des Verlages Kultur und Fortschritt innegehabt, bis sie während einer Kampagne gegen Westemigranten vorübergehend von allen Leitungsfunktionen entbunden worden war.26 Der großen Tradition schnell bewusst, richtete Gysi 1954 das ungewöhnliche Jubiläum des 110-jährigen Verlagsbestehens aus – mit einer Verlagschronik und einer Festsitzung, auf welcher der Leipziger Germanist Hans Mayer die Rede hielt.27 Zum Cheflektor für Belletristik wurde Wolfgang Richter (1916–1998) bestimmt, ein Berliner Buchhändler, der in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung gelernt hatte, zum »Widerstands«-Kreis um Ernst Niekisch bis zu dessen Verhaftung 1937 gehört hatte und zuletzt Lektor bei Volk und Welt gewesen war.28 Zum Cheflektor für Geschichte wurde 1954 der junge Historiker Ernst-Ulrich Kloock (1929–2003) berufen, nachdem der Verlag einige Jahre aus Mangel an marxistischen Kadern die Lektoratsarbeit mit »parteilosen Bürgern«29 zu bewältigen versucht hatte, wie das Amt für Literatur bemängelte. Trotz der Berufung auf die Tradition kam die Ausrichtung des Verlagsprogramms einer Neugründung nahe, weil die meisten alten Autoren und Reihen nicht mehr zur kulturpolitischen Linie passten. Selbst ein Sozialist wie Gustav Landauer hatte keinen Platz mehr im Konzept. Seine 1948 neuaufgelegten zweibändigen Ausgaben Shakespeare und Briefe aus der Französischen Revolution wurde aus dem Vertrieb genommen. Das neue Programm ruhte auf zwei Säulen: Belletristik mit angeschlossener Literaturwissenschaft sowie Geschichte und Archivwissenschaft, die von zwei eigenständigen Lektoraten entwickelt wurden. Daneben führte der Verlag vier wissenschaftliche Zeitschriften: Sinn und Form (bei Rütten: 1949–1993), Zeitschrift für romanische Philologie (1961–1990), Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (1953–1963) und Deutsche Außenpolitik (1956–1963). Die von Riemerschmidt eingeleitete Rückbesinnung auf das Verlagsprogramm der Weimarer Republik wurde beendet, die Belletristik stattdessen vor allem auf deutsches Erbe und klassische Weltliteratur spezialisiert. Diese Neuausrichtungen entsprach den Prioritäten der SED-Kulturpolitik, die in der Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik nach eigenen nationalen Traditionen suchte, einen militanten Patriotismus vertrat und mit der Begründung der Kasernierten Volkspolizei (KVP) im Jahr 1952 eine schleichende Aufrüstungspolitik betrieb. Das schlug sich im Verlagsprogramm der 1950er Jahre sichtbar nieder. So verlegte Rütten & Loening zahlreiche Bücher, die mit dem Bauernkrieg von 1525, den antinapoleonischen Kriegen von 1812/13 sowie der Revolution von 1848/49 in Zusammenhang standen, zumeist von Autoren des 19. Jahrhunderts wie Willibald Alexis, Ernst Dronke und Robert Schweichel. Selbst der Romantiker Lenau wurde mit einer Auswahl unter dem pathetischen Titel Rebell in dunkler Nacht (1952)
26 BArch, DY 30/J IV 2/3A/ 203: Arbeitsprotokoll des Sekretariats vom 2. 8. 1951: Parteistrafe für Irene Gysi. 27 Frommhold: Hundertzehn Jahre Rütten & Loening; Mayer: Verlagsgeschichte als Literaturgeschichte. 28 Wurm: Leser und Verleger. 29 DR 1/5363, Druckgenehmigungen Rütten & Loening 1954, Bl. 19: [Aussprache im Verlag Rütten & Loening zum Fall Lissagaray, Ende Oktober 1954].
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in diese Nähe gerückt. In der Biographien-Reihe Große Patrioten, die in Abstimmung mit der Propaganda-Abteilung der KVP begründet und von dieser teilweise für den internen Vertrieb übernommen wurde,30 erzählten zeitgenössische Autoren vom Leben und den Taten vorbildlicher deutscher Persönlichkeiten wie den preußischen Militärs Gebhard Leberecht von Blücher und Ferdinand von Schill, den Dichtern Ulrich von Hutten und Theodor Körner sowie den Ärzten Paracelsus und Robert Koch. Von anderer Qualität waren die Erinnerungen von Heinrich Vogeler (1952), die von Erich Weinert aus dem Exil mitgebracht und kurz vor seinem Tod herausgegeben wurden. Aus dem Blickwinkel des Verlages interessierte daran allerdings nicht so sehr die Darstellung von Vogelers künstlerischer Hoch-Zeit in Worpswede als vielmehr seine Entwicklung hin zu einem Parteigänger des Kommunismus. Ebenso wie beim deutschen Erbe konzentrierte sich der Verlag bei der Weltliteratur auf das 19. Jahrhundert, brachte allerdings mit den früheren Stammautoren Sigrid Undset und Romain Rolland zwei bedeutende Autoren des 20. Jahrhunderts neu heraus. Von Rolland publizierte Rütten in den Jahren 1950 bis 1957 Gesammelte Werke in Einzelausgaben, ab 1958 dann eine überarbeitete Fassung in völlig neuer Gestaltung. Diese beiden Werkausgaben sollten die einzigen von Rolland auf dem deutschen Buchmarkt bleiben. Die wichtigsten Autoren waren ansonsten Charles Dickens und William Thackeray, Stendhal, Guy de Maupassant und Émile Zola sowie Anton Tschechow und Lew Tolstoi. Bis auf Dickens und Thackeray, denen sich der Verlag erst später zuwandte, wurden von diesen Autoren in den 1950er Jahren Werkausgaben begonnen, die allerdings entgegen späteren Gepflogenheiten größtenteils auf alten Übersetzungen beruhten und nur mit knapper, zumeist ideologisch eingefärbter Kommentierung versehen waren. Deshalb ersetzte der Verlag die meisten dieser frühen Sammlungen ab den 1960er Jahren durch neue, bessere Editionen. Einen guten Eindruck von den Intentionen des Programms bieten die Reihen Historische Romane und Romane der Weltliteraturen (RdW), die beide für ein großes Publikum gedacht waren. Die Historischen Romane griffen zurück auf die bewährten Klassiker des Genres wie den Schotten Walter Scott und den »Märker« Willibald Alexis und boten vor allem mit Erkundungen in der russischen Literatur Neues. Publiziert wurden etwa ein Roman über den Kosakenaufstand unter Führung von Stepan Rasin (Stepan Slobin: Der Adler vom Don, 1954) und ein anderer über Iwan den Schrecklichen (Walentin Kostyljow: Iwan Grosny, 1953). Die Reihe Romane der Weltliteratur (1951–1958), die von Rütten & Loening zusammen mit Volk und Welt und dem Aufbau-Verlag herausgegeben wurde, war eine Antwort des DDR-Verlagswesens auf die zunehmende Ausbreitung der Unterhaltsliteratur, das Entstehen des neuen Taschenbuchmarktes in der Bundesrepublik und die sich dort stark ausbreitenden Buchklubs. Die billigen Taschenbuchausgaben drangen bspw. über die offene Berliner Grenze in die DDR und wurden von den Behörden meist undifferenziert als Schund und Schmutz-Literatur verfolgt. Die Romane der Weltliteratur sollten die Leser in solider Ausstattung, d. h. gebunden und mit Umschlag, zu günstigen Preisen mit literarisch wertvollen Werken unterhalten. Rütten & Loening war etwa mit Hauptwerken von Balzac, Stendhal und Voltaire, Goethe und Raabe, Dickens und Tolstoi
30 Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 269.
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beteiligt. Allerdings erreichten die Bände längst nicht die Breitenwirkung wie die Taschenbuchreihen, die mit ein paar Jahren Verzögerung dann doch in der DDR begründeten wurden, nach einem Vorreiter im Verlag der Nation ab 1958 auch beim lange Zeit zögernden Aufbau-Verlag. Die Romane der Weltliteratur, Leinenbände mit rein typographisch gestalteten Umschlägen, waren im Vergleich deutlich zu traditionalistisch und optisch zu gleichförmig ausgestattet. Die Preise von ca. 5 bis 9 M fielen zudem entschieden höher aus als die der Taschenbuchausgaben vom Verlag der Nation und dem Aufbau-Verlag.31 Als 1962 eine neue Reihe mit nicht zufällig ähnlichem Titel, die Bibliothek der Weltliteratur, begründet wurde, stand nicht mehr die Konkurrenz zu Taschenbuchund Buchklubausgaben im Zentrum, sondern die Absicht, einem großen Publikum wesentliche Werke aus allen Literaturen der Welt anzubieten. Das Gemeinschaftswerk von Rütten & Loening, Volk und Welt, Aufbau sowie anfangs auch von Reclam und dem Volksverlag Weimar, das bis zum Ende der DDR bestand, umfasste Meisterwerke von den Anfängen der Literatur bis zum 20. Jahrhundert, die mit einem fundierten, aber breitenwirksam gehaltenen Kommentar versehen waren, und schloss neben Romanen auch Erzählungen, Dramen und Dichtungen ein. Eine Langzeitwirkung entfalteten die Bemühungen des Verlages um das illustrierte Buch. Die Verlagsleitung hatte dabei in Bruno Kaiser und Werner Klemke zwei einflussreiche Berater an der Seite. Der eine war Bibliotheksleiter und ein bedeutender Herausgeber von Literatur des 19. Jahrhunderts, der andere Dozent, dann Professor an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und produktiver Buchillustrator. Beide traten als Buchsammler hervor, die 1956 gemeinsam mit dem Cheflektor Wolfgang Richter und anderen einflussreichen Büchermachern die Bibliophilenvereinigung der DDR, die Pirckheimer-Gesellschaft, ins Leben riefen und in der Jury des 1952/53 begründeten Wettbewerbs »Schönste Bücher« saßen.32 Kaiser und Klemke waren schon zusammen bei Volk und Welt aktiv und dehnten ihre Tätigkeit nun auf Rütten & Loening aus. Am Anfang standen schmale Halbleinenbändchen mit satirischen Texten aus dem 19. Jahrhundert, die Kaiser auswählte und kommentierte, darunter Englische Reise von Georg Weerth und Die Kunst, in drei Stunden ein Kunstkenner zu werden von Johann Hermann Detmold (beide 1954). Sie wurden mit zeitgenössischen Karikaturen aus dem Fundus von Kaisers Sammlung ausgestattet. Klemke gestaltete die Bändchen und versah sie mit Deckelillustrationen. Daraus entwickelte sich eine langlebige Buchfolge, intern »SatireReihe« genannt, für die Klemke auch eigene Illustrationsfolgen, so zum Betrugslexikon von Georg Paul Hönn (1958) und dem Satiricon von Petronius (1963), schuf. Außerhalb dieser Reihe waren es etwa Candide (1958) von Voltaire und die Canterbury-Erzählungen von Geoffrey Chaucer (1963), mit denen Klemke zu einem der wichtigsten, bald auch im Westen bekannten DDR-Buchkünstler wurde. Schon unter Riemerschmidt hatte der Verlag Beziehungen zum Dresdner Künstler Josef Hegenbarth aufgenommen und auch mehrere Bücher, u. a. einzelne Märchen der Brüder Grimm und den Don Quijote von Cervantes (1951), herausgebracht. Diese Zusammenarbeit wurde kontinuierlich fortgesetzt. Hegenbarth hatte jahrzehntelang für die 31 Romane für alle (Verlag der Nation) kosteten in der Regel 1,70 M, die bb-Bändchen (AufbauVerlag) 1,85 M; zum Taschenbuch siehe auch Kapitel 5.3.1.11 Das Taschenbuch (Jane Langforth) in diesem Band. 32 Wurm: Zur Frühgeschichte der Pirckheimer-Gesellschaft.
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Schublade gearbeitet und konnte deshalb bei Rütten & Loening und zeitgleich beim Verlag der Nation und bei Reclam, in rascher Folge ein Buch nach dem anderen in den Druck geben. Bei Rütten waren es etwa der Gulliver von Jonathan Swift (1954), Dombey & Sohn von Charles Dickens (1955), das Pentamerone von Giambattista Basile (1958) und Der Sturm von William Shakespeare (1960) – allesamt Meisterwerke der Buch- und Druckkunst. Aufwändigstes bibliophiles Projekt von Rütten & Loening war eine fünfbändige Quartausgabe von Romain Rollands Roman-Zyklus Johann Christof mit rund 600 meist ganzseitigen Holzschnitten von Frans Masereel. Der in Frankreich lebende Belgier sollte der dritte wichtige Buchkünstler bei Rütten & Loening werden, von dem viele weitere Bücher im Verlag erschienen, darunter Neuausgaben der Bildgeschichten Die Stadt (1961), Meine Heimat (1965) und Der Weg des Menschen (1968), die erstmals in den 1920er Jahren bei Kurt Wolff erschienen waren. Diese Bemühungen um das schöne Buch schlugen sich in vielen Auszeichnungen mit dem Titel »Schönstes Buch des Jahres« nieder, den die Jury des Leipziger Börsenvereins ab dem Jahrgang 1952 vergab. Rütten & Loening erhielt diese bald begehrte Prämierung nach einer Statistik von 1969 in jedem Jahr außer 1965 für einen oder mehrere Titel, insgesamt 27 Mal, davon allein 1959 für sechs Titel.33 Während der Verlag mit den Klassiker-Editionen und den illustrierten Ausgaben einen erfolgreichen Weg eingeschlagen hatte, konnte er mit der zeitgenössischen Literatur weit weniger erreichen. Eine nachhaltige Verlagsbeziehung entwickelte sich nur zu zwei Autoren. Die eine war die Berliner Erzählerin Rosemarie Schuder, die fast ausschließlich biographische Romane und Erzählungen verfasste. Ihre ersten drei Bücher erschienen 1954 und 1955 in der Reihe Große Patrioten und dienten entsprechend dem Reihenkonzept der Stärkung des Patriotismus. Wesentlich einfühlsamer waren zwei Bände um den Astronomen Johannes Kepler (Der Sohn des Ketzers, 1957, und In der Mühle des Teufels, 1959). Es folgten Bücher über Michelangelo, Hieronymus Bosch und Agrippa von Nettesheim, die sich großer Beliebtheit erfreuten und zahlreiche Auflagen erlebten. Ihr wohl wichtigstes Buch schrieb sie zusammen mit ihrem Mann, dem Journalisten Rudolf Hirsch, in den 1980er Jahren: Der Gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte (1988). Die lose Folge von Essays, die zum 50. Jahrestag der Judenpogrome von 1938 erschien, erzählt von der jahrhundertelangen Verfolgung der Juden in Deutschland und kam heraus, als sich die DDR-Gesellschaft allmählich bewusst wurde, dass sie für das Erbe des Holocaust Mitverantwortung trug, und die ersten Auftritte von Neonazis in der DDR Sorgen verursachten. Der andere Hauptautor war Hermann Kant, der von 1969 bis 1989 als Vizepräsident und Präsident des Schriftstellerverbandes großen Einfluss in der DDR besaß. Er hatte als Journalist und Herausgeber einer Studentenzeitung für Westberlin, tua res, bereits einen Namen, als sein erstes Buch, die Erzählungssammlung Ein bißchen Südsee, 1962 bei Rütten & Loening herauskam. Bei der Verlagswahl spielte eine Rolle, dass sich Kant und die ab 1956 tätige Cheflektorin Lore Kaim-Kloock vom Germanistischen Institut der Berliner Humboldt-Universität her kannten. Kants Roman Die Aula (1965) wurde dann mit 649.000 verkauften Exemplaren zu einem der großen Erfolge auf dem DDR-
33 Verlagsverzeichnis Herbst 1969 Rütten & Loening Berlin, S. 30–31.
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Abb. 1: Die Lektorin Margit Stragies sowie Rosemarie Schuder und Rudolf Hirsch bei der Premiere ihres Buches Der gelbe Fleck, am 29. März 1988. Foto: Günter Prust.
Buchmarkt der 1960er Jahre und zum wichtigsten Longseller von Rütten & Loening in der DDR-Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil der Roman Pflichtlektüre in den Erweiterten Oberschulen war. Eine ganze Generation von DDR-Intellektuellen empfand den Roman als Identifikationsbuch. Kants Aufbruchsromantik, die vom legendären gemeinsamen Bildungserlebnis an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät lebte, zeigte sie am Beginn ihres langen Marsches durch den realexistierenden Sozialismus, auf dem die »Blütenträume« von einst verrauchten. Mit anderen Autoren hatte Rütten & Loening eine weit weniger glückliche Hand. Von Erich Arendt bspw. publizierte der Verlag in den 1950er Jahre die ersten Gedichtbände, ließ den bedeutenden Lyriker und Nachdichter dann ziehen, weil man mit diesem Genre nicht weitermachen wollte. Johannes Bobrowski, der 1958 im Verlag anklopfte, lehnte der Verlag kühl ab, obwohl er von Peter Huchel in Sinn und Form gedruckt und dem Verlag empfohlen worden war.34 Drei Jahre später wurde das Erscheinen von Bobrowskis erstem Buch, Sarmatische Zeit (1961), auf dem Buchmarkt in Ost und West zu einem literarischen Ereignis, wenngleich erst die folgenden Romane im Verkauf erfolgreich waren. Mehrere Bücher von westdeutschen Autoren brachte Rütten & Loening in Lizenz auf dem DDR-Buchmarkt heraus, so die beiden zeitgeschichtlichen Romane Wo warst du, Adam? von Heinrich Böll (1956) und Engelbert Reineke von Paul Schallück (1962),
34 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 45: Lore Kaim-Kloock an Johannes Bobrowski, 16. 6. 1958.
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Abb. 2: Hermann Kant: Die Aula. Roman. Rütten & Loening 1965, Schutzumschlag von Wolfgang Geisler.
doch ohne, dass daraus bspw. zu dem produktiven spätere Nobelpreisträger Böll eine feste Beziehung entstanden wäre. Von Alfred Döblin verlegte Rütten den letzten Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1956) – eine Tat, weil das Buch in der Bundesrepublik niemand verlegen wollte und sich der bedeutende Autor am Ende seines Lebens literarisch weitgehend isoliert sah. Doch dann war erst einmal bis zu weiteren Döblin-Edition bei Rütten & Loening fünf Jahre lang Pause. 1960/61 verhandelte der Verlag mit Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre über Lizenzausgaben. Ein Schnurre-Auswahlband war en detail mit dem Autor verabredet, die Zustimmung der Behörde lag vor, da passierte, wovor Hermann Kant in seinem Verlagsgutachten gewarnt hatte: »Wer aber garantiert dem Verlag, dass er sich, kaum, dass er die Schnurre-Auswahl veröffentlicht hat, einer neuesten, im Westen erscheinenden Publikation seines Autors konfrontiert sieht, die ein Prachtstück antisozialistischer Literatur darstellt? Dass Schnurre so etwas kann, kann als bewiesen gelten.«35 Schnurre veröffentlichte eine solche Stellungnahme noch vor dem Erscheinen des geplanten
35 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 64, Bl. 70–73: Hermann Kant: Wolfdietrich Schnurre: Erzählungen [Gutachten], o. D. [September 1960].
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Bandes im Dezember 1960, Ob Ulbricht weiß, wie der Brachvogel pfeift? – ein Zeitungsartikel über die politisch verfahrene Lage im geteilten Berlin. Kant attackierte ihn öffentlich: Ob Schnurre weiß – wie die Nachtigall trapst?, worin er Schnurre die Auseinandersetzung mit der Bonner Politik empfahl, anstatt gegen das Ulbricht-Regime zu polemisieren.36 Die Verlagsleitung wollte warten, bis diese Zeitungsartikel vergessen waren. Doch dann kam der 13. August 1961 und die potenziellen Verlagsautoren Grass und Schnurre verfassten einen offenen Brief an die DDR-Schriftsteller, um sie zum Widerstand gegen den Bau der Berliner Mauer aufzurufen. Statt Grass und Schnurre erschien nun bei Rütten & Loening die Anthologie Die Stimme der Künstler ruft nach Frieden (1961) mit den harschen Antworten der DDR-Autoren, an die sich der Appell der beiden Westberliner gerichtet hatte. Vom Lektorat Belletristik wurde auch das Literaturwissenschaftsprogramm betreut, das sich im Wesentlichen in zwei Buchreihen niederschlug. Die Neuen Beiträge zur Literaturwissenschaft (1955–1981) wurden von Werner Krauss und Hans Mayer herausgegeben, der eine Ordinarius für Romanistik an der Leipziger Universität, der andere für Germanistik. »Die Grundkonzeption der Reihe lag in der Anschauung, dass eine wirklich gültige und umfassend anwendbare marxistische Literaturtheorie durch bloße Proklamation nicht gefördert werden konnte, sondern dass es darauf ankam, durch die Praxis literaturgeschichtlicher Einzelarbeiten in weitester Streuung der Gegenstände das Material für die erstrebte Theoriebildung zur erarbeiten und ihre Anwendbarkeit zu demonstrieren«,37 beschrieb Werner Krauss im Rückblick die Intention der Reihe. Das in diesen Jahren übliche Umschreiben der durch die bürgerliche Literaturwissenschaft erarbeiteten Ergebnisse wurde abgelehnt, stattdessen auf eigene Quellenstudien und gegenstandsbezogene Thesenbildung gesetzt. Mit 42 Bänden wurde die Reihe, die nach Mayers Abgang nach dem Westen ab 1963 von Krauss und Walter Dietze fortgesetzt wurde, zu einer wesentlichen Leistung der DDR-Literaturwissenschaft, die ihre Wirkung auch in der bundesdeutschen Forschung hatte. Ergänzend dazu entwickelte der Verlag zusammen mit dem Germanistischen Institut der Humboldt-Universität die von Hans Kaufmann, Gerhard Scholz und Hans-Günther Thalheim herausgegebenen Germanistischen Studien (23 Bände, 1959–1983), die besonders jüngeren Literaturwissenschaftlern Gelegenheit gab, ihre Forschungsergebnisse vorzustellen. Während das belletristische Programm trotz veränderter Akzentuierung in das bisherige Profil von Rütten & Loening passte, wurde die Herausgabe von Geschichtsliteratur komplett neu begründet. Die Entwicklung von Rütten zu einem Wissenschaftsverlag beruhte nicht zuletzt darauf, dass der Verlag von 1936 bis 1951 unter einem Dach mit Athenaion geführt worden war, bis dieser für seine großformatigen, gut bebilderten Handbücher zu Literatur, Musik, Biologie und Geographie bekannte Wissenschaftsverlag liquidiert wurde. Einen auf Geschichte spezialisierten Verlag gab es bislang in der DDR nicht, sieht man einmal vom Böhlau-Verlag ab, der in privater Hand war, und dem Akademie-Verlag, bei dem die Geschichtswissenschaft eine unter vielen war. So fiel Rütten & Loening die Aufgabe zu, weil er nach der Neugründung 1952 thematisch gerade neu ausgerichtet wurde, als sich die SED-Kulturpolitik um die Begründung eines
36 Beide Artikel abgedruckt in: Richter (Hrsg.): Die Mauer, S. 21–35. 37 SBB, Aufbau-Verlag, Nr. 2093: Werner Krauss an Kurt Hager, 1. 10. 1968 (Durchschlag).
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marxistischen Geschichtsbildes stark bemühte. Ende der 1950er Jahre firmierte der Verlag dann bei der Hauptverwaltung Verlagswesens als »Leitverlag für Geschichte«.38 Nach der Philosophie kam der Geschichtswissenschaft im System der marxistischen Gesellschaftswissenschaften eine prägende Rolle zu. Sie beruhte auf dem ›Historischen Materialismus‹, hatte dementsprechend die Gesetzmäßigkeiten im Ablauf der gesellschaftlichen Entwicklung nachzuweisen und so einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Weltanschauung zu leisten. Zur besseren Planung vereinbarte der Verlag mit vielen Instituten und Archiven die Herausgabe von Reihen, die in deren Forschungsplänen verankert waren. Dazu gehörten die vom Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (ab 1954), die von Ernst Engelberg herausgegebene Schriftenreihe des Instituts für deutschen Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig (ab 1957), die Schriftenreihe des Deutschen Zentralarchivs (ab 1956), die Schriftenreihe der Kommission der Historiker der DDR und der ČSR (ab 1958), herausgegeben von Karl Obermann und Josef Polišenský, die Dokumente zur Zeitgeschichte (ab 1958) und Studien für Zeitgeschichte (ab 1961, beide herausgegeben vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte Berlin) sowie die Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle (ab 1962). Doch übermäßig produktiv waren die Institute meist nicht, etliche dieser Reihen kamen über vier bis sechs Bände nicht hinaus, bis der Verlag 1964 die gesamte Geschichtsproduktion an den Deutschen Verlag der Wissenschaften abtrat. Um die Anzahl der Titel zu erhöhen, griff der Verlag mitunter auf alte Publikationen zurück, die gewöhnlich von einem zeitgenössischen Historiker auf den Boden der marxistischen Geschichtsauffassung geholt wurden. Doch waren damit erhebliche Risiken verbunden, wie der Fall der Geschichte der Kommune von 1871 (1953) von Prosper Olivier Lissagaray zeigte.39 Dabei handelte es sich um eine Zusammenfassung von mehreren Texten eines Zeitzeugen der Kommune, die auf Empfehlung der ZK-Abteilung Wissenschaft und Propaganda in den Plan genommen wurde und mit Hilfe von französischen Genossen zustande kam, darunter Rosa Michel, die frühere Lebensgefährtin von Walter Ulbricht, die zeitweise als Korrespondentin der kommunistischen Tageszeitung L’Humanité in Berlin tätig war. Ob das Buch erst gesetzt und die Druckgenehmigung erteilt war oder das Buch bereits vorlag, ist auf Grund unvollständiger Überlieferung nicht klar. Jedenfalls fiel das wachsame Auge des Leiters der Abteilung Begutachtung im Amt für Literatur, Oskar Hofmann, auf das Buch, er machte es zu einem Präzedenzfall.40 Gerügt wurden das Fehlen eines ideologischen Vorwortes und entsprechender Fußnoten, die die Schwächen des nichtmarxistischen Autors geradegerückt hätten. Das Amt nutzte die Gelegenheit, den Verlag zu maßregeln und die Vorschriften zu verschärfen. So durfte dieser künftig nur komplette Manuskripte einreichen, sollte im Vorfeld alle problematischen Fälle kollektiv »durchberaten« und gesellschaftliche Kräfte zurate ziehen.41 Bei dieser Gelegenheit wurde für Werke zur Geschichte der Arbeiterbewegung
38 Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 247. 39 Zum Folgenden siehe Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 245–247, 292–304. 40 DR 1/5363, Druckgenehmigungen Rütten & Loening 1954, Bl. 26: Brief vom Amt für Literatur und Verlagswesen/Oskar Hoffmann an ZK der SED/Heinz Mißlitz, 20. 10. 1954. 41 DR 1/5363, Druckgenehmigungen Rütten & Loening 1954, Bl. 19: Was wurde beschlossen?
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die Pflicht zur Begutachtung durch das Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut, später Institut für Marxismus-Leninismus, eingeführt.42 Schließlich wurde das Buch von Lissagaray drei Jahr später mit völlig neuer Kommentierung herausgegeben. Auf der ideologisch sicheren Seite war der Verlag im Allgemeinen, wenn ein Werk aus der Sowjetunion übernommen wurde. Einige Jahre lang bediente sich Rütten & Loening exzessiv dieser Methode. Die 51-bändige Große Sowjetenzyklopädie (1950– 1960) bspw., die in Moskau in den letzten Jahre von Stalins Herrschaft konzipiert und im Laufe der 1950er Jahre Band für Band erschien, wurde von Rütten & Loening sowie von 16 anderen DDR-Verlagen geradezu als Steinbruch benutzt, um daraus artikelweise insgesamt 270 Hefte zumeist im Umfang von wenigen Bogen zu machen. Geschichte Ungarns, Geschichte Afrikas und Der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion (alle 1953) hießen Titel, die bei Rütten herauskamen. Unter den vielen kleinen Nationalgeschichten war auch eine Geschichte Deutschlands (1953), die natürlich mit einem Loblied auf die DDR endete. Der spärliche Inhalt der Hefte bestand vor allem in der Anwendung der Klassenkampflehre auf den jeweiligen Gegenstand. Ohne Rücksicht auf die Verkäuflichkeit produziert, lagen die Titel wie Blei im Buchhandel und bei den Verlagen. Die Lagerbestände wuchsen bei Rütten & Loening im Verhältnis zu den anderen Verlagen am stärksten an,43 vermutlich weil Rütten mit 32 Titeln einen Bärenanteil übernommen hatte. Der desaströse Absatz war das eine Problem, der politische Umschwung nach Chruschtschows Amtsübernahme das andere. Plötzlich sah man in Moskau die Geschichte in einem neuen Licht. Deshalb wurde das Projekt nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) beendet. Bei Rütten & Loening erschien 1955 der letzte Titel. Zur geplanten Zusammenfassung der Übersetzungen in einer Gesamtausgabe der Enzyklopädie kam es nicht, zumal in Moskau die Genossen fragten, warum die DDR keine eigene Enzyklopädie erarbeitete. Zu einer Affäre wurde für den Verlag Das Reich der niederen Dämonen von Ernst Niekisch, eine eigenwillige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Geschrieben während der frühen Jahre der NS-Herrschaft, diente das Manuskript im Hochverratsprozess gegen den Autor 1937 als Beweismittel. Das Werk wurde 1953 original vom Rowohlt Verlag publiziert, von dem es Rütten & Loening in Lizenz übernahm. Mit einem wenige Zeilen lange Gutachten vom Lektor Max Hauschke, einem früheren Mitarbeiter der Zensurbehörde, wurde es 1957 der HV Verlagswesen untergeschoben, obwohl Niekisch auf Grund seiner nationalbolschewistischen Überzeugungen und aktuell durch seinen Austritt aus der SED im Jahr 1955 ein brisanter Autor war.44 Im Jahr der Abrechnungen mit den ideologischen Abweichungen nach dem XX. Parteitag und dem Aufstand in Ungarn erfuhr das Buch heftige Kritik. Bei der Untersuchung zur Druckgeschichte bekannte der zuständige Zensor, dass er aus Unkenntnis seinem ehemaligen Kollegen, dem Genossen Hauschke, der früher im Amt für Literatur und Verlagswesen verantwortlich für die kirchliche Literatur gewesen war, vertraut habe, wie er in einer Stellungnahme für das ZK der SED schrieb. Der Restbestand des Buches von 300 Ex-
42 Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 247. 43 Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 286. 44 DR 1/3794 Druckgenehmigungen Rütten & Loening 1957, Bl. 80–81: HV Verlagswesens/ Bräutigam an ZK der SED/Lucie Pflug, 4. 2. 1958.
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emplaren wurde aus dem Verkehr gezogen und der verantwortliche Cheflektor ErnstUlrich Kloock seines Postens enthoben.45 Die Nachfolge übernahm der Historiker Bernhard Weißel, der 1959 – also schon im Verlag – am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED mit einer Dissertation über Rousseau promovierte. Eine Neuerung brachte die 1960 ins Leben gerufene Reihe Geschichte in der Tasche, die ab dem sechsten Titel in Taschenbuch Geschichte umbenannt wurde, weil Ullstein aus Titelschutzgründen Bedenken angemeldet hatte.46 Mit den Paperbackausgaben sollten die Erkenntnisse der marxistischen Geschichtswissenschaft an ein größeres Publikum gebracht werden. »Schnell zur Hand und bald im Kopf« lautete die Überschrift einer Vorstellung der Reihe in der Hauszeitschrift Neues von Verlag Rütten & Loening.47 Nachgewiesen sind bis zur Einstellung der Reihe 1962 22 Titel. Wie gezeigt, drehte sich das Personalkarussell bei Rütten & Loening in den 1950er Jahren schnell. Am Anfang des Jahrzehnts waren der Verlagsleiter Ulrich Riemerschmidt und Werner Wilk in den Westen geflüchtet. Der Verlagsleiter Walter Gerull hatte nach nicht einmal einem Jahr gehen müssen. Ebenso erging es dem kurzzeitigen Cheflektor Karl Heidkamp (1896–1970), der wie fast alle Mitarbeiter beim Wechsel des Verlages von Potsdam nach Berlin ausschied. Irene Gysi musste 1956 ihren Platz räumen, weil der Verlag insbesondere mit der Geschichtsproduktion Absatzprobleme hatte. Im gleichen Jahr verließ Wolfgang Richter das Haus und zugleich die DDR. Er hatte seine Flucht schon einige Zeit vorbereitet, bspw. die wichtigsten Bücher aus seiner privaten Bibliothek in den Westteil der Stadt gebracht, musste dann doch überhastet flüchten, weil sich am 15. Februar 1956 die Staatssicherheit für den Nachmittag angesagt hatte, um Richter in einer Aussprache die »Republikflucht« eines Lektors vorzuhalten.48 Zu Gysis Nachfolger wurde Hermann Lewy (1906–unbekannt) bestimmt, einst in Berlin ein jüdischer Antiquar – kurzzeitig mit eigener Firma –, den die Flucht aus Nazideutschland bis nach Portugal getrieben hatte. Nach Deutschland zurückgekehrt, war er zehn Jahre Mitarbeiter im Dietz Verlag gewesen und hatte sich im Fernstudium an der Parteihochschule für einen Leitungsposten im Verlagswesen qualifiziert.49 1956 übernahm er die Leitung von Rütten & Loening, später zusätzlich die Leitung des Verlages Das Neue Berlin. Doch trotz Vaterländischem Verdienstorden und forschen politischen Ansprachen an die Mitarbeiter50 geriet er in ein Kreuzfeuer der Kritik. Die Parteigruppe des Verlages bezichtigte ihn 1958 »kleinbürgerlichen Verhaltens«. Weitergehende Recherchen der Kaderleitung ergaben, dass er entgegen der üblichen Verpflichtungserklärung für Leitungskader die Westsektoren der Stadt betreten hatte. So angezählt, bestieg er am 26. August 1958 die S-Bahn, um der DDR für immer den Rücken zu kehren. Seine Nachfolgerin wurde Else Manske-Krausz (1904–unbekannt), die schon
45 Lokatis: Geschichtswerkstatt Zensur, S. 312. 46 Vgl. SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 100, Bl. 172: Ullstein an Ingeburg Gentz, 25. 2. 1960. Bei Ullstein hießen Bücher Berlin in der Tasche, Spanisch in der Tasche usw. 47 Ausgabe Sommer 1961, S. 7. 48 Wurm: Leser und Verleger. 49 Auch sie kandidieren am 23. Juni 1957. Berlin-Pankow: Verlagsleiter Hermann Lewy / Rüdersdorf bei Berlin: Volksbuchhändler Jörg Lüderitz. In: Börsenblatt (Leipzig) 124 (1957) 22 (1. 6.). 50 So der Mitarbeiter Heinz Hellmis gegenüber dem Verf., 1994.
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an der Gründung der neuen Rütten-GmbH 1952 als Gesellschafterin mitwirkte. Sie hatte während der Weimarer Republik im Buchwesen der KPD gearbeitet und war auf Grund illegaler Tätigkeit während der Nazizeit zeitweise inhaftiert gewesen.51 Die bewährte Genossin gab ihren Posten als Hauptdirektorin des Druckerei- und Verlagskontors auf, um die »kleinbürgerlichen« Tendenzen im Verlag beseitigen zu helfen. Ihr zur Seite stand die von ca. 1956 bis 1962 fungierende Cheflektorin Lore Kaim-Kloock (1916– 1965), die analog zu anderen Leitern im Verlag jüdische Wurzeln besaß und ihren Vater im KZ Buchenwald verloren hatte. Sie war gleich nach Kriegsende in die KPD eingetreten, hatte einige Jahre in der Zentralverwaltung für Volksbildung gearbeitet und dann die Möglichkeit zum Studium der Germanistik an der Humboldt-Universität mit anschließender Promotion erhalten. Manske-Krausz schied zum Jahresende 1963 im Rahmen der Fusionierung von Rütten & Loening mit dem Aufbau-Verlag aus dem Unternehmen aus und wurde Leiterin der 1965 gegründeten Buchgemeinschaft buchclub 65. Kaim-Kloock gab das Verlagsgeschäft 1962 auf, um mit ihrem Mann, Ernst-Ulrich Kloock, nach Budapest zu gehen, wo dieser in der DDR-Botschaft tätig war. Ihre Nachfolge trat Ruth Glatzer (geb. 1928) an, die bereits im Verlag als Lektorin tätig war52 und sich neben ihrer Berufstätigkeit als Autorin einer mehrbändigen annalistischen Stadtgeschichte Berliner Leben einen Namen machte. Laut Jahresbericht 1962 hatte Rütten & Loening in diesem Jahr 103 Mitarbeiter, von denen 30 Mitglied der SED waren. In den beiden Lektoraten Belletristik und Geschichte arbeiteten 13 bzw. 15 Mitarbeiter, in der Herstellung 12, im Absatz 15 und in der Verlagsleitung (mit Kaderleitung und Planung) 12. Zur Belegschaft gehörten weiter die Abteilungen Rechnungswesen mit sieben und Innere Verwaltung (einschließlich Küche) mit 15 sowie die Redaktion Zeitschrift für Geschichte mit sechs Mitarbeitern. Bei den drei anderen Verlagszeitschriften verantwortete Rütten & Loening nur den Vertrieb. Der Verlag produzierte 1962 91 Titel, davon im Lektorat Belletristik einschließlich Literaturwissenschaft 47 Titel (27 Erstauflagen und 20 Nachauflagen) und im Lektorat Geschichte 44.53
Unter dem Dach des Aufbau-Verlages (1964–1990) Als 1962/63 das Verlagswesen der DDR im Rahmen der sogenannten Profilierung neugeordnet wurde, fiel die Entscheidung, Rütten & Loening mit dem Aufbau-Verlag und dem Volksverlag Weimar zusammenzuschließen und in diesem neuen Unternehmen vor allem das »deutsche und ausländische Literaturerbe« zu konzentrieren.54 Während der weit jüngere Weimarer Verlag mit der Fusion ganz vom Buchmarkt verschwand, blieb
51 Glückwunsch des ZK der SED. Else Manske-Krausz 60 Jahre. In: Neues Deutschland vom 31. 12. 1964, S. 2. 52 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 114: Rütten & Loening an den Druckerei- und Verlagskontor, 24. 4. 1962. 53 SBB, Rütten & Loening vor 1964, Nr. 14: Jahresbericht 1962, Bl. 14, 185, 192. 54 BArch/SAPMO DY 30/J IV 2/2/890: Protokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees, 6. August 1963; Lunkewitz: Der Aufbau-Verlag, S. 141–145. Zum Volksverlag Weimar siehe Kapitel 5.3.1.3 Volksverlag Weimar (Carsten Wurm) und zum Aufbau-Verlag siehe Kapitel 5.3.1.1 Aufbau-Verlag (Konstantin Ulmer) in diesem Band.
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Rütten & Loening nicht nur dem Namen nach, sondern auch firmenrechtlich erhalten.55 Hauptgrund dafür war die lange Tradition des Verlages. Für die Aufrechterhaltung der juristischen Eigenständigkeit spielten zudem die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse eine Rolle. Rütten & Loening war SED-Eigentum, während der organisationseigene Aufbau-Verlag dem Kulturbund gehörte. Die thematische Planung erfolgte separat, während die ökonomische Planung und die jährliche Planabrechnung für beide Verlage zusammen geschah. Der Gewinn beider Firmen wurde auf ein Konto der 1963 neu aufgestellten Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur, die die Aufgaben des liquidierten Druckerei- und Verlagskontors übernahm, überwiesen und von dort der SED zugeführt.56 Auch im Handelsregister wurde Rütten & Loening getrennt von Aufbau geführt. Die Arbeit leistete aber ein und dieselbe Verlagsleitung und -belegschaft, die nicht nach Verlagen aufgeteilt war. Selbst die Lektorate waren nach Fachgebieten und nicht nach Verlagen gebildet. Die Belegschaftsstärke betrug am Beginn der Verlagsunion 215 Mitarbeiter, davon 65 Lektoren. Nach Ausgliederung der Wochenzeitung Sonntag zum Jahresbeginn 1979 noch 180 Mitarbeiter. Die Verlagsleitung lag von 1964 bis 1966 in der Hand von Klaus Gysi (1912–1999), der seit 1957 bereits den Aufbau-Verlag leitete. Ihm folgten von 1966 bis 1983 FritzGeorg Voigt (1925–1995) und von 1983 bis 1992 Elmar Faber (1934–2017) im Amt. Das Programm wurde unter der Leitung von einem Cheflektor, anfangs Fritz-Georg Voigt, dann Ruth Glatzer (geb. 1928), und vier Lektoratsleitern für die Ressorts Deutsches Erbe, Auslandsliteratur, Zeitgenössische deutsche Literatur (später umbenannt in DDR-Literatur) und Literaturwissenschaft entwickelt. Standorte waren das Hauptgebäude in der Französischen Straße 32, das Nebengebäude mit Vertrieb, Werbung und den Redaktionen von Weimarer Beiträge und Sonntag in der nahe gelegenen Niederwallstraße 39 sowie das Weimarer Haus mit dem Lektorat Deutsches Erbe in der Puschkinstraße 1, in Sichtweite vom Goethehaus am Frauenplan. Die beiden Zeitschriften Sinn und Form und Beiträge zur romanischen Philologie erschienen weiter mit dem Impressum von Rütten & Loening. Das geschichtswissenschaftliche Programm sowie die beiden anderen Zeitschriften wurden ebenso wie ein Teil der Belegschaft vom 1954 gegründeten Deutschen Verlag der Wissenschaften übernommen, der zum maßgeblichen Verlag für Hochschulliteratur entwickelt wurde und mit der Übernahme des Geschichtsprogramm in diesem Bereich führend wurde. Unter dem Namen von Rütten & Loening wurden nach anfangs 62 Titel (1964) schließlich jährlich rund 45 Titel, davon etwa die Hälfte in Erstauflage, produziert. Alle vier Lektorate hatten mit eigenen Entwicklungen Anteil am Programm, allerdings in unterschiedlichem Maß. Eine eher marginale Rolle spielte die zeitgenössische deutsche
55 SBB, Aufbau-Verlag, Nr. 2796, Bl. 178: Karl-Heinz Hähn: Arbeitsrichtlinie Nr. 3, Betr.: Schriftwechsel Rütten & Loening, 6. 1. 1964; Lunkewitz: Der Aufbau-Verlag, S. 147–148, 494. 56 Lunkewitz: Der Aufbau-Verlag, S. 250–251. Erst die SED überwies davon eine Pauschale an den Kulturbund, den Eigentümer des Aufbau-Verlages. – Lunkewitz zum Geschäftsjahr 1988: »Nach Abzug der an den Kulturbund gezahlten ›Verlagsabführungen‹ des Aufbau-Verlages verblieben von den 2,4 Mio. Mark daher netto nur 710.000 Mark als Gewinn des Verlages Rütten & Loening bei der SED.«
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Literatur, die beinahe ausschließlich die beiden Autoren Hermann Kant und Rosemarie Schuder betraf, die weiter unter dem alten Verlagsnamen publiziert wurden, während die lebenden Autoren sonst unter dem Aufbau-Signet erschienen. Bemerkenswert waren in den 1960er Jahren immerhin fünf Bände von Peter Weiss, der vermutlich auf Grund seiner jüdischen Herkunft bei Rütten & Loening platziert wurde. Die Zusammenarbeit endete abrupt, als Weiss 1970 mit seinem revolutionskritischen Drama Trotzki im Exil an die Öffentlichkeit trat. Für einige Jahre war der im schwedischen Exil lebende Autor trotz seiner Sympathien für den Kommunismus und die DDR eine Unperson. Rehabilitiert wechselte er zu dem auf Dramatik spezialisierten Henschelverlag, in dessen Bühnenvertrieb bereits die Stücke unter Vertrag waren und 1983 die in der DDR vieldiskutierte Ausgabe der Ästhetik des Widerstands erschien. Im Bereich der Literaturwissenschaft wurden die beiden Reihen Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft und Germanistische Studien fortgesetzt, bis der Programmbereich mit dem Ende dieser Reihen 1981 bzw. 1983 eingestellt wurde. Das eigentliche Tätigkeitsfeld waren somit ab 1964 die Programmbereiche Deutsches Erbe und Ausländische Literatur. Erstaunlicherweise verzichtete hierbei die Leitung auf eine klare Abgrenzung zwischen dem Programm von Aufbau und Rütten & Loening. In beiden Verlagen erschienen bspw. russische, englische und französische Klassiker in Werk- und Einzelausgaben. Die Zuteilung fiel vor allem danach, wo ein Autor bis zur Fusion publiziert worden war. So kamen Leskow, Tolstoi und Tschechow bei Rütten heraus, während Aufbau Dostojewski, Puschkin und Turgenjew im Programm hatte. Flaubert und Zola waren Rütten-, Balzac und Maupassant dagegen Aufbau-Autoren. Die italienische Literatur war mit Ausgaben von Galilei und Bandello bei Rütten vertreten, mit Boccaccio und Manzoni bei Aufbau. Aus der englischen Literatur kamen Dickens und Thackeray bei Rütten heraus, Fielding und Swift dagegen bei Aufbau. Von Shakespeare wiederum erschien je eine eigene Werkausgabe bei Rütten (neu übersetzt von Rudolf Schaller, 5 Bände, 1964–1975) und bei Aufbau (herausgegeben von Anselm Schlösser, 4 Bände, 1964), allerdings in unterschiedlicher Übersetzung und editorischer Gestaltung. Selbst die Lektoren hatten Schwierigkeiten, den Überblick zu behalten. Auch beim 20. Jahrhundert war die Lage nicht eindeutig. Zwar kamen die meisten Titel bei Aufbau heraus, doch auch bei Rütten & Loening fanden sich zeitgenössische Autoren – so der Tscheche Ladislav Fuks, der Este Jaan Kross, der Marokkaner Ben Jelloun und die Italienerin Natalia Ginzburg. Nicht jede Entscheidung war nachvollziehbar und beruhte letztlich vor allem auf den Bemühungen, Rütten & Loening lebendig zu halten. Doch das Profil war dem des Aufbau-Verlages über weite Strecken zum Verwechseln ähnlich. Vergleichbar sah es im Bereich Deutsches Erbe aus, in dem der Aufbau-Verlag noch deutlicher dominierte. Einige markante Autoren wurden immerhin unter dem Namen von Rütten & Loening auf den Markt gebracht, auch hier zumeist, weil sie bereits früher Rütten & Loening-Autoren waren, etwa der Mitbegründer des deutschen historischen Romans Willibald Alexis, von dem einige Hauptwerke mit neuen Nachworten und in veränderter Gestaltung herausgebracht wurden. Auch Johann Karl Wezel, ein führender Erzähler der Goethe-Zeit, auf den Arno Schmidt im Westen nachhaltig aufmerksam machte, war bereits früher bei Rütten erschienen und wurde nun von 1966 bis 1990 mit sechs gut kommentierten Neuausgaben dem Lesepublikum angeboten.
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Abb. 3: Reisereihe: Adalbert von Chamisso, Reise um die Welt. Rütten & Loening. 3. Aufl. 1985. Schutzumschlag von Gerhard Kruschel.
Ein Alleinstellungsmarkmal war die Rütten & Loening Reisereihe, die das Lektorat Ende der 1960er Jahren aus der seit den 1950er Jahren in loser Folge publizierten Reiseliteratur entwickelte. Sie stellte literarisch bedeutsame Titel des 18. und 19. Jahrhunderts von deutschen und europäischen Autoren vor. Die Leinenbände mit Schutzumschlag waren mit Nachwort und Stellenkommentar versehen und vor allem mit zeitgenössischen Stichen illustriert, zumeist mit Landschafts- und Architekturdarstellungen, die aus dem reichen Schatz der Karten- und Bildabteilungen der großen Bibliotheken gewonnen wurden. Die Reihe erschien von 1968 bis 1993 in 43 Bänden. Größeres öffentliches Interesse erregten zwei Autoren des 20. Jahrhunderts. Der eine war Alfred Döblin, der andere Franz Kafka, jeder für sich von bedeutendem Einfluss auf die moderne Literatur weit über die deutsche Sprachgrenze hinaus. In beiden Fällen hatte der Verlag in dem Berliner Germanisten Klaus Hermsdorf einen wichtigen Partner an der Seite, der mit Gutachten und Nachworten den Weg für die Autoren und ihre Werke bahnte.57 Bereits 1961, als Rütten & Loening die Dissertation von Hermsdorf
57 Zum folgenden siehe Hermsdorf: Kafka in der DDR und SBB, Aufbau-Verlag, Nr. 1470: Akte Franz Kafka.
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über Kafka publizierte, führte der Verlag mit dem Germanistischen Institut der Humboldt-Universität und der Hauptverwaltung Verlagswesen ein Gespräch über die Zweckmäßigkeit der Herausgabe von Kafka in der DDR. Als der Verlag für eine größere, von Hermsdorf vorbereitete Auswahl-Ausgabe Verhandlungsvollmacht durch die Behörde erhielt, stieß er beim S. Fischer Verlag, dem Rechteinhaber, auf Vorbehalte, weil sich der geplante Sammelband deutlich von den durch Max Brod herausgegebenen Ausgaben unterschied und statt eines Begleittextes von Brod ein eigenes Nachwort von Hermsdorf enthalten sollte.58 Fischer fürchtete angesichts der Praxis in der DDR einen ideologisch einseitigen Kommentar. Auf der vielbeachteten internationalen Kafka-Konferenz vom Mai 1963 in Liblice kam die verfahrene Lage zur Sprache. Schließlich stimmte S. Fischer nach weiteren Verhandlungen zu, unter der Bedingung, dass wesentliche Editionsprinzipien von Brods Ausgaben erhalten blieben. So konnte 1965 nach vierjähriger Anlaufzeit ein erster Kafka-Band in der DDR erscheinen, schlicht Erzählungen genannt, obwohl er auch die beiden Romanfragmente Der Prozess und Das Schloss enthielt. Zwei Jahre später folgte separat der dritte Roman Amerika. Ein Glücksfall für die Rezeption in der DDR, denn Kafka war in diesen Jahren ein Politikum. In der Tschechoslowakei wurde im Vorfeld des Prager Frühlings von 1968 anhand von Kafka über Entfremdungserscheinungen im Sozialismus diskutiert. Deshalb wurde mit dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in Prag die Kafka-Edition nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch in der DDR für viele Jahre unterbrochen. Junge Leser in der DDR waren in dieser Zeit ausschließlich auf die beiden Rütten-Bände aus den 1960er Jahren angewiesen, die sich in den privaten und öffentlichen Bibliotheken befanden. 1978 erschien für die DDR ein Reclam-Band und erst 1983 bei Rütten & Loening die zweibändige Ausgabe Das erzählerische Werk. Döblins Werk war ungleich umfangreicher als das von Kafka, und so konnte es bei ihm angesichts der begrenzten Mittel von Rütten & Loening nur um einige Hauptwerke gehen. Nach Pardon wird nicht gegeben (1961), Berlin Alexanderplatz (1963) folgten Die Vertreibung der Gespenster (1968), Wallenstein (1970), Amazonas (1973) und die Tetralogie November 1918 (1981). Bei den Vorbereitungen zu den Ausgaben stellte sich immer wieder heraus, dass Döblins Weltbild schwer zu dem von der SED propagierten passte. Selbst einige Gutachter, von denen der Verlag sich eigentlich Unterstützung bei seinen Editionsvorhaben erwartete, hatten Vorbehalte gegen den Autor. Der Gutachter des Exilromans Amazonas bspw. fand in dem Werk die historische Rolle der Jesuiten, die bei der Versklavung der Indios geholfen hatten, verklärt und Döblins katholisches Weltbild »nicht einmal mehr in den Konturen mit dem unseren«59 übereinstimmend. Der als Historiker gewonnene Gutachter von November 1918 wollte Döblins »bürgerlich-liberale« Interpretation der Novemberrevolution noch durchgehen lassen, schließlich müsse man diese Mängel hinnehmen, »wenn man das Erbe des progressiven Bürgertums überhaupt für die Bewußtseinsbildung unter unseren Verhältnissen nutzbar machen will«. Doch gänzlich unakzeptabel fand er, »wenn übernatürliche Kräfte in Leben und Wirken historischer Persönlichkeiten eingreifen. Dies umso mehr, als Döblin (was bei
58 SBB, Aufbau-Verlag, Nr. 1470: S. Fischer an Rütten & Loening, 26. 4. 1963. 59 SBB, Aufbau-Verlag, Nr. 2331, Bl. 213–223: Richard Christ: Alfred Döblin »Amazonas« [Gutachten], 8. 2. 1972, Bl. 222.
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ihm zweifellos ein Ausdruck der Sympathie ist) nur Revolutionäre in Verbindung mit Geistern und ähnlichen Wesen bringt. Konterrevolutionäre sind für ihn Unmenschen, denen der Weg zum Übersinnlichen verschlossen ist. So erscheint Rosa Luxemburg […] als eine von bösen und guten Geistern gejagte Individualistin, deren revolutionäres Wirken von den Zuckungen einer kranken Seele bestimmt wird. So vermittelt das Werk dem Leser nicht nur eine falsche, sondern m. E. auch eine unwürdige Vorstellung von der großen Revolutionärin.« Wolle man das Werk unbedingt bringen, müsse ein Vorwort die unwürdige Darstellung der Revolutionärin richtigstellen. Bei Band 3 wären Streichungen am besten: »Es versteht sich von selbst, daß die Schere dabei mit großem Geschick gehandhabt werden müsste.«60 Der Verlag hielt sich nicht an solche Ratschläge, sondern brachte seine von Manfred Beyer herausgegebene Ausgabe 1981 heraus, erstmals vollständig in vier Bänden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich der Verlag unter dem gemeinsamen Dach mit dem Aufbau-Verlag zwar gut entwickelte, er editorisch und buchkünstlerisch bedeutende Bücher herausbrachte, Verlagsleitung, Lektorat und Herstellung sich redlich Mühe gaben, den kleineren Verlag neben dem Aufbau-Verlag lebendig zu erhalten und die Traditionen fortzusetzen. Doch letztlich stand Rütten & Loening im Schatten des Aufbau-Verlages, war diesem in vieler Hinsicht zu ähnlich, als dass in der Öffentlichkeit ein eigenständiges Profil deutlich geworden wäre. Selbst wenn seine Bücher Aufsehen erregten, buchkünstlerisch oft schöner als die Aufbau-Ausgaben gestaltet waren, wurde der Ruhm meist dem Aufbau-Verlag angerechnet. Nur wenige eingeweihte Verlagsbeobachter kannten die Meriten. So war es nicht verwunderlich, dass dem Verlag nach der Friedlichen Revolution ein neues Gesicht gegeben wurde. Zu den letzten Akquisitionen vor dem Ende der DDR gehörte der Ungar Imre Kertész, der 1990 mit dem Roman Mensch ohne Schicksal bei Rütten & Loening erstmals in deutscher Sprache herauskam. Wie viele andere Bücher fiel sein Erscheinen in das Loch, das durch die Umstellung des DDR-Verlagswesens auf den gesamtdeutschen Markt entstand und wurde deshalb von Publikum und Kritik nicht wahrgenommen. Sechs Jahre später wurde der Roman vom Rowohlt Verlag in anderer Übersetzung unter dem veränderten Titel Roman eines Schicksallosen neu publiziert und machte den Autor schlagartig berühmt. Weitere sechs Jahre später erhielt Kertész für dieses Buch über seine Erfahrungen mit dem Holocaust den Nobelpreis. Nicht ganz so nachteilig erging es Rütten & Loening mit Victor Klemperer, dessen zweibändigen Erinnerungen Curriculum Vitae 1989 ins gleiche Loch fielen. Deshalb zögerte der Verlag jahrelang, ehe er das nächste Projekt, den ersten Teil der Tagebücher aus den Jahren 1933–1945 Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, herausgab. Als dann die Geschäftsführung 1995 Mut dazu hatte, entschied sie entsprechend der neuen Programmausrichtung in der Verlagsgruppe, das Buch nun im Aufbau-Verlag herauszubringen. Der bald einsetzende außerordentliche Erfolg ging deshalb wiederum an Rütten & Loening vorbei, blieb aber in der Verlagsgruppe.
60 SBB, Aufbau-Verlag, Nr. 2331, Bl. 113–135: Wolfgang Ruge: Gutachten zu dem dreibändigen Erzählwerk »November 1918«, 1975, Bl. 114, 118, 135. Zu Döblins Roman und seiner Editions- und Zensurgeschichte in West und Ost siehe: Prédhumeau: Der zensierte Zensor.
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Zu den wichtigen Editionen der letzten DDR-Jahre gehörte im Jahr 1988 die Herausgabe eines Reprints der ersten zehn Jahrgänge von Sinn und Form, die auf Initiative vom Greno Verlag in Nördlingen zustande kam. Rütten & Loening stellte nur die Rechte und die Vorlagen zur Verfügung, während Greno die gesamte Herstellung bewältigte. Doch es handelte sich um eine der aufsehenerregenden gesamtdeutschen Aktionen, die dank des 1986 abgeschlossenen Kulturabkommens zwischen Bonn und Berlin stattfanden, und präsentierte noch dazu die Jahre von Sinn und Form unter der Chefredaktion von Peter Huchel, mit dem sich die DDR-Kulturpolitik bis zum Ende schwertat. Ein ungewöhnliches Projekt stellte auch die erstmalige Herausgabe des Romans Vom Winde verweht von Margaret Mitchell dar, der ganz ohne Kommentar Ende 1989 als dreibändige Broschurausgabe herauskam und 1990 in eine zweite Auflage ging. Das Erscheinen löste eher Verwunderung aus, war doch das Buch auf Grund der Romantisierung der Sklavenhaltergesellschaft in den amerikanischen Südstaaten jahrzehntelang in der DDR tabuisiert gewesen. Es passte nur schwer zu der bisherigen Verlagstradition, in der historischen Rückschau dann doch gut zum Unterhaltungsprogramm, auf das Rütten & Loening nach der Privatisierung festgelegt wurde.
Der Verlag nach der deutschen Einheit Während des gesellschaftlichen Umbruchs ging der Verlag Rütten & Loening den gleichen Weg wie der Aufbau-Verlag. Im Unterschied zu diesem waren die Eigentumsverhältnisse in seinem Fall übersichtlicher. Er gehörte eindeutig der SED und wurde von deren Nachfolgepartei PDS im Frühjahr 1990 in Volkseigentum unter der Verwaltung des Ministeriums für Kultur überführt, nachdem die PDS angesichts des politischen Drucks den zeitweiligen Plan aufgegeben hatte, Rütten & Loening wie andere Parteibetriebe in Eigenregie fortzuführen. Schon unter dem Dach der Treuhandanstalt, wurde zum 1. Juli 1990 die Firma Rütten & Loening GmbH i.A. begründet, die zusammen mit der Aufbau-Verlag GmbH i.A. unter der Geschäftsführung von Elmar Faber stand, allerdings fortan mit einem eigenen Lektorat unter dem Programmdirektor Mathias Heydenbluth (geb. 1957).61 Zum neu entwickelten Programm gehörten das schöne, illustrierte Buch, eine Folge von Grafiken Cor-Art-Orium, eine typographisch anspruchsvolle Reihe Die Schwarzen Bücher mit Erzählungen aus der Weltliteratur, aber auch eine auf das größere Publikum zugeschnittene Reihe Europäische Erzähler, die mit neuen Autoren aufwartete, darunter die Französin Sylvie Germain, die für Aufmerksamkeit bei Publikum und Kritik sorgte. Doch der Absatz vieler Projekte war wie für fast alle DDRVerlage schlecht. Selbst die Biografie des weltbekannten Schauspielers Yves Montand Du siehst, ich habe nicht vergessen (1991) kam kaum in die Buchhandlungen. Am 18. September 1991 wurde der Verlag zusammen mit dem Aufbau-Verlag an eine Investorengruppe um den Immobilieninvestor Bernd F. Lunkewitz und seine 1991 gegründete Beteiligungsgesellschaft BFL verkauft, Rütten & Loening für die Summe von 100.000 DM plus Verbindlichkeiten. Unberücksichtigt blieb dabei ein Antrag auf Restitution, den der jüdische Erbe Heinrich Oswalt am 3. Oktober 1990 bei der Stadt
61 Zur Entwicklung nach 1989 siehe Wurm: … mehr als eine Verlagsgeschichte, S. 215–223; Links: Das Schicksal der DDR-Verlage, S. 198–199.
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Potsdam und bei den Stadtbehörden Berlins gestellt hatte.62 Lunkewitz, der die Geschäftsführung 1992 selbst übernahm, gab auf Grund der Schwierigkeiten am Markt das alte Programm komplett auf und überführte Autoren und Titelrechte in den Aufbau Verlag, um Rütten & Loening auf Unterhaltungsliteratur – Belletristik und Sachbuch – auszurichten. Dafür holte er 1994 vom Verlag Bastei Lübbe René Strien (geb. 1953), der die Verlagsleitung übernahm, und Reinhard Rohn (geb. 1959), der anfangs das Lektorat führte, ab 1999 dann in Nachfolge von Strien die Verlagsleitung ausübte. Mit dem Roman Die Päpstin (1996) von Donna W. Cross hatte der Verlag einen Millionenerfolg, der neben Rütten auch den Aufbau Taschenbuch Verlag monatelang in den Bestsellerlisten hielt. 2006 wurde Rütten & Loening zusammen mit den anderen Verlagen von Lunkewitz zur Aufbau Verlagsgruppe GmbH verschmolzen, womit die firmenrechtliche Selbständigkeit endete. 2008 ging diese Insolvenz und wurde daraus von dem Investor Matthias Koch erworben. Seit 2020 ist Rütten & Loening zusammen mit den Aufbau Verlagen Mehrheitseigentum der gemeinnützigen Stiftung Kommunikationsaufbau. Unter dem Signet von Rütten & Loening erscheint weiterhin erfolgreich Unterhaltungsliteratur.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Bundesarchiv Berlin (BA) ZK der SED (DY 30) Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB) Aufbau Verlages / Rütten & Loening 1964 ff. Rütten & Loening vor 1964
Gedruckte Quellen FROMMHOLD, Alfred: Hundertzehn Jahre Rütten & Loening. 1844–1954. Ein Almanach. Berlin: Rütten & Loening 1954. Hundertfünfundzwanzig Jahre Rütten & Loening 1844–1969. Red. von Jürgen Jahn. Berlin: Rütten & Loening 1969. MAYER, Hans: Verlagsgeschichte als Literaturgeschichte. Rede zur 110-Jahr-Feier des Verlages Rütten & Loening, gehalten am 8. Dezember 1954 in Berlin. Berlin: Rütten & Loening 1954. RICHTER, Hans Werner (Hrsg.): Die Mauer oder Der 13. August. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1961 (rororo 482).
62 https://ruettenundloening.prozessbeobachter.net/chronologie-1-Ruetten-und-Loening.php: Advokatur & Notariat Mattle / Neidhart Vollenweider / Brutschin Zogg / Joset an Landesamt für offene Vermögensfragen, 19. 6. 2003. – Der Antrag von Oswalt und seinen Erben wurde abgelehnt, »da der Verlag zum Schädigungszeitpunkt seinen Geschäftssitz in Frankfurt am Main und nicht im Beitrittsgebiet« gehabt habe; Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin, 16. 12. 2010.
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Ministerium für Kultur der DDR (Hrsg.): Die Stimme der Künstler ruft nach Frieden. Berlin: Rütten & Loening 1961. Verlagsverzeichnis Herbst 1969 Rütten & Loening Berlin. Berlin: Rütten & Loening 1969.
Forschungsliteratur ALTENHEIN, Hans: Kunst-Dienst statt Kriegsdienst. Der Ulrich Riemerschmidt Verlag 1939 bis 1943. In: Aus dem Antiquariat, Nr. 2/2013, S. 57–62. FRACH-NITSCHE, Petra: Rütten & Loening Berlin. Bibliographie 1945–1994. Manuskript. Berlin: Rütten & Loening 1994. FROHN, Julia: Literaturaustausch im geteilten Deutschland. 1945–1972. Berlin: Ch. Links, 2014. HERMSDORF, Klaus: Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten. Berlin: Theater der Zeit 2006. JÜTTE, Bettina: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949). Berlin/ New York, NY: De Gruyter 2010. KÖRNER, Klaus: Gütersloh, Globke, Gala: Karl Ludwig Leonhardt, Lektor und Verleger. In: Aus dem Antiquariat, H. 5/2010, S. 221–237. LINKS, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. 2. Aufl. Berlin: Ch. Links 2010. LOKATIS, Siegfried: Geschichtswerkstatt Zensur. In: Siegfried Lokatis: Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR. Stuttgart: Hauswedell 2019, S. 243–323. LUNKEWITZ, Bernd F.: Der Aufbau-Verlag und die kriminelle Vereinigung. Berlin: epubli 2020. PRÉDHUMEAU, Alfred: Der zensierte Zensor. Die Editionen von Döblins November 1918. In: Siegfried Lokatis / Martin Hochrein (Hrsg.): Die Argusaugen der Zensur. Begutachtungspraxis im Leseland DDR. Stuttgart: Hauswedell 2021, S. 201–218. SCHOOR, Uwe: Das geheime Journal der Nation. Die Zeitschrift »Sinn und Form«, Chefredakteur: Peter Huchel 1949–1962. Berlin u. a.: Peter Lang 1992. STAUDE, Gaby: Rütten & Loening: Verlagsgeschichte und Politik. Magisterarbeit an der TH Darmstadt, Darmstadt 1996. STAUDE, Gaby: Der Verlag Rütten & Loening 1936 bis 1950. Vom arisierten NS-Verlag zur Sequestermasse und Produktionsgruppe. In: Jahrbuch für Buchgeschichte 7 (1997), S. 189– 221. STAUDE, Gaby: Rütten & Loening nach 1945: Ein zweigleisiger Verlag. In: Mark Lehmstedt / Siegfried Lokatis (Hrsg.): Das Loch in der Mauer. Der innerdeutsche Literaturaustausch. Wiesbaden: Harrassowitz 1997 (= Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte 10), S. 145– 156. TRIPMACKER, Wolfgang: Verwehte Spuren. Potsdamer Verlagsgeschichte(n). Wilhelmshorst: Märkischer Verlag 2008. WURM, Carsten: Leser und Verleger. Zu Wolfgang Richter. In: Marginalien 149. Heft (1/1998), S. 41–45. WURM, Carsten: 150 Jahre Rütten & Loening. … mehr als eine Verlagsgeschichte. Berlin: Rütten & Loening 1994. WURM, Carsten: Zur Frühgeschichte der Pirckheimer-Gesellschaft. In: Marginalien 143 (3/1996), S. 3–19.
Carsten Wurm 5.3.1.3 Volksverlag Weimar Der Volksverlag Weimar, der von 1945 bis 1963 bestand, war ein SED-eigenes Unternehmen, das anfangs die politische Arbeit der KPD/SED im Land Thüringen unterstützte und dann zu einem Belletristikverlag umstrukturiert wurde. Er diente vor allem der Herausgabe der parteieigenen regionalen Tageszeitung Thüringer Volk, druckte aber bereits 1945 und 1946 eine ganze Reihe politischer Schriften und erhielt 1947 von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) auch eine Buchverlagslizenz. Bis zum Ende der 1940er Jahre beschränkte sich das Programm auf politische Literatur zur Unterstützung der SED-Politik und Belletristik parteieigener Autoren. Im Goethe-Jahre 1949 brachte der Verlag ein Goethe-Lesebuch von Walther Victor heraus, nach dessen Erfolg sich der Verlag der Herausgabe populäre Klassikerausgaben zuwandte. Bei der programmatischen Neuorientierung spielten der Standort Weimar und die räumliche Nähe zu den Stätten der Weimarer Klassik eine ebenso wichtige Rolle wie der Beschluss der SED, die Parteiliteratur nur noch im zentralen Parteiverlag, dem Dietz Verlag, zu publizieren. Neben der fachlich umstrittenen Reihe Lesebücher für unsere Zeit waren es vor allem die Bibliothek deutscher Klassiker und die Bibliothek der Antike, die den Ruf des Weimarer Unternehmens begründeten. Mit diesem Programm hob sich der Volksverlag von den anderen regionalen Parteiverlagen, wie dem Sachsenverlag (Dresden) und dem Mitteldeutschen Verlag (Halle/Saale), deutlich ab. Im Rahmen der Neustrukturierung des Verlagswesen, der sogenannten Profilierung, ging der Volksverlag zum 1. Januar 1964 im Aufbau-Verlag auf, und sein Klassikprogramm mit den drei genannten erfolgreichen Reihen wurde durch das neu geschaffene Lektorat Deutsches Erbe in dem bisherigen Weimarer Verlagshaus Puschkinstraße 1 fortgeführt.
Zur Firmengeschichte Am 13. Juli 1945 gründeten im Auftrag der KPD die vier Gesellschafter Hermann Jahn, Wilhelm Doell, Oskar Dünnebeil und Richard Lucas in Erfurt die Thüringer Volksverlags G.m.b.H., deren Ziel die Herausgabe der Tageszeitung Thüringer Volkszeitung sowie der Druck politischen Schrifttums war. Mit Wirkung vom 1. August verlegte die Firma ihren Sitz nach Weimar, wo sich die SMAD-Kommandantur für das Land Thüringen befand und schon bald die Landesregierung ihre Arbeit aufnahm. Am 22. November 1945 wurde die Firma im Handelsregister Weimar eingetragen.1 Die vier Gründer gehörten zu einem »Antifaschistischen Komitee«, das während der amerikanischen Besatzungszeit seine Arbeit aufgenommen und die Gründung der KPD in Erfurt vorbereitet hatte. Hermann Jahn2 und Oskar Dünnebeil 3 waren in der Weimarer Republik Funktionäre der Partei gewesen, unter dem Nationalsozialismus verfolgt, inhaftiert und gerade
1 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/1182 Jahresbericht mit Jahresbilanz der Thür. Volksverlag GmbH (LVL Thür.), 1946, S. 2. 2 Gutsche, Willibald (Hrsg.): Geschichte der Stadt Erfurt, 2. Aufl. Weimar 1989, S. 459. 3 Monika Zorn (Hrsg.): Hitlers zweimal getötete Opfer. Westdeutsche Endlösung des Antifaschismus auf dem Gebiet der DDR. Freiburg i. Br.: Ahriman-Verlag, S. 227. https://doi.org/10.1515/9783110471229-023
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erst aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit worden. Jahn wurde durch die SMAD im Juli 1945 als Oberbürgermeister der Stadt Halle eingesetzt.4 Die Geschäftsführung des Thüringer Volksverlages, dessen Name bei einem 1933 verbotenen KPD-Unternehmen entlehnt wurde,5 lag in den Händen von Paul Hockarth,6 der bis 1933 die parteieigene Druckerei Fortschritt G.m.b.H. Erfurt geführt hatte und während der Nazizeit nach mehreren Haftzeiten nur noch als einfacher Setzer in einer Weimarer Druckerei tätig sein durfte. Kriegsverwundet, erlebte er in einem Weimarer Lazarett den Einmarsch der Amerikaner.7 Die vier Erfurter Genossen holten ihn nach Erfurt, wo er kommissarisch die Geschäftsführung der Druckerei in der Regierungsstraße 62/63 übernahm. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde ihm in Weimar zusätzlich die Geschäftsführung der Druckerei Hinter dem Bahnhof 10 übertragen. Mit Genehmigung der amerikanischen Besatzungsbehörde konnte die Druckerei in Erfurt im Frühsommer 1945 mit der Produktion amtlicher Mitteilungen beginnen.8 Beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in Thüringen am 3. Juli 1945 begrüßte die KPD die neue Besatzungsmacht mit einer illegal gedruckten ersten Ausgabe der Thüringer Volkszeitung, die unter Hockarths Leitung in zwei von der KPD okkupierten Druckereien in Erfurt und Weimar in einer Auflage von 80.000 Exemplaren hergestellt worden war.9 Am 17. Juli, vier Tage nach Gründung des Verlages, erschien die zweite, nun von der SMAD genehmigte Nummer, im September ging das Blatt zum täglichen Erscheinen über. Am Jahresende betrug die Auflage 660.000 Exemplare, was bei einer geschätzten Anzahl von 1 Mio. Thüringer Haushalten eine Belieferungsquote von 66 % ausmachte, wie der Verlag in seinem ersten Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1945 konstatierte.10 Grundlage für den Aufstieg des Unternehmens war die Protektion durch die SMAD, die ihm nicht nur die erforderlichen Genehmigungen blitzartig erteilte, sondern auch für die materielle Ausstattung sorgte. Husarenstreichartig hatte die KPD nach den ersten beiden Druckereien im Sommer 1945 zwei andere übernommen. Weitere Übereignungen erfolgten auf Befehl der SMAD und durch Erlass der Landesregierung. Auch der SPD, die wenige Monate nach der KPD in Thüringen die Tribüne-Verlags GmbH mit der Tageszeitung Tribüne etabliert hatte, und den bürgerlichen Parteien CDU und LDP wurden für ihre Zeitungen Druckereibetriebe und Papier zur Verfügung gestellt, allerdings in weit geringerem Umfang. Spätestens mit der Vereinigung von KPD und SPD zur SED im April 1946 war die neue Partei im Bereich Druck und Papier den anderen
4 Gutsche, Willibald (Hrsg.): Geschichte der Stadt Erfurt, 2. Aufl. Weimar 1989, S. 469. 5 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/2314: Paul Hockarth: In den ersten Jahren (aus seinem Nachlaß), o. D. 6 Müller-Enbergs, Helmut u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR?, S. 427. 7 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/2314: Grenadier Paul Hockarth, z. Zt. Res. Laz. Weimar, Pension Weiss, an Chefarzt, Herrn Oberstabsarzt Dr. Hunstein, Weimar 2. 6. 1945. 8 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/2314: Paul Hockarth: In den ersten Jahren (aus seinem Nachlaß), o. D.; SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/1181: Jahresbericht 1945 des Thüringer Volksverlags GmbH. Weimar. 9 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/1181: Jahresbericht 1945 des Thüringer Volksverlags GmbH. Weimar. 10 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/1181: Jahresbericht 1945 des Thüringer Volksverlags GmbH. Weimar, S. 11.
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beiden Parteien drückend überlegen. Eine fundamentale Zuteilung zugunsten der KPD erfolgte beispielsweise auf Befehl der SMAD am 4. Oktober 1945 durch den Präsidenten des Landes Thüringen aus dem Besitz des thüringischen Gau-Verlages »Der Nationalsozialist«: 1. das gesamte Büroinventar in den Geschäftsstellen Thüringens; das bebaute Grundstück in Eisenach und Erfurt, Druckereieinrichtungen in Erfurt, Weimar und Eisenach und sämtliche Vorräte dieser Druckereien, 2. das bebaute Grundstück der Franke’schen Druckerei- und Verlagsanstalt Altenburg mit Einrichtung und Vorräten 3. das bebaute Grundstück der Thüringer Druckerei- und Verlagsanstalt Hugo Herzau, Gotha, 11 mit Einrichtung und Vorräten.
Auf Rat eines betriebswirtschaftlich bewanderten Genossen achtete die KPD bei der Übernahme des Gau-Verlages darauf, dass nicht sämtliche Passiva auf sie übergingen.12 Durch eine weitere Verfügung am 9. Mai 1947 durch den Minister des Inneren für das Land Thüringen erhielt die SED 13 Druckereien »im Wiedergutmachungswege zu Eigentum«, die LDP zwei und die CDU eine.13 Ein paar Jahre später, Ende 1950, fungierte der Thüringer Volksverlag als Rechtsträger von »50 Objekten«,14 d. h. grafischen Betrieben. Der eigentliche Eigentümer war die SED, die außerhalb des Druck- und Verlagswesens zahlreiche andere Firmen, Geschäftsund Wohnimmobilien an sich zog und Anfang der 1950er Jahre die Eigentumstitel in der Abteilung Finanzen und Parteibetriebe beim ZK der SED bündelte. Zum Firmenkonglomerat des Thüringer Volksverlages gehörte auch das Karl-Marx-Werk Pößneck, das in dieser Zeit zur »größten Buchfabrik der DDR«15 ausgebaut wurde. Die Gewinne wurden dem ZK bzw. dem Parteivorstand der KPD/SED überwiesen. So erhielt die KPD laut erster Vereinbarung 1945 als eine Art »Pacht« pro Abonnenten der Tageszeitung Thüringer Volkszeitung monatlich –,50 RM, ab Januar 1946 –,75 RM, dafür durfte der Verlag damals fünf parteieigene Druckereien und Büroeinrichtungen in 15 Niederlassungen nutzen.16 Laut einem späteren Vertrag zwischen dem Thüringer Volksverlag und der SED erhielt die Partei für die Überlassung der Produktionsstätten eine Beteiligung am Umsatz des Verlages durch Verkauf, Lohnaufträge usw. von 35 %. Das hätte 1950 16.186.300 M bedeutet. Überweisen konnte der Verlag jedoch nur einen Betriebsgewinn von 15.001.930 M, sodass die SED auf den fehlenden Betrag verzichten musste.17 11 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/1181: Jahresbericht 1945 des Thüringer Volksverlags GmbH. Weimar, Anhang. 12 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/2314: Stellungnahme zur Liquidationsbilanz per 31. 8. 1945, Weimar am 2. Okt. 1945. 13 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/2314: Bericht über die Monate Januar bis einschl. Juni 1947 der Thüringer Volksverlag GmbH Weimar. 14 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/29: Jahresbericht Thüringer Volksverlag GmbH für das Geschäftsjahr 1950, S. 3–5. 15 Links: Die verschwundenen Verlage der SBZ/DDR, S. 238–239. 16 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/1182 Jahresbericht mit Jahresbilanz der Thür. Volksverlag GmbH (LVL Thür.), 1946, S. 4. Der Vertrag selbst konnte nicht gefunden werden. 17 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/29: Jahresbericht Thüringer Volksverlag GmbH für das Geschäftsjahr 1950, S. 106. Der Vertrag konnte wie im Fall zuvor nicht gefunden werden.
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Nach der Vereinigung von KPD und SPD im April 1946 wurden die SPD-eigene Tribüne-Verlags GmbH von der Thüringer Volksverlags GmbH übernommen und die Tageszeitungen Tribüne und Thüringer Volkszeitung unter dem neuen Namen Thüringer Volk zusammengeführt. Gesellschafter der neuen Thüringer Volksverlags GmbH waren nach einer Kapitalerhöhung von 20.000 auf 102.000 RM Ernst Busse, August Fröhlich, Otto Rolle, Dr. Arno Barth, Stefan Heymann und Karl Buchmann treuhänderisch für die SED. Wie aus vergleichbaren Fällen bekannt, mussten die Gesellschafter unterschreiben, dass sie das Geld für ihren Anteil von der SED bekommen und nur deren Interessen in der GmbH zu vertreten hatten.18 Das war keine Formalität, wie der Fall Erich Gniffke zeigte. Der zweite Mann nach Otto Grotewohl in der SPD bei der Vereinigung mit der KPD übernahm im neuen Parteiapparat zahlreiche Funktionen als Gesellschafter von SED-Firmen, so u. a. in der Zentrag GmbH, der zentralen Holding der SED im Bereich Druck und Papier. Als Gniffke im Oktober 1948 nach der Entwicklung der SED zur Partei neuen Typus in den Westen flüchtete, war mit ihm der Hauptgesellschafter der Zentrag mit einem Anteil von 50 % am Stammkapital von 100.000 M verschwunden. Gniffke verzichtete, sicher auch mit Blick auf die vorsorgliche Formulierung in dem Beauftragungsvertrag für das Gesellschafteramt, ersatzlos auf alle Gesellschafteranteile. Vermutlich aus Furcht vor den seinerzeit häufig praktizierten Entführungen durch die DDR-Sicherheitsbehörden schickte er zur notariellen Unterzeichnung in einer Westberliner Wohnung vorsichtshalber eine Vertrauensperson.19 Der Thüringer Volksverlag übernahm alle diese Firmen und Objekte auf dem Verwaltungsweg. Die nur zum Teil erhaltenen Unterlagen zeigen an keiner Stelle, dass Geld an die Alteigentümer oder an das Land Thüringen, das zwischengeschaltet war, geflossen wäre. In den Grundbuchämtern kamen die Mitarbeiter kaum mit der Umschreibung von Firmeneigentum und Immobilien hinterher, bezweifelten anfangs vermutlich auch, ob die Eintragungen über den Eigentümerwechsel rechtens oder zumindest formgerecht waren. Die SED-Funktionäre waren darüber mitunter ungehalten: Der Verfasser eines Geschäftsberichtes sprach angesichts der Zögerlichkeit der Angestellten gar von »Sabotage«.20 Sieht man von der Rückübertragung enteigneter KPD-Firmen bzw. der Übertragung von Firmen zum Zwecke der Wiedergutmachung für die 1933 erlittenen Schäden ab, bewegten sich die Enteignungen und Übereignungen außerhalb rechtsstaatlicher Normen. Unterlagen über die Umstände der Enteignungen sind in den von der Zentrag geführten Betriebsakten nur sporadisch überliefert. Der Fall der Druckerei Wilhelm
18 »Ich versichere hiermit in bestimmter Form, daß meine Einlage in voller Höhe von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) eingezahlt wurde. Demgemäß verpflichte ich mich unwiderruflich, meine Gesellschafterfunktion lediglich als Treuhänder der SED auszuüben und mich im Rahmen des Gesellschaftsvertrages an deren Weisungen widerspruchslos gebunden zu halten.« (SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/3559: Verpflichtungserklärungen/Kopien.) 19 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/3559: Abtretung des Gesellschafteranteil von Erich Gniffke, Berlin-Zehlendorf, an der Zentrag (50.000 von 100.000 Stammkapital), durch Bevollmächtigte Lisbeth Wandel, geb. Schmidt, 28. 12. 1948; verhandelt in Berlin-Wannsee vor Ingeborg Gentz. 20 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/2314: Bericht über die Monate Januar bis einschl. Juni 1947 der Thüringer Volksverlag GmbH Weimar.
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Schmuhl in der Weimarer Schwanseestraße zeigt, dass die einfache nominelle NSDAPMitgliedschaft des Inhabers und ein missgünstiges Gutachten für die Enteignung genügten. Erschwerend kam hinzu, dass Schmuhl die Druckerei zu einem »Spottpreis« vom Reichsnährstand gekauft habe.21 Paul Hockarth brachte am Anfang des Enteignungsprozesses die Strategie auf die Formel: »Bezüglich des N.S.-Gauverlages würde ich vorschlagen, es genauso zu machen, wie es im Jahre 1933 durch die Nazis gemacht wurde.«22 Schon in den 1950er Jahre gab es weder in Thüringen noch in der gesamten DDR im Bereich des Zeitungsund Buchdrucks eine größere private Druckerei. Ein Nadelöhr, durch das der Thüringer Volksverlag wie alle Firmen in der Nachkriegszeit gehen musste, bestand im Mangel an Papier. Auch hier hatte das Unternehmen Sonderkonditionen. Im Geschäftsbericht für 1950 werden die verbrauchten Mengen aufgelistet: 1946 3.320 t, 1947 1.978 t, 1948 2.081 t, 1949 2.730 t, 1950 4.125 t. Auch wenn der größte Teil davon in die Zeitungsproduktion ging, blieb genügend für die Buchproduktion übrig. Der Einbruch 1947 erklärt sich aus der auch vor der SED nicht haltmachenden Demontagepolitik der SMAD. Der Thüringer Volksverlag und die SED hatten die beiden auf thüringischem Boden bestehenden kriegsbeschädigten Papierfabriken Wiede in Rosenthal und Fockendorf bei Altenburg wieder in Gang gesetzt, mussten dann allerdings die Demontage der Produktionsanlagen auf Befehl der SMAD hinnehmen.23
Zum Umfang des Buchverlags Der Buchverlag, der im Geschäftsleben des Thüringer Volksverlages lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle spielte, wurde anfangs wie eine Abteilung des Weimarer Stammbetriebes geführt, aber schon im Geschäftsjahr 1946 buchhalterisch nach Einnahmen und Ausgaben gesondert ausgewiesen. Das Buchgeschäft florierte längst, als sich der Verlag Ende 1946 bei der SMAD um eine nunmehr separat notwendige Lizenz bemühte. Am 25. Februar 1947 erhielt der Volksverlag in Berlin die Lizenz Nr. 220.24 Der Buchverlag hatte seinen Sitz in Weimar, erst in der Jakobstraße 2, dann in der Hegelstraße 2a, zog
21 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/2314: Brief von Paul Hockarth an Gen. Busse, Weimar, 25. 9. 1945. Hockarth führt in seiner Stellungnahme an, dass der Inhaber Mitglied der NSDAP war, der Sohn, Hauptsturmführer der SS-Reserve, sich in Haft befinde, das Vermögen durch Arbeiten für die NSDAP akkumuliert wurde. Die Druckerei sei früher Eigentum des Thüringer Landbundes gewesen und 1942 von Schmuhl zu einem »Spottpreis« vom Reichsnährstand erworben worden. In der Druckerei »befindet sich [die] Rotationsmaschine der Druckerei Fortschritt A. G. Erfurt (früher KPD)«. 22 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/2314: Brief von Paul Hockarth an Gen. Busse, Weimar, 25. 9. 1945. 23 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/1182 Jahresbericht mit Jahresbilanz der Thür. Volksverlag GmbH (LVL Thür.), 1946. »Dies war ein schwerer Schlag, gerade für unser Unternehmen, da in Thüringen keine anderen leistungsfähigen Fabriken vorhanden waren.« Ersatz kam von der Papierfabrik Wilhelm Vogel Lunzenau in Sachsen. 24 Jütte, Verlagslizenzierungen, S. 279; Lizenzierte Verlage und Zeitschriften, in: Börsenblatt Leipzig, 28. 3. 1947, S. 79.
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Ende 1951 für kurze Zeit nach Erfurt, Anger 37/38,25 weil Erfurt mittlerweile Landeshauptstadt geworden war. Im Juni 1952 lautet die Anschrift wieder Weimar, diesmal Puschkinstraße 1, wo der Verlag, herausgelöst aus dem Zeitungsverlag, seine selbstständige Arbeit begann.26 Der Zeitungsverlag wurde 1954 in Liquidation geschickt,27 nachdem 1952 offenbar alle seine Immobilien und Betriebsmittel im Zuge der Auflösung der Länder in der DDR auf die neu gegründeten drei thüringischen Bezirkszeitungen der SED verteilt worden waren. Der Buchverlag war schon 1952 ökonomisch dem neu gegründeten SED-eigenen Druckerei- und Verlagskontor und kulturpolitisch dem Amt für Literatur unterstellt worden.28 Das waren Verwaltungsakte, die sich weder in Gesetzen noch in Verträgen niederschlugen. Jedenfalls fanden sich dazu bislang in den Zentrag-Akten keine juristisch relevanten Belege. Das SED-Eigentum am Verlag blieb bis zu seiner Eingliederung in den Aufbau-Verlag 1964 erhalten, das an der Immobilie Puschkinstraße 1 darüber hinaus bis in die Zeit nach der deutschen Vereinigung. Ab 1955 firmierte der Verlag als Volksverlag Weimar, womit der gewachsene überregionale Anspruch unterstrichen werden sollte. Neben dem Buchverlag und später diesem untergeordnet, betrieb der Verlag ab 1946 einen Formularverlag, der laut den Geschäftsberichten für 1946 und 1950 besonders profitabel arbeitete. Grundlage war ein vom SPD-eigenen Tribüne-Verlag übernommener Vertrag mit dem Oberlandesgerichtspräsidenten für die Thüringische Landesjustizverwaltung über Vordrucke für die Justizbehörden und Standesämter.29 Ab 1950 lieferte der Thüringer Volksverlag Justizvordrucke für die ganze DDR.30 Zusätzlich zur Produktion des zentralen Buchverlags in Weimar/Erfurt erschienen an den Standorten der lokalen Geschäftsstellen des Zeitungsverlages vereinzelt Hefte und Broschüren, so mehrere Adress- und Fernsprechbücher.31 Einige wurden vom Buchverlag hergestellt, bei anderen lag die Verantwortung für die Herausgabe vermutlich bei den lokalen Zweigstellen des Zeitungsverlages. Sie können von den Werken des Buchverlages nur durch die unterschiedlichen Verlagsorte grob unterschieden werden. Zu diesem Komplex gehörten auch zwei weitere Verlage, der Ernst-Kamprath-Verlag und der Buchverlag Beltz, die dem Thüringer Volksverlag zusammen mit übereigneten Druckereifirmen zufielen. Deren Verlagsbetrieb war bereits 1950 eingestellt worden, die Bestände wurden allerdings aus-
25 AdK, Walther-Victor-Archiv, 49/1: Thüringer Volksverlag, Wilhelm Rücker an Walther Victor, 25. 10. 1951, mit Stempel: »Wir sind umgezogen! Unsere neue Anschrift: Erfurt, Anger 37/ 38«. Wenig später lautete die Anschrift: Erfurt, Löberwallgraben 20. 26 AdK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 49/2. 27 SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/3559: Urkunde vom 5. 6. 1954 der Notarin Ingeburg Gentz in Berlin. Paul Dampmann erklärt darin als Vertreter der Zentrag in Form einer »ausserordentlichen Gesellschafterversammlung« die Auflösung der Thüringer Volksverlags GmbH; zum Liquidator wird Herbert Wagner, Weimar bestellt. 28 Lokatis: Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur, S. 46–48. 29 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/1182 Jahresbericht mit Jahresbilanz der Thür. Volksverlag GmbH (LVL Thür.), 1946. 30 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/29: Jahresbericht Thüringer Volksverlag GmbH für das Geschäftsjahr 1950, S. 179. 31 Für Arnstadt, Eisenach, Erfurt, Meiningen, Pößneck, Saalefeld, Suhl. SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/29: Jahresbericht Thüringer Volksverlag GmbH für das Geschäftsjahr 1950, S. 192.
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verkauft und einige Titel mit der Verlagsangabe Thüringer Volksverlag G.m.b.H., Zweigstelle Karl-Marx-Werk Pößneck nachaufgelegt.32 1950 gab der »Gesamtverlag« auch etliche Zeitschriften heraus, die mit dem Buchverlag nichts zu tun hatten.33 In den aufgefundenen Geschäftsunterlagen nur pauschal als »Kunstverlag« aufgeführt wurde der Graphik-Verlag Dr. Heinrich Mock,34 der von 1949 bis 1953 als Abteilung des Thüringer Volksverlags arbeitete und im Verlagshaus Jakobstraße 2 ein »Graphisches Kabinett« betrieb. Mock, der seinen selbstständig gründeten Verlag sowie die noch wichtigere Galerie von 1945 bis 1953 in Altenburg und Weimar führte, hatte seine Firma 1949 angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der Währungsreform von 1948, Papierknappheit und wachsender ideologischer Probleme an das SED-Unternehmen verkauft und leitete sie in dessen Auftrag weiter.35 Der überregional bekannte Galerist publizierte vor allem Graphiken (Mappen und Einzelblätter von Otto Dix, Conrad Felixmüller, Erich Heckel u. a.) und Graphikreproduktionen (meist im LichtdruckVerfahren),36 die künstlerisch anspruchsvoll waren, aber naturgemäß nur ein kleines Publikum erreichten. Ergänzend versuchte Mock, mit einer 1949 eröffneten GraphikBücherei ein zusätzliches Tätigkeitsfeld zu eröffnen. Laut Geschäftsbericht des Thüringer Volksverlages für 1950 arbeitete Mock aber mit Verlusten. Den Wünschen der SED entsprechend nahm Mock »Bildnisse politischer Kämpfer, Künstler und Wissenschaftler« in das Graphikangebot auf,37 die zur Ausgestaltung von Ämtern und öffentlichen Einrichtungen massenhaft gebraucht wurden. Nachdem sich die Leitung des Thüringer Volksverlages mit dem Kunstprogramm einige Jahre schwergetan hatte, gab sie die Graphik-Abteilung 1954 an den Verlag der Kunst ab.38 Mock ging zunächst mit zum Dresdner Verlag, wurde dann aber Ende 1955 zum Stellvertretenden Direktor des Staatlichen Kunsthandels in Berlin berufen. 1959 verließ er die DDR in Richtung Westen, wo er 1961 in München seinen Graphikhandel als Graphikum Dr. Heinrich Mock wiederbelebte.39 Für den Volksverlag war die Kunstabteilung nur eine Episode und betriebswirt-
32 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/29: Jahresbericht Thüringer Volksverlag GmbH für das Geschäftsjahr 1950, S. 173. Zu den unter dieser Firmierung erschienenen Titeln gehörten bspw. Lateinische Grammatik, kurz und bündig von Ernst Kamprath (4. Aufl. 1950) und 100 Kniffe für Kraftfahrer. Auf 100 Fragen 100 Antworten von Wolf Albrecht Doernhoeffer (6. Aufl. 1951). 33 So die Deutsche Wirkerzeitung, Deutsche Optische Wochenschrift und das Mitteilungsblatt des Ministeriums für Volksbildung. SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/29: Jahresbericht Thüringer Volksverlag GmbH für das Geschäftsjahr 1950, S. 180. 34 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/29: Jahresbericht Thüringer Volksverlag GmbH für das Geschäftsjahr 1950, S. 172. Zur Verlagsgeschichte siehe Pätzke: Der ›Graphik-Verlag Dr. Heinrich Mock‹; Merker: Der Verleger, Sammler und Graphikförderer Dr. Heinrich Mock; Links: Die verschwundenen DDR-Verlage der SBZ/DDR, Teil 5. 35 Vgl. Pätzke, Der ›Graphik-Verlag Dr. Heinrich Mock‹, S. 202. 36 Merker: Der Verleger, Sammler und Graphikförderer Dr. Heinrich Mock, S. 39. 37 Geschäftlich waren die Porträts gewinnbringend, nur für den Ruf waren sie bedenklich. (SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/29: Jahresbericht Thüringer Volksverlag GmbH für das Geschäftsjahr 1950, S. 173.) 38 Pätzke: Der ›Graphik-Verlag Dr. Heinrich Mock‹, S. 203. 39 Merker: Der Verleger, Sammler und Graphikförderer Dr. Heinrich Mock, S. 40–41, 43.
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schaftliche Bagatelle, für den Kunstbetrieb Thüringens jedoch war Mocks Unternehmen eine wichtige Adresse.
Personalentwicklung im Buchverlag Erste Leiterin der »Abteilung Buchverlag« mit Prokura war Adelgunde Singer, über die in den Geschäftsbüchern nur vermerkt ist, dass sie im zweiten Geschäftsjahr »vom Landesvorstand der Partei zur Durchführung wichtiger Aufgaben benötigt«40 und deshalb abgelöst wurde. Auf sie folgte Wilhelm Rücker, der bis zur Verschmelzung des Volksverlages mit dem Aufbau-Verlag von 1946 bis 1963 im Amt blieb, erst als Abteilungsleiter Buchverlag/Formularverlag, dann nach der Ausgliederung des Buchverlags ab Januar 1952 als Verlagsleiter.41 Rücker, Jahrgang 1904, hatte eine Buchhandelslehre in der bekannten Thelemannschen Buchhandlung Weimar absolviert und in verschiedenen Firmen in Bad Kissingen, Berlin und Frankfurt am Main den Beruf ausgeübt, zuletzt im Antiquariat Gustav Fock GmbH in Leipzig. Auch zwei Jahre im Verlag W. Junk in Berlin gehörten zu seiner Laufbahn. 1940 zur Wehrmacht einberufen, wurde er nach zwei Jahren entlassen und in den Heinkel-Werken (Flugzeugbau) in Rostock und Wien als Sachbearbeiter Einkauf dienstverpflichtet. Bei Kriegsende kehrte er zu seiner Mutter nach Weimar zurück, trat in eine Firma ein, die enteignete Unternehmen in Landsauftrag verwaltete, und wurde SPD-Mitglied. Zum 1. Januar 1946 wechselte er zum SPD-eigenen Tribüne-Verlag und kam auf diesem Wege nach der Vereinigung von SPD und KPD in die SED und ihren Thüringer Volksverlag. Die Amtsführung Rückers zeichnete sich zwar nicht durch große verlegerische und editorische Eigeninitiative aus, doch er verstand es, die von der Leitung des »Gesamtverlages« und den Parteiführungen in Thüringen und in Berlin an ihn herangetragenen Aufgaben zu erfüllen. Geschickt griff er ebenso Vorschläge auf, die ihm von Walther Victor, seinem wichtigsten Berater, unterbreitet wurden, und verwirklichte sie mit Beharrlichkeit und Sachverstand. So ist der Aufstieg des Volksverlages vom Propagandaunternehmen zum Verlag populärer Klassikerausgaben das Verdienst von Rücker, aber mehr noch von Victor. Walther Victor (1895–1971) war nicht im Verlag angestellt, sondern wirkte als freier Mitarbeiter an der Programmgestaltung, dem Lektorat und zeitweise auch der Herstellung der Reihe Lesebücher für unsere Zeit mit. Der Sohn eines jüdischen Unternehmers stieß 1919 zur Sozialdemokratie, arbeitete viele Jahre in Hamburg und Zwickau in deren Parteipresse, wechselte dann zum Mosse-Verlag. Im schweizerischen Exil gründete er mit einem einheimischen Partner den kleinen Verbano-Verlag Locarno. Im US-amerikanischen Exil war er von 1942 bis 1945 für den renommierten Verlag Alfred A. Knopf als Herstellungsleiter tätig. Zurückgekehrt nach Deutschland, trat Victor der SED bei und wirkte in der sächsischen Landesregierung mit.42 Zuletzt
40 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/1182: Jahresbericht mit Jahresbilanz der Thür. Volksverlag GmbH (LVL Thür.), 1946. 41 Zu Rückers Biografie: AdK, Bestand AdK (O), Nr. 8201: Personalbogen des Thüringer Volksverlags von Wilhelm Rücker, 2. 2. 1953. 42 Daten nach Victor: Kehre wieder über die Berge, Victor: Und wo hast du dich so lange überhergetrieben?
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leitete er die Büchergilde Gutenberg in Berlin, nach deren schnellem Ende Victor 1951 im Volksverlag ein neues Tätigkeitsfeld fand. Rücker gehörte wie der Hauptbuchhalter und Stellvertretende Verlagsleiter Adolf Schütz43 und die in den 1950er Jahren eingestellten verantwortlichen Lektoren Irma Marschall (ab 1954 Lektorat Belletristik)44 und Herbert Greiner-Mai (ab 1955 Lektorat Klassik)45 der SED an. Die Belegschaftsstärke in der Nachkriegszeit ließ sich bislang nicht ermittelt, während für die späten fünfziger Jahre Unterlagen überliefert sind. So weist der »Kaderspiegel« des Volksverlages von 1958 24 Mitarbeiter aus, einschließlich der Leitung, von denen neun der SED angehörten.46 Das Lektorat umfasste nur drei, ab 1955 vier Lektoren. Wie die Situation bis Anfang der 1950er Jahren aussah, lässt sich dem Briefwechsel zwischen Rücker und Victor entnehmen. Im Verlag führte Rücker die Korrespondenz weitgehend allein, übertrug dem in Kleinmachnow, später in Berlin lebenden freien Mitarbeiter Walther Victor vollkommen die Lektoratsarbeit für die zentrale Reihe Lesebücher für unsere Zeit und überließ ihm zeitweise auch die Koordinierung der Herstellung und die Kontakte zur Druckerei.47 Noch als der Verlag mit den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten über die Herausgabe der arbeitsaufwändigen Reihe Bibliothek deutscher Klassiker verhandelte, wollte Rücker anfangs die Lektoratsarbeit ausschließlich der Forschungseinrichtung überantworten. Erst im Ergebnis der Verhandlungen über die Gründung der Reihe wurde der Klassik-Lektor Greiner-Mai eingestellt. Wie umfangreich die von der Belegschaft erbrachte Produktion war, lässt sich am Themenplan für 1963 ablesen: Die für DDR-Verhältnisse kleine Belegschaft produzierte 43 Erst- und Nachauflagen mit 78 Bänden, nicht gerechnet die Zeitschrift Weimarer Beiträge.48
Das Verlagsprogramm in Umrissen Schon bevor der Buchverlag am 27. Februar 1947 lizenziert wurde, publizierte der Thüringer Volksverlag Bücher: 1945 zwölf und 1946 28 Titel, alles Neuerscheinungen, wie
43 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T34: Kaderspiegel vom 14. 4. 1958. 44 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T33: Brief von Volksverlag an DVK, 3. 10. 1957. 45 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T33: Meldung der Belegschaftsstärke, 30. 6. 1955. 46 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T34: Kaderspiegel vom 14. 4. 1958. 47 AdK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 49 und 52. 48 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T67: Themenplan 1963. Enthalten sind in dieser Zahl vier Titel des Arion-Verlages, eines Tochterunternehmens des Volksverlags (siehe weiter unten im Beitrag). Die genaue Belegschaftsstärke für 1963 ist nicht ermittelt, dürfte aber wie Ende der 1950er Jahren bei ca. 24 (1958) bis 26 (1955) Mitarbeiter gelegen haben. SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T33: Meldung der Belegschaftsstärke 30. 6. 1955; Nr. T34: Kaderspiegel vom 14. 4. 1958. – Bei den hohen Mitarbeiterzahlen der DDR-Verlage ist zu beachten, dass die Verwaltung des Hauses im Thüringer Volksverlag allein fünf Mitarbeiter erforderte: Telefonistin, Bote, Hausmeister/Heizer, zwei Putzfrauen, deren Arbeit in einem vergleichbaren westdeutschen Verlag von Fremdkräften erledigt worden wäre. Auch Lehrlinge, Halbtagsbeschäftigte und Kurzzeitbeschäftigte wurden als jeweils eine Kadereinheit gezählt. SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T34: Beschäftigte zum 31. 12. 1959.
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bei einer Neugründung nicht anders möglich. Das geschah im Rahmen der von der SMAD erteilten Lizenz für den Zeitungsverlag. Auch andere Zeitungsverlage druckten in den ersten beiden Jahren nach dem Krieg politische Broschüren und Hefte, doch eine relevante Anzahl erreichten nur die der KPD/SED gehörenden Firmen, neben dem Thüringer Verlag vor allem der Sachsenverlag Dresden. Die satzfertigen Manuskripte scheinen beim Thüringer Volksverlag anfangs vom sowjetischen Zensor, der in Weimar täglich die Tageszeitung vorzensierte, durchgesehen und genehmigt worden zu sein. Daneben war die Landesleitung der KPD/SED verantwortlich, später die Abteilung Parteischulung, Kultur, Volksbildung beim Zentralsekretariat der SED unter Anton Ackermann und Stefan Heymann. Die für die übrigen Thüringer Verlage zuständigen staatlichen Behörden wie das Ministerium für Volksbildung von Thüringen und die Thüringische Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen und der 1946 in Berlin eingesetzte Kulturelle Beirat bei der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DZV) spielten in Zensurfragen eine eher untergeordnete Rolle.49 Bei der Produktion der ersten Jahre handelte es sich im Fall des Thüringer Volksverlages fast ausschließlich um Broschüren und Hefte zu politischen Themen, die sich in drei Gruppen aufteilen lassen: 1. Aufklärung über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen, darunter Überblicksdarstellungen (z. B. KZ Buchenwald, Die Verbrechen an der Sowjetunion) und vor allem Erlebnisberichte (Alfred Bunzol: Erlebnisse eines politischen Gefangenen im KZ Buchenwald; 90.000 Ex., Udo Dietmar: Häftling X in der Hölle, 188.000 Ex., Willy Kreuzberg: Schutzhäftlinge erleben die Invasion, 90.000 Ex.). 2. Propagandaschriften zur Unterstützung der SED und einzelner ihrer politischen Ziele z. B. über die Bodenreform (Demokratische Bodenreform, 65.000 Ex., 1500 Bauern stellen Fragen, 30.000 Ex., Großgrundbesitzerland wird wieder Bauernland, 100.000 Ex., Bodenreformgesetz mit Ausführungsbestimmungen, 100.000 Ex.), die Vereinigung von KPD und SPD (Wir schaffen die Einheit, 50.000 Ex.) und die Wirtschafts- und Enteignungspolitik (Ulbricht: Demokratischer Wirtschaftsaufbau, 50.000 Ex., Hans Tschacher: Olympia schlägt AEG-Konzern, 20.000 Ex., Grotewohl: Wo stehen wir – wohin gehen wir?, 75.000 Ex.). 3. Propagandaschriften zur Verbreitung eines positiven Bildes von der Sowjetunion, z. B. die Heft-Reihe Die Sowjetunion wie sie wirklich ist (Heft 1: Die Sowjetdemokratie, 130.000 Ex., Heft 2: Die Sowjetunion, eine Vereinigung freier Völker, 149.000 Ex., Heft 3: Das Schulwesen der Sowjetunion, 140.000 Ex., Heft 4: Die Wissenschaft in der Sowjetunion, 70.000 Ex., Heft 5: Die Verfassung der Sowjetunion, 10.000 Ex.).50
49 In einem Brief des Verlagsleiters heißt es, »dass das Zentralsekretariat in Berlin, dem wir unsere politischen Veröffentlichungen zur Begutachtung vorlegen müssen, grundsätzlich mit der Herausgabe Ihrer obigen Schrift einverstanden ist«. ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 52/1: Thüringer Volksverlag/Wilhelm Rücker an Walther Victor, 23. 4. 1948. 50 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/1182 Jahresbericht mit Jahresbilanz der Thür. Volksverlag GmbH (LVL Thür.), 1946, S. 28.
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Viele dieser Publikationen dürften ihrem Propagandazweck entsprechend kostenlos verteilt worden sein, sie hatten jedoch alle einen Preis, meist zwischen –,50 und 1 M und wurden dem Verlag vermutlich größtenteils von der KPD/SED sowie anderen politischen Institutionen und staatlichen Behörden abgekauft. Absatzschwierigkeiten vermerkte der Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1946 allein für die Ulbricht-Broschüre über den Wirtschaftsaufbau.51 Belletristik findet sich anfangs nur vereinzelt im Programm, so 1946 ein Heft mit Novellen von der aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten und in Weimar ansässigen Autorin Dora Wentscher (Tante Nina, 50.000 Ex.). Auch in anderen Fällen spielte die örtliche Nähe zu den Autoren beim Ausbau dieses Programmteils die entscheidende Rolle. So wurden Das lustige Winter-Buch (1947) der Weimarer Autorin Tina BauerPezellen gedruckt sowie zwei von dem thüringischen Autor Franz Hammer zusammengestellte Anthologien. Hammer war maßgeblich an der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren Thüringens beteiligt, aus dessen Kreis der Verlag später weitere Autoren gewann, vor allem Armin Müller, Hansgeorg Stengel und Harry Thürk sowie Ende der 1950er Jahre Hanns Cibulka, Wolfgang Held und Walther Stranka.52 Erfolgreichster Gegenwartsautor wurde der Erzähler Klaus Herrmann, der nach der Trennung von seiner Frau Luise Rinser 1949 aus Oberbayern nach Weimar kam und hier von 1957 bis 1971 das wichtige Amt des Generalsekretärs der Deutschen Schillerstiftung ausübte.53 Seine historischen Romane wurde viel gelesen, so brachte es sein KleopatraBuch Die ägyptische Hochzeit (1953) bis zum Ende des Volksverlages auf 13 Auflagen mit einer Gesamtauflage von 74.000 Exemplaren, weitere Auflagen folgten beim Verlag der Nation. Zu diesem Programmteil gehörte Ende der 1950er Jahre die Reihe Deutsches Land – Heimatland, die literarisch ambitionierte Regionalliteratur vorwiegend zu Thüringen und Sachsen umfasste, vermutlich aber bei der Konzipierung 1955 noch gesamtdeutsch angelegt war. An der Grenze zwischen Propagandaschrift und Sachbuch angesiedelt waren die Bücher von Walther Victor, der seit den 1920er Jahren als Journalist und Buchautor tätig war. Trotz vieler Funktionen, die er in jenen Jahren ausübte, wusste er 1948 und 1949 neben zwei Büchern in anderen Verlagen und dem bereits erwähnten GoetheLesebuch fünf Publikationen im Thüringer Volksverlag unterzubringen: einen Gedichtband, die publizistischen Bücher Ein Paket aus Amerika und Über die Presse sowie zwei biographische Bücher über August Bebel und die amerikanische Dichterin Emma Lazarus. Vier davon fielen Anfang der 1950er Jahren unter das ideologische Verdikt des ›Sozialdemokratismus‹ und mussten deshalb aus dem Programm genommen werden, teils von Victor in vorauseilendem Gehorsam selbst veranlasst, teils von ihm klaglos akzeptiert.54 Diese publizistische Produktivität war nur möglich, weil Victor dafür auf
51 SAPMO, Bestand Zentrag DY 63/1182 Jahresbericht mit Jahresbilanz der Thür. Volksverlag GmbH (LVL Thür.), 1946, S. 29. 52 Paul: Thüringer Volksverlag, Aufbau-Verlag, S. 55. 53 Kirsten: Berührungspunkte, S. 202; SBB, Aufbau-Verlag, Nr. T68: Lebenslauf von Klaus Herrmann, ca. 1951. 54 Victor bittet den Verlag sogar, im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel eine Annonce zu schalten, dass der Autor die Bücher Ein Paket aus Amerika und Über die Presse an den Verlag zurückzuschicken bittet; ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 52/2: Brief von Victor an
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Vorarbeiten aus der Exil-Zeit verwendete.55 Erfolgreich war nur das Goethe-Lesebuch, erschienen zum 200. Geburtstag des Klassikers im Jahr 1949. Anfangs nicht geplant, entwickelte sich aus dem Band eine Reihe von 30 Lesebüchern, die Anfang der 1950er Jahre zu einem Vorzeigeprojekt der SED-Klassik-Politik und zum Türöffner für das Klassik-Programm des Volksverlages wurde. Für den Volksverlag kamen die Lesebücher genau zur richtigen Zeit, weil der Dietz Verlag 1949 das Monopol für politische Literatur durchgesetzt hatte. Die SMAD hatte diese Entscheidung getroffen, weil in den »provinziellen Verlagen der SED« Bücher erschienen, »die politisch unreif waren oder politische Fehler enthielten«.56 Zum Verlagsprogramm gehörte neben den politischen Schriften, der zeitgenössischen Belletristik, dem Klassik-Programm und der von Dr. Heinrich Mock separat betriebenen Kunstproduktion als fünfte Komponente von 1948 bis 1953 ein Musikalienprogramm. Vorläufer gab es dazu bereits in den ersten Jahren, so druckte der Verlag 1945 ein Heft Antifaschistische Lieder in zwei Ausgaben, mit und ohne Noten (jeweils 30.000 Ex.). Weitere Lieder-Ausgaben folgten. Sie waren gedacht als Handreichung für die vielen politischen Veranstaltungen, Parteikundgebungen, Delegiertenkonferenzen und Aufmärsche, die seinerzeit nicht ohne kulturelle Umrahmung und Massengesang zu denken waren. 1948 wurde diese kulturelle Breitenarbeit von der SED zu einem Schwerpunkt der Kulturpolitik erklärt.57 Davon unterschied sich die Produktion der Jahre 1948 bis 1953 jedoch erheblich. Jetzt handelte es sich um Notenblätter, vorwiegend für Chöre und Instrumentalgruppen, meist arrangiert für volkskünstlerische Instrumente wie Mandoline, Akkordeon, Blockflöte und Gitarre. Gedruckt wurden einzelne klassische Lieder, etwa von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert oder aus dem Volksliedgut, sowie neue Lieder von DDR-Komponisten, darunter Paul Dessau, Ottmar Gerster und Kurt Schwaen. Die wenige Blatt umfassenden, meist gehefteten oder nur gefalteten Noten waren gedacht für die stark geförderte Volkskunstmusik, die von Betriebs-, Schul- und kommunalen Chören und Instrumentalgruppen zur Umrahmung politischer und kultureller Veranstaltungen aufgeführt wurde. Etliche der Komponisten im Verlagsprogramm, wie Ottmar Gerster, Erich Repke und Theodor Hlouschek, lehrten an der Staatlichen Hochschule für Musik Weimar, die eine Abteilung Volksmusik hatte. Unter der Leitung von Gerster kam es ab 1948 zu einem engen Arbeitsverhältnis zwischen der Hochschule und dem Verlag.58 Die Lektoratsarbeit für diesen Programmzweig besorgten die Mitarbeiter des hochschuleigenen Instituts für Volksmusikforschung unter Leitung von Gün-
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Wilhelm Rücker, 15. 6. 1951. Wenig später trifft das Verdikt auch Köpfe und Herzen, dass »Spuren von Objektivismus und Pazifismus und wie die anderen ›Ismen‹ alle heißen«, enthalte; ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 52/2: Brief von Victor an Wilhelm Rücker, 5. 2. 1953. Zuletzt muss Victor das Bebel-Buch auf »Anraten des zuständigen Genossen im ZK« zurückziehen; ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 52/2: Brief von Walther Victor an Rücker, 10. 4. 1953. Im Fall des Bebel-Buches auch bereits veröffentlicht hatte: Auf Bebels Grab. Eine Skizze zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Aarau 1938. Zitiert nach Lokatis: Dietz, S. 334. Hinterthür: Noten nach Plan, S. 128–131. Hinterthür: Noten nach Plan, S. 150.
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ther Kraft.59 Zahlenmäßig nahmen die Musikalien-Titel im Jahresprogramm des Verlags einen beträchtlichen Raum ein, so sind zum Beispiel für 1953 ca. 49 Titel von insgesamt 115 im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet.60 An den Aktivitäten zur Förderung der Volkskunstmusik waren Institutionen und Verlage beteiligt, die sich zeitweise in Kompetenz- und Konkurrenzstreitigkeiten verstrickten. Auf Beschluss der vorgesetzten Partei- und Kulturverwaltungen musste der Volksverlag 1953 schließlich die Musikalienproduktion dem Mitteldeutschen Verlag übergeben,61 der kurzzeitig für dieses Gebiet zum Leitverlag erklärt worden war. Schon ein Jahr später stellte auch der hallische Verlag diesen Programmzweig zugunsten des für die Volksmusik künftig zuständigen Friedrich Hofmeister Verlags ein.62 Da alle Verlage unter administrativer Verwaltung durch den Staat und die SED standen, erfolgten diese Wechsel von Programmteilen und Titelrechten in der Regel nicht auf dem Weg des Verkaufs, sondern durch formlose Übereignung.
Das Klassiker-Programm Mit den Lesebüchern für unsere Zeit begann der Thüringer Volksverlag sein Klassikprogramm. In der ersten und zugleich wichtigsten Phase, die bis 1954 reichte, erschienen dreißig Bände. Bei den Autoren handelte es sich mit Ausnahme von Tucholsky um deutsche und europäische Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts: Goethe, Schiller, Lessing, Heine, Herder, Kleist sowie Diderot, Mickiewicz und Puschkin, ergänzt um drei Anthologien aus der gleichen literarischen Richtung: Sturm und Drang, Die Achtundvierziger und 1813. Danach galt die Reihe für einige Zeit als abgeschlossen, bis in einer zweiten Produktionsphase vorwiegend sozialistische Autoren des 20. Jahrhunderts publiziert wurden, darunter Gorki, Becher, Brecht und Fürnberg.63 Trotz der hohen Startauflagen von 10.000 Exemplaren mussten die meisten Titel mehrfach nachaufgelegt werden, die wichtigsten Klassiker wie Goethe (bis 1963 230.000 Ex.), Heine (bis 1963 180.500 Ex.) und Schiller (bis 1963 130.000 Ex.) wurden sogar ausgesprochene Bestseller. Anfangs war nur an eine einzelne Goethe-Auswahl gedacht, die zum 200. Geburtstag des Klassikers 1949 erschien. 1948 vorbereitet, war der Band von Walther Victor als ein politischer Markstein in der zu erwartenden Goethe-Welle in Ost und West gedacht und sollte deshalb ursprünglich »Goethelesebuch eines Sozialisten« heißen. Noch unter diesem Titel wurde das Manuskript beim Zentralvorstand der SED vorgelegt und am 24. August 1948 von dem Leiter der Abteilung Kultur und Erziehung Stefan Heymann befürwortet.64 Dann änderte der Verlag den Titel in Goethe. Ein Lesebuch für das Jahr 1949, Nachauflagen schließlich in Goethe. Ein Lesebuch für unsere Zeit, womit die Fixierung auf eine Goethe-Auswahl für SED-Anhänger zugunsten eines allgemein-
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Hinterthür: Noten nach Plan, S. 151–152. Ermittelt nach den vom Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ausgewiesenen Titeln. Hinterthür: Noten nach Plan, S. 260, 324. Hinterthür: Noten nach Plan, S. 420. Die Fortsetzung der Reihe im Aufbau-Verlag ab 1964 wird nicht betrachtet. SBB, Aufbau-Verlag, Nr. T157b; Stefan Heymann: Gutachten zu »Goethelesebuch eines Sozialisten« vom 24. 8. 1948.
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Abb. 1: Kleist. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Von Walther Victor. 21.–30. Tsd. Weimar: Thüringer Volksverlag 1954, Umschlag.
gültigen Anspruchs aufgegeben wurde. Am 11. März 1949 schickte der Verlag das fertige Buch dem Parteivorsitzenden Otto Grotewohl. Die Edition passte hervorragend zu den Bestrebungen der SED, das Goethe-Jahr zu einem propagandistischen Großereignis zu machen und im Wettstreit der Systeme Weimar als Zentrum der Klassikerpflege zu etablieren. Ergänzend zum Goethe-Lesebuch erschienen im Thüringer Volksverlag Leitgedanken zum Goethe-Jahr, eine Art Festschrift mit dem Titel 1749 – Goethe – 1949 und die Ansprache im Goethejahr von Thomas Mann, der zum zentralen Festakt nach Weimar gekommen war. Erfolgreich war allerdings nur das Lesebuch, von dem allein 1949 vier Auflagen in 62.000 Exemplaren gedruckt wurden.65 Der Verlag »Die freie Gewerkschaft« Berlin übernahm von den beiden ersten Auflagen jeweils 5.000 Exemplaren für den Vertrieb unter den FDGB-Mitgliedern und lieferte dafür das benötigte Papier.66
65 AdK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 49/1; Brief von Walther Victor an [Hans] Henning, 5. 1. 1966. 66 SBB, Archiv des Aufbau-Verlags, Bestand Volksverlag, Nr. T157b; Brief von Rücker an Verlag »Die freie Gewerkschaft« Berlin, 9. 5. 1949.
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Victor stellte sogleich ein zweites Lesebuch zu Heine zusammen, das 1950 herauskam. Damit war die Reihe geboren, das »umfangreichste Vorhaben zur Popularisierung des klassischen Erbes«67 der gerade gegründeten DDR, wie Victor in einer Rückschau nach der Fertigstellung der ersten 30 Bände formulierte. Für die Reihe suchten und erhielten Herausgeber und Verlag die Unterstützung durch die Parteizentralen in Erfurt und Berlin, wobei es vorwiegend um Papier, Druckkapazitäten und Werbung ging. Dafür wurde ihnen die Auflage erteilt, ein ideologisches Herausgeberkollegium zu bilden. Victor bat bei der Parteiführung in Erfurt und Berlin um Personalvorschläge für ein solches Kollegium. Während aus Berlin gar kein Vorschlag kam, wurde ihm aus Erfurt die Literaturkommission der Thüringer SED zur Seite gestellt,68 in der der angehende Romanist Alfred Antkowiak eine maßgebliche Rolle spielte. Vorwiegend aus diesem Kreis gewann Victor seine Mitstreiter, junge Literaturwissenschaftler und Historiker,69 wie den späteren Leiter des Akademie-Verlages Lothar Berthold, die allesamt bislang kaum publiziert hatten und somit keine editorischen Erfahrungen besaßen. Unter Walther Victor fand das Kollegium rasch in seine Arbeit hinein und produzierte in kürzester Zeit die folgenden 28 Bände. Ziel der Reihe war es, durch Text und Kommentar eine Einführung in Leben und Werk eines Autors zu geben und dessen Bedeutung in seiner Zeit und für die Gegenwart herauszuarbeiten. Die Auswahl umfasste nicht nur kürzere Texte, sondern auch Auszüge aus Hauptwerken. Voran stand neben einigen Bildtafeln eine chronikartige »Zeittafel«, kombiniert aus Daten des Lebenslaufes sowie kulturellen und geschichtlichen Ereignissen. Die Einleitung ordnete den Autor ideologisch ein und stufte ihn grob als Humanist, Freund der plebejischen Schichten oder Vorläufer der Arbeiterklasse ein. Die Kommentatoren gingen dabei teils grobschlächtig vor, was mitunter auf heftige Kritik vonseiten anerkannter marxistischer Fachleute wie Gerhard Scholz und Werner Krauss sowie ihrer Schüler stieß.70 Als prominentester Gegner zog der Germanistikprofessor Hans Mayer gegen die Reihe zu Felde.71 Anfang der 1950er Jahre noch einer der markantesten Vertreter der marxistischen Literaturwissenschaft an der Leipziger Universität, kritisierte er nicht nur, dass die Bücher »mit karnickelartiger Geschwindigkeit« produziert wurden, sondern vor allem, dass Haupttexte gekürzt waren und die Interpretationen holzschnittartig ausfielen. »Mayer nannte die Lesebücher Ausgeburten des Vulgär-Soziologismus und Sozialdemokratismus«,72 berichtete man Victor nach einem Vortrag von Mayer vor zahlreichen Bibliothekaren. Stein des Anstoßes war auch, dass die Bandherausgeber als
67 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 48: Dreißig Lesebücher für unsere Zeit. Ein Rückblick von Walther Victor, Presseinformation, o. D. (1954). 68 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 49/1: Walther Victor: Verlagsplanung: Lesebücher 1951– 1955, ca. 1950. 69 Der Redaktionsbeirat bestand anfangs aus Walther Victor (Leitung), Alfred Antkowiak, Lothar Berthold, Gertrud Pätsch, Wilhelm Rücker, Gerhard Steiner und Gerhard Ziegengeist. 70 Zu den Animositäten mit Gerhard Scholz, damals Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs: ADK, Walther Victor-Archiv, Nr. 49/1: Walther Victor an ZK der SED, Abt. Propaganda/ Heinz Misslitz, 17. 10. 1951. 71 Zu den Lesebüchern und Hans Mayer siehe Victor: Der Lesebuch-Victor und seine Abenteuer. In: Victor: Und wo hast du dich so lange überhergetrieben? Teil 2, S 386–389. 72 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 49/1: Walther Victor, Niederschrift vom 30. 6. 1953.
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Abb. 2: Aufklappbares Lesezeichen für die Lesebücher für unsere Zeit. Werbeblatt des Thüringer Volksverlages, ca. 1955.
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Autor fungierten, obwohl der überwiegende Teil des Textes natürlich vom Klassiker stammt. Dementsprechend hatte Victor einen Autorvertrag beim Verlag durchgesetzt, durch den er und die anderen Herausgeber Autortantieme erhielten. Die Kritik kulminierte nach Erscheinen des Diderot-Lesebuches, den die Mitglieder des Herausgeberkollegiums Alfred Antkowiak und Lothar Berthold übernommen hatten. Die Übersetzung und noch mehr die Einleitung (von Antkowiak) waren so problematisch, dass Fachleute die Zurücknahme der ausgelieferten Bände forderten.73 Der Romanistikprofessor Victor Klemperer hatte schon in seinem Gutachten zum Manuskript die Einleitung als »einen Schlag gegen das Ansehen unserer marxistischen Literaturwissenschaft« bezeichnet, die abfällige Behandlung der bürgerlichen Diderot-Forschung scharf kritisiert und vor der Herausgabe gewarnt: »Stilistisch erinnert die Einleitung überall da, wo sie die bürgerliche D[iderot]-Literatur bekämpft (also wieder und wieder) in der erschreckendsten Weise an den Göbbelsstil der Hitler-Aera.«74 Für Kritik unempfänglich, warf Antkowiak Klemperer »eine vollständig falsche und idealistische Konzeption Diderots«75 vor und ließ sich weder von ihm noch vom Verlag stoppen. Auch die öffentliche Kritik76 nach Erscheinen des Bandes wies er als »liberalistisch«77 weit von sich. Angesichts der harschen Kritik durch die Fachleute stellt sich die Frage, weshalb die Lesebücher beim Publikum dennoch erfolgreich waren. Sicher hatte Victor einflussreiche Freunde in Partei, Regierung und der Parteipresse, und er verstand es wie kaum ein anderer Autor, für den geschäftlichen Erfolg zu sorgen. So setzte er beispielsweise beim Verlag Nachauflage um Nachauflage durch, sobald der lieferbare Bestand zur Neige ging, während alle anderen Verlage auch die Nachauflagen in den jeweiligen Jahresthemenplan aufnehmen und von der Zensurbehörde genehmigen lassen mussten. Doch das erklärt nicht, warum die Leser so positiv reagierten. Obwohl es für die Rezeption nur ungenügend Belege gibt, darf vermutet werden, dass der allgemeine Bildungshunger der Grund dafür war. Victor kam aus der sozialdemokratischen Bildungspolitik und hatte ein gutes Gespür dafür, woran der allgemeine Leser bei der Beschäftigung mit den Klassikern interessiert war: Er suchte ein möglichst übersichtliches und widerspruchsfreies Bild von einem Autor. Nach der Lektüre konnte er das Gefühl haben, einen Überblick zu besitzen. Die Bücher boten nicht nur Text, sondern Basiswissen, das die meisten Nachschlagewerke und die Lehrbücher nicht enthielten. Außerdem machten die Halbleinenbände mit einheitlichen Schutzumschlägen im heimischen Bücherregal einen soliden Eindruck. Victors Art der Bildungsarbeit wurde nicht nur von Parteifunktionären gelobt, sondern durchaus auch von Schriftstellern anerkannt. So äußerte sich Arnold Zweig geradezu enthusiastisch über den Keller- und den Shakespeare-Band: »Beide
73 Theodor Lücke forderte die Rücknahme des »Machwerks« aus dem Buchhandel. Zitiert nach: R. Blazek, Radebeul: Wo bleibt die »literarische Gütekontrolle«. In: Sonntag, 12 (13. 6.) 1954. 74 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 49/1: Gutachten von Victor Klemperer zum Diderot-Lesebuch, 22. X. 1952. 75 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 49/1: Alfred Antkowiak an Walther Victor, Brief vom 9. 12. 1952. 76 Manfred Naumann: Zweimal Diderot. In: Weltbühne, H. 12 (24. März) 1954; Theodor Lücke: Zur Übersetzung des Diderot-Lesebuches. In: Aufbau, H. 2 (Februar) 1954, S. 179–184. 77 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 48: Antkowiak an Rücker, Brief vom 25. 4. 1954.
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gehören zu meinen Lieblingsautoren, seit fünfzig Jahre lebe ich in ihnen und ich freue mich, festzustellen, daß Ihre Auswahl mir, wenn ich heute dreizehn wäre, eine bessere Anleitung und einen direkteren Weg zum Kern dieser beiden Zauberer gegeben hätte, als ich ihn mir selber bahnen mußte.«78 Hans Mayer dagegen lehnte den sozialdemokratischen Volksbildungsgedanken grundsätzlich ab,79 wollte stattdessen dem Leser eine eingehende Beschäftigung mit der Literatur im allgemeinen und mit einem einzelnen Autor im Besonderen abverlangen und dafür eine wissenschaftlich fundierte Interpretation in Vor- und Nachworten anbieten. Victor verteidigte sein Lesebuch-Konzept vehement, sah jedoch ein, dass er mit solchen Fehlschlägen wie dem Diderot-Band nicht weiterkam. Insofern plädierte er selbst dafür, dass der Verlag die Reihe mit dem 30. Band einstellte. Von der Notwendigkeit, die Klassiker auf diese Weise unter das Volk zu bringen, war er dennoch überzeugt, kämpfte für die Präsenz aller Bände auf dem Buchmarkt (außer Diderot) und machte bald schon Vorschläge für die Fortsetzung, die Ende der 1950er Jahre auch aufgegriffen wurden. Allerdings wurden keine weiteren Autoren des 18. und 19. Jahrhundert herausgebracht, sondern stattdessen die bereits erwähnten sozialistischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Um seinen Kritikern zu begegnen, entwickelte Victor im Gedankenaustausch mit dem Verlagsleiter Rücker das Konzept einer zweiten Klassikerreihe mit ein- und mehrbändigen Auswahlausgaben, die die »lebendigen Werke« ungekürzt präsentieren sollten, wiederum mit einem Porträt und einer Einleitung, allerdings ohne die allzu didaktische Zeittafel.80 Rücker sprach in der Planungsphase von der »Herausgabe von billigen Klassikerausgaben […], die gewissermaßen eine höhere Stufe der zur Zeit bei uns erscheinenden ›Lesebücher für unsere Zeit‹ darstellen sollten«.81 Für die Kommentierung wollte man Fachleute heranziehen, die mit Hilfe eines kompetenten Herausgeberkollegiums gewonnen werden sollten. Victor und Rücker holten die Zustimmung der Abteilung Kultur beim ZK der SED und des Amtes für Literatur ein und wandten sich daraufhin an die 1953 gegründeten Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur (NFG) in Weimar und ihren neu berufenen Direktor Prof. Helmut Holtzhauer. Dieser machte sich den Plan zu eigen und gewann mit Prof. Hans Mayer (Universität Leipzig), Prof. Ernst Grumach, Prof. Leopold Magon (beide Deutsche Akademie der Wissenschaften), Dr. Hedwig Voegt (Universität Leipzig), Prof. Joachim Müller (Universität Jena), Louis Fürnberg und Heinz Stolpe (beide NFG, Weimar) anerkannte Fachleute für das Herausgeberkollegium.
78 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 48: Arnold Zweig an Walther Victor, Brief vom 6. 11. 1953. 79 Victor war mitgeteilt worden, dass Mayer in einem Artikel des Börsenblatts die Lesebücher angreifen wollte: »Darin war ursprünglich eine Stelle enthalten, in der er sich in scharfen Worten gegen sogenannte Volkslesebücher wendet, die seiner Meinung nach ein Überbleibsel der reformistischen Bestrebungen der Arbeiterbildungsvereine darstellten. Ich habe diese Formulierung einfach gestrichen.« ADK, Victor-Archiv, Nr. 49/2: Börsenblatt/Wolfgang Böhme an Walther Victor, Brief vom 28. 3. 1952. 80 Gärtner: »Bibliothek deutscher Klassiker«. 81 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 75/4: Wilhelm Rücker an ZK der SED, Abt. Propaganda (Verlagswesen), 2. 7. 1954, Betreff: Volksklassikerausgaben.
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Auch den Namen der Reihe Bibliothek deutscher Klassiker und in wesentlichen Züge die Reihengestaltung, die der Leipzig Buchgestalter Horst Erich Wolter entwarf, hatte Victor auf den Weg gebracht:82 wechselnd farbige Ganzleinenbände mit goldgeprägtem Rücken und Deckelsignet sowie zwei Rückenschildchen, im Interesse eines niedrigen Preises einheitlich gestaltet und ohne Umschläge. Wolter war einer der bekanntesten DDR-Buchgestalter, der für seine Produkte regelmäßig Auszeichnungen im Wettbewerb »Schönste deutsche Bücher« erhielt. Die Reihengestaltung, die wesentlich zum Erfolg des Konzepts beitrug, war so überzeugend, dass sie später im Aufbau-Verlag bis in die 1990er Jahre beibehalten wurde. Holtzhauer und vor allem Mayer bestanden darauf, dass Victor aus der weiteren Arbeit an der Reihe ausgeschlossen wurde. Mayer ging in seiner Kritik an Victor und den Lesebüchern sogar so weit, dass er zwar an der Herausgabe der Bibliothek deutscher Klassiker mitarbeitete, jedoch die Hauff-Ausgabe, deren Kommentierung er zugesagt hatte, wieder abgab, weil er »als schärfster Gegner« der Lesebuch-Reihe »nicht mit einem eigenen Buch bei uns [also im Volksverlag] erscheinen will«,83 protokollierte Rücker. Einige editorische Grundsätze der Reihe gingen auf Mayer zurück, so die Konzentration in der Einleitung auf Lebens- und Werkentwicklung, nicht aber auf Werkanalyse, und die gleichzeitige Auslieferung aller Bände einer Ausgabe en bloc.84 Doch schon nach kurzer Zeit nahm er nicht mehr an der Arbeit des Herausgebergremiums teil, wie aus den Sitzungsprotokollen hervorgeht.85 Auf diese Weise wurde statt Victor und Mayer Holtzhauer für lange Zeit der wichtigste Mann für die BDK, wie die Reihe bald landläufig hieß. Anfangs wurde sie gesamtdeutsch konzipiert, d. h. unter Beteiligung von bundesdeutschen Herausgebern. Die zehnbändige Goethe-Ausgabe übernahm beispielsweise der Heidelberger Literaturhistoriker und Mitbegründer der Volkshochschulbewegung Reinhard Buchwald. Doch mit der Änderung der Deutschlandpolitik wurde diese Linien Ende der 1950er Jahre aufgegeben und die Beteiligung von ›bürgerlichen‹ Wissenschaftlern intern generell abgelehnt. Goethe wurde in zehn, später in zwölf Bänden präsentiert, Schiller, Herder und Heine in fünf Bänden, E. T. A. Hoffmann und Hebbel in drei Bänden, die meisten Autoren jedoch in ein- oder zweibändigen Ausgaben. Neben der Einleitung enthielten die Bände Informationen zu den Werken und in gewissem Umfang auch Stellenkommentare.
82 Zu Victors Anteil an der Reihenkonzeption siehe: ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 75/4: Wilhelm Rücker an Walther Victor, Brief vom 24. 10. 1955. Zur Reihenkonzeption: ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 75/4: Wilhelm Rücker an das Amt für Literatur und Verlagswesen, Brief vom 17. 3. 1954. Siehe auch das Kapitel aus seinen Erinnerungen: Victor: Denkmalpflege. In: Victor: Und wo hast du dich so lange überhergetrieben? Teil 2, S. 393–395. 83 SBB, Archiv des Aufbau-Verlages Nr. T57, Bl. 125: Wilhelm Rücker, Besprechung mit Prof. Hans Mayer, Leipzig am 13. 1. 1954. 84 SBB, Archiv des Aufbau-Verlages Nr. T58a: Hans Mayer, Bemerkungen über die Herausgabe von »Volksklassikern«, 30. 9. 1954, Bl. 130–132. Meist erschienen in der DDR mehrbändige Ausgaben in Einzelbänden mit langen Entstehungszeiten. 85 1958 wurde das Herausgebergremium aufgelöst. SBB, Archiv des Aufbau-Verlages Nr. T57: Protokoll der Sitzung des Herausgeber-Gremiums der »Bibliothek deutscher Klassiker«, 29. 5. 1958.
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Abb. 3: Bibliothek deutscher Klassiker, 1955–1990, begründet durch den Volksverlag Weimar, fortgesetzt vom Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. Foto: Günter Prust.
Die Arbeit ging dank der federführenden NFG mit ihren Fachleuten und ihrem Netzwerk, zügig voran, sodass ab 1955 jährlich neue Ausgaben und Nachauflagen präsentiert werden konnten. 1963, am Ende der Verlagsgeschichte, hieß es in einem Werbeprospekt: Die BIBLIOHTEK DEUTSCHER KLASSIKER macht in ca. 70 Werkausgaben mit rund 150 Bänden – bis 1963 liegen 28 Ausgaben mit 82 Bänden vor – die bedeutendsten Werke unseres literarischen Erbes zugänglich.
Trotz mancher ideologisch forcierten Einleitung machte das Ganze einen imponierenden Eindruck. Die Aufnahme bei Fachleuten und Rezensenten war in der Regel positiv, auch in der Wissenschaft wurden die Ausgaben gut aufgenommen, zumal viele Lehrstuhlinhaber und kommende Professoren an der Kommentierung beteiligt waren. Hans Mayer, der 1962 in den Westen gegangen war, hob nach dem Ende der DDR die Bedeutung
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der Reihe in einem Interview im Börsenblatt hervor: »Die Bibliothek der Deutschen Klassiker, die in Weimar herausgegeben wurde, ist sensationell gewesen. […] In allen germanistischen Seminaren der Bundesrepublik hat man sich der Weimarer Ausgaben bedient.«86 Dabei spielte natürlich auch der geringe Preis von 5 M je Band eine gewichtige Rolle. Die Idee zur dritten Reihe, die der Volksverlag aus der Taufe hob, der Bibliothek der Antike, wurde ebenso wie bei den beiden anderen Reihen von außen an den Verlag herangetragen. 1959 übernahm der Volksverlag aus dem Standard-Verlag Hamburg eine von Hans Kleinstück, Siegfried Müller u. a. herausgegebene elfbändige Ausgabe Dichtung der Antike in klassischen und neuen Übersetzungen (1958). Es handelte sich um ein Kompensationsgeschäft, das sich aus der Übernahme der zehnbändigen GoetheBDK-Ausgabe durch den Standard-Verlag ergab.87 Der Absatz ließ zu wünschen übrig, weil entgegen den Gepflogenheiten auf dem DDR-Buchmarkt die Bände nur geschlossen im Schuber für 75 Mark zu haben waren. Auch eine Halblederausgabe war im Angebot, beide schön gestaltet von Horst Erich Wolter. Einige Bände hatte der Volksverlag bei der Übernahme schon mit eigenen Vorworten versehen, doch in der Eile waren die Kommentare meist unbefriedigend ausgefallen. Für eine Nachauflage besprach sich Rücker mit dem Institut für griechisch-römische Altertumskunde an der Akademie der Wissenschaften in Berlin und dem Institut für Klassische Philologie der Universität Rostock und wurde von den Fachleuten davon überzeugt, dass statt einer überarbeiteten Nachauflage eine völlig neu konzipierte Reihe sinnvoll sei. Auf Grund der zu erwartenden Arbeit einigte man sich auf die Edition Band für Band. So startete der Volksverlag 1963 mit Hilfe der Philologischen Institute der Universitäten in Leipzig und Rostock die Bibliothek der Antike mit einer sogenannten Griechischen und einer Römischen Reihe. Zurückgegriffen wurde auf klassische Nachdichtungen, die zum Teil neu bearbeitet wurden. Erst in der späteren Aufbau-Zeit wagte sich der Verlag an komplette Neuübersetzungen so umfangreicher Gesamtwerke wie der von Sophokles und Euripides. Wesentlich gegenüber den vom Standard-Verlag übernommenen Bänden war, dass die Auswahl noch einmal gründlich überdacht, erweitert und vor allem mit einer ausführlichen Einleitung sowie eingehenden Stellenkommentaren versehen wurde. Jede ein- und zweibändige Edition wurde auf dem Markt einzeln angeboten. Die Gestaltung von Horst Erich Wolter in Leinenbänden mit einfarbig bedruckten Umschlägen setzte ganz auf schlichte, aber eingängige Signets für die beiden Unterabteilungen: die griechische Eule und die römische Wölfin. Im Volksverlag erschien jedoch nur die zweibändige Plautus-Ausgabe, die der Leipziger Latinist Walter Hofmann herausgab und kommentierte. Die weitere Planung wurde erst im Aufbau-Verlag verwirklicht.
Arion-Verlag Mit der Bibliothek deutscher Klassiker hatte der Volksverlag Maßstäbe für die DDR gesetzt. Zum positiven Ergebnis und der guten Resonanz trug vor allem die Zusammen-
86 Mayer: Kein Ende der Utopie«. 87 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T210: Volksverlag/Wilhelm Rücker an die Deutsche Buch-Export und -Import gmbH, 12. 7. 1957.
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arbeit mit den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten (NFG) bei. Das wurde auch von der SED-Kulturpolitik so wahrgenommen und ins Kalkül gezogen. Für den Verlag und die NFG völlig überraschend erging 1956 vom Amt für Literatur und Verlagswesen die Verfügung, dass die Forschungseinrichtung künftig mit dem Volksverlag weit enger zusammenarbeiten solle.88 Das hieß für die NFG, die bewährte Kooperation mit dem privateigenen Verlag Herm. Böhlaus Nachf. in Weimar weitgehend zu beenden. Böhlau89 besaß durch seine lange Tradition und so maßgebliche Editionen wie die berühmte Sophien-Ausgabe sämtlicher Werke Goethes ein ganz anderes Renommee in der DDR und vor allem in der Bundesrepublik als der Volksverlag, sodass die NFG-Direktion dem geforderten Verlagswechsel skeptisch gegenüberstand. Doch Holtzhauer kannte aus seiner früheren Funktion als Leiter der Staatlichen Kunstkommission diese Form der Kommandowirtschaft. Deshalb leistete er keinen ernsthaften Widerstand gegen die Entscheidung, wenn man den Verlagsakten folgen darf, zumal das Amt für Literatur die notwendigen Subventionen für die Publikationen der NFG von der Lösung des Verhältnisses zu Böhlau abhängig machte. In einem ersten Schritt entzog das Amt 1956 den NFG die Mittel, die für den Druck bei Böhlau notwendig waren, um dann in einem nächsten Schreiben wieder Umlaufmittel für den Fall in Aussicht zu stellen, dass die NFG ihre Veröffentlichungen im Volksverlag erscheinen lassen.90 Der Wechsel, der zum 1. Januar 1957 vollzogen wurde, betraf im Wesentlichen die von den NFG herausgegebene Zeitschrift Weimarer Beiträge und die neue Forschungsliteratur, die von den Gedenkstätten und ihren Mitarbeitern publiziert wurde. Zur rechtlichen Abgrenzung von der übrigen Produktion des Volksverlages gründeten die NFG eine eigene Firma, den Arion-Verlag, die inhaltlich von den NFG geführt wurde, ökonomisch aber dem Volksverlag zugeordnet war. Planung, Druckgenehmigungsanträge, Herstellung und Marketing oblagen dem Volksverlag. Dem Briefwechsel nach war die Ablösung der Rechte mit dem Verkauf von Beständen des Böhlau Verlages an den Volksverlag verbunden, während die Abonnenten-Adressen der Zeitschrift kostenlos abgetreten wurden.91 Die Weimarer Beiträge waren 1955 unter Helmut Holtzhauers Leitung und maßgeblicher Beteiligung seines Stellvertreters, des Dichters Louis Fürnberg, begründet worden. Fürnberg leitete mit Hilfe des jungen Germanisten Hans-Joachim Thalheim die Redaktion. Nach Fürnbergs plötzlichem Tod 1957 fiel Thalheim die alleinige Verantwortung
88 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T58a: Amt für Literatur und Verlagswesen/ Karl Wloch an die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten/Helmut Holtzhauer, 17. 5. 1956. 89 Siehe Kapitel 5.3.10.2 Hermann Böhlaus Nachf. (Michael Knoche) in Bd. 5/2. 90 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T58a Bl. 44–47: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten/Helmut Holtzhauer an das Amt für Literatur und Verlagswesen/Karl Wloch, 2. 5. 1956; Amt für Literatur und Verlagswesen/Wloch an die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten/Holtzhauer, 17. 5. 1956. 91 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T201: Böhlau/Leiva Petersen an den Volksverlag/Wilhelm Rücker, 23. 11. 1956; Volksverlag/Rücker an Volksverlag/Petersen, 11. 12. 1956. Laut diesem Briefwechsel verkauft Böhlau dem Volksverlag die Bestände mit Rabatt von 40 %.
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zu. Die »Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte«,92 wie sie nach dem Wechsel zum Arion-Verlag im Untertitel hieß, wurde zu einem der wichtigsten literaturwissenschaftlichen Organe der DDR. »Das zentrale Anliegen des Redaktionskollegiums ist es, ein historisch-materialistisches, geschichtlich wahres Bild der deutschen Literatur zu entwerfen«,93 hieß es in einem Prospekt von 1962, der folgende Themenkreise markierte: marxistische Literaturtheorie, klassische Literatur, kritischer Realismus, proletarische Literatur und sozialistische Gegenwartsliteratur, Sprachgeschichte und Sprachphilosophie. Ab 1962 erschien die Vierteljahresschrift mit einem erweiterten Umfang von ca. 224 S. Zur Mitarbeit herangezogen wurden führende Fachwissenschaftler und Nachwuchskräfte. Zum neuen Preis von 3,80 M wurde eine Auflage von 2.880 Exemplaren gedruckt, wovon 480 in den Export gingen.94 Das Buchprogramm des Arion-Verlages umfasste 1961 vier und 1962 fünf Titel, die im Themenplan des Volksverlages unter der Rubrik Arion bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel eingereicht wurden.95 Es handelte sich im Wesentlichen um Monographien, Aufsatzsammlungen, Bibliographien und Bestandsverzeichnisse. Die Heine-Bibliographie (1960) von Gottfried Wilhelm und das Bestandsverzeichnis Goethes Bibliothek (1958) von Hans Ruppert waren zwar nur von speziellem wissenschaftlichem Interesse, brachten dem Volksverlag aber einen deutlichen Zuwachs an Renommee. Ergänzend zum Wissenschaftsprogramm bei Arion, entwickelte der Volksverlag die ersten Autorenlexika der DDR, das Deutsche Schriftstellerlexikon (Hrsg.: Günter Albrecht, Kurt Böttcher, Herbert Greiner-Mai, 1960) und das Lexikon fremdsprachiger Schriftsteller (Hrsg.: Gerhard Steiner, 1963), die es auf 149.000 bzw. 52.000 Exemplare brachten und später beim Bibliographisches Institut erschienen.
Die Übernahme durch den Aufbau-Verlag Der Volksverlag hatte sich bis Anfang der 1960er Jahre zu einem anerkannten belletristischen Klassikverlag entwickelt. Dabei halfen die im Hintergrund wirkende SED ebenso wie anfangs die Sowjetische Militäradministration. Auf Grund der knappen Ressourcen ging dieser Aufstieg nur auf Kosten der alteingesessenen privaten Verlage, die deutlich schlechter mit Papier und Druckkapazitäten beliefert wurden. Im Fall der Verdrängung des Böhlau Verlags aus der bevorzugten Stellung bei den NFG in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ist ein direkter Eingriff des staatlichen Amtes für Literatur zugunsten des SED-eigenen Verlags nachweisbar. Die Hinwendung vom Parteischrifttum zur Klassik erfolgte auf Initiative eines freien Mitarbeiters, wobei sich der Verlag wiederum der Parteihilfe bediente. Die Ziele im Klassikbereich waren anfangs durch den Volksbildungsgedanken geprägt. Unter dem Einfluss der öffentlichen und internen Debatte um
92 Bei Böhlau lautete der Untertitel »Studien und Mitteilungen zur Theorie und Geschichte der deutschen Literatur«. 93 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T36: Prospekt Weimarer Beiträge im Arion Verlag 1962. 94 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T35: Arion-Verlag an den Aufbau-Verlag, 11. 5. 1963, Bl. 33. 95 SBB, Aufbau-Verlag/Thüringer Volksverlag, Nr. T201, Bl. 118: Anlage zu »Werbung für die Bücher des Arion Verlages im Jahr 1961«, 1. 2. 1961.
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die Lesebuch-Reihe entwickelte der Verlag einen deutlich größeren Anspruch. Die Bibliothek deutscher Klassiker, die zum Markenzeichen des Volksverlags wurde, richtete sich an anspruchsvolle Leser, die an einer intensiveren Beschäftigung mit einem Autor interessiert waren und Wert auf wissenschaftlich solide Einleitungen und Stellenkommentaren legten. Alle anderen Programmbereiche waren entweder zeitweise Versuche, wie das Kunstprogramm und die Notenhefte, oder brachten es zu keiner von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen nachhaltigen Wirkung, wie der Bereich der Gegenwartsliteratur. Hatte der Verlag beinahe zwei Jahrzehnte von der Protektion durch die SED profitiert, verschwand er zum 1. Januar 1964 wiederum auf Grund einer Parteientscheidung von der Bildfläche. Im Rahmen der sogenannten Profilierung des DDR-Verlagswesens wurden der Volksverlag und der Arion-Verlag samt Verlagsgebäude dem Aufbau-Verlag angeschlossen. Hierbei wurde eine SED-eigene Firma von einer Firma übernommen, die dem Kulturbund gehörte. Das spielte politisch und juristisch keine Rolle, weil die SED Anfang der 1960er Jahre bereits über alle Bereiche von Wirtschaft und Verwaltung uneingeschränkt verfügte. In Weimar wurde das umfangreiche Lektorat Deutsches Erbe etabliert, das von dem bisher im Aufbau-Verlag, Berlin, tätigen Germanisten Peter Goldammer geleitet wurde und in dem die Klassikerreihen des Volksverlages weiter verlegt wurden. Die Gegenwartsautoren des Volksverlages dagegen wurden sämtlich an den Mitteldeutschen Verlag Halle und andere Verlage mit zeitgenössischer Literatur delegiert, obwohl Aufbau ein Lektorat Zeitgenössische deutsche Literatur mit einer großen Titelzahl pro Jahr besaß. Aufbau sollte sich künftig stärker auf die Klassik konzentrieren. Das literaturwissenschaftliche Programm von Arion ging in dem bei Aufbau neu gegründeten Lektorat Literaturwissenschaft auf. Auch die meisten Mitarbeiter wechselten in andere Betriebe oder Institutionen, darunter der Verlagsleiter Wilhelm Rücker, der Stellvertretender Direktor der Deutschen Akademie der Künste Berlin wurde. Nur drei Mitarbeiter blieben in der neuen Firma beschäftigt,96 darunter der Klassiker-Lektor Herbert Greiner-Mai als Stellvertretender Lektoratsleiter. Walther Victor bezeichnete die Delegierung von Wilhelm Rücker zur Akademie als »Eselsfußtritt«, bemängelte fehlende Diskussionen über Sinn und Zweck des Verlagszusammenschlusses und fand, dass der Volksverlag »in Grund und Boden profiliert« worden sei.97 Angesichts der erfolgreichen Arbeit des erweiterten Aufbau-Verlages im Klassik-Bereich scheint er mit seiner Einschätzung fehlgegangen zu sein. Die starke Konzentration auf wenige Unternehmen war in Anbetracht der knappen Ressourcen wirtschaftlich sinnvoll. Doch sie stellte zugleich eine Verarmung dar, bestand doch künftig für ein Projekt, das von einem der großen Klassikverlage abgelehnt wurde, kaum mehr Realisierungsmöglichkeiten. Konkurrenzlos und mit großer Intensität konnten Aufbau und die wenigen anderen Klassikverlage an die Verwirklichung ihrer Pläne gehen. Das Lektorat in Weimar, das immer weiter ausgebaut wurde, leistete fortan auf Gebieten wie Textrevision und Kommentierung »Institutsarbeit«, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen kaum innerhalb eines Verlages zu leisten gewesen wäre.98
96 Kirsten: Berührungspunkte, S. 203. 97 ADK, Walther-Victor-Archiv, Nr. 52/2: Walther Victor an Wilhelm Rücker, 22. 1. 1964. 98 Siehe das Kapitel 5.3.1.1 Aufbau-Verlag (Konstantin Ulmer) in diesem Band.
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Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Akademie der Künste Berlin (ADK) Walther-Victor-Archiv Stiftung Archiv der Partei und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) SED, Zentrag (DY 63) Staatsbibliothek zu Berlin PK (SBB) Archiv des Aufbau-Verlages/Volksverlag
Gedruckte Quellen VICTOR, Walther: Kehre wieder über die Berge. Eine Autobiographie. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1982. VICTOR, Walther: Und wo hast du dich so lange umhergetrieben? Teil 1–4. In: Galerie. Revue culturelle et pedagogique, Heft 2/2005, 4/2005, 3/2006, 4/2006.
Forschungsliteratur MÜLLER-ENBERGS, Helmut u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. 1. Aufl. der vierten Ausgabe. Berlin: Ch. Links 2006. GÄRTNER, Marcus: »Bibliothek deutscher Klassiker«. Die Klassiker im Leseland. In: Lothar Ehrlich/Gunther Mai/Ingeborg Cleve (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker. Köln: Böhlau 2001, S. 193–218. GUTSCHE, Willibald (Hrsg.): Geschichte der Stadt Erfurt, 2. Aufl. Weimar: Böhlau 1989. HINTERTHÜR, Bettina: Noten nach Plan. die Musikverlage in der SBZ, DDR. Zensursystem, zentrale Planwirtschaft und deutsch-deutsche Beziehungen bis Anfang der 1960er Jahre. Stuttgart: Steiner 2006. JÜTTE, Bettina: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945−1949). Berlin, New York: De Gruyter 2010 (AGB-Studien Bd. 8). KIRSTEN, Wulf: Berührungspunkte in Weimar: Die Verlage Aufbau und Kiepenheuer. Wulf Kirsten im Gespräch mit Ingrid Sonntag. In: Siegfried Lokatis / Ingrid Sonntag (Hrsg.): 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage. Berlin: Ch. Links 2011, S. 201–208. LINKS, Christoph: Die verschwundenen Verlage der SBZ/DDR. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 71 (2016), S. 235–259. LINKS, Christoph: Die verschwundenen Verlage der SBZ/DDR, Teil 5: Musik- und Kunstverlage. In: Marginalien 233. Heft (2019/2), S. 11–21. LOKATIS, Siegfried: Dietz. Probleme der Ideologiewirtschaft im zentralen Parteiverlag der SED. In Siegfried Lokatis: Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR. Stuttgart: Hauswedell 2019, S. 325–349. LOKATIS, Siegfried: Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur. Das »Amt für Literatur und Verlagswesen oder die schwere Geburt des DDR-Literaturapparates. In Siegfried Lokatis: Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR. Stuttgart: Hauswedell 2019, S. 37–74. MAYER, Hans: »Kein Ende der Utopie«. Interview mit Ulrich Faure. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 65 (16. August) 1991, S. 2664. MERKER, Matthias: Der Verleger, Sammler und Graphikförderer Dr. Heinrich Mock. In: Marginalien, H. 182 (2006), S. 36–43.
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PÄTZKE, Hartmut: Der ›Graphik-Verlag Dr. Heinrich Mock‹ in Altenburg (1945–1949), Weimar und Erfurt (1949–1953). In: Aus dem Antiquariat 3/2005, S. 199–205. PAUL, Konrad: Thüringer Volksverlag, Aufbau-Verlag. In: Ein Verlag braucht eine große Stadt. Verlage in Weimar. Weimar: Pavillon Presse 1995, S. 55–57. WURM, Carsten: Gestern. Heute. Aufbau. 70 Jahre Aufbau Verlag 1945–2015. Berlin: Aufbau Verlag 2015.
Christoph Links 5.3.1.4 Die Leipziger Erbe-Verlagsgruppe als Zusammenschluss der Verlage Gustav Kiepenheuer, Insel, Paul List und Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Die Bildung der Verlagsgruppe Kiepenheuer Nach der sogenannten Profilierung des DDR-Verlagswesens Anfang der 1960er Jahre, bei der zahlreiche staatliche und parteieigene Verlage zusammengelegt worden waren, existierten noch einige wenige private Verlage, die bis zum Auslaufen ihrer Lizenzen weiterarbeiten konnten. Die Inhaber dieser Verlage hatten Anfang der 1950er Jahre eine personenbezogene Lizenz erhalten, die nicht vererbt oder privat weitergegeben werden durfte. Beim altersbedingten Ausscheiden des Lizenzinhabers konnten die Verlage an den Staat oder die SED verkauft werden, andernfalls wurden sie liquidiert. Diese Politik wurde Anfang der 1970er Jahre verschärft umgesetzt, da nach einem SED-Politbürobeschluss vom 8. Februar 1972 der Ministerrat der DDR am 17. Februar 1972 die beschleunigte Überführung privater und halbstaatlicher Betriebe ins planwirtschaftliche System der DDR-Volkswirtschaft verfügte, was zu einer regelrechten Enteignungswelle führte.1 Genau in diese Zeit fiel der Tod von Noa Kiepenheuer, der dritten Frau und Witwe von Gustav Kiepenheuer, die am 7. November 1971 verstarb. Sie hatte den kleinen Verlag in Weimar seit dem Tod ihres Mannes im April 1949 mit drei Angestellten weitergeführt. Nun trat ihre Tochter aus erster Ehe, die Leipziger Schauspielerin Eva Mayer (1917–2008), das Erbe an. Dieser lag daran, die Tradition des berühmten Verlages zu erhalten, weshalb sie sich um einen Verkauf bemühte, da andernfalls nach Erlöschen der Lizenz zum Jahresende 1973 das Unternehmen liquidiert werde, wie man ihr staatlicherseits mitteilte.2 Allerdings wollte sie nicht an die SED verkaufen, da sie befürchtete, dass die SED-Bezirksleitung künftig in den Verlag und sein Programm hineinreden würden und damit das Ansehen des Verlages Schaden nehmen könnte. Daher wurde von ihr eine Überführung in Volkseigentum präferiert. Dies nahmen die Verantwortlichen in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Berliner Kulturministerium zum Anlass, um über eine generelle Neustrukturierung privater und halbstaatlicher belletristischer Verlage nachzudenken, worauf ein mehrjähriger konfliktreicher Entscheidungsprozess folgte. In dieser Zeit fand auch die sogenannte Erbe-Debatte in der DDR statt. Nach dem Kurswechsel in der Deutschlandpolitik unter Erich Honecker, der im Mai 1971 die Nachfolge von SED-Parteichef Walter Ulbricht angetreten und im Dezember 1972 für den Grundlagenvertrag über neue Beziehungen mit der Bundesrepublik gesorgt hatte, erfolgte eine Neujustierung der staatlichen Identität der DDR. Galt bis dato noch das Ziel der deutschen Einheit und war von einer deutschen Nation mit zwei verschiedenen
1 Ausführlich dazu: Kaiser: 1972 – Knockout für den Mittelstand; Hoffmann: Die Betriebe mit staatlicher Beteiligung. 2 Zu Details des Verkaufsverfahrens und der Formierung der neuen Verlagsgruppe siehe Sonntag: Kiepenheuer und Reclam in Personalunion? https://doi.org/10.1515/9783110471229-024
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Staaten die Rede, wurde nun eine eigene sozialistische Nation angestrebt, die über ein eigenes Staatsvolk mit einer eigenständigen Nationalkultur verfügte. In diesem Kontext entbrannte eine Debatte darüber, was aus dem reichen deutschen kulturellen Erbe als bewahrenswerte, staatsprägende Traditionen gelten sollte und was nicht.3 Der Idee einer einheitlichen deutschen Kulturnation wurde eine Abfuhr erteilt. Im Rahmen der kulturellen Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik spielte die Auseinandersetzung um das literarische Erbe eine wichtige Rolle, weshalb eine stärkere Kontrolle jener Verlage angestrebt wurde, die vornehmlich Erbe-Literatur verlegten. Daher entstand die Idee, mit der Übernahme des Kiepenheuer-Verlages zugleich mehrere private und halbstaatliche Verlage zusammenzuführen und unter politischen Einfluss zu nehmen. Dafür gab es zwei Modelle. Zum einen war an einen volkseigenen Kiepenheuer-Verlag in Fusion mit dem Leipziger Reclam-Verlag gedacht, da so Rechte des Reclam-Verlages, der ab 1967 mit einem Exportverbot durch das Parallelunternehmen in Stuttgart belegt war, unter dem Namen von Kiepenheuer verwertet werden könnten. Zum anderen verfolgte man das Konzept einer Zusammenlegung von Kiepenheuer mit Insel, List, Dieterisch’scher Verlagsbuchhandlung und dem kulturhistorisch ausgerichteten Prisma-Verlag. Bis zu einer Entscheidung im Frühjahr 1977 konnte der KiepenheuerVerlag in Weimar vorübergehend ohne Lizenz weiterarbeiten. Schließlich wurde nach dem IX. Parteitag der SED, auf dem im Mai 1976 ein neues Parteiprogramm beschlossen worden war, in dem jeglicher Verweis auf die Einheit Deutschlands fehlte und stattdessen eine schärfere ideologische Abgrenzung vom Westen erfolgte, am 21. März 1977 im Kulturministerium entschieden, den KiepenheuerVerlag verdeckt über den Umweg des vermeintlich staatlichen Kinderbuchverlages durch die SED zu erwerben und ihm die belletristischen Verlage Insel, List und Dieterisch’sche Verlagsbuchhandlung anzugliedern. Die Kiepenheuer-Erbin Eva Mayer wurde so in dem Glauben gelassen, den Verlag ins Volkseigentum übergeben zu haben. (Ähnlich war man zuvor schon mit Alfred Holz beim Verkauf seines Kinderbuchverlages verfahren.) Zu den Aufgaben der neuen Gruppe gehörte fortan die Edition von Literatur aus dem nationalen und internationalen Erbe, wobei ein Schwerpunkt auf der Veröffentlichung von Volksausgaben ausländischer Klassiker liegen sollte.4 Zum Verlagsleiter berief man Hans Klähn (1922–1978), den bisherigen Chef des Insel-Verlages, Cheflektor wurde Friedemann Berger (1940–2009), bis dahin Leiter des Kiepenheuer-Verlages. Entstanden war so durch zentrale staatliche Entscheidung ein heterogen zusammengesetztes Konglomerat von Firmen mit unterschiedlichen Eigentumsformen, aber einem Personalbestand und einer inhaltlichen Führung. Dies entsprach der Mitte der 1970er Jahre forcierten Bildung von Kombinaten in der gesamten DDR-Volkswirtschaft. Nach sowjetischem Vorbild agierten diese »Kombinierten Wirtschaftseinheiten« als formaljuristisch selbstständige Firmen unter Leitung eines Stammbetriebes. In der DDR-Verlagsbranche sprach man daher bald vom Leipziger »Erbe-Kombinat«, wenn es um die Verlagsgruppe Kiepenheuer ging. Dort musste für jede Firma einzeln Bilanz geführt werden, weshalb in der Vertragsabteilung beispielsweise dieselbe Kollegin sich selbst
3 Dazu Peitsch: Tradition und kulturelles Erbe; Meier (Hrsg.): Erbe und Tradition in der DDR; Ackermann: Phasen und Zäsuren. 4 Sonntag (FN 2), S. 283.
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Abb. 1 a–b: Verlagsprogramme der Kiepenheuer-Gruppe von 1985 und 1987.
mit wechselnden Kopfbögen Briefe schreiben musste, wenn ein Text aus dem Rechtefundus des einen Verlages unter dem Namen eines anderen Verlages erscheinen sollte. Mit dem Ende der DDR löste sich dieses künstliche Kombinat wieder auf und ging jeder Verlag seinen eigenen Weg.
Gustav Kiepenheuer Verlag Gustav Kiepenheuer, der 1880 geborene Urenkel des Verlegers F. A. Brockhaus, hatte 1909 in Weimar seinen Verlag gründete.5 Im Programm waren zunächst Werke der Weimarer Klassik, 1912 folgte eine Liebhaber-Bibliothek, hinzu kamen Publikationen zeitgenössischer Kunst. Noch während des Ersten Weltkriegs erschien die erste Graphikedition in Mappenform (1916), und Kiepenheuer wagte die Herausgabe einer Zeitschrift
5 Historische Eckdaten nach: Vierzig Jahre Kiepenheuer 1910–1950; Lokatis/Sonntag (Hrsg.): 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage. Eine kompakte Überblicksdarstellung findet sich bei Fischer/ Füssel (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 2: Die Weimarer Republik, S. 21–25.
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(Das Kunstblatt, 1917). Das dritte Standbein waren Werke aus der Zeit der Aufklärung.6 1918 übernahm Kiepenheuer sämtliche Verlagsrechte am Werk Georg Kaisers und orientierte sich zugleich stärker auf die Gegenwartsliteratur, unterstützt von seinen Lektoren Ludwig Rubiner und Hermann Kasack. In Potsdam-Wildpark, dem neuen Sitz des Verlages ab 1919, kam das Gesamtwerk von Ernst Toller hinzu, 1922 folgte Bertolt Brecht. Die jungen Autoren, denen Kiepenheuer monatliche Vorschüsse zahlte, brachten dem Verlag finanzielle Probleme, die mit der Umwandlung in eine Aktien-Gesellschaft im Oktober 1921 behoben werden sollten.7 Infolge der Inflation geriet der Verlag wieder in Schwierigkeiten, sodass im Herbst 1925 mit einer Anzeige im Börsenblatt ein Juniorpartner gesucht werden musste. Fritz H. Landshoff reagierte 1926 mit geborgtem Geld auf diesen Hilferuf, übernahm die Sanierung, stieg ein Jahr später als Teilhaber ein und gewann wichtige Autoren wie Joseph Roth, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Anna Seghers.8 1929 erfolgte der Umzug nach Berlin. 1930 entschloss sich Gustav Kiepenheuer, einige Hauptwerke der deutschen Literatur in Volksausgaben mit 50.000 Exemplaren das Stück zu 2,85 M auf den Markt zu bringen. Unter den Sachbuchbänden waren 1932 Das Kapital von Karl Marx und die Vorlesungen zur Psychoanalyse von Sigmund Freud, die im Jahr darauf von den Nationalsozialisten auf dem Berliner Opernplatz verbrannt wurden. Die Mehrheit der lieferbaren Bücher fiel unter ein Vertriebsverbot der Nazis.9 Kiepenheuer blieb trotzdem in Deutschland und bestritt mit den Werken der Weimarer Klassik und Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts sein Verlagsprogramm.10 1936 startete er die Kiepenheuer-Bücherei mit unterhaltsamen historischen Romanen, Biographien und Anekdoten-Sammlungen. 1937 stellte er gezwungenermaßen einen Antrag zur Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer11 und konnte dadurch nach 1939 zahlreiche Wehrmachtsausgaben produzieren, die zeitweilig die Hälfte des Gesamtumsatzes ausmachten.12 1944 musste die Geschäftstätigkeit auf Anordnung eingestellt werden. Landshoff, der Deutschland 1933 verlassen hatte, setzte im Amsterdamer Querido Verlag die Kiepenheuer-Tradition fort.13 1945 bot die Landesregierung Thüringen Gustav Kiepenheuer an, seine Verlagstätigkeit in Weimar wieder aufzunehmen. Am 14. März 1946 erhielten er und seine Frau Elisabeth (genannt Noa, 1893–1971) von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) eine Verlagslizenz (Nr. 35) auf Lebenszeit. Er bemühte sich zunächst, das Vorkriegsprofil seines Verlages wieder herzustellen, doch musste er feststellen, dass die
6 Zur inhaltlichen Entwicklung des Verlags: Becker: Ein Traditionsverlag am Wendepunkt und Funke: »Im Verleger verkörpert sich das Gesicht seiner Zeit«. 7 Tripmacker: Verwehte Spuren, S. 125. 8 Landshoff: Meine Jahre im Gustav Kiepenheuer Verlag. 9 Bernd F. Lunkewitz: 90 Jahre Kiepenheuer. In: Das Publikum will mehr als trockne Schwarten, S. 8. 10 Funke: »Im Verleger verkörpert sich das Gesicht seiner Zeit«. 11 Archiv des Börsenvereins (Mitgliederstelle): Gustav Kiepenheuer: Auskunftsbogen für die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer vom 9. 3. 1937. 12 Wittmann: Fallstudie Kiepenheuer. In: Wittmann: Literarische Verlage im Dritten Reich, S. 357–359, hier S. 358. 13 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 11–36.
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meisten seiner Autoren bereits bei anderen Verlagen (u. a. Aufbau und Suhrkamp) gebunden waren, darunter Anna Seghers und Bertolt Brecht. So kehrte er zu dem Programm zurück, mit dem er 1909 begonnen hatte, der Literatur des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Editionen deutscher, französischer, russischer und anglo-amerikanischer Werke jener Zeit und die Weimarer Klassik prägten dann das Programm. 1948 gründete Kiepenheuer mit dem ehemaligen Bibliothekar Joseph Caspar Witsch eine zweite Firma, die nach Kiepenheuers Angaben für ein Auslieferungslager in den Westzonen in Hagen/Westfalen gedacht war, nach Erklärungen von Witsch aber einen möglichen Wechsel des Verlages in den Westen vorbereiten sollte. Als Gustav Kiepenheuer am 6. April 1949 starb, agierte Witsch im Westen allein, erhöhte seinen Gesellschaftsanteil, womit er Mehrheitseigentümer wurde, und schuf einen Verlag, den er bald nach Köln verlegte.14 Es vergingen mehrere Jahre, bis sich die Witwe und Alleinerbin Noa Kiepenheuer und Joseph Caspar Witsch über die Rechtsbeziehungen einigen konnten. Es kam zu einem Vergleich und der völligen Trennung der beiden Unternehmen. Witsch verzichtete auf die Altrechte und ließ seine Firma im November 1951 als Kiepenheuer, Witsch & Co. GmbH, Köln-Berlin ins Handelsregister eintragen, inzwischen als Kiepenheuer & Witsch bekannt.15 Verlegt wurde in Weimar neben der klassischen Literatur ab 1956 auch die neu geschaffene Kiepenheuer-Bücherei, in der bis 1975 42 Bände erschienen, vornehmlich Essays, Aufsätze, Reden, Porträts und Briefe. 1971 starb Noa Kiepenheuer. Die Privaterbin Eva Mayer lehnte eine Eingliederung des Verlages in die SED-Holding Zentrag ab, da sie den Verlust des traditionsreichen Firmennamens und Eingriffe in die Programmhoheit befürchtete. Nach jahrelangen Verhandlungen stimmten sie schließlich einem Verkauf an den Kinderbuchverlag zu, der am 18. April 1977 vollzogen wurde. Die Kaufsumme von 127.000 M dafür kam allerdings aus dem Vermögen der SED, die den Kiepenheuer Verlag anschließend über die Hauptverwaltung Verlage im Ministerium für Kultur treuhänderisch verwalten ließ, sodass nach außen hin der Eindruck entstand, es handele sich um einen staatlichen Verlag. Die neuen Eigentümer erwarben im selben Jahr noch die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung OHG und bildeten mit den treuhänderisch verwalteten Privatverlage Insel und List eine neue Verlagsgruppe in Leipzig am Sitz des Insel Verlages in der Mottelerstraße. In Weimar verblieb ein Außenlektorat des Kiepenheuer Verlages. Hans Klähn, der erste Leiter der Gruppe, verstarb 1978, ihm folgte im Jahr darauf Roland Links (1931–2015), der zuvor das Germanistik-Lektorat im Berliner Verlag Volk und Welt geleitet und zu Alfred Döblin, Ernst Toller und Kurt Tucholsky publiziert hatte. Cheflektor wurde Friedemann Berger, ein früherer Mitarbeiter von Noa Kiepenheuer, der den Verlag zwischenzeitlich kommissarisch geleitet hatte. Während der Gustav Kiepenheuer Verlag vor der Zusammenlegung lediglich einen Papierfonds von 24 Tonnen im Jahr zur Verfügung hatte, die für etwa 20 Titel reichten, konnte er zehn Jahre später mit 450 Tonnen rund 50 Erstauflagen und 30 Nachauflagen
14 Boge: Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch; Möller: Das Buch Witsch, hier besonders das 9. Kapitel: Zwischen Hagen, Köln und Weimar – Der Kampf um Gustav Kiepenheuers Erbe 1949–1952, S. 246–290. 15 Hofsümmer: Joseph Caspar Witsch, S. 60.
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Abb. 2: Feierstunde anlässlich des Jubiläums 75 Jahre Gustav Kiepenheuer Verlag, 1984, 1. Reihe von rechts: Elmar und Renate Faber, Fritz H. Landshoff, Roland Links, Arno Lange, Jürgen Gruner. Foto: Helfried Strauß.
herausbringen. Dazu gehörte auch die wiederbelebte und von Lother Reher neu gestaltete Gustav Kiepenheuer Bücherei, in der binnen zehn Jahren fast 100 Titel erscheinen konnten. Darunter waren Werke des frühen 20. Jahrhunderts (Sigmund Freud, Franz Kafka, Siegfried Kracauer, Gustav Landauer, Paul Nizan, Ernst Toller), hier fanden sich aber auch internationale Gegenwartsautoren wie Ilse Aichinger, Albert Camus, Günter Eich, Arthur Miller, Jean-Paul Sartre, Arno Schmidt oder Peter Weiss, die über kleinere Schriften wie Essays, Aufsätze, Reden und Interviews dem DDR-Lesepublikum teilweise erstmalig zugänglich gemacht wurden.16 Hinzu kamen Bildbände, Reprints und kulturhistorische Dokumentationen. Zusammen mit dem C. H. Beck Verlag in München wurden 1981 eine Bibliothek des 18. Jahrhunderts und 1985 eine Orientalische Bibliothek gestartet.17 Daneben erschienen in der Reihe Bücherkiepe ab 1981 unterhaltsame Werke der Weltliteratur, darunter Oscar Wildes Das Gespenst von Canterville, Christian Morgensterns Galgenlieder und der erotische Zweibänder aus dem alten China Kin Ping Meh. Begehrte Erotika erschienen auch in teuren Leder- und Halblederausgaben, wie etwa die zwölf Bände von Giacomo Casanovas Geschichte meines Lebens und die DDRtypischen Miniaturbücher, für die keine staatlichen Preisvorgaben bestanden.
16 Verlagskatalog Gustav Kiepenheuer Bücherei 1979–1987 und Faber: Fünfundsiebzig Jahre Gustav Kiepenheuer Verlag. 17 Wieckenberg: Die Bibliothek des 18. Jahrhunderts.
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Abb. 3–5: Gustav-Kiepenheuer-Bücherei: J. K. Huysmans: Gegen den Strich, 1978, Gestaltung von Artur Liebig, Der Untergang der romantischen Sonne, 1980, Gestaltung von Artur Liebig, John Stuart Mill: Über die Freiheit, 1981, Gestaltung von Lothar Reher.
Der Umsatz des Verlages betrug zum Ende der DDR 10,4 Mio. M, der erwirtschaftete Gewinn 1,6 Mio. M.18 Der Export der Gesamtgruppe erreichte 1988 knapp 2 Mio. Valutamark, der sich etwa hälftig auf Ost- und Westeuropa verteilte. In der Verlagsgruppe arbeiteten rund 80 Mitarbeiter, davon 24 im Lektorat. Nach der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 waren alle Verlage gehalten, ihre Eigentumsverhältnisse offen zu legen. Die SED erklärte sich Anfang 1990 bereit, ihren Firmen Geld aus dem Parteivermögen für entzogene Gewinne zukommen zu lassen. Der Buchstadt Leipzig wurden insgesamt 135 Millionen Mark aus diesem Vermögenspool zuerkannt, der Kiepenheuer Verlag erhielt 8 Mio. Mark.19 Nach den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 mit dem Sieg der Allianz für Deutschland unter Führung der CDU zeichnete sich eine baldige Vereinigung mit der Bundesrepublik ab, weshalb binnen des ersten Halbjahres die Besitzfragen geklärt werden mussten, zumal die die Alteigentümer der privaten Verlage Insel und List ihre Rückgabeansprüche anmeldeten. Das Erbe-Kombinat unter Leitung des Kiepenheuer-Verlages war somit nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Gruppe wurde am 30. Juni 1990, einen Tag bevor die Wirtschafts- und Währungsunion in Kraft trat, in mehrere GmbHs aufgespalten.20 Für die Übergangszeit bis zum Abschluss der Privatisierungen schuf die Treuhandanstalt für die Gustav Kiepenheuer Verlags GmbH und die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung GmbH die Leipziger Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH i. A. (LVV) unter der
18 BArch, DR 1/7082: Jahresbericht für das Jahr 1988 vom 9. 1. 1989. 19 Auskunft von Roland Links (Verlagsleiter 1979–1990) im Gespräch am 19. 8. 2007. 20 Die Gustav Kiepenheuer Verlag GmbH mit 750.000 M der DDR Stammkapital wird am 2. 10. 1990 unter der Nummer HRB 1021 ins Handelsregister des Kreisgerichts Leipzig-Stadt eingetragen.
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Leitung von Roland Links als Dachorganisation, die bis zur Rückübertragung des InselVerlages Anton Kippenberg und des Paul List Verlages diese treuhänderisch mit verwaltete. Cheflektorin Beate Jahn wurde zur Geschäftsführerin des Gustav Kiepenheuer Verlages ernannt. Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch signalisierte der Treuhandanstalt die Bereitschaft zur Übernahme des Leipziger Kiepenheuer Verlages. Doch bei einem Treffen in Köln verständigten sich beide Seiten darauf, keine Vertragsbeziehungen einzugehen, die Programme und das äußere Erscheinen aber klar voneinander abzugrenzen.21 Am 1. Oktober 1990 – zwei Tage vor der staatlichen Vereinigung – übernahm Dr. Friedemann Berger im Auftrag der Treuhandanstalt die Geschäftsführung der LVVHolding, Roland Links wechselte als Geschäftsführer zum Leipziger Insel-Verlag, der aus der Gruppe ausschied, genau wie der Paul List Verlag. Friedemann Berger erwarb zusammen mit seinem ökonomischen Leiter Jörg-Peter Laubner im Rahmen eines Management Buy-outs Kiepenheuer und Dieterich.22 Das Projekt scheiterte jedoch aus vielfältigen Gründen, sodass die Treuhand beide Verlage 1993 neu ausschrieb.23 1994 übernahm Bernd F. Lunkewitz (geb. 1947) die Verlage, um die von ihm erworbene AufbauGruppe zu erweitern. Der Kiepenheuer-Verlag agierte zunächst von Leipzig aus weiter, Dieterich wurde eingestellt. Neben Erbe-Literatur wurden nun auch wieder Werke der neuen deutschen Literatur (vornehmlich ostdeutscher Autoren) verlegt, außerdem erschienen Memoiren und Sachbücher.24 2004 erfolgte die Verlegung nach Berlin und im Mai 2006 die Verschmelzung mit der Aufbau Verlagsgruppe. Nach deren Insolvenz 2008 übernahm der neue Eigentümer Matthias Koch auch die Rechte des Kiepenheuer Verlages. Da er sich fortan jedoch auf die Kernmarke Aufbau konzentrieren wollte, ließ er die Produktion 2010 auslaufen.25
Insel-Verlag Anton Kippenberg Der Insel-Verlag war am 15. Oktober 1899 als Buch- und Zeitschriftenverlag gegründet worden.26 Hier erschien die Zeitschrift Die Insel, die allerdings nur drei Jahre existierte. Erst 1901 entstand die Firma Insel-Verlag GmbH mit Sitz in Leipzig als Buchverlag im engeren Sinne. 1905 übernahmen der Drucker Carl Ernst Poeschel und der Buchhändler und Germanist Dr. Anton Kippenberg (1874–1950) die Geschäftsführung, ab 1906 trug Kippenberg die alleinige Verantwortung. Er verbesserte die geschäftliche Lage des Ver-
21 Mitteilung in der improvisierten Verlagszeitschrift Der Kiepenkerl, 3/1990, S. 3. 22 Bbl. 18/1991 vom 5. 3. 1991, S. 717. 23 Bbl. 6/1993 (22. 1. 1993), S. 6, und Bbl. 7/1993 (26. 1. 1993), S. 5; ausführlich dazu: Das Kiepenheuer-Drama. 24 »Das Publikum will mehr als trockne Schwarten«, S. 26. 25 Aufbau begradigt und erweitert sein Programm, in: Buchreport 27. 4. 2010. 26 Zur Geschichte des Insel Verlags gibt es umfangreiche Literatur. Die historischen Angaben stützen sich auf die jüngste Gesamtdarstellung Sarkowski/Jeske: Der Insel Verlag 1899–1999 und das parallel erschienene Begleitbuch zur Ausstellung in der Deutschen Bibliothek Frankfurt und der Deutschen Bücherei Leipzig: 100 Jahre Insel Verlag 1899–1999. Eine kompakte Überblicksdarstellung findet sich in Fischer/Füssel (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 2: Die Weimarer Republik, Teil 2, S. 18–21.
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lages und konnte durch mehrere Kapitalaufstockungen mit Hilfe neuer Gesellschafter die Produktion ausweiten. Während der Insel-Verlag anfangs durch die bibliophilen Neigungen seiner Gründer bestimmt war, setzte Anton Kippenberg auf die deutschen Bildungsideale im Geiste Goethes. In typographisch hervorragend gestalteten Ausgaben erschienen auch die Werke vieler anderer deutscher Klassiker. Ab den 1920er Jahren folgten umfangreiche Werkausgaben von ausländischen Schriftstellern und zunehmend auch zeitgenössische deutsche Autoren, die schließlich das Erscheinungsbild des Verlages prägten: Rilke, Hofmannsthal, Stefan Zweig und Ricarda Huch. Mit einzelnen ihrer Werke waren auch betont zeitkritische Autoren wie Carl Sternheim, Heinrich Mann und Johannes R. Becher im Insel-Verlag vertreten. Weltgeltung brachten dem Verlag seine bibliophilen Ausgaben und Faksimiledrucke wie die Gutenberg-Bibel und die Manessische Liederhandschrift. Fast alle bedeutenden deutschen Illustratoren und Buchkünstler der damaligen Zeit waren für Anton Kippenberg tätig.27 Als eine der größten Leistungen Kippenbergs gilt die Gründung der InselBücherei im Jahre 1912. Mit dieser schön gestalteten und doch preiswerten Buchreihe wurde dem Verlag ein zahlreiches Leserpublikum zugeführt und entstand eine wachsende Sammlergemeinde, wozu die auf Titel und Rücken aufgedruckten Nummern beitrugen. In der NS-Zeit mussten jüdische Teilhaber ausscheiden, die Firma wurde am 10. Oktober 1935 in den Insel-Verlag Anton Kippenberg umgewandelt. Mehr als 30 Titel zeitkritischer Autoren durften nicht mehr angeboten werden, darunter Johannes R. Becher, Leonhard Frank, Heinrich Mann und Stefan Zweig. Das Programm wurde auf Klassikerausgaben und naturkundliche Themen ausgerichtet, Kippenberg verzichtete auf jedes politische Engagement.28 Am 4. Dezember 1943 wurde bei einem schweren Bombenangriff auf Leipzig das Verlagsgebäude in der Kurzen Straße vernichtet, am 27. Februar 1945 auch das Wohnhaus von Kippenberg in der Richterstraße. Seine kostbarere Goethesammlung hatte er zuvor ins Provinzialmuseum der Stadt Marburg ausgelagert. Dorthin zog er auch nach Kriegsende, als er im Juni 1945 von amerikanischen Offizieren aufgefordert wurde, sie beim vereinbarten Rückzug aus Westsachsen zu begleiten. In Leipzig blieb Richard Köhler (1928–1986) als amtierender Leiter des Insel-Verlages, der am 8. Januar 1946 den Antrag auf Erteilung einer Verlagslizenz bei der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) stellte. Dazu wurde versichert: »Weder der Verlagsleiter noch einer der mitverantwortlichen Mitarbeiter hat zu irgendeiner Zeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder einer ihrer Gliederungen angehört.«29 Zum 1. März 1946 wurde dem Antrag entsprochen (Lizenz-Nr. 40), eine zweite Lizenz erhielt Richard Köhler nach einer erneuten Prüfung durch deutsche Behörden am 25. Februar 1947 von der SMAD (Nr. 366). Bereits zuvor, am 12. September 1945, hatte die amerikanische Militärbehörde Friedrich Michael, Prokurist des Insel-Verlages, im Westen eine Verlagslizenz erteilt. Seitdem wurde in Wiesbaden eine Zweigstelle des Insel-Verlages betrieben. Stammhaus blieb Leipzig, so der ausdrückliche Wunsch Kippenbergs, der von Marburg aus beide
27 Schauer: Deutsche Buchkunst 1890 bis 1960, S. 26–27. 28 Wittmann: Fallstudie Insel Verlag. In: Wittmann: Literarische Verlage im Dritten Reich, S. 349–352, hier S. 349. 29 StadtAL, StVuR (1) 9010: Verlagsgeschichte, S. 20–21.
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Filialen leitete.30 Da Druckereien und Bindereien im Wiesbadener Umfeld noch nicht imstande waren, den Qualitätsansprüchen des renommierten Verlages gerecht zu werden, wurde Vieles in Leipzig produziert. Dass dem Insel-Verlag in Leipzig sonst unübliche Konzessionen im Verkehr mit der Niederlassung in Wiesbaden gestattet wurden, hatte u. a. auch damit zu tun, dass im Spätherbst 1947 bei Insel in Leipzig und Wiesbaden zeitgleich der erste Nachkriegsband mit Gedichten von Johannes R. Becher erschien, der als einflussreicher Politiker dann 1954 erster Kulturminister der DDR wurde.31 Außerdem druckte Leipzig für Wiesbaden, was nach der Währungsreform von 1948 Deviseneinnahmen für die SBZ und dann die DDR bedeutete. Am 7. Juni 1947 starb Katharina Kippenberg, am 21. September 1950 Anton Kippenberg. Richard Köhler erhielt im Oktober 1951 eine neue Lizenz (Nr. 351).32 Als Gesellschafter firmierten ferner Jutta von Hesler und Bettina von Bomhard, die Töchter Kippenbergs, sowie mehrere Einzelpersönlichkeiten. Die Programmverantwortung lag bei Fritz Adolf Hünich (1885–1964), der die Bibliothek der Romane wiederbelebte und die beliebte Insel-Bücherei mit attraktiven Titeln versah. Zwischen 1950 und 1964 erschienen hier 87 neue Ausgaben, im übrigen Verlag 44 Bücher, darunter zahlreiche Werke russischer und sowjetischer Autoren sowie Bildbände. Unter den Mitarbeitern des Leipziger Verlages gab es zu dieser Zeit keine Mitglieder der SED. Im September 1951 hatte sich der Wiesbadener Verlag im dortigen Handelsregister eine Leipziger Zweigniederlassung eintragen lassen, was von Seiten des Leipziger Börsenvereins mit dem Argument akzeptiert wurde, dass es sich hier »annehmbar nur um eine vorübergehende Maßnahme für die Dauer der Spaltung« handele, »die nach Wiederherstellung der Einheit wahrscheinlich wieder rückgängig gemacht werden wird«.33 Diese wohlwollende Behandlung der beiden Insel-Verlage durch die DDR-Behörden endete 1953, als der Kommanditist Alexander Schoeller in den Westen ging. Sein Geschäftsanteil wurde in staatliches Eigentum überführt und zunächst von der Industrieund Handelsbank, dann von der Deutschen Investitionsbank übernommen (1,7 % des Firmenkapitals). Zum Eklat kam es, als am 13. April 1960 auch der Lizenzträger Richard Köhler die DDR verließ, nachdem es im Jahr zuvor politische Konflikte um die Anthologie zum 60. Verlagsjubiläum gegeben hatte. Die Zensurbehörde hatte die Druckgenehmigung verweigert, da von den 120 Beiträgen lediglich fünf von DDR-Autoren stammten und zudem der unerwünschte Hans Carossa vertreten war, der einst auf Hitlers »Gottbegnadetenliste« der sechs wichtigsten deutschen Schriftsteller gestanden hatte. Als in Wiesbaden eine Gesellschafterversammlung am 30. April 1960 beschloss, die bisherige Zweigstelle im Westen offiziell zum Stammhaus zu bestimmen, verstärkte
30 Brief von Anton Kippenberg an Rudolf Alexander Schröder vom 5. 10. 1945, zitiert nach: Die Insel. Eine Ausstellung zur Geschichte des Verlages unter Anton und Katharina Kippenberg, S. 348. 31 Harder/Siebert (Hrsg.): Becher und die Insel, S. 300. 32 Archiv des Börsenvereins (Mitgliederstelle): Lizenzurkunde Nummer 351 vom Amt für Information der DDR vom 26. 10. 1951. 33 StadtAL, StVuR (1) 9010, S. 85: Brief des Geschäftsführers des Börsenvereins an den Rat des Stadtkreises Leipzig vom 6. 10. 1951.
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sich die Konfrontation. Der im Mai interimistisch eingesetzte neue Leipziger Verlagsleiter Gerhard Keil (SED), der zugleich Chef des Kunstverlages E. A. Seemann war, sorgte dafür, dass zur Leipziger Frühjahrsmesse 1961 der inzwischen nach Frankfurt umgezogene Westverlag nicht wie gewohnt am gleichen Stand mit ausstellen konnte. Der Mauerbau am 13. August 1961 führte zu einer weiteren Einschränkung der Kooperation. Der Leipziger Export sank von rund 180.000 Verrechnungseinheiten (VE) im Jahr 1960 auf knapp 50.000 VE 1964. Das historische Schriftgutarchiv kam in das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, um jeden Zugriff durch Vertraute des Westverlages zu verhindern. Überraschenderweise kamen ab 1961 die DDR-Ausgaben von Heinrich Böll im Leipziger Insel-Verlag heraus, die als Lizenz des Kölner Verlages Kiepenheuer & Witsch erschienen. Normalerweise hätte man dies eher beim Aufbau-Verlag oder beim Verlag für internationale Literatur Volk und Welt in Berlin vermutet. Doch Böll bestand darauf, dass sie bei Insel erscheinen und das Honorar dafür an die katholische Kirche in der DDR ging.34 Der erste Band war Billard um halb zehn. Die Spannungen zwischen den beiden Insel-Verlagen vertieften sich noch, als zum Jahresbeginn 1963 der verselbständigte Westverlag ohne Abstimmung mit Leipzig verkauft wurde. Siegfried Unseld (1924–2002) vom Suhrkamp Verlag übernahm ihn zusammen mit den Schweizer Geldgebern Balthasar und Peter Reinhart (Winterthur). Außerdem stieg noch Dr. Rudolf Hirsch ein, der zusammen mit Unseld den Verlag fortan leitete. Im Sommer 1963 verkauften dann auch noch die beiden letzten Kommanditisten ihre Anteile. Dies hätten die DDR-Behörden zum Anlass nehmen können, nun die anderen Anteile am Leipziger Insel-Verlag zu verstaatlichen oder zumindest unter Treuhandkontrolle zu stellen, doch die Beteiligung von Schweizer Kapital ließ die Offiziellen offenbar davon Abstand nehmen. Der 1963 neu eingesetzte Verlagsleiter Dr. Heinz Bär, der zuvor schon den Fachbuchverlag und den Mitteldeutschen Verlag geleitet hatte, verstärkte jedoch die Abgrenzungspolitik und begann eine Art »Nummern-Krieg« bei der InselBücherei.35 Waren bis dahin die Nummern in gegenseitiger Abstimmung vergeben worden, sodass sich die ost- und westdeutschen Bücher gegenseitig ergänzten und eine gemeinsame Reihe bildeten, belegte nun der Leipziger Verlag auch die für Frankfurt frei gehaltenen Nummern mit eigenen Titeln. Im Rahmen der Profilierung des DDRVerlagswesens 1963/64 erfolgte eine strikte Ausrichtung von Insel auf die Pflege des kulturellen Erbes einschließlich bibliophiler Werke und Faksimile-Drucke.36 1967 übernahm Hans Klähn (1922–1978) die Verlagsleitung, der seit 1963 bereits in Nachfolge von Fritz Adolf Hünich als Cheflektor im Verlag tätig war. Er wollte dem historisch gewachsenen Renommee des Insel-Verlages gerecht werden und bemühte sich um Entspannung. Dazu gehörte u. a. die Bereitschaft, dem Verlagshistoriker Heinz Sarkowski für die geplante Insel-Bibliographie 1899–1969 Zugang zum Leipziger Verlagsarchiv zu gewähren. Eine Parallelausgabe durfte in der DDR allerdings nicht erscheinen, obwohl die Frankfurter Ausgabe als Devisengeschäft in Leipzig gedruckt wurde. Man
34 Sarkowski/Jeske: Der Insel Verlag, S. 488. 35 Ausführlich dazu Lokatis: Eine gesamtdeutsche Reihe? 36 Börsenverein: Verlage der Deutschen Demokratischen Republik, S. 47.
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wollte eine »kulturpolitische Gemeinschaftsdemonstration mit der imperialistischen BRD« verhindern, wie es offiziell hieß.37 Streitpunkt war zudem eine Nietzsche-Ausgabe aus dem Jahr 1908, die in der Bibliographie nicht abgebildet werden sollte, da Nietzsche in der DDR als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus galt.38 Im Rahmen der 1977 in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur entwickelten Konzeption für einen neu zu schaffenden zentralen ErbeVerlag unter Führung des SED-eigenen Kiepenheuer-Verlages spielte auch der private Insel-Verlag eine wichtige Rolle. Wie es in einem Konzeptionspapier hieß, war zunächst daran gedacht, ihn zu enteignen: »Es muß das Ziel sein, alle bestehenden und gegebenen Möglichkeiten zu nutzen, den Insel-Verlag in kürzester Frist in das Eigentum des Kiepenheuer Verlages zu überführen.«39 Dazu kam es dann aber mit Rücksicht auf die Schweizer Miteigentümer nicht. Der Insel-Verlag wurde als eigenständiges privates Unternehmen 1977 in die Kiepenheuer-Gruppe integriert, die im Leipziger Haus des InselVerlages in der Motteler Straße 8 ihr Quartier bezog und die Mehrheit der anfallenden Gemeinkosten über den Insel-Verlag abrechnete, dessen kleingehaltene Gewinne jährlich auf ein Sperrkonto eingezahlt wurden. Dies war wohl auch mit ein Grund dafür, dass der mehrmalige Antrag des Verlages an das Kulturministerium, die extrem niedrigen Preise für die defizitäre Insel-Bücherei von 1,25 M bzw. 2,50 M (Doppelband) zu erhöhen, stets abgelehnt wurde. Die Verluste aus dieser beliebten Reihe konnten so mit den Gewinnen aus der übrigen Produktion verrechnet werden, wodurch am Jahresende dem Konto der westlichen Eigentümer nur ein geringer Betrag zugeschrieben werden musste. Bei der Leipziger Insel-Bücherei war auffällig, dass hier im Unterschied zu Frankfurt zunehmend Texte von zeitgenössischen Autoren erschienen. Der vom Ministerium für Kultur am 1. März 1979 als Klähns Nachfolger berufene Roland Links, der vom Treuhänder Staatsbank Einzelprokura für Insel erhalten hatte, suchte in Abstimmung mit der HV Verlage den Kontakt zu Siegfried Unseld, da inzwischen in Frankfurt am Main der Deutsche Klassiker Verlag gegründet worden war, der auch die Insel-Altrechte nutzte. Unseld schrieb dazu am 27. August 1981: Rechtsnachfolger des früheren Insel Verlages Anton Kippenberg Leipzig ist der Insel-Verlag Wiesbaden und später der Insel Verlag Frankfurt. Das ist nach unserer Rechtsordnung ganz eindeutig, und Sie dürfen sicher sein, daß der Insel-Verlag Leipzig durchaus als Posten in unserer Bilanz weitergeführt wird, da wir uns als Inhaber dieses Verlages ansehen. Ihre Behörden haben der besonderen Situation ja auch Rechnung getragen, indem der Insel-Verlag Anton 40 Kippenberg unter einer Treuhänderschaft steht.
Es kam zu einer persönlichen Aussprache und Verständigung der beiden Verlagsleiter, in deren Ergebnis eine Rückkehr zur früheren Abstimmung der Programme und der Nummernvergabe bei der Insel-Bücherei erfolgte und auch wieder mehr Mitdrucke für beide Häuser möglich wurden.
37 Sarkowski: Zwischen Bibliographie und Verlagsgeschichte, S. 13. 38 Sakowski: Der Insel Verlag, Vorwort zur neuen Ausgabe, S. VII. 39 Privatarchiv Roland Links: Protokoll über die Verhandlung am 2. Mai 1977 im Insel-Verlag Leipzig, vom 10. 5. 1977, Punkt 4.7, S. 6. 40 Privatarchiv Roland Links: Brief von Siegfried Unseld an Roland Links vom 27. 8. 1981.
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Abb. 6: Aus einem Bericht des Verlages über die ökonomische Entwicklung der Insel-Bücherei, 1985. Bundesarchiv.
Im Leipziger Insel-Verlag erschienen von 1977 bis 1984 etwa 30 bis 40 (teilweise mehrbändige) Titel pro Jahr, danach nur noch 20 bis 30. Inhaltliche Schwerpunkte waren deutsche und ausländische Belletristik des Literaturerbes, kunsthistorische Werke, bibliophile Ausgaben und Faksimiledrucke.41 Besonders geschätzt wurden beim Publikum die solide kommentierten und schön gestalteten Werkausgaben, von Adalbert Stifter über Georg Büchner bis Edgar Allan Poe. Etwa die Hälfte der Buchproduktion wurde exportiert. Dies geschah oft auf dem Weg von Mitdrucken, bei denen für den Westpartner nur die Titelei geändert wurde. In seltenen Fällen gelang es auch, Rohbögen des Frankfurter Insel-Verlages zu übernehmen und für den Leipziger Verlag eine kleine Auflage mit eigenem Titelbogen zu produzieren, wie dies 1979 mit der fünfbändigen Werkausgabe von Arthur Schopenhauer geschah. Auf diese Weise kam das Werk des geschmähten Philosophen (›spätbürgerliche Dekadenz‹) nach jahrelangen Bemühungen frei in den Handel und war nun auch in den Bibliotheken öffentlich zugänglich. Zu den besonders begehrten Ausgaben der Insel-Bücherei, für die in den Antiquariaten kurz nach Erscheinen oft das Zehnfache des Ladenpreises gezahlt werden musste, zählten Werke ausländischer Autoren wie Elias Canetti, Truman Capote, Aldous Huxley, James Joyce, Alberto Moravia und Peter Rühmkorf, die auf andere Weise in der DDR nicht oder nur sehr schwer erhältlich waren.
41 Dokumentation DDR-Verlagskunde, S. 145.
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Abb. 7–8: 75 Jahre Insel-Verlag, 1974, Plakat, und 75 Jahre Insel-Bücherei, 1987, Bibliographie.
Öffentliche Aufmerksamkeit gab es stets für Bücher, die von bekannten Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit aktuellen Begleittexte versehen wurden, etwa die Ausgabe Die Günderode von Bettina von Arnim, die seit 1914 mehrfach im Insel-Verlag erschienen war, dann 1982 mit einem viel diskutierten Essay von Christa Wolf neu herausgegeben wurde. Der Band erschien sowohl in Leipzig als auch in Frankfurt. Nach den Umbrüchen im Herbst 1989 kam es am 5. März 1990 in Frankfurt a. M. zu einer Grundsatzbesprechung zwischen beiden Verlagen, bei der vereinbart wurde, sich gemeinsam um die Beendigung der staatlichen Treuhandschaft für die konfiszierten Gesellschafteranteile in der DDR zu bemühen und die Zusammenarbeit zu erweitern.42 Nach Erstellung der D-Mark-Eröffnungsbilanz zum 1. Juli 1990 und dem Vorliegen der juristischen Expertisen43 stellte am 2. August 1990 der Frankfurter Insel Verlag bei der Stadt Leipzig den Antrag auf Rückübertragung des Leipziger Insel-Verlages, was von den Leipziger Kollegen unterstützt wurde. Am 6. Februar 1991 konnte dann ein Kauf-
42 Privatarchiv Roland Links: Ergebnis-Niederschrift der Besprechung der Herren Dr. Siegfried Unseld und Roland Links am 5. 3. 1990 in Frankfurt a. M. 43 Privatarchiv Roland Links: Bericht des Rechtsanwalts Hans Georg Graf Lambsdorf zum Insel-Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co., Amtsgericht Frankfurt am Main, Handelsregister HRA 14130 vom 31. 7. 1990.
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vertrag abgeschlossen werden, mit dem die Treuhandanstalt dem Frankfurter Insel Verlag die verstaatlichten Kommanditanteile für 1 DM übertrug und dieser sich im Gegenzug verpflichtete, den Leipziger Insel Verlag mindestens fünf Jahre weiterzuführen, 100.000 DM zu investieren und acht Arbeitsplätze für mindestens ein Jahr zu erhalten. Zum 4. Juni 1991 erfolgte die entsprechende Eintragung ins Handelsregister. Das InselBucharchiv kam von Leipzig ins Frankfurter Verlagshaus.44 Zum 31. Januar 1992 ging Verlagsleiter Roland Links in den Vorruhestand, die Geschäftsführung verlagerte sich nach Frankfurt.45 Das Büro des Insel Verlages Leipzig zog 1994 mit fünf Mitarbeitern in kleinere Räume in der Jahnallee und 2004 in eine Erdgeschossetage in der Liviastraße, von wo aus 2007 noch zwei Mitarbeiter und eine Vertreterin für den Frankfurter Verlag tätig waren. Zeitgleich mit dem Umzug des Suhrkamp Verlages von Frankfurt nach Berlin wurde Ende 2009 das Büro des Insel Verlages in Leipzig endgültig geschlossen.
Paul List Verlag Der Paul List Verlag geht auf die 1814 in Berlin gegründete Firma Buchhandlung und Verlag von J. A. List zurück.46 Während einer der Söhne 1862 das wissenschaftliche Antiquariat List & Francke schuf, gründete der andere am 1. April 1894 den Paul List Verlag in Berlin. 1896 verlegte dieser sein Domizil nach Leipzig47 und schuf 1907 zusammen mit Felix von Bressensdorf (1876–1955) den Schulbuchverlag List & von Bressensdorf, der seinen Schwerpunkt im geografischen Bereich hatte. Am 1. April 1919 trat Paul Lists Sohn in das väterliche Geschäft ein: Gustav Egon Paul Walter List (1899–1989), der später als Paul W. List zeichnete. Er übernahm 1929 nach dem Tode des Vaters die alleinige Verantwortung für den Verlag und profilierte ihn neben der Belletristik vor allem durch historisch-politische Monographien sowie Künstler- und Politiker-Biographien.48 Nach dem Zweiten Weltkrieg beantragte Paul W. List, der im Herbst 1945 in Garmisch-Partenkirchen lebte, für seinen Verlag Lizenzen bei allen Besatzungsmächten sowie in Österreich. Die erste wurde ihm am 18. Januar 1946 von der amerikanischen Militärverwaltung für München zugesprochen (License Nr. US-E-139). Am 3. Mai 1946 erhielt er, vertreten durch eine seiner Töchter, von der Landeshauptstadt von Tirol eine österreichische Konzession für den Verlag in Innsbruck, was ihm die Aufnahme von Kontakten mit ausländischen Schriftstellern erleichterte. Am 30. Dezember 1946 bekam in Leipzig Heinz Schöbel (1913–1980) Prokura, wodurch die Beantragung der Lizenz bei der Sowjetischen Militäradministration erleichtert wurde. Am 8. Februar 1947 erhielt zunächst nur der Paul List Verlag selbst eine Lizenz (Nr. 157), vier Monate später wurde sie jedoch auch auf List & von Bressensdorf Verlag erweitert (Nr. 303). Am 4. Novem-
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Lokatis/Tiepmar: DDR-Verlagsarchive, S. 462. Börsenblatt 9/1992 (31. 1. 1992), S. 6, und Börsenblatt 74/1992 (15. 9. 1992), S. 19. List: Jahresringe, S. 7. Handelsregister des Kreisgerichts Leipzig-Stadt, Registereintragung Nr. 722 HRA 1608 der Stadt Leipzig, die auf die Registereintragung des Königlich Sächsischen Amtsgerichtes Leipzig vom 1. 4. 1895, Fol. 9033, zurückgeht, umgeschrieben am 21. 5. 1938. 48 Paul List. In: Verlagskunde in Einzeldarstellungen.
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ber 1947 folgte eine Lizenz der französischen Militärregierung für Freiburg im Breisgau. Eine Lizenzbestätigung durch die britische Militärregierung konnte am 13. Februar 1948 erwirkt werden. Sie bezog sich auf einen Schulbuchverlag in Frankfurt a. M. und auf den unter dem Namen Atlantik-Verlag Paul List, Kartographische Anstalt, registrierten Schulbuchverlag in Hamburg.49 An allen Standorten begann zunächst die Buchproduktion, die auf westlicher Seite bald in München (ab 1959 in der Goethestraße) zusammengeführt wurde. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war die Verlagslizenz nicht namentlich an Paul W. List gegangen, sondern in Vertretung an Heinz Schöbel, einen seiner langjährigen Mitarbeiter.50 Durch die am 20. Mai 1947 beim Registergericht eingetragen Einzelprokura war Schöbel voll handlungsfähig.51 Er besaß in der SBZ einen guten Leumund, weil er sich gleich nach seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft 1945 für die Gründung der Fachgruppe Buchhandelsangestellte in der Gewerkschaft der Angestellten eingesetzt hatte und gegenüber dem Präsidium der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DZVV) Anfang 1947 für eine Belebung der Buchstadt Leipzig eingetreten war, u. a. die Erteilung weiterer Lizenzen gefordert hatte, um Arbeiter des graphischen Gewerbes wieder in Lohn und Brot zu bringen.52 Ihm wurde daher 1949 zusätzlich noch die Leitung des neu gegründeten volkseigenen Fachbuchverlages übertragen, 1960 wechselte er dann in den neu entstandenen Verlag für Grundstoffindustrie. Der Leipziger List Verlag entging Anfang der 1950er Jahre einer Enteignung, obwohl die Eigentümer in der Bundesrepublik lebten, fiel allerdings unter die Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten vom 17. Juli 1952, wodurch Paul List keine Verfügungsgewalt mehr hatte und die alleinige Entscheidungsbefugnis fortan bei Heinz Schöbel lag.53 Der Leipziger Verlag erhielt von den DDR-Behörden eine erneuerte Lizenz (Nr. 375) und bekam vom Oberbürgermeister der Stadt Leipzig am 31. Dezember 1954 bestätigte, dass er weder beschlagnahmt noch sein Vermögen eingezogen worden sei. Die Lizenz für den Verlag List & von Bressensdorf wurde dagegen nicht bestätigt, da dieser nicht wieder aktiv geworden war. Eine Löschung im Handelsregister erfolgte jedoch nicht. 1955 wurde Heinz Schöbel neben seiner verlegerischen Tätigkeit noch Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR (bis 1973) und in dieser Eigenschaft 1966 Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, wobei ihm sein Status als Treuhänder eines immer noch privaten Verlages von westlicher Seite zugutegehalten wurde.54 Es erschienen durchschnittlich 20 Titel pro Jahr in den Bereichen Belletristik, Klassik und Kulturgeschichte. Zu den erfolgreichen, in hohen Gesamtauflagen verlegten Publikationen zählen Werke von Honoré de Balzac (Vater Goriot), Iwan Gontscharow
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List: 150 Jahre buchhändlerischer Tradition, S. 8 und S. 214–225. Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR?, S. 898. Handelsregister des Kreisgerichts Leipzig-Stadt, HRA 1608, Eintragung vom 20. 5. 1947. Bille: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler, S. 177. Handelsregister des Kreisgerichts Leipzig-Stadt, HRA 1608, Eintragung vom 25. 3. 1955. Nach Aussagen der Witwe, Charlotte Schöbel, hat ihr Mann für seine treuhänderische Tätigkeit beim List Verlag kein übliches Gehalt, sondern ein Honorar bezogen, das ihm dann nicht bei der Rentenberechnung anerkannt wurde.
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Abb. 9–10: Stefan Heym: Der Fall Glasenapp. Sean O’Casey: Wünsche und Verwünschungen. Paul List Verlag 1958 bzw. 1970, Schutzumschlag von Karl Wernicke bzw. unbekannt.
(Oblomow), Carl Hagenbeck (Von Tieren und Menschen), Stefan Heym (Kreuzfahrer von heute) und Heinrich Alexander Stoll (Der Traum von Troja). Der Münchner List Verlag stand weiterhin in gutem Kontakt mit den Leipziger Kollegen. In der von Paul W. List verfassten Verlagsgeschichte zum 70. Jubiläum 1964 wird die Geschichte des DDR-Teils weitgehend ausgespart. Dem nach Leipzig übersandten Exemplar legte er eine Grußkarte bei, auf die er schrieb: »Über das Phänomen Leipzig mit all seinen positiven und negativen Vorzeichen müssen wir noch einmal in Ruhe zusammen sprechen.«55 In der Folgezeit wechselten beide Seiten zu gebotenen Anlässen postalische Grußkarten. Sie gingen etwa vom Paul List Verlag, Leipzig C1, Paul-List-Straße 22, an Dr. Paul E. Walter List, Garmisch-Partenkirchen, Paul-ListStraße 4. Der persönliche Kontakt blieb auch noch bestehen, nachdem 1964 der Süddeutsche Verlag als Mehrheitsgesellschafter beim Münchner List Verlag eingestiegen war und das Unternehmen 1972 in der Südwest-Gruppe aufging. Weil Heinz Schöbel in den Jahren 1960 bis 1978 zusätzlich den in Leipzig ansässigen Deutschen Verlag für Grundstoffindustrie (mit etwa 150 Titeln im Jahr) leitete,
55 Privatarchiv Roland Links: Beilegekarte von Paul W. List im Jubiläumsband: 150 Jahre buchhändlerische Tradition.
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sperrte er sich gegenüber der vom Kulturministerium geforderten Angliederung des vergleichsweisen kleinen List Verlages an die 1977 gebildete neue Erbe-Verlagsgruppe nicht. Nach seinem Tod am 26. April 1980 wurde dies dann auch formell vollzogen. Der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig berief den Leiter der Kiepenheuer-Gruppe Roland Links am 1. Juni 1980 auch zum Leiter des Paul List Verlages.56 Ziel der Eingliederung war die Nutzung jenes Programmanteils, der – repräsentiert durch die Epikon-Reihe – dem literarischen Erbe der Weltliteratur verpflichtet war. Der Programmteil der Gegenwartsliteratur dagegen ging mit ca. 20 Autoren und fünf Lektoren an den Mitteldeutschen Verlag Leipzig–Halle über, der wichtigste Autor Stefan Heym wechselte hingegen zum Buchverlag Der Morgen. Aufgrund der Tatsache, dass in der Folgezeit keine exportträchtigen Kooperationen mit dem veränderten Münchener List-Verlag oder anderen westlichen Partnern zustande kamen, wurde die Buchproduktion systematisch verkleinert, sodass pro Jahr nur noch wenige neue Titel und einige Nachauflagen erschienen. Einzelne Rechte wurden vom Kiepenheuer-Verlag für seine Reihen genutzt. Da der Leipziger Verlag offiziell nicht enteignet worden war, fiel er nicht unter die Zuständigkeit der am 1. März 1990 geschaffenen Treuhandanstalt für das staatliche Eigentum der DDR. Paul W. List war im Jahr zuvor 90-jährig verstorben und konnte selbst nicht mehr aktiv werden. Die Verantwortlichen des Südwest Verlages sorgten für die Abwicklung der für sie uninteressanten Dependance in Leipzig. Am 21. August 1991 erfolgt die Unterzeichnung eines Übergabe-/Übernahmeprotokolls für alle verbliebenen Vermögensbestandteile der Leipziger Firma Paul List Verlag. Dazu gehörten auch 25 Ordner mit Unterlagen zum Archiv des Verlages, die ins Münchner Verlagshaus gelangten.57
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Der Verlag geht auf Johann Christian Dieterich (1722–1800) zurück, der zunächst in Gotha eine Buchhandlung übernahm und ihr dann 1765 in Göttingen eine Druckerei mit Verlag anschloss. Hier erschienen von 1770 bis 1799 der Göttinger Musenalmanach sowie Werke von Georg Christoph Lichtenberg. Im 19. Jahrhundert geriet der Verlag in Insolvenz und hatte danach wechselnde Eigentümer. 1897 übernahm ihn Theodor Weicher und verlegte ihn nach Leipzig, wo er als Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Th. Weicher fortgeführt wurde. Verlegt wurden klassische und moderne Literatur, aber auch wissenschaftliche Werke. Geschichte, Altertum, Orientalistik und Länderkunde gehörten zum Programm. 1916 erfolgte die Umwandlung in eine GmbH mit neuen Mehrheitsgesellschaftern, die ihrerseits das (wenig erfolgreiche) Unternehmen 1928 an den expressionistischen Dichter Dr. med. Otto Wilhelm Klemm (1881–1968) verkauften, der zugleich Besitzer der Kommissionsbuchhandlung Carl Friedrich Fleischer und Ge-
56 Privatarchiv Roland Links: Bestallungsurkunde für Roland Links zum 1. 6. 1980, ausgestellt vom Stellvertreter des Oberbürgermeisters und Leiter der Abteilung Örtliche Versorgungswirtschaft am 29. 8. 1980. 57 Lokatis/Tiepmar: DDR-Verlagsarchive, S. 462.
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schäftsführer des Alfred Kröner Verlages war.58 Er holte 1937 den Verlagsbuchhändler Rudolf Marx (1899–1990), den er aus dem Kröner Verlag kannte, als Juniorpartner in die nunmehr Offene Handelsgesellschaft (OHG)59 und schuf mit ihm zusammen die Reihe Sammlung Dieterich, die Marx verlegerisch betreute. Nach dem Ausschluss von Klemm 1938 aus der Reichsschrifttumskammer führte Marx die neue Reihe – gut ausgestattete Festeinbände im Taschenformat – allein weiter. Hierfür trat er 1938 auch in die NSDAP ein. Bis 1944 erschienen insgesamt 63 Titel, die als Gegengewicht zur nationalsozialistischen Propaganda Werke der Antike, der ausländischen Weltliteratur, der Philosophie und Kulturwissenschaft enthielten. Im Dezember 1943 wurden die Leipziger Verlagsräume bei einem Bombenangriff total zerstört, wobei auch das seit 1760 geführte Archiv verbrannte. Nach dem Kriegsende gehörte Wilhelm Klemm zu jenen fünf Verlegern, die mit den US-Amerikanern nach der zeitweiligen Besetzung Leipzigs im Juni 1945 nach Wiesbaden gingen, wobei er auch Archivalien und einen Scheck des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler mitnahm, um dort den westlichen Teil des Börsenvereins neu zu gründen.60 Im Oktober 1945 erhielt Klemm die amerikanische Lizenz für eine Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Wiesbaden.61 In Leipzig erfolgte die Lizenzierung für Rudolf Marx erst am 8. Februar 1947 (Nr. 155), nachdem sich dieser am 25. April 1946 dem Ausschuss zur Wiederherstellung des politischen Ansehens gestellt hatte.62 Vorausgegangen war eine einvernehmliche Trennung, bei der Wilhelm Klemm – entsprechend dem Gesellschaftervertrag von 1937 – zwei Drittel des Kapitals übernahm und eine gemeinsame Nutzung der Altrechte und des Namens während der Existenz der beiden deutschen Wirtschaftsgebiete vereinbart worden war.63 Doch bald gerieten beide Seiten in Konflikt, da Klemm seinen Partner im Osten nicht über die Entwicklung des westlichen Verlagsteils informieren und bei ihm abrechnen wollte. Daraufhin begann 1949 ein langjähriger Rechtsstreit, bei dem Marx in Leipzig Recht bekam und Klemms Verlagsanteil am 18. Juli 1952 beschlagnahmt und fortan durch die Deutsche Investitionsbank als Rechtsträger verwaltet wurde.64 In Wiesbaden konnte Wilhelm Klemm noch 18 Bände der Sammlung Dieterich hinzufügen, geriet Mitte der 1950ere Jahre aber zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten und sah sich 1955 gezwungen, die Reihe dem Carl Schünemann Verlag in Bremen zu verkaufen, um einen Konkurs zu vermeiden. Seinen Verlag legte er 1956 still. Die Bremer Verlagskollegen betrachteten den Erwerb dieser »Gipfelreihe abendländischer
58 Handelsregister des Kreisgerichts Leipzig-Stadt, HR 25564: Eintragung vom 5. 3. 1928, umgeschrieben am 31. 3. 1939 auf HRA 5269: Dr. med. Otto Klemm hat »das Handelsgeschäft und die Firma der aufgelösten und in Liquidation befindlichen Firma Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung mit beschränkter Haftung übernommen. Er haftet aber nicht für bestehende Verbindlichkeiten«. 59 Handelsregister des Kreisgerichts Leipzig-Stadt, HR 25564: Eintragung vom 22. Oktober 1937. 60 Bille: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler, S. 166–167. 61 Stegmann: Die Sammlung Dieterich und ihr Herausgeber Rudolf Marx, S. 304. 62 StadtAL, StVuR (1) 9182, S. 55. 63 Becker: Ein Traditionsverlag am Wendepunkt, S. 39. 64 Handelsregister des Kreisgerichts Leipzig-Stadt HRA 5269: Eintragung vom 28. 9. 1953.
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Geistesgeschichte«65 als kulturhistorischen Zugewinn und legten 1962 einen edlen Almanach mit Bibliographie zum 25-jährigen Bestehen der Sammlung Dieterich vor, in dem auch über die Arbeitsteilung zwischen Leipzig und Bremen berichtet wird. Danach konzentriert sich der Leipziger Verlag auf die Herausgabe wichtiger Werke der Weltliteratur in Neuübersetzungen, während man bei Schünemann auch Werke zu Geschichte, Religion, Philosophie, Rechtswissenschaft und Pädagogik sowie zweisprachige Lyrikausgaben publiziere. Insgesamt werde das Programm »in engem Einvernehmen« zwischen beiden Häusern gestaltet.66 Bald musste man in Bremen jedoch erkennen, dass mit dem bisherigen Konzept der beiden Herausgeber Prof. Lutz Mackensen und Dr. Elger Blühm nur ein kleiner Kreis des Bildungsbürgertums erreicht wurde und kein größerer Erfolg im deutschen Buchhandel zu erzielen war. Bände wie die Vagantendichtung in Lateinisch und Deutsch oder die altgeorgische Chronik Das Leben Kartlis verkauften sich unzureichend. Die Bremer Kollegen gingen daraufhin eine Kooperation mit dem Großantiquariat Schibli-Doppler in der Schweiz ein und produzierten in den 1970er und 1980er Jahren vor allem preiswerte Sonderausgaben klassischer Literatur für den Nebenmarkt und den Versandhandel, woran sich teilweise auch die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Leipzig mit Lizenzverträgen und günstigen Mitdrucken beteiligte. In der DDR erschienen bis 1989 insgesamt 250 neue Bände in der Sammlung Dieterich, darunter Erfolgstitel wie Maupassants Roman Bel-Ami, die Meistererzählungen von Robert Louis Stevenson und Anton Tschechow, die Novellen von Stendhal, die Essays von Montaigne oder die Aphorismen von Lichtenberg. Nach dem altersbedingten Rückzug von Rudolf Marx kaufte der inzwischen SEDeigene Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig mit Wirkung vom 1. Januar 1977 dessen Geschäftsanteile67 und bekam auch die Verfügungsgewalt über die staatlich verwalteten Anteile von Wilhelm Klemm. Jahre später erfolgte noch eine formale Enteignung. Am 16. Januar 1988 teilte der Stellvertretende Oberbürgermeister der Stadt Leipzig der Kreisfiliale der Staatsbank auf Anfrage mit, »daß laut bekundeter Gesellschafterversammlung vom 16. Oktober 1983 die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung OHG aufgelöst und im Handelsregister gelöscht« worden ist. Weiter heißt es: »Rechtsnachfolger wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1986 der organisationseigene Betrieb Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, der im Register der volkseigenen Wirtschaft eingetragen wird.«68 (In der DDR wurden private Firmen im Handelsregister A – Personengesellschaften – oder B – Kapitalgesellschaften – geführt, während volkseigene partei- und organisationseigene Betriebe im Handelsregister C eingetragen wurden.) Innerhalb der Verlagsgruppe Kiepenheuer (Lizenz-Nr. 396) erschienen in der Sammlung Dieterich Werke der Weltliteratur sowie kulturgeschichtliche und philosophische
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Festschrift 150 Jahre Carl Schünemann, S. 89. Sammlung Dieterich 1937–1962, S. 10. Handelsregister des Kreisgerichts Leipzig-Stadt HRA 5269: Eintragung vom 8. 12. 1982. SStA-L 721: Brief in der Verlagsakte. Im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig sind im Bestand des Bezirksvertragsgerichtes Leipzig, wo das Register der volkseigenen Wirtschaft geführt wurde, Unterlagen zur Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung allerdings nicht nachweisbar.
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Abb. 11–12: Sammlung Dieterich: Edmond de Goncourt: Juliette Faustin, 1978, und Stephen Crane: Kleine Romane und Erzählungen. 1985, Schutzumschläge von Egon Pruggmayer.
Texte.69 Pro Jahr waren dies 15 bis 20 Titel, wobei englische und französische Klassiker sowie antike Literatur einen Schwerpunkt bildeten. Sie waren bis 1985 einheitlich in klassischer Eleganz ausgestattet von Egon Pruggmayer, Professor an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst.70 Viele der Titel werden bis heute antiquarisch erfolgreich gehandelt. Größere Sammlungen erzielen Preise von mehr als 1.000 Euro. In der Bundesrepublik begründete Alfred Klemm, der Sohn des 1968 gestorbenen Wilhelm Klemm, 1982 in Mainz die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung neu. Sie publizierte unter der Leitung von seiner Frau und später deren Tochter Lyrik, kulturgeschichtliche Texten und bibliophile Ausgaben, nicht aber die Reihe Sammlung Dieterich. In der DDR erfolgte im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs am 30. Juni 1990 die Umwandlung der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung in eine selbstständige GmbH, die der Holding Leipziger Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH i. A. (LVV)
69 Dokumentation DDR-Verlagskunde, S. 143; siehe auch: Reinhold: Die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung. 70 Schwanecke: Der Buchkünstler Egon Pruggmayer; Kästner: Zwei Hundertjährige: Egon Pruggmayer und Horst Erich Wolter.
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unterstellt wurde, zu der auch der zuvor ebenfalls SED-eigene Gustav Kiepenheuer Verlag gehörte. Die LVV setzte im Spätsommer 1990 beim Bremer Schünemann Verlag durch, dass die Koproduktion mit Schibli-Doppler beendet wurde und die alten zweigeteilten Rechte sowie sämtliche Lagerbestände an die LVV verkauft wurden. Schünemann durfte allerdings weiterhin über die von Wilhelm Klemm erworbenen westdeutschen Titelrechte verfügen. Die Inhaberin der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung in Mainz, Hannelore Klemm, verzichtete ebenfalls auf diese Rechte und auf alle Ansprüche an der Sammlung Dieterich. Im Gegenzug gab die Leipziger Holding die Verlagsbezeichnung Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung auf, die seitdem auf Mainz beschränkt bleibt.71 Der Leipziger Verlag bekam den Namen Sammlung Dieterich Verlagsgesellschaft. Doch der Neustart misslang, da der von der Treuhandanstalt eingesetzte branchenunerfahrene Geschäftsführer im Sommer 1994 vor dem Verkauf an Bernd F. Lunkewitz und die Aufbau-Gruppe noch Kasse machen wollte und alle lieferbaren Titel der Sammlung Dieterich an einen Ramscher veräußerte, sodass sie im Verzeichnis lieferbarer Bücher gelöscht wurden und auch der Verlagsname verschwand.72
Fazit Dem Leipziger »Erbekombinat« ist es in den 14 Jahren seiner Existenz gelungen, weltliterarische Vielfalt in das Buchangebot der DDR zu bringen und den engen Erbe-Begriff der 1970er Jahre mit der eigenen Editionspraxis Stück für Stück zu weiten.73 Dies geschah nicht ohne Konflikte und in den Grenzen einer zentralstaatlich kontrollierten Buchproduktion. Manche Projekte brauchten mehrere Jahre bis sie eine Druckgenehmigung erhielten, andere konnten nie verwirklicht werden. Dies betraf vornehmlich Werke der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts, Autoren, die politisch dem konservativen Lager zugerechnet wurden, und Bücher, die sich jenseits der offiziellen Sichtweise mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion unter Stalin beschäftigten. Zensureingriffe, wie sie bei der aktuellen DDR-Literatur ständig vorkamen, waren im Erbe-Bereich insgesamt deutlich seltener. Die Verlagsgruppe hat dies unter anderem genutzt, um das Programm zur internationalen Gegenwartsliteratur zu öffnen und damit das Angebot der vergleichsweise wenigen belletristischen Verlage im Land spürbar zu ergänzen.
71 Zur Entwicklung der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung Mainz siehe die Darstellung der Verlagsgeschichte auf der verlagseigenen Webseite: www.dvb-mainz.de (abgerufen am 14. 4. 2020) 72 Auskunft von Bernd F. Lunkewitz im Gespräch am 24. 3. 2007. Zur Abwicklung der Leipziger Verlage der Erbegruppe siehe Links: Das Schicksal der DDR-Verlage, S. 219–222, 290– 291, 295–296. 73 Zum geweiteten Erbeverständnis Ende der 1980er Jahre siehe: Dau: Kulturelles Erbe und sozialistische Nationalkultur.
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Siegfried Lokatis 5.3.1.5 Volk und Welt und die internationale Literatur in der DDR Auf dem Weg zum Leitverlag für internationale Gegenwartsliteratur Der spätere Leitverlag für internationale Gegenwartsliteratur war in den 1950er Jahren noch alles andere als ein Fenster zur Welt. Zunächst fand sich anfangs eine ganze Reihe deutscher Autoren im Programm von Volk und Welt, allen voran Stephan Hermlin und Hans Mayer, die gemeinsam mit dem ersten Verlagsdirektor, dem baltendeutschen Filmemacher Michael Tschesno-Hell, dem Schriftsteller Eduard Claudius und dem bibliophilen künftigen Direktor der Bibliothek des Instituts für Marxismus-Leninismus Bruno Kaiser in einem Schweizer Internierungslager beschlossen hatten, in der SBZ einen Verlag zu gründen.1 Das gelang auch tatsächlich dem trinkfesten Tschnesno-Hell mit seinen ausgezeichneten Beziehungen zur SMAD und zum künftigen Hausautor Erich Weinert, damals Chef der Zensurbehörde, im März 1947. Tschesno-Hell (1902–1980) wurde der erste Verlagsleiter. Bruno Kaiser gab bei Volk und Welt Georg Herwegh und Georg Weerth heraus und wurde damit 1949 zum Entdecker Werner Klemkes, als der zu Weerths Humoristischen Skizzen die Holzstiche beisteuerte. Eduard Claudius, Autor der Klassiker Grüne Oliven und nackte Berge (1949) und Menschen an unserer Seite (1951), war in Potsdam Nachbar des Arbeiterdichters Hans Marchwitza (Die Kumiaks, 1948). Unter den deutschen Autoren der Frühzeit finden sich noch Kuba, Bodo Uhse und, einsam als bürgerliches Element, Bernhard Kellermann. Volk und Welt war, was vor 1989 allerdings nur wenigen Insidern bekannt war, seit der Gründung ein Verlag der SED. Das erleichterte Anfang 1951 die Übernahme des neuerdings ebenfalls parteieigenen Verlages Rütten & Loening durch Volk und Welt.2 Beide Verlage verbanden bis 1963 der Sitz in der Berliner Glinkastraße, Ecke Taubenstraße und eine gemeinsame SED-Grundorganisation. Programmatisch gingen sie jedoch getrennte Wege. Die prominenteren internationalen Volk und Welt-Autoren der 1950er Jahre besaßen, entsprechend der Aufgabe »für die Freundschaft der Völker und die internationale Solidarität zu wirken«,3 durchweg das kommunistische Parteibuch ihres Herkunftslandes wie die Australier Wilfred Burchett, Frank Hardy und Katharine S. Prichard, der Brasilianer Jorge Amado, der Chilene Pablo Neruda, der Däne Hans Scherfig, die Griechin Melpo Axioti, die Franzosen Louis Aragon, Pierre Courtade, Paul Eluard und Vladimir Pozner, der Holländer Theun de Vries, der Kubaner Nicolás Guillén und der Österreicher Hugo Huppert. Stellt man ihnen die Genossen Tibor Déry aus Ungarn, Jerzy Putrament aus Polen und last not least Wladimir Majakowski und Ilja Ehrenburg aus der Sowjetunion zur Seite, so bestimmten solche schreibenden Repräsentanten der kommunistischen Weltbewegung das öffentliche Erscheinungsbild des Verlages und prägten damit auf
1 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 356 (Walter Berger). 2 Wurm: … mehr als eine Verlagsgeschichte, S. 179–183. Siehe auch Kapitel 5.3.1.2 Rütten & Loening (Carsten Wurm) in diesem Band. 3 BArch, DR 1/1275: Volk und Welt (Czollek) an das Zentralkomitee der SED, Abt. Finanzen und Parteibetriebe (Hockarth), 22. 9. 1958. https://doi.org/10.1515/9783110471229-025
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durchschlagende Weise den Kanon internationaler Gegenwartsliteratur in der DDR. Es erschienen in hohen Auflagen, die Nachauflagen nicht mitgezählt, von Ehrenburg insgesamt 21 Titel, von Amado 18, von Aragon 14, von Majakowski 12, von Neruda, Pozner und Putrament jeweils 11, von Déry und Scherfig 8 Titel, zum Teil wieder aufbereitet in schönen Werkausgaben, die interessante Zensurprobleme bescheren konnten. Denn fast alle diese Autoren schwächelten ideologisch und gerieten nach der Aufdeckung der Verbrechen Stalins 1956 in mehr oder weniger große Distanz zur Parteilinie der SED. Nach dem Ungarn-Aufstand war Tibor Déry jahrelang überhaupt nicht publizierbar. Putraments Stiefkinder, seine Aufarbeitung des »Personenkults«, fielen 1965 dem »Kahlschlag«-Plenum zum Opfer, und es war nicht leicht, seine Memoiren Ein halbes Jahrhundert publizierbar zurecht zu schneiden. Von Aragon war das surrealistische Frühwerk suspekt, von Neruda bereiteten die Memoiren (1975) und das Memorial von der Isla Negra (1976) den Zensoren Bauchschmerzen, die Ehrenburg-Memoiren (1978) verzögerten sich um über ein Jahrzehnt und deren vierter Band konnte überhaupt erst 1990 erscheinen. Einen ebenso schweren Start hatte in den 1950er Jahren B. Traven, aus dessen Werken zunächst die anarchistischen Stellen gestrichen wurden4 und der auch in späteren Jahren noch eine kluge Editionspolitik und vorsichtige Kommentierung verlangte. Bis 1986 erschienen von B. Traven 14 Titel. Ganz im Gegensatz zu späteren Zeiten, als sich Volk und Welt-Bücher trotz riesiger Auflagen wie von selbst verkauften und begehrte Bückware wurden, war dieses schwerblütige, politisch ambitionierte Programm nicht leicht an den Mann zu bringen. Eine Liste »schwerabsetzbare Objekte« enthielt im März 1956 von Volk und Welt 61 Titel, die beim LKG die Lager verstopften, wofür sich der Verlag einzeln rechtfertigen musste. Die Liste enthielt Lyrik von Kuba (»Seit öffentlicher Kritik am Autor durch das ZK außerordentliche Zurückhaltung beim Buchhandel«), Hermlin (»Völliger Stillstand des Verkaufs. Ausstattung den heutigen Ansprüchen nicht entsprechend«), Majakowski (»Trotz außerordentlich starker Nachfrage vor Erscheinen des Werkes und umfangreicher Werbung in Presse und Rundfunk Absatzstockung seit Monaten«) und Weinert (»Interesse für eine gesammelte Auflage überschätzt, Auflage zu hoch. Bei WeinertFreunden frühere Bände, wenn auch in schlechterer Aufmachung vorhanden.«) Von Nerudas Großen Gesang war nach drei Jahren mit 2.473 Exemplaren noch die halbe Auflage lieferbar, was im Hinblick auf das prunkvoll bebilderte Großformat mit 44.514 Mark zu Buche schlug. Für einen »unbekannten Autor eines unbekannten Volksstammes« wie den Tschuktschen Juri Rytchëu sei, was auch aus heutiger Sicht schwer zu leugnen ist, vermutlich die Auflage von 15.000 Stück zu hoch. Bei Scholem Alechem war »Antisemitismus« Schuld, und Titel, »deren Autorennamen durch die Endung ›ski´ polnisch« klangen, fänden »wenig Aufnahmebereitschaft«, nicht einmal bei den Bibliotheken. Chinesische Titel wie Der gnädige Herr Wu wiederum verkauften sich nicht, weil der »Absatz von chinesischen Romanen wahrscheinlich durch die ungewöhnlichen und für unsere Leser schwer merkbaren Namen behindert« werde.5
4 BArch, DR 1/5091a: Druckgenehmigungsakte zu B. Traven. 5 BArch, DR 1/1884: Liste »Schwerabsetzbare Objekte«, 15. 3. 1956, und »Gründe für Absatzschwierigkeiten«.
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Insgesamt hatten sich von 43 Titeln des Jahres 1954 nicht weniger als 28 und von 27 Titeln des Jahrgangs 1955 15 als schwer verkäuflich erwiesen. Im Umkehrschluss lässt sich konstatieren, dass sich Mitte der 1950er Jahre an Belletristik nur die Titel von B. Traven und Amado in lukrativer Höhe über 20.000 verkauften. Auch die ersten Bände von Stanisław Lem, Der Planet des Todes (1954) und Gast im Weltraum (1956), schlugen mit vielen Nachauflagen ein, und von Lem erschienen bis 1989 24 verschiedene Titel. Das war der Verlagsrekord, während die meisten Nachauflagen, insgesamt 14, der australische Straflager-Roman Lebenslänglich von Marcus Clarke erzielte. Sein Honorar musste sich ein Erfolgsautor wie Lem aus devisenrechtlichen Gründen bei DDR-Besuchen in Naturalien, etwa in Form von Autoersatzteilen oder Meissner Porzellan, auszahlen lassen. Im Wesentlichen lebte der Verlag jedoch von den Bestsellern Jiří Hanzelkas und Miroslav Zikmunds Reisebüchern Afrika, Traum und Wirklichkeit (3 Bände, 1954) und Südamerika (3 Bände, 1956–1958): Die Auflage betrug, solange Artia Prag das Papier lieferte, pro Band 100.000 Stück. Auf ähnliche Weise hatte in den Anfangsjahren ein einziges Werk, Scholochows Vierbänder Der stille Don (1947), das Verlagsprogramm querfinanziert: »Den Buchhändlern haben wir gesagt, wenn sie den Stillen Don haben wollen, müssen sie auch Gedichte nehmen.«6 Der Verlagsleiter Walter Czollek (1907–1972) beklagte bei jeder Gelegenheit die Trägheit des Buchhandels, was bei diesem Programm leicht auf politische Denunziation hinauslaufen konnte, und verlangte jammernd »nach ›staatlichen Mitteln‹ und ›stärkster Unterstützung‹«, in den Augen Karl Böhms im Amt für Literatur »ein einziges Trauerspiel«. Der Verlagsleiter habe keine Ahnung, »wie man einen solchen Verlag leiten müsste«, um daraus »zugleich eine stark politisch wirkende Zentrale und eine Goldgrube zu machen«.7 Letztlich war Czollek mit seinen Narben aus dem KZ und seiner in der Emigration in Shanghai erworbenen Welterfahrung kaum angreifbar. Zur Strafe musste Volk und Welt seine russischen Hausautoren Scholochow und Ehrenburg an den Verlag Kultur und Fortschritt abtreten, womit ausgerechnet dessen berühmtestes Werk Tauwetter 1957 an die Konkurrenz verloren ging. Inzwischen bemühte sich der junge Germanistik-Lektor Fritz J. Raddatz um zugkräftige Alternativen. Er schlug Kurt Tucholsky vor, der bei der Zensur jedoch als »Pazifist« gehandelt wurde. Zur Empörung von Mary Tucholsky wurde der von John Heartfield gestaltete Band Deutschland, Deutschland über alles, ein Lieblingsbuch von Raddatz, Mitte der 1950er Jahre wegen der »fast absoluten Verneinung des Vaterland-Gedankens« angehalten, um bei jungen Lesern keine »Verwirrung« auszulösen,8 konkret, weil dort von der heimlichen Aufrüstung der deutschen Reichswehr in der Sowjetunion die Rede war. Jedenfalls konnte der Band erst 1967 erscheinen. Raddatz beschaffte auf einer einzigen Reise nach München die Rechte an Erich Kästner, Karl Kraus, Alberto Moravia, G. B. Shaw und John Steinbeck.9 Er bereitete
6 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 360 (Walter Berger). 7 BArch, DR 1/1906: Amt für Literatur und Verlagswesen (Karl Böhm), Hausmitteilung, 18. 6. 1955. 8 BArch, DR 1/5094: Karl Wloch (Amt für Literatur und Verlagswesen) an Franz Dahlem (Staatsekretariat für Hochschulwesen), 1. 9. 1955. 9 BArch, DR 1/1255: Volk und Welt (Raddatz) an die Hauptverwaltung Verlagswesen, 12. 3. 1957.
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Abb. 1: Der Verlagsleiter Walter Czollek und die Lektorin Nyota Thun mit Michail Scholochow am 26. Mai 1964 im Verlag Volk und Welt. Foto: Christa Hochneder.
die später von Roland Links betreute Tucholsky-Ausgabe vor und entdeckte William Faulkner für den Verlag. Dessen 1957 an einer vom Tauwetter paralysierten Zensur vorbei lancierter Roman Licht in August geriet allerdings postwendend auf die SEDShortlist »dekadenter« Literatur,10 sodass die Faulkner-Edition bis 1963 pausierte. Insgesamt sollten bei Volk und Welt aber noch 15 Titel von Faulkner und 18 Titel von Tucholsky erscheinen, vorbereitet und, nach dessen »Republikflucht« 1958 diskret auch noch aus der Bundesrepublik mit Rowohlt-Lizenzen unterstützt von Fritz J. Raddatz. Allerdings galt die Bedingung, dass dessen Tucholsky-Ausgaben der 1950er Jahre kei-
10 BArch, DR 1/3972: Druckgenehmigungs-Akte zu Faulkner.
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nesfalls weiter verwendet werden durften, sodass Roland Links die Werkausgabe neu konzipieren musste. Der Großteil der Produktion schwer verkäuflich, der wichtigste Lektor republikflüchtig: Als sich 1958 auch noch die Devisennot so zuspitzte, dass kaum noch Lizenznahmen möglich waren, wandte sich der Verlag hilfesuchend an das ZK, an deren Abteilung Finanzen und Parteibetriebe, also an die mächtige Eigentümerin des parteieigenen Verlages und beschwerte sich über das mangelnde Verständnis im Ministerium für Kultur für die eigenen Nöte und die »schwierige Arbeit mit ausländischer Literatur«. Ohnehin brauche man für »Überzeugung, Redaktion und Drucklegung mindestens anderthalb Jahre«, aber davor liege ein wegen der komplizierten Devisenlage immer größer werdender Zeitraum für die Auswahl geeigneter Titel, was jede Planung unmöglich mache. Infolge einer allgemeinen Vertragssperre sei der Verlag »in seiner Arbeit über ein Jahr lang schwer gehemmt« worden und mußte viele Monate auf die Registrierung von Verträgen und die Bestätigung von Titeln warten. Wären wir nicht das Risiko eingegangen, ohne Vertragsabschlüsse und Bestätigung des Themenplans an die Vorarbeiten zu gehen, wäre es bereits für 1959 ausgeschlossen, unsere Aufgaben zu erfüllen […] Bei dem Versuch, wenigstens für Einzeltitel Bestätigungen zu erhalten, wurde uns von der Hauptabteilung erklärt, daß zunächst einmal die Bestätigung des Büros für Urheber-Rechte da sein müßte, und das Büro für Urheber-Rechte erklärte uns, daß die Hauptabteilung die Titel zu bestätigen habe. So ging es Monate hin und her.
Auch befassten sich fast alle Belletristik-Verlage inzwischen mit ausländischer Literatur und die nötigen Absprachen würden kaum eingehalten. Das »Hinauszögern der Profilierung« habe »zu umfangreichen Parallelarbeiten in verschiedenen Verlagen geführt«. So seien an der »Durcharbeitung« der Werke des Rumänen Sadoveanu sechs Verlage beteiligt, die wissenschaftlichen Mitarbeiter also nicht rationell und kostengünstig eingesetzt. Als Abhilfe forderte Czollek, entsprechend den auf Konzentration der Produktion gerichteten Beschlüssen des V. Parteitags, einen zentralen Verlag für ausländische Gegenwartsliteratur zu schaffen. Das würde »der Realität im Literaturangebot, das keineswegs mehr allzu reichhaltig ist«, entsprechen, die »Einheitlichkeit der Literaturpolitik« stärker gewährleisten und Doppelarbeit vermeiden, »wie sie jetzt noch an der Tagesordnung ist«.11 Dass Volk und Welt, allerdings einige Jahre später, zum unumstrittenen Leitverlag für internationale Gegenwartsliteratur avancierte, war also auf eine Initiative des Verlages und seine verzweifelte Notlage zurückzuführen. Die staatliche Literaturpolitik ging zunächst jedoch noch in eine ganz andere Richtung. Spätestens seit der Bitterfelder Konferenz im Mai 1959 konzentrierte sich alle fördernde Aufmerksamkeit auf die schreibenden Arbeiter des eigenen Landes, eine Art literaturpolitischer Autarkiekurs. Der Anteil westlicher Literatur am Buchimport der DDR schrumpfte hingegen von 56 % (1957) auf 30 % (1959). Volk und Welt musste u. a. Titel von Faulkner, Irvin Shaw und »Bratolini« (d. i. ist Vasco Pratolini) streichen und durch Kuba und Scholochow ersetzen.12 Volk und Welt produzierte 1958 noch
11 BArch, DR 1/1275: Volk und Welt (Czollek) an das Zentralkomitee der SED, Abt. Finanzen und Parteibetriebe (Hockarth), 22. 9. 1958. 12 Barck/Langermann/Lokatis (Hrsg.): »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 83.
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Abb. 2: Die »Jazz-Optimisten« und Manfred Krug (mit Hut) am Bücherkarren von Volk und Welt, ca. 1962. Foto: S. Hanke.
48 Titel, 1959 32 Titel und 1960 23 Titel, darunter nicht mehr als vier aus dem westlichen Ausland.13 Der Verlag füllte die Lücken im Programm mit Lyrikheftchen der Reihe Antwortet uns!, darunter von dem späteren Dissidenten Rudolf Bahro, Reisebüchern und Heinz Kahlaus Maisfibel (1960). Damit befand sich der Verlag auf dem Nullpunkt, als jene Entwicklung einsetzte, die ihn gleichsam als Trostpflaster für die Bevölkerung nach dem Mauerbau zum Fenster zur Welt machte. Jahr für Jahr überraschte er fortan die Bewohner des Leselandes mit Büchern, die vorher im Hinblick auf den realsozialistischen Kanon der Zensur schlechterdings unpublizierbar scheinen mussten, beginnend mit Miguel Ángel Asturias (1961) und Italo Calvino (Baron auf den Bäumen, 1962), Isaak Babel und Friedrich Dürrenmatt (1964), mit Der Fänger im Roggen (1965) von J. D. Salinger, Unser Mann in Havanna (1965) von Graham Greene und der Pest von Albert Camus (1965). Michail Bulgakows Meister und Margarita (1968), die Karl Kraus-Ausgabe (1971), die Bücher von Maj Sjöwall/Peter Wahlöö und Joseph Hellers IKS-Haken (1973) waren weitere Meilensteine. 1975 erschienen nach zehnjährigen Diskussionen endlich auch Max Frischs Stiller
13 Wenn man die längerfristig geplanten Bände VI und VII der Thibaults Roger Martin du Gards abrechnet, blieben nur Carlo Levi (Worte sind Steine) und Arthur Miller (Brennpunkt) als echte Lizenztitel. Der staatenlose Brite Alan Winnington (Tibet) und Melpo Axioti (Antigone lebt) lebten in der DDR und kosteten keine Devisen.
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und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, 1976 Kurt Vonnegut, 1977 Słavomir Mrożek und James Joyce (zunächst mit den Dubliners), 1978 die Ehrenburg-Memoiren, Henry Miller und Erich Mühsam. 1979 kamen Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest und Hans Magnus Enzensberger, 1980 Thomas Bernhard, 1981 Ernst Jandl und Woody Allen, 1982 Sigmund Freud und Peter Handke, 1983 Federico Fellini und Isaac Singer, 1984 Luis Buñuel, Günter Grass, Jean Genet und Cees Nootebooms Rituale, 1985 Umberto Ecos Name der Rose, Hubert Fichte, Thomas Pynchon und Kurt Schwitters, 1986 Gottfried Benn, 1987 die vierbändige Borges-Ausgabe und Essays von Ortega y Gasset, 1988 Anaïs Nin und Samuel Beckett, 1989 das Peter-Prinzip von Laurence J. Peter und Nabokovs Lolita, schließlich, so gerade noch in der DDR erschienen, sogar George Orwell und Arno Schmidt. Nicht weniger interessant wäre jedoch die Übersicht, welche dieser Bücher zunächst nicht erscheinen konnten, sondern im sogenannten Eisschrank des Verlages wie lange warten mussten. So sollten der Stiller wie die »Ehrenburg-Memoiren« eigentlich bereits Mitte der 1960er Jahre erscheinen, fielen jedoch nicht erst dem »Kahlschlag«-Plenum zum Opfer.14 An »problematischen« Titeln von Camus oder Malaparte (Die Haut, 1985) arbeiteten sich im Romanistik-Lektorat ganze Generationen ab.15 Die Statistik der neu erschienenen Titel weist manchmal auffällige Rückschläge auf. So wurde nach stetigem Wachstum das Plateau von über 100 Titeln 1977 erreicht, fiel aber 1982 wieder auf unter 90, sei es aus personellen Gründen, weil in Folge der Biermann-Krise so wichtige Lektoren wie Roland Links und Joachim Meinert den Verlag verlassen mussten, sei es, weil die Anglisten ihr knappes Devisenkontingent weitgehend für Suhrkamps kostspielige Ulysses-Übersetzung aufgebraucht hatten.16 Die dramatischen Einschnitte der Zensurpolitik, das »Kahlschlag«-Plenum im Dezember 1965 wie die Sanktionen in Folge der Biermann-Affäre 1976, hinterließen im Verlagsprogramm deutliche Spuren, während andererseits auch von der Lockerung der Zensur zu Beginn der Ära Honecker und Höpcke (1973), den Beschlüssen der KSZE in Helsinki (1975) und den Signalen der Gorbatschow-Politik positive Impulse ausgingen. Wenn sich die Spielräume erweiterten, wurde das dank einem vor allem auch gut mit Moskau verdrahteten Informationsnetz und entsprechend geeichten Lektoren aufmerksam verfolgt, die früher als in anderen Verlagen die unscheinbarsten Signale von Kurswechseln im Umgang mit einzelnen Autoren in Bücher umwandelten. Auf diese Weise gelang es z. B. 1984, dem Aufbau-Verlag Günter Grass vor der Nase wegzuschnappen.17 Dass das Verlagsprogramm wie ein feiner Seismograph das Zickzack-Spiel der Zensur und die Schwankungen ideologischer Großwetterlagen nachzeichnete, spiegelte die Zensurfunktion des Verlags mit seinem hochsensiblen Virenabwehrsystem. Das war der Preis, den die so kenntnisreichen wie engagierten Lektoren dafür zahlen mussten, dass sie wachsende Spielräume ausloten durften. Die HV Verlage und Buchhandel konnte sich im
14 Zu Ehrenburgs Memoiren siehe Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 262–264 (Simone Barck); zu Frisch siehe Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 271–273 (Siegfried Lokatis). 15 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 254 (Heidi Brang). 16 BArch, DR 1/2371a: Druckgenehmigungs-Akte zu Ulysses. 17 Zu Günter Grass als »ausländischem« siehe Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 283– 286 (Siegfried Lokatis).
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Abb. 3: Günter Grass und Verlagsleiter Jürgen Gruner bei einer Pressekonferenz von Volk und Welt am 15. Juni 1987 in Berlin. Foto: Schroedter.
Wesentlichen darauf verlassen, dass einige Lektoren zwar gern die Toleranzgrenzen strapazierten, aber letztlich die diskursiven Spielregeln verinnerlicht hatten, spürten, was in ungefährlicher Dosis gerade noch möglich und wie dafür möglichst geschickt zu argumentieren sei. Was die Lektoren von Volk und Welt also hauptsächlich zu lernen hatten, war mit der Zensur umzugehen,18 an der sie sich abkämpften und an der sie festgekettet waren. So war Volk und Welt letztlich ein konstitutiver, funktional unverzichtbarer Teil des Zensursystems. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist die auch im gesamtdeutschen Maßstab einzigartige Leistungsbilanz des Verlages, das unumstrittene Niveau seiner Editionen und Übersetzungen, nicht zuletzt seiner Buchkunst. Zum 25. Jubiläum 1972 konnte der Verlag, der nunmehr von Jürgen Gruner (geb. 1930) geleitet wurde, stolz feststellen, dass »im gesamten deutschen Sprachraum kein zweiter Verlag zu finden« sei, der das »Verlagsprogramm an Weltweite und Vielseitigkeit übertreffen« könne. Um diese »weltweite Universalität« zu demonstrieren, eigne sich am besten eine Bibliographie, während der »international so bekannt gewordene programmatische Erklärungen und Qualitätsnachweise [...] wirklich nicht mehr nötig« habe. Um die Gesamtleistung des Verlages zu betonen, verzichtete die Bibliographie von 1972 auf so untypische »Randerscheinungen« der Frühzeit von Kultur und Fort-
18 Vgl. Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 110 (Dietrich Simon): »Was also konnten wir? Wir konnten mit der Zensur umgehen.«
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schritt wie Igor Moissejews Anleitung für Volkstanzgruppen Tänze der Völker der Sowjetunion, Wadim Safonows Die Welt soll blühen und Hans Mühlesteins Bauernschaft und Sozialismus, auch auf Stalin und die Streitkräfte der UdSSR von Marschall Woroschilow. Aus der neueren Produktion getilgt war Babi Jar des 1968 emigrierten Anatoli Kusnezow.19 Wegen dieser Probleme wurde die Bibliographie 25 Jahre nicht druckgenehmigt. Tschörtners Bibliographie zum 40. Jubiläum von 1987 enthielt jedoch alle diese Titel und bildet mit dem Nachtrag von 1990 für jede Verlagsgeschichte die zuverlässige Arbeitsgrundlage. Sie ist nicht nur nach Autoren alphabetisch geordnet, sondern praktischerweise auch chronologisch, nach Ländern und Buchreihen. Hier finden sich Lothar Rehers Prunkreihen, das Volk und Welt-Spektrum mit 270 Bänden und die »Weiße Lyrikreihe« Volk und Welt International mit 113 Bänden, die 64 Bände Erkundungen und die 121 farbenprächtigen Bände ex libris, die »BildText-Bände« über so unerreichbare Reiseziele wie Paris, Venedig und New York, die mit Henschel gemeinsam veranstaltete Dramenreihe und die Bibliothek des Sieges, die niedlichen »Lederbände im Kleinformat« und die frühe Lyrikreihe Antwortet uns!, die Krimis der K-Serie und die klobigen »Lesebücher«, Die bunte Reihe und Erlesenes aus der Sowjetunion, von Kultur und Fortschritt außerdem die Kleine Jugendreihe und das Buch des Monats, die von Stefan Heyms Frau Gertrude Gelbin gegründete englischsprachige Reihe Seven Seas und natürlich die vom Bibliographen H. D. Tschörtner selbst herausgegebene Roman-Zeitung, von der zum Preis von nur 80 Pfennig in einer Auflage von bis zu 100.000 Stück 500 Hefte mit abgeschlossenen Romanen erschienen.20 Um nun die Arbeit der Lektorate im Einzelnen näher zu betrachten, ist es zweckmäßig die drei Westlektorate, also die Germanistik, Angloamerikanistik und Romanistik auf der einen Seite von den beiden slawistischen Lektoraten für sowjetische Literatur und die der Volksdemokratien zu unterscheiden, die jeweils unterschiedlichen Bewegungsgesetzen unterworfen waren. Während für die Westlektorate die notorische Valutaknappheit und das auf jährlich kaum mehr als 200.000 Verrechnungseinheiten begrenzte Devisenkontingent das Maß aller Dinge, deren Verteilung das Hauptproblem war, spielte dieser Aspekt für die slawischen Literaturen, wenn überhaupt, nur in seltenen Ausnahmefällen eine Rolle. So, wenn ein als unverzichtbar erkannter Autor wie Lem oder Mrożek Rechte bereits in die Bundesrepublik vergeben hatte. Waren erst einmal Devisen verausgabt, fehlte es nie am Papier. Im Gegenteil lieferte die Partei mehr als genug davon, um im Interesse der SED-Kassen die nach der Wende berüchtigt gewordenen »Plusauflagen« (s. u.) herzustellen. Hingegen mussten »die Russen« und die Volksdemokratien um das Papier und den Platz an der Sonne kämpfen, konkret in der SpektrumReihe, wo Autoren wie Tschingis Aitmatow, Michail Bulgakow, Bohumil Hrabal oder Juri Trifonow ihren würdigen Platz neben Friedrich Dürrenmatt, William Faulkner und James Joyce finden konnten. In die verlagsinterne Konkurrenz mit der Weltliteratur geworfen, waren die Ostlektorate zur gründlichen, strengsten Auswahl und aufmerksamer Marktsichtung gezwungen, und tatsächlich gelang es ihnen gegen jede Wahrscheinlichkeit, immer wieder Sensationen zu kreieren, die die Leser begeisterten. Vor allem verbesserten die Ostlektorate systematisch das Niveau ihrer Übersetzungen und bemüh-
19 BArch, DR 1/2348: DG-Antrag Auswahlbibliographie 25 Jahre Literatur. 20 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 224 (H. D. Tschörtner).
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ten sich, unter Umgehung der russischen Zensur direkt aus den zahlreichen Sprachen der Sowjetunion zu übersetzen, etwa aus dem Litauischen, dem Georgischen, einmal sogar aus dem Aserbeidschanischen. Dass Volk und Welt ein gewaltiges Ansehen als Übersetzungsinstitut erlangte, hatte er seinen Slawisten zu verdanken.
Die drei Westlektorate Das Germanistiklektorat unter Roland Links (1931–2015), das auch Skandinavien und die Niederlande betreute, musste um die westdeutsche Literatur einen Bogen schlagen und sie dem Aufbau-Verlag überlassen. Die einzige Ausnahme waren eine Anthologie von Werner Liersch, die westdeutschen Erkundungen (19 westdeutsche Erzähler, 1964) und Rolf Hochhuths Stellvertreter (1965). Aber Hochhuth kam aus Basel und mochte als Schweizer durchgehen. Links bevorzugtes Terrain wurde zunächst die Schweiz (80 Titel) und später Österreich (85 Titel). Erst nach dessen Ausscheiden, ab 1978 erschienen Romane von Gisela Elsner, Wolfgang Koeppen, Wolfgang Hildesheimer und Günter Grass, Erzählungen von Helmut Heißenbüttel, Hubert Fichte und Walter Jens sowie die Filmemacher Doris Dörrie, Werner Herzog und Alexander Kluge, Lyrikbände von Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf. Das alles galt inzwischen, seit der Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit als internationale Literatur und konnte profilentsprechend bei Volk und Welt erscheinen. Bestimmte Länder wurden bevorzugt bedient. So erschien mit 14 Titeln weit weniger niederländische als skandinavische Literatur. Allein aus Schweden kamen 67 Titel, die meisten davon Krimis. Literatur aus Dänemark und Schweden wurde von den Redakteuren des Verlags aufmerksam inspiziert und »geglättet«, weil sie als freizügig, ja latent pornographisch galt. Bei den Romanisten wie auch bei den Angloamerikanisten kam es zu ähnlich Disproportionen. »Es gab ja ein Tableau für die Romanistik, weil wir immer viele Länder hatten. Da war festgelegt, daß vielleicht jeweils ein halbes Dutzend der Titel aus Frankreich und Lateinamerika kamen, Italien war sicher, aber Spanien? Von Portugal wollen wir mal gar nicht reden.«21 Es hing teils wohl an guten Verbindungen zur KPF und zur KPI, teils an den sprachlichen Vorlieben der Lektoratsleiter Klaus Möckel und Carola Gerlach, dass sehr viel aus Frankreich (179 Titel) und Italien (81 Titel) herausgebracht wurde, während die iberische Halbinsel (Spanien 15, Portugal 13 Titel) klar vernachlässigt wurde. Ein Glanzstück des Lektorats wurde, anknüpfend an die Protagonisten Amado, B. Traven und Neruda die von Andreas Klotsch eingeleitete Erschließung der südamerikanischen Literatur und des »magischen Realismus« mit Autoren wie Miguel Ángel Asturias, Alejo Carpentier, Carlos Fuentes, Augusto Roa Bastos, Juan Rulfo und Mario Vargas Llosa. Afrika und Asien waren zwischen Anglistik und Romanistik aufgeteilt, die außer Süd- und Mittelamerika auch West- und Nordafrika, Vorderasien und seltsamerweise Indien betreute. In dem von Hans Petersen (geb. 1932) geleiteten angloamerikanischen Lektorat erschienen bis 1989 185 Titel aus den USA, 108 aus Großbritannien, 22 aus Australien, 16 aus Irland und sechs aus Kanada. Auch die chinesische und japanische Literatur lief über Petersens Lektorat, das mit Marianne Bretschneider über eine ausgebildete Sinolo-
21 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 169 (Heidi Brang).
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gin verfügte. Wurden anfangs, und das sah bei den Romanisten ganz ähnlich aus, hauptsächlich linke und kommunistische Autoren gebracht, so setzte 1964, beginnend mir Faulkner, Steinbeck und Thomas Wolfe ein literarisch ambitionierteres Editionsprogramm ein. Dessen hervorragende Protagonisten James Baldwin und Saul Bellow, Truman Capote und Carson McCullers, Bernard Malamud, Norman Mailer und Henry Miller, Philip Roth und John Updike traten bereits 1965 in Petersens Anthologie Moderne amerikanische Prosa auf. Kennzeichnend für das experimentelle Profil des Lektorats wurde der Kontrast zwischen den Exponenten der literarischen Moderne und Postmoderne wie Samuel Beckett, T. S. Eliot, Ezra Pound, Thomas Pynchon und Kurt Vonnegut auf der einen und den massenwirksamen Krimis von Raymond Chandler oder Dashiel Hammett auf der anderen Seite. Insgesamt standen Petersens Lektorat »pro Planjahr bestenfalls 15 oder 16 Erstauflagen und sieben oder acht Nachauflagen«22 zu, aber dieses Limit an sogenannten »Schüssen« galt auch für die beiden anderen Westlektorate.23 Dieses streng nach Titelzahl und nicht etwa nach verbrauchter Papiermenge rechnende Proporzsystem förderte die Tendenz, in ein Buch möglichst viel Text hinein zu bekommen. So entstanden vollgestopfte Bücher, die gleich vier Romane von Thomas Bernhard oder Peter Handke enthielten, oder »Monsterbände«24 wie die weit über 600 Seiten starken Lesebücher Schweden heute und Österreich heute mit ihrem lesefeindlichen Satzspiegel. Dafür barg Schweiz heute so schöne Funde wie Peter Bichsels Kindergeschichten und Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule, aber auch Bühnenstücke wie Adolf Muschgs Rumpelstilz, Essays und Gedichte, insgesamt 64 Texte von 60 Autoren, die also im Unterschied zu den Erzählungen der internationalen Anthologien-Reihe Erkundungen verschiedene literarische Genres umfassten. Solche Anthologien über möglichst exotische Länder, die nach dem Motto »in einem Band ein ganzes Land in der Hand« bei den eingemauerten Bewohnern des Leselandes natürlich extrem beliebt waren, boten aus Sicht des Verlages manche Vorteile. Das Programm des Verlages litt an der Dominanz einer relativ kleinen Zahl von Autoren wie Faulkner, Frisch, Hochhuth und Muschg, denen regelmäßig Publikationen zugestanden wurden. Dieses Prinzip der Autorentreue reduzierte im Hinblick auf die stark begrenzte Titelzahl der einzelnen Lektorate für neue Autoren die Publikationschancen drastisch. Die weit überwiegende Zahl der in den Anthologien versammelten Erzähler hoffte vergeblich, bei Volk und Welt auch einmal einen Roman zu veröffentlichen. Über den statistischen Effekt hinaus, die Autorenzahl auf billige Weise zu multiplizieren, sicherte sich der Verlag mit der Publikation eines kurzen Textes unter minimalem Devisenaufwand gegenüber anderen DDR-Verlagen das Erstgeburtsrecht, die Option auf weitere Texte des Autors. Die Anthologien bewährten sich zudem als wichtiges Instrument im Zensurkampf, als eine ideale Eintrittskarte für neue Autoren, die bislang von der Zensur ausgegrenzt oder noch nicht politisch eingeschätzt waren. Ein ganzes Jahrzehnt bevor größere Stücke des »Erznihilisten« erscheinen konnten, 1979, tolerierte die Hauptverwaltung einen Text Samuel Becketts in den irischen Erkundungen. Bei späteren Pub-
22 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 175 (Hans Petersen). 23 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 114 (Ingeborg Quaas) und S. 151 (Joachim Meinert). 24 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 98 (Roland Links).
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likationen konnte man dann auf den Präzedenzfall verweisen, dass der Autor bereits die Zensur passiert habe. Auf ähnliche Weise versteckte man 1978 Handkes Wunschloses Unglück in Österreich heute. Als eigenes Buch erschienen, wäre man damit in »Teufels Küche« gekommen. »Das war klare Absicht und wurde unter uns auch so diskutiert. Dort wurde Handke der längste Beitrag. Das war ein Signal, auf das man sich später berufen konnte, wenn es beim nächsten Buch Ärger gab: ›Handke ist doch ein eingeführter Autor – was habt ihr denn‹?«25 Diese typische »Salamitaktik« des Verlags, einen schwierigen Autor per Anthologie hereinzuschmuggeln, ihn dann in einem Bändchen der Spektrum-Reihe zu präsentieren und erst zuletzt mit dem umstrittensten Hauptwerk aufzuwarten, lässt sich idealtypisch bei Henry Miller verfolgen, der zunächst in der Amerikanischen Prosa (1965) versteckt war. Dann kamen die Mademoiselle Claude im Spektrum (1978) und erst 1986 der Wendekreis des Krebses. Ein beliebter Startplatz für »Testballons« wurde der 1985 begründete Almanach ad libitum. Für diese »Sammlung Zerstreuung« wurde ein eigenes Lektorat unter Reinhard Lehmann gegründet, und Autoren wie Charles Bukowski, Ortega y Gasset, Robert Gernhardt, Vladimir Nabokov, Gerhart Polt, Alexander Solschenizyn, Otto Waalkes feierten darin ihre DDR-Premiere.26 Anthologien wie die Erkundungen spiegelten auf hervorragende Weise das investigative Kerngeschäft eines Volk und Welt-Lektors. Von der Mühe der stilistischen Korrektur war er befreit, weil der Verlag zu diesem Zweck eine personell großzügig ausgestattete Redaktion unterhielt, die nicht nur die eigenen, sondern auch die aus der Bundesrepublik übernommenen Übersetzungen stilistisch überarbeitete, allzu freizügige Passagen »milderte« und die politische Korrektheit beobachtete. Autoren wie Hochhuth schätzten diese gründliche Unterstützung, und es kam vor, dass westdeutsche Lizenzgeber dankbar Verbesserungen der Volk und Welt-Redaktion übernahmen. Die Lektoren waren von ganz anderen Aufgaben absorbiert, sie mussten vor allem unendlich viel lesen, um das Literaturangebot »ihres« Landes kennen zu lernen, um geeignete Bücher nach strengen Kriterien auszusieben. In langen Gutachten, Diskussionen und »pfäffischen« Nachworten balancierten sie »zwischen der offiziellen Doktrin, Kunst als Waffe im internationalen Klassenkampf anzusehen und sie nach ästhetischen Maßstäben als Kunstwerke zu bewerten«.27 Ein Band der Erkundungen, mit denen in der Regel literarisches Neuland betreten wurde, forderte jahrelange Vorbereitung, geschicktes Vorgehen und sensible Auswahlkriterien. Und es war außerordentlich schwer, an die nötigen Informationen, Bücher und Zeitschriften heranzukommen, die Westreise ein Privileg. So orientierte sich Links für den ersten Schweiz-Band in Basel/Olten über die Zürcher und in Zürich über die Basler Autoren. »Leseexemplare konnten wir bei Theo Pinkus, Ruth Liepmann und natürlich bei Mohrbooks bestellen, was aber voraussetzte, dass man sich schon ein wenig auskannte und einen Überblick gewonnen hatte.«28 Bis zum Mauerbau nutzte Links dafür die Heine-Buchhandlung am Bahnhof Zoo, später verbrachte er viele Stunden am Schweizer Gemeinschaftsstand auf der Leipziger Buchmesse. Für die australischen Er-
25 26 27 28
Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 111 (Christlieb Hirte). Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 197 ff. (Reinhard Lehmann). Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 98–99 (Roland Links). Links: Kurzes Nachdenken über anregendes Fremdsein.
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kundungen startete Hans Petersen eine Anzeigenkampagne in den Zeitschriften des australischen Schriftstellerverbandes. Der Romanist Andreas Klotsch hatte vom Verlagshaus in der Glinkastraße Blick auf das Ibero-Amerikanische Institut in Westberlin. Aber er musste sich Monate gedulden, wenn er von dort die für einen Lateinamerika-Band benötigte Literatur bestellte. In der Regel waren die Westverlage bei den bekannten Autoren zuvorgekommen. Der eigene Rechtefundus stützte sich auf die angestammten linken Autoren und die doch immerhin zahlreichen Entdeckungen solcher Erkundungen, die in der Bundesrepublik kaum bekannt und erstmals in der DDR übersetzt wurden. Cees Notebooms Rituale wurde bei Volk und Welt entdeckt und von Hans Herrfurth glänzend übersetzt, bevor sie bei Suhrkamp dank Marcel Reich-Ranicki im »Literarischen Quartett« zum Bestseller avancierten. Doris Erpenbeck hatte für Volk und Welt Nagib Machfuß übertragen und das Ehepaar Ingrid und Rainer Rönsch einen weiteren Nobelpreisträger, Kenzaburo Oe, wofür sie den Volk und Welt-Übersetzerpreis gewonnen hatten. Aber man grantelte in Berlin, sich nicht rechtzeitig um Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez gekümmert zu haben oder um den Namen der Rose von Umberto Eco. So musste man die Rechte bei Carl Hanser in München kaufen. Die gesamtdeutschen Rechte etwa für Faulkner waren ohnehin unerreichbar: »Wir sind einfach zu spät gekommen, haben Jahre verloren.«29 Andererseits wurden die Rechte natürlich billiger, wenn man infolge der früheren Zensurverdikte Bücher brachte, die im Westen längst alte Ladenhüter waren. Statistisch betrachtet, nahm man mit Abstand die meisten Rechte, für 36 Autoren, von Rowohlt, darunter Simone de Beauvoir, Albert Camus, Roald Dahl, Elfriede Jelinek, ´ Brien, Rolf Hochhuth, Jorge Semprun, Thomas Wolfe und natürlich Tucholsky. Flann O Es liegt auf der Hand, dass die größte Rechte-Pipeline von Raddatz gebaut worden war, der über die Berliner Devisennöte bestens informiert war. Es folgte Suhrkamp mit 26 Autoren, darunter Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer, Adolf Muschg und Robert Walser. Von dessen beiden Romanbänden hatte Volk und Welt 3.000 bezahlt und 15.000 gedruckt, von Muschgs Baiyun hatte Volk und Welt nicht die vereinbarten 6.000, sondern 30.000 hergestellt.30 Von Carl Hanser übernahm Volk und Welt 20 Autoren, darunter Italo Calvino, Elias Canetti, Umberto Eco und Lars Gustafsson, von S. Fischer (mit Samuel Joseph Agnon, Jorge Luis Borges, Sigmund Freud, Joseph Heller, Curzio Malaparte, Thornton Wilder) und Diogenes jeweils 15 Autoren. Bei Diogenes erschienen z. B. Dürrenmatt, von dessen Stücken man nicht wie vereinbart 6.000, sondern heimlich 25.000 Exemplare gedruckt hatte, vor allem auch Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Georges Simenon, deren Krimis bei Volk und Welt in weit überhöhten, z. T. sechsstelligen Auflagen gedruckt wurden. Hier galt die Faustregel, 10.000 zu bezahlen und 50.000 zu drucken. Den Auflagenrekord hielt mit 388.000 allerdings Der kleine Prinz von Antoine Saint-Exupéry, wofür die Differenz dem Karl Rauch-Verlag zu zahlen war. In den 1990er Jahren musste die Treuhand als neue Eigentümerin von Volk und Welt allein an diese sechs Verlage einen zweistelligen Millionenbetrag nachzahlen, insgesamt über 20 Mio. DM. Diese
29 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 176 (Hans Petersen). 30 Vgl. Lokatis: »DDR-Literatur«, S. 424.
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Summe überstieg die zwischen 1961 und 1989 entrichteten Lizenzgebühren um mehr als das doppelte.31 Das war ein unerwarteter goldener Regen für die betroffenen Verlage. Die rechtliche Bewertung der kriminellen »Plusauflagen« ist eindeutig, und die tiefe Enttäuschung westlicher Kontraktpartner über den systematischen Betrug verständlich. Auf der anderen Seite beweist die illegale Praxis, wie ungemein beliebt die westliche Volk und Welt-Produktion seit dem Mauerbau geworden war, denn selbst märchenhafte Auflagezahlen änderten nichts daran, dass Volk und Welt-Titel meist vergriffen und begehrte Bückware waren. Aus heutiger Sicht ist es zu begrüßen, dass so viele Bücher aus dem Westen wie möglich die DDR-Bürger erreichten. Die Vermutung liegt zudem auf der Hand, dass die für den Betrug verantwortlichen Funktionäre im ZK der SED das weltoffene, letztlich subversive Editionsprogramm von Volk und Welt nur tolerierten, weil man mit einem ideologisch suspekten Camus oder Faulkner doch auch zugleich dem Klassenfeind schaden und die Parteikasse füllen konnte. Paradoxerweise ist die kriminelle Plusauflagenpraxis aus zensurgeschichtlicher Sicht mithin sehr zu begrüßen.
Die Ostlektorate Michail Bulgakow bei Luchterhand, Michail Scholochow bei List, Leonid Leonow und Andrej Platonow bei Hanser, Tschingis Aitmatow, Isaak Babel, Bohumil Hrabal, Wladimie Majakowski, Wladimir Tendrjakow und Arkadi und Boris Strugazki bei Suhrkamp – der innerdeutsche Literaturaustausch war keine Einbahnstraße. Für russische und osteuropäische Literatur nahm Volk und Welt eine kaum zu ersetzende Brückenfunktion ein. Doch nur der Bruchteil einer grandiosen Literatur fand ihren Weg auf den westdeutschen Buchmarkt. Insgesamt erschienen nach der Zusammenlegung des DSF-Verlages Kultur und Fortschritt mit Volk und Welt von 1964 bis 1989 563 Titel aus der Sowjetunion, davon 487 russische und 172 aus über 20 Sowjetrepubliken. Leonhard Kossuth (geb. 1923), Leiter des größten Volk und Welt-Lektorats I, legte Wert darauf, dass auch Bücher aus den Originalsprachen übersetzt wurden, aus dem Georgischen, aus den baltischen Sprachen, gelegentlich, wie 1975 in dem Märchenband Die versteinerte Stadt auch aus dem Aserbaidschanischen, damals die erste Übersetzung aus dieser Sprache ins Deutsche seit über hundert Jahren. Überhaupt waren die ab 1955 zunächst bei Kultur und Fortschritt erscheinenden und in hohen Auflagen verbreitete wunderschön illustrierten Märchenbände wie die georgische Zauberkappe (1957), die usbekische Märchenkarawane (1959), die ukrainische Sonnenrose (1966), der litauische Hexenschlitten (1973), der turkmenische Schlangenschatz (1976) und der armenische Edelsteinbaum (1977) repräsentative Aushängeschilder der multinationalen Herausgebertätigkeit in Kossuths Lektorat I. Zwischen 1964 und 1989 kamen insgesamt 20 Titel aus Litauen, jeweils 18 aus Estland und Kasachstan, 16 aus der Ukraine, 14 aus Belorussland und 14 Titel aus Kirgisien, die allerdings beinahe alle von Aitmatow stammten und aus dem Russischen übersetzt worden waren.
31 Auflagenstatistik in AdK, Archiv Volk und Welt. Siehe auch Lokatis: Die Hauptverwaltung des Leselandes, S. 103–118.
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Natürlich gab es auch in der DDR keine literarischen Übersetzer, die Tadschikisch, Usbekisch oder Armenisch konnten. Autoren aus diesen Ländern wurden nur dann wahrgenommen, wenn ihre Texte ins Russische übersetzt worden waren, und aus dem Russischen wurden sie dann auch ins Deutsche übertragen. Wie weit das jeweilige Resultat von seinem Original entfernt war, läßt sich denken. Dies sollte langfristig verändert werden, indem die Übersetzer möglichst eine oder mehrere Sprachen dazulernten, und auch im Verlag sollte es eine sprachli32 che Kompetenz dafür geben.
Christina Links lernte also Aserbaidschanisch und die »Heroin« Kristiane Lichtenfeld übersetzte tatsächlich »die komplizierten Romane des Georgiers Otar Tschiladse aus dem Original«: Dabei konnte man äußerst spannende Texte entdecken, uralte Kulturen und Traditionen, völlig andere Denk- und Schreibweisen kennenlernen. Ihre oft schwer aussprechbaren Namen wie Hrant Matewosjan, Otar Tschiladse, Juri Rytchëu, Fasil Iskander, Timur Pulatow oder Paruir Sewak machten es diesen Autoren nicht gerade leichter, in der Fremde wahrgenommen zu werden, aber wer sie einmal für sich entdeckt hatte, der war von ihrer Fabulierkunst, dem 33 Witz und der Poesie ihrer Texte fasziniert.
Wo gab es jemals eine Übersetzungskultur wie bei Volk und Welt? Es ging den Übersetzern aber auch niemals besser. Sie verdienten 20 bis 30 Mark für die Manuskriptseite, ihre Tätigkeit war öffentlich sichtbar und anerkannt, und es gab jährlich seit 1978 gut dotierte Preise für die besten Übersetzer des Verlages wie etwa Erich Ahrndt (Tendrjakow), Renate Bauwe-Radna (mongolische Erkundungen), Karl-Heinz Jähn (Hrabal) oder Eckhart Thiele (Trifonow).34 Zweimal gewannen den Preis Thomas Reschke (Okudshawa, Schukschin) und Charlotte Kossuth (Aitmatow, Der Tag zieht den Jahrhundertweg und Der Richtplatz). Für die aus den osteuropäischen Sprachen übersetzten Gedichte der im Pergamin raschelnden, mit einer Einbandzeichnung Horst Hussels und einer Grafik geschmückten und von Lothar Reher entworfenen »Weißen Reihe« Lyrik International favorisierte man in der Regel jedoch ein anderes, zweistufiges Verfahren. Auf der Grundlage einer vorgeschalteten wortgetreuen Interlinearübersetzung versuchten sich die berühmten Dichter des Landes an einer kongenialen Übertragung. So wagten sich Elke Erb, Uwe Grüning, Rainer Kirsch, Karl Mickel, Richard Pietraß und Ilse Tschörtner an die Übersetzung der Zwetajewa (Maßlos in einer Welt nach Maß, 1980). Günter Kunert übertrug Tadeusz Różewicz, Franz Fühmann František Halas und Sarah Kirsch Anna Achmatowa. Im Schnitt erschienen aus der Sowjetunion pro Jahr 25 Titel, davon 18 russische. Im benachbarten Lektorat II für die Literatur der Volksrepubliken führte unangefochten Polen mit 113 Titeln die Statistik an, gefolgt von der ČSSR (86 Titel), Ungarn (75), Rumänien (41), Bulgarien (35) und Jugoslawien (30). Die für die Südslawen zuständige Barbara Antkowiak beklagte sich: »Aus Korea haben wir ein einziges Buch verlegt,
32 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 62 (Christina Links). 33 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 63 (Christina Links). 34 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 72 (Thomas Reschke). Die Namen der pro Jahr in der Regel fünf Preisträger finden sich in der Verlagszeitschrift Der Bücherkarren.
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jedenfalls solange ich damit befaßt war. Wenn es in Jugoslawien bessere Bücher gab, spielte das keine Rolle. Eigentlich bildete ich mit meinen Jugoslawen das Schlusslicht, dann kamen nur noch die Mongolen.«35 Als 1976 mit den Erkundungen erstmals seit 1960 wieder ein Buch aus Albanien erschien, galt das als klares Signal, dass sich die Beziehungen zwischen Berlin und Tirana verbessert haben mussten. Es war kein Zufall, dass 1957 kein Titel aus Ungarn und 1969 keiner aus der ČSSR erschien, dass sich 1981 die Zahl der polnischen Titel halbierte. Zensurprobleme spielten im Umgang mit den Bruderländern keine geringere Rolle als in den Westlektoraten. Zuständig für die polnische Literatur war Jutta Janke (1932–2004), die Leiterin des Lektorats II für die Volksdemokratien, mit einem von ihren Lieblingsautoren Lem, Mrożek und Różewicz – sie ebnete den beiden Letzteren den Weg auf die Bühne der DDR36 – inspirierten Sinn für die schräge Ironie: Durch den Nebelqualm konnte man neben dem Papierkorb der Kettenraucherin ein abgehängtes Stalin-Bild entdecken.37 Ihr Lektorat war nicht nur für die Volksdemokratien, sondern auch für Griechenland (31 Titel, mit den Hauptautoren Nikos Kazantzakis und Jannis Ritsos) und Israel zuständig. Diese Zuteilung entsprach dem einzigartigen Engagement Jutta Jankes für die jüdische Literatur. Sie plante gerade die erste Ephraim Kishon-Edition, als der Sechs-Tage-Krieg 1967 die Herausgabe israelischer Titel bis 1982 unmöglich machte und selbst ein Palästina freundlicher Israel-Bericht von Martine Monod eingestampft werden musste.38 Janke lernte Hebräisch und förderte jiddische Literatur auch aus den Nachbarlektoraten. So begründete sie die Publikation Isaac Singers und verhalf dem von Lothar Reher in Leningrad entdeckten Anatoli Kaplan mit seinen farbenprächtigen Lithographien zu einer glanzvollen Karriere in der DDR.39 In der DDR-Geschichtsschreibung herrschte lange Zeit die Auffassung von der dominierenden Rolle des kommunistischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Hier brachte Volk und Welt – wie mir scheint, von Anfang an – eine differenzierte Sichtweise ein. Spätestens seit den 1960er Jahren ließen Titel wie André Schwarz-Barts Der letzte der Gerechten aufhorchen. Bücher von Jiri Weil, Jorge Semprún, David Ben-Gavriel und Icchokas Meras sensibilisierten und erweiterten das Geschichtsverständnis der Leute. Kazimierz Brandys´ Briefe an Frau Z. und Bogdan Wojdowskis Brot für die Toten, Bella Chagalls Brennende Lichter und Moische Kulbaks Selmianer kommen mir auf Anhieb in den Sinn. Immer wieder denke ich an Jutta Janke, an ihren scharfen Verstand und geraden Charakter. Die Szene, wie sie bei einer Geburtstagsfeier im Verlag, bei der auch Bruno Haid von der Hauptverwaltung zugegen war, demonstrativ in die Knie ging und ihn mit großer Geste anflehte, die Herausga40 be der Zimtläden von Bruno Schulz nicht zu verhindern, hat sich mir eingebrannt.
Schon beim Verlag Kultur und Fortschritt hatte Leonhard Kossuth gelernt, dass umstrittene Bücher die interessantesten waren. Bis 1956 verkaufte sich die sowjetische Literatur
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Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 92 (Barbara Antkowiak). Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 82 ff. (Henryk Bereska). Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 75 (Heinrich Olschowsky). BArch, DR 1/2340: Druckgenehmigungs-Akte. Ein vor der Einstampfung gerettetes Exemplar befindet sich im Archiv der Leipziger Buchwissenschaft (Bibliotop). 39 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 297–298 (Lothar Reher). 40 Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 296 (Jürgen Rennert).
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noch schlechter als die Bücher von Volk und Welt, die Lager bei LKG waren voll mit »Überplanbeständen« des DSF-Verlags in Höhe von 1,5 Mio. Bänden.41 Mit dem Rückenwind der Tauwetterliteratur gelang es dem neuen Verleger Heinz Mißlitz (1912– 1972), der sich nicht mehr unkritisch »an sowjetischen Preisverleihungen, sondern an der Rezipierbarkeit im Inland« orientierte,42 fast den Verlag zu sanieren, als 1958 wieder der Frost einsetzte und wichtige Titel von Isaak Babel, Daniil Granin und Pawel Nilin angehalten wurden, alles Bücher, für die sich der Lektor Leonhard Kossuth eingesetzt hatte.43 1959 wurde Mißlitz als Verlagsleiter entlassen, weil er einen in der DDR verbotenen Roman von Pawel Nilin (Ohne Erbarmen) kurzerhand unter neuem Titel (Genosse Wenka) nach Stuttgart verkauft hatte.44 Noch vor der Fusion mit Volk und Welt 1964, als Cheflektor bei Kultur und Fortschritt registrierte Kossuth wegweisende Erfolge. 1962 gelang ein Durchbruch mit Galina Nikolajewas Produktionsroman Schlacht unterwegs, ein Buch, das kaum weniger umstritten war als Strittmatters Ole Bienkopp, und sich auch ähnlich gut verkaufte. Im gleichen Jahr erschien Die Lebenden und die Toten von Konstantin Simono. Der erste Teil seiner Weltkriegstrilogie im antistalinistischen Geist des XXII. Parteitags erlebte noch 18 Nachauflagen, und genauso viele Titel brachte der Verlag von Simonow heraus. Das Lektorat I im fünften Stock der Glinkastr. 13–15, zuständig für sowjetische Literatur, war bedeutend mehr als der Ort redaktioneller Kontrolle der laufenden Produktion. Nicht allein, das es als das größte seiner Art, das es je außerhalb der Sowjetunion gegeben hat, neben offiziellen über offiziöse und private Informationen aus erster Hand verfügte, die den Dschungel kulturpolitischer Direktiven und Gegendirektiven lichten, zumindest aber begehbar machen halfen. Nein. Man geriet da in eine Brutstätte, ja an einen Ansteckungsherd: Ständig wurden Varianten von Editions- und Kommentartypen entworfen, ideologische Opportunitäten erörtert und die Potentiale der Außengutachter geprüft, die sowohl ordnungspolitisch (Garantie der Druckgenehmigung seitens der Zensur des Ministeriums für Kultur) als auch verlagspolitisch (Garantie der Planerfüllung) vertrauenswürdig sein mußten. Kein Kunststück war zu riskant, um ein als wichtig erkanntes Buch »durchzubringen«. Ein gefähr45 liches Spiel […].
Dessen Virtuose war Ralf Schröder, der alles daran setzte, im Verlag jene neue Sowjetliteratur durchzusetzen, für die er 1957 ins Gefängnis gegangen war, der dafür nicht einmal das Bündnis mit der Stasi scheute. So kam es, daß er im Komplott mit dem Übersetzer und Verlagslektor Thomas Reschke einige in sowjetischen Ausgaben ausgelassene wesentliche Passagen, etwa bei Bulgakow und Trifonow, an der Zensur vorbei in die DDR-Ausgaben einschmuggelte und zugleich über seinen Mitverschworenen als einen kritischen Geist an die Hauptabteilung XX des Ministeri46 ums für Staatssicherheit berichtete.
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Kossuth: Volk und Welt, S. 42. Kossuth, S. 42. Vgl. Barck/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«, S. 118–126. Barck, Langermann, Lokatis: Jedes Buch ein Abenteuer, S. 123. Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 44 (Fritz Mierau). Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 49 (Fritz Mierau).
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Thomas Reschke, ab 1955 in der Redaktion, suchte sich die Bücher für seine Übersetzungen nach dem Grad aus, in dem sie zur Entstalinisierung beitrugen. Die Sowjetliteratur machte in den 1960er Jahren eine entscheidende Wandlung durch, was unsere kulturpolitischen Instanzen und die Politbüroriege, die ja die Sowjetliteratur vor allem als Propagandainstrument zur Staatserhaltung kannten, nicht gleich mitbekamen. Die sowjetische Literatur hatte längst auch die Funktion übernommen, über Sachverhalte und Prozesse zu informieren, die bei den Massenmedien ausgeklammert waren: Rauschgiftsucht; Kriminalität, auch von Jugendlichen und Banden; Prostitution; Mißstände in der Wirtschaft; Korrupti47 on; Mängel aller Art; Reformstau auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens.
Mit dem von Reschke übersetzten Kultbuch Der Meister und Margarita begann 1968 die Wiederentdeckung von Michail Bulgakow, unmittelbar gefolgt von Theaterroman und Die weiße Garde (beide 1969). Der Verkauf des Titels an Luchterhand war ein wichtiges Argument, den Teufel in Moskau spuken zu lassen. 1969 erschien auch eine zweibändige Platonow-Edition, doch erst 1987 startete Lola Debüsers große Werkausgabe zunächst mit Erzählungen. Die subversivsten Texte Bulgakows (Hundeherz, 1987) und Platonows (Die Baugrube, 1989; Tschewengur, 1990; Die glückliche Moskwa, 1993) konnten erst zum Ende der DDR bzw. in den 1990er Jahren erscheinen.48 Ihre politische Sprengkraft entfalteten hingegen mit vier Nachauflagen Rasputins Abschied von Matjora (1979) und die beiden viel diskutierten späten Romane Aitmatows, Der Tag zieht den Jahrhundertweg (1982, 7 Nachauflagen) und Die Richtstatt (1987, 4 Nachauflagen). Vorbereitet wurde Gorbatschows Perestroika von Büchern Wladimir Tendrjakows und Juri Trifonows. Während im Spektrum mit Der Fund (1973) und Drei Sack Abfallweizen (1975) von Tendrjakow recht spät die ersten schneidenden Auseinandersetzungen zu den moralischen Aporien stalinistischer Bürokratie erschienen, konnten seine schwerer zu publizierenden Schlüsseltexte Begegnung mit Nofretete und Morast 1978 mit Hilfe einer unanfechtbaren Herausgeberin, Regina Hager, Schwiegertochter des SED-Chefideologen Kurt Hager, herausgebracht werden, allerdings nicht, wie erhofft, auch Das Ableben.49 Dreißig Jahre verspätet erschienen die beiden Tauwetter-Texte Der feste Knoten und Das Ableben (1986), aber die größten Zensurprobleme musste Tendrjakows Anschlag auf Visionen (1989) bereiten.50 Auf ähnliche Weise verzögerte sich die Rezeption der Werke Juri Trifonows, nach dessen Erstling Durst (1965) der Verlag eine zehnjährige Pause einlegte. Die scharfe Stalinismus-Kritik Trifonows, dessen Analysen hartnäckig um die Säuberungen von 1937 kreisten, passte nicht zu der mit dem Kahlschlag 1965 einsetzenden Restalinisierung unter Breschnew. 1978 erschien (zeitgleich mit Tendrjakows Nofretete) Das andere Leben, gestützt auf ein angebliches Moskauer Placet und auf ein vernebelndes Gutachten Ralf Schröders, allerdings nicht, wie gleichzeitig beantragt, Das Haus an der Uferstraße. Gleich nach Breschnews Tod ventilierte Schröder jedoch eine vierbändige Werkausgabe (1983). Infolge einer ausgeklügelten chronologischen Ordnung »in punktierter Linie«
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Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 70 (Thomas Reschke). Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 327–329 (Simone Barck über Lola Debüser). Kossuth: Volk und Welt, S. 201. BArch, DR 1/2396a: Druckgenehmigungs-Akte Tendrjakow.
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gelang es, die kritischen Texte Das andere Leben, Das Haus an der Ufergasse und Der Alte im dritten Band zu verstecken. Trifonows zentraler Text über die Säuberungen, Das Verschwinden, konnte allerdings erst Ende 1989 im Spektrum erscheinen. * Am Tag, als die Mauer fiel, besuchte Cees Noteboom das Verlagshaus in der Glinkastraße, aber »Volk und Welt war leer«. Insider ahnten, dass mit dem Mauerfall weitgehend das Programm weggebrochen war.51 Die Funktion als Fenster zur Welt war jetzt überflüssig. Aber Volk und Welt war auch eine einzigartige Drehscheibe, eigentlich unverzichtbar für die Entdeckung, Erschließung, Übersetzung und Verbreitung osteuropäischer Literaturen im deutschen Sprachraum. Und das war der tragische Verlust. Zwischen 1947 und 1990 waren etwa 5.000 Titel im Verlag erschienen, davon über 3.000 Neuauflagen. Eine Gesamtauflagenzahl von 82 Mio. (1987) ergibt die durchschnittliche Auflagenhöhe von 17.000 Exemplaren, wobei die 441 Hefte der RomanZeitung mit ihren 42 Millionen Exemplaren nicht mitberechnet sind. Während die Werbeabteilung mit vier Mitarbeiterinnen auffällig klein war, waren die Herstellung und die künstlerische Abteilung stark besetzt. Es gab eine große Küche und zeitweilig vier Kraftfahrer. Von den insgesamt etwa 150 bis 160 Mitarbeitern gehörte etwa ein Drittel dem Lektorat und der Redaktion an.52 In der DDR konnte sich der Verlag das leisten. Bei einem Umsatz von 20 Mio. M., erwirtschaftete er 1988 2,5 Mio. M. Gewinn.53 Aber es waren Zahlen, von denen man in der Nachwendezeit nur noch träumen konnte. 1990 wurde die Zahl der Mitarbeiter auf 43, 1991 auf 22 und 1999 auf fünf reduziert. 2001 wurden die letzten Mitarbeiter entlassen, und es erschienen die letzten Bücher.54 Die Rechte übernahm auf Umwegen die Bertelsmann-Verlagsgruppe in München.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Akademie der Künste (AdK) Archiv Volk und Welt Bundesarchiv Berlin (BArch) Ministerium für Kultur (DR 1)
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Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 324 (Monika Müller). Barck/Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt, S. 397–398. Vgl. Links: Das Schicksal der DDR-Verlage, S. 247. Ebenda, S. 246–250.
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Gedruckte Quellen KOSSUTH, Leo: Volk und Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag. Berlin (Nora) 2003. LINKS, Roland: Kurzes Nachdenken über anregendes Fremdsein. In: Walter Lenschen (Hrsg.): Literatur übersetzen in der DDR. Bern: Peter Lang 1998, S. 119–124. TSCHÖRTNER, H. D. (Bearb.): 40 Jahre internationale Literatur. Bibliographie 1947–1986. Berlin: Volk und Welt 1987. TSCHÖRTNER, H. D. (Bearb.): Internationale Literatur 1987–1989. Nachtrag zur Verlagsbibliographie. Berlin: Volk und Welt 1989.
Forschungsliteratur BARCK, Simone / LANGERMANN, Martina / LOKATIS, Siegfried (Hrsg.): »Jedes Buch ein Abenteuer«. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der 1960er Jahre. Berlin: De Gruyter 1998 (Zeithistorische Studien 9). BARCK, Simone / LOKATIS, Siegfried (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt. 2. Aufl. Berlin: Ch. Links 2005. LINKS, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. 2. Aufl. Berlin: Ch. Links 2010. LOKATIS, Siegfried / HOCHREIN, Martin (Hrsg.): Die Argusaugen der Zensur. Begutachtungspraxis im Leseland DDR. Stuttgart: Hauswedell, 2021. LOKATIS, Siegfried: »DDR-Literatur« aus der Schweiz, aus Österreich und der Bundesrepublik. Das Germanistik-Lektorat von Volk und Welt. In: Siegfried Lokatis: Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR. Stuttgart: Hauswedell 2019, S. 413–450. LOKATIS, Siegfried: Die Hauptverwaltung des Leselandes. In: Siegfried Lokatis: Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR. Stuttgart: Hauswedell 2019, S. 103–118. WURM, Carsten: … mehr als eine Verlagsgeschichte. 150 Jahre Rütten & Loening. 1844–1994. Berlin: Rütten & Loening 1994.
Juliane Bonkowski 5.3.1.6 Mitteldeutscher Verlag Wurzeln und frühe Entwicklung Der Mitteldeutsche Verlag (MDV) in Halle (Saale) ist aus der Verlagslandschaft der DDR nicht wegzudenken. Er entwickelte sich vor allem ab den 1960er Jahren zu einem der wichtigsten Orte in der Literaturlandschaft des sozialistischen Staates. Am 24. April 1946 zunächst als Mitteldeutsche Verlags-GmbH von der Verwaltung der Provinz Sachsen gegründet, produzierte und vertrieb er anfangs vor allem das Verordnungsblatt und die Adressbücher der Provinz Sachsen sowie Schriften anderer behördlicher Dienststellen, außerdem einige Sachbücher und belletristische Werke.1 Das Stammkapital betrug 20.000 RM, das von Friedrich Lessing als Vertreter der Provinz Sachsen (19.000 RM) und Erich Simons (1.000 RM) gehalten wurde. Am 11. Dezember 1946 erhielt der Verlag von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Lizenz Nr. 111 zum Verlegen belletristischer Literatur.2 Zwei Jahre später übernahm das neu gebildete Land Sachsen-Anhalt sämtliche Geschäftsanteile der GmbH. 1952 erfolgte die Vereinigung mit dem Verlagsbereich der SED-eigenen Mitteldeutschen Druckerei und Verlagsanstalt, die seit 1946 die SED-Regionalzeitung Freiheit verlegte und seit 1947 auch mit eigener Lizenz (Nr. 286) als Buchverlag ausgestattet war. Im Ergebnis entstand der Mitteldeutsche Verlag Halle/Saale (MDV), der nun Eigentum der SED war. Die Landesregierung Sachsen-Anhalt ordnete 1953 an, die neue Verlags-GmbH aus der privatwirtschaflichen Abteilung des Handelsregisters in die Abteilung der volkseigenen und organisationseigenen Unternehmen umzutragen.3 Die Mitteldeutsche Druckerei und Verlagsanstalt übergab ihr Buchprogramm dem MDV und beschränkte sich fortan unter dem Namen Mitteldeutsche Druckgesellschaft, später Druckhaus Halle auf die Publikation der SED-Bezirkszeitung. Die Edition von Verordnungsblättern wurde beendet, stattdessen kamen neue Arbeitsbereiche hinzu, zum Beispiel Notenblätter mit Volksmusik, Laienspiele, musikdramatische Werke, moderne Musik sowie verstärkt Belletristik.4 Das Verlagsprogramm war somit vielfältig und zugleich noch wenig konturiert. Es wurde durch »persönliche Neigungen, Zufälligkeiten und individuelle Vorstellungen der Verlagsmitarbeiter« wie durch »Notwendigkeiten der bei der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung zu lösenden Aufgaben«5 beeinflusst. Die Belletristik beschränkte sich anfangs auf Lizenzausgaben und Wiederauflagen von bereits erschienenen Werken, so von Bertolt Brecht oder Arnold Zweig. Die übernommene Mitteldeutsche Druckerei und Verlagsanstalt publizierte 1949 den Roman Tiefe Furchen von Otto Gotsche, ein Buch
1 Die Daten zur Firmengeschichte sind entnommen Links: Das Schicksal der DDR-Verlage, S. 227, sowie Günther: Mitteldeutscher Verlag 1946–2006, S. 7–70. 2 Vgl. Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 277; Lokatis: Der Mitteldeutsche Verlag in Halle, S. 113. 3 Vgl. Günther: Mitteldeutscher Verlag, S. 11–12. 4 Vgl. Lokatis, Siegfried (2007): Der Mitteldeutsche Verlag in Halle. In: Barck, Simone/Wahl, Stefanie: Bitterfelder Nachlese, S. 114. 5 Eberhard Günther: Gegenwart ist Trumpf. In: Börsenblatt (Leipzig), Jg. 147, Nr. 13 (25. 3. 1980), S. 700–701. https://doi.org/10.1515/9783110471229-026
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mit Gegenwartsthematik. Sie wurde für das Verlagsprogramm bestimmend. Anliegen war es, mit der literarischen Gestaltung von Zeitthemen zur Entwickelung der sozialistischen Gesellschaft und zur Bewusstseinsbildung beizutragen.6 Der Verlag berief sich auf die Traditionen der proletarisch-revolutionären deutschen Literatur,7 verpflichtete sich der Methode des Sozialistischen Realismus und forderte inhaltlich eine Literatur, die sich mit dem Leben innerhalb des sozialistischen Staates beschäftigte. Ein Schwerpunkt der Verlagsarbeit bestand seit den 1950er Jahren in der Förderung von Schriftstellertalenten. »In die Bewegung des Bitterfelder Weges integriert, konzentrierte sich der Mitteldeutsche Verlag auf die Herausbildung einer jungen Gegenwartsliteratur, die sich der veränderten sozialen Wirklichkeit annahm.«8 Viele dieser Nachwuchsautoren hatten bereits ein »höheres Alter« erreicht und brachten auch selten die erhofften sozialen Erfahrungen aus Fabriken und von Baustellen des Sozialismus mit. Doch die Arbeit mit ihnen war durchaus von Erfolg gekrönt. Für den damaligen Verlagsleiter Heinz Sachs (1920–1983) und seinen Cheflektor Gerd Noglik standen die fachlichen ebenso wie die persönlichen Beziehungen zu ihren Autoren im Fokus, verlautbarte der spätere Verlagsleiter Eberhard Günther (geb. 1931). Sachs, der Mitte der 1950er Jahre an Tuberkulose erkrankte und längere Zeit ausfiel, wurde 1957 von Fritz Bressau (1908– 1998) als Leiter des Verlagshauses ersetzt. Ende 1958 kehrte er wieder in den Verlag zurück, zunächst als stellvertretender Cheflektor, dann als Cheflektor.9 Im gleichen Jahr veröffentlichte der MDV seinen bislang größten literarischen Erfolg: Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz. Das Werk über die Rettung eines jüdischen Jungen im Konzentrationslager Buchenwald war anfänglich im Verlag aufgrund seines scheinbar rückwärtsgewandten Themas auf Skepsis gestoßen, erregte nun eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit. Es wurde in 30 Sprachen übersetzt und erzielte bis heute eine Gesamtauflage von mehr als zwei Millionen Exemplaren. Das war und blieb der größte Verkaufserfolg in der Historie des MDV.10 Am 24. April 1959 fand auf Initiative des Verlags im nahegelegenen Bitterfeld eine Autorenkonferenz statt, in deren Vorbereitung und inhaltliche Ausrichtung sich die SEDFührung unter Walter Ulbricht einschaltete. Man habe im Vorfeld nicht annähernd geahnt, was diese Veranstaltung nach sich ziehen würde, so Heinz Sachs 1969 in einem Interview mit Neues Deutschland. Und weiter: »Als wir am Abend des 24. April 1959 im Kulturpalast zusammensaßen, ziemlich müde, aber doch sehr froh, daß alles gut abgelaufen war, hatten wir immerhin schon einen Begriff von dem historischen Ausmaß dieser Konferenz.«11 Der aus ihr resultierende Bitterfelder Weg war eine Zeitlang prägend für die Kulturpolitik der DDR. Unter dem vom Verlagsautor Werner Bräunig ge-
6 Vgl. Harry Fauth: Das Börsenblatt Verlagsporträt Mitteldeutscher Verlag. 310 Schriftsteller nennt die Verlagschronik. In: Börsenblatt (Leipzig), Jg. 138, Nr. 19 (11. 5. 1971), S. 374. 7 Vgl. Günther: Gegenwart ist Trumpf. In: Börsenblatt (Leipzig), Jg. 147, Nr. 13 (25. 3. 1980), S. 700. 8 Holger Brohm: Mitteldeutscher Verlag Halle/Saale. In: Opitz/Hofmann (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur, S. 222. 9 Vgl. Günther: Mitteldeutscher Verlag, S. 14–15. 10 Geschichte des Mitteldeutschen Verlags (online). 11 Bitterfeld – Geschichte und Zukunft. ND-Interview mit dem Leiter des Mitteldeutschen Verlages, Heinz Sachs. In: Neues Deutschland, 23. 4. 1969, S. 4.
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Abb. 1: Greif zur Feder Kumpel. Protokoll der Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages Halle (Saale) am 24. April 1959 im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld. Mitteldeutscher Verlag 1959, Umschlag von Heinz Ritter.
fundenen Leitspruch »Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht Dich!« wurde versucht, einerseits die Schriftsteller und Künstler mit der Produktion in Industrie und Landwirtschaft in eine Arbeitsbeziehung zu bringen, andererseits die Werktätigen zur eigenen kreativen kulturellen Arbeit zu mobilisieren.12 Ähnliche Forderungen waren auch schon zu Beginn der 1950er Jahre vorgebracht worden, allerdings ohne nachhaltige Folgen.13 Den Schriftstellern wurde damals wie 1959 vorgehalten, den Forderungen der sozialistischen Umgestaltung nicht gerecht zu werden. Einigen warf man spätbürgerliches Verhalten vor, weil sie angeblich Missstände lediglich benannten und zur Behebung dieser aufriefen, statt sich selbst am Aufbau zu beteiligen.14 In den Jahren nach der Konferenz entstanden in der DDR zahllose Zirkel schreibender Arbeiter, und es wurden viele Talente gefunden. Den MDV als Mitinitiator der
12 Vgl. Berger et al. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch, S. 110–112. 13 Vgl. Ulf Aust: Bitterfelder Weg. In: Opitz/Hofmann (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur, S. 42. 14 Vgl. Berger et al. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch, S. 110–112.
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Abb. 2: Erik Neutsch (2. v. l.) übergibt dem Verlag seine neue Erzählung »Warten an der Sperre oder ein halbes Leben«. Im Gespräch mit den Lektoren Harald Korall (links), Dieter Strützel und dem Cheflektor Heinz Sachs (rechts), 11. Mai 1966. Foto: Bundesarchiv/Zentralbild, Schaar.
Bitterfelder Konferenz erklärte die vorgesetzte Hauptverwaltung Verlagswesen im Ministerium für Kultur zum Leitverlag für DDR-Gegenwartsliteratur und förderte ihn fortan stark. Die offizielle Propaganda lobte die Bewegung überschwänglich, doch unter den Künstler und Literaten herrschte teilweise Skepsis, politische Gegner hielten gar nichts von dem Weg.15 Eine zweite Konferenz im Jahr 1964, die allerdings deutlich weniger Popularität erreichte, bekräftigte die Ziele der ersten Tagung. Die wichtigsten Erfolge der frühen 1960er Jahre erreichte der Verlag mit den Büchern Der geteilte Himmel (1963) von Christa Wolf und Spur der Steine (1964) von Erik Neutsch. Beide Autoren waren dem Bitterfelder Weg verpflichtet, stellten dennoch Fragen, die die Leser bewegten. Weitere bekannte Autoren des Verlages waren seit den 1950er und 1960er Jahren beispielsweise Volker Braun, Werner Bräunig, Marianne Bruns, Günter de Bruyn, Hanns Cibulka, Uwe Greßmann, Theo Harych, Werner Heiduczek, Erich Loest, Georg Maurer, Karl Mickel, Karl Mundstock, Erik Neutsch, Eberhard Panitz, Harry Thürk und Inge von Wangenheim. Welches Ansehen der Verlag bei den kulturpolitisch Verantwortlichen Anfang der 1960er Jahren besaß, zeigt eine Stellungnahme der Abteilung Literatur und Buchwesen (Bereich Belletristik, Kunst- und Musikliteratur) im Ministerium für Kultur, aus der schließlich die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel entstanden ist. Der Mitteldeutsche Verlag, der Aufbau-Verlag und der Verlag Neues Leben wurden darin als ideologisch-künstlerische Zentren bezeichnet.16 Von den Verlagen wurde gefordert, die Zusam15 Vgl. Ulf Aust: Bitterfelder Weg. In: Opitz/Hofmann (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur, S. 42. 16 Vgl. zum Folgenden LASA, I 129, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 4/1, Bl. 2–9: Stellungnahme zur Arbeit des Mitteldeutschen Verlags, des Aufbau Verlags und des Verlags Neues Leben als ideologisch-künstlerische Zentren für ihre Schriftsteller), o. D. [1963].
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menarbeit mit den Schriftstellern unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mitteln zu verbessern. Das sei die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung der sozialistischen Nationalliteratur. Unter den drei Verlagen wurde dem MDV die größte Aktivität und Entschlossenheit bei diesen Bemühungen bescheinigt, was am Beispiel der intensiven Betreuung von Erik Neutsch und seinem Roman Spur der Steine verdeutlicht wurde. Es waren auch Kritik und Anregungen zu finden. So wurde der MDV aufgefordert, Mittelmäßigkeit und Provinzialität zu überwinden, um eine hohe Qualität in der gesamten Verlagsproduktion zu erreichen. Fritz Bressau und Heinz Sachs wurden angehalten, den Verlag und vor allem die Lektoren so zu unterweisen, »daß alle Mitarbeiter stärker, als das bisher der Fall war, die unlösbare Einheit von Ideologie und Kunst erkennen und den Autoren bei der Durchsetzung dieses Prinzips helfen.«17 Kurz vor dem 20. Gründungstag des MDV fand mit dem 11. Plenum des Zentralkomitees (ZK) der SED im Dezember 1965 eine Zäsur in der Kulturpolitik der DDR statt.18 Auf dem sogenannten »Kahlschlag«-Plenum kritisierte der Wortführer Erich Honecker, damals Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, Künstler und Werke scharf, die Verhältnisse in der DDR verzerrt darzustellen und Nihilismus und Pornographie Vorschub zu leisten.19 Die Folgen für Literatur und Kultur waren verheerend. Zahlreiche Filme, Theaterstücke und Bücher wurden verboten. Auch Werner Bräunigs Roman Rummelplatz, aus dem im Oktober-Heft der Neuen Deutschen Literatur (NDL) ein Vorabdruck erschienen war, fiel dem Rundumschlag zum Opfer.20 Der MDV gab das Projekt auf, und Bräunig stellte die Arbeit daran ein, weil an eine Veröffentlichung nicht mehr zu denken war. Teile daraus erschienen 1981 in dem Sammelband Ein Kranich am Himmel zum Gedächtnis des früh verstorbenen Autors. Das komplette Fragment wurde erst Jahrzehnte später (2007) publiziert.21
Zwischen »Kahlschlag«-Plenum und Machtwechsel: Nachdenken über Christa T. Während der Verlag in den folgenden Jahren die »großen Aufgaben, die Partei und Regierung der Kunst und Literatur gestellt haben«,22 zu lösen versuchte, bahnte sich das nächste Unheil an. Heinz Sachs war wieder zum Verlagsleiter berufen worden, während Dr. Dieter Strützel (1935–1999) das Amt des Cheflektors ausübte. Verlag und Autoren begannen sich von dem Schock des »Kahlschlag«-Plenums zu erholen. Zu den Werken, die sich kritisch mit der sozialistischen Wirklichkeit beschäftigten, gehörte Christa Wolfs Erzählung Nachdenken über Christa T. (1969). »In einer Zeit, in der die zentralen Medien täglich den ›Weg vom Ich zum Wir‹ propagierten, schilderte Christa Wolf das Leben einer jungen Frau, die auf ihrer Individualität beharrt.«23 Die Meinun-
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LASA, I 129, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 4/1, Bl. 5. Vgl. Westdickenberg: Die »Diktatur des anständigen Buches«, S. 136. Vgl. Wolle: Aufbruch nach Utopia, S. 293–295. Vgl. Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR, S. 185–193. Zur Zensurgeschichte von Rummelplatz und den Folgen für den Autor siehe Drescher: »Aber die Träume, die haben doch Namen«. Der Fall Werner Bräunig. 22 Sachs: Verleger sein heißt ideologisch kämpfen. In: Neues Deutschland, 14. 5. 1969, S. 4. 23 Günther: Mitteldeutscher Verlag, S. 26.
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gen zum Manuskript waren im Verlag wie in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) geteilt. Ein Gutachten bezeichnete den Roman zwar als »sprachkünstlerisches Meisterwerk«, meinte aber, dass die Literaturgesellschaft noch nicht bereit sei, ein solches Werk zur Diskussion zu stellen.24 Nach vielen Gesprächen, die Heinz Sachs und Eberhard Günther, damals noch Leiter der Hauptabteilung Literatur in der HV Verlage, mit der Schriftstellerin führten, fügte Wolf in das Manuskript ein ergänzendes Kapitel ein. Daraufhin verfasste Günther selbst ein Gutachten, »in dem die Veröffentlichung der Erzählung uneingeschränkt befürwortet wurde«.25 Da Günther Kritik vonseiten der Parteiführung erwartete, habe er eine Einschätzung geschrieben, die befürchtete Vorwürfe bereits im Vorfeld entkräften sollte.26 Noch während der Herstellung erfuhr man im Parteiapparat vom Buch und stoppte zunächst die Produktion. Üblicherweise wurde nicht die verantwortliche Zensurbehörde für Fehlentscheidungen zur Rechenschaft gezogen, sondern vor allem die Verlagsführung.27 Die SED-Bezirksleitung Halle warf Heinz Sachs und dem Verlag eine »parteifeindliche« Editionspolitik28 vor. Sachs zeigte im Neuen Deutschland Reue: Es wurde festgestellt, daß es innerhalb des Verlages ästhetische Auffassungen gibt, mit denen sich nur ungenügend auseinandergesetzt wird. Eingehend auf Kritiken, die den Verlag zu dem Roman »Nachdenken über Christa T.« von Christa Wolf erreichten, wurde der Verlagsleitung nachgewiesen, daß sie in dem Bestreben, die sogenannten »Bitterfelder Autoren« mit neuen Werken vorzustellen, eine inkonsequente Haltung einnahm, die den Traditionen und Aufgaben 29 des Verlages widerspricht.
Obwohl die Hintergründe nicht bekannt sind, ist davon auszugehen, dass Sachs zu dieser Selbstkritik gedrängt wurde. Er kam in seiner Stellungnahme zu einem Buch, das in der DDR noch nicht einmal erschienen war, nicht ohne Distanzierung von der Schriftstellerin aus: »Die Leitungstätigkeit des Verlages wird auf die schwer-punktmäßige Zusammenarbeit mit Autoren konzentriert, von denen der Verlag in den nächsten Jahren die Bücher erwarten kann, die unsere Gesellschaft braucht.« Nur wenige Tage nach Sachs äußerte sich Marcel Reich-Ranicki in der westdeutschen Wochenzeitung DIE ZEIT überaus positiv zum Werk.30 Die SED-Parteiführung geriet in ein schlechtes Licht, deshalb wurde das Buch nun doch fertiggestellt und 1969 zunächst nur Kritikern, Funktionären und den Teilnehmern des VI. Schriftstellerkongresses zur Verfügung gestellt. Der Luchterhand Verlag brachte im gleichen Jahr eine äußerst erfolgreiche Lizenzausgabe auf den bundesdeutschen Markt. Wolf formulierte im De-
24 Zitiert nach Wichner/Wiesner (Hrsg.): Zensur in der DDR, S. 84. Zur Zensurgeschichte siehe auch: Drescher (Hrsg.): Dokumentation zu Christa Wolf; Magenau: Christa Wolf, S. 200–230. 25 Günther: Verleger – Mehr als ein Beruf, S. 107. 26 Vgl. Nora Hoffbauer: Geliebt, verachtet und wieder verehrt. Christa Wolf und die Politisierung ihrer Literatur. In: Lokatis/Rost/Steuer (Hrsg.): Vom Autor zur Zensurakte, S. 194. 27 Wichner/Wiesner (Hrsg.): Zensur in der DDR, S. 84. 28 Günther: Verleger, S. 108. 29 Dies und das folgende Zitat Sachs: Verleger sein heißt ideologisch kämpfen. In: Neues Deutschland, 14. 05. 1969, S. 4. 30 Drescher (Hrsg.): Dokumentation zu Christa Wolf, S. 104.
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Abb. 3: Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Mitteldeutscher Verlag 1969, Umschlag von Hans-Joachim Schauß.
zember 1969 in einem Selbstzeugnis: »Alles, was ich bisher geschrieben habe, nicht zuletzt dieses Buch, entstand aus Parteinahme für die sozialistische Gesellschaft, in der ich lebe.«31 Ihrer Parteiverbundenheit zum Trotz geriet sie in eine monatelange Auseinandersetzung mit dem SED-Apparat und der Verlagsleitung. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Christa Wolf nach der erschöpfenden Aufregung enttäuscht vom MDV abwandte und fortan beim Aufbau-Verlag in Berlin veröffentlichte, obwohl der MDV dann doch zwei Nachauflagen des Buches publizierte. Die Stellungnahme von Heinz Sachs, die seinem Ansehen unter den Schriftstellern erheblich geschadet hatte, nutzte dem Verlagsleiter nichts. Bald stand seine Ablösung im Raum, nur ein geeigneter Ersatz war nicht leicht zu finden. In einer Sekretariatssitzung der HV Verlage und Buchhandel im Februar 1970 wurde die Forderung von Erich Honecker nach Abberufung von Sachs als Verlagsleiter bekannt gegeben. Otto Gotsche, Autor des Verlags und Ulbrichts Sekretär im Staatsrat, sprach sich gegenüber dem zuständigen ZK-Funktionär Kurt Hager für Heinz Sachs aus und hatte kurzzeitig Erfolg
31 Zitiert nach Drescher (Hrsg.): Dokumentation zu Christa Wolf, S. 186.
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damit. Doch Bruno Haid, der Leiter der HV Verlage und Buchhandel, schrieb an den Minister für Kultur, Klaus Gysi, dass die Leitungstätigkeit von Sachs eine einheitliche ideologische Ausrichtung des Lektorats im MDV nicht mehr garantiere.32 Deshalb bat er Gysi, eine Klärung zwischen Hager und Honecker über die Abberufung von Sachs herbeizuführen. Sachs stand kurz vor seinem 50. Geburtstag und erhielt noch eine positive Beurteilung,33 obwohl sein Rausschmiss schon bevorstand. Einschränkend hieß es darin, dass der Verlag unter seiner Leitung einen Aufschwung erlebte, Sachs es aber nicht geschafft habe, das Niveau der Nachwuchsautoren den Anforderungen entsprechend anzuheben. Er galt als parteiverbunden und immer bemüht, die Beschlüsse der Partei und der Regierung im Bereich Kulturpolitik schöpferisch anzuwenden. Rückblickend erklärte der Lektor und Autor Manfred Jendryschik: »Heinz Sachs war ein guter Funktionär und er hat seine [Lektoren], die er leiden konnte, [...] machen lassen und hat denen vertraut.«34 Die Tatsache, dass Sachs über viele Jahre hinweg, und auch noch nach seiner Zeit im MDV, dem Ministerium für Staatssicherheit als Informant diente,35 konnte seinen Posten offenbar nicht retten. Nachfolger wurde Rudolf Herzog, der zuvor im Rat des Bezirks Erfurt tätig gewesen war, zwar für Linientreue im Verlag sorgte, aber sich nicht durch literarisches Feingefühl auszeichnete. Laut Eberhard Günther habe Heinz Sachs sehr unter seiner Ablösung gelitten.36 Es mutet daher beinahe etwas tragisch an, dass nur ein Jahr nach seiner Amtsenthebung eine Phase der kulturpolitischen Liberalisierung begann, in der die Affäre um Nachdenken über Christa T. vermutlich einen anderen Verlauf genommen hätte. Um dieser Art Literatur keinen Raum zu geben, waren umstrittene Titel wie dieser durch geringe Auflagenhöhen klein gehalten worden. Im Zuge von Honeckers Zugeständnissen im Rahmen des VIII. Parteitags 1971 wäre es schwierig geworden, dieses Vorgehen gegenüber einer parteitreuen Schriftstellerin zu rechtfertigen. Selbstverständlich gab es weiterhin Zensur sowie Druck- und Auftrittsverbote, von denen aber bis zur Biermann-Affäre vor allem Schriftsteller betroffen waren, die sich als Demokraten sahen und dem bestehenden Sozialismus kritisch gegenüberstanden.37 Nach dem »Kahlschlag«-Plenum und der Affäre um Nachdenken über Christa T. hatte sich gezeigt, dass der Bitterfelder Weg und damit auch der Mitteldeutsche Verlag von der kulturpolitischen bzw. gesellschaftlichen Realität überholt worden waren. Die Krise, die von Wolfs Roman ausgelöst wurde, führte nicht nur zur Entlassung der Verlagsleitung, sondern erschütterte auch das Verhältnis der Autoren zum Verlag. Zeitweise musste der MDV fürchten, viele wichtige Autoren an andere Verlage zu verlieren. Christa Wolf wechselte das Haus dauerhaft und veröffentlichte nicht mehr beim MDV. Man-
32 Vgl. BArch DR 1/16437, Bl. 88: Mitteilung von Bruno Haid an Klaus Gysi über die Abberufung von Heinz Sachs, 1970. 33 Vgl. BArch, DR 1/16437, Bl. 95–97: Meta Borst: Einschätzung über Heinz Sachs, 1970. 34 Interview mit Manfred Jendryschik, geführt von Juliane Bonkowski, 16. August 2017. 35 Vgl. BStU, MfS, BV Halle, AIM 2610/83, IM »Weinert« & BStU, MfS, AIM 13172/65 (Stasi-Akten von Heinz Sachs). 36 Vgl. Günther: Verleger, S. 108. 37 Vgl. Ilse Nagelschmidt: Von der Zeitgenossenschaft zur Zeitzeugenschaft: Christa Wolf in Zeit- und Generationszusammenhängen. In: Hilmes/Nagelschmidt (Hrsg.): Christa Wolf Handbuch, S. 25.
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che Autoren konnten zum Bleiben überredet werden, publizierten aber auch in anderen Verlagshäusern. Doch der Verlag behielt in den folgenden Jahren seine Bedeutung für die DDR-Literatur. Er blieb einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Verlag für Gegenwartsliteratur in der DDR.
Das Intermezzo unter der Leitung von Rudolf Herzog und neue Perspektiven nach dem Amtsantritt von Eberhard Günther Am 3. Mai 1971 trat Ulbricht von seinem Amt als SED-Chef zurück und überließ Honecker die Macht. Obwohl dessen Rolle beim 11. Plenum nicht vergessen war, verbanden Schriftsteller und Künstler mit seinem Machtantritt Hoffnungen auf eine Besserung der kulturpolitischen Lage. Auf einer Tagung des ZK der SED im Dezember 1971 kündigte Honecker eine gewisse Liberalisierung an: Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt: die Fragen dessen, was man die 38 künstlerische Meisterschaft nennt.
Die DDR-Literatur nahm einen spürbaren Aufschwung, in dessen Folge Verlage und Leser in der Bundesrepublik stärker an Literatur aus der DDR interessiert waren.39 Zwischen Honeckers Machtantritt 1971 und der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im Jahr 1976 erschienen mehr als 100 belletristische Werke aus DDR-Verlagen, darunter der MDV, in Lizenz bei westdeutschen Verlagen. Das von Christa Wolf so benannte ästhetische Verfahren der »subjektiven Authentizität« trug Früchte.40 Der neue Verlagsleiter Rudolf Herzog (1921–1984) trat sein Amt im Frühjahr 1970 an. Neue Cheflektorin wurde Helga Duty (geb. 1927), die bisher in der Kulturabteilung der SED-Bezirksleitung Halle tätig gewesen war. Auch wenn Sachs am Ende an Anerkennung und Beliebtheit eingebüßt hatte, wurde der Wechsel zu Herzog innerhalb des Verlags und vor allem unter den Schriftstellern skeptisch aufgenommen. Die Aufgabe, welche die SED der neuen Leitung stellte, war klar: »[…] die Facharbeit [...] machen die Lektoren. Und sie sind die ideologischen Chefs und Aufpasser«,41 umschrieb im Rückblick Manfred Jendryschik deren Rolle. Herzog kündigte zum 25-jährigen Verlagsjubiläum an, dass der Verlag seinen eingeschlagenen Weg fortsetzen werde.42 Doch Herzog verfolgte eine von der Bezirksleitung
38 BArch, DY 30/2081, Bl. 91: Schlusswort des Genossen Erich Honecker auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 16./17. 12. 1971. 39 Zum deutsch-deutschen Literaturaustausch siehe Ulmer: VEB Luchterhand?, bes. S. 40–46. Siehe auch Kapitel 3.3 Ost-West-Kontakte (Konstantin Ulmer) in diesem Band. 40 Vgl. Carmen Ulrich: Bekenntnis zu weiblichen Lebens-, Erfahrungs- und Traditionslinien. Kapitel: Veränderung in der Kulturpolitik der DDR nach 1971. In: Hilmes/Nagelschmidt, (Hrsg.): Christa Wolf Handbuch, S. 103–104. 41 Interview mit Manfred Jendryschik. 42 Vgl. LASA, I 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 13/6. Rudolf Herzog vor Jubiläum. In: Hauszeitschrift des Verlags aspekte 25 (Januar 1971), Umschlaginnenseite.
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Halle vorgegebene, strengere Linie und begegnete den Autoren misstrauisch. Die Statistik konnte sich immerhin sehen lassen. Nach 25 Jahren Verlagsarbeit hatte der MDV 13 Millionen verkaufte Buchexemplare und 607 belletristische Erstauflagen von 310 Schriftstellern vorzuweisen,43 eine beachtliche Leistung für einen Verlag, der ursprünglich auf Behördenblätter ausgerichtet gewesen war. Der Verlag habe diesen Erfolg laut Herzog einzig und allein einer zielstrebigen Kulturpolitik von Partei und Regierung zu verdanken: »Er ist Wahrer und Fortsetzer der Traditionslinien der proletarisch revolutionären Literatur und entwickelt auf dieser Basis die sozialistische deutsche Nationalliteratur.«44 Gleichzeitig forderte er Mitarbeiter und Autoren auf, die Aufgaben, die sich aus dem steigenden Lesebedürfnis der DDR-Bevölkerung ergaben, »mit wachsender Intensität und verstärkter Breite und höherer Qualität« zu lösen. Das große Ziel des Verlages formulierte die Tageszeitung Neues Deutschland: Wenn unsere Genossen und Freunde im Mitteldeutschen Verlag in diesen Tagen ihr Jubiläum feiern, werden sie sicher nicht bei der erfolgreichen Bilanz verweilen. Sie werden, dessen sind wir gewiß, sich die neuen, wachsenden Anforderungen vergegenwärtigen. Sie werden in Vorbereitung des VIII. Parteitages insbesondere überlegen, wie sie »ihren« Schriftstellern in noch stärkerem Maße wirklich produktive, ideologisch streitbare Partner sein können, wie ihr Verlag mehr noch als bisher zu einer geistigen Heimat für die Autoren wird. Geht es doch um neue Werke, die den ganzen Reichtum unseres Lebens in bewegenden und Bewegung 45 bewirkenden Geschichten erfassen. In diesem Sinne: Glückwunsch und Gruß.
Doch so gradlinig ging es mit dem MDV nicht weiter. Vor allem die bekannten Autoren zeigten nach dem Kurswechsel, den die SED nun in Richtung Liberalisierung der Kulturpolitik einschlug, wenig Verständnis für Herzogs starre Haltung und wandten sich mit neuen Manuskripten an andere Verlage. Volker Braun und Christa Wolf, die sicher mehrere Gründe für ihren Wechsel hatte, gingen zum Aufbau-Verlag, Werner Heiduczek zum Verlag Neues Leben. Da diese Abwanderung wichtiger Autoren zu anderen Verlagen nicht abriss und Herzog nicht in der Lage war, sie mit seiner Politik im Verlag zu halten, wurde er relativ schnell mit einer neuen Funktion in Berlin betraut. Am 1. Dezember 1973 meldete Neues Deutschland: Zum Leiter des Mitteldeutschen Verlages Halle ist Dr. Eberhard Günther berufen worden. Der Stellvertreter des Ministers für Kultur Klaus Höpcke führte ihn [...] in einer Belegschaftsversammlung des Verlages in seine neue Tätigkeit ein. Er sprach bei dieser Gelegenheit dem bisherigen Verlagsleiter Rudolf Herzog, der eine andere verantwortungsvolle Funktion 46 übernimmt, den Dank für die von ihm geleistete Arbeit aus.
43 Vgl. Schüler: Der Gegenwart auf der Spur. 44 Dieses und das folgende Zitat: LASA, I 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 13/ 6. Rudolf Herzog vor Jubiläum. In: Hauszeitschrift des Verlags aspekte 25 (Januar 1971), Umschlaginnenseite. 45 Klaus Schüler: Der Gegenwart auf der Spur. 25 Jahre Mitteldeutscher Verlag. In: Neues Deutschland, 14. 5. 1971, S. 4. 46 Neuer Leiter des Mitteldeutschen Verlages. In: Neues Deutschland, 1. 12. 1973, S. 4. Herzogs Biographie ist nicht ausreichend erforscht. Spuren deuten darauf hin, dass er nach einer Tätigkeit im Bereich Kader des ZK der SED Direktor des Kulturfonds der DDR wurde.
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Die Neuregelung der Verlagsleitung war eine der ersten Amtshandlungen von Klaus Höpcke, der den langjährigen Leiter der HV Bruno Haid ablöste. Günther (geb. 1931) war Germanist und hatte über Friedrich Wolf promoviert. Von 1964 bis 1973 gehörte er zu den leitenden Mitarbeitern der HV, brachte also Sachkompetenz und politische Verlässlichkeit für sein neues Amt mit. Um den Ruf des Verlages wiederherzustellen, war sein erstes Ziel, die Beziehungen zu den Schriftstellern zu verbessern, weitere Abwanderungen aus dem Verlag zu verhindern und namhafte Autoren zur Rückkehr in den Verlag zu bewegen. Tatsächlich gelang es ihm, Volker Braun, Günter de Bruyn und Werner Heiduczek von Abwanderungsplänen abzuhalten bzw. sie mit ihren neuen Büchern wieder nach Halle zu holen. Doch sie gehörten zu den Autoren, die fortan auch bei anderen Verlagen publizierten. Diese Entscheidungen halfen deutlich dem Ansehen des Verlags. Günther wollte nach eigener Darstellung für die Autoren ein »engagierter Partner [...] und aktiver Mittler zwischen Kunst und Öffentlichkeit«, außerdem »Mitsuchender [sowie] Partner im Streben nach Wahrheit und künstlerischer Qualität«47 sein. Neben der verfehlten Autorenpolitik setzte der Verlagsleitung und den Schriftstellern der dauerhafte Papiermangel zu, von dem belletristische Verlage besonders betroffen waren. Hier konnte nur auf langfristige Verbesserungen und eine kluge Verwaltung des Mangels gesetzt werden. Die Arbeit in Günthers ersten Jahren verlief positiv, es wurden neue Projekte angestoßen und größere Probleme vorerst vermieden. Mit Günthers Worten: Im Vertrauen auf die 1972 verkündete neue Kulturpolitik arbeiteten wir gemeinsam an der Entwicklung eines Verlagsprogramms, das unseren Vorstellungen von einer lebendigen, viel48 fältigen und im besten Sinne des Wortes bewegenden Literatur entsprechen sollte.
Zahlen und Fakten Nach kontinuierlichem Wachstum in den 1950er und 1960er Jahren49 konnte der MDV ab 1971 seinen Autorenstamm eindrucksvoll ausbauen. Während zu Beginn der 1970er Jahre rund 100 Schriftsteller für den Verlag tätig waren, stieg die Zahl bis zum Ende des Jahrzehnts auf das Eineinhalbfache. Eine ebenso große Steigerung erfuhren die Titelzahlen. 1970 veröffentlichte der Verlag 25 Erstauflagen und 41 Nachauflagen, 1977 waren es bereits 42 und 86 von 120 Autoren.50 Innerhalb der Dekade stellten sich 55 Debütanten dem Publikum vor. Diese neue Generation von Autoren betrachtete »im Unterschied zu manchen älteren Schriftstellern [...] die DDR nicht mehr euphorisch als die Verwirklichung lange gehegter Träume, sondern als eine Realität mit all ihren Wider-
47 Günther: Verleger, S. 121. 48 Günther: Verleger, S. 123. 49 Die erfolgreichsten Titel bis 1976 waren Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz (1958, 40 Auflagen, 970.000 Exemplare), Spur der Steine von Erik Neutsch (1964, 22 Auflagen, 386.000 Ex.) und Der geteilte Himmel von Christa Wolf (1963, 17 Auflagen, 273.000 Ex.). [In: LASA, I 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 4/9, Bl. 7 (1946–1976 Informationsmaterial zur Entwicklung des Verlages).] 50 Vgl. BArch, DR 1/16437, Bl. 199–200: Kulturpolitische Einschätzung des Themenplans 1977.
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sprüchen«.51 Zum 30-jährigen Jubiläum 1976 blickte der Verlag auf rund 700 Einzelveröffentlichungen von etwa 300 Autoren mit einer Gesamtauflage von circa 20 Millionen Exemplaren zurück.52 Mitte der 1970er Jahre verstärkte der Verlag die Arbeit an neuen Editionsformen und Verlagsreihen. Ziel war es, die Autoren durch Eröffnung neuer Arbeitsfelder zu unterstützen und zugleich den sich ändernden Bedürfnissen der Leser gerecht zu werden. So begann der Verlag 1975 mit literarischen Reisebüchern, die in Text und Bild Regionen und Länder erkundeten. Als erstes erschien hier der Band Syrien – Reisen in sieben Vergangenheiten und eine Zukunft von Eduard Claudius. Im gleichen Jahr erschien eine Anthologie, mit der die chilenische Opposition im Kampf gegen die Pinochet-Diktatur unterstützt wurde. Am Solidaritätsband Chile – Gesang und Bericht, dessen Verkaufserlös an das Solidaritätskomitee der DDR überwiesen wurde, beteiligten sich beinahe 200 Schriftsteller und Künstler aus aller Welt. 1976 begann der Verlag mit einer Reihe, die von Jahr zu Jahr das Echo der DDR-Literatur bei der Literaturkritik dokumentierte. Kritik 75 – Rezensionen zur DDR-Literatur und die Folgebände bis zum Ende der DDR wurden ein wichtiges Instrument für die Vertiefung der kritischen Rezeption. 1977 wurde beschlossen, die Arbeit des Verlags im Themenbereich Essay und Kritik auszubauen.53 Im gleichen Jahr eröffnete der Verlag die Reihe Im Querschnitt, deren Bände einen Überblick über das Werk eines Schriftstellers der mittleren Generation boten. 1978 startete der MDV die Reihe Kleine Edition, die neue Prosa, gelegentlich auch Gedichte der Hausautoren vorstellte. Die schmalen Leinenbände im kleinen Format waren mit künstlerisch gestalteten Umschlägen versehen und boten mehrfach auch Platz für Illustrationen zeitgenössischer Buchkünstler. Der erste Band hieß Märkische Forschungen von Günter de Bruyn und war mit Holzstichen von Karl-Georg Hirsch versehen. Die Bemühungen des Verlags um eine künstlerische Ausstattung seiner Bücher trugen Früchte. Während der 1970er Jahre erhielten 15 Titel die Auszeichnung »Schönstes Buch der DDR« sowie 20 die Würdigung »Schönste Schutzumschläge«. 1976 wurde dem Verlag für seine Arbeit außerdem die Wanderfahne des Ministerrates der DDR und des Bundesvorstandes des FDGB verliehen.54 Der Bitterfelder Weg war weitgehend beendet, der Verlag hielt weiterhin an produktiven Beziehungen zu den Autoren fest, veranstaltete beispielsweise Werkstattgespräche zwischen erfahrenen und jungen, neuen Schriftstellern sowie Lesungen und Literaturdiskussionen im Rahmen von Verlagstagen in verschiedenen Betrieben und Kombinaten.55 1974 wurde das Lektorat in einzelne Gruppen untergliedert, die unterschiedliche Aufgaben wahrnahmen. Langjährige und erfahrene Lektoren wie Dr. Martin Reso und Harald Korall arbeiteten mit neuen, wie Ingrid Engler und Roswitha Jendryschik, sowie Außen-
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Günther: Mitteldeutscher Verlag, S. 29–30. LASA, I 129: Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 4/9, Bl. 3. Vgl. BArch, DR 1/16425, Bl. 12–13: Protokoll der Rechenschaftslegung für 1977. LASA, I 129: Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 6/2, Bl. 2. (= Verlagsbiographie bis 1986.) 55 Vgl. Helga Duty: Mitteldeutscher Verlag. In: Von Menschen und Büchern unserer Zeit. Börsenblatt-Umfrage unter den Cheflektoren der belletristischen Verlage. In: Börsenblatt (Leipzig) Jg. 140, Nr. 42 (16. 10. 1973), S. 758.
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lektoren zusammen. Zu ihnen gehörten unter anderen Manfred Jendryschik, Werner Liersch, Klaus Walther und Gerhard Wolf. Ab 1975 intensivierte der Verlag die Beziehungen zu Partnerverlagen in anderen sozialistischen Staaten und auch die geschäftlichen Kontakte zu Partnern in kapitalistischen Ländern, vor allem in der Bundesrepublik. Nachdem 1977 der in Leipzig ansässige Paul List Verlag an den Staat verkauft worden war, übernahm der MDV einen Teil seiner Autoren und eröffnete in dessen alten Geschäftsräumen in Leipzig eine Zweigstelle.56 Im Rahmen der Förderung junger Schriftsteller erschienen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre Erstlingswerke von 35 Debütanten. Zu den gut eingeführten Verlagsreihen, die sich im vorangegangenen Jahrzehnt gebildet und profiliert hatten, kamen weitere hinzu: Die 1983 eröffnete edition aurora widmete sich dem Erbe der proletarisch-revolutionären Literatur, der »antifaschistisch-demokratischen« Literatur der Nachkriegszeit sowie der frühen DDR-Literatur, dazu zählten etwa Bücher von Max Hoelz, Theo Harych und Trude Richter. Ab 1984 publizierte der Verlag die von Eberhard Günther herausgegebene literaturkritische Reihe Positionen. Wortmeldungen zur DDR-Literatur, die in jedem Band Aufsätze, Gespräche sowie Selbstdarstellungen von Schriftstellern enthielt. Es blieb wegen der Änderungen auf dem Markt im Jahr 1990 bei drei Ausgaben. Bei seinen Bemühungen, junge Talente zu fördern, arbeitete der Verlag jahrzehntelang mit dem Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig zusammen. Beide Institutionen vergaben von 1966 bis 1986 46 Mal Förderpreise an Autoren.57 Im Jahr des 40-jährigen Bestehens 1986 publizierte der Verlag 46 Erstauflagen sowie 79 Nachauflagen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt 4.000 Titel, zumeist DDR-Literatur, publiziert, davon etwa 1.250 Ersterscheinungen.58 Die Anzahl der Mitarbeiter des Verlages wuchs im Laufe der Jahre kontinuierlich. Zu Beginn der 1950er Jahre waren 30 Mitarbeiter beschäftigt, darunter drei Lektoren im Bereich Belletristik und drei im Musikbereich.59 1970 arbeiteten 40 Personen im Verlag, darunter 15 Lektoren sowie zusätzlich zehn Außenlektoren.60 1977 umfasste die Belegschaft 57 Mitarbeiter, darunter 23 Lektoren.61 Nur fünf Jahre später sollten es noch einmal 14 Mitarbeiter mehr sein, die Zahl der Lektoren blieb allerdings mit 22 annähernd konstant.62 Im Jahr 1966 erzielte der MDV ein Betriebsergebnis von 783.000 M bei knapp 3,5 Millionen M Umsatz. 1977 war dieser Betrag um mehr als das Doppelte angewachsen: Das Ergebnis lag bei 1.660.000 M Gewinn und fast 7,6 Mio. M Umsatz.63 Mitte der 1980er Jahre gingen die Gewinne zeitweise stark zurück, während die Umsätze
56 Vgl. Günther: Mitteldeutscher Verlag, S. 33. 57 Die folgenden Informationen und das Zitat aus LASA, I 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 6/4, Bl. 136: Presseinformation. 58 LASA, I 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 6/4, Bl. 130: Presseinformation/Festrede durch Eberhard Günther, 22. 5. 1985. 59 Vgl. Lokatis 2007, S. 118. 60 BArch DR 1/16437, Bl. 90–91: Zusammensetzung des Lektorats, 31. 1. 1970. 61 BArch DR 1/16437, Bl. 63 ff.: Volkswirtschaftsplan/Stellenplan Lektorat, 1977. 62 BArch DR 1/6879, Bl. 29: Jahresbericht 1982. 63 LASA, I 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 4/8, Bl. 1: Studie für den Bau eines neuen Verlagsgebäudes des Mitteldeutschen Verlags.
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ähnlich groß blieben. Das Jahr 1988 brachte einen Umsatz von etwa 11,6 Mio. M und einen Gewinn von knapp 1 Mio. M.64 Die großen Schwankungen entstanden dadurch, dass der MDV, wie andere Verlage auch, stark abhängig von der durch die HV zugeteilten Papiermengen war. Außerdem mangelte es an Kapazitäten in der polygrafischen Industrie, weshalb die Produktionszeiten länger und die Termine immer seltener eingehalten wurden.
Die Biermann-Ausbürgerung und die Folgen für den Verlag Bereits vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns gab es innerhalb des Mitteldeutschen Verlags hitzige Debatten um einzelne Bücher, so beispielsweise 1975 zu Karl Mickels Gedichtband Eisenzeit und zu Volker Brauns erst viele Jahre später in der DDR veröffentlichter Unvollendeten Geschichte. Mehrere andere Autoren, darunter Werner Heiduczek, Erich Loest und Günter de Bruyn, arbeiteten an Werken, die sich kritisch mit den bestehenden Verhältnissen im sozialistischen Staat auseinandersetzten. Der Verlag verhielt sich ihnen gegenüber offen und interessiert. Das wurde nicht von allen geschätzt. Der Verlagsautor Erik Neutsch schrieb bspw. einen Brief an Eberhard Günther, in dem er sich über die politisch-ideologische Tendenz mancher Verlagsautoren sowie über fehlende Kenntnisse zu Grundfragen des Marxismus-Leninismus unter den Lektoren beschwerte.65 Der Verlagsleiter war überrascht und reagierte darauf reserviert. Im gleichen Jahr 1975 entbrannte eine scharfe Diskussion um den im MDV erschienenen Roman Die ganz merkwürdigen Sichten und Gesichte des Hans Greifer von Gerhard Dahne, einem früheren Kollegen von Günther, der inzwischen Leiter der Abteilung Belletristik, Kunst- und Musikverlage in der Hauptverwaltung war. Im Roman wurde die eigentlich totgeschwiegene Zensur thematisiert – ausgerechnet von einem leitenden Zensor und noch dazu vor dem IX. Parteitag der SED. Nachauflagen des Buches wurden verboten und Dahne aus der HV entfernt.66 Das waren kleine Affären im Vergleich zur Biermann-Ausbürgerung, doch sie trugen zur Verhärtung der Fronten in den kulturpolitischen Auseinandersetzungen bei. Der MDV war davon ebenso betroffen wie eine ganze Reihe anderer Verlage und Kulturinstitutionen. Auf einer Verlegerberatung im Oktober 1976 forderte Klaus Höpcke »ein entschiedenes Vorgehen gegen Zerrbilder unseres Lebens«. Das Ziel sollte sein, »alle Möglichkeiten des sozialistischen Realismus noch breiter und vielfältiger« zu erschließen.67 Am 16. November 1976 erfolgte dann die Ausbürgerung von Wolf Biermann. In der Folge kam es zu heftigen Angriffen gegen die Autoren, die dagegen protestiert hatten, darunter die Verlagsautoren Volker Braun und Günter de Bruyn sowie die beiden Lektoren Manfred Jendryschik und Gerhard Wolf. Wolf, der zu den Erstunterzeichnern gehörte, wurde im Dezember 1976 aus der SED ausgeschlossen. Jendryschik hatte zusammen mit drei anderen Autoren einen Brief an Honecker geschrieben, in dem sie sich
64 Vgl. BArch DR 1/25174, S. 1/1 (Jahresbilanzen im Vergleich). 65 Zitiert nach Günther: Verleger, S. 128–129. 66 Günther: Verleger, S. 130. Dahne fiel allerdings nicht in ein Loch, sondern wurde Verlagsleiter des Altberliner Verlages. 67 Günther: Verleger, S. 131–132.
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ebenfalls für die Rücknahme der Ausbürgerung aussprachen. Der Verlag wurde von der SED-Bezirksleitung Halle mehrfach aufgefordert, eine Entscheidung gegen die Lektoren zu fällen. Auch Höpcke forderte ein konsequentes Vorgehen gegen die Beteiligten. Doch der Verlag suchte den Kompromiss und verlängerte schließlich die Verträge mit Wolf und Jendryschik.68 Der Verlagsalltag wurde durch die Biermann-Ausbürgerung erheblich beeinträchtig. Der Verlag hatte im eigenen Interesse nicht nur damit zu kämpfen, die Restriktionen gegen die betroffenen Verlagsautoren und Lektoren möglichst klein zu halten, sondern musste auch damit klarkommen, dass die Debatten um die Ausbürgerung die Schriftstellergemeinschaft, vor allem den Kreis der Hausautoren, dauerhaft spaltete. Aus Furcht, dass die Verwerfungen zu groß werden könnten, bemühte sich die Leitung darum, die Zusammenarbeit mit allen Autoren fortzusetzen. So arbeiteten das Lektorat und Eberhard Günther mit Werner Heiduczek und Erich Loest zusammen, von denen neue Romane mit einiger Sprengkraft in Vorbereitung waren und den Verlag in Bedrängnis brachten.
Die Fälle Heiduczek und Loest Obwohl die SED-Führung besonders im Vorfeld des VIII. Schriftstellerkongresses im Mai 1978 keine literarischen Veröffentlichungen haben wollte, die sich kritisch mit der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR auseinandersetzten,69 erschienen genau in dieser Zeit kurz hintereinander Tod am Meer von Werner Heiduczek und Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene von Erich Loest. Eberhard Günther ahnte, dass ihm die Bücher Diskussionen bescheren würden. Doch besonders von Heiduczeks Roman war er überzeugt: »Die künstlerische Idee des Romans, ihre Umsetzung in Fabel und geistige Physiognomie der handelnden Figuren und nicht zuletzt die Sprache Heiduczeks bildeten für mich eine überzeugende Einheit.«70 Wider Erwarten waren die Druckgenehmigungen schnell und ohne Zwischenfälle erteilt worden. Der damalige Minister für Kultur, Hans-Joachim Hoffmann, berichtete im Nachhinein, dass unter den Zensoren Einigkeit über gestalterische und ideologische Schwächen geherrscht habe.71 Während sich das Buch im Druck befand, hatte Klaus Höpcke Änderungswünsche angemeldet, doch eine Überarbeitung war nun schlecht möglich. Im Dezember 1977 wurde die erste Auflage an den Buchhandel ausgeliefert und war nach drei Monaten vergriffen.72 Dann erst kam es zu massiven Einwänden gegen das Buch, nicht von SED-Parteifunktionären, sondern von unerwarteter Seite. Der sowjetische Botschafter in der DDR, Pjotr Abrassimow, meldete zusammen mit dem bulgarischen Botschafter offiziell Einspruch gegen das Buch an, vor allem wegen einer Szene, in der die Vergewaltigung einer deutschen Frau durch sowjetische Soldaten geschildert wurde und Episoden, die am Schwarzen
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Günther: Verleger, S. 135–136. Vgl. Günther: Mitteldeutscher Verlag, S. 33–34. Günther: Verleger, S. 140. Vgl. BArch, DR 1/19710: Hans-Joachim Hoffmann zur Erteilung der Druckgenehmigung für Werner Heiduczeks Roman »Tod am Meer«, 26. 6. 1978. 72 Zur Zensurgeschichte siehe Heiduczek: Die Schatten meiner Toten, S. 275–302; Günther: Verleger, S. 152; Wurm: Nachwort.
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Meer spielten.73 Durch das Buch sah man die Freundschaft zur UdSSR und Bulgarien gefährdet. Auch Erich Loests Roman Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene stieß auf viel Kritik und zog endlose Auseinandersetzungen nach sich.74 Bereits 1974 erhielt der Verlag ein Exposé, auf dessen Grundlage dem Autor ein sechsmonatiges Förderstipendium erteilt wurde. Als das Manuskript vorlag, wurde von einigen Verlagsmitarbeitern die Ansicht vertreten, dass Loests Hauptfigur eine »sozialistische Vorbildfunktion«75 vermissen lasse. Günther wollte das Buch dennoch veröffentlichen, verlangte aber von Loest eine vollkommene Überarbeitung des Manuskripts, sowohl in ästhetischer als auch in ideologischer Hinsicht. Doch der Autor wehrte ab und gestand letztlich nur kleine Änderungen zu. Etwa zeitgleich mit Tod am Meer wurde das Manuskript zur Druckgenehmigung eingereicht und ebenfalls abgesegnet. Es erschien im Frühjahr 1978. Die Folgen für die Autoren sowie für die Verlagsleitung des MDV ließen noch einige Monate auf sich warten. Während der Verlag hoffte, nicht zu großes Aufsehen zu erregen, ging Loest in die Offensive. Deutschlandradio brachte eine Lesung von ihm, in der er brisante Stelle vortrug und von der Redaktion vorab bekanntgegeben wurde, dass das Buch demnächst auch in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart erscheinen werde. Nachdem die Kritik an Heiduczeks Roman noch nicht verarbeitet war, geriet nun auch Loests Roman ins Visier der SED-Parteiführung. Nicht die Werke allein wurden zum Problem gemacht, sondern vielmehr die Verlagslinie unter Günthers Leitung schlechthin sowie seine Auffassungen über Kunst und Wirklichkeit. Ende Mai 1978 musste der MDV daraufhin einige Werke aus seinem Editionsplan streichen, darunter auch die geplanten Nachauflagen von Heiduczek und Loest. Änderungen, nach denen die Bücher hätten weiter verlegt werden können, lehnten beide Schriftsteller ab. Gegen den Verlagsleiter wurden nach monatelangen Diskussionen, Vorwürfen und Rechtfertigungen disziplinarische Maßnahmen verhängt, unter anderem wegen Falschinformationen an die HV, politischer Sorglosigkeit, eines »übersteigerte[n] Ehrgeiz[es], Selbstüberschätzung und eine[s] zum Teil autoritären Leitungsstil[s]«.76 Nach einem Parteiverfahren erhielt Günther eine Rüge, die Cheflektorin Helga Duty und der Parteisekretär Jochen Hottas eine Verwarnung. Dennoch erschien wenige Monate später von Loests Roman eine 2. Auflage, allerdings im Greifenverlag zu Rudolstadt, während von Heiduczeks Buch regulär eine 2. und 3. Auflage im Mitteldeutschen Verlag ausgeliefert wurden. Die Autoren hatten sich ein Stück weit durchgesetzt.
Der Verlag am Ende der DDR 1986 beging der MDV sein 40-jähriges Gründungsjubiläum. Jahrzehnte voller Höhen und Tiefen lagen hinter ihm. Das Ende der DDR näherte sich, was zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen konnte. Die Ziele des Verlags, über die Eberhard Günther in einem
73 Vgl. Eger: »Tod am Meer« machte ihn berühmt. 74 Die Informationen zur Zensurgeschichte sind entnommen: Loest: Der vierte Zensor, Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 144–146, und Günther: Verleger, S. 138–167. 75 Löffler: Buch und Lesen in der DDR, S. 144. 76 Vgl. Günther: Verleger, S. 167.
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Beitrag für das Börsenblatt schrieb, unterschieden sich nach beinahe einem halben Jahrhundert gar nicht so sehr von denen, die man zu früheren runden Geburtstagen verkündet hatte. Günther betonte, dass in den 1980er Jahren die Ästhetik eine tragende Rolle im Literaturverständnis der DDR und der Einsatz für den Frieden weiterhin eine wichtige Rolle spielten. Trotz manchen Zweifeln am DDR-System, die Günther laut seiner Autobiographie in dieser Zeit schon gehegt haben will, bekannte er sich im Börsenblatt uneingeschränkt zum sozialistischen Staat. Literatur und Gesellschaft bräuchten Autoren, die sich in ihren Werken den wichtigen Themen des Lebens annahmen und »sich mit heißem Herzen und mit ihrem ganzen Talent für dieses Leben einsetzen«. In den vergangenen fünf Jahren waren jährlich etwa 50 neue Titel von namhaften Autoren und Nachwuchsschriftstellern erschienen. Das besondere verlegerische Interesse gelte auch in der kommenden Zeit der literarischen Darstellung von Menschen aus der Arbeiterklasse. Wichtigstes Prinzip der verlegerischen Arbeit sei es, immer wieder etwas Neues auszuprobieren. In seiner Festansprache zum Jubiläum formulierte Günther: Uns alle vereint die Liebe zur Literatur und zum Buch. Wir alle streben danach, daß Literatur und Kunst immer mehr zur Sache aller Menschen unseres Landes werden. Wir wünschen, daß unsere Literatur sich noch erfolgreicher mit der Kraft ihres ästhetischen Wesens für Frieden und Fortschritt in der Welt, für die Festigung und Vervollkommnung unserer sozialistischen Gesellschaft einsetzt, daß sie den Humanismus und die historischen Vorzüge des Sozialismus befördert und verteidigt und so auf ihre spezifische Weise als gesellschaftliche 77 Produktivkraft wirkt.
Tatsächlich setzte sich Eberhard Günther, der am Ende der DDR zu deren bekanntesten Verlegern zählte, in vielen Fällen für seine Autoren und Lektoren ein. Häufig ging er Risiken ein. Manches schwierige Manuskript wäre ohne ihn vermutlich erst nach 1990 aus der Versenkung aufgetaucht oder nur in einem bundesdeutschen Verlag publiziert worden. Doch dieser Einsatz für die Literatur war verknüpft mit einer jahrelangen Tätigkeit von Günther als Inoffizieller Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit und der Weitergabe von Informationen an diese Überwachungsbehörde. Laut seiner Stasi-Akte trug er den Decknamen »Richard«.78 Mehrere Autoren hatten nicht erst seit der Bekanntgabe dieser geheimen Verpflichtungen ein gespaltenes Verhältnis ihm gegenüber, wenn sie ihn nicht scharf ablehnten. Erich Loest griff Günther bald nach seiner Ausreise in Westen in seiner Dokumentation Der vierte Zensor (1984) an. In der erweiterten Fassung von 2003 heißt es: »Ihm [Günther] war die Treue zur Partei eingeimpft worden, er fühlte sich eingespannt in ihr Gefüge von Macht und Verantwortung.«79 Günter de Bruyn und Werner Heiduczek nutzten dazu ihre nach der deutschen Einheit erschienenen Autobiographien.80 Auch
77 LASA, I 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 6/4, Bl. 115: Eröffnung der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag des MDV, Eberhard Günther am 22. 5. 1986 im Stadthaus Halle. 78 Vgl. BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. XV 1778/70, IMB »Richard«: Stasi-Akte von Eberhard Günther. 79 Loest: Der vierte Zensor (2003), S. 84. 80 De Bruyn: Vierzig Jahre, S. 242–254. Heiduczek: Die Schatten meiner Toten, S. 272–310.
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Abb. 4: Ursula Ragwitz (Leiterin der Abteilung Kultur des ZK der SED), Kurt Hager (SED-Politbüromitglied) und Eberhard Günther (Verlagsleiter des Mitteldeutschen Verlages) auf der Leipziger Messe 1989. Foto: Siegfried Müller.
Peter Gosse und Manfred Jendryschik urteilten distanziert.81 Eberhard Günthers Freund Gerhard Dahne schrieb dagegen: »Wohl war Günther äußerlich der dogmatischen Parteilinie verpflichtet, aber doch mit Gespür für literarische Qualität versehen, was ihm einige Konflikte mit der Partei einbrachte.«82
Der Mitteldeutsche Verlag nach der deutschen Einheit Allen Erfolgsmeldungen zum Trotz stand der MDV schon vor dem Ende der DDR vor großen Schwierigkeiten. Der Mangel an materiellen sowie technischen Kapazitäten wuchs mit jedem Jahr an. Der Absatz wurde immer schwieriger.83 Die vielen Debütanten, die große Anzahl an Lyrik- und Essay-Bänden sowie die Nachauflagen von prominenten, aber nicht mehr gefragten älteren Autoren konnte nicht mehr in jedem Fall abgesetzt werden. Die Bestände bei LKG wuchsen bedrohlich. Nicht nur die wirtschaftliche Lage des MDV verschlechterte sich, sondern die der ganzen DDR-Buchbranche. Vor allem spitzte sich die politische Krise zu.84 Unter Autoren und Verlagsmitarbeitern
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Interviews mit Gosse und Jendryschik, jeweils geführt am 16. August 2017. E-Mail von Gerhard Dahne an Juliane Bonkowski, 16. 7. 2019. Vgl. Günther: Mitteldeutscher Verlag, S. 40. Vgl. Wolle: Die heile Welt der Diktatur, S. 51–52.
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fand Gorbatschows Reformpolitik große Zustimmung. Hoffnung machte die weitgehende Abschaffung des Druckgenehmigungsverfahren, das auf dem XI. Schriftstellerkongress 1987 erstmals auf offener Bühne von Christoph Hein und dem MDV-Autor Günter de Bruyn als Zensur attackiert wurde. Gänzlich abgeschafft wurde die Zensur jedoch erst nach der Friedlichen Revolution,85 nach der das gesamte DDR-Buchwesen vor drastischen Reformen stand. Am 2. April 1990 erfuhr die Öffentlichkeit, dass der MDV wie viele andere Verlage Eigentum der SED war und die SED-PDS ihn rückwirkend zum 1. Januar in Volkseigentum überführen werde.86 Wenig später unterstand er der Treuhandanstalt und bereitete sich auf die Wirtschafts- und Währungsunion vor. Der Verlag musste sich in mehreren Wellen von zahlreichen Mitarbeitern trennen, bis Ende 1990 zunächst von 44. Die Außenredaktionen in Leipzig und Berlin wurden geschlossen. Der Verlag wurde nach dem sogenannten Management Buy-out privatisiert und von Eberhard Günther sowie zwei externen Partnern fortgeführt. Das Profil des Verlags verschob sich deutlich: Belletristik spielte nun eine geringe Rolle, stattdessen baute der Verlag ein völlig neues Programm an Regional- und Sachbuchliteratur auf. Da die Umsätze in den ersten Jahren nach der Privatisierung nicht den Erwartungen entsprachen und die Kredite für den Kauf drückten, musste der Verlag Ende 1996 Insolvenz anmelden. Unter Beteiligung von Eberhard Günther, der sich bereits im Ruhestand befand, gründete sich eine neue Gesellschaft, die 1997 vom Konkursverwalter den Firmennamen, Rechte und die Buchbestände des Verlags erwarb und schuldenfrei einen Neuaufbau starten konnte.87 Trotz weiterer Krisen, zuletzt im Corona-Jahr 2020,88 existiert der Verlag bis heute, wenn auch wesentlich kleiner als in den ersten 45 Jahren seines Bestehens. Sein Programm besteht aus Reise-, Kunst- und Sachliteratur und wieder verstärkt Belletristik. 2021 feierte der MDV, in dem seit Gründung mehr als 3.000 Titel von rund 1.000 Autoren erschienen sind, sein 75-jähriges Jubiläum.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Bundesarchiv Berlin (BArch) DR 1/6879, DR 1/16425, DR 1/16437, DR 1/19710, DR 1/25174 DY 30/2067, DY 30/2081
85 Siegfried Lokatis: Die Hauptverwaltung des Leselandes; Dietrich Löffler: Literarische Zensur. In: Franzmann et al. (Hrsg.): Handbuch Lesen, S. 349 und Kapitel 3.4.1 Die staatliche Literaturbehörde (Siegfried Lokatis) in diesem Band. 86 Vgl. zur Privatisierung und die Entwicklung danach Links 2016, S. 228. 87 Geschichte des Mitteldeutschen Verlags (online). 88 Espelt: Mitteldeutscher Verlag aus Halle bangt wegen Corona um die Zukunft, 29. 4. 2020. In: https://dubisthalle.de/mitteldeutscher-verlag-aus-halle-bangt-wegen... [Abgerufen am 15. 9. 2021].
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Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Standort Leipzig BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. XV 1778/70, IMB »Richard« BStU, MfS, BV Halle, AIM 2610/83, IM »Weinert« BStU, MfS, AIM 13172/65, IM »Weinert« Landesarchiv LASA, I LASA, I LASA, I LASA, I LASA, I LASA, I
Sachsen-Anhalt (LASA), Standort Magdeburg 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 4/1 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 4/8 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 4/9 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 6/2 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 6/4 129 Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), Nr. 13/6
Gedruckte Quellen BERGER, Manfred et al. (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Berlin: Dietz Verlag 1978. BIERMANN, Wolf: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie. Berlin: Ullstein 2016. DE BRUYN, Günter: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2002. GÜNTHER, Eberhard (Hrsg.): Positionen 1. Wortmeldungen zur DDR-Literatur. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1984. GÜNTHER, Eberhard: Mitteldeutscher Verlag 1946–2006. Verlagsgeschichte und Gesamtkatalog. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2006. GÜNTHER, Eberhard: Verleger – Mehr als ein Beruf. Erinnerungen. Halle: Projekte-Verlag Cornelius 2009. HAGER, Kurt: Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. 6. Tagung des ZK der SED, 6./7. Juli 1972. Berlin: Dietz Verlag 1972. HEIDUCZEK, Werner: Die Schatten meiner Toten. Eine Autobiographie. Leipzig: Faber & Faber 2005. KORALL, Harald (Hrsg.): Literatur 71 Almanach. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1971. LOEST, Erich: Der vierte Zensor. Köln: Deutschland-Archiv 1984. LOEST, Erich: Der vierte Zensor. Der Roman »Es geht seinen Gang« und die Dunkelmänner. Stuttgart: Hohenheim-Verlag / Leipzig: Linden-Verlag 2003.
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Carsten Wurm 5.3.1.7 Der Greifenverlag zu Rudolstadt Der Greifenverlag zu Rudolstadt konnte auf eine kurze, aber bewegte Geschichte im Zusammenhang mit der Jugendbewegung in der Weimarer Republik zurückblicken, als er 1945 neu gegründet wurde. Er gehörte zu den wenigen privaten Verlagen, die von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) lizenziert wurden und die Verstaatlichungswellen der Nachkriegs- und frühen DDR-Zeit überstanden. Im Unterschied zu führenden, deutschlandweit bekannten Verlagen, auf die die Planwirtschaft aus volkswirtschaftlichen Gründen nicht verzichten wollte, verdankte der Greifenverlag seine Sonderstellung vor allem dem Namen des Verlagsinhabers Karl Dietz, der bei der Gründung des führenden parteieigenen Dietz Verlages gebraucht wurde. Dietz wusste die Situation zu nutzen und den Greifenverlag zu einem erfolgreichen, regional bedeutsamen belletristischen Verlag auszubauen, der bei der Wiedereinführung der in der NS-Zeit verbotenen und verbrannten Literatur wichtige Akzente setzte. Später kamen Sexualaufklärungsbücher sowie Regional- und Kriminalliteratur als Programmzweige hinzu. Nach dem Tod von Karl Dietz 1965 wurde der Verlag verstaatlicht und anschließend erheblich ausgebaut. Programmschwerpunkte waren Unterhaltungsliteratur, DDR-Literatur, Regionalliteratur und in geringem Maße ›Erbeliteratur‹. Nach der Verlegung des Hauptsitzes des Gustav Kiepenheuer Verlages 1977 nach Leipzig avancierte der Greifenverlag zum wichtigsten belletristischen Verlag Thüringens.
Zur Frühgeschichte Gegründet wurde der Greifenverlag 1919 im sächsischen Hartenstein von zwei Vereinen der Wandervogelbewegung, dem Wandervogel e.V. und dem Alt-Wandervogel. In der kleinen Stadt versuchten nach dem Ersten Weltkrieg einige führende Köpfe des Wandervogels eine Zentrale für die Jugendbewegung zu schaffen, zu der neben verschiedenen Handelseinrichtungen für Wanderkarten, Musikinstrumenten und Fotobedarf sowie Kunsthandwerkern ein Verlag gehörte.1 Entscheidender Mann war schon in der Gründungszeit der ausgebildete Buchhändler Karl Dietz (1890–1964), der Geschäftsführer und dann nach verschiedenen finanziellen Krisen Ende der 1920er Jahre auch Hauptgesellschafter der GmbH wurde. Dietz verlegte den Firmensitz 1921 nach Rudolstadt in Thüringen, wo er erst in der Stadt, dann im Schlossbezirk Räumlichkeiten anmietete. Bei der Neugründung 1945 konnte er in das Schloss selbst einziehen, bis 1920 Sitz der Fürsten Schwarzburg-Rudolstadt, auf einem Felsmassiv hoch über der Stadt gebaut. Das Leben in einer historisch gewachsenen Residenzstadt entsprach dem Geist des Wandervogels, der die Großstadt mit ihren Zivilisationskrankheiten ablehnte. Ziel des Greifenverlages war die Versorgung der Jugendbewegung mit geistigem Rüstzeug, vor allem mit Broschüren, Heften und Zeitschriften, die die Jugendlichen beim Wanderleben unterstützten und mit den verschiedenen Aspekten der Lebensreform bekannt machten. Außerhalb der Jugendbewegung stießen diese Schriften kaum auf
1 Günther: Aufstieg und Fall der Bundeskanzlei Hartenstein. https://doi.org/10.1515/9783110471229-027
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Interesse, zumal sich auf dem begrenzten Geschäftsfeld mehrere andere jugendbewegte Verlage tummelten.2 Deshalb versuchte Dietz das Programm in mehreren Anläufen zu erweitern. So begann er mit Belletristik, zunächst mit Büchern von der Autorengruppe »Werkleute auf Haus Nyland«, darunter Josef Winckler und Paul Zech, dann mit den Autoren vom »Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« Johannes R. Becher und Karl Grünberg. Geschäftlich erfolgreicher war Dietz mit den sexualaufklärerischen Büchern des Berliner Arztes Max Hodann, der der KPD nahestand und neben Magnus Hirschfeld einer der bekanntesten Sexualwissenschaftler der Zeit war. Hodann und Dietz gerieten in Rudolstadt vor Gericht, weil ein Staatsanwalt Hodanns Schriften für jugendgefährdend hielt und gerichtlich verfolgte. Eine Solidaraktion linker und liberaler Intellektueller in der Presse machten Dietz und den Greifenverlag erstmals in einer größeren Öffentlichkeit bekannt.3 Zeugnis dessen ist die von Dietz verlegte Schrift Unzucht! Unzucht! Herr Staatsanwalt (1928), in der Hodann und Dietz sowie verschiedene Unterstützer, darunter Erich Weinert, ihre Meinung kundtaten. Zumindest in linken Kreisen wahrgenommen wurden andere Prozesse vor dem Schiedsgericht des Börsenvereins, die Hodann und Becher wegen ausstehender Honorare gegen Dietz führten.4 Auch verschiedenen grafischen Firmen schuldete der Greifenverlag hohe Summen, sodass Dietz 1929 die Geschäfte einstellen und die Geschäftsführung 1930 seiner Frau übergeben musste. Formal blieb die Firma bestehen und wurde im Handelsregister endgültig erst 1963 gelöscht,5 nachdem der neue Greifenverlag bereits viele Jahre aktiv war. Neben dem Greifenverlag betrieb Dietz ab Anfang der 1920er Jahre sporadisch zwei weitere Unternehmen: den Melchior Kupferschmid Verlag, ein reines Vertriebsunternehmen zum Versand von Büchern der Freikörperkulturbewegung, sowie den Verlag »Gesundes Lebens«, mit dessen Programm er in gefährliche Nähe zum völkischen und nationalsozialistischen Ungeist geriet.6 Der Weg, den Dietz während der nationalsozialistischen Ära einschlug, war zwiespältig. Er stand privat unter starkem wirtschaftlichem Druck, war aus diesem Grund an einem Platz im nationalsozialistischen System interessiert, einschließlich Mitgliedschaft in der NSDAP, wurde jedoch auf Grund des linken Programms in der Endzeit des Greifenverlages und des Vertriebs von Büchern mit »Nacktfotos« im Melchior Kupferschmid Verlag von den führenden Nationalsozialisten in Rudolstadt heftig bekämpft.7 1934 versuchte der NSDAP-Kreisleiter, den ›Kulturbolschewisten‹ Dietz in ein Konzentrationslager einweisen zu lassen.8 Dietz wehrte sich energisch und anhaltend und
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Ulbricht: Bücher für die »Kinder der neuen Zeit«. Bergmann: »Deutschland ist eine Republik […]«. Wurm/Henkel/Ballon: Der Greifenverlag, S. 38, 95–96. Amtsgericht Gera, Handelsregisterakte Greifenverlag und Greifenbuchhandlung GmbH. Dort ist vermerkt am 27. 8. 1951, dass Ilse Dietz als Geschäftsführerin mit der Löschung der Firma einverstanden ist: Die Löschung erfolgte am 6. 11. 1963. 6 Henkel: Der Verlag »Gesundes Leben«. 7 BArch, Bestand BDC, PK Karl Dietz: Gundermann, Vorsitzender des Gaugerichts Thüringen der NSDAP: Beschluß über die Ablehnung des Aufnahmegesuches des VG. Dietz in die NSDAP, 22. 10. 1937. 8 Kreisleiter der NSDAP Rudolstadt/Otto Schäfer an den Oberbürgermeister von Rudolstadt/ Schrader, 23. 5. 1934. In: Wurm/Henkel/Ballon: Der Greifenverlag, S. 60.
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konnte 1941 sogar den im Amt folgenden Kreisleiter stürzen.9 Seinen Lebensunterhalt verdiente Dietz in den 1930er Jahren bei der »Gesellschaft für wissenschaftliche Pendelforschung«, deren Drucke Dietz bis zum Verbot des Vereins herstellte und vertrieb, und mit dem Verkauf von Anstecknadeln, darunter militärische und Hoheitszeichen.10 Zu den problematischen Aktivitäten von Dietz gehörten der Druck von Postkarten mit Sprüchen von Hindenburg und Hitler, die 1933 mit Verlagsangabe Greifenverlag erschienen, sowie 1934 der Beitritt zur SS als »Förderndes Mitglied«.11 Diese Vorgeschichte ist insofern wichtig, als Karl Dietz nach 1945, besonders in seinem Almanach Der rote Greif (1946), den Eindruck erweckte, dass der Greifenverlag 1933 verboten worden war. Vermutlich auf Grund dieser erfolgreichen Legendenbildung konnte Dietz bereits 1945 mit der Verlagsarbeit beginnen, als andere Verleger noch lange auf den Abschluss ihrer politischen Überprüfung und die Wiederzulassung warten mussten.
Der Neustart nach 1945 Die Neugründung des Greifenverlages erfolgte erstaunlich schnell. Auf Grund seines Alters vom aktiven Wehrdienst befreit, hatte Karl Dietz die letzten Kriegsmonate Dienst in einem Lazarett nahe Rudolstadt getan, war in amerikanische Gefangenschaft geraten und bereits im Mai 1945 wieder entlassen worden.12 In Rudolstadt wie in ganz Thüringen übten bis zum 3. Juli 1945 die Amerikaner das Besatzungsregime aus. In dieser kurzen Zeit wusste Dietz bereits sein erstes Buch im Greifenverlag, Tour of Rudolstadt in Germany, zu veröffentlichen, ein sauber gedruckter, mit acht Fotos illustrierter Stadtführer in englischer Sprache für die Rudolstädter Besatzungstruppe. Eine erstaunliche Leistung, musste doch der Text nicht nur geschrieben, sondern auch übersetzt werden. Es dürfte eines der ersten Bücher überhaupt in Deutschland nach dem Krieg gewesen sein. Publiziert wurde es offenbar mit Sondererlaubnis der amerikanischen Besatzbehörde. Nach deren Abzug gelang es Dietz, sich ebenso schnell mit der sowjetischen Kommandantur zu arrangieren. Zum Jahresende lagen drei weitere Bücher vor, zwei Hefte Deutsch-Russischer Sprachführer und Tägliches Russisch sowie ein Fahrplan für Rudolstadt. Ein Kunst-Heft zum Werk des Thüringer Künstlers Walther Klemm, ein Greifenkalender 1946 sowie ein Almanach auf das Jahr 1946 Das Greifenbüchlein sind vermutlich in den ersten Monaten des Jahres 1946 ausgeliefert worden sein. Mit Erscheinungsjahr 1945 weist die Verlagsbibliographie sechs Titel aus, mit dem Jahr 1946 dreizehn.13
9 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Thüringische Staatsanwaltschaft, Nr. 517: Gericht des XXIII. Armeekorps an Gericht der Division Nr. 179 in Weimar, 21. 8. 1941. 10 Amtsgericht Gera, Handelsgerichtsakte Melchior Kupferschmid-Verlag: Briefe der Südthüringischen Industrie- und Handelskammer in Sonneberg an das Amtsgericht Rudolstadt, 3. 8. 1940 und 25. 11. 1942; Auskunft von Roswitha Wächter. 11 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Thüringische Staatsanwaltschaft, Nr. 517: Bescheinigung des Führers der 11/47. SS-Standarte Voigt, 14. 12. 1938. 12 AdK, Karl-Dietz-Archiv, o. Nr.: Karl Dietz: Kurzer Lebenslauf, o. D. 13 Jens Henkel/Gabriele Ballon: Verlagsbibliographie. 1919–1993. In Wurm/Henkel/Ballon: Der Greifenverlag, S. 370.
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Neben der Bevorzugung durch die Besatzungsmacht dürfte die von der Thüringischen Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen großzügig gehandhabte Genehmigung von einzelnen Titeln eine Rolle gespielt haben.14 Bei der Erteilung der Verlagslizenz erhielt Dietz von Erich Weinert Hilfe, der als Vorsitzender des Kulturellen Beirates alle Lizenzanträge prüfte und der Sowjetischen Militärverwaltung zur Annahme oder Ablehnung empfahl. Dietz hatte sich im Oktober 1946 bei Weinert in Berlin eingefunden und ihn dort an das Buch Unzucht! Unzucht! Herr Staatsanwalt! von 1928 erinnert, das ein Spottgedicht von Weinert enthielt – für Weinert eine Erinnerung an seine beste Schaffenszeit und zugleich ein gutes Leumundszeugnis für Karl Dietz. »[…] aus Berlin zurückgekehrt, ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen für das objektive und wohltuend unbürokratische Verständnis zu danken, das ich in meiner Sache bei Ihnen gefunden habe. Ich bin überzeugt, dass sich nun die Angelegenheit der Lizenzierung des Greifenverlages endlich in einem positiven Sinne vorwärts bewegt«,15 schrieb Dietz an Weinert. Dank dessen Fürsprache16 erhielt der Greifenverlag am 12. Dezember 1946 die Lizenz Nr. 116 der SMAD.17 Der ebenso einflussreiche Präsident des Kulturbundes, Johannes R. Becher, dagegen verweigerte Karl Dietz jede Hilfe, erlaubte ihm anfangs selbst den Nachdruck von Texten in den verlagseigenen Anthologien und Kalendern nicht, weil er sich an die einstigen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Dietz erinnerte.18 Während Dietz in der nationalsozialistischen Zeit in seiner Heimatstadt isoliert gewesen war, verstand er es in der Nachkriegszeit, schnell einen Platz in allen möglichen Gremien und Ausschüssen einzunehmen. Die Arbeit beanspruchte Zeit, kam letztlich aber seiner Verlagstätigkeit zu Gute. Er war anfangs Mitglied der LDP und Vorsitzender des »Antifaschistisch-demokratischen Blocks« in Rudolstadt, wechselte dann 1946 zur SED und wurde als deren Vertreter zeitweise 1. Vorsitzender des Kreisrates. Er saß im Vorstand der Kreissparkasse, was für die Finanzierung der Verlagsproduktion vorteilhaft war, und er trat als persönlich haftender Gesellschafter in die Leitung der Buchdruckerei F. Mitzlaff ein, einer führenden thüringischen Druckerei mit Sitz in Rudolstadt.19 Geradezu als Coup erwies sich jedoch seine Funktion als Gründungsgesellschafter und Namensgeber der Dietz Verlags GmbH.20 Nach der Vereinigung von KPD und SPD zur SED hatte der neue Parteivorstand die Verlage Neuer Weg und Vorwärts zusammengelegt und als Namen für die Firma J. H. W. Dietz vorgesehen. Dagegen erhob der Parteivorstand der SPD unter Kurt Schumacher beim Handelsregister in Berlin erfolgreich Einspruch. Die SED beanspruchte mit der Namensgebung, Nachfolgerin der besten Traditionen der SPD zu sein. Deshalb hielt sie an der Namensgebung fest und suchte nach einem Ausweg, der auch außerhalb ihres Machtbereiches rechtlich galt. Karl Dietz war auf Grund seines Namens und seiner Tätigkeit im Verlagswesen die Lösung. Ein Vertre-
14 15 16 17 18 19 20
Jütte: Verlagslizenzierungen, S. 198–202. LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 49: Dietz an Weinert, 16. 10. 1946. LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 49: Weinert an Dietz, 28. 11. 1946. Abgedruckt in: Wurm/Henkel/Ballon: Der Greifenverlag, S. 87. AdK, Johannes-R. Becher-Archiv, Nr. 8108: Becher an den Greifenverlag, 22. 7. 1946. AdK, Karl-Dietz-Archiv, o.Nr.: Karl Dietz: Kurzer Lebenslauf, o. D. Zum Folgenden vgl. Heidermann: Zur Nachkriegsgeschichte des Verlags J. H. W. Dietz Nachf.; siehe auch Kapitel 5.3.6.1 Dietz Verlag (Siegfried Lokatis) in Bd. 5/2.
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Abb. 1: Karl Dietz, 1959. Foto: Lösche, Rudolstadt.
ter der SED-eigenen Zentrag und Karl Dietz gründete am 19. August 1947 eine neue GmbH,21 die dann im noch für die ganze Stadt gültigen Handelsregister in Berlin eingetragen werden konnte, weil jedem Geschäftsinhaber nach Handelsrecht freisteht, seiner Firma den eigenen Namen zu geben.22 Dietz genoss von da an eine gewisse Sonderstellung im Verlagssystem der DDR, musste nicht wie andere Privatverleger um seine Lizenz bangen und sich auch nicht vor einer Enteignung fürchten. Doch die übrigen Einschränkungen wie die Zensur und die Papierkontingentierung blieben dem Greifenverlag ebenso wenig erspart wie allen anderen Verlagen.
Zum Programm unter der Leitung von Karl Dietz Trotz des problematischen Weges, den Dietz politisch ging, hatte sein Verlag nach 1945 ein überzeugendes Programm, dessen Konturen klar zu erkennen waren. Erfolgreich war
21 Abgedruckt in: Wurm/Henkel/Ballon: Der Greifenverlag, S. 87. Siehe auch den Bericht: Verleger-Tagung am 19. Dezember 1946 in Berlin. In: Börsenblatt (Leipzig) 144 (1947) 2 (25. 1.), S. 1. 22 Lokatis: Dietz, S. 325.
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der Greifenverlag vor allem im Bereich Belletristik, mit deutlichem Akzent auf der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Wie andere Verlage auch bemühte sich Dietz darum, die von den Nazis verbotenen und vertriebenen Autoren wieder zugänglich zu machen. Bücher von Jakob Wassermann, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Karl Grünberg und Friedrich Wolf zeugen von diesem Bemühen, später kamen Paul Zech und Josef Winckler hinzu, die Dietz bereits in den 1920er Jahren verlegt hatte, sowie Ernst Sommer und Oskar Maria Graf. Die engste und fruchtbarste Verbindung stellte Dietz jedoch zu Lion Feuchtwanger her, für den der Greifenverlag zeitweise zum wichtigsten Verlag in Deutschland wurde. Der in Santa Monica (Kalifornien) lebende, weltbekannte Autor schätzte an dem Rudolstädter Verlag im Vergleich zum Aufbau-Verlag, der in den 1940er und 1950er Jahren ebenfalls Feuchtwanger verlegte, dass der Greifenverlag von einer Verlegerpersönlichkeit und nicht von einem angestellten Geschäftsführer geleitet wurde.23 Bei der Vermittlung von Kontakten mit Emigranten half der Literaturkritiker und Erzähler Alfred Kantorowicz, der zwar selbst einen Verlag besaß, doch nebenher für andere Firmen arbeitete. Von ihm druckte der Greifenverlag ein Buch aus dem Spanischen Bürgerkrieg (Tschapaiew, 1948) sowie die von ihm herausgegebenen Festschriften zu Ehren von Friedrich Wolf und Lion Feuchtwanger. Wichtig waren auch einige vom Greifenverlag publizierte Erlebnisberichte, die von den Zuständen im Konzentrationslager (Karl Barthel), von Verfolgungen durch die NS-Justiz (Irmgard Litten) und den schweren Jahren im Exil (Doris Daubner) erzählten. Ein zweiter Programmschwerpunkt bestand in klassischer Weltliteratur. In der frühesten Nachkriegszeit angekündigt, konnten die meisten Projekte auf Grund der schwierigen Produktionsbedingungen erst in den 1950er Jahren verwirklicht werden, dazu gehörten Bücher von Lew Tolstoi und Iwan Turgenjew, Honoré de Balzac, François Rabelais und Jean-Jacques Rousseau. Ein ausgesprochenes Zugpferd im Programm wurden die Neuausgaben des klassischen polnischen Erzählers Józef Ignacy Kraszewski, dessen Sachsen-Zyklus es auf viele Auflagen in Rudolstadt brachte. An den französischen Büchern wirkte mehrfach der Romanist Victor Klemperer mit, der damals als Professor in Berlin und viel beschäftigter Redner des Kulturbundes eine einflussreiche Rolle spielte, wenngleich sein Ruhm durch das in den 1990er Jahren erschienene Tagebuchwerk noch in ferner Zukunft lag. Waren die Drucke der 1940er Jahren zumeist schlichte Broschur- und Heftausgaben auf schlechtem Papier, so bemühte sich der Verlag in den 1950er Jahren um eine bessere Buchgestaltung. Buchumschläge sowie Leinen- und Halbleineneinbände wurden die Regel. Häufig ließ der Verlag Werke der Weltliteratur illustrieren, zumeist von weniger bekannten Grafikern wie Herbert Bartholomäus und Karl Stratil, die aber einen erkennbaren Stil hatten. Pionierarbeit leistete der Greifenverlag bei der Rezeption von chinesischer Literatur. Obwohl die DDR seit der Machtübernahme von Mao Tsetung mit Peking verbündet war, wurden chinesische Autoren Anfang der 1950er Jahre kaum auf dem DDR-Buchmarkt angeboten. Der Greifenverlag wusste sich die Hilfe von zwei kompetenten Frauen zu sichern. Vermittelt durch Friedrich Wolf, gewann Dietz die in Peking lebende Autorin Klara Blum für den Verlag. Unter dem Namen Dshu Bai-lan veröffent-
23 Lion Feuchtwanger: Zum vierzigsten Geburtstag des Greifenverlages. In: Der Greifenalmanach für 1959. Rudolstadt: Greifenverlag, 1959, S. 23.
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lichte sie in Rudolstadt eigene Bücher und gab die Anthologie chinesischer Märchen Die Geister des Gelben Flusses (1955) heraus. Außerdem gewann Dietz die Sinologin und Übersetzerin Johanna Herzfeldt, die eine Anthologie mit klassischen erotischen Geschichten, Das chinesische Dekameron (1957), herausgab. Weitere Planungen wurden dann Opfer des Bruchs zwischen Moskau und Peking im Jahr 1960. Einen dritten Schwerpunkt bildeten Almanache, Anthologien und Kalender. Sie boten dem Verlag die Gelegenheit, Autoren und Künstler von Rang in das Haus zu holen, die bei den führenden Verlagen unter Vertrag waren und sonst nicht für den Greifenverlag zur Verfügung gestanden hätten. Mit diesem oder jenem Autor ergab sich durch die Anknüpfung bei der Herausgabe einer Anthologie ein eigenes Buchprojekt im Verlag. Die vielen Sammelbände trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass der Verlagsname bald weithin bekannt war. Markant ist für die Frühzeit etwa der Almanach der Unvergessenen (1946), in dem die Herausgeber Max Bense und Josef Caspar Witsch die verfolgten und verfemten Künstler, Schriftsteller und Politiker vorstellten – nicht mit einem eigenen Text, sondern mit einem literarischen Porträt, biographischen Notizen und einer Porträtzeichnung von Kurt Hofmann, einem Rudolstädter Grafiker. Ausweis der eigenen Arbeit war der Rote Greif (1946), der allerdings aufgrund der darin verbreiteten Legenden über ein Verbot des Greifenverlages während der Nazizeit einen problematischen Charakter hat. Jährlich wiederkehrend erschien der Greifenkalender (für die Jahre 1946–1958), in dem Bilder von zeitgenössischen Grafikern wie Walther Klemm, Alfred Kubin und Frans Masereel und Textauszüge von Hermann Hesse, Ricarda Huch, Ernst Toller und Friedrich Wolf kombiniert wurden. Das größte Projekt In Tyrannos, in dem Widerstandskämpfer, Exilanten und Vertreter der inneren Emigration in autobiographischen Skizzen zu Worten kommen sollten, scheiterte jedoch nach aufwändigen Vorarbeiten an der Zensur.24 Nachdem der Kalte Krieg ausgebrochen war, bestand kein Interesse mehr an Autoren im Westen, wie Max Brod, Waldemar Bonsels und Ernst Wiechert, ganz zu schweigen von dem nach München geflüchteten Theodor Plievier. Von 1954 bis 1964 war der gut gemachte und reich bebilderte Greifenalmanach ein Aushängeschild des Verlages. Darin stellte Dietz nicht nur seine Pläne und Erfolge vor, sondern druckte auch viele Originalbeiträge, so u. a. 1954 anlässlich von Lion Feuchtwangers 70. Geburtstag Texte des Autors und seiner Freunde. Nachdem der Leipziger Insel-Verlag keine Almanache mehr herausgab, standen die Rudolstädter Almanache in der DDR weithin allein für die Tradition des Verlagsalmanachs. Mitte der 1950er Jahre geriet der Greifenverlag mit seinen im Westen lebenden Exilautoren und anderen zeitgenössischen Schriftstellern in die Krise, weil der Verlag die Honorare der Autoren nicht transferieren konnte. Hier waren Dietz die Hände gebunden, musste er wie die anderen Verleger um die Erledigung bei den Behörden bitten – beim Amt für Literatur und Verlagswesen und deren Nachfolgeeinrichtung HV Verlagswesen sowie beim 1956 geschaffenen Büro für Urheberrechte. 1957 waren durch die vielen Aktivitäten des liberalen Jahres 1956 so hohe Summen aufgelaufen, dass die Behörden den Import von Literatur aus Westdeutschland und dem westlichen Ausland vorläufig fast komplett unterbanden. Die fälligen Transferierungen von Honorarzahlun-
24 Erhalten ist der Briefwechsel; AdK, Karl-Dietz-Archiv Nr. 21/9.
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Abb. 2: Der Greifenalmanach. Zum 70. Geburtstag von Lion Feuchtwanger und zum 35-jährigen Bestehen des Greifenverlages. 1959, Titelblatt.
gen des Greifenverlages wurden auf Jahre hinaus verzögert, neue Verträge von den Behörden untersagt. So blieb Dietz nichts anderes übrig, als seine Autoren aus dem Westen ziehen zu lassen. Lion Feuchtwanger konnte er noch einige Jahre weiter publizieren, weil der Autor und nach dessen Tod 1958 die Witwe Marta Feuchtwanger auf Transferierungen weitgehend verzichteten. Doch nach 19 Ausgaben in 21 Bänden war mit der 2. Auflage des Bandes Das Haus der Desdemona 1962 endgültig Schluss. Um diese Lücke zu schließen, wandte sich Dietz stärker der zeitgenössischen DDRLiteratur, vor allem dem historischen Roman und dem Kriminalroman zu. Dabei spielte eine Rolle, dass Dietz einen Schwiegersohn, Paul Schmidt-Elgers (1915–1995), hatte, der ein auf diesem Gebiet tätiger Autor war und von 1961 bis 1965 das Amt des Cheflektors im Verlag ausübte. Nach einigen Büchern in anderen Häusern erschienen seine Werke ab 1960 vorwiegend im Greifenverlag, so der erfolgreiche historische Kriminalroman Die Marquise von Brinvilliers (1964) mit einem Stoff aus der Zeit Ludwig XIV. Ebenso gut kam beim Publikum der 1972 im Verlag erschienene Roman Jungfrau Johanna an, in dem er dem Mythos um die Jungfrau von Orleans nachspürt. In diesem Zusammenhang zu nennen sind auch die ersten Bücher des Leipziger Autors Hans Pfeiffer, der im Greifenverlag nach einer Kritik am Genre, Die Mumie im Glassarg (1960),
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sein erstes selbstgeschriebenes Buch, die Kriminalerzählungen Schüsse im Hochmoor (1961), veröffentlichte, dem er Mordfälle aus dem Neuen Pitaval (1962) folgen ließ. Zum Gründungsprogramm des Greifenverlages nach 1945 gehörte auch ein Sachbuchprogramm mit den Schwerpunkten Pädagogik, Psychologie/Sexualethik und Graphologie. Für den Bereich Pädagogik stand Dietz der freie Mitarbeiter Fritz Zschech zur Seite, ein früherer SPD-Mann, der von den Nazis aus dem Schuldienst entfernt worden war, Kreisschulrat in Rudolstadt war und in den 1950er Jahre eine Professur an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam innehatte. Zschech stellte den Kontakt zu Paul Oestreich her, einem wichtigen Vertreter der Reformpädagogik in Berlin, mit dessen Hilfe die Schriftenreihe Der weite Horizont. Beiträge zur Erziehung und Berufswahl herausgegeben wurde. Die pazifistischen Positionen, die Oestreich vertrat, waren in der SBZ noch möglich, ebenso ein Pamphlet von Walter Schönbrunn Das humanistische Gymnasium eine Erziehungsstätte der Demokratie, bis die DDR in den 1950er Jahren andere Wege ging. Eine Herzensangelegenheit für Dietz war der Bereich Psychologie/Sexualethik, in dem er Themen behandelte, die ihn seit der Wandervogelzeit umtrieben. Dafür schuf Dietz die Heftreihe Das aktuelle Traktat, in der beispielsweise ein Plädoyer für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts Problem § 218 (1947) erschien. Der Hauptautor Paul Ronge, ein Berliner Rechtsanwalt, und der Nachwortautor Friedrich Wolf, einst in der Weimarer Republik Vorkämpfer für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts, traten darin für die medizinische wie für die soziale Indikation ein. In der Heftreihe findet sich weiter eine Einführung in die Psychoanalyse Psychotherapie heute von Alexander Mette, mit der Freuds Theorie in der SBZ/DDR bekannt gemacht werden sollte. In den 1950er Jahren publizierte der Greifenverlag statt solcher Problemhefte Ehe- und Sexualaufklärungsbücher. Rudolf Neubert, der wichtigste Autor dieses Bereichs, konnte sich zwar nicht mit Max Hodann messen. Doch an dessen Neuausgabe, die Dietz eine Zeitlang erwogen hatte,25 war in der DDR nicht zu denken, weil sich Hodann im schwedischen Exil von der KPD gelöst hatte. Neubert war Medizinprofessor und Direktor des Instituts für Sozialhygiene an der Universität in Jena und entwickelte für Dietz analog zu Hodann ein System von mehreren Ratgebern, die Eltern und Erzieher bei der Sexualaufklärung von Kindern und Jugendlichen sowie Eheleuten bei der Gestaltung des Sexuallebens helfen sollten. Dietz krönte diesen Programmteil mit einem Wörterbuch der Sexuologie und ihrer Grenzgebiete (1964), das er zusammen mit dem Arzt Peter G. Hesse verfasste. Einen geringen Umfang hatte der Bereich Graphologie, der dennoch für Dietz charakteristisch war. Ein führender Vertreter dieser Hilfswissenschaft war der Philosoph Ludwig Klages, einst eine Autorität innerhalb der Jugendbewegung. Über dessen Bücher dürfte Dietz mit der Graphologie in Berührung gekommen sein. Gleich fünf Titel verlegte der Greifenverlag im Laufe der Jahre, die ziemlich alles für diesen Bereich Erschienene in der SBZ und frühen DDR darstellten. Die Autoren Rudolph Pophal, Wilhelm Müller, Alice Enskat und Heinrich Pfanne waren bestrebt, die Graphologie vom okkulten Beigeschmack zu befreien und auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Anfangs gab es gegen die Planung dieser scheinbar nutzlosen Bücher deutlichen Wider-
25 Wurm/Henkel/Ballon: Der Greifenverlag, S. 135.
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stand, doch Dietz blieb beharrlich und erhielt in den 1950er Jahre unerwartet Unterstützung von den Sicherheitsorganen der DDR, die sich für die Instrumente der Graphologie für ihre Zwecke zu interessieren begannen.26 Nach Belletristik und Sachbuch spielte auch die Kunst eine Rolle im Programm des Greifenverlages. Neben dem Greifenkalender ist in der frühen Nachkriegszeit vor allem die Kleine Greifenreihe zu nennen, zwölf Heftchen, in der neben volkskünstlerischen Proben aus Thüringen auch zeitgenössische Künstler vorgestellt wurden, darunter Walther Klemm, Ernemann Sander und Leo Tilgner. In den 1950er Jahren folgten Das kleine Holzschnittbuch von Conrad Felixmüller und Das kleine Holzschnittbuch Wilhelm Geißlers, die von dem Kunsthistoriker Bernhard Wächter (1924–2009), dem anderen Schwiegersohn von Karl Dietz, herausgegeben wurden. Eine Neuerung im Sachbuchprogramm stellten Ende der 1950er Jahre die Anfänge eines Regional-Programms dar. Es begann mit einer wissenschaftlich ambitionierten Untersuchung Goethe in Thüringen (1955) von dem Weimarer Literaturwissenschaftler Wolfgang Vulpius. Porträtsammlungen von seinem Kollegen Fritz Kühnlenz über Weimarer, Eisenacher und Jenaer Persönlichkeiten folgten. Dann wandte sich der Greifenverlag zusammen mit Kühnlenz dem Landschaftsbuch zu, das sich mit Natur und Mensch in einzelnen Thüringer Regionen beschäftigte. Städte und Burgen an der Unstrut (1962) und Burgenfahrt im Saaletal (1964) hießen die ersten Bücher. Erfolgreichstes Buch in diesem Bereich war Der Rennsteig (1965–1991, 7 Aufl.) von Otto Ludwig.
Zur Ökonomie eines Privatverlages im Sozialismus In der Nachkriegszeit wurden die Privatverlage vor allem durch drei Instrumente gesteuert: die Lizenzpolitik, die vielen Firmen eine Weiterarbeit in der SBZ unmöglich machte, die Papierkontingentierung, bei der die privaten Firmen ungleich schlechter wegkamen als die volks-, partei- und organisationseigenen Unternehmen, sowie die Zensur durch den Kulturellen Beirat, die gegenüber privaten Firmen härter angewendet wurde als bei den anderen Verlagen. Diese Instrumente blieben nach der Gründung der DDR weiter maßgebend, wurden aber um weitere Mittel ergänzt. So wurden die privaten Verlage wie alle anderen Firmen Anfang der 1950er Jahre in die volkswirtschaftliche Planung einbezogen. Der Greifenverlag musste nicht mehr nur wie beim Kulturellen Beirat seine Titelpläne einreichen, sondern diese nach einem vorgegebenen Schema genau aufschlüsseln. Für jeden Titel waren Bogenzahl, Papierbedarf und Verlagsabgabepreis anzugeben. Nachauflagen unterlagen wie Erstauflagen der Planungs- und Genehmigungspflicht. Spontane Entscheidungen nach Eingang der Bestellungen des Buchhandels waren ausgeschlossen. Plandirektiven gaben die Richtung an, so sollten im Planjahr 1954 auch die Privatverlage zur »Schaffung der Grundlagen des Sozialismus« beitragen. Über das Planergebnis musste nach dem Ende des Jahres Rechenschaft abgelegt werden. Durch diese jährlichen Themenpläne besaß der Staat die Möglichkeit, Projekte schon in der Planung zu verhindern und nicht erst bei Vorlage des fertigen Manuskriptes zu verbieten. Von 25 für das Geschäftsjahr 1954 geplanten Titeln des Greifenverlages bspw. wollte
26 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag Nr. 11: Karl Dietz an Heinrich Pfanne, 15. 7. 1955 u. 27. 7. 1959.
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das Amt für Literatur elf ablehnen, einige Projekte gar anderen Verlagen zuweisen, obwohl die Idee in Rudolstadt geboren worden war. Die Behörden versuchten zu verhindern, dass sich der private Verlag ein allzu gutes Prestige erarbeitete. Nicht der freie Wettbewerb um die Gunst der Autoren und Rechteinhaber sollte entscheiden, sondern die Kontrollbehörde wollte das letzte Wort über die Verteilung der Projekte haben. So wurde Dietz untersagt, mit Thomas Mann und Hermann Hesse über die Herausgabe ihrer Werke in der DDR zu verhandeln, obwohl Thomas Mann 1951 Interesse an einer Ausgabe im Greifenverlag gezeigt hatte.27 Selbst beim Import von Werken aus sozialistischen Bruderländern bremste man den Greifenverlag. Beispielsweise wollte man ihm die Herausgabe von Alois Jirásek, Ivan Olbracht und Marie Majerová verweigern, obwohl er die Zusage der zuständigen tschechoslowakischen Agentur bereits besaß.28 Ein privater Verleger sollte nicht zum Pionier des Kulturaustausches mit dem Nachbarland werden. Mehrfach wusste Dietz jedoch durch persönliche Vorsprache im Amt Entscheidungen zu beeinflussen. Er erschien dort bärbeißig, mit Knotenstock und wartete beharrlich auf Vorlass, auch wenn er keinen Termin hatte.29 Wie er dann auftrat, offenbart eine Aktennotiz der Hauptreferentin Luise Kraushaar aus dem Jahr 1953, nach der sich Dietz »hinreißen [ließ], Äußerungen zu machen, die andeuten, daß er der Auffassung wäre, daß von ›gewißen Seiten‹ der neue Kurs mit Augenzwinkern gemacht werde«. Der »Neue Kurs«, den die SED zur Befriedung der Bevölkerung nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 verkündete, bestand laut Kraushaar im Buchhandel darin, dass »jedem Verlag, ganz gleich, ob er volkseigen ist, Hilfe und Unterstützung zu gewähren ist«.30 Doch davon konnte keine Rede sein. Bei der Einbeziehung in die Planwirtschaft hatte Dietz beim Amt für Literatur und Verlagswesen einen jährlichen Bedarf von 200 Tonnen angemeldet,31 für das Planjahr 1952 immerhin 110 Tonnen zugewiesen bekommen. Der SED-eigene Verlag Volk und Welt erhielt zum Vergleich in diesem Jahr ein Kontingent von 350 Tonnen. Doch die relativ komfortable Situation des Greifenverlages verschlechterte sich von Jahr zu Jahr. 1953 waren es noch 95 Tonnen, 1956 70 Tonnen, 1961 66,4 Tonnen und 1965, dem letzten Jahr vor der Verstaatlichung, nur noch 50 Tonnen.32 Hätte sich der Verlag nicht gegen die Kürzungen immer wieder zur Wehr gesetzt, wären sie vermutlich noch stärker ausgefallen. Als die HV Verlagswesen 1962 die Verringerung des Kontingents damit begründete, dass die Bestände schwer verkäuflicher Bücher von Jahr zu Jahr wachsen, antwortete Dietz bspw., dass sein Verlag mit durchschnittlichen Auflagen von 8.000 bis
27 Archiv der Familie Wächter: Gedächtnisprotokoll über einige Auseinandersetzungen mit dem Amt für Literatur, 20. 7. 1953. 28 Archiv der Familie Wächter: Gedächtnisprotokoll über einige Auseinandersetzungen mit dem Amt für Literatur, 20. 7. 1953. 29 Auskunft von Bernhard Wächter, 2000. 30 BArch Berlin, HV Verlage und Buchhandel, Nr. DR 1/1929: Luise Kraushaar: Aktennotiz vom 18. 12. 1953. 31 BArch Berlin, HV Verlage und Buchhandel, Nr. DR 1/1940: Amt für Literatur an Greifenverlag, 14. 12. 1951. 32 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 364: Planungsunterlagen für das Jahr 1964.
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10.000 Exemplaren im Gegenteil die Nachfrage der Kunden nicht decken könne. »Für die Fehldispositionen bei der Festlegung der Auflagenhöhe anderer Verlage kann man schließlich nicht den Greifenverlag mitverantwortlich machen, zumal er sich ohne jede Kreditmöglichkeit selbst finanzieren muß.«33 Untersucht ist die finanzielle Situation der Privatverlage bisher kaum. Immerhin sind punktuelle Beobachtungen möglich. Ebenso wie Dietz in dem gerade zitierten Brief klagte die Verlegerin Lucie Groszer bereits 1955 darüber, dass Privatverlagen längerfristige Kredite, die sie für Investitionen bräuchten, prinzipiell verweigert wurden.34 Noch schlechter stand es um die Steuerlast, die für Privatunternehmen exorbitant hoch war. Der Hauptbuchhalter der HV Verlage errechnete, dass der Inhaber des Greifenverlages Anfang der 1960er Jahre eine Einkommenssteuer von rund 90 Prozent zu zahlen hatte. Bei einem Betriebsgewinn von 299.199 M machte das im Geschäftsjahr 1962 255.900 M Einkommenssteuer aus.35 Selbst bei der Lohnzahlung wurden die privaten Firmen behindert. Der Greifenverlag durfte seinen Mitarbeitern nicht die gleichen Löhne zahlen wie volks- oder SED-eigene Firmen. Die Lohn- und Gehaltsgruppen waren nicht nur nach unten, sondern auch nach oben eng begrenzt. Deshalb hatte der Verlag öfter Probleme, einen ausscheidenden Mitarbeiter durch einen qualifizierten Nachfolger zu ersetzen.36 Beschränkungen gab es weiter im Handel mit Westdeutschland und dem Ausland. Zwar konnten die Verlage im Unterschied zu anderen sozialistischen Ländern relativ selbstständig agieren, doch nur innerhalb eines strengen Reglements. Es galt das staatliche Außenhandelsmonopol. Deshalb mussten die Sortimentsgeschäfte über die staatliche Firma Deutsche Buch-Export und -Import GmbH in Leipzig (später Buchexport) abgewickelt werden,37 während die Lizenzgeschäfte der Kontrolle des 1956 geschaffenen Büros für Urheberrechte in Berlin unterlagen.38 Deviseneinnahmen wurden einbehalten und in DDR-Mark ausgezahlt. Es gab keinerlei Möglichkeit, die Einnahmen für die eigene Firma einzusetzen. So verwies Karl Dietz 1963 vergeblich darauf, dass er etwa 100.000 DM aus dem Sortimentsverkauf erwirtschaftet hatte. Die gewünschten 4.400 DM, die er für eine Nachauflage von Ernst Sommers Buch Erpresser aus Verwirrung benötigt hätte, wurden ihm dennoch verwehrt.39 Wie alle Verlage, so sollte auch der Greifenverlag Devisen erwirtschaften. Zur dafür nötigen Geschäftsanbahnung wäre die regelmäßige Teilnahme an der Frankfurter Messe wichtig gewesen. Darüber kam es Anfang 1963 zu einer Debatte von Dietz mit dem
33 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 48: Greifenverlag/Karl Dietz an Erich Wendt, Stellvertretender Minister für Kultur, 25. 7. 1962. 34 BArch, HV Verlage und Buchhandel: Lucie Grosser an Amt für Literatur, 20. 8. 1955. 35 SAPMO-BArch, Bestand ZK der SED, Abt. Wissenschaft, Nr. DY 30/IV A2/9.04/484: Rösner (Hauptbuchhalter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel): Bericht über die Rechtsverhältnisse und Vermögensverhältnisse des Greifenverlages, Rudolstadt (Thüringen), und die sich hieraus ergebende mögliche Rechtsform für die Weiterführung dieses Verlages, 3. 12. 1964. 36 Auskunft von Roswitha Wächter, 2000. 37 Siehe das Kapitel 12.1 Buchexport (Patricia Blume) in Bd. 5/3. 38 Siehe Kapitel 3.4.2 Büro für Urheberrechte (Thomas Keiderling) in diesem Band. 39 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 48: Dietz an HV Verlage und Buchhandel, 6. 8. 1963.
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Börsenverein, bei dem sich der Verleger beschwerte, weil die Hauptabteilung Verlagswesen dem Greifenverlag die Teilnahme im Interesse der Deviseneinsparung verweigert hatte. Dietz rechnete dem Vorsteher Klaus Gysi vor, dass er den Exportplan 1962 mit 120 % übererfüllt habe und Ausbaumöglichkeiten bestünden. Doch ohne die Messeteilnahme war an eine Steigerung nicht zu denken. Dabei seien Privatverleger bei den westdeutschen Partnern hoch angesehen. »Es ist halt noch immer so, daß manche westdeutsche Verleger und auch Autoren aus ›gewissen Gründen‹ lieber mit einem ›Privat‹Verlag in geschäftliche Verbindungen treten als mit einem volkseigenen Verlag der Deutschen Demokratischen Republik.«40 Zur Messe durfte er trotzdem nicht fahren.
Die Verstaatlichung Am 12. August 1964 starb Karl Dietz, der an seinem Lebensende von den Freunden des Hauses der »Greifenvater« genannt wurde. Seine Beisetzung am 17. August, die in dem Band In memoriam Karl Dietz (1965) dokumentiert ist, wurde zu einer letzten großen Stunde des alten Greifenverlages. Zitiert wurde Lion Feuchtwanger, der kurz vor seinem Tod 1958 geschrieben hatte: Karl Dietz hat in schwerer Zeit die besten Traditionen des deutschen Verlags aufrecht erhalten. Er ist immer ein Freund und Berater seiner Autoren gewesen, er hat dem Greifenverlag ein einmaliges, unverkennbares Gesicht gegeben. Ich habe Erfahrungen mit vielen Verlegern in vielen Ländern. Erfreulich ist mein Verkehr und meine Korrespondenz mit diesen Verlagshäusern nur selten gewesen. Mein Briefwechsel mit dem Greifenverlag ist eine Ausnahme. Da ist nichts von jenem trockenen, unpersönlichen, geschäftsmäßigen Wesen, das die Verhandlungen sonst so öde macht. Hier atmet jeder Brief des Verlags die tiefe Anteilnahme am Autor und an dem werdenden Werk und das leiden41 schaftliche Bestreben, dieses Werk den rechten Lesern zuzuführen.
Nach geltendem Recht ging die Lizenz zum Betrieb des Verlages nicht auf die Erben über, sondern erlosch mit dem Tod des Lizenznehmers. Wie viele starke Persönlichkeiten hatte Dietz für die Zeit nach seinem Tod keine Vorkehrungen getroffen. Zwei Monate vor seinem Ableben hatte er zwar zusammen mit dem Cheflektor Paul Schmidt-Elgers und dem Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung eine »Konzeption zur Perspektive des Greifenverlages« aufgesetzt, die aber nur der Programmabstimmung mit den Behörden diente und die weitere Reduzierung des Papierkontingents verhindern sollte. Abschließend hieß es darin reichlich salomonisch, dass man bestrebt sei, »zusammen mit den zuständigen staatlichen Stellen Klarheit über den künftigen Status des Greifenverlages zu schaffen«.42 Erben waren die beiden Töchter Gundel Schmidt und Roswitha Wächter, denen schon nach der ersten Kontaktaufnahme mit den Behörden klar wurde, dass an eine Neuvergabe der Lizenz an sie oder einen anderen privaten Nachfolger nicht zu denken war. Gundel Schmidt (1926–1984) war gelernte Buchhändlerin und arbeitete
40 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 48: Dietz an Gysi, 8. 1. 1963. 41 In memoriam, S. 15. 42 SAPMO-BArch, Bestand ZK der SED, Abt. Wissenschaft, DY 30/IV A2/9.04/484: Konzeption zur Perspektive des Greifenverlages, 4. 6. 1964.
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wie ihr Mann, der Cheflektor Paul Schmidt-Elgers, im Verlag. Beide wären an seiner Fortführung unter ihrer Leitung interessiert gewesen. Roswitha Wächter (Jg. 1925) und ihr Mann, der Kunsthistoriker Karl Wächter (1924–2009), besaßen dagegen keine eigenen Ambitionen. Doch es blieb nur übrig, den Verlag an den Staat oder die SED zu verkaufen, wollten die Erben das Lebenswerk des Vaters nicht liquidieren. Wie die SED die Lage sah, verdeutlicht ein Brief des Abteilungsleiters Wissenschaft im ZK der SED, Johannes Hörning, an Kurt Hager, das für Wissenschaft und Kultur verantwortliche Politbüro-Mitglied: »Mit dem Tode des Lizenzträgers wäre die Möglichkeit gegeben, die Lizenz nicht zu erneuern. Objektiv brauchen wir den Greifen-Verlag nicht, aber politisch scheint es uns nicht ratsam, den Verlag zu schließen.«43 Im Jahr zuvor war erst die »Profilierung« des Verlagswesens der DDR wirksam geworden und hatte zu einer Reduzierung der Firmen geführt, was im Westen Deutschlands Kritik an der Verödung der Verlagslandschaft hervorgerufen hatte. Deshalb hielten die Verantwortlichen die weitere Schließung eines Verlages augenblicklich nicht für opportun. Die Erben unterbreiteten mit Hilfe eines Anwalts drei Optionen für den Verkauf. Weil Dietz Namensgeber und bis zum Schluss nominell Gesellschafter des Dietz Verlages war, hofften sie erstens auf eine Übernahme durch den Dietz Verlag und eine Weiterführung des Greifenverlages unter seinem Dach. Zweitens erwogen sie die Bildung einer Kommanditgesellschaft mit 50-prozentiger Beteiligung des Dietz Verlages, Roswitha Wächter als Kommanditistin und Gundel Schmidt als Komplementärin. Drittens brachten sie eine staatliche Beteiligung durch den Rat des Kreises Rudolstadt ins Gespräch.44 Doch das ZK der SED, der Inhaber des Dietz Verlages, lehnte das Verkaufsangebot ohne nähere Prüfung ab, vermutlich weil die Partei an der von ihr 1963/64 hergestellten Ordnung im Verlagswesen nicht rütteln wollte. Die SED hatte in diesem Zusammenhang alle parteieigenen Verlage außer den Dietz Verlag der 1962 gebildete HV Verlage und Buchhandel unterstellt und wollte mit der Verwaltung nicht mehr unmittelbar zu tun haben. Außerdem waren große Gewinne bei der beschränkten Größe des Greifenverlages nicht zu erwarten. Auch die Umwandlung in eine halbstaatliche Firma, die in anderen Branchen in den 1960er Jahren an der Tagesordnung war, und die Beteiligung des Rates des Kreises Rudolstadt wurden abgelehnt, weil der Sinn der Profilierung in der Vereinheitlichung der Verwaltung der Verlage und ihre zentrale Unterstellung lag. Schließlich rang sich der Leiter der HV, Bruno Haid, dazu durch, den Verlag mit Wirkung vom 1. Mai 1965 in Volkseigentum zu überführen.45 Diese Regelung entsprach nicht den Wünschen der Erben, doch stimmten sie angesichts der Machtverhältnisse der Regelung zu. Gundel Schmidt und ihr Mann mussten auf die Leitung des Verlages verzichten, hätten aber im Verlag bleiben können: sie als Werbeleiterin, er als Cheflektor.
43 SAPMO-BArch, Bestand ZK der SED, Abt. Wissenschaft, DY 30/IV A2/9.04/484: Hörning an Hager, 5. 10. 1964. 44 SAPMO-BArch, Bestand ZK der SED, Abt. Wissenschaft, DY 30/IV A2/9.04/484: Rösner (Hauptbuchhalter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel: Bericht über die Rechtsverhältnisse und Vermögensverhältnisse des Greifenverlages, Rudolstadt (Thüringen), und die sich hieraus ergebende mögliche Rechtsform für die Weiterführung dieses Verlages, 3. 12. 1964. 45 SAPMO-BArch, Bestand ZK der SED, Abt. Wissenschaft, DY 30/IV A2/9.04/484.
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Doch wenig später gaben sie nacheinander ihre Stellung auf, weil sie sich mit dem neuen staatlichen Verlagsleiter nicht verstanden. Auch der Verkaufspreis fiel mit 87.000 M äußerst gering aus. Anfangs hatte es in einem Papier der HV gar geheißen, dass man für den Greifenverlag keinen Pfennig zahlen werde. Doch der Preis für alle Rechte, Bestände und das gesamte Inventar war allein schon dadurch gedeckt, dass der Greifenverlag unter staatlicher Leitung wie bei allen staatlichen Verlagen üblich alle Buchbestände mit einem Schlag an den Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) verkaufen konnte. Einen Moment lang war sogar erwogen worden, die bei einer Betriebsprüfung aufgetauchten angeblichen »Unregelmäßigkeiten« bei der Steuerzahlung strafrechtlich zu verfolgen. Oft genug hatten solche Tiefenprüfungen in der Nachkriegs- und frühen DDR-Zeit dazu geführt, dass die Firmen enteignet und die Inhaber in Haft genommen wurden, wenn sie sich nicht durch die Flucht in den Westen retten konnten.46 Selbst wenn von diesen Mitteln ab den 1960er Jahren nicht mehr Gebrauch gemacht wurde, war doch die Perspektive für die letzten Privatverlage in der DDR vorgezeichnet. Wie das Beispiel des Greifenverlages zeigt, waren Vererbung und Verkauf zwar theoretisch möglich, doch faktisch blieb durch das Ende der Lizenz mit dem Tod des Inhabers einzig der Verkauf an den Staat als Möglichkeit für die Fortsetzung der Firma übrig. Selbst der Verkauf von privaten Anteilen an halbstaatlichen Unternehmen wurde reglementiert. Mit Ministerratsbeschluss vom 16. Februar 1972 war allein der Staat berechtigt, die zur Veräußerung anstehenden Unternehmensanteile zu erwerben. »Fortsetzung der Gesellschaft mit Erben eines durch Tod ausgeschiedenen Gesellschafters erfolgt nicht«,47 hieß es kategorisch. Mit diesem Beschluss wurden ausdrücklich anderslautende Paragraphen in gültigen Verträgen für ungültig erklärt. Die völlige Verstaatlichung des Verlagswesens war mit Ausnahme weniger Postkarten- und bibliophilen Firmen daher nur eine Frage der Zeit.48 Unter diesen Bedingungen hatten die Verlagsinhaber nur die Möglichkeit, den besten Zeitpunkt zum Verkauf der Firma zu wählen. Der Kinderbuchverleger Alfred Holz hatte bspw. ab den 1950er Jahre aktiv den Verkauf an den Staat betrieben und schließlich 1963 die Fortsetzung des Verlagsprogramms unter dem Dach des Kinderbuchverlages mit ihm als Leiter mit festgelegter Gehaltshöhe ausgehandelt.49 Er erzielte ebenso einen Verkaufspreis wie die beiden Inhaber des Carl Hinstorff Verlages Rostock, Peter E. Erichson und Adolf Holst, die nach dem Verkauf aus dem Unternehmen ausscheiden mussten.50 Andere Verleger
46 SAPMO-BArch, Bestand ZK, Abt. Wissenschaft, DY 30/IV A2/9.04/484: Rössner/HV Verlage und Buchhandel: Bericht über die Rechtsverhältnisse und Vermögensverhältnisse des Greifenverlages, Rudolstadt (Thüringen), und die sich daraus ergebende mögliche Rechtsform für die Weiterführung dieses Verlages, 3. 12. 1964. 47 BArch, Bestand HV, DR 1/7189: Beschluß [des Ministerrates] über die Regelung für Betriebe mit staatlicher Beteiligung und über die Aufgaben des staatlichen Gesellschafters bei der schrittweisen Übernahme dieser Betriebe in Volkseigentum, 16. 2. 1972. 48 Siehe das Kapitel 5.3.8 Verlage ohne Lizenz (Christoph Links) in Bd. 5/2. 49 Links: Das Schicksal, S. 212; siehe auch Kapitel 5.3.2.1 Kinder- und Jugendbuchverlage (Carola Pohlmann) in Bd. 5/2. 50 BArch, Bestand HV Verlage, DR 1/966–997: Aktennotiz von Karl Hagemann, Stellvertretender Minister für Kultur, 31. 3. 1959.
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wie Lucie Groszer, Inhaberin des Altberliner Verlages Lucie Groszer (Berlin), und Leiva Petersen, Mitinhaberin von Herm. Böhlau Nachf. (Weimar) zögerten bis weit in das Rentenalter hinein, ehe sie 1979 bzw. 1978 verkauften und zugleich aus ihren Firmen ausschieden.51 Als letzter privater Buchverlag wurde 1989 der Prisma-Verlag an den der LDPD gehörenden Buchverlag Der Morgen verkauft.52 Damit war die SED zwar am Ziel ihrer Verlagspolitik angekommen, doch zugleich am Ende einer Sackgasse. Nach dem Sturz des Politbüros und der Einführung der Gewerbefreiheit meldeten zum Jahresausgang 1989 die ersten neuen Privatverlage ihre Gründung an.
Der volkseigene Greifenverlag Nach der Verstaatlichung erhielt der Greifenverlag ein Statut, das vom Minister für Kultur, Hans Bentzien, 1965 erlassen und in den »Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Kultur« publiziert wurde.53 Darin wurde festgeschrieben, dass der Verlag ein Volkseigener Betrieb war, der wirtschaftlich und kulturpolitisch der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel unterstand, Jahres- und Perspektivpläne einzureichen hatte und rechenschaftspflichtig war. Verlagsleiter, Cheflektor und Hauptbuchhalter wurden durch die HV berufen und abberufen. Der Verlag war zur Wirtschaftlichkeit verpflichtet und sollte einen Gewinn im Rahmen seiner kulturpolitischen Aufgaben erwirtschaften. In Paragraph 2, Absatz 2 stand, dass er einen Beitrag zur »sozialistischen Bewußtseinsbildung« und zur »Befriedigung des Bedürfnisses der Bevölkerung nach niveauvoller Unterhaltung« zu leisten habe. Selbst die Programmbereiche wurde im Statut festgeschrieben und hätten bei Änderungen eigentlich eine Neufassung des Statuts erfordert: »Der Verlag hat die Aufgabe, Unterhaltungs- und Kriminalliteratur der DDR, bei Berücksichtigung des unterhaltenden Charakters auch einzelne Werke des kulturellen Erbes, Heimatliteratur über den Südteil der DDR sowie in beschränktem Umfange sexualpädagogische Literatur herauszugeben.« Zum ersten staatlichen Verlagsleiter wurde Hubert Sauer (1923–2013) berufen, ein Sorbe, der Journalistik studiert hatte und zuletzt Cheflektor im sorbischen DomowinaVerlag Bautzen gewesen war. Zum Cheflektor bestimmte die HV Verlage Ernst Karl Wenig (1923–1985), der diese Funktion bereits von 1956 bis 1961 unter Dietz ausgeübt hatte, dann aber ausschied und zur SED-Bezirkszeitung Suhl, Volkswacht, gewechselt war, weil Dietz seinen Schwiegersohn Schmidt-Elgers bevorzugte. Wenig, der Germanistik und Journalistik studierte hatte, stammte aus einem thüringischen Dorf und brachte deshalb durch seine Herkunft beste Voraussetzungen für den Greifenverlag mit seinem Regionalschwerpunkt mit. Er war 1965 auch als Verlagsleiter in der engeren Wahl, wurde dann aber nicht genommen, weil er Frontberichterstatter und Angehöriger der Waffen-SS gewesen war – ein der SED bekannter Makel, den Wenig durch besondere Vorsicht im Umgang mit der Partei und den vorgesetzten Behörden wettzumachen suchte. Als Sauer 1979 nach Differenzen mit Klaus Höpcke, dem Leiter der HV Verlage und
51 Links: Das Schicksal, S. 191, 112; siehe auch Kapitel 5.3.2.1 Kinder- und Jugendbuchverlage (Carola Pohlmann) und 5.3.10.2 Hermann Böhlaus Nachf. (Michael Knoche) in Bd. 5/2. 52 Links: Das Schicksal, S. 272. 53 Statut des Greifenverlages.
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Buchhandel, um seine Entpflichtung bat, übertrug die HV die Leitung des Verlages dann doch Wenig. Ihm zur Seite stellte sie 1980 Dr. Ursula Steinhaußen (geb. 1929), die Lektorin im Verlag Tribüne und beim Mitteldeutschen Verlag gewesen war und 13 Jahre lang im Schriftstellerverband im Bereich Nachwuchsförderung Erfahrungen im Umgang mit Autoren erworben hatte. Die Cheflektorin musste bald schon den gesundheitlich angeschlagenen Verlagsleiter vertreten und schließlich nach Wenigs Tod 1985 entgegen ihrer persönlichen Planung dessen Amt ganz übernehmen, weil ein geeigneter Nachfolger nicht gefunden werden konnte. Letzter Cheflektor wurde Helmut Nitschke (1943– 1999), ein ehemaliger Lehrer, der sich als Lektor und Herausgeber von Paul Zech im Greifenverlag hervorgetan hatte. Vor der Verstaatlichung waren zuletzt 15 Mitarbeiter im Greifenverlag beschäftigt, davon sechs im Rentenalter und zwei halbtags. 1974 bestand die Belegschaft dann aus 18 Mitarbeitern, darunter der Cheflektor und drei Lektoren. In den 1980er Jahren besaß der Verlag 26 Planstellen, die Zahl der Mitarbeiter war jedoch auf Grund von Teilzeitbeschäftigung etwas höher. Aufgestockt wurden vor allem das Lektorat, das neben dem Cheflektor fünf Lektoren umfasste, nicht gerechnet eine Sekretärin und eine Stenotypistin. Mit dieser Belegschaft wurden 1978 10 Erstauflagen und 19 Nachauflagen, 1985 23 Erstauflagen und 17 Nachauflagen und 1988 17 Erstauflagen und 20 Nachauflagen publiziert. Das Papierkontingent wurde nach der Verstaatlichung deutlich aufgestockt und umfasste in den Jahren 1987 163 Tonnen und 1989 158 Tonnen. Der Absatz lag in den 1980er Jahren meist über 3 Mio. M (Verlagsabgabepreis), 1988 bei 4,4 Mio. M. Der Gewinn belief sich in diesem letzten planmäßig verlaufenen Jahr auf 0,6 Mio. M.54
Zum Programm des VEB Greifenverlages Während das Statut den Verlag fast ausschließlich auf die Unterhaltungsfunktion festlegen wollte, bemühte sich der Verlag die Kontinuität in allen Bereichen zu wahren: »Am Profil des Verlages hat sich jedoch nichts geändert. Wir werden Ihnen weiterhin gute Belletristik: aktuelle Romane, Kriminalliteratur, historische Romane, Städte- und Landschaftsmonografien und sexualpädagogische Schriften in bester Ausstattung anbieten«,55 hieß es zur Herbstmesse 1965 in einem Brief des Verlags an die Buchhändler. Einige Verschiebungen im Programm gab es dennoch. Im Erbebereich gab der Verlag die ausländische Literatur auf und konzentrierte sich künftig vor allem auf deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts. Dazu wurde eine Kleine Erbe-Serie (30 Bände, 1969– 1989) ins Leben gerufen, in der bekannte Erzählungen, Novellen und kurze Romane von Eichendorff, Tieck, Fontane, Raabe u. a. verlegt wurden, mit knappen, nicht mehr als einen halben Bogen umfassenden Nachworten sowie Illustrationen, die besonders häufig von den Thüringer Grafikerinnen Regine Grube-Heinecke und Erika Müller-Pohl geschaffen wurden. Neben den schmalen Leinenbändchen gab es umfangreichere, teils ausführlich kommentierte Einzelbände von Wilhelm Busch, Ernst Sommer, Johannes Wüsten und Paul Zech. Stark beschnitten wurde die Zahl der Anthologien und ganz
54 BArch, DR 1/7098: Rechenschaftslegung zum Planverlauf 1988. 55 Messebörsenblatt, Börsenblatt (Leipzig), Herbst 1965.
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aufgegeben der Greifenalmanach, der einen relativ großen editorischen Aufwand und ein gewisses Maß an Sendungsbewusstsein erforderte, das die neue Verlagsleitung nicht aufbrachte. In den 1980er Jahren entwickelte der Verlag dann in Anlehnung an die frühere Tradition einen jährlich erscheinenden Geschichtenkalender, der Kurzgeschichten und kleine Erzählungen von zeitgenössischen Erzählern, ein Kalendarium sowie die Illustrationsfolge eines zeitgenössischen Grafikers umfasste. Auch die Sexualaufklärung wurde Anfang der 1970er Jahre aufgegeben, charakteristischerweise nicht wegen Erfolglosigkeit, sondern umgekehrt wegen eines Bestsellers, der das Papierkontingent aufzuzehren drohte. Der Verlag publizierte 1969 von dem Sexualwissenschaftler Siegfried Schnabl das Handbuch Mann und Frau intim, das zum Ratgeber schlechthin für mehrere Generationen von jungen Leuten werden sollte. Doch gerade die zu erwartende große Nachfrage beängstigte den Verlag. In Abstimmung mit der HV Verlage und Buchhandel übergab die Verlagsleitung nach zwei Auflagen die Rechte dem Verlag Volk und Gesundheit, üblicherweise ohne Ablösesumme – unter der Voraussetzung, »daß wir unser Papierkontingent in voller Höhe behalten«.56 Den zwei Auflagen beim Greifenverlag folgten 16 weitere beim Verlag Volk und Gesundheit, nicht gerechnet Ausgaben bei Bertelsmann in Gütersloh, bei Ullstein in Berlin und in verschiedenen osteuropäischen Ländern. Für die Regionalliteratur war dem Greifenverlag planwirtschaftlich der gesamte Süden der DDR zugewiesen. Viele Autoren konnten vom Sachsenverlag Dresden übernommen werden, der seine Buchproduktion 1962 eingestellt hatte. So kamen neben den Thüringen-Büchern Titel über die Sächsische Schweiz, die Altmark und die Landschaften um Leipzig ins Programm. Der Verlag bemühte sich in Abgrenzung zu dem in diesem Bereich führenden Brockhaus Verlag seinen regionalen Erkundungen eine literarische Note zu geben. Am besten ist das in der Serie von vier Reiseverführern gelungen, mit denen die damals gar nicht existierenden Länder Thüringen, Sachsen, Mecklenburg sowie Berlin vorgestellt wurden. Schriftsteller und Sachbuchautoren, die mit der Region verbunden waren, schrieben über ihr Verhältnis zu Land und Leuten. Heraus kamen Liebeserklärungen, gespickt mit einigen kritischen Seitenhiebe gegen vorgefundene Missstände. Die Bände waren jeweils von einem guten Grafiker, Christa Jahr, KarlGeorg Hirsch und Wolfgang Würfel (2 Bände), durchgehend illustriert. Andere Landschaftsbücher zeichneten sich durch gute Fotoserien aus. In anderes Fahrwasser steuerte der Verlag mit Landolf Scherzer, der Reporter bei der Bezirkszeitung Freies Wort in Suhl war. »[…] ein erster Schritt auf dem von uns beabsichtigten Weg, echte literarische Ansprüche an diese Art Literatur zu stellen«, lobten Sauer und Wenig in ihrem Gutachten den Debütband Südthüringer Panorama (1971). Schon mit dem nächsten Werk, Spreewaldfahrten (1975), blieb Scherzer nicht bei beschaulichen Erkundungen stehen, sondern packte neben anderen Themen ein heißes Eisen an, die Verpestung von Luft und Wasser in den Braunkohlegebieten der Lausitz. Die SED-Bezirksleitung Cottbus und die Parteileitung der Kraftwerke Lübbenau und Vetschau waren empört: »Wenn das ein Journalist aus dem Westen geschrieben
56 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Sing. 910: Ernst Karl Wenig: Lektoratsbericht über Verhandlungen in Berlin am 5. 8. 1970, 13. 8. 1970.
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hätte, müßte er ausgewiesen werden.«57 Doch die HV Verlage und Buchhandel hielt ausnahmsweise in einer großen Aussprache unter Beteiligung der Abteilung Kultur des ZK der SED mit den Cottbusser Genossen zu Autor und Verlag. So mussten in der Nachauflage nur einige kosmetische Veränderungen vorgenommen werden. Scherzers Reportage über die Arbeit der DDR-Hochseefischer im hohen Norden vor Labrador Fänger & Gefangene (1983) zeichnete sich durch ein ungeschminktes Bild von den erbärmlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen aus. »Die kapitalistischen Reedereien und Hochsee-Betriebe verbieten ihren Arbeitern aus betriebsinternen Gründen geradezu das Maul, da müssen wir scharf bedenken, was wir sagen und wie wir es sagen!«,58 hielt ein Gutachter Autor und Verlag vor. Am bekanntesten wurde Scherzers Reportage Der Erste (1988) über einen SED-Kreissekretär, der überraschenderweise ein gewöhnliches Leben führte und einen eintönigen Arbeitsalltag hatte. Doch Scherzers Blick hinter die Kulissen der Macht war im geheimniskrämerischen DDR-System alles andere als gewöhnlich. Nach der deutschen Einheit schrieb der Autor zwei weitere Bände über das Leben und Wirken der neuen Provinzfürsten in Thüringen (Der Zweite, 1997, Der Letzte, 2000), die dann aber in einem anderen Verlag herauskamen. Mit Scherzer ist schon der Übergang zum Themenschwerpunkt DDR-Literatur benannt. Der Greifenverlag hatte nicht die bedeutenden Autoren des Landes, die in Berlin, Halle (Saale) und allenfalls in Rostock beim Hinstorff Verlag unter Vertrag waren. Etliche der wenigen Hausautoren dieses Bereiches kamen aus Thüringen, wie Armin Müller und Inge von Wangenheim. Sie schätzten die intime Atmosphäre und die besondere Stellung, die jeder Autor im Programm eines solchen kleinen Verlages hatte. Zu den bekanntesten Autoren zählte Rudolf Hirsch, ein Berliner Journalist, der als Gerichtsreporter ab den 1950er Jahren in der Wochenpost regelmäßig aus den Niederungen der Kleinkriminalität und der Scheidungsprozesse berichtete, aber auch bei den großen Prozessen über die NS-Verbrechen dabei war (Um die Endlösung, 1982). In Patria Israel (1983), einem eher erzählerischen Werk, verarbeitet er die Erlebnisse, die er als junger Emigrant 1940 in Haifa hatte. Eher unter Heimatliteratur als unter der Rubrik kritische Gegenwartsliteratur ist der erfolgreiche Erzähler Kurt Bachor einzuordnen, im beruflichen Leben Revierförster und Waidmann, dessen Bücher ausschließlich vom Leben der Vierbeiner in seinem thüringischen Revier handelten. Ökologische Fragen lagen außerhalb seines Gesichtskreises, stattdessen hält in seinen Büchern der Mensch seine schützende Hand über den ewigen Kreislauf der Natur. Eine eigene Geschichte hatte ein Buch von Erich Loest, Es geht seinen Gang, das nur in der 2. Auflage im Greifenverlag erschien, nur deshalb, weil die 1. Auflage im Mitteldeutscher Verlag für Turbulenzen gesorgt hatte, das Verhältnis zwischen Autor und dem Hallenser Verlag empfindlich gestört war und die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel dem Greifenverlag eine entsprechende Anweisung erteilte.59
57 BArch, Bestand HV Verlage und Buchhandel, DR 1/2245: Aktennotiz von H. Schuster für Klaus Höpcke, 25. 3. 1976. 58 BArch, Bestand HV Verlage und Buchhandel, DR 1/2248: Gutachten von Werner Neubert, 2. 11. 1981. 59 Zum Druck im Greifenverlag vgl. LATh – StA Rudolstadt, Greifenverlag zu Rudolstadt, Nr. 100. Zur Vorgeschichte siehe Kapitel 5.3.1.6 Mitteldeutscher Verlag (Julia Bonkowski) in diesem Band.
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Abb. 3: Druckgenehmigung für Erich Loest: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene. 2. Aufl. Greifenverlag 1979. LATh – StA Rudolstadt, Greifenverlag zu Rudolstadt, Nr. 100.
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Wichtigster Programmschwerpunkt des VEB Greifenverlages war die Unterhaltungsliteratur mit den Säulen Historischer Roman, Kriminalliteratur und Science-Fiction. Entscheidenden Anschub für den Ausbau brachte eine Initiative mit sich, die vom Schriftstellerverband und der HV Verlage und Buchhandel gemeinsam getragen wurde. Im November 1965 tagte in Weimar der Schriftstellerverband, um der Unterhaltungsliteratur neue Impulse zu geben. Hans Koch, damals 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes, und Bruno Haid, Leiter der HV Verlage und Buchhandel, riefen gleichermaßen nach mehr Unterhaltung. »Es gibt viel zu wenig utopische Romane! Übrigens hat jedes Genre seine Berechtigung, also auch ›Krimi‹, ›Kriminal- und Abenteuerliteratur […]«,60 äußerte Haid. Ein Lektoratsmitarbeiter vom Greifenverlag war im Saal und berichtete über das Weimarer Treffen. Die Verlagsleitung nahm das zum Anlass, das Engagement des Greifenverlags für die Unterhaltungsliteratur zu verstärken. Sieht man vom Historischen Roman ab, über den weiter oben bereits berichtet wurde, handelte es sich bei den Autoren um Spezialisten, die sich ganz den Unterhaltungsgenres verschrieben hatten, teils nur Kriminalliteratur oder nur Science-Fiction publizierten, teils in beiden Genres zu Hause waren. Manche von ihnen publizierten außer im Greifenverlag auch in anderen Häusern wie Neues Leben, Mitteldeutscher Verlag und Militärverlag. Wenige Autoren wie Curt Letsche hatten eine Karriere hinter sich, die bis in die Zeit vor 1945 reichte, die meisten waren in der DDR zum Schreiben gekommen. Drei wichtige Krimi-Autoren, Günter Radtke, Wolfgang Rinecker und Hans Schneider, brachten eine solide Fachkenntnis für das Kriminalgenre mit, weil sie im Berufsleben Kriminalist, Volkspolizist bzw. Staatswalt waren. Ihre Bücher gewannen durch die Kenntnis des Berufsalltags Farbe. Gutachter des Verlages lobten, dass der Leser durch ihre Werke einen guten Einblick in die Ermittlungstätigkeit ›unserer‹ Volkspolizei bekomme. In einem Fall wurde von »einem guten Beitrag zur Werbung für unsere VP«61 gesprochen. Doch die Milieustudien durften nicht zu genau werden, denn der Sozialismus kannte keine Freiräume für das Verbrechen. Selbst ein erfahrener Kriminalist wie der Leiter der Mordkommission des Bezirkes Gera, Oberleutnant Günter Radtke, musste sich von der Zensurbehörde fragen lassen: »Wozu dieser Schmutz? Genügt nicht, wenn sich unsere Kriminalpolizei und entsprechende Stellen damit abzuplagen haben, wozu noch zum literarischen Gegenstand erheben? Wem soll dieses Buch nützen und welche ethischen Gefühle will der Autor dadurch hervorrufen?«62 Dabei hatte die Gutachterin nicht einmal Zweifel daran, dass der Stoff des Romans Die Tätowierten (1970) gut recherchiert war. Angesichts dieser Tabubereiche wichen die Autoren stofflich gern in die kapitalistische Welt aus. Dort gab es Milieu, das sich in grellen Farben schildern ließ und einen interessanten Hintergrund für spannungsreiche Fälle bot. Doch trotz der dabei möglichen Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen wurde kulturpolitisch eine Handlung im
60 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 48: Bruno Haid nach Notizen des Lektoratsmitarbeiters Gerhard Wilckens, 6. 11. 1965. 61 BArch DR 1/2241: H.C. Gärtner-Scholle: Gutachten zu Horst Boas, Der Tote am Mühlenwehr, 17. 7. 1967. 62 BArch DR 1/2242: Gerda Zschocke: Aktennotiz zu Günter Radtke, Die Tätowierten, 12. 2. 1968.
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Sozialismus mit lehrreicher Moral bevorzugt. Die Greifen-Autoren fanden sich mit der Lage ab und blieben in den vorgesteckten Grenzen. Als in den 1980er Jahren der Verlag von ihnen mehr Mut zu sozialkritischen, spannend gebauten Krimis verlangte, reagierten sie reserviert. Der Lektor Helmut Nitschke analysierte, dass die Autoren bei ihrem Konzept bleiben wollten und das aus einem einfachen Grund: »[…] ein ›Krimi‹ kann so schlecht und kurioserweise so langweilig sein, wie er will, er wird en masse gekauft.«63 Er kam zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die Stammautoren zu Neuansätzen nicht in der Lage seien und sich mühsam mit dem »elementar Handwerklichen« abquälten. Die Kriminalliteratur wie die Science-Fiction-Bücher erreichten gewöhnlich hohe Gesamtauflagen und waren sämtlich bei Erscheinen ausverkauft. »Alle Titel waren bei Erscheinen überzeichnet«,64 hieß es im Jahresbericht 1983 des Verlags. Selbst bei Nachauflagen ergab sich das gleiche Bild. Der Kriminalroman Die Katze mit den blauen Augen von Paul Elgers bspw. wurde in einer Auflage von 25.094 Exemplare gedruckt, vorbestellt nach der Anzeige im Vorankündigungsdienst des Börsenblattes (VD) waren dagegen 172.440. Ein ähnliches Missverhältnis bestand bei dem Titel Utopische und phantastische Geschichten von Heiner Hüfner und Ernst-Otto Luthardt, für beide Autoren das erste Buch, von dem 110.777 Exemplare vorbestellt waren und nur 18.193 Exemplare ausgeliefert werden konnten.65 1979 richtete der Verlag eine Broschurreihe ein, den Greifen-Kriminalroman, der die wichtigste Kriminalbücher bündelte, für zusätzlichen Absatz sorgte und in den 1980er Jahren zu einem Markenzeichen des Verlages wurde. Soweit die Auflagen ermittelt sind, lag ihre Höhe zwischen 30.000 und 45.000 Exemplaren. Während der Verlag mit dem Niveau seiner Kriminalbücher selbst unzufrieden war, konnte er im Bereich Science-Fiction mit Autoren aufwarten, die innerhalb der DDR einen Namen hatte, so Wolf Weitbrecht, Heiner Hüfner und Ernst-Otto Luthardt. Einige andere Autoren, wie Eberhardt del’ Antonio, Wolfgang Kellner und Werner Steinberg, gaben einmalige Gastrollen im Verlag. Gesellschaftskritisches Potential hatte allerdings nur die Negativutopie Zwischen Sarg und Ararat (1978) von Werner Steinberg. Darin führt der Autor ein autoritäres System auf einem fernen Stern vor, das den Einzelnen zugunsten der Allgemeinheit unterdrückt und nicht leistungsfähige Nachkommen ermordet. Die parabolische Geschichte stellte die Zukunftsgewissheit des sozialistischen Systems gründlich in Frage. Ansonsten dominierte beim Greifenverlag das Vertrauen in die Entwicklungspotenzen der sozialistischen Gesellschaft. In Wolf Weitbrechts Roman Die Stunde der Ceres (1975) regeln ein »Kosmischer Rat« und ein »Großer Galaktische Rat« die Dinge zum Wohle der Menschheit – eine Kombination aus Politbüro, RGW und Professorenkollegium. Wolfgang Kellner, der eine satirische Note in das Genre einbrachte, distanzierte sich symptomatisch für die Greifen-Autoren von Franz Fühmann, der sich in seinen Geschichten Saiäns-Fiktschen (Hinstorff 1981) am Modell von George Orwell orientierte: »Habe gestern noch die letzte Geschichte ›Pavlos Papierbuch‹ gelesen und bin entsetzt«, schreibt Kellner 1982 an seinen Lektor. »Lies die
63 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 665: Helmut Nitzschke: Bemerkungen zur Kriminalliteratur im Greifenverlag, 1980. 64 BArch DR 1/6938: Jahresbericht des Greifenverlages 1983. 65 BArch DR 1/6960: Jahresbericht des Greifenverlages 1981.
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letzten fünf Zeilen, die auch die letzten des Büchleins sind. Hat ein Schreiber das Recht, derart Pessimismus zu verbreiten? Meine Haltung ist das nicht.«66
Der Verlag nach der deutschen Einheit Der gute Absatz hatte zur Folge, dass der Greifenverlag fast ohne Bestände in die mit der Wirtschafts- und Währungsunion 1990 beginnende neue Zeit ging. Die Backlist vom Ende 1989 führte neun lieferbare Titel auf, Ladenhüter, die bis zur Währungsunion am 1. Juli 1990 makuliert werden mussten.67 Weil kaum ein Hausautor auf dem westdeutschen Buchmarkt bekannt war, wurde die bisherigen Planung nahezu komplett verworfen und in den ersten Monaten fieberhaft an einem neuen Programm gearbeitet, das vor allem in Regionalliteratur bestehen sollte. Die ersten neuen Bücher waren Reprints und überarbeitete Landschaftsbücher aus dem Fundus. Die Neuordnung fiel im Greifenverlag besonders schwer, weil Ende 1989 mit Karin Schade eine Seiteneinsteigerin die Verlagsleitung übernommen hatte, die als frühere Rundfunkredakteurin keine Branchenkenntnis mitbrachte. Sie warf angesichts der immensen Schwierigkeiten im Januar 1991 das Handbuch. Die Außenstelle der Treuhandanstalt in Gera, die den Verlag am 24. September 1990 als GmbH ins Handelsregister eintrug, gewann den privaten Investor Jürgen Pröhmer, einen ehemaligen Bibliothekar und Psychotherapeuten, der aus Franken kam und in Thüringen einen Regionalverlag, die Ostthüringische Verlagsanstalt, gegründet hatte und zugleich mit dem Greifenverlag sieben Volksbuchhandlungen übernahm.68 Was die Treuhandanstalt und die Belegschaft nicht wussten, er steckte nicht nur mit den thüringischen Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten, sondern hatte im heimatlichen Schwarzenbach eine Menge Schulden gemacht. Ohne Bonitätsprüfung hatte ihm die Treuhandanstalt am 27. März 1991 den Verlag rückwirkend zum 1. Juli 1990 übereignet. Weil die vereinbarte Kaufsumme nicht einging und die Presse über die Lage berichtete, holte die Treuhandanstalt den Verlag in ihr Eigentum zurück und meldete am 30. September 1991 Konkurs an. Ein zweiter Privatisierungsversuch erfolgte 1992. Der Schweizer Verleger Peter Birchmeier (65 %), der Buchhändler Walter Wollmann (25 %) und die Firma Verlag und Druckerei Fortschritt Erfurt GmbH (10 %) gründeten eine GmbH, die am 5. Februar 1992 den Greifenverlag mit allen Rechten übernahm und die Arbeit mit fünf Mitarbeitern unter der Leitung des Geschäftsführers Felix Weigner (geb. 1952) begann. Schon rund 1 ½ Jahre später meldete der Hauptgesellschafter die Gesamtvollstreckung an, die am 5. Oktober 1993 eröffnet wurde. Damit schien die Geschichte des Verlages abgeschlossen zu sein. Doch im Januar 2009 gründeten die Verleger Matthias Oehme, Hauptgesellschafter der Eulenspiegel Verlagsgruppe, Frank Schumann, Begründer der Edition Ost, sowie der Publizist Holger Elias den Greifenverlag in Berlin neu, anfangs als GmbH, dann als Genossenschaft. Ab dem 15. Mai 2009 hatte der Verlag unter der Leitung von Holger Elias seinen Sitz wieder in Rudolstadt und brachte in schneller Folge neue Bücher im damals neuen
66 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 667: Wolfgang Kellner an Helmut Nitzschke, 18. 8. 1982. 67 LATh – StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag, Nr. 718: Verlagsprospekt, Ende 1989. 68 Zu den misslungenen Privatisierungsversuchen Links: Das Schicksal, S. 137–140.
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Verfahren Print-on-Demand heraus. Für 2009 weist der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek 118 Titel, für 2010 29 und für 2011 noch 31 aus. Dabei handelte es sich um alte Greifenverlagstitel, rechtefreie Titel aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, darunter Ernst Barlach, Georg Heym, Ödön von Horvath und Jakob Wassermann, sowie Neuerscheinungen von zeitgenössischen Autoren. Doch am 7. März 2011 musste die Genossenschaft Insolvenz anmelden. Am 20. Juli 2011 beschloss das Amtsgericht Gera, den Geschäftsbetrieb des Greifenverlags zu Rudolstadt und Berlin eG einzustellen.69 Die Firmenrechte übernahm 2016 der Inhaber des Gebr. Knabe Verlages Weimar, Stefan Knabe,70 der den Greifenverlag als Imprint der Knabe Verlagsgruppe fortführen will. 2019 erschienen die ersten neuen Bücher, ein vierbändiger Roman um den Maler Otto Dix von Ulla Spörl sowie im vertrauten, alten Cover ein neuer Greifen-Kriminalroman von Heike Oswald-Köhler.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Akademie der Künste Berlin Johannes-R.-Becher-Archiv, Nr. 4843, 8108, 8109 Karl-Dietz-Archiv Karl-Grünberg-Archiv, Nr. 565 Amtsgericht Gera Handelsregisterakte Greifenverlag und Greifenbuchhandlung GmbH Handelsgerichtsakte Melchior Kupferschmid-Verlag Bundesarchiv Berlin Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel Reichsschrifttumskammer (PKK 2100) BDC, PK Karl Dietz Stiftung Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch) ZK der SED, Abt. Wissenschaft, DY 30/IV A2/9.04/484 Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt (LATh – StA Rudolstadt) Greifenverlag zu Rudolstadt Thüringische Staatsanwaltschaft, Nr. 517, 535, 546, 550
Gedruckte Quellen DIETZ, Karl (Hrsg.): Der Rote Greif. Eine Schau unseres Wirkens und Planens. Rudolstadt: Greifenverlag 1947.
69 Insolvenzverfahren bei Greifenverlag eröffnet. Neustart zu Ende. In: http://www.buchreport. de/nachrichten/verlage/verlage_nachricht/datum/2011/05/16/neustart-zu-ende.htm 70 Weimarer Knabe Verlag übernimmt Rudolstädter Greifenverlag. In: Thüringer Allgemeine, 9. 12. 2016.
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GRAF, Oskar Maria: Briefe aus New York an seinen Rudolstädter Verleger Karl Dietz 1950–1962. Hrsg. von Ulrich Kaufmann und Detlef Ignasiak. München: P. Kirchheim, 1994. In memoriam Karl Dietz. Gedenkworte für Karl Dietz. Rudolstadt: Greifenverlag 1965. Statut des Greifenverlages. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Kultur, Nr. 12/ 1965, S. 67–68. STEINHAUßEN, Ursula u. a.: 70 Jahre Greifenverlag zu Rudolstadt: 1919–1989. Verlagsbibliographie 1946–1988. Mit einem Text von Ursula Steinhaußen. Rudolstadt: Greifenverlag 1989.
Forschungsliteratur BERGMANN, Hans-Joachim: »Deutschland ist eine Republik, die von Rudolstadt aus regiert wird.« Das Strafverfahren gegen Max Hodann und Karl Dietz im Rudolstadt des Jahres 1928 – zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Greifenverlages. In: Marginalien, H. 117 (1/1990), S. 35–53. GÜNTHER, Susann: Aufstieg und Fall der Bundeskanzlei Hartenstein (BUHA) in den Jahren 1918–1922. Ein Versuch wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Selbsthilfe des NachkriegsWandervogels. Diplomarbeit. Leipzig 1993. HEIDERMANN, Horst: Zur Nachkriegsgeschichte des Verlages J. H. W. Dietz Nachf. In: Angela Graf: J. H. W. Dietz. 1843–1922. Verleger der Sozialdemokratie. Nachwort von Horst Heidermann. Bonn: Dietz 1998. HENKEL, Jens: Der Verlag »Gesundes Leben« Mellenbach-Rudolstadt. Von den lebensreformerischen Ideen des Wilhelm Hotz zu den Pendelforschungen von Karl Dietz. Verlagsgeschichte und Bibliographie 1904–1941. In: Blätter der Gesellschaft für Buchkultur und Geschichte 6 (2002), S. 83–144. JÜTTE, Bettina: Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949). Berlin/ New York, NY: De Gruyter 2010. LINKS, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. 2. Aufl. Berlin: Ch. Links 2010. LOKATIS, Siegfried: Dietz. Probleme der Ideologiewirtschaft im zentralen Parteiverlag der SED. In: Siegfried Lokatis: Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR. Stuttgart: Hauswedell, 2019, S. 325–349. NITZSCHKE, Helmut: Heimkehr der Bücher in das geteilte Land. Exilautoren im Greifenverlag während der fünfziger Jahre. In: Detlef Ignasiak Beiträge zur Geschichte des Buchdrucks und des Buchgewerbes in Thüringern. Jena: Quartus-Verlag 1997, S. 151–159. ULBRICHT, Justus H.: Bücher für die »Kinder der neuen Zeit« – Ansätze zu einer Verlagsgeschichte der deutschen Jugendbewegung. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 17 (1988–1992), S. 77–140. WOGAWA, Stefan: Hinwendung zum »inner space«. Der Beitrag des Greifenverlages zu Rudolstadt zur Entwicklung der Science-fiction-Literatur der DDR. In: Wir in Thüringen. Landkreis Saalfeld-Rudolstadt. Jahrbuch 2001, S. 182–185. WURM, Carsten / HENKEL, Jens / BALLON, Gabriele: Der Greifenverlag zu Rudolstadt. 1919– 1993. Verlagsgeschichte und Bibliographie. Wiesbaden. Harrassowitz 2001 (Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte 15).
Hans-Jochen Marquardt 5.3.1.8 Eulenspiegel Verlag Satire in der DDR Unter den besonderen Bedingungen im Osten Deutschlands war kurz nach dem Krieg für satirische Behandlung politischer und Alltagsthemen wenig Raum. Auch die Medien dafür fehlten zunächst. Von Anfang an gab es politische Vorbehalte und Einschränkungen – bei Personalkritik und -satire, aus sozialistischem Selbstverständnis und wegen der Aufbauschwierigkeiten, angesichts der schleppenden Entnazifizierung und des beginnenden Kalten Kriegs. Es zeigte sich bald, dass zur Bereicherung der Presselandschaft und zur Durchlüftung der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation auch andere, vielfältigere Formen des Umgangs mit den großen und kleinen Problemen benötigt wurden. Die SED propagierte nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 einen »Neuen Kurs«, der auch für die Medienoffenheit und -vielfalt Folgen hatte. Dem Volk sollten Freiheiten gegeben und mehr Spaß bereitet werden. In Propaganda und Selbstdarstellung der SED jedoch war die Unterhaltung mit einem Erziehungs- und Bildungsauftrag verbunden. Am 13. August 1953 sprach der SED-Propagandachef Fred Oelßner1 dazu in einer Beratung zur »Verbesserung der Presse- und Rundfunkarbeit«: Es müssten »auch Unterhaltung und Humor in der Zeitung ihren Platz finden, […] damit die Presse auch den politisch auf niedrigem Niveau stehenden Massen zu einem Bedürfnis wird und wodurch wir sie zugleich zu einem wirklich fortschrittlichen Bewusstsein erziehen […]. Die Zeitung muss den Menschen notwendig sein wie das tägliche Brot«.2 In dieser Situation entstanden innovative Ideen, und es kam zur Gründung einer Reihe von Unterhaltungsblättern. […] Sie wurden von engagierten und erfahrenen Sozialisten gemacht, die eine kluge und unorthodoxe Mischung von Information, Bildung und Unterhaltung anstrebten. Aber auch sie mussten in dem Spannungsfeld zwischen Parteivorgaben und Leserin3 teressen agieren und dabei ein eigenes Profil gewinnen.
Die Ambivalenzen der Satire in der DDR zeigen sich in den Gründungswehen und in der wechselvollen Geschichte der Zeitschrift und des Buchverlags »Eulenspiegel«. Dabei bewegte sich »die Satire in der DDR – über den Klassenkampf definiert und auf ihn ausgerichtet – stets im Spannungsfeld zwischen Beschränkungen und der aktiven Mitgestaltung der sozialistischen Gesellschaft«.4
1 Von 1950 bis 1955 war Oelßner Sekretär für Propaganda des ZK der SED. 2 Zitiert bei Dietrich: Kulturgeschichte, S. 510–511. 3 Dietrich, S. 510–511. Für die neueste Beschreibung dieser Prozesse siehe Dietrich: Kulturgeschichte, Abschnitt »Unterhaltungsoffensive auf allen Gebieten«, insgesamt S. 486–579, doch besonders S. 510–518 und S. 536–543. 4 Sommer: Möglichkeiten, S. 11. https://doi.org/10.1515/9783110471229-028
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1946–1954: Die Vorläufer-Zeitschrift Frischer Wind Die rasche Herstellung der Ordnung in der Presselandschaft nach dem Krieg war bestimmt von den Alliierten, von ihren politischen und ökonomischen Interessen – demgemäß zunächst von den besatzungsrechtlichen Lizenzierungen, die für jedes Presseerzeugnis erforderlich waren. Gleichzeitig bemühten sich die entstehenden politischen Parteien um den Aufbau eigener Mittel der Information und Meinungsbildung. Zu diesem Zweck gründete die KPD bereits am 24. Oktober 1945 die Zentrag, die als Holding zuständig war für die parteieigenen Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchverlage, Papierfabriken, Druckereien und Buchhandlungen. Ab dem 15. April 1946 erschien nun unter sowjetischer Presselizenz eine satirische Zeitschrift: Frischer Wind. Chefredakteur war zunächst Lex Ende (1899–1951, gleichzeitig Chefredakteur des Neuen Deutschland), vom 1. Januar 1949 an Walter Heynowski (geb. 1927). Er kam aus der französischen Zone in die Redaktion der Berliner Zeitung; dort trugen Rudolf Herrnstadt und Gerhard Kegel mit ihren auch inoffiziellen geheimdienstlichen Verbindungen zur sowjetischen Besatzungsmacht die Verantwortung. Sie wurden seine Mentoren,5 erkannten seine künstlerisch-satirische Begabung und beauftragten ihn ungeachtet seiner Jugend mit der Leitung des Frischen Wind. Direkt gefragt, ob die Umwandlung des Frischen Wind in den Eulenspiegel vom Eigentümer, der SED und deren Funktionären, veranlasst worden sei, gibt Heynowski eine überraschende Antwort: Nein. Im Gegenteil, ich pflegte damals – getreu dem Grundsatz: Willst du was erreichen, mußt du an die Großen schreiben! – einen weit über meine Befugnisse hinausgehenden Briefwechsel. Mir schwebte ein satirisches Imperium vor, das von der Zeitschrift über die Buchproduktion bis hin zur »Distel« und den »Stacheltier«-Filmen reichte. Ich hatte mich deswegen direkt an Ulbricht gewandt und wurde dann Ende 1953 von Fred Oelßner […] zu einer Audienz empfangen, die mit der Aufforderung »Mach einen Vorschlag!« endete. Und erstaunlicherweise wurde mein verwegenes Projekt abgesegnet: Anfang Mai 1954 erschien der erste »Eulenspiegel«, in der künstlerischen und literarischen Qualität deutlich verbessert, im größeren Format und im Vierfarben-Tiefdruck hergestellt; und am 1. Juli wurde der Buchverlag 6 aus der Taufe gehoben.
Das größere Format hatte Heynowski sich mit einem Trick erkämpft, indem er es vorab hatte ankündigen lassen. Das war nur schwer zurückzunehmen. Und er hatte damit eine Traditionslinie aufgenommen: 26 × 36 cm – das war einst das Format des Simplicissimus.7
1954: Die Gründung von Eulenspiegel und Eulenspiegel Verlag Heynowski trieb das Vorhaben stark voran, wollte größere Weltläufigkeit und gleichzeitig stärkere DDR-Thematisierung als im Frischen Wind, mehr Gegenwart, nicht »mehr
5 Heynowski: Zerschossene Jugend, S. 174, 182. 6 Nowak: Eule-Rückschau, S. 199. 7 Brief und Gespräch der Autorin mit Heynowski 1996/1998. In: Klötzer: Satire, S. 71.
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Witze«. Er griff mit der neuen Zeitschrift gezielt Traditionslinien der Pressesatire auf: Eulenspiegel, Simplicissimus, Ulenspiegel und eben Frischer Wind. Und er lag mit seinem Elan richtig. Das Politbüromitglied Oelßner hatte auf der Chefredakteurskonferenz vom 1. Februar 1954 zu mehr Selbständigkeit im Denken aufgerufen und dazu, eine Zeitung zu machen, »die die Massen anspricht, die von den Massen gelesen wird«.8 Heynowski erinnert sich der ersten Monate und des ideenreichen, oft mutwillig-optimistischen Zugriffs: Wir haben in jener Zeit des allgemeinen Rummels um die Aktivisten den Gegenbegriff »Passivisten« eingeführt, regelmäßig für miserable Leistungen in der Wirtschaft den »MiesabellaOrden« verliehen und erlebt, wie Betriebe sich mühten, durch bessere Ergebnisse die Rücknahme des »Ordens« zu erwirken. Passivisten im ganzen Land, selbst Kreissekretäre der Partei, hatten Angst vor uns. Wir fühlten uns ein bißchen wie die Kämpfer in der französi9 schen Revolution: Wir wollten was verändern, und man konnte viel Gutes tun.
In dieser Stimmung erfolgte auch die Verlagsgründung. Am 23. Juni 1954 beantragte Verlagsleiter Gerhard Hartmann beim Amt für Literatur und Verlagswesen, Berlin, »die Erteilung einer Verlagslizenz für den am 1. Juli 1954 seine Tätigkeit aufnehmenden ›Eulenspiegel‹«.10 Die Eintragung im Handelsregister erfolgte kurz darauf.11 Ausgenommen blieb das Grundstück Kronenstraße 73/74, für das der Verlag bis zur Wende nur Rechtsträger blieb; es war seit 28. April 1949 Volkseigentum.12 Der Verlag trat relativ spät in eine bereits entwickelte Buchhandelslandschaft. Diese war von den Grundsätzen der sozialistischen Kulturrevolution geprägt, denen zufolge die Marktgesetze die Verteilung von Kulturgütern nicht oder doch möglichst wenig bestimmen sollten. Die Erinnerungen an die frühen Jahre sind dabei besonders geprägt
8 Zitiert bei Dietrich: Kulturgeschichte, S. 510–511. 9 Heynowski im Interview in Nowak: Eule-Rückschau, S. 199. 10 Gleichzeitig teilte er mit: »Die bereits im BERLINER VERLAG erscheinende Zeitschrift ›Eulenspiegel‹ wird von uns übernommen / Der neugegründete Verlag hat weitere Aufgaben: Materndienst für die Bezirkspresse / Buchproduktion satirischen und humoristischen Charakters / Plakate – ebenfalls satirischen und humoristischen Charakters / Sonstige humoristischsatirische Materialien / Geschäftsführer und Verlagsleiter: Gerhard Hartmann, Chefredakteur für die gesamte Verlagsproduktion: Walter Heynowski. / Die Umschreibung der Lizenz für den Verlag ›Eulenspiegel‹ ist bereits beim Presseamt des Ministerpräsidenten der Regierung beantragt.« (Verlagsarchiv). Der Verlag erhielt die Lizenznummer 540. 11 Verlagsarchiv. »Magistrat von Groß-Berlin / Abteilung Staatliches Eigentum / Eintrag ins Handelsregister der volkseigenen Wirtschaft, Abteilung C / Nr. des volkseigenen Betriebes HRC 488 / Am 25. Juni 1954 / Bezeichnung: ›Eulenspiegel‹ Verlag für Satire und Humor / Vertretungsberechtigt: Gerhart Hartmann, Verlagsleiter / – vertritt die Gesellschaft allein / Sitz: Berlin / Übergeordnetes Verwaltungsorgan / Druckerei- und Verlagskontor.« 12 Verlagsarchiv. Eingetragen im Grundbuch von Friedrichstadt, Band 15, Blatt 1088. – Schreiben von Eulenspiegel an den Vormieter Berliner Verlag, 15. Dezember 1954: »Inhalt: Magistrat von Groß-Berlin, Abt. Staatseigentum – übergibt Urkunde B 3002 c Jk. über den Rechtsträgernachweis Nr. 21 / 6901«. – Demzufolge ist dem Eulenspiegel Verlag für Satire und Humor mit Wirkung vom 1. Januar 1955 die Rechtsträgerschaft für das Grundstück übertragen worden.
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von einem starken Aufbau- und Aufbruchsbewusstsein. Welches der zahlreichen Zeugnisse aus der Gründergeneration man auch betrachtet, es gab eine kollektive, weitgehend einvernehmlich-gleichstrebende Arbeitsweise.13 Zeugnisse darüber sind informativ im Hinblick auf die Einschätzung der Kollegialität, widersprüchlich jedoch in ihrer Beurteilung der Reglementierung, die in den redaktionellen Abläufen wirkte. Der Eulenspiegel Verlag war ein vergleichsweise kleiner Verlag. Dennoch hat er eine außerordentlich große Popularität erlangt, auch durch die Entwicklung einer eigenständigen Eulenspiegel-Ästhetik, die sich im Konzept der Zeitschrift ebenso formierte wie in der Buchkultur des Verlags. Die Hauptrubriken und Gestaltungselemente der Zeitschrift haben sich in der Zeit ihres DDR-Bestehens wenig geändert. Auch die Buchgestaltung und -illustration kannte ihre handwerklich überaus soliden Standards. Da sind zunächst die in der Redaktion und die frei beschäftigten Zeichner-/innen, die regelmäßig zuarbeiteten.14 Viele von diesen und manch weitere haben auch eigene Bücher im Eulenspiegel Verlag herausgebracht, und wiederum viele illustrierten auch regelmäßig Bücher. So hatten beispielsweise die Hausautorinnen und -autoren oft feste Illustratorinnen und Illustratoren für ihre Bücher: Manfred Bofinger zeichnete für Renate Holland-Moritz, Elizabeth Shaw für Lothar Kusche, Rolf F. Müller für Hansgeorg Stengel, Louis Rauwolf für John Stave, Karl Schrader für C. U. Wiesner und Ottokar Domma. Verlag wie Zeitschrift Eulenspiegel sind im Lauf der Jahre zu einer festen Institution im Lande und geradezu sprichwörtlich geworden. Mag es viele Einschränkungen und Gängelung, auch Eingriffe von Partei- und Staatsorganen in die Arbeit gegeben haben, so hat sich doch »in der Republik« das Bild verfestigt, hier finde das Volk, hier finde auch die (sozialistische) Gesellschaft einen Fürsprecher. Till Eulenspiegel hatte insofern eine Doppelfunktion als Spaßmacher und gleichsam als Robin Hood, der für Recht und gegen Anmaßung und Missbrauch kämpft. Die Rolle der Zeitschrift in der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation war groß; Klagen und Unmut konnten sich an diesem Blitzableiter entladen, Hinweise und Kritik fanden eine breite Öffentlichkeit.
13 Es existieren zahlreiche Interviews von Beteiligten: Mit Manfred Bofinger, Peter Dittrich, Walter Heynowski, Harald Kretzschmar und C. U. Wiesner in Nowak: Eule-Rückschau, dort auch Darstellungen von Renate Holland-Moritz und Jochen Petersdorf. Sylvia Klötzer hat für ihre Arbeit u. a. Hartmut Berlin, Renate Holland-Moritz, Harald Kretzschmar, Gerd Nagel, Ernst Röhl, Hans Seifert, Manfred Strahl und Hans-Werner Tzschichhold interviewt. Ute Sommer hat Gespräche geführt mit Hartmut Berlin, Achim Fröhlich, Walter Heynowski, Christian Klötzer, Lothar Kusche, Gerd Nagel, Ernst Röhl, Katharina Schulze, Hans Seifert, Hansgeorg Stengel, Manfred Strahl, Hans-Werner Tzschichhold und Hans Walde. Außerdem liegen Berichte in Erinnerungen und Erzählungen vor, etwa von Renate Holland-Moritz: Die tote Else und Die tote Else lebt, Harald Kretzschmar: Wem die Nase passt, Matthias Gubig: Stehsatz, sowie in den gesammelten Anekdoten von Walter Püschel: Die traun sich was. Geschichte, Geschichten, Gesamtverzeichnis zum 50. Geburtstag des Eulenspiegel Verlags. 14 Die meistveröffentlichten DDR-Karikaturisten im Eulenspiegel 1954–1990 (Zahl der Zeichnungen): 1. Harri Parschau 8.218; 2. Louis Rauwolf 7.890; 3. Peter Dittrich 7.054; 4. Henry Büttner 4.991; 5. Harald Kretzschmar 4.021; 6. Horst Schrade 2.925; 7. Heinz Behling 2.621; 8. Karl Schrader 2.436; 9. Heinz Jankofsky 2.293 (erst ab 1960); 10. Barbara Henniger 2.243 (erst ab 1959). Hartwig (Hrsg.): Das große Lexikon, S. 718. 130 Zeichner-/innen werden hier aufgezählt.
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Abb. 1: Werbekarte des Verlages zu C. U. Wiesner: Frisör Kleinekorte, mit Illustration von Karl Schrader.
Das Ziel der Verlagsgründung bestand nicht in erster Linie darin, den Zeichnerinnen und Zeichnern sowie den Kolumnistinnen und Kolumnisten der Zeitschrift, die zum Zeitpunkt der Verlagsgründung noch keine zwei Monate existierte, nun die Gelegenheit zu Buchpublikationen zu geben. Es sind Bertolt Brechts Kriegsfibel und das ebenfalls hervorragend edierte und von Werner Klemke15 kongenial illustrierte EulenspiegelVolksbuch Ein kurzweilig Lesen von Till Eulenspiegel geboren aus dem Lande zu Braunschweig wie er sein Leben vollbracht hat – Sämtliche Geschichten nach den ältesten Drucken erzählt und einem geneigten Publikum zu sonderbarem Nutzen unterbreitet von Gerhard Steiner, die nicht von ungefähr immer als die ersten Publikationen des Verlags gepriesen wurden. In ihnen steckt die stil- und programmprägende literarische Weite
15 Werner Klemke war Autodidakt. In der SBZ wurde der Hochtalentierte schnell ein gefragter Zeichner und Buchillustrator. Die Eulenspiegel-Illustration prägte das frühe Bild vom Verlag und wurde auch für die Werbung adaptiert. Klemke hat danach noch eine ganze Reihe Bücher illustriert, darunter, in stilistischer Fortsetzung dieser Edition, auch Wickrams Das Rollwagenbüchlein, das Lalebuch und Grimmelshausens Das wunderbarliche Vogelnest, aber auch einige der originellen Schallplattenbücher.
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und Geschichtlichkeit des Satirebegriffs, dem sich der Verlag insbesondere in der Folge von Heynowskis Bemühungen gern verschrieb. Die Probleme, die es zumindest mit der Kriegsfibel gab, deuteten demgemäß voraus auf die Auseinandersetzungen, die auch künftig und anderwärts zwischen staatlichen Behörden (insbesondere dem Amt für Literatur, dann der HV Verlage und Buchhandel) und den Verlagen und ihren Lektorinnen und Lektoren auszufechten waren. Die Hemmnisse bei der Publikation lagen in politischen Streitfragen; am Beispiel unterdrückter Abbildungen und Verse zu Friedrich Ebert wird das deutlich.16 Heynowski trug auch Verantwortung für einige andere der ›ersten‹ Titel. Sein Gespür für die Karikatur, besonders die politisch-satirische, hatte ihn auch zu Herluf Bidstrup geführt, einem Zeichner aus Dänemark, der in der DDR große Popularität und hohe Auflagen erlangte. Er wäre eines der Mitglieder des ›Daumier-Clubs‹ gewesen, der Heynowski als internationale Karikaturisten-Vereinigung ähnlich dem PEN vorschwebte und zu dessen Gründung es nicht mehr kam. Programmgestalter und intellektueller Motor für den Buchverlag war neben Heynowski der Lektor Heinz Seydel, Gründungsredakteur und einer der ideenreichsten Programmmacher, allseits beliebt und gelobt, der durch originelle Herausgeberarbeit das Bild des Verlags in der Öffentlichkeit bestimmte. Er hat die Anfangsjahre des Buchverlags kurzweilig und mit angemessener Untertreibung beschrieben17 – in der bekannten Anthologie Das Tier lacht nicht. Ein Stammbuch des komischen Menschen, herausgegeben von Werner Sellhorn und Gerhard Branstner und, wie so viele Eule-Bücher, vorzüglich illustriert. Denn der Verlag hatte von Anfang an große buchkünstlerische Potenz und legte stets Wert auf diese Seite, ebenso wie auf Höchstqualität der Buchproduktion. Darüber ist bei Gestalterinnen und Gestaltern, Zeichnerinnen und Zeichnern nachzulesen.18
1955–1961: Satire-Diskussion und die Chefredakteure Heynowski, Schmidt, Nelken Die drei Entlassungen von Eulenspiegel-Chefredakteuren in den 1950er Jahren sind, ebenso wie Maßregelungen von Satirikerinnen und Satirikern, differenziert zu sehen.19 Politisch bedingte Personalmaßnahmen betrafen meist Leute, die auch der Parteidisziplin unterworfen waren. Sie wurden oft auf andere und nicht minder wichtige Posten versetzt, wie es bei Heynowski und Schmidt der Fall gewesen ist. Ähnlich ging es mit Autorinnen und Autoren und ihren Manuskripten. Wenn ein Buch nicht durchsetzbar war in einem Verlag, war für die Autorin beziehungsweise den Autor nicht unbedingt alles verloren. Sie beziehungsweise er reichte es bei einem anderen Verlag ein und konnte in seltenen Fällen hoffen, dort eine positive Entscheidung
16 Die Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung der Kriegsfibel und ihren geringen Verkaufserfolg beschreibt Jan Knopf in seinem Nachwort zu einer erneuerten und um die einst entfernten Bilder und Texte erweiterten Ausgabe; siehe Brecht: Kriegsfibel. 17 Sellhorn: Das Tier lacht nicht, S. 305–306. 18 Exemplarisch beim Typographen und Buchgestalter Matthias Gubig; zitiert in: 50 Jahre Eulenspiegel Verlag, S. 51–56. 19 Siehe dazu auch Sommer: Möglichkeiten, S. 151–153.
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herbeizuführen. So geschah es mit Hans Bunges Gesprächen mit Ruth Berlau, Brechts Lai-tu, die eine lange Odyssee durch DDR-Verlage hinter sich hatten, 1987 aber im literarisch nicht im Rampenlicht stehenden kleinen Eulenspiegel Verlag erscheinen konnten. Hier lag die Verzögerung weniger an parteibürokratischen Einsprüchen, sondern an der Haltung von Barbara Brecht-Schall, die die Berlau-Erinnerungen missbilligte und ihre Verbreitung verhindern wollte. In einem längeren Interview zu Restriktionen und Einschränkungen befragt, antwortete Heynowski: Anfangs hatten wir noch große Spielräume. Selbst eine Beschwerde von Johannes R. Becher, über dessen Ämterhäufung (Minister, Präsident des Kulturbundes und der Akademie der Künste) wir uns lustig gemacht hatten, ging bei Walter Ulbricht ins Leere. Wir fühlten uns ziemlich stark und sicher, obwohl wir jede Woche ein Vorab-Exemplar aus der Druckerei zum ZK der SED liefern mußten, lange Zeit ohne ernste Folgen. Aber als der Apparat der 20 Partei stärker wurde und sich im Besitz der alleinigen Wahrheit wähnte, wurde es härter.
Doch schon 1955 war es mit dem Spielraum vorbei; ein Anlass fand sich mit der Beschlagnahme einer Ausgabe, in der ein Artikel satirisch die Arbeit der ›Nationalen Front‹ behandelte. Heynowski wurde zum Fernsehen versetzt. Heinz Schmidt (1906–1989), KPD-Mitglied seit 1931, wurde am 15. Dezember 1955 als sein Nachfolger zum Chefredakteur des Eulenspiegel ernannt. Bei den Eulenspiegel-Leuten war er bald anerkannt und beliebt, wie der von Schmidt entdeckte Harald Kretzschmar berichtet. Er schildert seine Anfänge bei der Zeitschrift und vermittelt ein genaues Bild von der Stimmung und von den jeweiligen Auseinandersetzungen. Seine Erinnerungen streifen auch das Problem der Politikerkarikatur und die allerorten kolportierte Geschichte vom Verbot einer Ulbricht-Karikatur, das einen Chefredakteur zu Fall brachte.21 Die durch die SED angeregten Satire-Diskussionen im Lauf des Jahres 1956 führten zu einer Entschließung der Betriebsparteiorganisation bei Eulenspiegel im Juli und zu einer Stellungnahme der Agitationsabteilung im Zentralkomitee der SED zu dieser Entschließung, die eine Aussprache nach sich zog.22 Im Dezember 1956 fand eine Konferenz der Agitationskommission des SED-Zentralkomitees mit Redakteurinnen und Redakteuren der Massenpresse statt. Albert Norden, zu dieser Zeit Sekretär des ZK der SED und Leiter der Agitationskommission, referierte,23 auch Fred Oelßner sprach und beklagte sich über eine unspezifische, generalisierende Tendenz mancher Satiren im Eulenspiegel. Am 9. Januar 1958 beschloss das ZK-Sekretariat der SED die Ablösung von Heinz Schmidt durch Peter Nelken (1919–1966) als Chefredakteur.24
20 Heynowski: Interview in Nowak: Eule-Rückschau. 21 Siehe Kretzschmar: Wem die Nase paßt, S. 18 ff. Chefredakteur Schmidt war die Publikation einer Ulbricht-Karikatur untersagt worden, er hatte diese dann bei einem Interview in der Zeitschrift Freie Welt deutlich erkennbar hochgehalten und die Bemerkung »wieviel sich von selbst erledigt« hinzugefügt. 22 Dargestellt u. a. bei Sommer: Möglichkeiten, S. 111–113. 23 Abgedruckt in: Neuer Weg 1 / 1957, S. 9–12. 24 Sommer: Möglichkeiten, S. 121.
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Zentrales Problem in der konkreten Arbeit der Zeitschrift waren immer wieder satirische Artikel, die Widerspruch auslösten. Das war mehrfach der Fall und hatte den Einzug oder Teileinzug ganzer Auflagen zur Folge. Es schlug sich auch in ständigen Hakeleien zwischen der Redaktion, dem Chefredakteur, dem Presseamt des Ministerrats und anderen staatlichen und Parteiinstitutionen, insbesondere der Kommission für Agitation und Propaganda beim ZK der SED, nieder. Gewöhnlich beklagten sich Arbeiter-/ innen und Angestellte aus Betrieben, Mitarbeiter-/innen in bestimmten Branchen, Beschäftigte aus Berufsgruppen, die in kritischen Artikeln erwähnt wurden. Ein Beispiel ist das sogenannte Gesundheitsheft, Nr. 45/1961.25 Angriffe auf Spießertum mochten gut hingehen; die Verspottung von Ärztinnen und Ärzten wegen vermeintlicher ›Geldgier‹, die sie zur ›Republikflucht‹ trieb, missfiel hingegen sowohl den Ärztinnen und Ärzten selber wie auch Partei und Regierung, für die in dieser Zeit Fluchtbewegungen ein enormes soziales und gesundheitspolitisches Problem darstellten. Das Heft wurde zum Fall, der allerdings keine personellen Konsequenzen nach sich zog – ganz so, wie viele andere ähnliche Auseinandersetzungen, die nicht derart hoch angebunden, in ihren Folgen allerdings stets zumindest unerfreulich für die Redakteurinnen und Redakteure waren, die in selbstkritischen Stellungnahmen ein Einsehen zu zeigen hatten oder gar zur ›Bewährung in die Produktion‹ geschickt wurden, eine Maßnahme, die nicht jeder so gut und gelassen überstand wie etwa Hansgeorg Stengel.26 Typisch für die Blattlinie war insofern der Brief an die Leserschaft in Nr. 2/1958, S. 1827: »Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, die Richtigen über das Falsche und nicht die Falschen über das Richtige aufzuregen.« Die Aufregung sollte aber nicht nur der vermeintlich sterbenden Ausbeuterordnung gelten und der rechtzeitigen Säuberung und Ordnung der Welt, sondern, wie es in dem Brief an die Leserschaft weiter hieß: »Dazu gehört […] auch das Saubermachen und Ordnen bei uns in der DDR, wie jeder einsehen wird, der nicht selber Dreck am Stecken hat.« In jede Ausgabe gehörte die regelmäßige großflächige Propaganda, mal auf der Titel-, mal auf der letzten Seite, gegen westdeutsche Wiederbewaffnung, Atomrüstung, Militarismus und Imperialismus. Ansonsten galt beim Eulenspiegel, schon aus Zeiten des Frischen Wind, die Maxime, dass an zwei Tabus auch selbstverpflichtend festgehalten wird: Kein Spott über Kirche und Religion und keine Scherze auf Kosten von Menschen mit Behinderungen.
1961–1973: Strukturen, Konzeption und Trennung von Zeitschrift und Buchverlag Im Jahr 1962 wurde der Verlag, so wie andere organisationseigene Betriebe (OEB) im Verlagswesen, der HV Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur unterstellt.
25 Sommer: Möglichkeiten, S. 139–143. 26 Stengel musste sich in Leipzig-Plagwitz vier Wochen »in der Produktion bewähren«, behielt dies aber als »schöne Zeit« in Erinnerung (Sommer: Möglichkeiten, S. 148). 27 Der Eulenspiegel war damals noch durchpaginiert, die Seitenzahl bezieht sich also auf S. 2 des zweiten Hefts; mithin hatte der Jahrgang 848 Seiten; bereits im folgenden Jahr waren die Hefte einzeln paginiert.
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Die geübte Praxis der Themenlisten, Jahrespläne, Druckgenehmigungsverfahren und Papierzuteilungen wurde damit zentralisiert.28 Die Diskussionen um Satire im Sozialismus hat von Seiten der Zeitschrift Eulenspiegel auch der ehemalige Westemigrant Peter Nelken geführt, der seit 1958 Chefredaktuer war, etwa 1965 mit dem Leitartikel »Auf ein Neues!«. Ihm folgte im März 1967 Gerd Nagel. Diese Debatten setzten sich im Lauf der 1960er Jahre weiter fort. Die ›Parteilichkeit‹ der Satire war der Fluchtpunkt der Diskussionen. Werner Lamberz, der damalige ZK-Sekretär für Agitation, griff mit kritischen Worten zu einzelnen Beiträgen ein, so auf einer Chefredakteurstagung im November 1968. Nicht ganze Branchen oder allgemeine politische Richtlinien sollten kritisch-satirisch behandelt, sondern konkrete Betriebe oder Verantwortliche namhaft gemacht werden. »Die Blockade von ›Verallgemeinerungen‹ zielte darauf, Problematisches als Ausnahmeerscheinung von Kritik auszunehmen.«29 Aufbau und Struktur der Zeitschrift haben sich im Lauf der Zeit wenig gewandelt, sie sind Beleg für die redaktionelle Kommunikation und Zusammenarbeit, die ähnlich wie bei Tageszeitungen nach Ressorts aufgebaut war – unter anderem Innen- und Außenpolitik, Wirtschaft, Kultur.30 Die ›Eule‹ erschien immer freitags am Kiosk; am Donnerstag gab es die Anleitung in der Abteilung Agitation des ZK der SED. Neben den international bekannten linken Zeichnern im Blatt,31 die Heynowski hinzugewonnen hatte, waren einige schon als Stammzeichner beim Frischen Wind dabei. Interviews und Selbstdarstellungen schildern, wie Talente dazustießen und sich entfalten konnten, etwa Heinz Behling, Peter Dittrich, Harald Kretzschmar, Karl Schrader oder Manfred Bofinger als vielseitiger Zeichner, Typograf, Gestalter und auch Buchautor. In diese Jahre fiel auch das erste Buch des Dramatikers und Dichters Peter Hacks, der große Erfolge auf den Bühnen in Ost und Fest feierte – Der Schuhu und die fliegende Prinzessin (1967). Beim Buchverlag unterstanden dem Verlagsleiter – einem »Strukturplan Verlag Eulenspiegel« vom 1. April 1968 zufolge – auf einer Ebene: der Cheflektor und der Kaufmännisch-technische Leiter (als Stellvertreter des Verlagsleiters), die Abteilung Kader/ Arbeit, die Vertragsstelle, die Abteilung Ausstattung, die Abteilung Planung und Rechnungswesen und Statistik, ebenso direkt die Chefredakteure von Eulenspiegel und Das
28 Das Politbüro der SED behandelte und verabschiedete die vom Ministerium für Kultur ausgearbeiteten Vorschläge über die Befugnisse der HV in seiner Sitzung am 31. Juli 1962. Die Anlage 5 des Protokolls enthält unter Punkt 4 in Beschlussform die entsprechenden Festlegungen. Der Beschluss legte die Steuerungskompetenz im staatlichen Bereich für die Buchproduktion verbindlich fest – auch für die Zukunft. Allerdings wurden der HV ausdrücklich nur bestimmte Verlage unterstellt. Der gleiche Beschluss des Politbüros schränkte nämlich unter Punkt 2 die Leitungsfunktion durch die HV für die Verlage der Parteien und Massenorganisationen ein, vor allem bezüglich der »Prinzipien der Gewinnabführung« (Protokoll Nr. 34 / 62, Anlage 5, Punkt 2, S. 1–2). 29 Klötzer in Nowak: Eule-Rückschau, S. 209. 30 Eine ausführliche Vorstellung der Struktur findet sich bei Joachim W. Jaeger in seiner Arbeit über Humor und Satire in der DDR. Er hat die relativ fest und regelmäßig aufgebauten 16 Seiten der Zeitschrift für die Mitte der siebziger Jahre genau beschrieben (S. 95–111). 31 Kretzschmar: Interview in Nowak: Eule-Rückschau, S. 204.
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Abb. 2: Peter Hacks: Der Schuhu und die fliegende Prinzessin. Eulenspiegel Verlag 1967, Schutzumschlag mit Zeichnung von Heidrun Hegewald.
Magazin. Der Verlagsleiter war verantwortlich für ökonomische, technische und kaderpolitische Aufgaben. Dem Cheflektor unterstanden der Leiter der Lektoratsgruppe Eulenspiegel und der Leiter der Lektoratsgruppe Das Neue Berlin;32 diesen wiederum unterstanden die Lektorinnen und Lektoren. Der Kaufmännisch-technische Leiter war gegenüber dem Herstellungsleiter, dem Leiter der Allgemeinen Verwaltung, dem Absatzleiter und der Kasse weisungsberechtigt. Der Herstellungsleiter leitete die Unterabteilungen Herstellung, Buch und Korrektoren; der Leiter der Allgemeinen Verwaltung den Fahrdienst, die Hausverwaltung und die Poststelle; der Absatzleiter die Werbung, den Vertrieb und das Lager. Der Buchverlag wurde bis 1962 von Gerhard Hartmann geleitet, danach von Kurt Riemer und Kurt Noack; ab 1965 leitete Käthe Krieg (1922–2020) den Verlag, Kurt Noack war Stellvertreter; 1971 wurde Wilhelm Frankenberg Verlagsleiter, 1977 Wolf-
32 Der 1946 gegründete Verlag Das Neue Berlin war am 1. 1. 1960 mit dem Eulenspiegel Verlag zusammengelegt, sodann in die Strukturen eingebunden worden und ins Verlagsgebäude gezogen. Seine Geschichte wird gesondert behandelt; siehe das folgende Kapitel 5.3.1.9 Verlag Das Neue Berlin (Sabine Theiß) in diesem Band.
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gang Sellin (1927–2017, vorher Cheflektor); und ab 1978 war Sieglinde Jörn Cheflektorin. Das MfS hatte im Verlag über eine Reihe von Informellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine breite Informationsbasis und Möglichkeiten zu Eingriffen: Joachim Walther macht in seinem Standardwerk insbesondere Käthe Krieg, den Cheflektor Gerhard Branstner (1927–2008), den Lektoratsleiter Walter Püschel (1927–2005) und die Lektorin Sonja Schnitzler namhaft.33 1973 zog der Berliner Verlag, ebenfalls in SED-Eigentum befindlich, in das neu erbaute Pressehaus am Alexanderplatz. Hier erschienen die Zeitungen und Zeitschriften Berliner Zeitung, BZ am Abend, Neue Berliner Illustrierte, Wochenpost, Für Dich, Freie Welt, horizont und FF dabei, ab nun auch Eulenspiegel und Das Magazin, die damit aus dem Eulenspiegel Verlag herausgenommen wurden und von der Kronenstraße an den Alexanderplatz zogen.
Der Eulenspiegel Verlag 1973–1989: Lachen und Lachen lassen Alle fünf Jahre brachte der Verlag eine von Manfred Bofinger gestaltete Bibliographie heraus. Verlagsdirektor Wilhelm Frankenberg gab im Vorwort der Ausgabe von 1974 eine kurze Zusammenfassung der Verlagsproduktion und warf noch einmal einen Blick auf die Gründungsphase Mitte der 1950er Jahre. Andere Verlage unserer Republik hatten zu dieser Zeit in verdienstvoller Weise bereits viele humoristisch-satirische Werke der Weltliteratur in ihren »Besitz« gebracht. Ob es sich um Cervantes handelte, Saltykow-Schtschedrin, Erich Weinert oder Kurt Tucholsky, immer ging es uns wie dem Hasen beim Wettlauf mit dem Igel. Aus dieser Not machten wir eine Tugend und bemühten uns zunächst hauptsächlich um die Autoren und Zeichner der Zeitschrift »Eulenspiegel«. Es entstanden lustige Bändchen, die rasch populär wurden. Künstler der Bruderzeitschriften »Krokodil«, »Szpilki«, »Ludas Matyi« und »Dikobraz« kamen dazu und viele Anthologien. Manche davon sind auch heute noch gefragt: »Welthumor«, »Lachen und lachen lassen«, »Der gepfefferte Sprüchbeutel«, »Kapriolen der Liebe« und einige andere. Das zweite Jahrzehnt brachte neue Namen und neue Titel. Rudi Strahl schrieb seine heiteren Romane, Dommas »Braver Schüler Ottokar« begeisterte jung und alt, die Liebhaber Stengelscher Epigramme kamen auf ihre Kosten. Die Reihe »Klassiker der Karikatur« wurde geboren, bald darauf die »Dicken Bücher« mit dem »Dicken Schmittbuch« an der Spitze, die Schallplattenreihe eroberte sich einen festen Freundeskreis genau wie die Kronenkrimis und vor allem die 34 Werke unserer heiteren Gegenwartsliteratur.
Die Popularität des Eulenspiegel Verlags war enorm gewachsen. 1974 stieg die Produktion auf 50 Titel in einer Gesamtauflage von 720.000 Exemplaren. Es gab, in wechselnden Restaurants und mit Fernsehaufzeichnung, »Eulenspiegels Probierstube«, in der Autorinnen und Autoren ihre Bücher vorstellten; der Lektor Walter Püschel hat bei Erscheinen von Loriots »Dickem Buch« auch diesen selbst zur Teilnahme bewegen können. Geplant war ein Eulenspiegel Café nahe dem Verlag, sehr viel später sollte eine Buchhandlung an der Ecke Glinka- / Kronenstraße im benachbarten Neubau Kronenstra-
33 Walther: Sicherungsbereich Literatur, S. 791–792. 34 Vorwort zur Ausgabe der Eulenspiegel-Bibliographie von 1974.
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Abb. 3: 30 Jahre Bücher aus dem Eulenspiegel Verlag, Verlagsbibliographie 1984, Schutzumschlag mit Illustration von Manfred Bofinger.
ße 75 hinzukommen. Und alljährlich gab es eine Folge von Lesungen im Palast der Republik. Renate Holland-Moritz erinnert sich: Im Jahre 1975 kreierte der Eulenspiegel Verlag seine Veranstaltungsreihe »Lachen und lachen lassen«. Das war gewissermaßen eine Großraumlesung unter Beteiligung von zehn Stammautoren des Eulenspiegelhauses. Zum Zwecke musikalischer Auflockerung wurden jeweils populäre singende Schauspieler sowie der Komponist und Pianist Henry Krtschil mit seiner Instrumentalgruppe hinzuengagiert. Das Debüt fand in der Berliner Volksbühne am Luxemburgplatz statt und wurde sogar vom Fernsehen aufgezeichnet. […] 1976 erhielt der Eulenspiegel Verlag die Chance, mit seiner Veranstaltung »Lachen und lachen lassen« in den gerade eröffneten Palast der Republik umzusiedeln. Das war sehr ehrenvoll und überaus massenwirksam, denn wir durften im Großen Saal auftreten und allherbstlich sechsmal hintereinander 35 vor je 2800 Zuschauern unser Programm vorstellen.
Berühmtheit und Popularität erlangte der Verlag auch durch originelle Werbung und Marketingmaßnahmen – die selbstkreierten Wandererwitze, Lesezeichen (mit ausge-
35 Holland-Moritz: Tote Else, S. 144 ff.
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Abb. 4: ›Schönstes Buch‹ 1980: Dieter Mucke: Laterna Magica, Schutzumschlag mit Illustration von Egbert Herfurth.
schnittener Till-Figur), Minibüchlein und den seit 1959 bis heute erscheinenden Postkartenkalender; mehr noch durch populäre Reihen, etwa die »Dicken Bücher« – zum Teil mit zahlreichen und hohen Nachauflagen: Erich Schmitt 1968, Heinrich Zille 1971, Herluf Bidstrup 1973, Zbigniew Lengren 1974, Wilhelm Busch 1975, Karl Schrader 1975, Loriot 1976 und Jean Effel 1979, die Bände Klassiker der Karikatur, die Schallplattenbücher und nicht zuletzt mehr als fünfzig mit Auszeichnung oder Anerkennung versehene ›Schönste Bücher‹ und etwa dreißig ausgezeichnete ›Schönste Schutzumschläge‹. Häufig beziehen sich Produktionsangaben, insbesondere zu Neuerscheinungen, auf den Doppelverlag Eulenspiegel / Das Neue Berlin. Bei vielen Angaben, selbst wenn sie sich nur auf den Eulenspiegel Verlag beziehen, werden auch Neu- und Nachauflagen zur Titelzahl pro Jahr hinzugerechnet. Verlässlich sind die Angaben aus der EulenspiegelBibliographie von 1988: Sie enthält knapp 900 Titel, was circa 25 Neuerscheinungen pro Jahr entspricht. Bis einschließlich 1993 sind im Eulenspiegel Buchverlag letztlich knapp 1.000 Bücher erschienen.
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1989–1993: Abwicklung und Neubeginn In den Wendeereignissen versuchte der Verlag, mit einigen Titeln auf die neue politische Situation zu reagieren, soweit sich das bei der erforderlich langen Vorausplanung realisieren ließ. Unter den Neuerscheinungen, die noch ein Jahr zuvor sensationell gewesen wären, befanden sich z. B. Manfred Bielers Roman Das Kaninchen bin ich, Hans Tichas Anhaltender Beifall oder der Sammelband Die Konterrevolution 1989.36 Außerdem druckte er schnell einst begehrte Bücher nach. Zum Bestseller wurde ein kleines Buch im Format und Design der Zigarettenmarke Karo: Ernst Röhls vielfach aufgelegtes satirisches Wörterbuch zur DDR-Sprache Deutsch–Deutsch.37 Die Leitungs- und Besitzverhältnisse änderten sich alsbald. In einer Betriebsversammlung im März 1990 wurde dem Verlagsdirektor Wolfgang Sellin das Misstrauen ausgesprochen; die Cheflektorin Sieglinde Jörn wurde übergangsweise amtierende Verlagsleiterin. Die Gründung einer Mitarbeiter-GmbH mit 20 Gesellschafterinnen und Gesellschaftern wurde beschlossen und der Produktionsleiter Wolfgang Gatzke vorsorglich zu deren Geschäftsführer bestimmt. Mit der SED-PDS war vereinbart worden, dass sie den Verlag nicht wie andere ihrer Betriebe in Volkseigentum überführt, sondern ihn an die Mitarbeiter-GmbH verkauft. Am 14. Mai 1990 wurde der Kaufvertrag zwischen der GmbH (i. G.) und der PDS geschlossen, finanziert über einen Kreditvertrag. In Bezug auf das in die Diskussion gebrachte Grundstück Kronenstraße 73/74 wurden die Käufer aber nur als Nutzer und nicht als Eigentümer behandelt, und demgemäß wurde das Haus auch nicht als mutmaßliche Sicherheit berücksichtigt. Der Kaufpreis betrug 4,698 Mio. Mark, die über einen Darlehensvertrag38 mit der PDS finanziert worden sind; die Summe wurde am 19. April durch Bereinigung der Bilanz zum 31. Dezember 198939 ermittelt und erschien unter diesem Gesichtspunkt als realistisch. Die Darlehensbedingungen insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt akzeptabel. Dies änderte sich bald durch die laufenden Entwicklungen der politischen Verhältnisse und des Marktes. Die Zinsen von 3,25 Prozent waren ab 1991 zu zahlen, die (jährliche) Rückzahlung in Raten zu 200.000 Mark sollte am 1. Januar 1992 beginnen, fällig jeweils zum 30. November des Kalenderjahres. Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR hatte am 1. Juni 1990 ihre Arbeit aufgenommen.40 Am
36 Manfred Bieler: Das Kaninchen bin ich. Berlin: Eulenspiegel Verlag 1990; Hans Ticha: Anhaltender Beifall. Bilder aus der DDR. Berlin: Eulenspiegel Verlag 1991; Michael Thiemann (Hrsg.): Die Konterrevolution 1989. Berlin: Eulenspiegel Verlag 1990. 37 Ernst Röhl: Deutsch-Deutsch. Ein satirisches Wörterbuch. Berlin: Eulenspiegel Verlag 1991 ff. (10 Auflagen). 38 Verlagsarchiv. Am 31. Mai 1990 kam zu diesem Kredit noch ein weiterer über 1,5 Mio. Mark hinzu, der zur Sicherung der laufenden Produktion und des künftigen Programms bereitgestellt wurde. 39 Verlagsarchiv: Schreiben des Ökonomischen Direktors und Hauptbuchhalters an die PDS / Kommission Parteivermögen. 40 Mit dem am 31. Mai 1990 von der Volkskammer beschlossenen Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Parteien und andere politische Vereinigungen (Parteiengesetz vom 21. Februar 1990 – PartG-DDR) wurde das Vermögen der Parteien der DDR und der mit ihnen verbunde-
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18. Juni 1990 wurde die Rechtsnachfolge des einst parteieigenen Eulenspiegel Verlags sowie des Verlags Das Neue Berlin notariell festgehalten: Unter der Firma Eulenspiegel – Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH und mit einem Stammkapital von 100.000 Mark gründeten 20 Mitarbeiter-/innen den neuen Doppelverlag. In dieser Zeit haben auch Gespräche über ein Zusammengehen von Zeitschrift und Buchverlag stattgefunden, die aber ergebnislos verliefen.41 Gemäß Bescheid vom 11. März 1991 kam der Verlag dann jedoch aufgrund des Parteiengesetzes unter die Verwaltung durch die Treuhandanstalt (Direktorat Sondervermögen). Auf einer Gesellschafterversammlung am 1. Juli 1991 zur DM-Eröffnungsbilanz (vom 1. Juli 1990) wurde die Personalreduzierung auf 21 Mitarbeiter-/innen beschlossen und zu den Kredit-Verbindlichkeiten über fünf Jahre informiert: 3.099.000 DM. Der Jahresumsatz ging 1992 aber auf 0,6 Mio. DM zurück, der Jahresabschluss wies ein Minus von 0,77 Mio. DM auf. Die programmatischen Entscheidungen in der »Wendezeit« sind unter den Akteuren umstritten. Der neue Verlagsleiter Heinfried Henniger (geb. 1934)42 hatte ein ambitioniertes und teures, aber zum Verlag und seiner Ausrichtung passendes Programm entworfen, in das die Treuhand jedoch kein Vertrauen setzen wollte. Henniger war im Januar 1993 durch die Maßnahmen der Unabhängigen Kommission genötigt, wegen »Zahlungsunfähigkeit« Konkurs anzumelden – denn die THA genehmigte dem Verlag keine Zahlungen mehr.43 Man wollte das durchaus vorhandene Geld nicht verlieren. Die Mitarbeiter-/innen hatten mit hohem Engagement versucht, die Vertriebsleistung des Verlags auf dem für sie neuen Markt zu steigern; sie erreichten damit viel Aufmerksamkeit, hatten aber wenig Erfolg. So ließ auch die Produktivität des Verlags in dieser Zeit erheblich nach. 1990 erschienen 14 Titel in Erstauflage, 1991 dann 13, 1992 nur noch 7 und 1993, im Jahr des Neustarts nach der Insolvenz, ganze 5. Es hatten sich
nen Organisationen, juristischen Personen und Massenorganisationen, das am 7. Oktober 1989 bestanden hat oder seither an die Stelle dieses Vermögens getreten war, unter treuhänderische Verwaltung gestellt (§ 20b Abs. 2 PartG-DDR). Die treuhänderische Verwaltung wurde durch § 20 b Abs. 3 PartG-DDR einer Unabhängigen Kommission übertragen. Zugleich bestimmt § 20b Abs. 1 PartG-DDR, dass mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes – 1. Juni 1990 – die Parteien und die mit ihnen verbundenen Organisationen, juristischen Personen und Massenorganisationen Vermögensveränderungen nur mit Zustimmung des Vorsitzenden der UKPV vornehmen können. 41 Hartmut Berlin, der zusammen mit Jürgen Nowak die Zeitschrift Eulenspiegel übernommen hatte, sagte dazu seinerzeit: »Wir haben eigentlich vorgehabt, […] die Gunst der Stunde zu nutzen, um einen Satireverlag wiederherzustellen. […] Buch und Zeitung sind organisatorisch nicht zusammengekommen und es passierte auch alles in einer Zeit, wo wir sehr unsicher waren.« (Interview im Deutschlandfunk, 19. Juni 1991, in: Literarische Kritik; Skript der Sendung im Verlagsarchiv). 42 Lektor und Cheflektor zunächst beim Buchverlag Der Morgen, später beim Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, beziehungsweise beim Reclam-Verlag Leipzig. Den Eulenspiegel Verlag leitete er von 1992 bis 1993. 43 Verlagsarchiv. Am 25. September 1992 wurde ein Zahlungsverbot für Rechnungen über 2.000 DM erlassen.
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neue Eigentümer gefunden, die Rechte und Bestände übernahmen, ohne für die Verbindlichkeiten einstehen zu müssen. Sie schufen danach eine neue Eulenspiegel Verlagsgruppe.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Eulenspiegel Verlagsgruppe Verlagsarchiv des Eulenspiegel Verlags Berlin
Gedruckte Quellen 50 Jahre Eulenspiegel Verlag: Die traun sich was – Geschichte, Geschichten, Gesamtverzeichnis. Berlin: Eulenspiegel Verlag 2004. BRECHT, Bertolt: Kriegsfibel. Hrsg. von Ruth Berlau. 5., erw. Aufl. Mit Nachworten von Günter Kunert und Jan Knopf. Berlin: Eulenspiegel Verlag 1994. DDR-Verlage: Unterrichtshilfe für die Berufsausbildung Facharbeiter Buchhändler. Dokumentation zur Verlagskunde. Leipzig 1988. Eulenspiegel. Zeitschrift für Satire und Humor. Berlin: Eulenspiegel Verlag 1954–1972. GRIMM, Thomas: Eine Reise ins Leseland: Bücher, Verlage und Leser in der DDR. Marl: AdolfGrimme-Institut 1994 (Film). GUBIG, Matthias: Stehsatz. Was ich noch nicht ablegen will. Leck: Clausen und Bosse, 1995. Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur (Hrsg.): Ordnung für den Literaturvertrieb: für verbindlich erklärt ab 1. Juli 1969. Leipzig: VEB Fachbuchverlag 1969. HEYNOWSKI, Walter: Der Film meines Lebens – Zerschossene Jugend. Berlin: Das Neue Berlin 2007. HOLLAND-MORITZ, Renate: Die tote Else – Ein wahrhaftiges Klatschbuch. Berlin: Eulenspiegel Verlag 1986. HOLLAND-MORITZ, Renate: Die tote Else lebt – Wahrhaftige Klatschgeschichten aus fünf Jahrzehnten. Berlin: Eulenspiegel Verlag 2000. KRETZSCHMAR, Harald: Wem die Nase paßt. Berlin: Eulenspiegel Verlag 2001. NOWAK, Jürgen (Hrsg.): 50 Jahre Eulenspiegel. Satire, Humor, Nonsens. Die Klassiker aus 5 Jahrzehnten – Die Jahre 1954–1969. Berlin: Eulenspiegel GmbH, 2004. NOWAK, Jürgen: Eule-Rückschau. In: Jürgen Nowak (Hrsg.): 50 Jahre Eulenspiegel. Satire, Humor, Nonsens. Berlin: Eulenspiegel GmbH, 2004, S. 199–210. Rahmenkollektivvertrag über die Arbeits- und Lohnbedingungen der Werktätigen in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Verlagen vom 29. April 1982. Berlin: Staatsverlag der DDR 1982. SCHIELMANN, Heinz (Bearb.): 35 Jahre Bücher aus dem Eulenspiegel Verlag Berlin: Gesamtverzeichnis 1954–1988. Berlin: Eulenspiegel Verlag 1989. SELLHORN, Werner / BRANSTNER, Gerhard (Hrsg.): Das Tier lacht nicht. Ein Stammbuch des komischen Menschen. Berlin: Eulenspiegel Verlag, 1965. Ulenspiegel. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Satire – Eine Auswahl 1945–1950. Berlin: Eulenspiegel Verlag, 1978. Verlage der Deutschen Demokratischen Republik. Leipzig: Börsenverein der Deutschen Buchhändler, 1969. Viel Büchermachens ist kein Ende: 40 Jahre Eulenspiegel Verlag; ein Almanach. Berlin: Eulenspiegel Verlag, 1994.
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Forschungsliteratur DIETRICH, Gerd: Kulturgeschichte der DDR. 3 Bände. 2., überarb. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019. FRANK, Wilhelm: Literarische Satire in der SBZ / DDR 1945–1961. Autoren, institutionelle Rahmenbedingungen und kulturpolitische Leitlinien. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 1998 (Poetica, Band 30), S. 188–191. HARTWIG, Jürgen (Hrsg.): Das große Lexikon aller DDR-Karikaturisten, Pressezeichner und -illustratoren, von A wie Adam bis Z wie Zschoche. Verein zur Dokumentation der DDRAlltagskultur e. V., Berlin: 2003. Institut der Deutschen Wirtschaft: Tages- und Wochenzeitungen von in der DDR registrierten Verlagen. Köln, 1990 (Medienspiegel / Dokumentation). Institut der Deutschen Wirtschaft: Zeitschriften ehemaliger DDR-Verlage. Köln, 1990 (Medienspiegel / Dokumentation). JAEGER, Joachim W.: Humor und Satire in der DDR: ein Versuch zur Theorie. Frankfurt am Main: R. G. Fischer, 1984. KLÖTZER, Sylvia: »Volldampf voraus?« – Satire in der DDR. »Eulenspiegel« und »Kabarett am Obelisk« in den siebziger und achtziger Jahren. In: Thomas Lindenberger (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 1999 (Zeithistorische Studien, Bd. 12), S. 267–313. KLÖTZER, Sylvia: Satire und Macht: Film, Zeitung, Kabarett in der DDR. Köln: Böhlau, 2006. KRÜGER, Cornelia: Junge Verlage der DDR zwischen Etablierung und Scheitern. In: Börsenblatt (Leipzig) 157 (1990) 32, S. 581–582. LINKS, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. Berlin: Ch. Links, 2009. LINKS, Christoph: Ein Buch und seine Konsequenzen. Das Schicksal der DDR-Verlage – eine nicht enden wollende Geschichte. In: Patricia F. Blume / Thomas Keiderling / Klaus G. Saur (Hrsg.): Buch macht Geschichte. Berlin: De Gruyter Saur 2016, S. 221–223. LINKS, Christoph: Was wurde aus dem ›Leseland DDR‹? Der Wandel von Verlagen, Buchhandlungen und Bibliotheken im Osten Deutschlands. In: Hannes Bahrmann / Christoph Links (Hrsg.): Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – Eine Zwischenbilanz. Berlin: Ch. Links 2005, S. 282–291. LÖFFLER, Dietrich: Literaturplanung in der DDR. Verlagsarbeit im Aufbau-Verlag nach der 6. Tagung des ZK der SED 1972. Halle (Saale): Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medien- und Kommunikationswissenschaft, 2002. SOMMER, Ute: Möglichkeiten der Satire in der SBZ und DDR: untersucht am Beispiel des »Frischen Wind«, »Eulenspiegel« in den Jahren von 1946 bis 1989. Dissertation, Universität Leipzig 2006 (maschinenschriftlich). WALTHER, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Ch. Links Verlag, 1996. WOKALEK, Astrid: Zum Westexport der DDR-Verlage. Bonn: Gesamtdeutsches Institut, Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben 1986.
Sabine Theiß 5.3.1.9 Verlag Das Neue Berlin Der Verlag Das Neue Berlin, der in der DDR für seine Kriminal-, Abenteuer und Science-Fiction-Bücher bekannt war, erhielt am 28. August 1946 im Berliner Club »Die Möwe« unter dem Namen Verlagsgesellschaft m.b.H. Das Neue Berlin die Lizenz Nr. 91 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Einer der Gesellschafter war Arthur Pieck, Sohn des späteren DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck. Dem Verlag wurde die frühere Magistratsdruckerei der Stadt Berlin zugewiesen, um zunächst mit dem Druck von Lebensmittelkarten, Gesetzen, Dienst- und Beschwerdeordnungen zu beginnen.1 Ab 1947 wurden erste Bücher verlegt, und erst ab 1952 Unterhaltungsliteratur.2 Die Geschäftsführung übernahm anfangs der Kaufmann Georg Kauerhof, das Grundkapital betrug 20.000 Mark. Ab 1953 wurden der Verlag von Paul Letsch (1893–1954) geführt.3 Nach seinem Tod übernahm Johannes Müller die Verlagsleitung.4 Im Rahmen einer Neuorganisation des Verlagswesens verlor Das Neue Berlin 1957 seine Selbständigkeit und wurde dem Verlag Rütten & Loening angegliedert. Das Lektorat blieb eigenständig, und die Bücher wurden weiterhin unter dem alten Impressum publiziert. Die Verlagsführung jedoch lag nun bei Else Manske-Krauss (1904–unbekannt), der Leiterin von Rütten & Loening.5 Im Jahr 1960 wurde der Verlag schließlich mit dem parteieigenen Eulenspiegel Verlag zusammengelegt und gehörte fortan der SED, wurde aber treuhänderisch ab 1963 von der HV Verlage verwaltet, an die auch Bericht erstattet werden musste. Der Verlag zog in die Kronenstraße, wo er unter einem Dach mit dem größeren Eulenspiegel Verlag bis zum Ende der DDR firmierte. Zu dieser Zeit war Kurt Riemer (1909–2004) Verlagsleiter. Im Amt folgten ihm Käthe Krieg (1922–2020), Wilhelm Frankenberg (gest. 1963) und ab 1978 schließlich Wolfgang Sellin (1927–2017), der diese Funktion bis zum Ende der DDR ausübte. Jährlich erschienen im Verlag Das Neue Berlin ca. 40 bis 50 Titel. Zum 25. Jubiläum 1971 waren insgesamt bereits 835 Titel mit einer Gesamtauflage von etwa 28 Mio. Exemplaren erschienen, davon 510 Erstauflagen und 325 Nachauflagen.6
Vom Formulardruck zur Aktionsliteratur Der führende Verlag der DDR für Unterhaltungsliteratur startete sein Programm nicht mit Unterhaltung. Nach der Gründung umfasste das Verlagsprogramm zunächst die Herausgabe von Zeitschriften und Publikationen, die sich besonders mit dem Leben sowie mit der kulturellen und wirtschaftlichen Neugestaltung Berlins befassten.7 So wurden
1 Links: Das Schicksal, S. 205. 2 Ture von zur Mühlen: Dem Erfolg auf der Spur, S. 12. 3 Vgl. SAPMO, Bestand Zentrag, DY 63/3555: Das Neue Berlin – Eintrag ins Handelsregister, Berlin. 4 Vgl. Maier: Verlagsporträt 1971, S. 478. 5 Vgl. Redlin: Interview. 6 Vgl. Maier: Verlagsporträt 1971, S. 477. 7 Vgl. Das Neue Berlin: Verlagsprogramm, S. 574. https://doi.org/10.1515/9783110471229-029
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etwa Straßenverzeichnisse, eine Schriftenreihe zu Arbeit und Beruf (1946–1948), eine Broschüre zur Sicherheit im Haushalt (1947) und Liederbücher gedruckt, aber auch Lebensmittelkarten und Anmeldeformulare. Die Formularabteilung spielte in den Anfangsjahren eine wichtige Rolle, da die Herstellungskosten minimal, die Auflagenhöhen hingegen enorm waren.8 Diese Abteilung bestand bis 1954. Ab 1947 wurde das Verlagsprogramm erweitert. Der erste belletristische Titel war Aus der Wirrnis dieser Zeit, ein Gedichtband des Arbeiterdichters Walter Dehmel. Der Name Das Neue Berlin war anfangs Programm. Schöngeistige »Berlin-Literatur«, die der »demokratischen Erneuerung des Kulturlebens«9 diente, wurde gesucht und verlegt. Das »Neue« in der gesellschaftlichen Entwicklung Berlins sollte in der Literatur ihren Ausdruck finden, doch die Autoren griffen meist auf die alten Probleme zurück. So wurde zunächst alles verlegt, was den Anschein hatte, vom Leser gekauft zu werden: der Karikaturist Paul Simmel und der Künstler Heinrich Zille sowie die Autoren Clara Viebig und Theodor Fontane, von letzterem eine Werkausgabe in 16 Bänden, die bis in die 1960er Jahre hinein herausgegeben wurden.10 Doch das Kriterium »Berlin-Literatur« wurde bald zur Fessel. Erbe-Literatur konnte nicht ewig verlegt werden, und die Gegenwartsautoren ließen sich meist nicht auf die Stadtgrenzen festlegen.11 Ein Umbruch im Programm kam im Jahr 1952, als sich der junge Schriftsteller Wolfgang Schreyer mit seinem ersten Roman an den Verlag wandte. Großgarage Südwest wurde der erste Krimi des Verlags, den der Autor selbst als »recht unpolitisch« bezeichnete.12 Der Verlag hatte einen Bereich entdeckt, dem er sich ohne Konkurrenz zuwenden konnte, denn zeitgenössische Kriminalromane wurden in der frühen DDR noch nicht verlegt. Bücher der Kriminal- und Abenteuerliteratur galten bisher als »Abfallprodukte der Nationalliteratur«.13 Die bei westdeutschen Verlagen erschienenen Krimis wurden als »Schmutz- und Schundliteratur« abgelehnt. Doch viele Leser verlangten nach »leichter und unpolitischer Literatur«.14 Das Neue Berlin unter dem Leiter Paul Letsch machte es sich deshalb zur Aufgabe, ein Gegengewicht aufzubauen: Der Verlag wird also realistische und fortschrittliche Kriminal- oder Abenteuerbücher veröffentlichen, die unseren Lesern in der Deutschen Demokratischen Republik neben der Unterhaltung gleichzeitig die Anleitung zur erhöhten Wachsamkeit geben und dazu beitragen sollen, die Gefahr der Schmutz- und Schundliteratur durch die Veröffentlichung guter Kriminalbücher 15 zu bannen.
8 Vgl. Archiv der Eulenspiegel/Das Neue Berlin Verlagsgruppe: Bestände zum Verlag Das Neue Berlin: 40 Jahre Das Neue Berlin. 9 Ebert: Die Gratulation des Kritikers, S. 777–778. 10 Vgl. Archiv der Eulenspiegel/Das Neue Berlin Verlag GmbH: Bestände zum Verlag Das Neue Berlin: 40 Jahre Das Neue Berlin. 11 Vgl. Ebert: Die Gratulation des Kritikers, S. 777–778. 12 Schreyer: Zu guter Letzt, S. 108. 13 Ebert: Die Gratulation des Kritikers, S. 777–778. 14 BArch, DR 1/1896: Fritz an Kienast von der HA Verlagswesen, 4. 12. 1952. 15 BArch, DR 1/1896: Hinweis für Literaturkritik von Lange an den Abteilungsleiter Hoffmann vom Hauptlektorat Belletristik, 22. 8. 1952.
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1953 erschien Schreyers zweites Buch Mit Kräuterschnaps und Gottvertrauen mit einem Schutzumschlag, der ähnlich wie der erste gestaltet war: Ein gelber Rand oben und unten umfasste ein Titelbild. Die Gelbe Reihe war geboren, für die nächsten zwanzig Jahre eine wichtige Plattform für Abenteuer-, Kriminal- und später auch utopische Romane. 1966 erhielte die Reihe eine neue Gestalt: Broschurbände mit einem Cover, das eine Deckelillustration schmückte und je nach Genre eine übergroße Versalie K, A oder U trug. Das Neue Berlin zeichnete sich auch dadurch aus, dass es vielen unaufgefordert eingesandten Manuskripten und Debütanten eine Chance gab, nicht nur in der Anfangsphase, sondern durchgängig bis in die 1980er Jahre. Man wollte gute Autoren mit spannenden Geschichten aus dem Kreis der unentdeckten Talente finden. Beispiele für den Erfolg, den diese Methode erbrachte, sind Autoren wie Wolfgang Schreyer, Harry Thürk, Eberhardt del’ Antonio.16 Anfangs kam aus dem Amt für Literatur Kritik, weil die verlegten Bücher in der Regel nicht dem programmatischen Verlagsnamen entsprachen. Die Literaturkritik stand dem Verlag ebenso ablehnend gegenüber, wenn sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahm. Doch der Verlag erkämpfte sich sein Profil und machte sich im Buchhandel einen Namen. Absatzprobleme gab es keine, die »Abenteuer- und Spannungsliteratur [stand] in der Gunst der Leser gleichbleibend an erster Stelle«.17 Der Verlag hatte sich einem wirtschaftlich lukrativen Bereich zugewandt: Hohe Auflagen konnten abgesetzt werden, sodass die Bücher viel Geld einbrachten und Das Neue Berlin Prämien vom vorgesetzten Druckerei- und Verlagskontor (DVK) bekam. Deshalb waren seine Existenz und seine Stellung in der DDR-Verlagslandschaft bald unumstritten.18 Der Zusammenschluss mit dem Eulenspiegel Verlag erfolgte 1960, weil beide Verlage die Aufgabe hatten, Unterhaltungsliteratur für ein großes Publikum zu schaffen. Die kulturpolitischen Aufgaben des Verlagswesens der DDR sind unmittelbar mit der augenblicklichen Situation des Kampfes um die deutsche Nation und damit um die Erhaltung des Friedens verknüpft. Innerhalb der sozialistischen deutschen Gegenwartsliteratur ist die Unterhaltungsliteratur entsprechend den letzten Beschlüssen von Partei und Regierung […] stärker als bisher zu fördern und weiter zu entwickeln. Das ist vor allem deshalb notwendig, weil sie breite Leserkreise anspricht und die grossen und ständig wachsenden Bedürfnisse auf diesem Gebiet besser befriedigen muß. Die sozialistische Unterhaltungsliteratur hat eine starke emotionale Wirkung und ist deshalb in hervorragendem Maße geeignet, auf die Leser in politischer und kultureller Hinsicht erzieherisch und bildend einzuwirken. […] daher sollte ein Verlag geschaffen werden, der auf dem Gebiete der sozialistischen Unterhaltungsliteratur 19 maßgebend ist und die erforderliche Entwicklungsarbeit leisten kann.
Beide Firmen bildeten eine Verlagsunion, in der Geschäftsleitung, Verwaltung, Herstellung, Werbung und Vertrieb gemeinsam, die Lektorate jedoch weiterhin getrennt arbeite-
16 17 18 19
Vgl. Redlin: Interview. Barck: Symptomkritik, S. 239. Vgl. Redlin: Interview. BArch, DR 1/7214: »Funktionen und Aufgaben eines Verlages für sozialistische Unterhaltungsliteratur unter Berücksichtigung der Profilierung des Verlagswesens« von Rie./KL., 29. 10. 1962.
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ten.20 Die Cheflektoren wechselten mehrfach, das Amt inne hatten z. B. Wolfgang Lange, Gerhard Branstner (1927–2008), Wolfgang Sellin (1927–2017) und Sieglinde Jörn. Der Verlag bemühte sich um eine theoretisch-wissenschaftliche Klärung des Begriffs »Spannungsliteratur«, die in der DDR-Literaturwissenschaft nicht zu finden war. Thesen wurden aufgestellt, um Maßstäbe für die im Haus verlegten Genres festzulegen und zu erklären, wieso diese nützlich und berechtigt seien, aber auch um den Autoren Denkanstöße geben zu können. Man einigte sich schließlich auf den Oberbegriff Aktionsliteratur mit den drei Säulen des Verlags: Kriminal-, Abenteuer- und utopisch-phantastische Literatur.21
Kriminalliteratur Sobald Das Neue Berlin beschlossen hatte, Krimis zu verlegen, wurde die NB-Reihe ins Leben gerufen: günstige Taschenbücher in hohen Auflagen von 20.000 Exemplaren aufwärts. Hier erschienen bis 1969 insgesamt 70 Kriminalromane und Erzählungen von DDR-Autoren wie Fred Unger, A. G. Petermann, Hans Pfeiffer, Hans Walldorf (d. i. Erich Loest), aber auch internationale Klassiker von Agatha Christie und Arthur Conan Doyle.22 Bei der Herausgabe neuer Krimis galt es, Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln. Das Lektorat war sich zunächst unsicher, inwiefern seine angelegten Maßstäbe bei der Begutachtung der Manuskripte richtig waren.23 Die Bücher sollten sich nämlich in Thematik und Art der Gestaltung von Krimis früherer Zeiten unterscheiden. Eine bedeutende Schwierigkeit scheint die Gestaltung der Kameraden unserer Volkspolizei zu sein, die ja in ihrer Arbeit einzig und allein die Interessen unseres Volkes vertreten und 24 deren Tätigkeit ständig in enger Beziehung zu unserem Volk gestellt werden müßte.
Um politisch auf Linie zu liegen, diskutierte der Verlag oftmals mit dem Ministerium des Innern über Fragen der Polizeiarbeit. Nach der Bitterfelder Konferenz 1959 wurden Tagungen in Polizeipräsidien einberufen, auf denen die Autoren von Polizeireferenten über deren Aufgabengebiet und über die aktuellen Probleme bei der Verfolgung von Verbrechern informiert wurden.25 Ab den 1970er Jahren waren dann Fachgutachten des Ministeriums des Inneren zu jedem geplanten Kriminalroman Pflicht. Darin wurden die Kriminalfälle mit der Kriminalstatistik verglichen und das behandelte Thema auf Tabus untersucht. Außerdem prüfte man, ob die Darstellung der Beamten dem Wunschbild vom »sozialistischen Kommissar« entsprach.26 Bei bestimmten inhaltlichen Problemen und Vorgängen suchte der Verlag auch Hilfe beim Ministerium für Staatssicherheit, vor allem bei Krimis, die das Thema Spionage
20 21 22 23 24
Vgl. Ture von zur Mühlen: Dem Erfolg auf der Spur. Vgl. Schreyer: Der Spitzel. Vgl. Schielmann: Gesamtverzeichnis Verlag Das Neue Berlin. Vgl. BArch, DR 1/1896: Luise Kraushaar an Fritz, 20. 5. 1953. BArch, DR 1/1896: Hinweis für Literaturkritik von Lange an den Abteilungsleiter Hoffmann vom Hauptlektorat Belletristik, 22. 8. 1952. 25 Vgl. Redlin: Interview. – Jugendliche Straftäter kamen allerdings in einigen Bücher vor. 26 Vgl. Barck: Frau Ändering und Herr Streicher, S. 444.
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Abb. 1: Wolfgang Schreyer: Großgarage Südwest. Ausgabe in der Gelben Reihe. Verlag Das Neue Berlin 1952, Schutzumschlag von Horst Bartsch.
behandelten. So geschehen beim Roman Auf lange Sicht von Karl Heinz Weber: »Die Arbeit des Lektorats wurde vom Exposéstadium bis zur abgeschlossenen Manuskriptfassung durch Beratungen des Ministeriums für Staatssicherheit ergänzt. Insbesondere im letzten Jahr […] gab es zahlreiche kritisch-konstruktive Gespräche, die dem Gedeihen des Projekts dienten.«27 Zu den verlegten Spionageromanen mussten zudem Fachgutachten aus der Presseabteilung der Stasi eingeholt werden, u. a. von Georg Redmann, der selbst zwei Romane im Verlag publizierte. Auch andere Krimiautoren hatten berufliche Vorbildung, so der Strafverteidiger Friedrich Karl Kaul, der nach dem Vorbild des historischen Pitaval mehrere Bände mit Erzählungen nach echten Rechtsfällen aus der jüngeren Vergangenheit veröffentlichte. Weitere Autoren waren Fritz Erpenbeck, Theaterkritiker und Mitbegründer des Henschelverlags, und Barbara Neuhaus, die auch als Außengutachterin zahlreicher Krimis fungierte. Ein wichtiger Bestandteil des Verlagsprogramms wurde ab 1963 die Heftreihe Blaulicht, die vom Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung übernommen wurde
27 BArch, DR 1/3628a, Bl. 312: Verlagsgutachten zu »Auf lange Sicht« von Sieglinde Jörn, 2. 4. 1971, S. 2.
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und dort ab 1957 unter dem Namen Erzählreihe gelaufen war. Bis 1990 publizierte Das Neue Berlin jährlich etwa 10 Titel, insgesamt 285 Hefte in Einzelauflagen von bis zu 200.000 Exemplaren. Die Hefte umfassten 32 oder 64 Seiten und waren zum Preis von 25 bzw. 45 Pfennig erhältlich.28 Weil die Hefte periodisch erschienen, mussten sie schnell produziert werden. Aus Mangel an guten Manuskripten wurden hinsichtlich der literarischen Qualität Kompromisse gemacht. Häufig musste der Verlag aus diesem Grund auch auf Übersetzungen von Werken aus den befreundeten Volksdemokratien zurückgreifen. Erfolgreiche Autoren der Reihe waren beispielsweise Hans Walldorf (d. i. Erich Loest), Wolfgang Mittmann, im Berufsleben Hauptkommissar, Hans Siebe und Klaus Möckel. Auch die Lektorin des Verlags Ingeburg Siebenstädt, die bald unter dem Pseudonym Tom Wittgen einen Namen hatte, publizierte in der Blaulicht-Reihe. Die Geschichten spiegelten in den 1980er Jahren die Probleme der DDR-Gesellschaft wider: Beziehungs-Delikte, Jugend-Kriminalität, Asozialität, Alkoholismus, Alterseinsamkeit, Fahrerflucht, Korruption sowie Diebstahl in Großbetrieben und Wirtschaftskriminalität.29 1970 wurde die NB-Reihe von der DIE-Reihe abgelöst, wobei DIE als Abkürzung für Delikte – Indizien – Ermittlungen stand. Die Taschenbücher erschienen in hohen Erst- und Nachauflagen von 100.000 Stück und mehr. Eine weitere Reihe im Bereich Kriminalliteratur war die Graue Reihe, so verlagsintern bezeichnet aufgrund ihres schwarz bedruckten Pappeinbandes, für den der Grafiker Klaus Ensikat jeweils eine Zeichnung lieferte. Bis 1990 wurden in der Reihe insgesamt 39 Titel klassischer deutscher und internationaler »Erbe-Literatur« verlegt, oftmals begleitet von einem Nachwort.
Abenteuerliteratur Der zweite Programmschwerpunkt des Verlags bestand in der Abenteuerliteratur. Bevorzugt wurden hierbei Stoffe und Themen des aktuellen Jahrhunderts aufgegriffen. Den Anfang bildete Peter Kasts Roman Millionenschatz im Müggelsee (1951), der noch aufgrund des Berlin-Bezugs ins Programm kam, aber schon deutlich Züge eines Abenteuerromans trug. Es folgten u. a. die zwei erfolgreichen Kriegsromane Unternehmen Thunderstorm von Wolfgang Schreyer (1954, 13 Auflagen) und Die Stunde der Toten Augen von Harry Thürk (1957, 11 Auflagen), die in der DDR jeweils über 200.000 mal verlegt wurden.30 Thürks Roman wurde nach dem Erscheinen kritisiert und aus den Bibliotheken verbannt, weil er die Wehrmachtsverbrechen verharmlost habe. Das änderte sich, als 1960 die tschechische Übersetzung erschien und das Buch zur Pflichtlektüre für die tschechoslowakische Armee wurde. Heute ist der Roman einer der meistgelesenen Werke des Autors.31 Häufig waren die Grenzen zwischen Abenteuer- und Kriminalroman fließend, speziell bei den Spionageromanen. Das Agententhema besaß vor allem vor dem Mauerbau
28 29 30 31
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Maier: Verlagsporträt 1986. Barck: Im Blaulicht-Milieu, S. 239. Maier: Verlagsporträt 1986, S. 564. Hamann (Hrsg.): Harry Thürk, S. 51–52.
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Abb. 2: Harry Thürk: Des Drachens grauer Atem. Verlag Das Neue Berlin 1975, Einband von Thomas Schallnau.
große Aktualität, weil die Spione in dieser Zeit zwischen den Besatzungssektoren bequem hin und her wechseln konnten und Berlin eine Schaltstelle für viele Geheimdienste war. Die DDR-Führung befürchtete in dieser Zeit Sabotageakte und Unterwanderungsversuche. Deshalb sollte der Leser von Spionageromanen nicht nur unterhalten, sondern vor diesen Gefahren gewarnt werden. Oftmals wurden tatsächliche Geschehen der Weltpolitik als Romanvorlage verwendet, Dokumente und Quellen als Grundlage genutzt, sodass die Bücher auch als Tatsachenromane bezeichnet wurden. In Der Traum des Hauptmann Loy von Wolfgang Schreyer (1956) wird etwa das Eindringen eines amerikanischen Flugzeugs in sowjetisches Hoheitsgebiet thematisiert. Es bekam neue Aktualität nach einem Zwischenfall am 1. Mai 1960, als ein amerikanisches Flugzeug bei Swerdlowsk abgeschossen wurde. Der Verlag beschloss eine Neuauflage mit überarbeitetem Anhang, wofür ein anderer geplanter Titel zurückgestellt wurde. Erich Wendt, Staatssekretär im Ministerium für Kultur, stellte eigens sieben Tonnen Papier zur Verfügung, weil das Ministerium in dem Buch einen wichtigen Beitrag zur Beeinflussung der Leser sah.32 Insgesamt erreichte der Titel neun Auflagen. 32 Vgl. BArch, DR 1/5071, Bl. 155: Hausmitteilung des Ministeriums für Kultur, Sekretariat des Staatssekretärs an Abt. Literatur und Buchwesen Genossen Dr. Häckel, 2. 6. 1960.
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Abb. 3: Blaulicht-Reihe 239: Gerhard Johann: Absturz eines Mustangs. Kriminalerzählung. Das Neue Berlin 1985, Heftumschlag von Wolfgang Freitag.
Auch historische Themen wurden in manchen Abenteuerromanen literarisch umgesetzt, etwa in einigen Werken von Martin Selber. Sein Roman … und das Eis bleibt stumm (1955) warf eine neue Perspektive auf das Scheitern der Franklin-Expedition in der Arktis 1845. In der Sicht des Buches trägt daran der Leiter Sir John Franklin, ein Angehöriger der herrschenden Klasse, die Schuld, weil er nur nach Profit strebte und nicht umsichtig handelte.33 Der Roman erschien in acht Auflagen. Selbers Bücher Eldorado (1958) und Krieg unter Palmen (1962) thematisierten Kolonialisierung und Unterdrückung der indigenen Völker Kolumbiens bzw. Ostafrikas. Die DDR war selten Schauplatz in den Abenteuerromanen von Das Neue Berlin. Die zwei Stammautoren Schreyer und Thürk, die das Abenteuergenre des Verlags prägten, befassten sich stattdessen häufig mit den vielfältigen Problemen des Freiheitskampfes der Völker in Asien und Lateinamerika. Das grüne Ungeheuer, das als Schreyers erfolgreichster Roman und eines der auflagenstärksten Bücher der DDR gilt, erschien zuerst 1959 bei Das Neue Berlin, bis es später überarbeitet unter dem Titel Der grüne Papst im Militärverlag weiter verlegt
33 Vgl. BArch, DR 1/5075, Bl. 79: Verlagsgutachten zu »… und das Eis bleibt stumm«.
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wurde. Das Buch erzählt vom sogenannten »Bananenkrieg« der amerikanischen United Fruit Company in Guatemala, der 1954 mit dem von der CIA organisierten Sturz des Präsidenten Jacobo Arbenz Guzmán endete. Insgesamt publizierte Das Neue Berlin bis zur deutschen Wiedervereinigung zehn Titel von Wolfgang Schreyer und dreizehn von Harry Thürk. Im letzten Jahrzehnt der DDR nahm die Zahl der verlegten Abenteuerromane ab. Gründe dafür waren laut Verlagsleitung »fehlende Welterfahrung der Autoren und zu geringe Ein-Sicht in Prozesse, Zusammenhänge, Hintergründe internationaler Entwicklungen«.34
Utopisch-phantastische Literatur Mitte der 1950er Jahre fand Das Neue Berlin ein drittes Standbein: die utopisch-phantastische Literatur, anfangs noch »Zukunftsroman« genannt. Das Genre diente dazu, »aktuelle Menschheitsprobleme und Zukunftsvisionen in utopisch verfremdeten Erzählungen und Romanen zur Diskussion zu stellen«.35 Die Förderung von zeitgenössischen Autoren der DDR stand dabei an vorderster Stelle. Der erste Zukunftsroman des Verlags war 1955 Ein Stern verrät den Täter von H. L. Fahlberg. Hinter dem Pseudonym verbarg sich der Mathematiker Hans Werner Fricke, der bei seinen Kollegen nicht als Schriftsteller bekannt werden wollte. Der Roman wurde noch als Krimi bezeichnet, da er das Agententhema enthielt, was für eine Druckgenehmigung reichte. Es folgte Erde ohne Nacht (1956), ein Technik-Roman über die theoretischen Grundlagen der Raumfahrt.36 Der erste phantastische Titel war Gigantum (1957) von Eberhardt delʼ Antonio, der als Konstrukteur in einem Werk für Strömungsmaschinen arbeitete, wo verbotenerweise Raketentechnik hergestellt wurde. Delʼ Antonio wollte die Leser darüber unterrichten, dass im Land an zukunftsträchtigen Projekten gearbeitet wird und damit nach der depressiven Nachkriegszeit Zuversicht verbreiten. Die Nachfrage nach dem Buch war groß, bis 1962 gab es fünf Auflagen.37 Auch sein zweiter Roman Titanus (1959), der von der Raumfahrt und einer außerirdischen Zivilisation erzählt, war mit insgesamt zehn Auflagen erfolgreich. Technische Neuerungen und Raumfahrt waren beliebte Themen der Science-Fiction, der Klassenkampf wurde auf fremden Planeten ausgetragen. Der Leser sollte mit Erkenntnissen auf naturwissenschaftlich-technischem und gesellschaftlichem Gebiet versorgt werden. »Den meisten Romanen folgte eine Nachbemerkung ›Utopie und Wirklichkeit‹, in der zwischen dem, was wissenschaftlich begründet war, und dem freien Spiel der Phantasie unterschieden wurde.«38 Außerdem war es üblich, dass Fachgutachten von Physikern oder anderen Fachleuten eingeholt wurden, um falsche Darstellungen zu vermeiden.39
34 Maier: Verlagsporträt 1986, S. 566. 35 Archiv der Eulenspiegel/Das Neue Berlin Verlags GmbH: Presseinfo Das Neue Berlin zum vierzigsten Jahrestag, 26. 8. 1986. 36 Vgl. Redlin: Interview. 37 Vgl. Redlin: Ein Verlag bestimmt sein Profil, S. 12. 38 Redlin: Ein Verlag bestimmt sein Profil, S. 12. 39 Vgl. Redlin: Interview.
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Abb. 4: Reihe SF-Utopia: Janusz A. Zajdel: In Sonnennähe. Das Neue Berlin 1988, Einband von Regine Schulz / Burkhard Labowski.
Zunächst hielt sich der Begriff »Zukunftsroman«, doch mit dem Titel Als die Götter starben (1963) von Günther Krupkat, der in vorgeschichtlicher Zeit spielt, wurde die Bezeichnung »utopischer Roman« üblich. Generell bestand der Wunsch nach einer theoretischen Grundlage, zumal in den sechziger Jahren die Qualität der SF-Bücher bemängelt und der Aufruf zu literarischer und wissenschaftlicher Gründlichkeit in der ScienceFiction-Literatur laut wurde.40 Der Verlag lud Philosophen zur Klärung ein, doch diese konnten nicht helfen. So entwickelte das Lektorat selbst eine »Konzeption der utopischen Literatur«. Utopische Literatur wurde fortan der Gegenwartsliteratur zugerechnet und »ideologie-intensiv« eingeschätzt. Das Ministerium für Kultur, das anfangs abwartend auf das neue Genre reagierte, forderte den Verlag schließlich dazu auf, mehr utopische Romane zu verlegen. Deshalb verstärkte der Verlag mit Erfolg seine Bemühungen: Die Zahl der eingesandten Manuskripte und veröffentlichten Werke nahm kontinuierlich zu.41 Anfang der 1970er Jahre gab es einen qualitativen und quantitativen Umbruch in der SF-Literatur. Man kehrte sich ab von utopischer Weltraumliteratur. Die Mittel der
40 Vgl. Ebert: Die Gratulation des Kritikers, S. 777–778. 41 Vgl. Redlin: Ein Verlag bestimmt sein Profil, S. 13.
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Science-Fiction und Phantastik wurden nun genutzt, um Gegenwartsprobleme kritisch zu verfremden. Antiutopien bildeten sich heraus, Humor und Ironie wurden als neue Stilmittel entdeckt.42 Beispielhaft dafür sind die Werke von Günther und Johanna Braun, die gesellschaftliche Konflikte aufgriffen und mit ihren Romanen mitunter aneckten. Das kugeltranszendentale Vorhaben des Schriftstellerpaares wurde vom Verlag ganz unverhüllt aus politischen Gründen abgelehnt, denn die Persiflage auf die politischen Zustände in der DDR war zu offensichtlich. Obwohl das Büro für Urheberrechte die Ausfuhrgenehmigung für das Manuskript verweigerte, erschien das Werk 1983 im westdeutschen Suhrkamp Verlag.43 Doch nicht nur DDR-Autoren wurden publiziert, auch Autoren aus dem sozialistischen Ausland, bspw. Arkadi und Boris Strugazki aus der Sowjetunion, die durch den Verlag Das Neue Berlin dem DDR-Publikum bekannt gemacht wurden. Ebenso wurde die klassische phantastische Erbe-Literatur, darunter Alexej Tolstoi und Kurd Laßwitz, in zahlreichen Anthologien und Einzelpublikationen veröffentlicht. Der Bereich umfasste auch »humanistische Werke bürgerlicher Autoren« aus dem Ausland, darunter Fahrenheit 451 von Ray Bradbury, das 1974 nach insgesamt sieben Jahren des Wartens erscheinen konnte. Der Lektor Ekkehard Redlin, bei Das Neue Berlin maßgeblich für die Science-Fiction verantwortlich, hatte sich beharrlich für das Buch eingesetzt. 1966 war ihm das Buch in die Hände gefallen, der Verlag befürwortete den Druck, ebenso ein Außengutachter. Doch die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) lehnte das Buch ab, u. a. weil der Außengutachter nicht »repräsentativ« sei. So suchte Redlin in den kommenden Jahren nach einem repräsentativen Fachmann, doch alle Experten wiesen ihn ab, bis er Anfang der 1970er Jahre Wolfgang Bussewitz, Professor und Dekan der Pädagogischen Hochschule Dresden, gewinnen konnte. Der anerkannte Jugendbuchexperte lieferte das gewünschte positive Votum. Doch erst ein Zwischenfall ebnete die Bahn. Redlin hatte in einer Besprechung die Auffassung vertreten, dass die Druckgenehmigung am besten abzuschaffen wäre. Als die HV nach konkreten Beispielen dafür fragte, wie der Verlag behindert worden sei, führte Redlin Bradbury ins Feld. Nach einiger Zeit der Prüfung erhielt Redlin vom Verlagsbetreuer in der HV den Hinweis, dass der Verlag den Antrag auf Druckgenehmigung stellen könne. Dann erhielt das Buch tatsächlich Druckgenehmigung.44 Im Fall eines anderen Klassikers, Schöne neue Welt von Aldous Huxley, fragte erstaunlicherweise der Verlagsbetreuer in einer Phase kulturpolitischer Lockerung die Verlagsmitarbeiter, warum sie das Buch nicht druckten. Die Mitarbeiter selbst waren skeptisch, passte doch die Antiutopie des Briten schwerlich zum herrschenden Fortschrittsglauben der DDR-Führung, reichten den Antrag aber ein. Überraschenderweise konnte das Buch 1978 ohne Komplikationen erscheinen. Hier setzte also die Zensurbehörde ein Buch gegen die Befürchtungen untergeordneten Ebenen durch.45 In den letzten zehn Jahren der DDR erschien eine neue Reihe: SF Utopia. In Auflagen um die 50.000 wurden darin insgesamt 44 Taschenbuchausgaben von bereits er-
42 43 44 45
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Steinmüller: Vorgriff auf das Lichte Morgen, S. 22–23. Steinmüller: Vorgriff auf das Lichte Morgen, S. 128–129. Redlin: Der lange Weg zu Bradbury. Steinmüller: Vorgriff auf das Lichte Morgen, S. 125–126.
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schienenen Hardcover-Ausgaben herausgegeben, jedes Jahr vier Titel. So kamen bspw. auch wieder die Romane delʼ Antonios heraus, der Anfang der achtziger Jahre erneut stark nachgefragt wurde. Zudem publizierte Das Neue Berlin auf Betreiben des Lektors Erik Simon ab 1980 alle zwei Jahre den Phantastik-Almanach Lichtjahr, insgesamt sechs Ausgaben. Darin wurden Kurzgeschichten, oftmals experimentellen Charakters, Essays und Bibliografien veröffentlicht. Schriftsteller – auch Neulinge –, Theoretiker und Publizisten erhielten hier ein Forum. Der Almanach war mit farbigem Umschlag, vielen Illustrationen und Farbtafeln von DDR-Künstlern »grafisch exquisit ausgestattet«.46 Einer der letzten veröffentlichten SF-Romane des Verlags vor dem Ende der DDR war Der Traummeister von Angela und Karlheinz Steinmüller. In dem 1984 begonnenen Manuskript, das 1988 beim Verlag eingereicht und im August 1989 problemlos die Druckgenehmigung erhalten hatte, geht es um eine Stadt auf einem fremden Planeten, in der die Menschen das Träumen verlernt haben und einer beauftragt wird, für alle zu träumen.47 Somit schaffte es in den letzten Monaten der DDR ein Buch auf den Markt, das durch eine einfach zu entschlüsselnde Metapher die zentral gesteuerte Kulturpolitik der DDR bloßstellte, die dann zur Zeit der Veröffentlichung nicht mehr existierte.
Ende der DDR und der Verlag nach 1990 In den 1980er Jahren zeichneten sich im Lektorat des Verlages Kaderprobleme ab. Immer wieder gab es Engpässe, Stellen waren unzureichend oder gar nicht besetzt. Vor allem im Hinblick auf einen zu erwartenden Generationenwechsel Mitte der 1990er Jahre suchte man händeringend nach geeignetem Nachwuchs für das Lektorat.48 Zuletzt arbeiteten bei Eulenspiegel/Das Neue Berlin etwa 65 Mitarbeiter. Die Verlagsproduktion Eulenspiegel/Das Neue Berlin variierte jährlich zwischen 130 und 170 Titeln. Etwa ein Drittel kam dabei aus dem Verlag Das Neue Berlin, wobei es sich zu einer Hälfte um Erstauflagen und zur anderen Hälfte um Nachauflagen handelte. Bis 1990 wurden insgesamt 1.975 Titel publiziert. 1987 belief sich der Umsatz auf 18,3 Mio. Mark, gleichzeitig machte der Verlag 2,1 Mio. Mark Gewinn.49 Nach 1990 wurde der Doppelverlag Eulenspiegel/Das Neue Berlin als GmbH an zwanzig Mitarbeiter verkauft, die den Verlag offiziell am 18. Juni 1990 gründeten. Am 21. September 1990 folgte der Eintrag im Handelsregister. Im März 1992 kam der Verlag unter direkte Treuhandkontrolle, im Januar 1993 wurde er aufgefordert, Konkurs anzumelden. Anfang April 1993 wurde ein Insolvenzverfahren eröffnet und beide Verlage an Matthias Oehme und Jacqueline Kühne verkauft. Sie gründeten die Eulenspiegel/ Das Neue Berlin Verlags GmbH neu.50 Mittlerweile gehören zu der Eulenspiegel Ver-
46 Vgl. Maier: Verlagsporträt 1986. 47 Vgl. BArch, DR 1/3636a, Bl. 473: Antrag auf Druckgenehmigung für »Der Traummeister«, 17. 8. 1989. 48 Vgl. BArch, DR 1/6773: Rechenschaftslegung 1979 des Verlages Eulenspiegel/Das Neue Berlin am 3. 3. 1980, S. 12, sowie BArch, DR 1/7056: Rechenschaftslegung des Eulenspiegel Verlages/Das Neue Berlin am 2. 3. 1988 für das Jahr 1987, S. 10. 49 Vgl. BArch, DR 1/7107: Rechenschaftslegung des Eulenspiegel Verlages/Das Neue Berlin zum Planablauf 1988 am 20. 2. 1989. 50 Vgl. Links: Das Schicksal der DDR-Verlage, S. 202–203, 204.
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lagsgruppe insgesamt neun Verlage, darunter die alten DDR-Verlage Neues Leben und der Militärverlag, Neugründungen und Käufe von West-Verlagen.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Bundesarchiv Berlin (BArch) Ministerium für Kultur (DR 1) Eulenspiegel/Das Neue Berlin Verlagsgruppe Archiv des Verlages Das Neue Berlin Stiftung Archiv der Partei und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) Zentrag (DY 63)
Gedruckte Quellen Das Neue Berlin: Verlagsprogramm. In: Börsenblatt (Leipzig), 114 (1947) Nr. 19/20, S. 574. EBERT, Günther: Die Gratulation des Kritikers. Vor 20 Jahren wurde der Verlag Das Neue Berlin gegründet. In: Börsenblatt (Leipzig), 133 (1966) Nr. 43, S. 777–778. HAMANN, Hanjo u. a. (Hrsg.): Harry Thürk. Sein Leben, seine Bücher, seine Freunde. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2007. MAIER, Peter: Es gibt keine moralischere Literatur als den Krimi … Verlagsporträt: Das Neue Berlin. In: Börsenblatt (Leipzig), 153 (1986) Nr. 31, S. 563–567. MAIER, Peter: Zuständig für Literatur der bildenden und spannenden Unterhaltung. Das Börsenblatt Verlagsporträt: Das Neue Berlin. In: Börsenblatt (Leipzig), 138 (1971) Nr. 23, S. 477– 480. REDLIN, Ekkehard: Der lange Weg zu Bradbury. In: Alien Contact, Jg. 5 (1994) Nr. 15. Berlin: Edition Avalon, S. 41–43. REDLIN, Ekkehard: Ein Verlag bestimmt sein Profil. Aus den Anfängen der utopischen Literatur der DDR, S. 12. In: Alien Contact, Jg. 3 (1993) Nr. 14. Berlin: Edition Avalon, S. 11–15. REDLIN, Ekkehard: Interview von Angela Steinmüller und Karlheinz Steinmüller. Unveröffentlicht. 16. 4. 1992. SCHIELMANN, Heinz (Bearb.): Gesamtverzeichnis Verlag Das Neue Berlin 1946–1986. Berlin: Das Neue Berlin 1986. SCHREYER, Wolfgang: Der Spitzel. In: Neue Deutsche Literatur 1968, Heft 10, S. 106–115. SCHREYER, Wolfgang: Zu guter Letzt. Erinnerungen, Erzählungen und Essays. Rostock: BS Verlag 2016. STEINMÜLLER, Angela / STEINMÜLLER, Karlheinz: Vorgriff auf das Lichte Morgen. Studien zur DDR-Science Fiction. Mit einer Bibliografie von Hans-Peter Neumann. Passau: Erster Deutscher Fantasy-Club 1995. TURE VON ZUR MÜHLEN, Bernt: Dem Erfolg auf der Spur. In: Börsenblatt (Frankfurt), 163 (1996), Nr. 69, S. 12–13.
Forschungsliteratur BARCK, Simone: Im Blaulicht-Milieu. In: Simone Barck / Siegfried Lokatis: Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2008, S. 237– 239.
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BARCK, Simone: Symptomkritik. In: Simone Barck / Siegfried Lokatis: Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2008, S. 239–241. BARCK, Simone: Frau Ändering und Herr Streicher. In: Simone Barck / Siegfried Lokatis: Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2008, S. 243–245. LINKS, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. 2. Aufl. Berlin: Ch. Links 2010.
Ingrid Sonntag 5.3.1.10 Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig Firmengeschichte bis 1945 Das im Jahr 1828 von Anton Philipp Reclam (1807–1896) in Leipzig gegründete Unternehmen war zuerst eine Leihbibliothek mit Verlag und unter dem Namen »Verlag des Literarischen Museums« in der Grimmaischen Gasse 4 am Naschmarkt ansässig. Hier trafen sich Vertreter der Bewegung »Junges Deutschland«, darunter Schriftsteller und Flüchtlinge aus Metternichs Österreich. Während des Polnisch-Russischen Krieges 1830/31 druckte Reclam unterstützende Schriften, deren Erlöse der Leipziger Emigranten- und Flüchtlingshilfe zugutekamen. Nach dem Verkauf des Literarischen Museums im Jahr 1837 erfolgte die Umbenennung in »Verlag Philipp Reclam jun.«. Fortan erschienen (seit 1839 aus eigener Druckerei) aktuelle und klassische Schriften, politische Broschüren, das erste vollständige deutsch-französische Handwörterbuch sowie die Zeitschriften Charivari und Leipziger Locomotive. Staatskanzler Metternich protestierte beim sächsischen Hof gegen Publikationen österreichischer Zensurflüchtlinge und ließ am 13. März 1846 ein Vertriebsverbot für Reclam-Schriften in Österreich verhängen. Nach Thomas Paines religionskritischer Schrift Das Zeitalter der Vernunft (1793/94, ins Deutsche 1846) leiteten die Leipziger Justizbehörden ein Ermittlungsverfahren gegen den Verleger und seinen Übersetzer ein. Die Märzrevolution 1848 verhinderte eine viermonatige Haftstrafe. Mit der Herausgabe von Shakespeares Sämtlichen dramatischen Werken (12 Bände) im Jahr 1859 machte Anton Philipp erste Erfahrungen in der Kalkulation von kostengünstigen Ausgaben der Weltliteratur. Seit 1862 waren Verlag und Druckerei unter einem Dach in der Dörrienstraße 4 angesiedelt. Die Gründung von Reclams UniversalBibliothek (RUB/UB) durch Anton Philipp und seinen Sohn Hans Heinrich Reclam (1840–1920) erfolgte im Jahr 1867 nach der Neuregelung des Urheberrechts, das deutsche Autoren 30 Jahre nach ihrem Tod »gemeinfrei« stellte. Mit den preiswerten und auflagenstarken UB-Bänden klassischer deutscher Literatur (Band 1 Goethe Faust. Erster Theil), »guten deutschen Uebersetzungen« der »besten Werke fremder und todter Literaturen« und mit seinen Klassik-Editionen schrieb der Verlag Buchhandelsgeschichte. Im Jahr 1895 bezog man mit der Druckerei, 1905 mit der Verlagsbuchhandlung ein gründerzeitliches Domizil in der Insel-/Kreuzstraße im Buchhändlerviertel östlich vom Leipziger Stadtzentrum. Nach Erscheinen von UB-Nummer 5000 (Otto Ernst Vom Strande des Lebens. Novellen und Skizzen) wurde Hans Heinrich Reclam im Jahr 1908 zum Geheimen Kommerzienrat ernannt. Geehrt wurden damit auch das Lebenswerk und das soziale Engagement des Verlagsgründers. Aus Hans Heinrichs Ehe mit Hedwig Ottilie gingen vier Kinder hervor: Philipp Ernst (1876–1953), Carl (1878–1889), Hans Emil (1881–1943) und Margarethe (1888–1965). Nach Eintritt beider Söhne in die Firma wurde 1906 aus der offenen Handelsgesellschaft eine Kommanditgesellschaft (KG). Dr. Ernst Reclam übernahm die literarische/redaktionelle Abteilung und Hans Emil Reclam den technischen Betrieb. Seit den 1920er Jahren veröffentlichte der Verlag vermehrt zeitgenössische Literatur. Die Helios-Klassiker-Ausgaben (seit 1910) erhielten eine neue Ausstattung (Entwurf von Emil Rudolf Weiß), und namhafte Autoren der Gegenwart https://doi.org/10.1515/9783110471229-030
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Abb. 1: Nonnenstraße 38, Sitz des Leipziger Reclam Verlages seit Mitte der 1970er Jahre, historische Aufnahme / Archiv des Museums für Druckkunst Leipzig.
wurden mit Einleitungen beauftragt. Zum 100. Firmenjubiläum am 1. Oktober 1928 hielt Thomas Mann die Festrede im Leipziger Alten Theater. Als im Jahr 1934 die Schutzfrist auf 50 Jahre nach dem Ableben eines Autors angehoben worden war, brach der Absatz der Universal-Bibliothek ein. Auch schlug die Entfernung jüdischer und politisch unerwünschter Autoren negativ zu Buche. Im Jahr 1938 erhielten Ernst und Hans Emil Unterstützung von zwei Prokuristen: Dr. Konrad Nußbächer für den Verlag und Gotthold Müller, allein zeichnungsberechtigt für das Gesamtunternehmen. Als (stellvertretender) Betriebsführer wurde Müller das erste Mitglied der Geschäftsleitung, das nicht der Familie entstammte. Der Tatkraft der Betriebsfeuerwehr, Müllers und der Mitarbeiter war es zu danken, dass die Bombardements der Jahre 1943/44, die das Buchhändlerviertel in Schutt und Asche legten, nicht auch die Druckerei des Reclam Verlages zerstörten.1 Anfang 1944 wurde ein Ausweichlager mit Druckerei in Passau errichtet.
1 Gotthold Müller (1904–1993), Verlagsbuchhändler und Verleger, ab 1936 in Leipzig in Kontakt mit dem bürgerlichen Widerstandskreisen um Carl Goerdeler, Graf Schulenburg sowie mit sozia-
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Bei Kriegsende standen im Reclam-Unternehmen noch 151 Mitarbeiter (davon 36 im Verlag) aus der 322-köpfigen Belegschaft des Jahres 1938 in Lohn und Brot. Die Firma verfügte über 92 (von einst 106) Maschinen und über umfangreiche Rohbogenbestände von RUB und Klassiker-Ausgaben.2 Beabsichtigt war, dass Dr. Ernst Heinrich Philipp Max Reclam (1910–1984) und Philipp Hans Rolf Reclam (1913‒1977) die Nachfolger der Väter werden.3
Vier Lizenzen von 1946 bis 1953 In der sowjetisch besetzten Zone wurden privaten Verlagen Persönlichkeiten als Bürgen zugeordnet, die garantierten, dass in den lizenzierten Verlagen »keine nazistischen und militaristischen Schriften« verlegt und keine »Unternehmergewinne« erzielt werden.4 Für Johannes R. Becher, 1945 Mitbegründer und erster Präsident des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, kam den Klassikerausgaben aus den Verlagen Insel und Reclam bei der demokratischen Erneuerung Deutschlands eine zentrale Rolle zu. Von den Bemühungen aus dem Moskauer Exil zurückgekehrter KPD-Funktionäre, die SMAD mindestens zur Lizenzierung ausgewählter Leipziger Verlage zu bewegen, um deren Abwanderung in den Westen und den Verlust von Titelrechten zu stoppen, profitierte auch Reclam. Für den Verlag wurde eine Bürgschaft des Kulturbundes ausgehandelt, mit dem Ziel, »eine lockere Form zu finden, die der Besatzungsmacht alle Sicherheiten gäbe und den Verlag Reclam in seiner bisherigen Form unangetastet ließe«.5
Lizenz Nummer 39 von 1946 Reclam zählte zu den sechs Leipziger Verlagen, die früh lizenziert wurden: neben Insel (Nr. 40) und Breitkopf & Härtel (Nr. 42), die auch Zweigstellen in Wiesbaden
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listischen Gruppierungen um Rudolf Reichwein und Hermann Maas; April 1947 bis März 1953 Geschäftsführer / Gesellschafter der Reclam Verlag Stuttgart GmbH, bis 24. 3. 1949 Prokurist von Reclam Leipzig; Ende 1953 Geschäftsführer der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart, 1959 Gründung des Gotthold Müller Verlags in München mit den Schwerpunkten Zeitgeschichte und Judaica, als Hauptwerk gilt die Gesamtausgabe der Schriften Walther Rathenaus. Siehe Wittig, Friedrich: Gotthold Müller – dem Siebzigjährigen. In: Börsenblatt (Frankfurt), Nr. 23/1974. – Vgl. Müller, Gotthold: Luftkrieg und Konspiration. In: SStA-L, 22399, Nachlass Kretschmar, Nr. 04. RAL, Ordner 15, Bl. 15–16: Auskunft, 4. 7. 1945 und SStA-L, 21103, Nr. 492, Bl. 45–52: Fragebogen für Treuhandbetriebe (Obluda/Jacobi/Jost), 23. 2. 1951. Die Darstellung basiert auf der Einleitung von Heinrich Reclam (Nach der Reclam-Firmengeschichte von Annemarie Meiner 1942 und 1958/1961) in: 100 Jahre Universal-Bibliothek. Ein Almanach; Bode: Reclam; Titel/Wagner: Angeklagt sowie auf Archivalien des Verlagsarchivs. Vgl. RAL, Akte 139, Bl. 114–116: Protokoll der Betriebsratssitzung vom 27. 2. 1946, Bericht Gotthold Müller. RAL, Akte 43, Bl. 181–183: Müller: Bericht über die Verhandlungen in der Zentralverwaltung für Volksbildung Berlin am Dienstag, den 15. und Freitag, den 18. Januar und meine Eindrücke auf der Berliner Reise vom 14. bis 19. Januar 1946. Diskutiert wurde auch eine Zusammenlegung mit dem Staatsverlag Volk und Wissen. Kulturbund und Reclam schlossen am 18. 3./ 5. 4. 1946 einen Vertrag; RAL Ordner 15, Bl. 40–41.
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errichtet hatten, zählten dazu der Hermelin-Verlag für Rauchwaren von Dr. Paul Schöps (Zeitschriften-Lizenz Nr. 16), Volk und Buch (Nr. 38) und der Seemann Kunstverlag (Nr. 41). Die Lizenz Nr. 39 vom 14. März 1946 genehmigte dem Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig die Herausgabe von »Büchern und Broschüren« rückwirkend zum 1. März 1946 und sicherte der Besatzungsmacht die Verfügungsgewalt über Druckerei und Verlag. Geschäftsführer Gotthold Müller sah seine Aufgabe in Leipzig erfüllt und ging (im Einvernehmen mit Ernst Reclam) in die westlichen Besatzungszonen, um dort einen Verlag zu gründen, der die Produktion und den Vertrieb der Universal-Bibliothek auch für Westdeutschland gewährleistete. Nach dem Weggang Müllers erhielt Ernst Reclam Unterstützung von Hildegard Böttcher, einer Marxistin ohne SED-Parteibuch.6 Zur »1. Leipziger Friedensmesse« (8.–12. 5. 1946) präsentierte der Verlag die ersten sieben UB-Bände nach dem Krieg. Obwohl in der Verlagsdruckerei fast ausschließlich für den Verlag der SMAD (SWA-Verlag) gearbeitet wurde, ordnete die SMAD währenddessen am 3. November 1946 die Demontage an. Am 9. Januar 1947 rollten die Züge – 235 Kisten mit einem Gesamtgewicht von rund 500 Tonnen – in Richtung Sowjetunion.7 Am 18. Januar 1947 begann die Belegschaft mit dem Wiederaufbau des Betriebes. Der Umfang der Demontage übertraf die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg bei weitem. Ernst Reclam musste ahnen, dass nach dem Vorbild der Sowjetunion in der sowjetisch besetzten Zone Privatverlage kaum noch eine Rolle spielen werden. Allerdings machte er auch nach Gründung der Reclam Verlag Stuttgart GmbH am 14. März 1947 durch Gotthold Müller deutlich, dass sein Platz in Leipzig sei. Der Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig und die »Reclam G.m.b.H., Stuttgart/ Gotthold Müller« schlossen am 8. September 1947 einen Lizenzvertrag über »die Herstellung und den Vertrieb der Universal-Bibliothek und über die Nutzung der Verlagsrechte in den westlichen Besatzungszonen«.8 Ab Herbst 1947 fungierte Hildegard Böttcher als Prokuristin der Leipziger Firma.9 Im selben Jahr erschienen in RUB rund 30 Wiederaufnahmen, darunter Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital/Zur Judenfrage und Klassiker von Schiller über Goethe, Heine, Shakespeare bis Gorki, Gogol, Puschkin, Tschechow, Tolstoi und Korolenko, außerdem 37 Blätter der Porträtsammlung Große Männer und Frauen von Karl Stratil, darunter
6 Hildegard Böttcher (1903–unbekannt), ab 1933 bei Reclam in der Buchhaltung tätig, dann Redaktionssekretärin und ab 1942 Gotthold Müllers persönliche Mitarbeiterin; bis 1933 Mitglied der KPD-O, nach 1945 Mitglied im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), Börsenverein und Kulturbund; 1951 Flucht nach Westdeutschland; 1954 vorübergehend Müllers persönliche Mitarbeiterin in der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart. Vgl. RAL, Ordner 15, Bl. 67: Lebenslauf Hildegard Böttcher, 11. 2. 1948; Laux: Reclams »tapferer Schildhalter«. In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 73–82, sowie Auskunft von Wolfgang Müller am 13. Dezember 2019. 7 Vgl. RAL, A 139, Bl. 89–93: W[ilsdorf, Arno]: Bericht [über die Demontage], o. D. 8 RAL O 18, Bl. 192–193: Lizenzvertrag, 8. 9. 1947. Müller war anfangs alleiniger Geschäftsführer und Gesellschafter, dann gemeinsam mit Margarethe Reclam. Offen bleibt die Frage, wer von Seiten der Familie Reclam die Unterschrift unter den Lizenzvertrag vom 8. 9. 1947 leistete. 9 Handelsregister der Stadt Leipzig, HRA 392: Eintrag am 30. 12. 1947.
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Porträts von George Washington, Annette Droste-Hülshoff und Ricarda Huch.10 Thomas Manns Tristan durfte in RUB (noch) nicht erscheinen.11
Lizenz Nr. 343 von 1947/48 Die SMAD erneuerte ab Ende 1947 ihre Lizenzen. Ernst Reclam erhielt am 3. Januar 1948 (rückwirkend zu November 1947) die Lizenz Nummer 343. Als Gesellschafter wurden eingetragen: Dr. phil. Heinrich Reclam, Rolf Reclam, Margarethe Reclam, Lieselotte Reclam, Ilse Reclam und Ruth Conrad. Erlaubt wurde die »Aufnahme der verlegerischen Tätigkeit unter der Firma Verlagsbuchhandlung Philipp Reclam jun., Leipzig« zur Veröffentlichung von »Belletristik, ›Reclams Universal-Bibliothek‹«.12 Der Einfluss der privaten Eigentümer sollte allerdings auf die Verlagsbuchhandlung beschränkt bleiben, unter der Bedingung, »daß alle Gesetze, Verordnungen, Vorschriften und Anweisungen der Sowjetischen Militäradministration befolgt werden«. Die Gründe, die zu Ernst Reclams zweimaliger Verhaftung im Dezember 1947 und Januar oder Februar 1948 führten, bleiben unbekannt, ebenso die Umstände seiner Haftentlassungen und das Datum seines Rücktritts als Vorsteher des Börsenvereins.13 Im Februar 1948 wurde Dr. Albert Haueis der Chefredakteur.14 Im selben Jahr erschienen rund 100 Wiederaufnahmen in RUB: klassische Schullektüre, doch auch Texte der Moderne, so Hermann Hesse: In der alten Sonne, Heinrich Mann: Der Tyrann/ Die Branzilla, Martin A. Nexö: Schwarze Erde und Arnold Zweig: Gerufene Schatten. Außerdem erhielt der Verlag die erste Auszeichnung mit einem »Schönsten Buch« für Honoré de Balzac: Chagrinleder (Ausstattung von Karl Stratil).15 Im Jahr 1949 waren es rund 130 Wiederaufnahmen klassischer Schullektüre, hinzu kamen ein Band mit StalinAufsätzen und erstmals UB-Nummern von Schriftstellern aus dem kommunistischen Widerstand: Elfriede Brüning: Die Umkehr/Das ist Agnes und Wolfgang Joho: Aller Gefangenschaft Ende.
10 Karl Stratil (1894–1963), Maler, Grafiker und Holzschneider, ab 1920 Zusammenarbeit mit Reclam, 1945–1953 künstlerischer Leiter. 11 RAL, Akte 48, Bl. 62: Ernst Reclam an Thomas Mann, 22. 7. 1949. Tristan erschien 1951 als Meisterband des Leipziger Malers Hans Engels (1924–1995) mit einem Nachwort von Paul Rilla. 12 BArch, DR 1/1945: Lizenz Nummer 343, 3. 1. 1948. 13 Vgl. u. a. Umlauf: Wiederaufbau, S. 1276; Haueis: Eine Bar mit der Lizenz-Nr. 343 sowie RAL, Akte 2, Bl. 121: Felix Genzmer an Ernst Reclam, 24. 2. 1948. 14 Albert Haueis (Pseud.: Albert Fenk, 1909–1998), Lektor und Publizist, nach 1945 Rundfunkund Zeitungsredakteur in Leipzig, Anfang Mai 1953 Flucht nach Westdeutschland, Juli 1953 bis Ende der 1970er Jahre Lektor für Weltliteratur und moderne deutsche Literatur bei Reclam Stuttgart und Prokurist. 15 Hildegard Böttcher stand in Verbindung mit Bodo Uhse, Mary Tucholsky, Gerhart Pohl, Anna Seghers und Friedrich Schulze (Dramaturg, Komische Oper Berlin); vgl. RAL, A 66, Bl. 97– 99: Berliner Reise vom 28.–31. 12. 1948. – Anwalt List schrieb nach Bereitstellung einiger UB-Nummern für die Leipziger polizeiliche Untersuchungshaftanstalt: »Der Dank aller Häftlinge, für die ich jetzt endlich eine Leseerlaubnis durchsetzen konnte, ist Ihnen sicher. Begierig greifen sie nach den Bänden und versuchen so ihr Schicksal besser zu ertragen.« RAL, Akte 8, Bl. 181: Erich List an Ernst Reclam, 4. 3. 1949.
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Im Mai 1950 verließ Ernst Reclam die DDR und lebte fortan in Bad Heilbrunn in Oberbayern. Woraufhin der Verlag am 20. Dezember 1950 unter staatliche Verwaltung gestellt und Hermann Obluda als Treuhänder der Firma »Pnilipp [sic] Reclam jn.« bestallt wurde.16
Lizenz Nummer 363 von 1951 Mit dem Aufbau der sozialistischen Planwirtschaft und einer neuen Verwaltungsstruktur in Ostdeutschland ging die beim Rat der Stadt Leipzig anhängige Treuhandschaft im April 1951 auf die Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Druck über.17 Obluda wurde am 26. April vom Rat der Stadt als Treuhänder entlassen und am selben Tag vom neuen Treuhänder VVB Druck als Bevollmächtigter wieder eingesetzt. Bis zum Sommer 1951 entließ er alle verantwortlichen Angestellten (bis auf Chefredakteur Haueis), zuletzt Verlagsleiterin Böttcher und Hauptbuchhalter Theo Mettler, und annullierte auch den Vertrag mit dem Kulturbund.18 Neuer Verlagsleiter wurde Friedrich Lessig.19 Während die westlichen Besatzungsmächte die Lizenzpflicht für Verlage Ende der 1940er Jahre abschafften, behielt die DDR-Regierung die sowjetischen Lizenzen bei und führte diese 1951 als eigene ein. Das dafür zuständige neue Amt für Literatur und Verlagswesen (ALV) bei der Regierung der DDR erteilte dem Reclam Verlag am 26. Oktober 1951 die Lizenz Nummer 363, die eine verlegerische Tätigkeit auf den Verlagsgebieten Belletristik, Reclams Universal-Bibliothek und für Klassiker-Ausgaben erlaubte.20 Ausgestellt war sie auf Hermann Obluda, obwohl dieser dafür weder die Qualifikation noch die Erfahrung besaß.
16 Hermann Johann Obluda (1903‒unbekannt), Bergmann, Transportarbeiter im Leipziger Kühlhaus, Steuerassistent im Leipziger Finanzamt, Kontokorrentbuchhalter bei Köhler & Volckmar; nach 1945 Intendant des Landessenders Weimar, 1. Vorsitzender der Deutschen Volksbühne Leipzig, Kulturredakteur der Leipziger Volkszeitung usw. Vgl. SStA-L, 21103, Nr. 492, Bl. 27–35: Bericht über den Instrukteur-Einsatz beim Treuhandbetrieb Philipp Reclam jun. vom 29. 9.– 2. 10. 1953 (Münkwitz), 2. 10. 1953; BArch, DR 1/1945: Rat der Stadt Leipzig, Amt für Wirtschaft, 20. 12. 1950 und Laux: Reclams »tapferer Schildhalter«. In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 73–82. 17 VVB Druck und Vereinigung Volkseigener Verlage (VVV) waren 1950 aus der VVB (Z) Druck und Verlag Leipzig hervorgegangen und unterstanden bis 1956 der HV Polygraphische Industrie im Ministerium für Leichtindustrie mit Sitz in Leipzig. Im Januar 1952 vereinbarten Vertreter von VVB Druck, VVV, ZK der SED und HV Polygraphischer Industrie, dass die VVV die »verlegerischen Betreuung des Betriebsteiles Verlag« übernimmt. Vgl. SStA-L, 21103, Nr. 477: Bericht, Betr. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig (Grabenstein), o. D. [1953], Vertraulich. 18 Vgl. RAL, Akte 15, Bl. 327: Kulturbund (Geschäftsleitung) an Reclam/Leipzig, 26. 6. 1951. Mit der Begründung: »In Verbindung mit der allgemeinen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik ist die allgemeine Hilfeleistung des Kulturbundes gegenstandslos geworden.« Vgl. RAL, Akte 48, Bl. 29: Olbluda an Kulturbund, Vertrag vom 5. 4. 1946 und 18. 4. 1950, 5. 7. 1950. 19 Friedrich Lessig (1902–1978), Verlagshersteller, ab 1955 Verlagsleiter im VEB Hermann Haack Geographisch-Kartografische Anstalt Gotha. 20 BArch, DR 1/1945: Lizenz-Nr. 363, 26. 10. 1951 und SStA-L, 21103, Nr. 492, Bl. 27–35: Bericht über den Instrukteur-Einsatz 29.9.–2. 10. 1953 (Münkwitz), 2. 10. 1953 – Sowie den Gesellschaftern »Dr. Ernst Reclam, Dr. Heinrich Reclam und Dr. [sic] Rolf Reclam«.
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Zwar erkannten die in Westdeutschland lebenden Eigentümer die Treuhandschaft nicht an, doch arbeiteten beide Firmen in praktischen Fragen noch zusammen. So wurden im Rahmen des geregelten Interzonenhandels in den Jahren 1950/51 jene UB-Bestände aus der Produktion vor 1945 vertrieben, die in der DDR schwer verkäuflich oder deren Verkauf nicht mehr erwünscht waren.21 Im Juni 1952 verlängerten beide Seiten eine Abmachung aus dem Jahr 1949, wonach die Nummern für die Leipziger und für die Stuttgarter Ausgaben der Universal-Bibliothek untereinander abgestimmt wurden, um Doppelungen in der Zählung zu vermeiden.22 Nach der II. Parteikonferenz der SED, in der Anfang Juli 1952 der beschleunigte »Aufbau des Sozialismus« beschlossen und die »Verschärfung des Klassenkampfes« eingeleitet wurde, erließ die Regierung der DDR am 17. Juli 1952 die »Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten«. Damit konnte die Beschlagnahmung des Vermögens von Personen angeordnet werden, die das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlassen hatten, »ohne die polizeilichen Meldevorschriften zu beachten«. Außerdem konnte das Vermögen von Personen, die »ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in den westlichen Besatzungszonen oder in den von den westlichen Besatzungsmächten besetzten Sektoren Berlins haben«, unter staatliche Verwaltung gestellt werden.23 Angesichts der in Aussicht stehenden Enteignung begann die Stuttgarter Geschäftsleitung, der seit Ende 1949 Dr. Heinrich Reclam und ab 1952 auch Rolf Reclam angehörten, Abgrenzungsmaßnahmen gegen das Leipziger Haus einzuleiten. Am 29. Juli 1952 wurde im Börsenblatt (Frankfurter Ausgabe) bekanntgemacht, dass RUB aus Leipzig auf die »Erste Liste der Bücher« gesetzt worden sei, »deren Einfuhr aus der Ostzone und Vertrieb in Westdeutschland von den angegebenen westdeutschen Verlagen für unzulässig erklärt wird«. Später meldete Reclam Stuttgart ein Patent auf die Begriffe »Reclam« und »Universal-Bibliothek« an. So wurde es möglich, die Einfuhr der Leipziger Produktion in Westdeutschland gerichtlich zu verfolgen und künftig auch die Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse zu unterbinden.24 In Leipzig qualifizierte Chefredakteur Haueis die Programmlinie der illustrierten Bücher. Neben Klassikerausgaben wie Nikolai W. Gogol: Tote Seelen (230 Federzeichnungen von Josef Hegenbarth) und Heinrich Heine: Deutschland, ein Wintermärchen (Illustrationen von Max Schwimmer) erschienen auf Anordnung des Amtes für Literatur illustrierte Industriereportagen, so das Debüt von Dieter Noll: Neues vom lieben närri-
21 Es handelte sich um broschierte und tektierte Nummern, u. a. von Alexis, Carus, Grabbe, Griese, Grillparzer, Genzmer, Gerstäcker, Hauff, Huggenberger, Kant, Kleist, Klopstock, Körner, Leisewitz, Lessing, Mikkelsen, Nietzsche, Ovid, Redslob, Pichl, Saar, Schopenhauer, Shakespeare, Siemens, Stehr, Wieland, Wiesalla und Xenophon. Vgl. RAL, Ordner 18, Bl. 216–242: Schriftwechsel Reclam Leipzig und Reclam Stuttgart 1950/51. 22 RAL, Akte 56, Bl. 12: Verlag Reclam/Leipzig (Lessig) an die VVB Druck Leipzig, 1. 7. 1952. Aufstellung der UB-Nummernfolge aus RASt für Stuttgart und Leipzig: 7611– 7630/7631–7660; 7661–7670/7671–7700; 7701–7900/7901–8000; 8001–8100/8101–8200; 8201–8300/8301–8400; 8401–8500/8501–8600; 8601–8700/8701–8800. 23 Die VO trat am 18. 7. 1952 in Kraft und wurde am 26. 7. 1952 verkündet. Als »Flüchtlinge« galten Dr. Ernst Reclam und seine Nichte Ruth Conrad, die am 15. 9. 1948 die SBZ verlassen hatte. 24 Vgl. RASt, Mappe Einstweilige Verfügung.
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schen Nest. Erlebnisse eines jungen Mannes in der Zeiss-Stadt Jena, Rosemarie Schuder: Glas. Begegnungen im volkseigenen Jenaer Glaswerk Schott & Gen. und Heinz Rusch: Schiffe vor der Fahrt (Illustrationen in den drei Bänden von Karl Stratil).25 In RUB kamen erstmals Werke von Friedrich Engels, Egon Erwin Kisch, F. C. Weiskopf und Rudolf Leonhard heraus.
Zweite Lizenz Nummer 363 von 1953 Das Krisenjahr 1953 führte zur dauerhaften Trennung der namensgleichen Verlage. Die Einsetzung von Paul Fröhlich als 1. Sekretär der Leipziger SED-Bezirksleitung im Dezember 1952 wird den Boden für Verschärfungen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens bereiten, so auch im Bildungswesen und in der Kultur. Fröhlich, dem der Ruf vorauseilte, ein »intelligenzfeindlicher Radikalinski« (Karl Schirdewan) zu sein, fungierte nicht nur als regionales Bindeglied zum Zentralkomitee (ZK) der SED, sondern vor allem als »Bezirksfürst«, der die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der Geburtsstadt von Walter Ulbricht nach dessen Vorstellungen prägte.26 Auf Betreiben Obludas wurde ein Parteiverfahren gegen Verlagsleiter Lessig eingeleitet, der sich für den Auslieferungsleiter Konrad Walter eingesetzt hatte.27 Walter sollte abgestraft werden, weil er gegenüber westdeutschen Privatkunden Lieferprobleme der Leipziger Firma eingeräumt und sie an den Stuttgarter Verlag verwiesen hatte.28 Lessig und Walter wurden am 10. Februar 1953 entlassen. Zur selben Zeit verließen die letzten in Leipzig ansässigen Familienmitglieder Lieselotte und Ilse Reclam die DDR »illegal«, wie die Akten vermerken. Das Amt für Literatur traf daraufhin Anstalten, den Verlag in Volkseigentum zu überführen. Nach dem Tod Ernst Reclams am 6. März 1953 und nach langen Debatten zwischen VVB Druck und VVV zog man es zunächst vor, die Treuhandschaft fortzuführen, den staatlichen Einfluss aber zu vergrößern. Am 27. April 1953 ging die Treuhandverwaltung von der VVB Druck auf die Deutsche Investitionsbank (DIB) über, die für die Verwaltung privater Vermögen zuständig war.29 Die Verantwortlichen setzten nach Abstimmung mit der SED-Führung den 31-jährigen Gerhard Keil als Verlagsleiter ein.30 Keil erhielt daraufhin vom Amt für Literatur eine erneuerte Lizenz Nummer 363 (12. 5. 1953, rückwirkend zum 1. 5. 1953) für die Firma »VEB Philipp Reclam, Leipzig«, die es de jure
25 Die Reportage-Reihe wurde wegen schleppenden Verkaufs nach dem dritten Band eingestellt. 26 Vgl. Rau: Paul Fröhlich. 27 Vgl. BArch, DR 1/1945: HA Verlagswesen und Buchhandel (Kienast) an Ministerium des Innern (Schmidt), 2. 3. 1953. 28 Vgl. BArch, DR 1/1945: ALV an VVV, 7. 1. 1953, Vertraulich; RAL, Akte 55, Bl. 87: VVV an Verlag Reclam Verlag 14. 1. 1953 und Akte 66, Bl. 56: Anweisung (Obluda), 16. 1. 1953. – Konrad Walter (1899–1990), ab 1923 bei Reclam Leipzig, zuletzt Leiter der Auslieferung und Kundenbuchhaltung, danach im privaten Musikalienhandel in Leipzig tätig. 29 SStA-L, 21043, Nr. 2453,1/2: Rat des Stadtbezirkes Mitte/Örtliche Wirtschaft (Thieme) an Rat der Stadt Leipzig/Kreiskommission für staatliche Beteiligung, 1. 2. 1958. 30 Gerhard Keil (1922‒1992), Buchhändlerlehre bei Koehler & Volckmar, im Zweiten Weltkrieg Soldat im Afrika-Korps der Wehrmacht, amerikanisch-englische Gefangenschaft, 1947–1949 Buchhändler bei Franz Volckmar, danach im SWA-Verlag.
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gar nicht gab.31 Die vakante Position des Chefredakteurs wurde mit dem 33-jährigen Journalisten Hans Marquardt besetzt.32 Für einige UB-Bände, die in jenen Wochen mit der Verlagsangabe »VEB Reclam« auf der Umschlagvorderseite beziehungsweise »VEB Verlag Reclam jun.« auf dem Titelblatt erschienen, musste man auf Rohbögen aus der Produktion von 1952 zurückgreifen.33 Der bisherige Beauftragte und Lizenzträger Hermann Obluda wurde in die Funktion des Betriebsleiters der Reclam-Druckerei versetzt, die ab 26. Mai 1953 mit der auf Notendruck spezialisierten Firma C. G. Röder den »VEB Leipziger Druckwerke« bildete. Im ersten Halbjahr 1953 hatte sich die allgemeine, politische und wirtschaftliche Lage in der DDR drastisch verschlechtert. Auf Anraten ihrer sowjetischen Berater verkündete die Regierung am 9. Juni 1953 einen »Neuen Kurs« und nahm einige Verschärfungsmaßnahmen zurück, wozu auch die Kriminalisierung von Geflüchteten und deren Enteignung gehörten. Dennoch kam es am 16. und 17. Juni 1953 in großen Teilen Ostdeutschlands zu den bekannten Arbeiteraufständen. In Leipzig ließ SED-Chef Fröhlich auf Demonstranten schießen, die sowjetische Besatzungsmacht verhängte Kriegsrecht, und bis Anfang Juli herrschte Ausnahmezustand.34 Am 20. Juni wurden Reclams Verlag und Druckerei wieder zu einem Treuhandbetrieb.35 Daher verwundert es nicht, dass die Komplementäre Heinrich und Rolf Reclam von der neuen »Rückkehrerverordnung« keinen Gebrauch machten, sondern in Stuttgart blieben.36
Betrieb mit staatlicher Beteiligung von 1953 bis 1990 Trotz neuer Unterstellung mangelte es an Papier. Da die Klassiker-Ausgaben an Schulen und Universitäten dringend benötigt wurden, beschleunigte Verlagsleiter Keil die Aufarbeitung der vorhandenen alten Druckbögen, ließ sie mit neuen Vorworten versehen und präsentierte diese als Neuausgaben.37 Dabei setzte er auf die Zusammenarbeit mit be-
31 RAL, Ordner 15, Bl. 162: Lizenz Nummer 363, 12. 5. 1953. 32 Hans Marquardt (1920–2004) Expedient, Offizier d. R. im Zweiten Weltkrieg, nach amerikanischer Gefangenschaft in Bremen Hilfsarbeiten, dann Volontär beim Weser-Kurier, 1947 Übersiedlung in die SBZ und Redakteur beim Sender Leipzig, 1949–1951 Studium der Publizistik / Kulturpolitik an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig, 1951/52 Studium der Journalistik am Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft, dann bis April 1953 leitender Redakteur bei der selbständig operierenden ADN GmbH in Leipzig. Vgl. UAL, StuA 84358 / Prüf A 42701. 33 Die Papierlieferung für den Verlag (45 Tonnen) wurde im 2. Quartal 1953 nicht realisiert; vgl. RAL, Akte 140, Bl. 82–84: Protokoll über die Sitzung der Geschäftsleitung, 25. 4. 1953. 34 Die »Nachtwachen« der Funktionäre wurden »in bar stundenmässig auf Gehaltsbasis abgegolten«; SStA-L, VVB Druck, 21103, Nr. 492: Bericht über Einsicht in die Finanzbuchhaltung der Fa. Ph. Reclam jr. (Stengel), 5. 10. 1953. 35 SStA-L, 21103, Nr. 658: Rat der Stadt Leipzig/Abteilung Amt zum Schutz des Volkseigentums (Rödiger) an Ph. Reclam jun, 20. 6. 1953. 36 Voller Name »Verordnung über die in das Gebiet der DDR und den demokratischen Sektor von Groß-Berlin zurückkehrenden Personen« (11. 6. 1953), aufgehoben im Einigungsvertrag (31. 8. 1990). 37 Vgl. RAL, Akte 55, Bl. 64–65: Monatsbericht Mai 1953 (Keil), 6. 6. 1953.
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währten Herausgebern, unter anderem mit dem Literaturwissenschaftler Paul Rilla.38 Auch Cheflektor Marquardt kümmerte sich um den Aufbau eines Stabs freier Mitarbeiter, vorrangig aus der Leipziger Universität unter Leitung des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer.39 Zum 125-jährigen Bestehen des Verlages am 1. Oktober 1953 gab es im Neuen Leipziger Rathaus eine Festveranstaltung mit einer Ansprache Friedrich Wolfs.40 Wolf betonte die »Meisterschaft und Volkstümlichkeit« der Verlagsproduktion und empfahl damit indirekt einen kulturpolitischen Kurswechsel, um die Universal-Bibliothek zu einer sozialistischen Taschenbuchreihe zu entwickeln.41 Vor Gästen aus beiden deutschen Staaten vermied er jedoch alles, was zu einer direkten Konfrontation mit den westdeutschen Eigentümern hätte führen können.
Turbulenzen in der Eigentumsfrage Am 22. Dezember 1953 forderte die Abteilung Staatliches Eigentum beim Rat der Stadt Leipzig den Treuhänder Deutsche Investitionsbank auf, die Anteile von Ernst Reclam nicht mehr zu verwalten, sondern in die Rechtsträgerschaft zu übernehmen.42 Allerdings erhielten mit der Errichtung des Ministeriums für Kultur (MfK) und Johannes R. Bechers Ernennung zum Minister am 7. Januar 1954 vorübergehend gesamtdeutsche Aspekte in der Kulturpolitik wieder Gewicht. Bechers letztmalige Bemühung um ein kulturell vereintes Deutschland entsprach mehrheitlich dem Wunsch der Ostdeutschen. Daher wurden 1954/55 Überlegungen laut, die Firma zwecks »Verbesserung der gesamtdeut-
38 Paul Rilla (1896–1954), Journalist und Literaturwissenschaftler, seit den 1920er Jahren freie Mitarbeit an Helios-Klassiker-Ausgaben, aktuell arbeitete er an der achtbändigen Ausgabe der Werke von Gottfried Keller. 39 Vgl. RAL, Akte 140, Bl. 79–81: Protokoll der Geschäftsleiterbesprechung, 2. 7. 1953 und ebd. Bl. 57–58: Monatsbericht Juni 1953 (Keil), 6. 7. 1953. – Hans Mayer (1907–2001), 1949 Professor für Kultursoziologie an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Leipziger Universität, zugleich Lehrauftrag für Soziologie der modernen Geistesgeschichte an der Philosophischen Fakultät, ab 1951 Professor für Geschichte der deutschen Literatur von 1848 bis zur Gegenwart an der Philosophischen Fakultät; das wissenschaftliche Interesse richtete sich u. a. darauf, »Fachleute heranzubilden, die in unserer kulturpolitischen Praxis eine Gesamtübersicht der Weltliteratur brauchen«; im Sommer 1963 Übersiedlung nach Westdeutschland, danach Persona non grata. Vgl. UAL, PA 726: Hans Mayer an Ministerium für Volksbildung der DDR, 18. 1. 1951. 40 Friedrich Wolf (1888–5. 10. 1953), Schriftsteller, Arzt und Naturheilkundler, nach Hitlers Machtergreifung Exil in West und Ost, zuletzt Lehrer an der Antifaschistischen Frontschule in Krasnogorsk bei Moskau, 1945 Rückkehr in die SBZ. Wolf, Friedrich: Meisterschaft und Volkstümlichkeit. 41 Wolf bestimmte als Aufgabe für die neue RUB: »mitzuhelfen durch i h r e n I n h a l t [Herv. im Original] die Anwendung von Kugeln und den Beginn eines Völkermordens überhaupt unmöglich zu machen« und schlussfolgerte: »So sind Verleger und Schriftsteller recht eigentliche Waffenbrüder!« Festrede zur Gedenkfeier des 125-jährigen Bestehens des Verlages Philipp Reclam jun. Leipzig. In: 125 Jahre Verlag Philipp Reclam jun., S. 9–17. 42 Vgl. StadtAL, Priv Firm, Paket 46, Nr. 1627, Bl. 17: Rat der Stadt Leipzig / Ref. Staatl. Eigentum an DIB Leipzig, 22. 12. 1953 sowie Eintrag im HRA 392 vom 18. 1. 1954.
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schen Verbindungen« zu reprivatisieren.43 Diese Überlegungen wurden wenig später wieder fallengelassen. Man blieb stattdessen bei der im Dezember 1953 erlassenen Anordnung, Reclam Leipzig in einen Betrieb mit staatlicher Beteiligung umzuwandeln und setzte dann auch Heinrich Reclam von dieser Tatsache in Kenntnis.44 Am 21. Oktober 1955 wurde aber nicht nur die Treuhandschaft aufgehoben, sondern wurden auch die Anteilsverhältnisse zu Gunsten des Staates wie folgt erhöht: 39 Prozent volkseigener Besitz aus den Anteilen von Ernst Reclam (17 Prozent), Lieselotte Reclam (7 Prozent), Ilse Reclam (7 Prozent) und Ruth Conrad (8 Prozent); 61 Prozent Privateigentum aus den Anteilen der Komplementäre Heinrich Reclam (10 Prozent) und Rolf Reclam (8 Prozent) sowie denen der Kommanditistinnen Margarethe Reclam (34 Prozent) und Annemarie Klinkhardt (9 Prozent). Darauf reagierte Heinrich Reclam mit einem Vertriebsstopp für die Leipziger Produktion in Westdeutschland. Nervosität und Meinungsunsicherheiten übertrugen sich von den oberen Staatsorganen auch auf die Führung im Leipziger Haus. Nach nur zwei Jahren verließ Verlagsleiter Keil den Reclam Verlag und übernahm die Leitung des VEB E. A. Seemann Verlages. Cheflektor Hans Marquardt übte ab 1. April 1955 die Funktion eines »stellvertretenden« Verlagsleiters aus. Die angestauten Probleme waren immens und vielfältig: Die Verlagsräume waren noch immer nicht ausgebaut, die Papierzuweisungen nicht erhöht und auch die Löhne und Gehälter nicht denen der volkseigenen Verlage angeglichen. Zahlreiche qualifizierte Mitarbeiter verließen das Verlagshaus und die DDR.45 Wirtschaftlich schlug das Auslaufen der Helios-Klassiker-Ausgaben negativ zu Buche, die als Schullektüre neben der Universal-Bibliothek das zweite Standbein des Verlages darstellten. Das Amt für Literatur hatte 1954 entschieden, ab 1956 eine Bibliothek deutscher Klassiker im SED-eigenen Volksverlag Weimar erscheinen zu lassen. Das stellte Hans Marquardt vor die Aufgabe, das Verlagsprogramm neu zu bestimmen. Dabei ließ er sich von Überlegungen seines Lehrers Hans Mayer leiten. Als 1956 aus dem Amt für Literatur die Hauptverwaltung Verlagswesen (HVV) im Kulturministerium der DDR gebildet worden war, nutzte er die Gelegenheit, einen Antrag auf Erhöhung des Papierkontingents zu stellen und diese Forderung mit einem »Memorandum« zur weiteren »Entwicklung des Verlages« zu verbinden.46 Darin schlug Marquardt neben Ergänzungen im Bereich klassischer und osteuropäischer Nationalliteraturen eine Erweiterungen um zeitgenössische Autoren im Programm von RUB sowie neue Segmente mit Musikerbiographien und illustrierten Buchausgaben vor. Umsetzen konnte er davon zunächst wenig. Vier Wochen später wurde mit Kurt Bessiger der neue Verlagsleiter instal-
43 BArch, DR 1/1945: Aktennotiz, 17. 5. 1955, Vertraulich. 44 Vgl. BArch, DR 1/1945: DIB an Reclam Stuttgart, 20. 6. 1955 und Reclam Stuttgart an DIB Leipzig, 6. 7. 1955. 45 RAL, Akte 84, Bl. 61–63: Hans Marquardt an ALV (Kern), 1. 11. 1955, Vertraulich. – Februar 1952: 475 Mitarbeiter (davon 40 im Verlag, 3 Mitglieder der SED); Juni 1953: 393 Mitarbeiter (davon 33 im Verlag); September 1953: 294 Mitarbeiter (davon 18 im Verlag). 46 RAL, Akte 84, Bl. 9–29: Reclam Verlag (Marquardt) an HVV (Böhm), Entwicklung des Reclam-Verlages, Leipzig, [Memorandum], 24. 7. 1956. Hier heißt es: »Ich spreche von der Universal-Bibliothek, die diesen Namen heute nicht mehr verdient; denn von den bisher erschienenen 8.200 Nummern sind zur Zeit nur 326 Titel lieferbar. Sie wissen also, sehr geehrter Herr Kollege, worauf ich hinaus will […]«.
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liert.47 In einem Punkt hatte Hans Marquardt jedoch unmittelbaren Erfolg: Der Verlag erhielt eine garantierte Zuweisung von jährlich 210 Tonnen Papier für die nächsten fünf Jahre, 30 Tonnen mehr als bisher.48 In der kurzen Phase des politischen Tauwetters 1956/57 nach dem XX. Parteitag der KPdSU gestand man den Verlagen in der DDR vorübergehend mehr Eigenverantwortung zu, es gab sogar Vorschläge zur Abschaffung der Zensur und der staatlichen Kontrollbehörde. Der (machtlose) Cheflektor Marquardt nutzte diese Zeit für die Umsetzung seiner im Memorandum niedergelegten konzeptionellen Neubestimmung des Verlages. So erschienen im Jahr 1957 die ersten Bände der Editionslinie »Das schöne Buch« mit illustrierten Texten der Weltliteratur in gebundenen Ausgaben: Wladimir Majakowski: Ich will – meine Feder ins Waffenverzeichnis. 21 Gedichte (Illustrationen von Max Schwimmer) sowie E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches und andere Erzählungen (137 Illustrationen von Josef Hegenbarth). Jüngere Künstler der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) wurden zum Verlag geholt, so Irmgard HorlbeckKappler und Günter Horlbeck, die von Marquardt auch mit der Ausstattung der sogenannten C-Reihe beauftragt wurden.49 Deren Gestaltung unterschied sich typografisch und bildkünstlerisch von Band zu Band sowie von der Ausstattung der sogenannten Normalreihe (Gestaltung von Friedrich Häder aus dem Jahr 1936). Die Reihe wollte sich aber nicht nur äußerlich mit Rowohlts rororo messen. Unter der Losung »Tradition und neues Werden« veröffentlichte man zur Hälfte zeitgenössische Autoren aus Ost und West sowie neue Textsammlungen. Die ersten Bände, die der Verlag auf der Leipziger Buchmesse (3.–14. 3. 1957) präsentierte, wurden »Kassenschlager«.50 In Heft 9 vom Mitteilungsblatt Das Reclam-Buch (Thema »Zum 40. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution«) steckte eine riskante Konterbande. Das Blatt zeigte das Erscheinen von Hermann Hesses Eine Bibliothek der Weltliteratur an, verbunden mit einem persönlichen Glückwunsch zum 80. Geburtstag des in der Schweiz lebenden Autors: »Wir verehren nicht nur den großen Dichter, sondern auch den Menschen, der so vielen Lesern durch sein Werk geholfen hat, sich und die Welt besser kennenzulernen und zu verstehen.«51 Abgedruckt war zudem ein Brief Hermann Hesses
47 RAL, Akte 84, Bl. 7: HVV (Hoffmann) an Reclam Verlag (Marquardt), 24. 8. 1956. – Kurt Bessiger (1914–1996), dann im Verlag Edition Leipzig, im Volksbuchhandel und in der Handwerkskammer und bis zum Renteneintritt im Brennstoffhandel tätig. Vgl. Laux: Reclams »tapferer Schildhalter«. In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 73–82. 48 RAL, Akte 84, Bl. 5 f.: HVV (Hoffmann) an Verlag Philipp Reclam jun., 28. 9. 1956. Beantragt worden waren 250 Tonnen. 49 Der Name der Reihe geht auf die Beschichtung der Deckel zurück, das C steht für »cellophaniert«. 50 RAL, Akte 469, Bl. 141–144: Protokoll über die Sitzung der Geschäftsleitung des Techn. Betriebs und der Verlagsleitung (Süß), 5. 4. 1957. Entgegen der Jahresplanung 1957 erschienen statt 16 nur sechs Bände, so Walter von der Vogelweide: Lieder und Sprüche, Aristophanes: Lysistrate, Roland Tenschert: Mozart Biografie, Brecht: Gedichte, Ein kurzweilig Lesen von Till Eulenspiegel, Schiller: Die Jungfrau von Orleans. 51 Der Aufsatz war 1927/1929 ein Auftragswerk für die UB zur Beschreibung einer »idealen kleinen Bibliothek«; erschien 1957 in der DDR in zwei Auflagen, insgesamt 20.000 Exemplare.
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an den Leipziger Verlag: »Möchten Sie, die Sie jünger sind als ich, es noch erleben, dass mit den beiden deutschen Republiken auch Ihre beiden Häuser wieder vereinigt werden!« Mitten in der »ideologischen Offensive«52 gegen die wissenschaftliche und künstlerische Elite der DDR nach der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn Ende 1956, die zur Zwangsemeritierung des Philosophen Ernst Bloch an der Leipziger Universität (März 1957) und der öffentlichen Maßregelung von Hans Mayer (Juli 1957) führte, begann Hans Marquardt das Lektorat neu auszurichten. Er holte engagierte Absolventen der Leipziger Universität ins Reclam-Lektorat: Elvira Pradel (15. 4. 1957, Germanistik), Barbara Neubauer (1. 1. 1958, spätere Richli-Krause/Fleischhauer, Musikbücher) und Hubert Witt (1. 11. 1959, moderne deutsche Literatur und Philosophie).53 Nach mehrjährigen Debatten kam es 1958 auch zu neuen Leitungsstrukturen und Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen. Der technische Betrieb wurde vom Verlag abgetrennt und am 15. Juli 1958 der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Polygraphie in der Abteilung Holz, Papier und Polygraphie der Staatlichen Plankommission im Ministerium für Finanzen unterstellt. Der Verlag wurde zum 15. August in den Verantwortungsbereich der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Verlage überführt, die wiederum der Abteilung Literatur und Buchwesen im Ministerium für Kultur rechenschaftspflichtig war. Die Investitionsbank trat zusätzlich zum volkseigenen Anteil, der aus der Enteignung von Dr. Ernst Reclam, Lieselotte Reclam, Ilse Reclam und Ruth Conrad entstanden war, und zum verbliebenen privaten Anteil von Dr. Heinrich Reclam, Rolf Reclam und Margarethe Reclam mit einer Einlage von 1,5 Mio. DM als staatlicher Gesellschafter in die Firma Philipp Reclam jun. in Leipzig ein. Damit hielt der Staat gegenüber den privaten westdeutschen Komplementären einen Mehrheitsanteil von rund 58 Prozent.54 Im Dezember 1958 erfolgte (rückwirkend zum 1. 1. 1958) eine Erhöhung der staatlichen Einlage auf nunmehr 1,75 Mio. DM, womit der staatliche Anteil auf 62 Prozent stieg.55 Damit war die Zeit der Treuhandschaft endgültig beendet. Graphischer Betrieb und Verlag waren halbstaatliche Betriebe, ohne dies nach außen zu kommunizieren.56 52 Vgl. Barck/Langermann/Lokatis: Jedes Buch, S. 57–58. 53 Weitere herausragende Hochschullehrer waren seinerzeit Heinrich Besseler, Theodor Frings, Hermann August Korff und Werner Krauss. 54 Der Vertrag basierte auf der Verordnung vom 17. 7. 1952 und gliederte die Gesellschaftsanteile: 1. volkseigener Anteil (Paragraph 1) aus den Anteilen von Dr. Ernst Reclam, Lieselotte Reclam, Ilse Reclam und Ruth Conrad ‒ insgesamt DM 467.023,02; 2. privater Anteil (Paragraph 6) aus den Anteilen von Dr. Heinrich Reclam, Rolf Reclam, Margarethe Reclam und Annemarie Klinkhardt – insgesamt DM 1.384.649,66; 3. staatlicher Anteil der DIB – DM 1.500.000. Vgl. SStA-L, DIB 21043, Nr. 2453, 2/2, Bl. 1–17: Berichtigung der Abgrenzung des Übernahmekapitals der von der DIB verwalteten Beteiligungen an der Firma Phil. Reclam jun., Leipzig C 1 (Müller/Dr. Wetzig), 10. 2. 1958. 55 Die Erhöhung diente der Bereinigung der Kapitalkonten der privaten Eigentümer (Westzonen-, Westsektoren- und Ausländersparkonten, kurz WWA-Konten). Einem zweiten Antrag über 1 Mio. DM wurde zwar stattgegeben, die Gelder aber stückweise ausgereicht, so 90.100 DM im Jahr 1960. Vgl. SStA-L, DIB 21043, Nr. 2453, 2/2: Vorlage Erhöhungsantrag, 15. 8. 1959. 56 Die Kopfbögen der Reclam-Betriebsteile führten bis Mitte 1955 den Eintrag »In Treuhandverwaltung«, danach wurden Rechtsformen nicht mehr ausgewiesen: weder KG noch BsB.
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Die Firmenentwicklung zwischen 1961 und 1987 Im Februar 1961 bat Verlagsleiter Bessiger um Versetzung in eine »leichtere Tätigkeit« im Buchhandel; im April 1961 ereilte Hauptbuchhalter Richard Süß ein schwerer Herzinfarkt.57 Hans Marquardt übernahm am 1. April 1961 wieder die Leitung, blieb aber nominell Cheflektor, da man in der VVB Verlage einen »geeigneter Nachfolger« finden wollte.58 Dabei hatte Marquardt der Firma steigende Gewinne beschert. Die waren seit 1955 von 156.000 DM binnen drei Jahren auf 250.000 DM angewachsen, während der Umsatz von 2,5 Million DM auf 2,8 Million DM stieg.59 Die freie Stelle für einen leitenden Lektor besetzte er mit einem Absatzleiter;60 das Lektorat stärkte er durch weitere Verträge mit Universitäts- und Hochschulinstituten. Hatten seinerzeit Stratils Kunstdrucke der Porträtsammlung Große Männer und Frauen um 1950 den Fortbestand von RUB finanziell abgesichert, trugen von nun an »Schöne Bücher« maßgeblich zum Umsatz bei. Für die Herbstmesse 1961 (3.–10. 9.) rüstete man sich mit Johann Christian Günther: Gedichte und Studentenlieder (Illustrationen von Werner Klemke) und John Gay: Die Bettleroper (Zeichnungen von Josef Hegenbarth). In der Universal-Bibliothek erschienen drei Aufsehen erregende Anthologien, so Mein Wort – ein weißer Vogel. Junge deutsche Lyrik (Hrsg.: Reiner Kunze), Solang es dich, mein Rußland, gibt (Hrsg.: Roland Opitz) und Französische Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart (Hrsg.: Kurt Schnelle) sowie Erzählungen von Stephan Hermlin: Die Zeit der Gemeinsamkeit (Nachwort von Hans Mayer). Die Schließung der Staatsgrenze am 13. August 1961 wurde von den staatlichen Eigentümern genutzt, um Reclam Leipzig vom Stuttgarter Verlag weiter abzugrenzen und vom technischen Betrieb zu trennen. Nach eineinhalb Jahrzehnten beständigen Wechsels im Führungspersonal bekam der Verlag am 1. Juli 1962 schließlich eine Leitung, die für viele Jahre Bestand haben sollte: Hans Marquardt wurde »vollverantwortlicher« Verlagsleiter, Elvira Pradel Cheflektorin und Lothar Kretschmar Hauptbuchhalter.61
57 SStA-L, DIB, 21043, DIB, Nr. 2338, 1/2: Reclam Verlag (Bessiger) an DIB Leipzig (Sack), 6. 2. 1961 und VVB Verlage (Schmidt) an DIB Leipzig (Leitung), 7. 2. 1961. – Richard Süß (1914–1971), ab April 1948 Leiter der Betriebsabrechnung, ab 1. 6. 1953 im Verlag Hauptbuchhalter, Archivar (wegen Invalidität), Buchhalter für Fertigungserzeugnisse, Vertragssachbearbeiter. Vgl. auch UBL, 283.8, Nachlass Teller: Kleine Totenrede für den Verlagskollegen Richard Süß, o. D. 58 SStA-L, DIB, 21043, Nr. 2338, 1/2: VVB Verlage (Schmidt) an DIB Leipzig, 30. 3. 1961; vgl. auch RAL, Akte 133, Bl. 57: VVB Verlage (Schmidt) an Reclam Verlag (Marquardt), 30. 3. 1961. 59 Im Jahr 1955: Umsatz 2.518.000 DM / Gewinn 156.000 DM; 1956: Umsatz 2.521.000 / Gewinn 152.000 DM; 1957: Umsatz 2.813.000 DM / 250.000 DM. Vgl. SStA-L, DIB 21043, Nr. 2453, 2/2: Rat des Stadtbezirkes Mitte/Abt. Örtliche Wirtschaft an Rat der Stadt Leipzig/ Kreiskommission für staatl. Beteiligung, 1. 2. 1958. 60 Absatzleiter Gottfried Berthold aus dem Buchhaus Leipzig am 6. 5. 1961, Slawistik-Lektor Hans Loose am 15. 9. 1961 und Herstellungsleiter Günter Blechschmidt am 1. 10. 1961. 61 Berufung durch die VVB Verlage. Die BGL des Gesamtbetriebes verweigerte die Unterschrift für Marquardt und Kretschmar, weil man »von der veränderten Besetzung leitender Funktio-
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Abb. 2 a–b: Reclams Universal-Bibliothek – Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Ausgaben von 1980 und 1984, in der Reihengestaltung von Irmgard Horlbeck-Kappler bzw. der Neugestaltung von Lothar Reher (1984).
Den Bedenken in der Belegschaft zum Trotz entschied sich Marquardt für ein genormtes, etwas größeres Format der Universal-Bibliothek (L 9, 10,3 × 16,5 cm), um künftig »stabiler produzieren« zu können.62 Hinzu kamen ein neues Layout (Entwurf von Irmgard Horlbeck-Kappler), die Einrichtung von neuen Reihen, eine von Stuttgart unabhängige Zählung (beginnend mit Nummer 1, Goethe: Faust I) und eine einheitliche Preisstaffelung nach Umfanggruppen. Im Zuge der Zentralisierung im Verlagswesen der DDR wurde im Dezember 1962 die Gründung der Hauptverwaltung (HV) Verlage und Buchhandel beschlossen und die
nen im Betrieb nicht durch die VVB Verlage unterrichtet worden sei.« Vgl. SStA-L, DIB, 21043, Nr. 2338, 1/2: DIB Leipzig an VVB Verlage, 23. 7. 1962: Elvira Pradel (1931–2018), ab April 1957 Lektorin für Germanistik, 1962–1968 und 1978‒Januar 1990 Cheflektorin. – Lothar Kretschmar (1932–2018), 1949–1991 im Verlag, Buchhändler-Lehrling, Betriebsabrechner/Planer, zuletzt Ökonomischer Direktor. 62 Ab 1958 (TGL Nr. 3282) zwölf Buchformate in der DDR, Ausnahmen, so das Format der UB (9,7 × 15,7 cm), waren jährlich neu zu beantragen. Vgl. RAL, Ordner 22, Bl. 185–197, hier Bl. 185: Entwurf Protokoll über die Verlagsbeirat-Sitzung, 2. 2. 1963.
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VVB Verlage aufgelöst.63 Am 11. Dezember 1962 beschloss auch die Gesellschaftsversammlung für Reclam die juristische Trennung von Druckerei und Verlag. Während die VVB Polygraphische Industrie ab 1. Januar 1963 als staatlicher Gesellschafter des »Graphischen Großbetriebs« fungierte und ausschließlich volkseigene Anteile überschrieben bekam, blieb die Investitionsbank Gesellschafter des Verlages. Diese Funktion wurde am 10. Oktober 1963 mit einem neuen Gesellschaftsvertrag rückwirkend zum 1. Januar des Jahres dem Berliner Aufbau-Verlag überschrieben, der dem Kulturbund gehörte, aber von der SED angeeignet worden war.64 Nach Tätigung einer Einlage von 136.000 DM erhielt der Aufbau-Verlag die Stellung des geschäftsführenden Komplementärs bei Reclam Leipzig.65 Die westdeutschen Komplementäre Heinrich und Rolf Reclam hatten seitdem keinen Zugriff mehr auf die Gesellschaft. Der Eintritt des Bloch-Schülers Jürgen Teller in das Reclam-Lektorat am 15. Mai 1964 fiel in die Zeit des einzigen ernsthaften ostdeutschen Reformversuchs, dem »Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung« (NÖSPL).66 Schwierigkeiten der zentralen Planwirtschaft sollten durch größere Selbständigkeit der Betriebe und wirtschaftlichen Wettbewerb überwunden werden. Teller übernahm die Programmplanung der Universal-Bibliothek, während Marquardt den Ausbau der Programmlinie »Das Schöne Buch« vorantrieb.67 In dieser Zeit wurde das Programm eigenständiger und der Verlag erhielt von ostdeutschen Lesern wie von westdeutschen Kollegen viel Anerkennung.68 Nach einer Vereinbarung mit dem Verlag Volk und Wissen gehörten ab 1965 UB-Nummern auch zum Klassensatzprogramm Lesestoffe.69 Im Jahr 1966 kam es im Anschluss an eine Verlagsausstellung mit anderen ostdeutschen Firmen namensgleicher Ost-West-Verlage am Rande der Frankfurter Buchmesse (21.–25. 9.) im Handelszentrum der DDR zum Eklat. Heinrich Reclam erwirkte eine
63 Nach Auflösung der VVB Verlage (31. 12. 1962, Beschluss vom 21. 12. 1962, Gesetzblatt Teil II/Nr. 1, 4. 1. 1963). Vgl. SStA-L, DIB, 21043, Nr. 2338, 1/2: DIB an MfK/HV Verlage, 14. 2. 1963. 64 Vgl. SStA-L, DIB, 21043, Nr. 2338, 1/2: DIB an MfK/HV Verlage und Buchhandel, 14. 2. 1963. Dem Verlag wurden ausschließlich verwaltete Anteile übertragen, somit auch Rolf Reclams Anteil an der Druckerei. 65 Der Verlag erhielt die neue Betriebsnummer HRA 10043, der technische Betrieb behielt HRA 392. Am 15. 10. 1973 erlosch die Firma namens »Zentraldruck KG., Betrieb mit staatlicher Beteiligung« »Von Amts wegen«. 66 Jürgen Teller (Pseud: Theodor Heim, 1926–1999), Philosoph, Germanist, Lektor; ReclamCheflektor 1968–1977. Vgl. Teller: Kleine Autobiographie, S. 17–20. In: Teller: Hoffnung und Gefahr und UAL, StA 63942 und PA-SG 422. 67 Im Exzerpt von Hans Marquardt: »UB = Standbein des Verlages, Schöne Bücher = Spielbein des Verlages«. Vgl. AdK, Hans Marquardt Archiv, Blaue Mappe »Nachtrag«, o. D., Handschrift. – Johanna Teller an Karola Bloch, 21. 11. 1964. In: Bloch/Teller: Briefe durch die Mauer, S. 102. 68 Westdeutsche Kollegen u. a. aus den Verlagen Suhrkamp, Hanser, Rowohlt und Büchergilde Gutenberg. Luchterhand-Verlagsleiter Hans Altenhein bewunderte Marquardts Leistung, aus Reclam nicht nur einen modernen Taschenbuch-Verlag entwickelt zu haben, sondern auch erfolgreich mit dem Hardcover-Bereich auf das Gebiet der Buchkunst ausgewichen zu sein. So Hans Altenhein im Seminar im Juni 2014. 69 Chronik des Verlages. In: Autoren · Verleger · Bücher, S. 161.
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Einstweilige Verfügung unter Androhung einer Geld- oder Haftstrafe gegen die Vertreter des Leipziger Reclam Verlages.70 Nachdem westdeutsche Medien den problematischen Umgang mit dem privaten Eigentum in der DDR aufgegriffen hatten, wurde Hans Marquardt in die HV Verlage einbestellt und – erkrankte. Die verstärkte Abgrenzungspolitik der DDR-Behörden gegenüber Stuttgart ist in der Verlagsgeschichte 100 Jahre Reclams Universal-Bibliothek 1867–1967 dokumentiert: Dem westdeutschen Parallelverlag wurde unter anderem unterstellt, dass »immer mehr Barden aus Hitlers Hilfstruppe« dort ihr Domizil fänden.71 Im Jahr 1967 wurde der staatliche Anteil nochmals erhöht (712.000 MDN), sodass der Familie Reclam im Rechtsverständnis der DDR 21,7 Prozent in privatem Eigentum verblieben.72 Seit 1972 die künstlerische Leiterin Friederike Pondelik im Verlag arbeitete, bildeten sie und Marquardt ein »Gespann besessener Büchermacher« (Hans-Joachim Schauß).73 Bücher, die das »Bild mit der Literatur auf exemplarisch neue Art« verbinden (Juergen Seuss), fanden gegen den Willen des Stuttgarter Verlegers in Kooperation mit westdeutschen Verlagen Verbreitung in Ost und West. Ab dem Jahr 1972 erschienen UB-Nummern in Lizenz im Frankfurter Röderberg-Verlag, der zur Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) gehörte und der DKP nahestand. Der Stuttgarter Reclam Verlag versuchte zwar, mit einer weiteren Einstweiligen Verfügung das Erscheinen zu unterbinden, einigte sich dann mit Röderberg, da Reclam Leipzig bei Copyright-Vermerken nun – mit der völkerrechtlichen Anerkennung als souveräner Staat DDR – auf die Anwendung des international üblichen amerikanischen Urheberrechts bestand.74 Im Jahr 1973 musste der Verlag seinen Sitz in der Insel-/Kreuzstraße räumen und bezog bis 1975 zwei Etagen im Gebäude des VEB Offizin Andersen Nexö in der Nonnenstraße 38 im Leipziger Westen.75 In dieser Zeit bemühte sich Marquardt um eine Fusion mit dem Gustav Kiepenheuer Verlag. Er wollte Teile des Reclam-Programms unter anderem Namen erscheinen lassen, um den Export zu steigern und weiteren Querelen mit den Stuttgarter Eigentümern zu entgehen. Doch in Berlin wurde anders entschieden. Die SED erwarb den Kiepenheuer Verlag und baute ihn 1977 zu einer Gruppe mit
70 RASt, Mappe Einstweilige Verfügung. 71 Und weiter: Die Demontage sei eine »gerechte Maßnahme zum Zwecke der Wiedergutmachung« gewesen; Wolfs Diktum für »Meisterschaft und Volkstümlichkeit« stehe über Hesses Programm der »Bibliothek der Weltliteratur«. Vgl. Marquardt: Tradition und neues Werden, S. 80–100, (Redaktionsschluss: 31. 12. 1966). Es war Marquardts letzte von 14 Herausgaben in RUB: die erste war Theodor Körner: Lieder und Gedichte (1953); die zweite Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis (1954); die 13. Kurt Tucholsky: Drei Minuten Gehör! Prosa, Gedichte, Briefe (1961). 72 Im Juli 1967 (mit Nachtrag vom 27. 8. 1967); der Eintrag in HRA 10043 erfolgte am 7. 11. 1967. Die Leipziger Feier »100 Jahre Reclams Universal-Bibliothek« fand mit zweimonatiger Verspätung am 7. 12. 1967 im Neuen Rathaus statt. Festredner war Prof. Claus Träger. 73 Vgl. Seuss: H. M. Grenzgänger. In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 109–119. 74 Vgl. Körner: Gegen Krieg und Faschismus. In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 142– 156. 75 Die private Dr. Karl Meyer GmbH ging nach Zwangsverstaatlichung 1953 im VEB Offizin Haag Drugulin auf, der im Juni 1954 in VEB Offizin Andersen Nexö umbenannt wurde; heute befindet sich hier das Museum für Druckkunst.
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Abb. 3: Führung durch die iba-Ausstellung »Künstlerische Doppelbegabungen«: Hans Marquardt, Kurt Hager (SED-Politbüromitglied) und Jürgen Gruner (Vorsteher des Börsenvereins), links dahinter: Klaus Selbig (Leiter vom Verlag die Kunst) und Klaus Höpcke (Leiter der HV Verlage und Buchhandel), rechts: Ursula Ragwitz (Leiterin der Kulturabteilung des ZK der SED), Mai 1989. Foto: Günter Prust.
drei (einstigen) privaten Verlagen und dem privat bleibenden Insel-Verlag zur Pflege der sogenannten Erbe-Literatur aus.76 Als Hans Marquardt am 30. Juni 1987 aus dem Verlag schied, hatte er allen politischen Widrigkeiten zum Trotz in drei Jahrzehnten den halbstaatlichen Reclam Verlag zu einem mittelständischen Unternehmen mit 55 Mitarbeitern entwickelt und den traditionellen Taschenbuch-Verlag in Form und Inhalt modernisiert, das Hardcover-Programm profiliert und die Leipziger Buchkunst neu belebt. Marquardt habe Valutaeinnahmen im Wert von 1.373.016 Verrechnungseinheiten (VE) erwirtschaftet.77 Fünfzehn festangestellte Lektoren waren auch als Übersetzer, Autoren und Herausgeber tätig, ein Viertel von ihnen war in den 1960er Jahren geboren. Hans Marquardt wurde mit der Verdienstmedaille der DDR (1965), dem Vaterländischen Verdienstorden (Bronze, 1980), dem Nationalpreis II. Klasse (für Wissenschaft
76 Siehe dazu das Kapitel 5.3.1.4 Die Leipziger Erbe-Verlagsgruppe (Christoph Links) in diesem Band. 77 Vgl. RASt, Mappe Leipzig: Kretschmar an Marquardt, 11. 1. 1989 sowie RASt, Vertragsakte »Französische Liebesgeschichten«: Verlagsvertrag vom 30. 4. 1956; Zusatzvereinbarung vom 14. 11. 1956; Erhöhung der Tantieme nach Empfehlung des Schriftstellerverbandes auf 5 Prozent am 28. 4. 1959; Vereinbarung über Festsetzung der Autorenexemplare vom 19. 5. 1961.
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und Technik, 1982) und I. Klasse (für Kunst und Literatur, 1985) geehrt.78 Im Jahr 1985 verlieh ihm die Karl-Marx-Universität den Ehrendoktor. Möglich wurde dies unter anderem dadurch, dass Marquardt ab 1970 mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR als dessen Inoffizieller Mitarbeiter (IM »Hans«) kooperierte und mehr oder weniger routiniert über Autoren und Künstler berichtete.79 Die Entscheidung für den 53-jährigen Slawistik-Professor Roland Opitz als Nachfolger fiel in enger Abstimmung der HV Verlage im Kulturministerium mit dem SEDZentralkomitee und der SED-Bezirksleitung Leipzig.80 Nach dem Tod von Heinrich Reclam (1984) kam es im Zuge der Entspannungspolitik seit Abschluss des deutschdeutschen Kulturabkommens (1986) Ende 1988 zu einem ersten Treffen von Roland Opitz und Lothar Kretschmar mit dem Stuttgarter Geschäftsführer Dr. Dietrich Bode.81 Die von Reclam Stuttgart angestrebte Abgrenzung bei der Firmierung der Verlagsproduktion sowie die Regelungen für Vertriebsgebiete und für die Verwertung von Altrechten gingen der Kulturabteilung im ZK der SED allerdings zu weit, sodass Ende Juni 1989 die Treffen abgebrochen werden mussten.82
Das Programm von 1964 bis 1990 Mit erweitertem Programm, neuer Gestaltung und veränderter Reihengliederung hatte sich der Leipziger Verlag nach der Rekonstruktion seiner Universal-Bibliothek vom traditionellen Unternehmen abgesetzt.83 Ein Drittel der Bände waren noch Wiederaufnahmen. Verstärkt erschienen Werke von Klassikern der linksbürgerlichen Moderne und Autoren der zeitgenössischen deutschen und internationalen Literatur. Ausgebaut wurden auch das philosophische Programm, neu aufgebaut die Reihen »Geschichte und Kultur« (1964) und »Sprache und Literatur« (1965).
78 Die Nationalpreise wurden im Kollektiv verliehen: 1982 für die 7-bändige Reihe Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil; 1985 für die Profilierung von Reclams Universal-Bibliothek zu einer »massenwirksamen sozialistischen Volksbibliothek«. 79 »Operativ interessante Personen« waren die ostdeutschen Schriftsteller Stephan Hermlin, Günter Kunert, Franz Fühmann und Rainer Kirsch und die westdeutschen Künstler und Kollegen HAP Grieshaber, Margarete Hannsmann, Karin Kiwus, Christoph Schlotterer und Ingrid Krüger. Ab 1980 berichtete »IMB Hans« freiwillig über Wolfgang Hilbig und auch noch als Rentner über Günter Grass. Vgl. Sonntag: Kommentar zu Hans Marquardts Stasi-Akte. In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 131–141, und Schlüter: Grass im Visier. 80 Roland Opitz (1934–2015), Hochschullehrer der Karl-Marx-Universität Leipzig, 1975 hier Professor für Russische Literatur und Literaturtheorie, bis 28. 2. 1990 Verlagsleiter, 1990– 1997 Professor für Russische Literatur am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin. 81 Dietrich Bode (1934–2015), ab 1962 Lektor für Germanistik bei Reclam Stuttgart, 1981 Geschäftsführer des Verlags, 1985–1999 Geschäftsführer des Gesamtunternehmens. 82 RAL, Akte 467, Bl. 91–99: Der Reclam-Verlag in den neunziger Jahren (Opitz) an HV (Höpcke), 10. 11. 1988 sowie Lothar Kretschmar im Gespräch am 15. 1. 2016. 83 Reihengliederung: Erzählende Prosa (EP), Versdichtung (V), Dramatik (D), Philosophie (Ph) und Biografien und Dokumente (BD).
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Cheflektor Jürgen Teller lehnte »Leisetreterei« und »Scheuklapppolitik« ab und strebte eine geistige Weitung der Universal-Bibliothek an.84 Mit drei »Paukenschlägen« war dies im Jahr 1966 deutlich zu erkennen: so mit Victor Klemperers LTI, der ersten profunden Kritik an der »Sprache des Dritten Reiches«,85 Rolf Recknagels Biographie B. Traven und Hubert Witts Auswahl/Übersetzung moderner jiddischer Dichtung Der Fiedler vom Getto. In Abstimmung mit seinem mittlerweile in Tübingen tätigen Lehrer Ernst Bloch setzte Teller auf die Herausgabe von Primärtexten aus der Philosophie der Antike, Renaissance, der klassischen deutschen Philosophie, der englischen und der französischen Aufklärung, des deutschen Idealismus sowie des kritischen Sozialismus und des wissenschaftlichen Kommunismus.86 Einbezogen wurden die in der DDR verbliebenen und zeitweise unter Berufsverbot gestellten Schüler, so Gerd Irrlitz als Herausgeber von Francis Bacon: Ausgewählter Essays (1969) und Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1982, 3 Bände), der Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm, der im Bereich der Musikbücher neue Akzente setzte,87 und Gerhard Seidel als Herausgeber von Walter Benjamin: Lesezeichen (1970).88 Große Aufmerksamkeit widmete Teller auch der Herausbildung einer modernen Verlagsslawistik. Nach dem Prinzip der »schiefen Schlachtordnung« wogen Verlagsmitarbeiter, Herausgeber / Übersetzer / Gutachter ab, welche Autoren sie wann herausbringen würden können.89 Auf diese Weise erschienen Sergej Jessenin: Gedichte (1965, russisch/deutsch), Isaak Babel: Die Reiterarmee (1968), Sergej Tretjakow: Lyrik Dramatik Prosa (1972), Demjan Bedny: Gedichte und Fabeln90 und Aufsätze von Anna Ach-
84 UBL, 283.6, Nachlass Teller: Skeptizismus/Gegen Schlagworte = Schlagringe, 1966, Handschrift. 85 Seine Bitte um Veröffentlichung hatte Klemperer schon im Jahr 1955 an Reclam Leipzig herangetragen. Vgl. RAL, Akte 63, Bl. 22: Victor Klemperer an Redaktion/Reclam Leipzig, 13. 1. 1955, Handschrift. 86 Vgl. Teller an Ernst und Karola Bloch, 6. 3. 1965. In: Bloch/Teller: Briefe durch die Mauer, S. 111. »Die Menge unserer philosophischen Editionen ist gewiß bescheiden, sie beschränken sich, gemäß der Reclam-Tradition auch nur auf Standardwerke der Geschichte der Philosophie, aber dieser Mangel kann hier nur Gewinn sein.« Teller fungierte auch als Herausgeber von Giordano Brunos Prozessakten und Thomas Morus: Utopia. 87 Klemm besorgte Neuherausgaben einer Beethoven-Biographie, der Aufsätze von Claude Debussy, der »Musiklehre« von Johnens und der Memoiren von Hector Berlioz. 88 Vgl. Wizisla: Kalter Krieg um Benjamin? In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 234–258. 89 Fritz Mierau erläuterte das antike Gefechtsmodell des Thebaners Epameinondas (371 v. Ch.) wie folgt: »dass auf der linken Seite das Fußvolk massiv zum Angriff übergeht und sich [das Fußvolk, IS] auf der rechten Seite zurückhält« und dann den Bezug zum ostdeutschen Zensursystem: »Mandelstam galt nach einer sowjetischen Einteilung als rechts, konservativ, klassikverhaftet, mit dem Ideal der Weltkultur. Auf der linken Seite gab es ausreichend Autoren, die man vom Ministerium verordnet bekam. (…) [D]as Fußvolk [war] links aufgestellt. Man konnte rechts für Mandelstam sorgen.« Vgl. Rost u. a.: Nach dem Prinzip der »schiefen Schlachtordnung« aufgestellt, S. 77–87. In: Lokatis/Sonntag: Heimliche Leser. 90 Erste gedruckte Erwähnung Leo Trotzkis in der DDR im Nachwort von Fritz Mierau: Trotzki habe in seinem Buch »Literatur und Revolution« (1924) Bedny als »Bolschewiken der ›dichterischen‹ Waffengattung« bezeichnet, S. 154.
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Abb. 4: Werbeprospekt für Reclams Universal-Bibliothek, Leipzig 1988, Vorder- und Rückseite des Umschlags.
matowa und Marina Zwetajewa (in Puschkin: Mozart und Salieri) im Jahr 1974, Ossip Mandelstam: Hufeisenfinder (russisch/deutsch) sowie Fjodor Gladkow/Heiner Müller: Zement, beide 1975, schließlich Achmatowa: Poem ohne Held (1979, russisch/deutsch) und Zwetajewa Gedichte · Prosa (1987, russisch/deutsch). Nach demselben Prinzip verfuhr man bei den deutschsprachigen und internationalen Programmen und auch hier in (mehr oder weniger) langwierigen Aushandlungsprozessen mit dem Machtapparat. Im Kontakt mit den Oppositionsbewegungen in Ost und West sowie den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen erschienen unter anderen die zweisprachige Sammlung Metamorphose der Nelke – Moderne spanische Lyrik (1968, Hrsg.: Carlos Rincón), die Buchausgabe Gemalte Paradiese. Naive Kunst aus Solentiname (1985, Texte von Ernesto Cardenal, Hrsg.: Carlos Rincón) und Die Sonnenuhr. Tschechische Lyrik aus 11 Jahrhunderten (1987, Hrsg.: Ludvík Kundera). Sammlungen von Georg Mauer, Volker Braun, Günter Kunert, Reiner Kunze, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch (Hrsg.: Elke Erb), Heinz Czechowski, Elke Erb, Adolf Endler (Hrsg.: Peter Gosse), Uwe Greßmann (Hrsg.: Richard Pietraß), Wulf Kirsten und Wolfgang Hilbig mit Stimme. Stimme schrieben sich in die Literaturgeschichte ein; ebenso Stephan Hermlin: Deutsches Lesebuch. Von Luther bis Liebknecht und Abendlicht, Essays von Kurt Batt, Volker Braun, Fritz Mierau, Franz Fühmann zu Georg Trakl und von Christa und Gerhard Wolf. Standardwerke wurden Hans-Günter Ottenberg: C. P. E. Bach, Kito Lorenc: Sorbisches Lesebuch und das Kompendium von Karlheinz Barck: Surrealismus in Paris 1919–1939. In den Fachlektoraten wurden frühere oder spätere Nobelpreisträger wie
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Abb. 5: Schutzumschlag von Helmut Brade mit Motiven von George Grosz.
Ivo Andrić, Michail Scholochow, Pablo Neruda, Heinrich Böll, Saul Bellow, Vicente Aleixandre, Odysseas Elytis, William Golding, Claude Simon, Nagib Mahfuz, Seamus Heaney, Günter Grass und Tomas Tranströmer ediert. Mitte der 1970er Jahre hatte Hans Marquardt begonnen, neben illustrierten Buchausgaben auch Grafische Mappenwerke (mit Lothar Lang) herauszugeben. Die intensive Zusammenarbeit mit der Büchergilde Gutenberg in Frankfurt am Main, mit dem Holzscheider HAP Grieshaber und den Erben des Malers Max Beckmann spiegelt auch Marquardts Westbindung wider. Im Jahr 1977 verließ Jürgen Teller den Verlag. Eingeladen, in der RUB den ersten Bloch-Band Freiheit und Ordnung in der DDR nach 30 Jahren (1985) herauszugeben, durften aber weder Tellers Auswahl noch sein Nachwort gedruckt werden.91 Hans Marquardt hatte sich im Jahr seines Abschieds noch für das Erscheinen von Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg stark gemacht. Nach Claude Levy-Strauss: Traurige Tropen holten die Lektoren Heinfried Henniger und Stefan Richter zuerst Schriften der Frankfurter Schule (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Leo
91 Vgl. Sonntag: Die Edition Freiheit und Ordnung. In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 483–492.
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Löwenthal) und des Poststrukturalismus ins UB-Programm und schließlich Neuentdeckungen wie Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts und Heinrich Hubert Houben: Hier Zensur – wer dort? (mit einem Essay von Günter de Bruyn).92
Transformation und Abwicklung von 1990 bis 2006 Ende des Jahres 1989 waren im Verlag 61 Mitarbeiter beschäftigt, darunter 18 festangestellte Lektoren. Aus Platzgründen nahm ein Teil des Lektorates Quartier in Specks Hof nahe der Thomaskirche, dem Ort der Friedlichen Revolution. Im Jahr 1988 hatte man die 100-prozentige Exportplanerfüllung vom Vorjahr gefeiert, den Ausbau der UniversalBibliothek mit dem neuen Segment »Naturwissenschaften« geplant und die Fortführung der Grafik-Editionen, der Dürer-Presse sowie die Neuentwicklungen einer Friedensbibliothek und Gutenberg-Presse beschlossen.93 Im Jahr 1989 erzielte der Verlag einen Gesamtumsatz von etwa 10 Mio. M, eine Warenproduktion RUB von 7.418.400 M und einen Gewinn von rund 1 Mio. M, annähernd so viel wie in den Jahren zuvor.94 Dann kam alles ganz anders. Die zaghafte Annäherung zwischen den Stuttgarter und Leipziger Verlagsdirektoren, die man nach der Maueröffnung glaubte fortsetzen zu können, wurde von einem Misstrauensvotum der Leipziger Belegschaft gegen Verlagsleiter Opitz am 15. November 1989 gestört, woraufhin dieser beim Kulturministerium seine Abberufung beantragte. Als Nachfolger besaß der 29-jährige Stefan Richter das Vertrauen der Belegschaft, nicht aber des Stuttgarter Unternehmens. Als am 28. Februar 1990 beide Reclam-Verlage eine »Kooperationsvereinbarung« unterzeichneten, geschah das am letzten Arbeitstag von Opitz, ohne Richter zur Unterschrift hinzuzubitten. Die Vereinbarung sah eine Differenzierung in der Firmierung und Reihenbezeichnung vor: Aus »Philipp Reclam jun., Leipzig« wurde »Reclam-Verlag Leipzig« und aus der Universal-Bibliothek (Nummer), die fortan in Stuttgart erschien, wurde die Reclam-Bibliothek (Band) in Leipzig. Dem Mangel an aktuellen Debatten begegnete der Leipziger Verlag mit neuen Publikationen und einem erweiterten Autorenkreis. Angesichts von »125 Jahre UniversalBibliothek« im Jahr 1992 wurden die archivgestützten Untersuchungen für eine Bibliographie fortgeführt, die auch Mitarbeiter erfasste, die nicht zur Familie gehörten. Daraus resultierten Ehrungen mit der (1988 gestifteten) Medaille zur Erinnerung an Anton Philipp Reclam: zuerst des Vertriebsleiters Konrad Walter für seine Verdienste bei der Entwicklung des Verlages und als Geste der Wiedergutmachung erlittenen Unrechts. Die Ehrung des früheren Prokuristen und Stuttgarter Reclam-Verlegers Gotthold Müller (1947–1953) für seinen Anteil an der wirtschaftlichen Stabilisierung des Unternehmens von 1936 bis 1945 und seinen Einsatz gegen den Nationalsozialismus an der Seite Carl
92 Heinfried Henniger (Jg. 1934), Lektor im Buchverlag Der Morgen, ab 1979 Lektor für Kulturgeschichte bei Reclam, ab März 1990 Cheflektor, Kündigung zum 15. 2. 1992. ‒ Stefan Richter (Jg. 1960), ab September 1985 Lektor für Germanistik und Literaturwissenschaft, ab Februar 1990 amtierender Cheflektor und Verlagsleiter, Ausscheiden aus dem Verlag zum 1. 10. 1991. 93 RAL, Akte 467, Bl. 91–99: Konzeption »Der Reclam-Verlag in den neunziger Jahren« (Opitz) an MfK/HV Verlage (Höpcke), 10. 11. 1988. 94 SStA-L, 22399, Nachlass Kretschmar, Nr. 15: Gesamtbewertung 1969–1989.
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Friedrich Goerdelers traf indes in Stuttgart auf eine Mauer des Schweigens. Auch unter veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen behielt man sich verlagshistorische Forschungen, Dokumentierungen und Kommentierungen selbst vor.95 Zur Frankfurter Buchmesse 1990 (3.‒8. 10.) unmittelbar nach der deutschen Einigung durfte der Leipziger Verlag erstmals mit einem eigenen Stand vertreten sein. Nicht nur die Reader Kopfbahnhof (Redaktion: Heiner Henniger, Klaus Pankow, Stefan Richter, Andreas Tretner) zogen das westdeutsche Feuilleton in den Bann: »Ein Verlag macht jetzt durch eine Veröffentlichung sichtbar, daß ihm der Mut nicht abhanden gekommen ist: Reclam Leipzig.«96 »Die Ditzinger« seien überhaupt nicht neugierig auf uns gewesen, »[s]ondern gnadenlos uninspiriert«, fasste Stefan Richter die Lage zusammen.97 Zwischen Leipzig und Stuttgart spitzten sich die Differenzen über das Programm, die Produktionskapazitäten und Rechtsformen zu. Während Familie Reclam bei der Treuhandanstalt die Rückübertragung der Gesamtfirma (Verlag, Graphischer Betrieb und Firmengrundstück) beantragte, setzte die neue Leipziger Führung auf Selbständigkeit, die durch eine Neugründung als GmbH oder die Schaffung einer Reclam-Stiftung rechtlich abgesichert werden sollte, was wiederum von der Familie abgelehnt wurde.98 Als im ersten Halbjahr 1991 in Leipzig die Umsatzerlöse von DM 1.404.190,06 DM gegenüber Ausgaben von DM 2.399.390,81 zu Buche schlugen, sprach sich die Mehrzahl der verbliebenen Mitarbeiter (34, davon 33 mehr oder weniger in Kurzarbeit) am 15. Mai 1991 gegen das Stiftungsmodell aus und stimmte für das »Stuttgarter Konzept«.99 Am 1. Januar 1992 wurde eine Leipziger Niederlassung mit 18 Mitarbeitern aus der bisherigen Belegschaft der Stuttgarter Geschäftsführung unterstellt.100 Vorgesehen waren jährlich etwa 40 Titel ohne Reihengliederung, mit den Schwerpunkten gegenwärtige und ältere deutsche Literatur, Slawistik, Philosophie/Soziologie sowie im beschränkten Umfang des jiddischen Programms. Die Herausgabe von internationaler Literatur, »Schönen Büchern« und Pressendrucken wurde schrittweise eingestellt.
95 Seit 1979, zuletzt nach Übermittlung eines Briefes von Heinrich Reclam an Ernst Reclam vom 9. 3. 1948 durch Lothar Kretschmar an Dietrich Bode und Brigitte Reclam. Vgl. SStA-L, 22399, Nachlass Kretschmar, Nr. 08: Albert Haueis an Lothar Kretschmar, 9. 8. 1979; Lothar Kretschmar an Dietrich Bode, 14. 12. 1992 und Brigitte Reclam an Lothar Kretschmar, 12. 1. 1993. – Vgl. Briefwechsel Müller/Kretschmar von April 1989 bis Mai 1991. In: Sonntag: An den Grenzen, S. 183–195 und in SStA-L, 22399, Nachlass Kretschmar, Nr. 08. 96 EPW: Leipziger Almanach. Eine Novität des Hauses Reclam. In: Süddeutsche Zeitung, 26./ 27. 5. 1990. – Zwei Jahre später: Serke, Jürgen: Russen in Berlin und anderswo. Programm nach Maß, Die Welt, 11. 7. 1992. 97 Richter: Learning by Doing. In: Sonntag (Hrsg.):An den Grenzen, S. 200. – Das Stuttgarter Unternehmen hatte 1981 ein neues Verlagshaus im nahen Ditzingen bezogen. 98 Vgl. Krüger: Die Reclam-Stiftung. In: Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen, S. 202–207. – Das Feuilleton reagierte mit Unverständnis auf das Stuttgarter Vorgehen, Iris Radisch nannte dies »Ditzinger Stumpfsinn«, so die Zwischenüberschrift im Artikel »Morgen in Frankfurt«. In: Die Zeit, 3. 5. 1991. 99 SStA-L, 22399, Nachlass Kretschmar, Nr. 15: Lohn- und Personalentwicklung 1991, o. D., Vertraulich. 100 Mit einer Bestandsgarantie von zuerst zwei Jahren. Vgl. Heinfried Henniger, Privatarchiv: Reclam Stuttgart (Bode) an Reclam Leipzig (Peter/Henniger), 4. 9. 1991.
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Das Jubiläum »125 Jahre Universal-Bibliothek« beging man 1992 mit einem Empfang auf der Frankfurter Buchmesse101 und mit Ausstellungen in Köln, Düsseldorf, Stuttgart und Marbach. In Leipzig wurde ein Gymnasium nach Anton Philipp Reclam benannt. Vier verlegerische Prokuristen – einer aus dem Osten, drei aus dem Westen – taten in der Leipziger Filiale nacheinander von 1992 bis 2006 das ihnen Mögliche.102 Trotz beachtlichen Absatzes, vor allem mit dem Bestseller Robert Schneider: Schlafes Bruder, konnten sie den Abbau von Arbeitsplätzen, Produktionskapazitäten und gewohnt künstlerischer Gestaltung nicht aufhalten.103 Im Jahr 2001 leitete der Sprung in der Zählung von Band 3506 in der Reclam-Bibliothek auf Nummer 20 001 in der UniversalBibliothek das Ende der Leipziger Niederlassung ein. Im März 2006 wurde – 60 Jahre nach Erteilung der ersten Nachkriegslizenz – Reclam in Leipzig geschlossen. * Die Verlagsleiter Ernst Reclam, Hildegard Böttcher, Hans Marquardt und Stefan Richter sowie die Chef- und Fachlektoren, die von 1948 bis 1991 das verlegerische Programm verantworteten und ausbauten, sorgten dafür, dass die Universal-Bibliothek in Ostdeutschland im Sinne Anton Philipp Reclams kritisches Denken auch unter den Bedingungen der Diktatur weiter beförderte. Entscheidenden Einfluss auf den restriktiven Umgang mit dem Privateigentum hatte auch Hans Marquardt nicht. Dass Reclam als halbstaatlicher Verlag bis zum Ende der DDR fortbestand, gründet auf verlegerischem Sachverstand und Eigeninteresse sowie auf dem Umstand einer einzigartigen Mitarbeiterkonstellation ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre.
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Akademie der Künste Berlin (AdK) Hans Marquardt Archiv, Blaue Mappe »Nachtrag« Bundesarchiv Berlin (BArch) Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel DR 1/1114, DR 1/1121, DR 1/1264, DR 1/1945 Privatarchiv Heinfried Henniger
101 Im Oktober 1991 habe der damalige Bundespräsident Richard v. Weizsäcker beim Besuch des gemeinsamen Messestandes des Leipziger und Stuttgarter Verlages Interesse gezeigt, die Festrede anlässlich 125 Jahre UB zu halten, berichtete Lothar Kretschmar am 28. 2. 2016. Stattdessen bat die Stuttgarter Verlagsleitung den Schriftsteller Ludwig Harig als Leser der UB um »ein persönliches Lebenszeugnis«. Vgl. Bode, Reclam, S. 191. 102 Das waren Birgit Peter (1991–1994), Rainer Moritz (1995–1998), Andreas Anter (1998– 2000) und Maria Köttnitz (2000–2006). 103 Mehr als eine Million Exemplare in fünf Jahren, Übersetzungen in über 20 Sprachen, Vorlage für Filme und Libretti, zahlreiche Preise. Vgl. Bode: Reclam, S. 193.
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Reclam-Archiv Leipzig (RAL) Akten 43, 48, 55, 56, 66, 77, 84, 133, 139, 140, 177, 467, 469 Ordner 15, 18, 22 Reclam-Archiv Stuttgart (RASt) Mappe Leipzig Mappe Einstweilige Verfügung Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SStA-L) Deutsche Investitionsbank (DIB) Leipzig, 21043, Nr. 2338/2453 Verwaltung Volkseigener Betriebe, Industriezweigleitung (IZL) Druck Leipzig, 21103, Nr. 477/492/658 Nachlass 22399 Lothar Kretschmar Nachlass 22395 Roland Opitz Stadtarchiv Leipzig (StadtAL) Priv Firm, Paket 46, Nr. 1627 HRA 392/10043 Universitätsarchiv Leipzig (UAL) PA 726 Hans Mayer StA 63942 / PA-SG 422 Jürgen Teller StuA 84358 / Prüf A 42701 Hans Marquardt Matrikel Studj. 6711–12939 1950/51, 1951/52, 1952/53 Universitätsbibliothek Leipzig (UBL) Nachlass 283 Heinrich Jürgen Teller
Gedruckte Quellen 100 Jahre Universal-Bibliothek. Ein Almanach. Mit einem Vorwort von Heinrich Reclam nach der Firmengeschichte von Annemarie Meiner. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1967. 125 Jahre Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1953. Autoren · Verleger · Bücher. Ein Almanach. Für Hans Marquardt zum 12. August 1985. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1985. BODE, Dietrich (Hrsg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek 1867–1992. Hrsg. von Dietrich Bode. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1992. BODE, Dietrich (Zusammenstellung): 150 Jahre Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte 1828–1979. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1978. BODE, Dietrich: Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte. 1828–2003. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2003. HAUEIS, Albert: Eine Bar mit der Lizenz-Nr. 343. Bei Reclam in Leipzig. In: Stuttgarter Zeitung, 19. 1. 1991. MARQUARDT, Hans (Hrsg.): 100 Jahre Reclams Universal-Bibliothek 1867–1967. Beiträge zur Verlagsgeschichte. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1967 (UB 384). PONDELIK, Friederike / SCHAUß, Hans-Joachim (Hrsg.): Hat nicht in den Wind geredet … Einzeichnungen Malbriefe Gedichte. Für Hans Marquardt zum 12. August 2000. Leipzig: Privatdruck 2000. RAU, Christian: Paul Fröhlich, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, 1. 7. 2015. https://saebi.isgv.de/biografie/Paul Fröhlich, abgerufen 15. 9. 2020.
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TELLER, Jürgen: Hoffnung und Gefahr. Essays, Aufsätze, Briefe 1954–1999. Hrsg. von Hubert Witt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.
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Jane Langforth 5.3.1.11 Das Taschenbuch Der Begriff des Taschenbuchs als Bezeichnung für eine bestimmte Buchart tauchte erstmals im 18. Jahrhundert auf.1 Verstanden wurden darunter zunächst kleinformatige literarische Anthologien und Almanache, später kamen bestimmte Frauenbücher und jährlich erscheinende Sach- und Fachbücher hinzu. Als Begründer des neueren Taschenbuches gilt der Leipziger Verleger und Buchhändler Christian Bernhard Tauchnitz,2 welcher Mitte des 19. Jahrhunderts den Mangel an Unterhaltungsliteratur für englischsprachige Touristen in Deutschland erkannt hatte und eine Taschenbuchreihe mit bekannter englischer und amerikanischer Literatur entwickelte, die ohne Festeinband und in großer Auflage erschien. Die sogenannte Tauchnitz-Edition konnte aufgrund der 1802 entwickelten Schnellpresse von Friedrich Koenig preisgünstig hergestellt werden. Mit diesem marktökonomisch geschickten und erfolgreichen Schachzug legte er den Grundstein nicht allein für eine alsbald einsetzende, weltweite Einführung preiswerter broschierter Reihen, sondern auch für unser heutiges Verständnis des Taschenbuches. 1950 begründete der Rowohlt-Verlag mit seinen Rowohlts Rotations-Romanen (rororo) die erste moderne Taschenbuchreihe auf dem westdeutschen Buchmarkt. Mit der damit einhergehenden Neubelebung dieser Editionsform kristallisierten sich reihenübergreifend – sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR – konkrete, formale Merkmale heraus, die sich mehr oder weniger bis heute gehalten haben: Ein Taschenbuch ist ein einfach ausgestattetes kleinformatiges Buch mit kartoniertem Einband, das mit einer relativ hohen Auflage und zu einem relativ niedrigen Preis auf den Markt gebracht wird. Das klassische Taschenbuchformat beträgt 11 × 18 cm. Bei Lizenzausgaben können oft Satz, Layout und Titelbild vom Erstdruck übernommen werden. Zudem lassen sich die Kosten durch Standardisierung der Formate, durch geringe Rüstkosten in den technischen 3 Betrieben und gleich bleibende Papierqualitäten reduzieren.
Bei der Titelauswahl setzte man zunächst auf eine Zweitverwertung von Verlagslizenzen. Später kamen in wachsender Anzahl Eigenentwicklungen und Erstausgaben hinzu, besonders im Feld der populärwissenschaftlichen Literatur. Da anfangs kaum jemand an den Erfolg dieses Buchformates glaubte, stellten viele westdeutsche Verlage wohlwollend Nachdrucklizenzen ihrer Titel für die billigen rororo-Bände zur Verfügung. Doch angesichts der unerwartet großen Nachfrage gründeten viele dieser Verlage später eigene Taschenbuchreihen.4 Als wichtigstes Charakteristikum des modernen Taschenbuches bildete sich bald sein regelmäßiges Erscheinen im Verbund einer Reihe unter einem gleichbleibenden Reihensignet heraus. Damit wurde dem Leser eine selektierte Vorauswahl nach bestimmten inhaltlichen Kriterien einer Reihe vermittelt und bei gleichzeitiger Bandzählung mitunter auch eine
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Friedrich: Die Taschenbuch-Story. In: Gent: Taschenbuchfibel, S. 8. Friedrich, S. 11. Dr. Hubertus Schenkel zitiert nach Schütz: Das BuchMarktBuch, S. 343. Brüdigam: Taschenbuch quo vadis (II)?
https://doi.org/10.1515/9783110471229-031
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Sammellust geweckt. Dieser Reihenverbund sorgte dafür, dass sich die Titel gegenseitig stützten, als Referenz dienten und so auch unbekannte Autoren Aufmerksamkeit finden konnten. Die nachfolgend vorgestellten Taschenbuchreihen entsprechen in der Regel den vorangegangenen Merkmalen, doch findet sich auch die eine oder andere Reihe in dieser Aufzählung, die anderenorts als Broschüren- oder Heftreihe geführt wird. Dies ist zum einen dem Umstand geschuldet, dass Taschenbuchreihen besonders zu Beginn der DDR oftmals noch nicht klar als solche bezeichnet wurden, die Merkmale noch nicht endgültig definiert waren und dass zum anderen »Grenzfälle« aufgenommen wurden, um die Vielfalt und Funktionalität der verschiedenen Reihen in der DDR zu verdeutlichen. Die Liste der hier genannten Taschenbuchreihen wird andererseits aus gleichen Gründen nicht vollständig sein, und einige Reihen werden vermutlich zu Unrecht fehlen.5
Die 1950er Jahre. Die Wiederentdeckung des Taschenbuches Die Berichte über die Entwicklung der Taschenbuchreihen und ihre große Nachfrage in der Bundesrepublik weckten auch das Interesse der DDR-Bürger. Doch die negativen Auswirkungen der Taschenbuchentwicklung auf dem westdeutschen Buchmarkt, wie sinkender Absatz gebundener Bücher und der steigende Einfluss von seichter Unterhaltungs- und Spannungsliteratur (»Schund- und Schmutzliteratur«), ließen die Verantwortlichen im DDR-Kulturbetrieb zunächst zurückhaltend gegenüber dieser Buchform sein. Der Spannungsbereich wurde zudem bereits seit 1949 mit mehreren Heft-Editionen wie Das Neue Abenteuer (Verlag Neues Leben) und Kleine Jugendreihe (Verlag Kultur und Fortschritt) bedient. Allerdings wurde auch das erhebliche, massenwirksame Potenzial dieser Bücher erkannt, die sich kostengünstig herstellen ließen und die Möglichkeit zur flächendeckenden, systematischen Vermittlung eigener literarischer und politischer Wertvorstellungen in der Bevölkerung boten. Deshalb wurde 1952 dem Drängen der Verlage zur Erteilung entsprechender Druckgenehmigungen beim Amt für Literatur schließlich nachgegeben. Es war der Verlag der Nation, welcher sich bei der Herausgabe der ersten ostdeutschen Taschenbuchreihe ausprobieren konnte,6 indem er seine vormals belletristische Heftreihe Roman für alle (Rfa) ab 1952 unter dem gleichen Namen in das Taschenbuchformat überführte.7 Das Programm der »Taschenbuchromane«, wie die Reihe auch synonym genannt wurde, führte das bewährte Portfolio der Heftreihe fort, ergänzt durch Lizenzausgaben anderer Belletristikverlage der DDR.8 Das Ergebnis war ein literarisches Potpourri aus internationalen und deutschen Literaturklassikern wie Lew Tolstoi, Honoré de Balzac, Gottfried Keller und Theodor Fontane, aber auch Anna Seghers, Egon Erwin Kisch und Friedrich Wolf, welches in seinem breitgefächerten Angebot den Leser »über das Durchdenken der gesellschaftlichen Erkenntnisse der Schriftsteller
5 Die vorliegende Darstellung beruht maßgeblich auf zwei wissenschaftlichen Arbeiten: Langforth: Reihenweise Taschenbücher sowie Maes: Bücher für alle. 6 Schauß: Buchenswert, S. 241. 7 BArch, DY 17/4504: Schwerpunkt für die Planarbeit zur Roman für alle-Produktion. 8 o.V. In: Kulturbund der DDR (Hrsg.): Sonntag – unabhängige Wochenzeitung für Kunst und modernes Leben. Das Buch Roman für Alle, S. 5.
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Abb. 1–2: Roman für alle, Band 87: Alexander von Humboldt, Tagebuch vom Orinoko. Verlag der Nation 1959, Einband von Susanne Werner. Seven Seas Books: Millen Brand, Some Love Some Hunger. Seven Seas Publishers im Verlag Volk und Welt Berlin, 1959, Einband Lothar Reher.
mehrerer Jahrhunderte zum Nachdenken auch über das Heute anregen soll«, wie es im Leipziger Börsenblatt Ende 1953 hieß.9 Während die früheren Roman für alle-Hefte mit 1 M pro Ausgabe noch über Lesezirkel und die Deutsche Post vertrieben wurden, gelangten die Taschenbücher mit 1,75 M pro Band und 3,50 M pro Doppelband über den Buchhandel an die Leser.10 Der Preis der broschierten Taschenbücher wurde staatlich festgelegt und blieb über lange Zeit stabil. Im Vergleich dazu variierten die Preise der gebundenen Bücher des Verlages zwischen 8 und 11 M. Währenddessen durchlief die Reihe zur Attraktivitätssteigerung im Laufe ihrer Zeit mehrere optische Wandlungen. Die ersten Ausgaben wiesen durch eine Leinenfalz und den illustrierten Schutzumschlag noch viele Ähnlichkeiten zum gebundenen Buch auf. Ab 1954 wurde der Einband dann direkt illustriert und mit einem Reihensignet versehen, doch erst 1958 fand der Verlag zu jenem Erscheinungsbild, welches die Reihe bis zum Ende ihrer Laufzeit 1990 prägen sollte. Insgesamt kamen fast 300 Titel heraus.
9 o.V.: Romane..., Romane .…, S. 1091. 10 BArch, DY 17/3070: Roman für alle: Analyse.
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Ebenfalls im Jahr 1952 erschien im Verlag Das Neue Berlin die erste Unterhaltungsreihe im Taschenbuchformat, NB-Romane genannt. Die Reihe folgte dem Trend zahlreicher bundesdeutscher Reihen, welche sich vor allem auf das Genre der Kriminal-, Abenteuer- und später auch Science-Fiction-Literatur spezialisiert hatten. »Ausschließlich leichteste und doch bekömmliche Kost [...]«,11 lautete das Konzept der NB-Romane, dazu ein auffällig gestaltetes Äußeres. Die Reihe durchlief mehrere optische und inhaltliche Anpassungen, bevor sie 1969 nach 70 Titeln eingestellt wurde. An ihre Stelle trat die Krimireihe DIE. Delikte – Indizien – Ermittlungen, die sich verstärkt der Ermittlungsarbeit der Volkspolizei zuwandte, während sich die Spannungs-, Abenteuer- und Science-Fiction-Genres stattdessen in Heftreihen wie der Erzählerreihe (ab 1957 im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, später Militärverlag der DDR), der Blaulicht-Reihe (zunächst im Verlag des Ministeriums des Innern, ab 1958 im Verlag Das Neue Berlin) und der Reihe KAP – Krimi, Abenteuer, Phantastik (1966 bis 1971 im Verlag Kultur und Fortschritt in Nachfolge der Kleinen Jugendreihe) wiederfanden. Nachdem Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 zum aktiven Aufbau des Sozialismus aufgerufen und die Massenorganisationen zur unbedingten Unterstützung bei der Überbringung und Vermittlung der neuen Linie auffordert hatte, wurde dem Kulturbund als Gründer und Inhaber des Aufbau-Verlages die Aufgabe zuteil, die Herausgabe der dafür benötigten Fachliteratur zu organisieren und zu überwachen.12 Innerhalb des Kulturbundes wurde die Abteilung Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse gebildet, die ab 1952 mit der Herausgabe zweier populärwissenschaftlicher Reihen begann, der Heft-Reihe Vorträge zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse sowie der broschierten Reihe Wissenschaft und Technik – verständlich dargestellt. Letztere erschien in einer vergleichsweise geringen Auflagenhöhe von 3.000 bis 10.000 Exemplaren und in einem Umfang von ca. 100 Seiten, womit sie im klassischen Sinne auch nicht als Taschenbuch-, sondern als Broschürenreihe eingeordnet werden kann. Als Sonderfall sollte sie in dieser Auflistung der Taschenbücher der DDR dennoch nicht fehlen, da die Bände zum einen nicht geheftet, sondern als Buchblock geklebt wurden und zum anderen, um zu verdeutlichen, wie Literatur bis in alle Bereiche funktionalisiert wurde. Die Reihe wurde durch wissenschaftliche Autoren wie Nationalpreisträger Dr. Wolfgang Küntscher (Vom Eisenerz zum Stahl), Prof. Dr. Dr. Alfred Mitscherlich (Ertragssteigerung durch richtige Düngung) und Prof. Dr.-Ing. Hans Frühauf (Moderne Verfahren der elektrischen Nachrichtenübertragung) eröffnet, die den technischen und naturwissenschaftlichen, später auch gesellschaftswissenschaftlichen Themen eine fachliche, solide Ausrichtung und Legitimation verleihen sollten. In den Texten wurde dennoch kaum eine Gelegenheit versäumt, »die Erfolge der marxistischen Wissenschaften und die technische Überlegenheit des Sozialismus herauszuarbeiten«.13 Nachdem sich der Aufbau-Verlag von Anbeginn an gegen die Herausgabe der wissenschaftlichen Reihen ausgesprochen hatte, da sie inhaltlich nicht dem sonstigen belletristischen Programm entsprachen, wurden die geheftete Vortragsreihe wie auch die broschierte Reihe 1954
11 Wink: Taschenbücher, Taschenbücher, S. 787. 12 Stephan u. a.: Die Parteien und Organisationen der DDR, S. 536. 13 Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 97.
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der neugegründeten Urania – Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse und deren Urania-Verlag überantwortet. Die broschierte Reihe wurde 1955 nach insgesamt 63 Titeln zugunsten der in Leinen gebundenen Reihe Urania-Universum. Wissenschaft, Technik, Kultur, Sport und Unterhaltung eingestellt, welche bis 1990 Bestand haben sollte. Eine politische Agenda in eigener Sache verfolgten Stefan Heym und seine Ehefrau, Die US-Amerikanerin Gertrude Gelbin, die ab 1953 die englischsprachige Taschenbuchreihe Panther Books im Leipziger Paul List Verlag herausgaben. Ziel der Reihe war es, jenen internationalen Schriftstellern ein Forum zu bieten, welchen aufgrund ihrer kommunistischen Gesinnung im eigenen Land ein Veröffentlichungsverbot erteilt worden war.14 Heym selbst war 1952 aus seinem amerikanischen Exil über Prag in die DDR gekommen, um der aufkeimenden, antikommunistischen Hetzjagd in den USA dieser Zeit zu entkommen. Ergänzend sollten Klassiker der englischsprachigen Literatur und zeitgenössische englischsprachige Autoren das Reihenportfolio bestimmen. Verschiedene, vor allem verlagsinterne Unstimmigkeiten blockierten oder verzögerten immer wieder die Herausgabe bestimmter Titel, weshalb die angestrebte politische Linie nur mäßig eingehalten werden konnte und die Zusammenarbeit mit dem Paul List Verlag nach langem Ringen 1957 nach nur 21 Titeln endete. Dennoch waren die Panther Books die erste englischsprachige Taschenbuchreihe nach dem Zweiten Weltkrieg und standen damit in Nachfolge der traditionsreichen Tauchnitz-Edition. Im Verlag für internationale Literatur, dem Berliner Verlag Volk und Welt, wurde das Unternehmen unter neuer Flagge und dem neuem Namen Seven Seas Books ab 1958 neu aufgelegt und endlich zu internationaler Bekanntheit gebracht. Die Bücher waren vor allem für den Devisenhandel mit befreundeten kommunistischen Ländern sowie für ausländische Austausch-Studenten vorgesehen, weshalb die Reihe innerhalb der DDR selbst weitgehend unbekannt blieb. Die inhaltliche Ausrichtung wurde beibehalten und um englische Übersetzungen ostdeutscher Autoren ergänzt. Auch optisch erfuhr die Reihe ab 1959 eine immense Aufwertung durch die individuelle Einbandgestaltung des umtriebigen Buchgestalters Lothar Reher, der zahlreichen Reihen des Verlages Volk und Welt wie Antwortet uns! und Spektrum, aber auch Reclam-Bändchen sein unverkennbares und ausdrucksstarkes Äußeres verlieh. Seven Seas Books existierte bis 1980 und brachte es auf insgesamt 159 Titel.15 Im Sportverlag erschien ab 1953 die Kleine Sportbuchreihe, eine sich an Trainer, Übungsleiter und Sportler richtende Sammlung über verschiedenste Sportarten, fundiert und anschaulich erläutert. Im broschierten Kleinformat und in Auflagenhöhen von etwa 6.000 Exemplaren kamen bis 1957 etwa 34 Bände heraus. Im Auftrag des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport und in Zusammenarbeit mit der Fachkommission Massensport im Wissenschaftlichen Rat der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig wurde die Reihe dann optimiert und als Kleine Bücherei für den Übungsleiter und Sportlehrer noch bis etwa 1963 weitergeführt, wobei jedoch nur noch 14 Titel erschienen.
14 BArch, DY 30/IV 2/20/247: Gertrude Gelbin: Memorandum PB, 12. 1. 1957, S. 14. 15 Jany: Seven Seas.
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Bunte Bären-Bücher hieß die ab 1955 herausgegebene erste Taschenbuchreihe für Kinder, die der Kinderbuchverlag Berlin publizierte und vorrangig Abenteuergeschichten aus fernen Ländern und früheren Zeiten zum Programm hatte. Dennoch beendete der Verlag die Herausgabe der Reihe bereits 1958 nach nur 21 Titeln zugunsten vergleichbarer Heftreihen. Erst ab 1970 erschien mit den Buchfink-Büchern eine weitere Kinder-Taschenbuchreihe. Mit den broschierten Bänden der Reihe Antwortet uns! unternahm der Verlag Volk und Welt ab 1956 erstmals den Versuch, dem Lyrik-Genre in der DDR im preiswerten Buchformat ein breites Publikum zu gewinnen. Die Gedichtbände waren eine Herzensangelegenheit der Cheflektorin Dr. Marianne Dreifuß, welche vor allem junge, zeitgenössische Dichterinnen und Dichter veröffentlichte und bei ihren ersten Gehversuchen unterstützte. So konnten hier etwa die lyrischen Frühwerke von Reiner Kunze und dem späteren Dissidenten Rudolf Bahro erscheinen. Bei der Autorenwahl griff man aber auch auf bekannte und ältere Lyriker aus dem In- und Ausland wie Louis Fürnberg, Nâzim Hikmet und Pablo Neruda zurück. 1962 wurde die Lyrik-Reihe im Zuge einer Neuausrichtung des Verlages, aber auch aufgrund mangelnder Resonanz beim Publikum, nach 30 Titeln eingestellt. Ihrem selbstauferlegten Anspruch konnte die Reihe nicht gerecht werden, bereitete jedoch den Boden für spätere Lyrikreihen der DDR wie beispielsweise Poesiealbum im Verlag Neues Leben und die »Weiße Reihe« Lyrik international bei Volk und Welt. Die traditionsreiche Reclams Universal-Bibliothek (RUB) gilt vielen als die eigentlich erste Taschenbuchreihe der DDR, da dem Reclam-Verlag knapp ein Jahr nach Kriegsende eine Verlagslizenz durch die SMAD erteilt wurde und er bereits kurze Zeit später mit der Wiederbelebung seiner seit 1867 bestehenden Reihe beginnen konnte. Die RUB wurde jedoch bis 1963 in gleichgebliebener Form mit Fadenbindung, schlichtem Papiereinband und in kleinerem Format produziert und fand erst mit der Rekonstruktion 1963 zu einem modernen Taschenbuchformat. Im Laufe seines Bestehens hatte es sich der Verlag zur Tradition gemacht, seine Jubiläen durch besondere Umgestaltungen, Erweiterungen oder Sonderausgaben seiner RUB zu begleiten. So bot 1957 das 90-jährige Bestehen der Reihe den Anlass zur Einrichtung einer Sonderreihe.16 Diese C-Reihe, benannt nach ihrem cellophanierten Einband, zeichnete sich durch farbige, individuell gestaltete Einbände von Titeln aus, die bereits zuvor in der RUB erschienen waren oder gerade neu verlegt wurden. Die Cover-Gestaltung der C-Reihe entwarf das Ehepaar Günter Horlbeck und Irmgard Horlbeck-Kappler. Die Buchrücken wurden, anders als bei der RUB, durch eine Klebebindung gehalten, und der Einband war kartoniert. Ein »C« an der ansonsten gleichgebliebenen Bandnummer verdeutlichte die Zugehörigkeit der C-Reihe zur RUB. Die Sonderreihe war ein erster Schritt des Verlages zum modernen Taschenbuch. Aus Verbundenheit zum guten, gebundenen Buch öffnete der Aufbau-Verlag, der dem Kulturbund gehörte, sein Belletristik-Programm erst sechs Jahre nach dem Erscheinen der ersten Taschenbücher in der DDR diesem »neuen« Buchformat. 1958 brachte er zwei sehr unterschiedliche Taschenbuchreihen auf den Markt. Die Reihe nutzte der Verlag zur Förderung fortschrittlicher, junger Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die
16 Fauth: 90 Jahre Reclams Universalbibliothek.
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hier »Proben« vorstellen konnten, wobei es um den sozialistischen Aufbau und die dabei auftretenden menschlichen Probleme gehen sollte.17 Obwohl bemüht, scheiterte die Reihe, die im Laufe ihres Erscheinens von Englischer Broschur zum Pappeinband wechselte, bereits 1961 nach 65 Bänden an der Kluft zwischen dem kulturpolitischen Auftrag und dem mangelnden Interesse des Publikums. Eine tragende Säule im Verlagsprogramm wurde dagegen die ebenfalls 1958 aus der Taufe gehobene Reihe bb, mit welcher der Aufbau-Verlag der RUB des privatwirtschaftlichen Reclam-Verlages und der Reihe Roman für alle des Parteiverlages der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) ein vergleichbar literarisch-anspruchsvolles Taschenbuchprogramm entgegenstellen wollte. Die Abkürzung bb für »billige Bücher« verwies auf ihren günstigen Einheitspreises von 1,85 DM pro Band, vielmals wurde die Reihe auch – frei übersetzt – mit »bekannt – beliebt – begehrt« beworben. Inhaltlich orientierte sich die bb-Reihe an der hauseigenen, gebundenen Deutschen Volksbibliothek, welche von der deutschen Klassik über den Realismus bis zur Exil- und sozialistischen Prosa des 20. Jahrhunderts das gesamte Spektrum des Aufbau-Verlages vertrat. Ob als Provokation oder repräsentative Geste gedacht, wurde die Reihe mit Goethes Faust 1 eingeleitet, wie schon seinerzeit die RUB, gefolgt von Brechts Kalendergeschichten und Bechers Roman Abschied. Gestalterisch konnte sich die Reihe mit rororo und Roman für alle messen. Bevorzugt durch Papierzuweisungen und schnelle Bearbeitungszeiten in den Druckereien, avancierten die bb-Bücher neben den ReclamBänden zu einer der erfolgreichsten Taschenbuchreihen der Nachkriegsgeschichte in der DDR. Mit der Gründung des Aufbau Taschenbuch Verlages 1991 endet die Erfolgsgeschichte der Reihe nach mehr als 600 Titeln und 30 Millionen verkauften Exemplaren.18 1957 erschien im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, 1961 in Deutscher Militärverlag umbenannt, der Titel Kämpfende Kunst: Eine Auswahl aus den künstlerischen und publizistischen Werken von Maxim Gorki. Dieser übergreifende Sammelband gab den Anstoß zur gleichnamigen Buchreihe Kämpfende Kunst, die ab 1958 »das Schaffen der proletarischen und sozialistischen Künstler, ihren Kampf um Freiheit und Recht gegen die kapitalistische Ausbeutung, gegen Faschismus und Krieg widerspiegeln«19 sollte. Doch selbst die prominente Autorenriege von Johannes R. Becher über Anna Seghers bis zu Willi Bredel und Gerhard Wolf konnte die Reihe nicht zu einem größeren Erfolg verhelfen, da auch hier die politische Funktionszuweisung zu offensichtlich war. Die Reihe endet 1962 nach 22 Titeln. Ähnlich erging es dem Mitteldeutschen Verlag in Halle, der ab 1958 mit der Reihe Treffpunkt heute ostdeutschen Nachwuchsautoren im Sinne des sozialistischen Aufbaus ein Forum bieten wollte. Ein zuvor erschienener Erzählband mit dem Titel Treffpunkt heute. Erzählungen, dessen Geschichten die Lebens- und Arbeitswelt in der DDR erkundeten, war Anstoß für die Reihe. Nach der 1. Bitterfelder Konferenz im April 1959 wurde das Reihenprogramm ganz nach deren Parole »Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich« ausgerichtet. Die offensichtliche Propaganda, die hinter den Bänden stand,
17 Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 223 ff. 18 Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 232 ff. 19 o.V.: Ein Jahr »Kämpfende Kunst«, S. 804.
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Abb. 3–4: bb-Reihe, Band 15: Maxim Gorki, Ein Sommer, und Band 195: Saison für Lyrik. Aufbau-Verlag 1958 und 1968, Einbände von Ernst Jazdzewski bzw. Gerhard Kruschel.
griff jedoch nicht beim Publikum, weshalb der Verlag die Reihe 1962 nach 37 Bänden einstellte. Die populärwissenschaftliche Reihe Passat-Bücherei, die sich mit Alltagsproblemen der Jugendlichen auseinandersetzen sollte, erschien ab 1958 im Verlag Neues Leben in Zusammenarbeit mit dem Urania-Verlag. Durch den Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (FDJ) aufgefordert, »alle Jugendlichen in der DDR zu begeisterten Kämpfern für den Sozialismus zu erziehen und sie zur Avantgarde im Kampf um das sozialistische Deutschland zu formen«, galt es, »neue Wege zu den Herzen und Hirnen der Jugend« zu finden.20 Zu diesem Zwecke wurden in der Passat-Bücherei vor allem Ratgeber und jugendgemäße Einführungen in wissenschaftliche Themen publiziert, wie Vom Mädchen zur Mutter, Start ins Atomzeitalter oder Mensch, woher – wohin? Ab 1961 unterstützte der Verlag Volk und Gesundheit das Unternehmen, um es schließlich von 1961 bis 1975 allein fortzusetzen. Die erste Taschenbuchreihe auf dem Gebiet der Philosophie und Geisteswissenschaften kam ab 1958 unter dem Titel Unser Weltbild im Deutschen Verlag
20 BArch, DR 1/1157: Verlag Neues Leben Berlin: Verlagsinterne Übersicht über Ziel und Inhalt der populär-wissenschaftlichen Taschenbücher für die Jugend.
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der Wissenschaften in Berlin heraus. Die Beiträge reflektierten philosophisch-weltanschauliche Grundsätze im Kontext historischer Ereignisse sowie aktueller Probleme in der DDR. Den Auftakt der Reihe bildete der Titel Die deutsche bürgerliche Philosophie seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von Erhard Albrecht und Klaus Zweiling. Bis zu ihrem Ende 1974 erschienen insgesamt 68 Titel. Zahlreiche Neuauflagen bis weit in die späten 1970er Jahre hinein deuten auf eine rege Nachfrage selbst noch nach der Einstellung der Reihe hin. Eine Taschenbuchreihe mit aktuellen Texten von Dramatikern publizierte ab 1958 der Henschelverlag Kunst und Gesellschaft unter dem Titel Zeitgenössische Dramatik (ZD). Bis 1970 erschienen 62 schmale Bändchen mit Szenenfotos aus Inszenierungen des entsprechenden Stückes auf dem Umschlag – weitgehend ohne Erläuterungen. So blieb die Reihe dem Theater und seinem Publikum vorbehalten.
Die 1960er Jahre. Von Verlagsprofilierung und Sortimentserweiterung Ende der 1950er Jahre verschärften sich die innen- und außenpolitischen Spannungen, was den Aufbau einer sozialistischen Kulturpolitik unter Einbeziehung der Arbeiterklasse umso dringlicher erscheinen ließ.21 Dieser Ansatz war Ausgangspunkt für die Bitterfelder Konferenzen, die 1959 und 1964 unter der Leitung Walter Ulbrichts Arbeiter und Künstler an einen Tisch holte. Der Alltag der Werktätigen sollte stärker in literarischen Werken thematisiert und die Arbeiter selbst zum Schreiben motiviert werden. Die Verlage ihrerseits waren angehalten, diesen neuen Ansätzen in ihrem Programm gerecht zu werden. In Folge der Konferenz begann ab 1959 im Börsenblatt eine öffentliche Diskussion über die veränderten Ansprüche an die Literatur und an die Bedürfnisse der Leser, was sich auch in der Taschenbuchproduktion niederschlagen sollte.22 Dies betraf vor allem das noch unzureichende Angebot an populärwissenschaftlicher Literatur im Taschenbuchformat. Die Verlage der DDR reagierten prompt und hoben nach kurzer Zeit zahlreiche neue (populär)wissenschaftlich fokussierte Reihen aus der Taufe. Der 1956 gegründete Verlag Enzyklopädie begann 1961, nach einem abgebrochenen Versuch in seinem Gründungsjahr, mit seiner Reihe Enzyklopädie-Taschenbuch (kurz E-Taschenbuch genannt), in der in populärwissenschaftlicher Form Themen wie Dialektischer Materialismus (Band 1), deutsche Arbeiterbewegung (Band 23/24 und 31/32) und Einführung in die Ästhetik (Band 30) abgehandelt wurden. Die Reihe existierte bis 1964 und schaffte es immerhin auf 33 Bandnummern. Der Verlag Neues Leben begründete 1959 die Kompass-Bücherei, eine an Jugendliche gerichtete Abenteuer-, Kriminal- und Science-Fiction-Reihe, die von Klassikern der Weltliteratur über Biographien bis zur Gegenwartsliteratur breit aufgestellt war. Sie erreichte ihr Publikum und wurde mit 400 Titeln bis 1990 zu einer der populärsten Jugendreihen der DDR. Im gleichen Jahr begann der Verlag der Kunst Dresden mit der Herausgabe der Fundus-Bücher, in der vorrangig marxistische Werke der Themengebiete Kunst und Ästhetik erschienen, quasi als »marxistisches Gegenstück zur ›Rowohlt-Enzyklopädie‹«.23 Die Fundus-Bücher wollten Anschauungsmaterial für eine universelle Kultur
21 Barck: Kultur im Wiederaufbau. 22 Poser: Es passt in jede Tasche, S. 11. 23 Wagner: Von der Kitschfabrik zum sozialistischen Kunstverlag, S. 226.
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Abb. 5–6: Kompass-Bücherei, Band 1: Nikolai Ostrowski, Die Sturmgeborenen, und Band 357: Manfred Gregor, Die Brücke. Verlag Neues Leben 1959 und 1987, Einbände von Eberhard Binder-Stassfurt bzw. Volker Wendt.
liefern und neue Denkräume öffnen.24 Die Entwicklung der Titel gestaltete sich schwierig, weshalb häufig auf sowjetische Autoren zurückgegriffen werden musste.25 Trotz ihres Anspruchs entwickelte sich die Reihe zu einem beliebten, einflussreichen Forum der Kunst- und Literaturwissenschaft, welches sich bis 1991 hielt und am Ende 126 Titel aufweisen konnte. In Zusammenarbeit mit der Urania-Gesellschaft, die bereits in den 1950er Jahren an der Herausgabe der Reihe Wissenschaft und Technik beteiligt war, realisierte der Fachbuchverlag Leipzig ab 1960 die Reihe Polytechnische Bibliothek, mit der zur »Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins unserer Werktätigen sowie der Erhöhung des Niveaus ihrer Kenntnisse«26 beigetragen werden sollte. Die Bände wurden anfangs im Pappeinband mit Leinenrücken herausgegeben, womit sie genaugenommen nicht zu den Taschenbüchern gezählt werden können. Ausnahmsweise wird die Reihe hier erwähnt,
24 Ebert: Die Fundus-Bücher – auch eine DDR-Geschichte, S. 2–3. 25 Ebert, S. 3. 26 Günther/Knoth: Polytechnische Bildung. S. 818.
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da sie später auch broschiert erschien und als Beispiel für verlagsübergreifende Zusammenarbeit im Dienst der Volksbildung gelten kann. Mit Titeln wie Alles hört auf UKW (1960), Wie unsere Textilien entstehen (1961) oder Aus der Welt des Glases (1963) richtete sich die Reihe vor allem an Werktätige, Facharbeiter und Schüler. Bis in die späten 1960er Jahre erschienen über 40 Bände, die in mehreren Nachauflagen besonders in den 1970er Jahren immer wieder aktualisiert wurden. Erst gegen Ende der 1980er Jahre erschienen wieder neue Titel, sodass die Reihe zu ihrem Ende immerhin 55 Bände umfasste. Eine ebenfalls den Wissenschaften gewidmete Reihe gab ab 1960 der Akademie-Verlag heraus. Die Wissenschaftlichen Taschenbücher (WTB) vermittelten dem Laien in leicht verständlicher Weise fundierte Informationen, Darstellungen und Dokumente über naturwissenschaftliche Themen in den Bereichen Biologie, Chemie, Mathematik und Physik und erwarben sich mit insgesamt 300 Titeln bis 1990 eine große Anhängerschaft. Im gleichen Jahr begann der Verlag Rütten & Loening die Herausgabe der Reihe Taschenbuch Geschichte, welche vom lesenden Arbeiter über Studenten bis zum Oberschüler eine breite Leserschaft ansprechen sollte.27 Zunächst unter dem Titel Geschichte in der Tasche gestartet, behandelte das Reihenprogramm aktuelle und bedeutsame historische Probleme der deutschen und internationalen Geschichte in Titeln wie Diplomatie zwischen Ost und West, Goldküste wird Ghana und Deutsche Friedensverträge aus vier Jahrhunderten. Hierbei wurde nicht nur Fakten- und Hintergrundwissen zu historischen Themenkomplexen vermittelt, sondern es sollte auch eine selbstständige Auseinandersetzung mit dem dargelegten Inhalt angeregt werden.28 Bis 1962 erschienen 25 Titel zu je 1,85 M oder 3,40 M für den Doppelband. 1960 wurde im Berliner Dietz Verlag die Rote-Dietz-Reihe (rdr) ins Leben gerufen, die dem proletarisch-revolutionären Literaturerbe gewidmet war. Der zentrale Parteiverlag der SED galt als »Sprachrohr der Partei, für den Apparat ein unverzichtbares Mittel der Führung und Selbstdarstellung«.29 Im Fokus der Reihe standen deshalb sozialistische Werke von den Anfängen der neueren kommunistischen Bewegung in den 1920er Jahren bis zur Gegenwart,30 Werke deutscher Autoren der Emigrationszeit und sowjetische Werke. Vertrieben wurden die Bücher vorrangig über den Parteibuchhandel, weshalb der Absatz nach dessen Eingliederung in den allgemeinen Buchhandel deutlich zurückging. Die Reihe wurde nach nur 38 Titeln 1963 eingestellt, weil der Dietz Verlag in diesem Jahr im Rahmen der »Profilierung« des Verlagswesens sein Belletristikprogramm aufgab. Neben der proletarisch-sozialistischen Reihe Kämpfende Kunst (1957– 1962) brachte der Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung (ab 1961 Deutscher Militärverlag, ab 1972 Militärverlag der DDR), die Reihe Das Taschenbuch auf den Markt, die von 1960 bis 1990 erschien. Dem Militärverlag oblagen vorrangig wehrpolitische Aufgaben und die Herausgabe der gesamten Fach- und Ausbildungsliteratur für die Nationale Volksarmee (NVA).31 Daneben gab es noch einen gewinnbringenden
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Maes: Bücher für alle, S. 24–25. Lemke: Taschenbuchreihe Geschichte, S. 1014. Lokatis: Dietz, S. 533. Maes: Bücher für alle, S. 26–27. Siehe dazu Kapitel 5.3.8.6 Der Militärverlag der DDR (Yvonne Delhey/Christoph Links) in Bd. 5/2.
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Abb. 7–8: Spektrum, Band 145: Wladimir Tendrjakow, Die Abrechnung, und Band 248: John Updike: Wie man Amerika gleichzeitig liebt und verläßt. Verlag Volk und Welt Berlin 1980 und 1989. Umschläge von Lothar Reher.
Zweig mit belletristischer Literatur, in dem vorrangig Kriminal- und Abenteuererzählungen, Spionage- und Agentenromane sowie Literatur zum Alltag in der NVA erschienen.32 Infolge der Neuausrichtung der Verlage wurde im Frühjahr 1963 im Reclam-Verlag die Rekonstruktion der traditionsreichen Universalbibliothek RUB beschlossen und zum Jahresende umgesetzt. Dabei ging es nicht um die »Hervorbringung einer neuen Taschenbuchreihe, […] sondern um die Fortsetzung einer im Buchhandel und im Bewußtsein des Lesers seit Jahrzehnten fest verwurzelten, jetzt editorisch und technisch verbesserten Buchserie«, die durch neue Publikationsgebiete abgerundet werden sollte.33 Äußerlich durch eine veränderte Form und Gestaltung getragen, war die Rekonstruktion der Reihe auch durch eine Neunummerierung und Bereinigung des bisherigen Titelverzeichnisses von sogenannten reaktionären Werken der deutschen Geschichte gekenn-
32 BArch, DR/1/21750: Taschenbuchreihen und sonstige Buchreihen der belletristischen Verlage der DDR. Stand Januar 1961. 33 Marquardt: 100 Jahre Reclams Universal-Bibliothek, S. 95.
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zeichnet. In neuem Gewand wurde die RUB zu einer der meistrezipierten Taschenbuchreihen der DDR und publizierte bis 1991 mehr als 2.200 Titel.34 Als späte Folge der schon 1964 vollzogenen Fusionierung des Verlages Kultur und Fortschritt mit dem Verlag Volk und Welt entstand 1968 die Reihe Spektrum. Eigentlich eine Paperback-Reihe mit umgelegtem Umschlag, kann Spektrum dennoch den Taschenbuchreihen an die Seite gestellt werden, da beide Formate in Wirkung, Aufmachung und Reihenphilosophie artverwandt und daher sehr ähnlich sind. Ausschließlich in Schwarzweiß gehalten, war die Reihe auch unter der Bezeichnung »Schwarze Reihe« bekannt, für deren originelle Cover-Entwürfe wiederum der Buchgestalter und künstlerische Leiter des Verlages, Lothar Reher, verantwortlich zeichnete.35 Inhaltlich stand sie in der Nachfolge der bei Kulutur und Fortschritt geführten Bunten Reihe von A−Z mit dem Fokus auf sowjetischer Literatur, erhob aber auch ganz im Sinne von Volk und Welt den Anspruch, offen für Genres und Autoren aus aller Welt zu sein.36 Neben Erzählungen und Kurzromanen erschienen in Spektrum auch Novellen, Lyrik, dramatische Arbeiten, Reportagen, Essays und Filmtexte.37 Die Reihe, die sich einer regen Nachfrage und großer Beliebtheit erfreute, existierte bis 1993 und schaffte es auf 279 Titel, wobei Autoren aus mehr als 36 Ländern eine Stimme erhielten.38
Die 1970er Jahre. Vielfalt und Aufschwung Zu Beginn der 1970er Jahre entstanden gleich sieben neue Reihen mit einer größeren Genrevielfalt als bisher. Um dem wachsenden Interesse an Kriminalliteratur gerecht zu werden, rief der Verlag Das Neue Berlin 1970 die Reihe DIE. Delikte – Indizien – Ermittlungen als Nachfolge der NB-Romane (1952–1969) ins Leben. Inhaltlich fokussierte sich DIE auf zwei unverkennbar politisch motivierte Hauptthemen: Einerseits wurden vorrangig gegenwärtige Kriminalfälle der DDR dargestellt, wobei die gesellschaftlichen Hintergründe der Tat ebenso wie die Arbeit der Volkspolizei im Zentrum der Handlung standen. Andererseits wurden die menschlichen Abgründe der kapitalistischen Welt am Beispiel von Kriminalfällen in der BRD vorgeführt. In Ausstattung und Inhalt allerdings moderner, vielfältiger und anspruchsvoller als ihre Vorgängerin, erlangte die Reihe schnell eine große Beliebtheit und wurde in den 1980er Jahren mit 100.000 Exemplaren pro Titel eine der auflagenstärksten Serien der DDR. Bis 1990 erschienen 151 Titel in der Reihe, die bis heute in der Verlagsgruppe Eulenspiegel weitergeführt wird. 1971 brachte der Verlag Neues Leben eine neue Taschenbuchreihe heraus. Ebenso wie die Passat- und die Kompass-Bücherei diente sie entsprechend der kulturpolitischen Aufgabe des Verlages der »weltanschaulichen Erziehung der Jugend«.39 Zunächst als Wissenswertes für junge Leute gestartet, wurde die Sachbuchreihe 1974 in nl-konkret
34 35 36 37 38 39
Fetzer: Das Taschenbuch, S. 193–194. Reher: Mein Spektrum, S. 227. Tschörtner: 50 × Spektrum, S. 392. Maes: Bücher für alle, S. 36–37. Buder: 250 Spektrum-Bände, S. 225. Dr. Helmut Wolle, Fachmann im Bereich der populärwissenschaftlichen Literatur. In: Hinze: Politisch-ideologische Arbeit mit Taschenbüchern.
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Abb. 9–10: Reihe DIE. Delikte – Indizien – Ermittlungen: Jens Bahre, Der stumme Richter und Detlef Wolff, Katenkamp und der tote Briefträger, Verlag Das Neue Berlin 1979 und 1984, Einbände von Erhard Grüttner.
umbenannt (nl für Neues Leben) und vermittelte Schülern, Jugendlichen und Studenten aktuelle wissenschaftliche und gesellschaftliche Themen auf klare und leicht verständliche Weise.40 Bei den Lesern geschätzt, hielt sich die Reihe bis 1991 und schaffte es auf knapp 100 Bände.41 Die Startauflage betrug zumeist 10.000 Exemplare, deutlich höhere Nachauflagen konnten vergleichsweise schnell nachgeliefert werden, da in Zeitungsdruckereien im Rollenoffset produziert wurde. Daraus erklärt sich auch das für Taschenbücher außergewöhnlich hohe Format von 21 Zentimetern. In Folge der Internationalen Konferenz der Verlage für populärwissenschaftliche Literatur 1972 in Leipzig entstand die Taschenbuchreihe akzent als Gemeinschaftsprojekt der »sozialistischen Bruderstaaten« Sowjetunion, Polen, Ungarn und ČSSR, wobei der Urania-Verlag die Konzeption und Umsetzung verantwortete.42 Der Reihe gelang es, die neuesten Erkenntnisse aus den Themengebieten Mensch und Gesellschaft, Leben
40 Maes: Bücher für alle, S. 41–44. 41 Siehe dazu Kapitel 5.3.1.2 Verlag Neues Leben Berlin (Andreas Parnt) in Bd. 5/2. 42 Bullan: Mit Verlagen in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Bruderländern eng verbunden, S. 102.
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und Umwelt sowie Naturwissenschaft und Technik anschaulich und interessant zu vermitteln, weshalb sie bereits nach drei Jahren eine Gesamtauflage von mehr als einer Mio. Exemplare erreichte, auch bedingt durch den Export in die beteiligten Länder, aber auch in die Bundesrepublik. Zwischen 1973 und 1990 erschienen insgesamt 90 Titel. Drei Jahre nach dem Ende der Reihe Zeitgenössische Dramatik begann der Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1973 mit seiner zweiten thematisch anschließenden Reihe dialog und ergänzte das Programm noch um die Bereiche Film, Fernsehen und Rundfunk. Mit dieser Reihe war der Verlag weitaus erfolgreicher und konnte bis 1990 rund 160 Titel publizieren. Anlässlich des 25. Jahrestages der DDR 1974 wurde die populärwissenschaftliche Reihe Taschenbuch der Künste als Gemeinschaftsprojekt der Verlage Henschel, VEB Deutscher Verlag für Musik, Verlag Neue Musik und E. A. Seemann ins Leben gerufen.43 Jeder dieser Verlage steuerte aus seinem Programmschwerpunkt Titel bei, und so entstand ein fundiertes und breitgefächertes Reihenprogramm, welches sich von Musik über Film und Theater bis zur Architektur spannte44 und sowohl Taschenlexika wie Wörterbuch der Architektur und Unterhaltungskunst A–Z als auch Überblickswerke wie Stilkunde und Ballettfibel hervorbrachte. Trotz einer gelungenen Vermarktung erschienen in unregelmäßigem Abstand nur etwa 20 Titel innerhalb der nächsten Dekade, der letzte Band kam 1986 in den Handel. Im Deutschen Verlag der Wissenschaften erschien nach der Übernahme der Reihe Taschenbuch Geschichte 1964 vom Verlag Rütten & Loening ab 1975 eine weitere thematisch anders fokussierte Taschenbuchreihe: Weltanschauung heute. Mit ihr sollte »die Verbreitung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes und der Weltanschauung der Arbeiterklasse«45 unterstützt werden. Es wurden Themen aus den Bereichen Philosophie, Politische Ökonomie, Kulturtheorie und Ästhetik sowie Wissenschaftlicher Kommunismus behandelt.46 Letztlich erschienen aber wegen der großen Theorielastigkeit nur etwa vier Titel pro Jahr in niedriger Auflagenhöhe. Die Reihe, die ideologisch motiviert war und sich kaum für ein Taschenbuchprogramm eignete, blieb ohne größere Resonanz beim Publikum. Der gewerkschaftseigene Verlag Tribüne, der neben Fachliteratur auch ein kleines Belletristikprogramm hatte, startete 1975 die (kleine Reihe) Angebote, die hauptsächlich Erzählungen, Gedichte und Satiren von Debütanten präsentierte, darunter schreibende Arbeiter. Die Texte sollten »Diskussionsstoff und Anregung für die Leser sein, Ermunterung auch, selbst einmal zur Feder zu greifen«.47 Obwohl die Reihe zunächst nur mäßige Nachfrage im Buchhandel und bei der Leserschaft fand, konnte der Verlag durch verschiedene inhaltliche und gestalterische Anpassungen bis zu ihrem Ende 1990 insgesamt 76 Titel realisieren. 1977 startete der Kinderbuchverlag zusätzlich zu den Buchfink-Büchern eine weitere Kinderbuchreihe im Taschenbuchformat, die Alex-Taschenbücher (ATB). Benannt nach
43 Wandrey: tk – neue, populärwissenschaftliche Reihe unserer Kunstverlage, S. 828. 44 Langer: Kunstliteratur und Reproduktion, S. 226. 45 BArch DR/1/23336: Thematische Begründung zum Plan 1978, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin, 15. 4. 1978. 46 Maes: Bücher für alle, S. 57–58. 47 Matke: Bilanz nach einem Jahr, S. 24–25.
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der bedeutenden Kinderbuchautorin Grete Weiskopf, die unter dem Pseudonym Alex Wedding veröffentlichte, ersetzten die neuen Taschenbücher die gebundene, kleinformatige Reihe Robinsons Billige Bücher. In mehr als 140 Bänden erschienen in ATB Märchen, Geschichten, Sagen, Fabeln und fantastische Erzählungen vornehmlich für Kinder ab zehn Jahren.48 Im selben Jahr begann der Aufbau-Verlag in Ergänzung zu der seit 1958 bestehenden bb-Reihe mit der Herausgabe seiner Taschenbibliothek der Weltliteratur (TdW). Diese orientiert sich inhaltlich an der verlagseigenen, gebundenen Bibliothek der Weltliteratur (BdW), welche »begehrte Titel von literarischem Rang« herausbrachte.49 Die neue Reihe war nötig, weil die bb-Bändchen preislich auf 1,85 bzw. 2,95 M für den Doppelband staatlich festgelegt waren und ab einem gewissen Umfang nicht rentabel produziert werden konnten. Der TdW-Band kostete dagegen ca. 3,60 bis 5 M. Das Programm reichte von historischen Klassikern bis zur zeitgenössischen Weltliteratur, wobei teilweise auch Neuauflagen bereits in der BdW veröffentlichter Titel erschienen. Die hohe inhaltliche Qualität stand in deutlichem Widerspruch zur minderwertigen Papierqualität, was dem Erfolg der Reihe jedoch nicht schadete, da holzhaltiges Papier letztlich der allgemeine Standard für die gesamte Taschenbuchproduktion in der DDR war. Bis zum Ende der Reihe 1990 kamen mehr als 100 Titel in einer Gesamtauflage von über zehn Millionen Exemplaren heraus.50
Die 1980er Jahre. Ein gesättigter Taschenbuchmarkt? Ab 1980 erschien im Verlag VEB Bibliographisches Institut die Reihe Jugendlexikon, in Anlehnung an das umfangreiche Grundwerk Meyers Jugendlexikon a–z, welches von Gerhard Butzmann und anderen herausgegeben wurde und eine Gesamtauflage von über eine Mio. erreichte. Die Reihe im Umfang von jeweils 150 bis 180 Seiten je Band vermittelte Grundwissen zu verschiedenen Sachthemen im Stil des Grundwerkes, verständlich erläutert und mit zahlreichen Abbildungen veranschaulicht. Die Titel richteten sich vor allem an Schüler. Besonders erfolgreich war der Band Jugend zu zweit. Innerhalb der zehn Jahre ihres Bestehens wurden in der Reihe 17 Titel realisiert. Als Ergänzung zur DIE-Reihe gab der Verlag Das Neue Berlin ab 1980 die Reihe SF Utopia heraus, mit der die wachsende Zahl von Lesern des Science-Fiction-Genres bedient wurde. In insgesamt 24 Bänden erschienen bis 1990 historische wie zeitgenössische phantastische Erzählungen, wobei die meisten Titel bereits zuvor als gebundene Ausgaben veröffentlicht worden waren. Die surrealistischen Grafiken zur Gestaltung der Reihe verantworteten durchweg Regine Schulz und Burkhard Labowski. Die Bände waren schnell ausverkauft und erfreuten sich einer großen Nachfrage, was nicht zuletzt an namhaften internationalen Autoren wie Alexej Tolstoi, Stanisław Lem und Arkadi und Boris Strugazki lag. Doch auch etablierte DDR-Autoren wie Johanna & Günter Braun, Rainer Fuhrmann und Klaus Möckel trugen zum Erfolg der Reihe bei. Als womöglich letzte Taschenbuchreihe kam 1982 eine eigenwillige und besondere Reihe in die Leselandschaft der DDR. Der Gustav Kiepenheuer Verlag in Leipzig wid-
48 Maes: Bücher für alle, S. 61. 49 Wurm: Gestern, S. 127. 50 Wurm: Gestern, S. 236, 242.
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Abb. 11–12: Taschenbuch der Weltliteratur: Stefan Zweig, Sternstunden der Menschheit. Aufbau-Verlag 1984, Einband von Heinz Hellmis mit Motiv von einem unbekannten Meister. akzent: Klaus Lindner, Der Sternhimmel, Urania-Verlag Leipzig Jena Berlin, 1989, Einband von Helmut Selle.
mete vier ausgewählten Autoren eine eigene Taschenbuchreihe, ohne dass diese jedoch einen signifikanten Reihennamen oder eine Nummerierung erhalten hätte. In schlicht, aber einheitlich gestalteten Bänden wurden Werke von Honoré de Balzac, Heinrich Böll, Arthur Conan Doyle und Joseph Conrad noch einmal herausgegeben, die zuvor schon in Festeinband erschienen waren, wobei fast zwanzig Bände allein von Balzac publiziert wurden. Auch diese Reihe endete 1990 nach insgesamt 33 Bänden.
Schlussbetrachtung Eine Frau fragte an der Kasse einer Buchhandlung nach ihrem bestellten Reclam, um anschließend zufrieden mit einem Ullstein-Taschenbuch fortzugehen. Sie hatte »Reclam« schlicht als Synonym für das Taschenbuch im Allgemeinen benutzt, kein seltenes Phänomen, wie die Buchhändlerin bestätigte. Diese sogenannte generische Verselbstständigung gelingt nur wenigen Marken und nur dann, wenn das Produkt entweder unter diesem Namen neu erfunden wurde oder wenn es den Markt in dieser Kategorie stark und nachhaltig prägt. Für die Reclam-Taschenbücher der Universal-Bibliothek gilt in gewisser Hinsicht beides.
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Mit der Wiederentdeckung und Modernisierung des Taschenbuches ab 1950 betrat ein Zwischenstück zwischen preiswerten, geklammerten Heften und gebundenen Büchern den Markt, welches die positiven Aspekte beider Publikationsformen bündelte. Es vermochte die Bevölkerung mit notwendiger Literatur in akzeptabler Qualität zu erschwinglichen Preisen zu versorgen und entwickelte sich dadurch zu einer unverzichtbaren und eigenständigen Buchform. Eine ähnliche Zwischenform bildeten später die Paperback-Reihen, welche sich in ihrer Aufmachung vom Taschenbuch hauptsächlich durch ein größeres Format unterschieden und inzwischen über eine eigene Bestsellerliste verfügen. Obwohl keine fundierte Statistik darüber geführt wurde, wie groß der Anteil der Taschenbücher an der gesamten Buchproduktion in der DDR war,51 wird geschätzt, dass er titelbezogen deutlich geringer war als in der Bundesrepublik,52 von den Auflagenzahlen her aber teilweise sogar darüber lag. Das hatte damit zu tun, dass für die Taschenbuchproduktion stark holzhaltiges Rollenpapier genutzt werden konnte, das besser zur Verfügung stand als schwach holzhaltiges oder gar holzfreies Bogenpapier für gebundene Ausgaben.53 Ungeachtet dessen hatten die DDR-Taschenbücher einen wesentlichen Anteil an der Bildung und Prägung der ostdeutschen Bevölkerung auf nahezu allen Interessensgebieten. Mit dem Ende der DDR fanden die meisten der seit Jahrzehnten bestehenden Verlage und ihre Taschenbuchreihen jedoch ein jähes Ende. Tab. 1: Die Taschenbuchreihen der DDR Name der Reihe
Verlag
Beginn
Ende
Titel/ Bandnummern gesamt
Roman für alle (Taschenbuchroman)
Verlag der Nation
1952
1990
232/303
NB-Roman
Verlag Das Neue Berlin
1952
1969
70
Wissenschaft und Technik
Aufbau-Verlag/ Urania-Verlag
1952
1955
61/63
Bunte Bären-Bücher
Kinderbuchverlag
1955
1958
22
Kleine Sportbuchreihe
Sport-Verlag
1953
1957
34
Panther Books
Paul List Verlag
1953
1957
21
Antwortet uns!
Verlag Volk und Welt
1956
1962
30
Kleine Bücherei für den Übungsleiter und Sportlehrer
Sport-Verlag
1957
1963
14
C-Reihe (Sonderreihe der RUB)
Verlag Philipp Reclam jun. 1957 Leipzig
1963
70
51 Ziermann: Der deutsche Buch- und Taschenbuchmarkt, S. 78. 52 Fetzer: Das Taschenbuch, S. 201. 53 Fetzer, S. 201.
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771
Tab. 1 (fortgesetzt) Name der Reihe
Verlag
Beginn
Ende
Titel/ Bandnummern gesamt
bb
Aufbau-Verlag
1958
1991
622/652
Die Reihe
Aufbau-Verlag
1958
1961
65
Kämpfende Kunst
Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, später Deutscher Militärverlag
1958
1962
29
Passat-Bücherei
Verlag Neues Leben/ Urania Verlag/ Verlag Volk und Gesundheit
1958
1964
59
Seven Seas Books
Seven Seas Publishers 1958 (im Verlag Volk und Welt)
1980
154
Treffpunkt heute
Mitteldeutscher Verlag
1958
1962
37
Unser Weltbild
Deutscher Verlag der Wissenschaften
1958
1974
68
Zeitgenössische Dramatik
Henschelverlag Kunst und 1958 Gesellschaft
1970
62
Kompass-Bücherei
Verlag Neues Leben
1959
1990
400/403
Fundus-Reihe
Verlag der Kunst
1959
1991
126
Das Taschenbuch
Militärverlag der DDR
1960
1990
250
rdr (Rote Dietz Reihe)
Dietz-Verlag
1960
1963
34/38
Polytechnische Bibliothek
Fachbuchverlag Leipzig
1960
1990
55
Taschenbuch Geschichte
Rütten & Loening
1960
1962
25
Wissenschaftliche Taschenbücher
Akademie-Verlag
1960
1990
230
E(nzyklopädie)Taschenbuch
Verlag Enzyklopädie
1961
1964
30/33
Reclams UniversalBibliothek
Verlag Philipp Reclam jun. 1963
1991
2213
Spektrum
Verlag Volk und Welt
1968
1993
279
DIE. Delikte – Indizien – Ermittlungen
Verlag Das Neue Berlin
1970
1990
224
Buchfink-Bücher
Kinderbuchverlag
1971
1989
136
nl-konkret
Verlag Neues Leben
1971
1997
102/104
akzent-Reihe
Urania-Verlag
1973
1990
89/90
772
5 Ve r l ag e
Tab. 1 (fortgesetzt) Name der Reihe
Verlag
dialog
Beginn
Ende
Titel/ Bandnummern gesamt
Henschelverlag Kunst und 1973 Gesellschaft
1990
158/160
Taschenbuch der Künste (tk)
Henschelverlag Kunst und 1974 Gesellschaft/ VEB Deutscher Verlag für Musik/ Verlag Neue Musik und Verlag VEB E. A. Seemann
1986
20
Weltanschauung heute
Deutscher Verlag der Wissenschaften
1975
1983
41
(Kleine Reihe) Angebote
Verlag Tribüne
1975
1990
76
Alex-Taschenbücher
Kinderbuchverlag
1977
1990
140
Taschenbibliothek der Weltliteratur
Aufbau-Verlag
1977
1990
101
Jugendlexikon
Bibliographisches Institut
1980
1990
17
SF Utopia
Verlag Das Neue Berlin
1980
1990
44
KiepenheuerTaschenbuchreihe (kein Reihenname)
Gustav Kiepenheuer Verlag Weimar und Leipzig
1982
1990
33
Literatur- und Quellenverzeichnis Archivalische Quellen Bundesarchiv Berlin (BArch) Ministerium für Kultur/Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, DR 1/1157, DR 1/1293, DR 1/1293, DR 1/21750, DR/1/23336, DY 17/3040, DY 17/4504, DY 30/IV 2/20/24
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Abkürzungen AdK AIM AKG ALB ALV AOP BArch BfU BI BsB BStU BVB DA DAK DASR DBD DBL DEWAG DHfK DIB DKP DLA DM DPZI DSV DVK DVfM DVV DZVV EKD EVA FDGB Gf. HGB HV HVV IM IMS ISBN KG KPD KPdSU
Akademie der Künste Archivierter IM-Vorgang oder IM-Vorlauf Auswertungs- und Kontrollgruppe Abteilung Literatur und Buchwesen im Ministerium für Literatur Amt für Literatur und Verlagswesen Archivierter Operativer Vorgang Bundesarchiv Büro für Urheberrechte Bibliographisches Institut Betrieb mit staatlicher Beteiligung Bundesbeauftragte(r) für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Berliner Verleger- und Buchhändler-Vereinigung Dienstanweisung Deutschen Akademie der Künste Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft Deutschen Hochschule für Körperkultur Deutsche Investitionsbank Deutsche Kommunistische Partei Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar Deutsche Mark Deutsche Pädagogische Zentralinstitut Deutscher Schriftstellerverband Druckerei- und Verlagskontor Deutschen Verlag für Musik Deutsche Verwaltung für Volksbildung Deutsche Zentral-Verwaltung für Volksbildung Evangelischen Kirche Deutschlands Evangelischen Verlagsanstalt Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Geschäftsführer Hochschule für Grafik und Buchkunst Hauptverwaltung / Hauptverwaltung für Verlage und Buchhandel Hauptverwaltung Verlagswesen Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereichs Internationale Standardbuchnummer Kommanditgesellschaft Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion
https://doi.org/10.1515/9783110471229-032
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LAG LDP/LDPD LKG MdI MDN MDV MfK MfNV MfS MfV NDPD NÖSPL NSW NVA o. D. OEB OPK OV PDS PEN PGH RUB SAPMO SBB SBZ SED SMA SMAD StA-L SV UdSSR UKPV VE VEB VOB VVB VVK VVN VVV WfPC WiPC ZAIG Zentrag
A bk ü r zu n ge n
Literaturarbeitsgemeinschaft Liberal-Demokratische Partei / Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Leipziger Kommissions- und Großhandel Ministerium des Innern der DDR Mark der Deutschen Notenbank Mitteldeutscher Verlag Ministerium für Kultur der DDR Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR Ministerium für Staatssicherheit der DDR Ministerium für Volksbildung der DDR Nationaldemokratische Partei Deutschlands Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung Nichtsozialistische Währungsgebiet Nationale Volksarmee ohne Datum Organisationseigener Betrieb Operative Personenkontrolle Operativer Vorgang Partei des Demokratischen Sozialismus Poets/Playwrights, Essayists/Editors and Novelits/Non-ficton-writers Produktionsgenossenschaft des Handwerks Reclams Universal-Bibliothek Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz Sowjetische Besatzungszone Deutschlands Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sächsisches Staatsarchiv Leipzig Schriftstellerverband Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR Verrechnungseinheiten Volkseigener Betrieb Vereinigungen Organisationseigener Betriebe Vereinigung Volkseigener Betriebe Verwaltung Vermessungs- und Kartenwesen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Vereinigung der Volkseigenen Verlage / Vereinigung Volkseigener Verlage Writers for Peace-Committee Writers in Prison-Committee Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zentrale Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft mbH
Register (Personen, Verlage, Buchhandlungen, Druckereien, Buchinstitutionen) A A-B-C-Fachbuchverlag 108 Abraham, Max 482 Abramow, Alexej 29 Abrassimow, Pjotr 659 Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe im ZK der SED 272, 363, 405–406, 551 Abteilung Kultur im ZK der SED 209, 244, 263, 273, 357, 363–364, 368–369, 371– 373, 406–407, 435, 440, 445, 448, 504, 506, 585, 590, 662, 685 Abteilung Literatur und Buchwesen im Ministerium für Kultur 151, 262, 265, 270–271, 279, 294–297, 407, 419–420, 426–427, 433, 471, 648, 737 Abteilung Wissenschaft im ZK der SED 209, 263, 272–273, 278, 281, 292, 296, 304, 407, 489, 528, 561 Abusch, Alexander 185, 244, 366, 416, 428, 433, 428, 538 Achmatowa, Anna 639, 744–745 Ackermann, Anton 16–17, 84, 98–100, 102, 191, 400, 582 Adenauer, Konrad 145, 434 Adolf, Karl 313, 322–325 Adorno, Theodor W. 304, 746 Agnon, Samuel Joseph 637 Ahrndt, Erich 639 Aichinger, Ilse 604 Aitmatow, Tschingis 633, 638, 642 Akademie der Künste (West-Berlin) 246, 253 Akademie der Künste der DDR 161, 186, 252, 341, 351, 536, 550, 596, 699 Akademie-Verlag 58, 87, 269, 288–289, 291, 294, 312, 418–419, 425, 434, 442, 447, 560, 587, 763, 771 Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion 549, 551–553, 560 Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig 14, 33, 88–89, 148 Albrecht, Erhard 761 Albrecht, Günter 595 Alechem, Scholem 626 Aleixandre, Vicente 746 Alexis, Willibald 554–555, 566
https://doi.org/10.1515/9783110471229-033
Allan, Woody 631 Altberliner Verlag Lucie Groszer 89, 130, 271, 281, 419, 425, 429, 658, 678, 682 Altenhein, Hans 740 Amado, Jorge 625 Amery, Carl 242 Amt für Literatur und Verlagswesen 64, 85, 151, 178, 209, 263–271, 283–287, 291, 295, 311–312, 407–408, 410–412, 414– 415, 417–419, 428, 497–499, 504, 508, 553–554, 561–562, 578, 594, 627, 673, 677, 695, 698, 713, 730, 732, 735, 754 Andersen Nexö, Martin 278, 530, 532, 729 Anderson, Sascha 161, 254, 540 Andert, Reinhold 542 Andrić, Ivo 537, 746 Andrzejewski, Jerzy 537 Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte auf dem Gebiet der Musik (AWA) 312, 316 Antkowiak, Alfred 587, 589 Antkowiak, Barbara 639 Antonio, Eberhardt del’ 688, 713, 719, 722 Apel, Erich 189 Apelt, Fritz 178, 263, 283, 407–408, 419 Apitz, Bruno 214, 245, 646, 655 Aragon, Louis 625–626 Arbeitsgemeinschaft der Fachbuch- und Fachzeitschriften-Verleger 34, 89, 108 Arbeitsgemeinschaft Medizinischer Verleger 33–34, 36, 46, 89, 108 Arbeitsgemeinschaft Thüringischer Verleger 34, 88, 498 Arbenz Guzmán, Jacobo 719 Arendt, Erich 159, 246, 251, 550, 558 Arion Verlag 276, 530, 581, 593–596 Arnst, Rolf 80 Artibus et Literis 549 Artmann, H. C. 254 Astafjew, Viktor 540 Asturias, Miguel Angel 630, 634 Athenaion → Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion Atlantik-Verlag Paul List, Kartographische Anstalt 614 Aufbau Taschenbuch Verlag 571, 759 Aufbau-Verlag 13, 18, 32, 36, 44, 52, 58, 87, 108, 144, 150, 153–153, 156–157,
778 165–166, 215–216, 226, 249, 253–254, 268, 271, 275–278, 283, 288, 301, 304, 312, 326–327, 352, 389–390, 392, 416, 425, 435, 442, 478, 498, 501–502, 507, 509, 513, 514, 517, 520, 523–547, 554– 556, 564–566, 569–571, 573, 578, 580, 591–593, 595–596, 603, 606, 609, 620, 631, 634, 648, 651, 654, 672, 740, 756, 758–759–760, 768–772 Aurora-Verlag 525 AWA → Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte auf dem Gebiet der Musik Axioti, Melpo 625, 630 B Babel, Isaak 290, 630, 638, 641, 744 Bach, Johann Sebastian 584 Bächler, Wolfgang 240 Bachmann, Ingeborg 243 Bacon, Francis 744 Bahre, Jens 766 Bähring, Helmut 270, 441–442, 444, 515 Bahro, Rudolf 192, 630, 758 Baier, Hans 434, 441–442, 444, 448, 450 Baldwin, James 635 Balluseck, Lothar von 11, 30, 46, 51, 53, 86, 96, 401 Balzac, Honoré de 283, 536, 555, 566, 614, 672, 729, 754, 769 Bandello, Matteo 566 Bär, Heinz 409, 467 Barck, Karlheinz 745 Barlach, Ernst 137, 690 Barth, Arno 576 Barth, Johann Ambrosius 33, 51–52, 83, 88–89 Barthel, Karl 672 Bartholomäus, Herbert 672 Bartsch, Horst 715 Bartsch, Kurt 159, 349–350, 533 Basile, Giambattista 557 Bäß, Kurt 467 Bassermann, Dieter 388 Batt, Kurt 745 Bauernverlag → Deutscher Bauernverlag Bauer-Pezellen, Tina 583 Baum, Werner 312 Baumgart, Reinhard 248 Baur, Wilhelm 73, 97
R eg i s te r Bauwe-Radna, Renate 639 Bayerische Staatsbibliothek München 120 Beauvoir, Simone de 637 Bebel, August 583–584 Becher, Johannes R. 86–87, 178, 182–183, 187, 198, 240–241, 312, 333, 359–361, 388, 412, 524, 528, 550, 585, 607–608, 668, 670, 699, 727, 734, 759 Bechtle-Verlag 326 Beck, C. H. 604 Becker, Heinrich 8, 10, 16, 18, 20, 28, 32– 33, 71, 80–81, 83, 86, 88–89, 91–92, 94– 103, 144, 269, 401–403, 408, 410–411, 416–419, 422–426, 430–431, 434, 437– 438, 457, 466, 483, 487 Becker, Jurek 159, 165, 249, 251, 301, 347, 349, 381, 533, 535 Beckett, Samuel 301, 304, 631, 635 Beckmann, Max 746 Bedny, Demjan 744 Beethoven, Ludwig van 584 Beheim-Schwarzbach, Martin 244 Behling, Heinz 696, 701 Behrens, Fritz 292–293 Bellow, Saul 635, 746 Beltz, Julius 14, 578 Ben-Gavriel, David 640 Benjamin, Walter 540, 744 Benn, Gottfried 301, 631 Bense, Max 673 Bentzien, Hans 185, 273, 301, 337, 433– 434, 438, 442, 444, 682 Bereska, Henryk 537 Berger, Friedemann 247, 600, 603, 606 Berger, Uwe 533 Berlau, Ruth 699 Berlin, Hartmut 707 Berliner Buchhandelsgesellschaft 93, 405, 425, 434, 442, 468 Berliner Verleger- und BuchhändlerVereinigung 20, 109, 115, 119, 120, 125–139 Berndt, Günter 419 Bernhard, Thomas 254, 631, 635 Bertelsmann, C. 84, 153, 326, 349, 552, 643, 684 Berthold, Gottfried 738 Berthold, Lothar 442, 502, 587, 589 Beseler, Horst 340 Bessiger, Kurt 735–736, 738 Bestellanstalt des Börsenvereins 96, 126, 411
R eg i s te r Betriebsakademie Verlage und Buchhandel Berlin 438, 471–472, 476, 486–489, 491, 550 Betriebsakademie Verlage und Buchhandel Leipzig 438, 471–472, 476, 486–489, 491, 500 Betriebsberufsschule des Volksbuchhandels »Erich Wendt« 15, 464, 476–482 Beyer, Manfred 569 Bibliographisches Institut 9, 33, 88, 147– 148, 269, 274, 285, 288, 401, 403, 416, 419, 425, 430, 434, 442, 498, 515, 595, 768, 772 Bichsel, Peter 635 Bidstrup, Herluf 698, 705 Bielefeldt, Edgar 74–75 Bieler, Manfred 245–247, 300, 530, 706 Biermann, Wolf 153, 159–161, 166, 189, 192–193, 214, 227, 230, 247, 250–252, 255, 282, 300–301, 321, 323, 338, 346– 349, 370, 372–374, 376, 394, 433, 439, 533–535, 631, 652–653, 658–659 Bin Gorion, Micha Josef 548 Binder-Stassfurt, Eberhard 762 Binding, Rudolf G. 548 Birchmeier, Peter 689 Birkenfeld, Günther 240 Blanvalet, Lothar 108 Bleuel, Hans Peter 255 Bloch, Ernst 178, 183, 189, 215, 243, 525, 527–528, 540, 550, 737, 740, 744, 746 Blücher, Gebhard Leberecht von 555 Blühm, Elger 618 Blum, Klara 672 Blumenbar (Verlag) 543 Bobrowski, Johannes 165, 245–248, 558 Boccaccio, Giovanni 566 Bock, Kurt 425, 467 Bode, Dietrich 743 Bofinger, Manfred 696, 701, 703–704 Böhlau, Hermann 33, 83, 88, 288, 419, 425, 560, 594–595, 682 Böhm, Karl Ewald 263, 285, 287, 293, 407, 627 Böhme, Wolfgang 403, 419, 426 Böll, Heinrich 214, 242–243, 248, 277, 372, 558–559, 609, 746, 769 Bomhard, Bettina von 608 Bonneß & Hachfeld 548–549 Bonneß, August 549 Bonsels, Waldemar 548, 673
779 Borchers, Elisabeth 165, 247 Borchert, Wolfgang 288 Borges, Jorge Luis 631, 637 Born, Nicolas 634 Börne, Ludwig 531 Börner, Heinz 442, 445 Börsenverein der Deutschen Buchhändler (Leipzig) 5, 8–10, 15–20, 22, 32, 49, 55, 60–61, 69–105, 125–138, 144, 154– 155, 163, 166, 251, 279, 399–455, 457– 459, 462, 464–477, 481–483, 487–488, 491, 501, 503, 521, 557, 608, 617, 668, 679, 729, 742 Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Frankfurt am Main) 9, 20, 76–78, 138, 155, 157, 166, 322, 408, 422, 429, 438, 446, 450–452, 481, 483, 499, 515, 617, 617 Böttcher, Harald 448 Böttcher, Hildegard 728–730, 749 Böttcher, Kurt 595 Bracke, Wilhelm 437 Bradbury, Ray 301, 721 Brand, Millen 755 Brandt, Willy 249, 421 Brandys, Kazimierz 640 Branstner, Gerhard 703, 714 Brasch, Thomas 250–251, 304, 348 Bräuer, Martin 403 Bräuer, Siegfried 449–450 Braun, Günther 721, 768 Braun, Johanna 721, 768 Braun, Otto 340 Braun, Volker 159, 165–166, 214, 247, 249, 251, 302, 340, 347, 531, 648, 654–655, 658, 745 Bräunig, Werner 187, 214, 246, 300, 344, 646, 648–649 Brecht, Bertolt 18, 157, 161, 164, 182, 187, 240, 242, 284, 326, 359, 361–364, 412, 491, 525, 538, 585, 602–603, 645, 697, 699, 759 Brecht-Schall, Barbara 699 Bredel, Willi 239–241, 244, 532, 759 Breitkopf & Härtel 13, 28, 33–34, 70, 77, 88, 147, 408, 727 Brentano, Bernard von 535 Bressau, Fritz 646, 649 Bressensdorf, Felix von 613 Bretschneider, Marianne 634 Brězan, Jurij 339
780 Brilla, Fritz 418–419, 424–425 Brinkmann, Rolf Dieter 634 Brockhaus, Eberhard 147 Brockhaus, F. A. 28, 33, 47, 63–64, 74, 77, 80, 83, 88, 147, 285, 601, 684 Brockhaus, Hans 9, 16, 74–75, 77, 97 Brod, Max 568, 673 Bronnen, Arnolt 294 Brüning, Elfriede 278, 729 Bruns, Marianne 648 Bruyn, Günter de 159, 246, 302, 374–376, 648, 655–656, 658, 661, 663, 747 Buber, Martin 548 Bucerius, Gerd 244 Buch und Kunst (Buchhandlung, Dresden) 92 Buchbinderei Pustet Regensburg 550 Büchergilde Gutenberg 581, 740, 746 Bücherstube Gutenberg (Leipzig) 92, 474 Bücherstube Köpenick 93, 110 Buchexport 15, 279, 286, 316, 319–320, 425, 427, 430, 435, 441–442, 444, 678 Buchhandelsgesellschaft »Wissenschaft und Literatur« 92 Buchmann, Karl 576 Buchmesse (Frankfurt am Main) 2, 18, 20, 148, 156, 165, 239, 274, 316, 426, 429– 430, 446, 552, 731, 740, 748–749 Buchmesse (Leipzig) 20–21, 144, 148, 163, 239, 251, 254, 316, 427–428, 430, 436– 438, 441, 446–447, 450–452, 540, 636, 736 Büchner, Georg 611 Buchverlag Der Morgen 222, 271, 301, 616, 682, 707, 747 Buchwald, Reinhard 591 Bugra 428 Bukowski, Charles 636 Bulgakow, Michail 630, 633, 638, 641–642 Bullan, Horst 515 Bunge, Hans 699 Buñuel, Luis 631 Bunzol, Alfred 582 Burchett, Wilfred 625 Burgmüller, Herbert 362 Büro für Urheberrechte 150, 158, 309–332, 420, 439, 673, 721 Busch, Wilhelm 683, 705 Busse, Ernst 576 Bussewitz, Wolfgang 720 Buttke, Carl 134
R eg i s te r C Calvino, Italo 630, 637 Camus, Albert 604, 630–631, 637 Canetti, Elias 611, 637 Čapek, Karel 537 Capote, Truman 611, 635 Cardenal, Ernesto 745 Carnatz, Steffi 435 Carossa, Hans 608 Carpentier, Alejo 634 Casanova, Giacomo 604 Caspar, Günter 528, 531, 537 Celan, Paul 243 Cervantes, Miguel de 703 Chagall, Bella 640 Chamisso, Adalbert von 567 Chandler, Raymond 635, 637 Chaucer, Geoffrey 556 Chowanetz, Rudolf 448 Christ, Richard 568 Christie, Agatha 714 Cibulka, Hanns 301, 583, 648 Clarke, Marcus 627 Claudius, Eduard 312, 340, 625, 656 Clay, Lucius D. 116 Coler, Christfried 286 Conrad, Joseph 769 Courtade, Pierre 625 Crane, Stephen 619 Cremer, Fritz 347 Creutziger, Werner 537 Cross, Donna W. 543, 571 Czechowski, Heinz 246, 345, 531, 745 Czollek, Walter 627–629 D Daene, Wilhelm 131–132 Dahl, Roald 637 Dahlem, Franz 284 Dahn, Daniela 196, 295, 299, 405 Dahne, Gerhard 281, 448–449, 658, 662 Dahrendorf, Gustav 388 Damm, Sigrid 538 Darwin, Charles 739 Das gute Buch (Buchhandlung, Berlin) 472 Das gute Buch (Buchhandlung, Halle) 92, 419, 425 Das internationale Buch (Buchhandlung, Dresden) 435 Dausien, Otto 19
R eg i s te r Debüser, Lola 642 DEFA 191, 248, 318, 532 Degenhardt, Franz Josef 534 Dehmel, Walter 712 Deicke, Günther 246, 533 Delius, Friedrich Christian 247, 534 Dempewolf, Peter 542 Déry, Tibor 625 Desch, Kurt 17–18, 144 Dessau, Paul 584 Detmold, Johann Hermann 556 Deutsche Akademie der Künste → Akademie der Künste der DDR Deutsche Bibliothek 9, 17, 450 Deutsche Bücherei 9, 11, 17, 32, 81–82, 96, 410, 419, 437, 450, 487 Deutsche Buchhändler-Lehranstalt zu Leipzig 15, 438, 464–472, 475–483 Deutsche Post 2, 14, 112–115, 156, 222, 281, 292, 516, 755 Deutsche Schillerstiftung 583 Deutsche Staatsbibliothek 418, 539 Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 727 Deutsche Verwaltung für Volksbildung 11– 12, 28–37, 44, 46–48, 51, 53, 57, 61, 63, 85–86, 89, 96–100, 401–404, 457–459, 466, 614 Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung → Deutsche Verwaltung für Volksbildung Deutscher Bauernverlag 13, 32, 87, 144, 273, 291, 501 Deutscher Buch-Export- und Import GmbH → Buchexport Deutscher Funk-Verlag 14 Deutscher Landwirtschaftsverlag 93, 274, 498 Deutscher Militärverlag → Militärverlag der DDR Deutscher Schriftstellerverband → Schriftstellerverband der DDR Deutscher Verlag der Wissenschaften 275, 408, 561, 565, 767 Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie 274, 295, 614–615 Deutsches Buchhändlerhaus 21, 71, 97, 412, 419, 446, 477 Deutsches PEN-Zentrum (Bundesrepublik) 148, 252, 357–386 Deutsches PEN-Zentrum Ost und West → PEN-Zentrum DDR
781 Dickens, Charles 555, 557, 566 Diderot, Denis 585, 589–590 Die Freie Gewerkschaft Verlagsgesellschaft 34, 87, 89, 586 Dieterich, Johann Christian 616 Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 9, 28, 77, 89, 147, 271, 275, 290, 599, 603– 606, 616–620 Dietmar, Udo 582 Dietz Verlag 44, 58, 61, 87, 108, 144, 153, 268, 278, 280, 286, 294, 296, 312, 419, 425, 435, 437, 445, 498, 530, 538, 563, 573, 584, 667, 670, 680, 763, 771 Dietz, Ilse 668 Dietz, J. H. W. 670 Dietz, Karl 667–680 Dietze, Walter 560 Dietzel, Hellmut 426, 444 Dilschneider, Otto 388 Dimitroff, Georgi 498 Diogenes Verlag 637 Dittrich, Peter 696, 701 Dix, Otto 579, 690 Djacenko, Boris 289 Döblin, Alfred 242, 285, 535, 559, 567– 568, 603 Doell, Wilhelm 573 Domma, Ottokar 696, 703 Domowina-Verlag 294, 682 Döring, Stefan 255 Dörrie, Doris 634 Doyle, Arthur Conan 714, 769 Drescher, Angela 534 Drewitz, Ingeborg 255 Dreifuß, Marianne 758 Droge, Otto 482 Dronke, Ernst 554 Droste-Hülshoff, Annette 729 Druckerei Fortschritt Erfurt 574, 689 Druckerei- und Verlagskontor 93, 262–263, 268–269, 271–272, 279, 280, 405, 419, 425, 472, 501, 526, 553, 564–565, 578, 713 Druckhaus Halle 645 Dshu Bai-lan → Blum, Klara Duncker & Humblot 108 Dünnebeil, Oskar 573 Dürrenmatt, Friedrich 254, 630, 633, 637 Duty, Helga 653, 660 Dymschitz, Alexander 7, 45, 85
782 E Eaton, Richard J. 75 Ebert, Friedrich 698 Eco, Umberto 631, 637 Edition Leipzig 274, 295, 430, 538, 736 Edition Ost 689 Edition Peters 93, 274 Eger, Hans 418 Eger, Paul (Buchhandlung, Leipzig) 418 Ehrenburg, Ilja 292, 413, 625–627, 631 Ehrhard, Ludwig 434 Eich, Günter 241, 248, 604 Eichendorff, Joseph von 683 Einkaufshaus für Büchereien 90, 403 Einstein, Carl 747 Eisler, Hanns 187, 284, 526 El Libro Libre 525 Elias, Holger 689–690 Eliot, T. S. 635 Ellermann, Heinrich 551 Elsholz, Helmut 293, 295 Elsner, Gisela 634 Elsner, Otto, Verlagsgesellschaft 523 Eluard, Paul 625 Elwert, Meurer & Co. 113 Elytis, Odysseas 746 Ende, Lex 694 Endler, Adolf 160, 246, 255, 344, 349–350, 531, 745 Engelberg, Ernst 561 Engelmann, Bernt 252, 255 Engelmann, Georg 419 Engels, Friedrich 175, 182, 274, 326, 437, 469, 547, 553 Engewald, Kurt (Buchhandlung, Leipzig) 79–81, 97, 417–418 Engler, Wolfgang 543 Ensikat, Klaus 716 Enskat, Alice 675 Enzensberger, Hans Magnus 243–244, 248– 249, 337, 631, 634 Erb, Elke 159, 161, 253, 540, 639, 745 Erben, Tom 543 Erichson, Peter E. 681 Erich-Weinert-Buchhandlung (Magdeburg) 442 Erler, Gotthard 536, 542–543 Ernst, Alfred 418–419, 426, 434 Erpenbeck, Doris 637 Erpenbeck, Fritz 45, 388, 715
R eg i s te r Eulenspiegel Verlag 93, 271, 273–274, 276, 281, 501, 519, 521, 534, 547, 553, 693– 709, 711, 713, 722 Eulenspiegel Verlagsgruppe 689, 708, 722, 765 Euripides 593 Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft 499 Evangelische Verlagsanstalt 222 Eybel, Werner (Leihbücherei Eybel) 419 F Faber, Elmar 152, 302, 442, 444, 449, 502, 523, 538–543, 565, 570, 604 Faber, Renate 604 Fachbuchverlag GmbH → VEB Fachbuchverlag Fachgruppe Buchhandelsangestellte im FDGB 96, 401, 614 Fachschule für Bibliothekare 483 Fachschule für Buchhändler 438, 464, 471– 472, 476, 482 Fahlberg, H. L. (d. i. Hans Werner Fricke) 719 Faktor, Jan 255 Fallada, Hans 48, 521, 524, 543 Faulkner, William 628–629, 633, 635, 637– 638 Fauth, Harry 15, 437, 448, 467 Felixmüller, Conrad 579, 676 Fellini, Federico 631 Ferling, Henry 80 Feuchtwanger, Lion 525, 543, 602, 672–674 Feuchtwanger, Marta 674, 679 Fichte, Hubert 631, 634 Fielding, Henry 566 Fischer, Gustav 11, 33, 83, 88–89, 147, 408 Fischer, Hellmuth 442 Fischer, S. 108, 150, 243, 247, 249, 304, 327, 328, 529, 568, 637 Flaubert, Gustave 536, 566 Flegel, Walter 340 Fleischer, Carl Fr. 15, 77, 94, 616 Fleischer, Friedrich 477 Fleißer, Marieluise 239 Fock, Gustav (Antiquariat, Leipzig) 580 Fontane, Theodor 529, 531, 535, 683, 712, 754 Förster, Hans Albert 80, 94–95, 97, 403 Fotokinoverlag 270, 517 France, Anatole 550
R eg i s te r Frank, Leonhard 242, 607 Franke’sche Druckerei- und Verlagsanstalt Altenburg 575 Frankenberg, Wilhelm 702–703, 711 Franklin, John 718 Franz-Mehring-Haus (Buchhandlung, Leipzig) 14, 92, 97, 435 Freitag, Wolfgang 718 Frenzel, Curt 477 Frenzel, Ivo 552 Freud, Sigmund 303, 602, 604, 631, 637 Friedemann, Bernd 519 Friedensburg, Ferdinand 388–389 Friedländer, Paul 286 Friedrich, Heinz 241 Fries, Fritz Rudolf 377, 532, 540 Friese, Robert 419 Friese’sche Buchhandlung (Chemnitz) 419 Frisch, Max 251, 254, 630, 635, 637 Fritz, Rudi 295 Froese, Wilhelm 419 Fröhlich, August 576 Fröhlich, Paul 732–733 Frommhold, Alfred 30 Frommhold, Erhard 10 Frühauf, Hans 756 Fuchs, Gerd 534 Fuchs, Günter Bruno 245 Fuchs, Jürgen 252, 348 Fuentes, Carlos 634 Fühmann, Franz 159, 161, 214, 247, 251, 280, 290, 302, 347, 375–376, 535, 639, 688, 743, 745 Fuhrmann, Rainer 768 Fuks, Ladislav 566 Fürnberg, Louis 530, 585, 590, 594, 758 G Galilei, Galileo 566 García Marquéz, Gabriel 536, 637 Gärtner-Scholle, Carola 63, 286 Gatzke, Wolfgang 706 Gay, John 738 Geissler, Christian 247, 552 Gelbin, Gertrude 633, 757 GELU → Gesellschaft zur Verwertung literarischer Urheberrecht mbH Genet, Jean 631 Genschorek, Wolfgang 445 Genth, Franz Otto (Buchhandlung, Leipzig) 415, 425, 467
783 Georgi, Arthur 429 Gerhardt, Klaus-Peter 448 Gerlach, Carola 634 Germain, Sylvie 570 Gernhardt, Robert 636 Gerster, Ottmar 584 Gerstner, Sibylle 292 Gerull, Walter 553, 563 Gesellschaft zur Verwertung literarischer Urheberrecht mbH (GELU) 313, 328 Giesecke, Martin 20 Ginzburg, Natalia 566 Giordano, Ralph 286 Girnus, Wilhelm 86 Gladkow, Fjodor 745 Glaeser, Ernst 535 Glatzer, Ruth 254, 531, 540, 564–565 Globus Verlag 18–19 Glücksmann, Anselm 312–313 Gniffke, Erich 576 Goerdeler, Carl 726 Goethe- und Schiller-Archiv 609 Goethe, Johann Wolfgang 179, 183, 242, 547, 555, 565–566, 573, 583–586, 591, 593–594, 604, 607, 725, 728, 739, 759 Gogol, Nikolai 550, 728, 731 Goldammer, Peter 531, 536, 596 Golding, William 746 Goldmann, Wilhelm 9, 13, 88 Goncourt, Edmond de 619 Gontscharow, Iwan 614 Gorbatschow, Michail 194, 231, 304, 338, 440, 631, 642, 663 Gorki, Maxim 532, 537, 585, 728, 759–760 Görlich, Günter 340 Gosse, Peter 745 Gotsche, Otto 185, 295, 645, 651 Grabner, Hasso 97 Grade, Alfred 17–19 Graetz, René 178 Graf, Oskar Maria 525, 672 Granin, Daniil 290, 304, 641 Graphik-Verlag Dr. Heinrich Mock 579– 580, 584 Grass, Günter 160, 214, 243–244, 247–250, 253, 255–256, 303, 321, 337, 529, 540– 541, 559–560, 631–632, 634, 743, 746 Greene, Graham 630 Gregor, Manfred 762 Greifenverlag zu Rudolstadt 218, 267, 660, 667–691
784 Greiner-Mai, Herbert 581, 595–596 Greno Verlag 570 Greßmann, Uwe 531, 648, 745 Grieshaber, HAP 743, 746 Grimm, Brüder 550, 556 Grimm, Ursula 448 Grossek, Melchior 389 Grosz, George 746 Groszer, Lucie → Altberliner Verlag Lucie Groszer Grotewohl, Otto 177, 208, 241, 404, 527, 576, 582, 586 Grube-Heinecke, Regine 683 Grumach, Ernst 590 Grün, Max von der 248, 379, 531 Grünberg, Karl 668, 672 Gründer, Otto (Buchhandlung Neustrelitz) 425 Grüneberg, Dieter 442 Gruner, Jürgen 251, 281, 303, 442–444, 447, 449, 451, 502, 604, 632, 742 Grüning, Uwe 639 Grüttner, Erhard 766 Gruyter, Walter de 120–121 Gsellius’sche Buchhandlung (Berlin) 126 GST-Verlag 277 Guillen, Nicolas 625 Guimarȃes Rosa, Joȃo 536 Günther, Eberhard 281, 299, 502, 646, 650, 652–663 Günther, Johann Christian 738 Gürchott, Fritz 418 Gustafsson, Lars 637 Gute, Herbert 33 Gysi, Irene 274, 553–554, 563 Gysi, Klaus 18, 248, 301, 425–426, 431– 432, 434, 437, 489, 523–524, 528, 531, 554, 565, 652, 679 H Hachfeld, Albert 548–549, 551–552 Häckel, Manfred 295 Hacks, Peter 244, 346, 701–702 Häder, Friedrich 736 Hagemann, Karl 287, 407, 418–419, 437 Hagen, Eva-Maria 348–349 Hagen, Nina 159, 348–349 Hager, Kurt 187, 191, 193, 195, 253, 263, 273, 292, 299, 349, 416, 433, 538, 642, 651–652, 662, 680, 742
R eg i s te r Hager, Regina 642 Haid, Bruno 279–280, 282, 301, 433, 440, 480, 488, 640, 652, 655, 680, 687 Haimoff, Cpt. 73–75 Halas, František 639 Hallstein, Walter 421 Hammer, Franz 583 Hammett, Dashiel 635, 637 Handelsorganisation (HO), Buchverkaufsstellen 402–403 Handke, Peter 254, 631, 635–636 Hannsmann, Margarete 743 Hanser, Carl 144, 153, 247, 249, 637–638, 740 Hanzelka, Jiři 627 Hardy, Frank 625 Harich, Wolfgang 161, 178, 215, 288, 292, 346, 416, 433, 526–528, 537 Harig, Ludwig 749 Harrassowitz, Otto 498 Harrendorf, Otto 425 Härtling, Peter 253, 534 Hartmann, Gerhard 695 Harych, Theo 648, 657 Hašek, Jaroslav 278, 537 Haueis, Albert 729, 730–731 Hauff, Bruno 77 Hauff, Wilhelm 550, 591 Hauptabteilung Literatur im Ministerium für Volksbildung 64 Hauptmann, Gerhart 48, 392–393, 524 Hauptverwaltung Polygraphie im Ministerium für Leichtindustrie 64, 262, 268–269 Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel 3, 94–95, 151, 160, 201, 209–210, 218, 228, 254, 261–307, 309, 313, 318, 326, 328, 405, 432–433, 435, 440, 445, 447– 448, 472, 476, 480, 483, 488–490, 501, 506, 508, 514, 517, 530, 565, 595, 599, 603, 610, 635, 640, 648, 650, 682, 685, 721, 739 Hauptverwaltung Verlagswesen im Ministerium für Kultur 151, 209, 262, 268–269, 407, 418, 421–422, 483, 561, 568, 648, 735 Haus des Buch 71, 446 Hauschke, Max 562 Hausmann, Arno 286, 551 Havemann, Robert 189, 321, 348 Heaney, Seamus 746 Heartfield, John 284, 627
R eg i s te r Hebbel, Friedrich 591 Hebbel, Rosemarie 442 Hecht, Werner 152 Heckel, Erich 579 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 744 Hegenbarth, Josef 556–557, 731, 736, 738 Heidkamp, Karl 563 Heiduczek, Werner 301, 648, 654–655, 658– 661 Heilbach, Woldemar 80 Heilmann, Paul 80, 96, 410, 419 Hein, Christoph 161, 201–202, 255–256, 301, 303, 338, 523, 538, 663 Heine, Heinrich 392, 524, 585, 731 Heinecke, H. 33, 89 Heinritz, Edgar 419 Heise, Wilhelm 86 Heisig, Walter 295 Heißenbüttel, Helmut 634 Held, Wolfgang 583 Heldt, Peter 263 Heller, Joseph 630, 637 Hemingway, Ernest 288, 294, 526, 528 Hennig, Günther 435, 441 Henniger, Gerhard 337, 340 Henniger, Heinfried (Heiner) 707, 746–748 Henschel, Bruno 156 Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 93, 271, 273, 291, 312, 316, 437, 501, 566, 633, 715, 761, 767, 771–772 Henselmann, Andreas 313, 448 Henssel, Karl Heinz 108 Herbig, F. A., Verlagsbuchhandlung 108 Herburger, Günther 249, 534 Herder, Johann Gottfried 585, 591 Herfurth, Egbert 705 Hermann Böhlaus Nachfolger → Böhlau, Hermann Hermelin-Verlag 728 Hermlin, Stephan 159, 214, 239–241, 244, 247, 250–253, 286, 299, 339, 347–348, 350, 362, 366, 368, 374–378, 380, 382, 389, 534–535, 539, 625–626, 738, 743 Hermsdorf, Klaus 567–568 Herold, Otto 435, 442 Herrfurth, Hans 637 Herrmann, Klaus 583 Herrnstadt, Rudolf 346, 413, 694 Herzau, Hugo 575 Herzberg, Wolfgang 542 Herzfelde, Wieland 244, 366, 370, 525, 746
785 Herzfeldt, Johanna 673 Herzog, Rudolf 652–654 Herzog, Werner 634 Hesler, Jutta von 608 Heß, Erich 482 Heß, Max Albert 5, 9, 73–81, 97 Hesse, Hermann 137, 150, 152, 526, 673, 675, 677, 729, 736, 741 Hesse, Peter G. 675 Heß-Maier, Dorothee 450–452 Heydenbluth, Mathias 570 Heym, Georg 690 Heym, Stefan 159–161, 214, 239, 251, 256, 282, 300–301, 310, 319, 321, 326–327, 339, 346–351, 373, 376, 381, 392, 433, 615–616, 633, 757 Heymann, Stefan 576, 582, 585 Heymanns, Carl 498 Heyne, Wilhelm 5 Heynowski, Walter 694 Hiersemann, Anton 9, 74 Hikmet, Nâzim 758 Hilbig, Wolfgang 187, 214, 319, 327–328, 540, 743, 745 Hildesheimer, Wolfgang 634, 637 Hinstorff Verlag 33, 88, 93, 226, 274–276, 285, 301–302, 304, 534, 547, 681, 685 Hirdina, Karin 396 Hirsch, Karl-Georg 656, 684 Hirsch, Rudolf (Autor) 557–558, 685 Hirsch, Rudolf (Verleger) 609 Hirte, Chris 303 Hirzel, S. 14, 33, 88–89 Historische Kommission des Börsenvereins (Leipzig) 437, 445, 488 Hitler, Adolf 69, 84, 156, 387, 524, 589, 669 Hitzer, Friedrich 245 Hlouschek, Theodor 584 Hochgesang, Michael 63 Hochhuth, Rolf 249, 634–637 Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig 16, 428, 619, 736 Hockarth, Paul 574, 577 Hodann, Max 668, 675 Hoelz, Max 657 Hofé, Günter 156, 418–419, 422, 425–426, 429–430, 434–435, 437, 442 Hofer, Karl 388 Hoffmann, E. T. A. 591, 736 Hoffmann, Hans-Joachim 193–194, 328, 659
786 Hoffmann, Heinrich 547 Hoffmann, Oskar 265, 288, 293, 561 Hoffmann, Ruth 389 Hoffmann, Siegfried 251, 434–435, 442, 444, 502 Hofmann, Kurt 673 Hofmann, Walter 593 Hofmannsthal, Hugo von 607 Holland-Moritz, Renate 696, 704 Holle Verlag 551 Höllerer, Walter 246–247, 253 Holm, Hans 425, 553 Holst, Adolf 681 Holtermann, Martin 448–450 Holtz-Baumert, Gerhard 339, 349 Holtzhauer, Helmut 79, 81, 178, 262, 531, 590–591, 594 Holz, Alfred 35, 89, 271, 600, 681 Honecker, Erich 157–158, 191–192, 196, 199, 212, 223–225, 253, 278, 300–301, 349–350, 372, 375, 392, 433, 439, 447, 507, 533, 542, 599, 631, 649, 651–653, 658 Honecker, Margot 194, 533 Hönn, Georg Paul 556 Höpcke, Klaus 159, 199, 201, 254, 273, 301–304, 318, 324, 328, 433, 440, 443, 631, 654–655, 658–659, 682, 742 Horkheimer, Max 304, 746 Horlbeck, Günter 736, 758 Horlbeck-Kappler, Irmgard 736, 739, 758 Horn, Christine 301 Hörnig, Johannes 263, 680 Horst, Kurt 419 Horvath, Ödön von 690 Houben, Heinrich Hubert 304, 747 Hrabal, Bohumil 633, 638–639 Huch, Ricarda 164, 239, 607, 673, 729 Huchel, Peter 239–243, 247, 249, 274, 292, 359, 372, 389, 533, 550, 558, 570 Huchʼs Buchhandlung (Zeitz) 425 Hüfner, Heiner 688 Hugendubel (Buchhandlung, München) 120 Hull, Raymond 304 Humboldt, Alexander von 755 Hünich, Fritz Adolf 608–609 Hünich, Hans 435, 441–442 Huppert, Hugo 625 Huth, Karl 95 Hutten, Ulrich von 555 Huxley, Aldous 611, 721 Huysmans, J. K. 605
R eg i s te r I Ihering, Herbert 388–389 Ilberg, Werner 241, 371, 373 Industrie- und Handelskammer (IHK) 101, 409, 421 Information Control Division 9, 18, 73, 75, 125, 147 Insel/Kiepenheuer Verlagsgruppe → Kiepenheuer, Verlagsgruppe Insel-Verlag 13–14, 28, 33, 45, 77, 88, 147– 148, 154, 157, 162, 200, 271, 275, 277, 281, 284, 290, 394, 429, 507, 548, 599– 623, 673, 727, 742 Institut für Buchgestaltung der Hochschule für Grafik und Buchkunst 428 Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 491 Institut für Marxismus-Leninismus 284, 562 Institut für Verlagswesen und Buchhandel der Karl-Marx-Universität Leipzig 438, 476, 487–491, 500 Internationale Buchkunst-Ausstellung (iba) 428, 438, 441, 446, 490 Internationaler PEN 358–378, 383 Internationaler Verleger-Kongress 137 Irrlitz, Gerd 744 Iskander, Fasil 639 Iwaszkiewicz, Jarosław 537 J Jacob, Bruno 295 Jäger, Karl 80 Jäh, Walter 16, 72–73, 97–98, 101 Jahn, Hermann 573 Jahn, Jürgen 531, 538 Jähn, Karl-Heinz 639 Jahn, Werner 295 Jahnn, Hans Henny 240, 359, 361, 540 Jahr, Christa 684 Jakobs, Karl-Heinz 246, 350, 392 Jandl, Ernst 254, 631 Janka, Walter 156, 161, 178, 268, 288, 312, 346, 416, 425, 433, 523–528, 537, 540 Janke, Jutta 640 Jaspert, Reinhard 156, 429–430 Jazdzewski, Ernst 760 Jazz-Optimisten 521, 630 Jelinek, Elfriede 637 Jelloun, Ben 566
R eg i s te r Jendryschik, Manfred 327, 652–653, 657– 659, 662 Jendryschik, Roswitha 656 Jens, Inge 243 Jens, Walter 243, 256, 541, 634 Jentzsch, Bernd 246–247, 249–252, 531– 532 Jess, Wolfgang 14, 499 Jessenin, Sergej 744 Jirásek, Alois 677 Jirgl, Reinhard 541 Jobst, Herbert 278 Johann, Gerhard 718 Johnson, Uwe 152, 214, 243, 247, 253, 304, 337, 540 Joho, Wolfgang 284, 286, 343, 729 Jona, Wolfgang 291 Jörn, Sieglinde 703, 706, 714 Joyce, James 284, 300, 611, 631, 633 Juncker, Axel 108, 126 Jünger, Ernst 303, 388 Jünne, Otto (Musikalienhandlung, Leipzig) 74 Just, Gustav 340, 346, 528, 537 K Kafka, Franz 243, 284, 337, 526, 542, 567– 568, 604 Kahlau, Heinz 246, 339, 373–374, 630 Kaim-Kloock, Lore 557, 564 Kaiser, Bruno 556, 625 Kaiser, Georg 602 Kamnitzer, Heinz 244, 366, 369–382 Kamprath, Ernst 578 Kant, Hermann 148, 165, 185, 193, 198, 246, 248, 251, 253, 255, 297, 299–300, 338–339, 345, 349–351, 377, 531–533, 535, 552, 557–560, 566 Kantorowicz, Alfred 144, 240, 359, 389, 672 Kaplan, Anatoli 640 Kapr, Albert 16, 428 Karl-Marx-Werk Pößneck 575, 579 Kasack, Hermann 602 Kast, Peter 716 Kästner, Erich 359, 389, 627 Kauerhof, Georg 711 Kaufmann, Hans 530, 560 Kaufmann, Walter 379, 381 Kaul, Friedrich Karl 715
787 KAWE (Großbuchhandlung, Berlin) 19 Kayser, Karl 192 Kazantzakis, Nikos 340 Kazimirek, Helmut 445 Kegel, Gerhard 694–699, 701 Keil, Gerhard 502, 505, 609, 732–733, 735 Keisch, Henryk 373–378 Keller, Gottfried 524, 529, 589, 734, 754 Kellermann, Bernhard 45, 48, 388, 625 Kellner, Wolfgang 688–689 Kerlen, Dietrich 491 Kerndl, Rainer 339 Kertész, Imre 569 Kesey, Ken 631 Kessel, Martin 388 Keun, Irmgard 285 Kielmeyer, Otto 53, 59, 61, 86 Kienast, Herbert 413 Kiepenheuer & Witsch 88, 161, 253, 536, 540, 603, 606, 609 Kiepenheuer, Gustav 13, 33, 88, 275–276, 284, 394, 442, 502, 519, 543, 599–623, 667, 741, 768–769, 772 Kiepenheuer, Noa 599, 603 Kiepenheuer, Verlagsgruppe 394, 442, 599– 623 Kierkegaard, Sören 301 Kinderbuchverlag Berlin 93, 271, 419, 442, 498, 501–502, 521, 600, 603, 681, 758, 767, 770–772 Kindler Verlag 158, 323 Kippenberg, Anton 606–610 Kipphardt, Heinar 343 Kirsch, Rainer 214, 246, 339, 344, 351, 376, 531–532, 639, 743, 745 Kirsch, Sarah 159, 214, 246, 251, 304, 344– 345, 347, 375, 392, 531–533, 535, 639, 745 Kirst, Hans Hellmut 242 Kirsten, Wulf 535, 745 Kisch, Egon Erwin 525 Kishon, Ephraim 640 Kiwus, Karin 743 Klaehr, Karl 96 Klähn, Hans 281, 293, 295 Klausnitzer, Hans-Peter 392, 394 Klein, Fritz 292 Klein, Jenö 313 Kleinstück, Hans 593 Kleist, Heinrich von 392, 536, 585–586, 731 Klemke, Werner 556, 625, 697, 738
788 Klemm, Alfred 619 Klemm, Eberhardt 744 Klemm, Hannelore 620 Klemm, Walther 669, 673, 676 Klemm, Wilhelm 9, 15, 76–77, 94, 616–620 Klemperer, Victor 58, 525, 543, 569, 589, 672, 744 Kleßmann, Christoph 141–143, 145–146, 152–154, 157, 159–164, 166–167 Kliemann, Horst 17 Klinkhardt, Annemarie 732 Kloock, Ernst-Ulrich 291, 553, 563 Klotsch, Andreas 634 Kluge, Alexander 634 Knabe, Gebrüder 499, 690 Knopf, Alfred A. 580 Koch, Hans 340, 687 Koch, Matthias 543, 571, 606 Koch, Robert 555 Kocialek, Anneliese 281, 295 Koehler & Volckmar 9, 15, 73–74, 77, 80, 94, 732 Koenig, Friedrich 753 Koeppen, Wolfgang 242, 285–286, 288, 634 Köhler, Heinz 434–435, 442, 444 Köhler, Richard 425, 607–608 Kolbe, Uwe 535 Koltypin, Wladimir 18 Kommissionsbuchhandlung Opetz (Leipzig) 418 Kongress für kulturelle Freiheit 180, 336 Kongreß-Verlag 276, 291 König, Hartmut 196 Königsdorf, Helga 534, 540 Konjetzky, Klaus 249 Konsum-Genossenschaften, Buchverkaufsstellen 402–403 Kopelew, Lew 541 Koppe, Otto 419 Korall, Harald 647, 656 Korn, Karl 388 Korn, Vilmos 264, 290 Körner, Theodor 555 Korolenko, Wladimir 728 Kossuth, Charlotte 639 Kossuth, Leonhard 638, 640–641 Köster, Hans 80 Kostyljow, Walentin 566 Koven, Ludolf 62, 99, 403, 410, 418–419, 425–426, 434, 444
R eg i s te r Kracauer, Siegfried 604 Kraft, Günther 584 Kraus, Karl 627, 630 Kraus, Ota 291 Kraushaar, Luise 265, 293, 677 Krauss, Werner 243, 530, 550, 560, 587, 737 Krecek, Werner 392 Krenz, Egon 447 Kretschmar, Lothar 738–739, 743, 748–749 Kretzschmar, Harald 696, 699, 701 Kretzschmar, Inge 364, 366, 368–371 Kretzschmar, Rudolf 422 Kreuzberg, Willy 582 Krieg, Käthe 702, 711 Kroetz, Franz Xaver 249 Kröner, Alfred 96, 617 Kross, Jaan 566 Krtschil, Henry 704 Krug, Manfred 159, 348, 630 Krüger, Ingrid 159, 250, 743 Krupkat, Günther 720 Kruschel, Gerhard 760 Kruschwitz, Hans 449 Kuba (d. i. Kurt Barthel) 340, 625, 629 Kubin, Alfred 673 Kuczynski, Jürgen 289, 291–292, 301, 538 Kügelgen, Dirk von 339–340 Kuhn, Ursula 295 Kühne, Jacqueline 722 Kühnlenz, Fritz 676 Kulbak, Moische 640 Kulka, Erich 291 Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands / Kulturbund der DDR 13, 32, 36, 87–88, 92, 129, 144, 197, 239, 241, 246, 248, 262, 275, 333–334, 336, 339–340, 352, 357, 360, 362–363, 379, 387–397, 543, 554, 565, 596, 670, 672, 699, 727–728, 730, 740, 756, 758 Kultureller Beirat für das Verlagswesen 12, 28, 43–68, 85, 91, 151, 264, 268, 403 Kulturkommission beim ZK der SED 184– 185, 193 Kundera, Ludvík 745 Kunert, Christian 348 Kunert, Günter 153, 158–159, 247, 249– 251, 253, 299, 310, 345, 347, 529, 535, 743, 745 Kunsthochschule Berlin-Weißensee 556 Küntscher, Wolfgang 756
R eg i s te r Kunze, Reiner 159, 192, 251, 373–374, 532–533, 738, 745, 758 Kupsch, Hans-Karl von 450–451 Kurella, Alfred 184–185, 188, 244, 273, 289, 295, 343 Kurtze, Gerhard 482, 491 Kurze, Hans 97 Kurze, Max 80 Kusche, Annette 450 Kusche, Lothar 696 Kusnezow, Anatoli 633 L Labowski, Burkhard 720, 768 Lakomy, Reinhard 159 Lamberz, Werner 701 Lambsdorff, Otto Graf 254 Landauer, Gustav 548, 554, 604 Landshoff, Fritz H. 602, 604 Lang, Lothar 746 Lange, Arno 263, 407, 440, 448, 502, 604 Lange, Wolfgang 714 Langgässer, Elisabeth 388 Langhoff, Wolfgang 18, 45 Langner, Ilse 388 Lanzmann, Claude 304 Lasky, Melvin 240 Lassalle, Ferdinand 326 Laswitz, Kurd 720 Laubner, Jörg-Peter 606 Läuter, Peter 437, 445 Lazarus, Emma 583 Lecht, Hans-Otto 319, 441–442, 444, 449– 451, 502 Ledig, Gert 242 Lehmann, Hans 445 Lehmann, Margarethe 551 Lehmann, Reinhard 636 Lehmann-Haupt, Hellmuth 9, 73, 75–76 Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) 14–15, 92–93, 95–96, 255, 262, 270–272, 278–279, 296, 402, 405–406, 411, 414–415, 418, 430, 432–433, 435, 441–442, 444–446, 468–469, 472, 476, 480, 482, 489, 519, 626, 641, 662, 681 Lem, Stanisław 627, 768 Lemmer, Ernst 389 Lemmer, Kurt 553 Lenau, Nikolaus 554 Lengren, Zbigniew 705
789 Lenin, Wladimir 84, 86, 244, 458, 467, 469 Lenz, Siegfried 244 Leonhard, Rudolf 259, 359 Leonhard, Wolfgang 127, 152 Leonhardt, Karl Ludwig 552 Leonhardt, Rudolf Walter 244 Leonow, Leonid 638 Lermontow, Michail 12 Leskow, Nikolai 530, 537, 566 Lessig, Friedrich 730, 732 Lessing, Friedrich 645 Lessing, Gotthold Ephraim 585 Letsch, Paul 711 Letsche, Curt 687 Lettau, Reinhard 247 Levi, Carlo 630 Lewy, Hermann 291, 563 Ley, Hermann 64 Lichtenberg, Georg Christoph 616, 618 Lichtenfeld, Kristiane 639 Liebig, Artur 605 Liebknecht, Karl 289 Liebknecht, Wilhelm 173 Liepmann, Ruth 636 Liersch, Werner 657, 634 Links, Ch., Verlag 544 Links, Christina 639 Links, Roland 161, 394, 396, 442, 444, 449, 502, 603–606, 610, 613, 616, 628–629, 631, 634 Lippmann, Walter 399 Lissagaray, Prosper Olivier 561–562 List & Francke (Antiquariat) 613 List & von Bressensdorf 613 List, Paul 14, 275, 599, 606, 613–616, 657, 757, 770 List, Paul E. Walter 614 List, Paul W. 613–616 Literaturarbeitsgemeinschaft 270–271, 504, 506, 517 Literaturinstitut »Johannes R. Becher« 243, 343–344, 489–490, 657 Litt, Theodor 18 Litten, Irmgard 672 LKG → Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel GmbH Loening, Carl Friedrich 547 Loening, Gottfried Eugen 547 Loest, Erich 214–215, 252, 255, 302, 344, 346, 349–350, 648, 658–661, 685–686, 714, 716
790 Lokatis, Siegfried 491 London, Jack 532 Lorenc, Kito 745 Loriot (d. i. Vicco von Bülow) 703, 705 Lovecraft, Howard 304 Löwenthal, Leo 747 Lucas, Richard 573 Luchterhand, Hermann 108, 153, 159, 165, 245, 247, 249–250, 326, 529–530, 541, 638, 642, 650, 740 Ludwig, Otto 676 Lukács, Georg 178, 195, 283, 527–528, 540 Lunkewitz, Bernd F. 352, 542–543, 565, 570–571, 606, 620 Lusset, Felix 137 Luthardt, Ernst-Otto 688 Luxemburg, Rosa 569 M Mackensen, Lutz 618 Magon, Leopold 590 Mahfuz, Nagib 637, 746 Mahle, Hans 86 Mahn, Norbert 319, 449 Maier, Wolfgang 247 Mailer, Norman 635 Majakowski, Wladimir 625–626, 638, 736 Majerová, Marie 677 Makarenko, Anton S. 537 Malamud, Bernard 635 Malaparte, Curzio 637 Malik-Verlag 525 Mandelstam, Ossip 745 Mann, Gebrüder 108 Mann, Heinrich 525, 532, 602, 607, 672, 729 Mann, Thomas 48, 150, 242, 283, 392, 526, 532, 586, 677, 729 Manske-Krausz, Else 425, 563–564, 711 Manzoni, Alessandro 566 Mao Tsetung 672 Marchwitza, Hans 239, 241, 278, 530, 625 Marhold, Carl 16, 33, 72–73, 83, 89, 97, 147 Markert, Karl (Antiquariat, Leipzig) 418– 419, 425, 467 Märkische Druck- und Verlagsanstalt 87 Markov, Walter 290 Marquardt, Erwin 44 Marquardt, Hans 502, 733–743, 746, 749
R eg i s te r Marquardt, Mara 281 Marschall, Irma 581 Martin du Gard, Roger 630 Marx, Karl 175, 182, 274, 326, 437, 469, 547, 553, 602, 728 Marx, Rudolf 58, 89, 617–618 Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut → Institut für Marxismus-Leninismus Masereel, Frans 557, 673 Matewosjan, Hrant 639 Matthies, Frank-Wolf 250, 535 Maupassant, Guy de 530, 536, 555, 566, 618 Maurer, Georg 243, 648 May, Karl 200, 288 Mayer, Eva 599–600, 603 Mayer, Hans 178, 239, 242–244, 246, 274, 299, 359, 389, 527–528, 530, 532, 550, 554, 560, 587, 590–592, 625, 734–735, 737–738, 746 McCullers, Carson 635 Meckel, Christoph 247 Meckel, Eberhard 242 Mecklenburgische Landesdruckerei 87 Meier, Heinrich Christian 365 Meiner, Felix 13, 18, 80, 88, 97 Meinert, Joachim 631 Melchior Kupferschmid Verlag 668 Menke-Glückert, Emil 30, 86 Menz, Gerhard 5, 9, 15, 71, 487 Meras, Icchokas 640 Merker, Paul 45, 284 Merle, Robert 536 Meshdunarodnaja Kniga (Buchhandlung) 14, 92 Mette, Alexander 675 Mettler, Theo 730 Michael, Friedrich 77, 154, 607 Michel, Rosa 561 Mickel, Karl 247, 531–533, 639, 648, 658 Mickiewicz, Adam 585 Mielke, Erich 213, 223, 225, 229–230 Mierau, Fritz 745 Mihaly, Jo 535 Militärverlag der DDR 278, 294, 687, 718, 723, 756, 759, 763, 771 Mill, John Stuart 604 Miller, Arthur 604, 630 Miller, Henry 631, 635–636 Minerva-Verlag 125 Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR 450, 459, 483
R eg i s te r Ministerium für Staatssicherheit 162, 191, 201, 207–237, 243, 302, 313, 321, 327, 345–346, 348, 357, 368, 375–378, 652, 661, 703, 714 Ministerium für Volksbildung der DDR 44, 64, 85, 177, 403–404, 407, 459 Ministerium für Kultur 94, 96, 103, 153– 155, 178–179, 185, 209, 211, 357, 406– 407, 412, 419–420, 424, 438, 444, 446, 469, 474, 485, 488–489, 500–502, 507, 514, 530, 542, 570, 600, 603, 610, 616, 629, 641, 648, 682, 700–701, 717, 720, 734–735, 737, 744, 747 Mißlitz, Heinz 97, 290, 641 Mitchell, Margaret 570 Mitscherlich, Alfred 756 Mitschke, Wolfgang 448 Mittag, Günter 189 Mitteldeutsche Druckerei und Verlags GmbH 87, 645 Mitteldeutsche Druckgesellschaft 645 Mitteldeutscher Verlag 93, 226, 271, 275– 278, 281, 285, 288–289, 295–296, 301, 327, 416, 486, 501–502, 509, 531, 573, 585, 596, 609, 616, 645–666, 683, 685, 687, 759, 771 Mittelstädt, Kuno 435 Mittenzwei, Werner 180, 538 Mittig, Rudi 250 Mittmann, Wolfgang 716 Mitzlaff, F. (Buchdruckerei) 670 Mock, Heinrich 579–580, 584 Möckel, Klaus 634, 716, 768 Modrow, Hans 304 Mohn, Reinhard 84 Mohr, Arno 178 Mohrbooks 636 Moissejew, Igor 633 Molkenbur, Norbert 448 Molo, Walter von 242 Monod, Martine 640 Montaigne, Michel de 618 Montand, Yves 570 Moosdorf, Wilhelm 126, 128 Moravia, Alberto 294, 526, 532, 611, 627 Morche, Josef 312 Morgenstern, Christian 604 Morgner, Irmtraud 214, 253, 340, 533–535, 538 Morosow, Wassili 81 Mosse-Verlag 580
791 Mrożek, Słavomir 631 Mucke, Dieter 705 Mueller-Stahl, Armin 159 Mühlestein, Hans 633 Mühsam, Erich 631 Müller, Armin 685 Müller, Christa 534 Müller, Gotthold 726–728, 747 Müller, Heiner 159, 251, 256, 347, 535, 745 Müller, Joachim 590 Müller, Johannes (Universität Leipzig) 488 Müller, Johannes (Verlag Das Neue Berlin) 711 Müller, Ludolf 244 Müller, Rolf F. 696 Müller, Siegfried 593 Müller, Wilhelm 675 Müller-Pohl, Erika 683 Mundstock, Karl 648 Muschg, Adolf 541, 635, 637 Musil, Robert 284, 300, 337, 631 Mussler, Werner 442 Mytze, Andreas W. 535 N Nabokov, Vladimir 631, 636 Nagel, Gerd 701 Nationale Forschungs- und Gedenkstätten 536, 581, 590, 594–596 Nationale Volksarmee, Zeitschriften- und Buchvertrieb 199–200 Naundorf, Hans 33 Nelken, Dinah 285 Nelken, Peter 698–701 Neruda, Pablo 625–626, 634, 746, 758 Neubauer, Barbara 737 Neubert, Rudolf 675 Neubert, Werner 343 Neuer Weg → Verlag Neuer Weg Neuer, Heinz 442, 444, 448–449, 472 Neues Berlin → Verlag Das Neue Berlin Neues Leben → Verlag Neues Leben Neuhaus, Barbara 715 Neumann Verlag 285 Neumann, Adolf 548, 551 Neumann, Alfred 450 Neumann, Gert 304 Neumann, Hanns 551–552 Neumann, Oskar 249 Neumann, Robert 362, 368
792 Neutsch, Erik 297, 300, 648–649, 655, 658 Nicolaische Verlagsbuchhandlung 553 Niekisch, Ernst 239, 290, 388, 550, 554, 562 Niemeyer, Hermann 401 Niemeyer, Max 83, 267 Nietzsche, Friedrich 301, 610, 731 Nikolajewa, Galina 641 Nilin, Pawel 290, 641 Nin, Anaïs 631 Nitschke, Helmut 683, 688 Nitzsche, Ernst 425, 442 Nizan, Paul 604 Noack, Kurt 702 Noglik, Gerd 646 Noll, Dieter 350, 529, 731 Nooteboom, Cees 631, 637, 643 Norden, Albert 699 Novak, Helga M. 252 Nowak, Jürgen 707 Nowojski, Walter 343 Nowotny, Joachim 339 Nurpeissow, Abdishamil 540 Nußbacher, Konrad 726 Nußbaum, Gerald 442, 449 O O’Brien, Flann 637 O’Casey, Sean 614 Obermann, Karl 561 Obluda, Hermann 730, 732–733 Oe, Kenzaburo 637 Oehme, Matthias 689, 722 Oelsner, Lieselotte 435, 442, 445 Oelßner, Alfred 95 Oelßner, Fred 293, 693–695, 699 Oestreich, Paul 675 Oettingen, Hans von 285 Offermanns, Ernst 419 Offizin Andersen Nexö 741 Okudshawa, Bulat 639 Olbracht, Ivan 677 Olden, Balder 535 Opetz, Albrecht 417 Opitz, Karlludwig 242 Opitz, Roland 738, 743, 747 Ortega y Gasset, José 303, 631, 636 Orwell, George 303–304, 631, 688 Osberghaus, Ulrich 450 Ostrowski, Nikolai 762
R eg i s te r Ostthüringische Verlagsanstalt 689 Oswald-Köhler, Heike 690 Oswalt, Heinrich 551, 570–571 Oswalt, Heinrich August 547 Oswalt, Wilhelm Ernst 547, 551 Ottenberg, Hans-Günter 745 Otto, Herbert 340 Otto’sche Buchhandlung (Leipzig) 74, 80 Ottwalt, Ernst 535 P Paeschke, Gustav 115, 126, 128, 133 Paketaustauschstelle des Börsenvereins 96, 411 Panitz, Eberhard 648 Pankow, Klaus 748 Pannach, Gerulf 348 Panowa, Vera 290 Papenfuß-Gorek, Bert 254, 540–541 Papierfabrik Fockendorf 577 Papierfabrik Wiede (Rosenthal) 577 Papierkommission des ZK der SED 506 Paracelsus 555 Parey, Paul 120 Paris, Helga 254 Pätsch, Gertrud 587 Paul, Konrad 535 Penham, Daniel 73 PEN-Zentrum Bundesrepublik → Deutsches PEN-Zentrum (Bundesrepublik) PEN-Zentrum Deutschland 357–362 PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland 357 PEN-Zentrum Ost und West / PEN-Zentrum DDR 148, 244, 252, 277, 357–386 Penzoldt, Ernst 240 Perthes, Friedrich Christoph 477 Perthes, Justus 83, 88, 430 Peter, Laurence J. 304, 631 Petermänken Verlag 285 Petermann, A. G. 714 Petermann, Edgar 75 Petermann, Georg 74, 80 Peter-Paul-Verlag 498, 504 Petersen, Hans 634–635, 637 Petersen, Jan 242 Petersen, Leiva 419, 425, 682 Peterson, Bruno 289, 434, 553 Petronius 556 Petry, Jürgen 442, 445, 449
R eg i s te r
793
Pfanne, Heinrich 675 Pfeiffer, Hans 674, 714 Pflug, Lucie 263, 273, 278, 407, 440, 528 Pieck, Arthur 711 Pieck, Wilhelm 84, 175, 404, 458, 527, 711 Pieper, Katrin 442, 448 Pietraß, Richard 639 Pinkus, Theo 17, 20, 636 Pirckheimer-Gesellschaft 556 Pischner, Hans 393 Piwitt, Hermann Peter 247 Platonow, Alexej 638, 642 Plautus 593 Plenzdorf, Ulrich 159, 165, 300, 302, 348, 375–376 Plievier, Theodor 18, 88, 524, 535, 673 Poche, Klaus 251, 349–350 Poe, Edgar Allan 611 Poeschel, Carl Ernst 606 Pohl, Gerhart 389, 729 Pol Pot 202 Polišensky, Josef 561 Polt, Gerhart 636 Pondelik, Friederike 741 Pophal, Rudolph 675 Popp, Ursula 537 Postzeitungsvertrieb → Deutsche Post Potsdamer Verlagsgesellschaft 549–551, 553 Pound, Ezra 635 Pozner, Vladimir 625–626 Pradel, Elvira 737, 738–739 Pratolini, Vasco 629 Presseamt des Ministerrats der DDR 273, 291, 695, 700 Prichard, Katharine S. 625 Prisma-Verlag 418, 600, 682 Progress-Verlag Fladung 363 Pröhmer, Jürgen 689 Proudhon, Pierre-Joseph 547 Proust, Marcel 284, 300, 526 Pruggmayer, Egon 619 Pulatow, Timur 639 Püschel, Walter 703 Puschkin, Alexander 504, 537, 550, 566, 585, 728, 745 Pustkowski, Reginald 442, 444, 449 Putrament, Jerzy 625–626 Pynchon, Thomas 631, 635 Q Quos, Roland
449
R Raabe, Wilhelm 555, 683 Rabelais, François 672 Raddatz, Fritz J. 161, 241, 627–628, 637 Radtke, Günter 687 Ragwitz, Ursula 263, 379, 440, 443, 662, 742 Rammelt, Arno (Buch- und Musikalienhandlung Rammelt, Halle) 419, 425–426, 434 Rasputin, Valentin 642 Rathenow, Lutz 302, 318–325 Rauch, Karl 77, 79–81, 637 Rauwolf, Louis 696 Recknagel, Rolf 744 Reclam → Verlag Philipp Reclam jun. Reclam, Anton Philipp 725, 747, 749 Reclam, Carl 725 Reclam, Ernst 16, 18, 77, 99–100, 144, 146, 401, 436, 727–732, 734–735, 737, 749 Reclam, Hans Emil 725–726 Reclam, Hans Heinrich 725 Reclam, Hedwig Ottilie 725 Reclam, Heinrich 729–731, 733, 735, 737, 740, 743 Reclam, Ilse 729, 732, 735, 737 Reclam, Lieselotte 729, 732, 735, 737 Reclam, Margarethe 728–729, 735, 737 Reclam, Philipp Ernst 725–726 Reclam, Philipp Hans Rolf 726 Reclam, Rolf 729–731, 733, 735, 737, 740 Redlin, Ekkehard 720 Redmann, Georg 715 Referat Verlage, Buchhandel, Leihbüchereien im Magistrat der Stadt Berlin 32, 107, 109, 115, 121 Referat Verlagswesen und Literatur in der Deutschen Verwaltung für Volksbildung 30–31 Regler, Gustav 535 Reher, Lothar 604, 633, 639–640, 739, 755, 757, 764–765 Reichmann, Felix 9, 73 Reich-Ranicki, Marcel 161, 244, 247, 637, 650 Reichskulturkammer 129 Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda 548–549 Reichsschrifttumskammer 72, 335, 417, 548, 602, 617
794 Reichsschule des Deutschen Buchhandels 477 Reimann, Brigitte 214, 392 Reinhart, Balthasar 609 Reinhart, Peter 609 Reinhold, Albrecht 449 Reinig, Christa 245–246 Reinowski, Werner 278 Renft, Klaus 348 Renn, Ludwig 388, 525 Rentzsch, Egon 295 Repke, Erich 584 Reschke, Thomas 639, 641–642 Reso, Martin 656 Richert, Ernst 10 Richter, Hans Werner 240–242 Richter, Marianne 295 Richter, Stefan 746–749 Richter, Trude 657 Richter, Walter 426 Richter, Wolfgang 554, 556, 563 Riemer, Kurt 702, 711 Riemerschmidt, Ulrich 549–554, 556, 563 Rilke, Rainer Maria 388, 607 Rilla, Paul 389, 729, 734 Rincón, Carlos 75 Rinecker, Wolfgang 687 Rinser, Luise 583 Ritsos, Jannis 640 Ritter, Heinz 647 Roa Bastos, Augusto 634 Robeson, Paul 182 Robespierre, Maximilien 290 Roch, Herbert 389 Rödel, Marion 448 Rodenberg, Hans 185 Röder, C. G. 732 Röderberg-Verlag 741 Rodrian, Fred 442, 502 Röhl, Ernst 696, 706 Rohn, Reinhard 571 Röhner, Eberhard 395 Rohrer Verlag (Brünn) 9 Rolland, Romain 530, 548, 550–551, 555, 557 Rolle, Otto 576 Rönsch, Ingrid 637 Rönsch, Rainer 637 Rosenthal, Michael 448 Roßbergʼsche Buchhandlung (Leipzig) 80 Rotbuch Verlag 153, 161, 247
R eg i s te r Röth, Erich 499 Roth, Herbert 182 Roth, Joseph 542, 602 Roth, Philip 602 Rötzsch, Helmut 445 Rousseau, Jean-Jacques 563, 672 Rowohlt Verlag 14, 18, 153, 156, 242, 322, 532, 535, 540, 562, 569, 628, 637, 736, 740, 753, 761 Rowohlt, Ernst 18, 144, 156, 239, 388 Różewicz, Tadeusz 639–640 Rubiner, Ludwig 602 Rücker, Fritz 551 Rücker, Wilhelm 580–596 Rüddiger, Kurt 434, 442 Ruge, Wolfgang 569 Rühl, Jens 442 Rühl, Jutta 442 Rühmkorf, Peter 256, 611, 634 Rulfo, Juan 634 Ruppert, Hans 595 Rusch, Heinz 732 Rütten & Loening 15, 93, 148, 165, 274– 275, 277, 284, 290, 300, 304, 529–532, 536–537, 541–543, 547–572, 625, 711, 763, 767, 771 Rütten, Joseph 547 Rytchëu, Juri 626 S Sachs, Hans 531 Sachs, Heinz 646, 648–653 Sachsenverlag 87, 285, 521, 573, 582, 684 Sadoveanu, Mihail 629 Saenger, Dr. Werner 33, 89 Safonow, Wadim 633 Saint-Exupéry, Antoine 637 Sakowski, Helmut 340 Salinger, Jerome David 300, 630 Saltykow-Schtschedrin, Michail 703 Sammlung Dieterich → Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Sandberg, Herbert 292 Sander, Ernemann 676 Santo Vanasia GmbH 19 Sarkowski, Heinz 120, 609 Sartre, Jean-Paul 294, 526, 532, 604 Sauer, Hubert 682 Scammell, Michael 375, 378 Schade, Karin 689
R eg i s te r Schädlich, Hans Joachim 250 Schälicke, Fritz 17, 95, 419, 425, 625 Schaller, Rudolf 566 Schallnau, Thomas 717 Schallück, Paul 558 Schauer, Georg Kurt 9, 17, 76–77 Schauß, Hans-Joachim 651, 741 Schdanow, Andrei 177, 400, 405 Schebera, Jürgen 445 Schedlinski, Reinhard 541 Schemjakin, Fjodor 45 Scherfig, Hans 625–626 Scherzer, Landolf 685 Schibli-Doppler (Antiquariat) 618 Schiele, Otto 523–524 Schill, Ferdinand von 555 Schiller, Friedrich 179, 242, 585, 591, 728 Schirdewan, Karl 293, 413, 732 Schirrmacher, Frank 541 Schlechte, Manfred 448–449 Schlenstedt, Silvia 392–393 Schlesinger, Klaus 159, 302, 348–350 Schlösser, Anselm 566 Schlosser, Hanns Kristian 540–541 Schlotterer, Christoph 247, 743 Schmalz, Rudolf 425, 434–435, 441–442, 444 Schmidt, Arno 566, 604, 631 Schmidt, Erich 119, 125–138 Schmidt, Gundel 679–681 Schmidt, Günther 419 Schmidt, Heinz 292, 698–699 Schmidt-Elgers, Paul 674, 679–682, 688 Schmitt, Erich 703, 705 Schmuhl, Wilhelm 577 Schnabl, Siegfried 683 Schneider, Hans 687 Schneider, Robert 479 Schneider, Rolf 159, 247, 251, 302, 347, 350, 375, 528, 535 Schnell, Robert Wolfgang 245 Schnelle, Kurt 738 Schnitzler, Sonja 703 Schnurre, Wolfdietrich 244, 559–560 Schöbel, Heinz 419, 613–615 Schober, Rita 377 Schoeller, Alexander 608 Schöfer, Erasmus 245 Scholochow, Michail 627–629, 638, 746 Scholtis, August 388 Scholz, Gerhard 560, 587
795 Schonauer, Franz 247 Schönbrunn, Walter 675 Schopenhauer, Arthur 611 Schöps, Paul 728 Schorlemmer, Friedrich 543 Schrader, Fritz 425 Schrader, Karl 696–697, 701, 705 Schreck, Joachim 528, 532 Schreier, Erich 286 Schreyer, Wolfgang 712–719 Schriftstellerverband der DDR 148, 241– 243, 245–248, 251–252, 255, 262, 270, 275, 281, 295, 311–312, 326, 333–355, 363–364, 369, 373–375, 437, 442, 506, 517, 557, 637, 683, 687, 742 Schröder, Ralf 641–642 Schroeder, Max 389, 523–535, 528, 531, 533 Schrottke, Max 445 Schubart, Christian Friedrich Daniel 531 Schubert, Dieter 349–350 Schubert, Franz 584 Schubert, Günter 534 Schubert, Helga 534 Schuder, Rosemarie 340, 531, 557–558, 566, 732 Schukow, Georgi 7, 43 Schukschin, Wassili 639 Schulz, Bruno 640 Schulz, Hans 448 Schulz, Max Walter 337, 339, 344 Schulz, Regine 720, 768 Schulz, W. M. 75, 80 Schulze, Axel 532 Schulze, Friedrich 729 Schulze, Herbert 445 Schulze, Katharina 696 Schumann, Frank 689 Schünemann, Carl 617–619 Schuster, Herbert 442, 445 Schütt, Peter 249, 255 Schütte, Wolfram 541 Schütz, Adolf 581 Schutzverband Deutscher Autoren 49, 128, 130, 239, 333–334, 336 Schwabe, Wilmar 89 Schwaen, Kurt 584 Schwartzkopff Buchwerke (Verlag) 352 Schwarz, Volker 450 Schwarz-Bart, André 640 Schweichel, Robert 554
796 Schweitzer, Wilhelm (Buchhandlung, Dresden) 425 Schwimmer, Max 732, 736 Schwitters, Kurt 631 Seemann, E. A. 13, 33, 88, 275, 319, 408, 502, 504–505, 609, 728, 735, 767, 772 Seghers, Anna 18, 45, 137, 239–241, 245, 251, 265, 326, 338–339, 347–348, 359, 442, 524, 529–529, 532, 536, 602–603, 754, 759 Seidel, Gerhard 744 Sektor Verlage in der Abteilung Wissenschaft, ab 1973 in der Abteilung Kultur des ZK der SED 263, 273, 528 Selber, Martin 718 Selbig, Klaus 281, 302, 742 Selbmann, Fritz 79–80, 339 Selle, Karlheinz 281, 294, 304, 419, 445, 448, 502 Sellin, Wolfgang 281, 289, 703, 706, 711, 714 Semjonow, Wladimir 177 Semprun, Jorge 637, 640 Seven Seas Publishers im Verlag Volk und Welt 633, 755, 757, 771 Sewak, Paruir 639 Seybold, Carl 549 Seydel, Heinz 698 Seyppel, Joachim 251, 350 Shakespeare, William 557, 566, 589, 725, 728, 731 Shaw, Elizabeth 696 Shaw, Georg Bernard 627 Shaw, Irvin 629 Siebe, Hans 716 Siebenstädt, Ingeburg 716 Sielaff, Wolfgang 488 Simenon, Georges 637 Simmel, Johannes Mario 285, 540 Simmel, Paul 712 Simon, Claude 746 Simons, Erich 645 Singer, Adelgunde 580 Singer, Isaac 631, 640 Sitte, Willi 192 Sjowall, Maj 630 Slobin, Stepan 555 Smirnow, Juri 81 Sobottka, Gustav 84 Sobottka, Ursula 118 Sokolow, Michail 12
R eg i s te r Solotuchin, Pjotr 81–82, 85 Solschenizyn, Alexander 346, 540, 636 Sommer, Ernst 678, 683 Sophokles 593 Sostschenko, Michail 288 Sowjetische Militäradministration in Deutschland 5–139, 143–145, 147, 177–178, 399–401, 403–404, 407–409, 417, 458–460, 496–497, 547–550, 552, 573–575, 577, 582, 584, 595, 602, 607, 613, 625, 645, 667, 670, 711, 727–729, 758 Spörl, Ulla 690 Sportverlag 273, 276, 291, 501, 757 Springer, Julius 108, 118, 120–121 St. Benno-Verlag 222 Staatliche Hochschule für Musik Weimar 584 Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten 178, 262, 283, 341, 594 Stade, Martin 302, 349 Stalin, Josef 284, 287, 293, 400, 411–413, 527, 620, 626, 640, 729 Standard-Verlag 593 Staude, Elwin 33, 89 Stave, John 696 Steinbeck, John 627, 635 Steinberg, Werner 688 Steiner, Gerhard 587, 595 Steinhausen, Ursula 683, 691 Steinkopff, Theodor 33, 83, 89, 99–100, 438 Steinmüller, Angela 722 Steinmüller, Karlheinz 722 Stelzig, Reinhard (Buchhandlung, Leipzig) 418 Stenbock-Fermor, Alexander 365 Stendhal 536, 555, 618 Stengel, Hansgeorg 583, 696, 700, 703 Stern, Jeanne 376 Stern, Kurt 340 Sternheim, Carl 607 Stevenson, Robert Louis 618 Steward, Major 126–129 Stichnote, Eduard 14, 427 Stifter, Adalbert 611 Stocker, Helmuth 286 Stolpe, Heinz 590 Strahl, Manfred 340 Strahl, Rudi 340, 703 Stranka, Walther 583
R eg i s te r Stratil, Karl 672, 728–729 Streller, Siegfried 536 Strempel, Horst 178 Strien, René 543, 571 Strittmatter, Erwin 200, 242, 246, 297, 301, 339–340, 523, 529–530, 538, 641 Strugazki, Arkadi 638, 720, 768 Strugazki, Boris 638, 720, 768 Strützel, Dieter 647, 649 Sudakov, Oberstltn. 134 Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer / Suhrkamp Verlag 108, 150, 152, 157, 165, 243, 249, 326, 532, 538, 603, 609, 613, 631, 637–638, 721 Suhrkamp, Peter 136, 144 Süß, Richard 738 Süverkrüp, Dieter 249 SWA-Verlag 12, 46, 87, 144, 728, 732 Swift, Jonathan 557, 566 Syberberg, Rüdiger 359, 361 T Tamm, Erich 425–426, 434–435, 442 Tamm, Irma 93, 110 Tauchnitz Verlag 83, 753 Tauchnitz, Christian Bernhard 753 Teller, Jürgen 740, 744, 746 Tendrjakow, Wladimir 638–639, 642, 764 Tenzler, Wolfgang 448 Teubner, B. G. 14, 20, 78, 83, 148, 408, 437, 445 Thackeray, William 555, 566 Thalbach, Katharina 348 Thalheim, Hans-Günther 530, 560, 594 Thelemannsche Buchhandlung (Weimar) 580 Thews, Günther 281, 295 Thiele, Eckhart 639 Thieme, Georg 28, 33, 77, 88–89, 147, 489 Thun, Nyota 628 Thüringer Druckerei- und Verlagsanstalt Hugo Herzau 575 Thüringer Volksverlag → Volksverlag Weimar Thüringische Buchhandelsgesellschaft 92 Thüringische Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen 11, 34, 88, 582, 670 Thürk, Harry 583, 648, 713, 716–719 Ticha, Hans 706 Tieck, Ludwig 683 Tiemann, Walter 428
797 Tietz, Rainer 449 Tilgner, Leo 676 Timm, Heinrich 79, 81 Timm, Uwe 249, 534 Toller, Ernst 602, 604, 673 Tolstoi, Alexej 721, 768 Tolstoi, Lew 530, 537, 555, 566, 672, 728, 754 Töpelmann, Sigrid 534, 537 Tourist Verlag 442 Trakl, Georg 137, 745 Tralow, Johannes 240, 277, 285, 359–366 transpress Verlag 274, 295 Tranströmer, Tomas 746 Traven, B. 626–627, 634, 744 Traxler, Hans 285 Tretjakow, Sergej 744 Tretner, Andreas 748 Tribüne-Verlag (Weimar) 574, 576, 578, 580 Trifonow, Juri 633, 639, 641–643 Trufanow, Nikolai 80–81 Truman, Harry S. 78, 100, 399, 457 Tschechow, Anton 12, 530, 537, 555, 566, 618, 728 Tschesno-Hell, Michael 17, 625 Tschiladse, Otar 369 Tschörtner, Hans-Dieter 633 Tschörtner, Ilse 639 Tucholsky, Kurt 585, 603, 627–628, 637, 703 Tucholsky, Mary 627, 729 Tulpanow (Tjulpanow), Sergej 29, 45, 85, 98 Tumler, Franz 247 Turba, Kurt 185 Turgenjew, Iwan 537, 550, 566, 672 U Uhlendahl, Heinrich 81 Uhse, Bodo 183, 240–241, 339, 364–366, 524–525, 528, 532, 625, 729 Ulbricht, Walter 84, 127, 150–151, 184– 185, 187, 191, 194, 223, 284, 288–289, 292–293, 295, 299, 301, 372, 404–405, 413, 416, 434, 439, 458, 468, 473, 486, 488, 526, 553, 560–561, 582–583, 599, 646, 651, 653, 694, 699, 732, 756, 761 Ullstein Verlag 321, 323, 551, 563, 684, 769 Undset, Sigrid 548, 550–551, 555 Unger, Fred 714
798 Union Verlag 222 Universitätsbuchhandlung (Berlin) 426 Unseld, Siegfried 152, 609–610 Unterhaltung und Wissen (Buchhandlung, Potsdam) 92 Unwin, Stanley 137 Updike, John 300, 635, 764 Urania-Verlag 38, 274, 289, 425, 501, 514– 515, 517, 757, 760, 762, 766, 769–771 Vargas Llosa, Mario 634 VEB Bild und Heimat 274 VEB Buchexport → Buchexport VEB Deutscher Verlag für Musik 408, 418 VEB Fachbuchverlag 34, 40, 89, 93, 274, 288, 291, 294, 416, 419, 434, 437, 442, 467, 517, 609, 614, 762, 771 VEB Friedrich Hofmeister 418, 585 VEB Landkartenverlag 274, 285 VEB Verlag für Buch- und Bibliothekswesen 416, 437, 498 VEB Verlag Technik 320, 419, 498 VEB Verlag Volk und Gesundheit 408, 668, 684, 760, 771 Verband der Verlage und Buchhandlungen Berlin-Brandenburg e.V. 138 Verband Deutscher Schriftsteller in der IG Medien (VS) 148, 252, 255, 333, 351 Verbano-Verlag 580 Vereinigung der Bühnenverleger und Bühnenvertriebe 316 Vereinigung der Volkseigenen Verlage 268– 269, 730, 732 Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) beim Ministerium für Kultur 407, 419, 462, 730, 737 Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Druck 730, 732 Verlag Chemie 14 Verlag Das Neue Berlin 271, 273–274, 276, 281, 285, 301, 304, 547, 553, 563, 702, 705, 707, 711–724, 756, 765–766, 768, 770–772 Verlag der Kunst 10, 93, 275, 281, 579, 761, 771 Verlag der Nation 153, 166, 222, 277, 285– 286, 290, 425, 434, 556–557, 583, 754– 755, 770 Verlag der Wissenschaften → Deutscher Verlag der Wissenschaften Verlag des Deutschen Hygiene-Museums 89 Verlag des Informationsamtes (Potsdam) 549
R eg i s te r Verlag des Ministeriums des Innern 756 Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung → Militärverlag der DDR Verlag Die Wirtschaft 271, 273, 289, 291, 442, 501 Verlag Enzyklopädie 274, 430, 761, 771 Verlag für Bauwesen 93, 274 Verlag für die Frau 273, 291, 501 Verlag Junge Welt 273, 501 Verlag Kultur und Fortschritt 271, 275, 277, 288, 290, 498, 501, 554, 627, 633, 638, 640–641, 754, 756, 765 Verlag Neue Musik 767 Verlag Neuer Weg 13, 32, 44, 87, 92, 95, 108, 144, 670 Verlag Neues Leben 87, 271, 289, 301, 327, 434, 442, 501, 509, 531, 648, 654, 687, 723, 754, 758, 760–762, 765–766, 771 Verlag Philipp Reclam jun. 13, 19, 28, 33, 45, 47, 77, 88, 100, 146–147, 226, 275, 304, 327, 502, 530, 547, 556–557, 568, 600, 707, 725–751, 757–759, 764, 769– 771 Verlag Tribüne 87, 267, 273, 278, 288, 291, 294, 296, 498, 530, 683, 767, 772 Verlag und Druckerei Fortschritt Erfurt → Druckerei Fortschritt Erfurt Verlag Volk und Welt 93, 150, 216, 226, 241, 251, 254, 271, 274–277, 281, 300– 301, 303–304, 442, 448, 501–502, 507, 509, 521, 537, 547, 553–564, 603, 609, 625–644, 677, 755, 757–758, 764–765, 770–771 Verlag Zeit im Bild 273, 501 Verlagsgemeinschaft Sachsen-Anhalt 88 Verleger- und Buchhändlerverband BerlinBrandenburg e.V. 138 VG Bild-Kunst 313, 328 VG WORT 310, 313, 319, 321, 328 Victor, Walther 340, 538, 573, 580–581, 583–591, 596 Viebig, Clara 712 Vierling, Hans 80 Vieweg, Kurt 292–293 Voegt, Hedwig 590 Voelkner, Benno 278 Voerster, Karl 75, 77 Vogel, Rudolf 419, 425, 445, 467 Vogeler, Heinrich 555 Voigt, Fritz-Georg 152, 392–393, 435, 442, 444, 531, 538, 565
R eg i s te r Voigtländer, Annie 534 Volckmar, Franz 732 Volckmar-Frentzel, Theodor 9, 16, 19, 73– 74, 79, 97 Volk und Buch Verlag 36, 738 Volk und Gesundheit → VEB Verlag Volk und Gesundheit Volk und Welt → Verlag Volk und Welt Volk und Wissen Verlag 13, 32, 34, 36, 39, 45, 52, 58, 87, 108, 144, 287, 294, 319, 407, 419, 740 Völker, Klaus 246–247 Volksbuchhandel 8, 14–15, 92–96, 262, 270–273, 280, 400, 405–407, 415, 417, 419–421, 425, 431–432, 434, 439, 442, 445–446, 451, 458, 464–482, 485, 521 Volksbuchhandlung Hottingen-Zürich 92, 402, 466 Volkskunstverlag Reichenbach 274 Volksverlag Weimar 40, 87, 573–598, 735 Voltaire (d. i. François-Marie Arouet) 555– 556 Vonnegut, Kurt 631, 635 Vorwärts-Verlag und Druckerei 87, 670 Vosz, Manfred 245 Vries, Theun de 625 Vulpius, Wolfgang 676 W Waalkes, Otto 636 Wächter, Bernhard 676, 680 Wächter, Roswitha 679–680 Wagenbach, Klaus 153, 159, 165–166, 243, 245, 247 Wagner, Herbert 578 Wagner, Kurt-Oskar 419 Wagner, Siegfried 273 Wahlöö, Peter 630 Walldorf, Hans → Loest, Erich Wallmann, H. G. 441 Wallraff, Günter 534 Walser, Martin 244, 248–249, 532, 534 Walser, Robert 637 Walter, Erhard 442, 444 Walter, Konrad 732, 747 Walther, Klaus 657 Wandel, Paul 30, 44, 85, 99, 412, 416 Wander, Fred 344 Wander, Maxie 253 Wandrey, Horst 293, 448
799 Wangenheim, Gustav von 388 Wangenheim, Inge von 278, 648, 685 Waniek, Fritz 449 Waples, Douglas 9, 73, 75–76, 147 Warneck, Gustav 125 Waschkies, Heide 481 Washington, George 729 Wassermann, Jakob 672, 690 Weber, Annemarie 125 Weber, Carl August 244 Weber, Hans 340 Weber, J. J. 80 Weber, Karl Heinz 715 Weber, Rolf 319 Weber, Siegfried 80 Wedding-Verlag 108 Weerth, Georg 531, 556, 625 Wegener, Christian 156 Wegener, Paul 388 Weicher, Theodor 616 Weidenheim, Johannes 247 Weigner, Felix 689 Weil, Jiří 640 Weinert, Erich 30, 44, 48–50, 52, 54, 56, 85–86, 89, 403, 555, 625–626, 668, 670, 703 Weisel, Bernhard 563 Weisenborn, Günther 18, 45, 86, 239, 359, 388–389 Weiskopf, F. C. 530, 732 Weiskopf, Grete 768 Weismann, Willi 153, 240 Weiß, Emil Rudolf 725 Weiß, Gebrüder 17–18 Weiß, Johannes 17 Weiss, Peter 532, 566, 604 Weiß, Richard 17 Weitbrecht, Wolf 688 Welk, Ehm 59, 359 Weller, Curt 17 Wellershoff, Dieter 248 Wellm, Alfred 533 Welt im Buch (Buchhandlung, Schwerin) 92 Wendler, Helga 531 Wendt, Erich 17, 296–297, 360–362, 366, 418, 426–427, 438, 477–478, 523–525, 528, 717 Wendt, Volker 762 Wenig, Ernst Karl 682–683 Wentscher, Dora 583
800 Werfel, Franz 528 Werner, Arthur 127 Werner, Susanne 755 Wernicke, Karl 614 Wetzel, Rudi 292 Weyrauch, Wolfgang 388–389 Wezel, Johann Karl 566 Wiechert, Ernst 524, 673 Wiegler, Paul 86, 550 Wiens, Paul 245–248, 299, 377 Wiese, Carlfriedrich 360–362 Wiesner, Claus Ulrich 696–697 Wilde, Oscar 604 Wilder, Thornton 637 Wilhelm, Gottfried 595 Wilhelm, Kurt 523–524 Wilk, Werner 553, 563 Willmann, Heinz 523–524 Winckler, Josef 668, 672 Winnington, Alan 630 Winzer, Otto 127 Witsch, Joseph Caspar 11, 88, 243, 603, 673 Witt, Hubert 737, 744 Wittig, Friedrich 426 Wloch, Karl 407 Wojdowski, Bogdan 640 Wolf, Christa 159–161, 165, 193, 214, 246, 249–251, 253, 256, 279, 295, 297, 299, 321, 339, 346–347, 374–376, 380, 433, 523, 533, 535, 538, 541, 612, 648–655, 745 Wolf, Friedrich 45, 86, 180, 208, 359, 525, 528, 655, 672–673, 675, 734, 754, 759 Wolf, Gerhard 159, 250–251, 347, 375, 535, 541, 657–659, 745 Wolfe, Thomas 528, 635, 637 Wolff, Andreas 126, 136 Wolff, Detlef 766 Wolff, Kurt 557 Wolff’s Bücherei 126 Wollmann, Walter 689 Wollweber, Erich 293 Wolter, Horst Erich 591, 593 Woroschilow, Kliment J. 633 Wulff, Herbert 320 Wulff, Werner 18 Wülfing, Martin 73, 97 Wunderlich Verlag 17, 271 Wunderlich, Ernst 17, 88, 101–102 Wunderlich, Hans 16–17, 80, 88
R eg i s te r Würfel, Wolfgang 684 Wüsten, Johannes 683 Y Yen Pao-Yu
413
Z Zaisser, Wilhelm 346, 413 Zajdel, Janusz A. 720 Zech, Paul 668, 672, 683 Zech, Rudolf R. 89 Zeigner, Erich 78–80, 82, 91, 96–100, 401, 466 Zentrag, VOB 14, 87, 92–93, 95, 262–263, 268–269, 273, 405, 444, 485, 501, 551, 553, 576, 578, 603, 671, 694 Zentralantiquariat des Volksbuchhandels 445 Zentrale Kommission Literatur im Kulturbund 387–397 Zentralhaus für Kulturarbeit Leipzig 186, 190, 502 Zentralinstitut für Bibliothekswesen 270 Zentralstelle für Buch- und Bibliothekswesen der Stadt Leipzig 9, 12, 14, 28, 31–33, 37, 82–83, 86–88, 97, 401, 466 Zentralstelle für wissenschaftliche Literatur bei der Deutschen Staatsbiblothek Berlin 418 Zeplin, Rosemarie 534 Zicka 413 Ziegengeist, Gerhard 587 Ziemsen, A. 89, 499 Zikmund, Miroslav 627 Zille, Heinrich 705, 712 Zimmering, Max 51, 340, 343 Zimmermann, Kurt 425 Zinner, Hedda 86 Zöger, Heinz 346, 527–528 Zola, Emile 530, 536, 555, 566 Zschech, Fritz 675 Zschocke, Gerda 687 Zur Mühlen, Hermynia 535 Zweig, Arnold 240, 244, 359, 364–371, 532, 550, 589–590, 645, 672, 729, 769 Zweig, Stefan 607 Zweiling, Klaus 761 Zwerenz, Gerhard 215, 252 Zwetajewa, Marina 639, 745
Dank Ohne die Hilfe vieler Menschen und Institutionen wäre dieser Band nicht zustande gekommen. Wir danken dem Bundesarchiv Berlin, dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Berlin und Leipzig, dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, dem Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin, dem Landesarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, dem Sächsischen Staatsarchiv Leipzig, dem Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt, dem Universitätsarchiv Leipzig, dem Aufbau Verlag, der Eulenspiegel Verlagsgruppe und dem Mitteldeutschen Verlag für die Bereitstellung von Archivalien, Auskünften und Hilfe bei der Recherche. Ein spezieller Dank gilt Björn Biester, Jürgen Engler, Joachim Fischer, Magdalena Frank, Franziska Galek, Peter Gosse, Andreas Henselmann, Andreas Horn, Maren Horn, Manfred Jendryschik, Thekla Kluttig, Matthias Oehme, Roman Pliske, Lutz Rathenow, Carola Staniek und Sabine Wolf. Für die Bereitstellung ihrer Fotos sind wir Siegfried Müller, Günther Prust und Helfried Strauß zu Dank verpflichtet, Gabriele Ballon für die Anfertigung zahlreicher Scans.
https://doi.org/10.1515/9783110471229-034
Die Autorinnen und Autoren des Bandes Hans Altenhein, Dr. phil., geb. 1927. Hon.-Prof., Verlagsbuchhändler und Buchhandelshistoriker, war Lehrbeauftragter in Darmstadt, Frankfurt am Main und Mainz bis 2002, Gründungsmitglied im Leipziger Arbeitskreis zur Buchgeschichte (1990). Zuletzt erschien die Aufsatzsammlung Bücher zwischen zwei Kriegen. Verlagsgründungen im frühen 20. Jahrhundert (2021). Detlef Bluhm, geb. 1954, landete nach einem abgebrochenen Studium der Religionspädagogik und Theologie im Buch- und Verlagswesen. Nach Tätigkeiten in Buchhandlungen, Verlagen und als freier Handelsvertreter wirkte er von 1992 bis 2019 als Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Landesverband BerlinBrandenburg e.V. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Romane und kulturgeschichtliche Sachbücher, die in insgesamt sechs Sprachen übersetzt worden sind. Außerdem hat er zwei Fotobildbände veröffentlicht und Fotografien zu zwei literarischen Anthologien beigesteuert. Seine fotografischen Arbeiten wurden in mehreren Ausstellungen gezeigt. Seit 2003 ist er Vorsitzender des Literaturhaus Berlin e.V. Juliane Bonkowski, M.A., geb. 1985 in Wolfen, gelernte Verlagskauffrau, studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Buchwissenschaft an der Universität Leipzig. Im Mittelpunkt ihrer Forschung für die Abschlussarbeit stand der Mitteldeutsche Verlag Halle (Saale) während der 1970er und 1980er Jahre. Sie war gemeinsam mit Siegfried Lokatis an der Organisation der buchwissenschaftlichen Konferenz »Die Argusaugen der Zensur« im September 2019 beteiligt. Seit 2020 arbeitet sie in Leipzig als Online-Redakteurin für ein Newsportal. Dorothée Bores, Dr. phil, geb. 1973 in Trier, studierte Buchwissenschaft, Deutsche Philologie und Kunstgeschichte an der Gutenberg-Universität Mainz. Danach war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mainzer Institut für Buchwissenschaft und übernahm einen Lehrauftrag an der Ludwig Maximilians-Universität München. Ihre Dissertation schrieb sie zum Thema Das PEN-Zentrum in der DDR 1951 bis 1998. Ein Werkzeug der Diktatur? Es folgte die Herausgabe des Handbuchs PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren (Bores/Hanuschek). Als freischaffende Autorin erarbeitet sie Aufsätze, Artikel, Buchbeiträge und Vorträge, vor allem zu Themen der Buchillustration, u. a. für Imprimatur, Buchwissenschaftliche Beiträge und Lexikon der Illustration im deutschsprachigen Raum seit 1945. Seit 2019 unterrichtet sie zudem das Fach Bildende Kunst am Peter-Wust-Gymnasium, Wittlich. Matthias Braun, Dr., geb. 1949, studierte Theologie sowie Literatur- und Theaterwissenschaft. Er arbeitete von 1977 bis 1992 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im BertoltBrecht-Archiv der Akademie der Künste der DDR und von 1992 bis 2015 ebenfalls als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) mit dem Arbeitsschwerpunkt »Wirkungsweise des MfS im Kulturbereich«. Darüber hinaus lehrt Matthias Braun am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen.
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D ie A u to r in n en u n d A u to r en d e s B a nd e s
Gerd Dietrich, Prof. Dr., geb. 1945 in Rudolstadt/Thür., arbeitete nach dem Abitur als Hilfselektriker im EKB (Bitterfeld) und als Spinner im CFK Schwarza, studierte Geschichte/Sport an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Diplomlehrer. Von 1971 bis 1987 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Marxismus-Leninismus in Berlin, Abt. Geschichte nach 1945, Sektor 1945–1949, und von 1987 bis 1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Geschichte, Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde. 1990 Gründungs- und später Vorstandmitglied des Unabhängigen Historikerverbandes. Von 1992 bis 2010 lehrte er an der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl Zeitgeschichte. Zuletzt erschien von ihm die dreibändige Kulturgeschichte der DDR (2019). Julia Frohn, Dr. phil., geb. 1984, studierte Deutsch und Englisch (Lehramt/Studienrätin) an der HU Berlin und promovierte dort anschließend mit einer Arbeit zum Literaturaustausch im geteilten Deutschland. Seit Abschluss ihres Referendariats 2015 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Erziehungswissenschaften, derzeit an der Humboldt-Universität Berlin und der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bettina Jütte, Dr. phil., geb. 1967 in Lippstadt, gelernte Buchhändlerin, studierte Buchwissenschaft, Romanistik und Ethnologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. 2010 erschien ihre Dissertation Verlagslizenzierungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945–1949). 1990 bis 1995 war sie freie Mitarbeiterin beim Südwestfunk, 1999 bis 2001 leitende Redakteurin des Newsletters Forschungsdienst Lesen und Medien der Stiftung Lesen und des Instituts für Buchwissenschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz, 2008 bis 2009 Lehrbeauftragte für Buchwissenschaft am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Seit 1997 arbeitet sie als Redakteurin bei international tätigen Nachrichtenagenturen. Thomas Keiderling, PD Dr. phil., geb. 1967 in Berlin, leitet das Deutsche Genossenschaftsmuseum in Delitzsch und ist Privatdozent am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Er studierte Geschichte, Journalistik und Kulturwissenschaften in Leipzig und Newcastle upon Tyne sowie Bibliotheks- und Informationswissenschaft in Berlin. Dissertation 1999 und Habilitation 2010. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zur Leipziger Buch- und Unternehmensgeschichte. Jane Langforth, M.A., geb. 1982 in Freiberg, studierte Kulturwissenschaften, Kommunikations- und Medienwissenschaften sowie Anglistik in Leipzig. Ihre Magisterarbeit Reihenweise Taschenbücher. Die ersten Taschenbuchreihen der DDR bis 1959 fand Einzug in verschiedene Publikationen, u. a. im Nachschlagewerk Reihenweise. Die Taschenbücher der 1950er Jahre und ihre Gestalter (2016) von Reinhardt Klimmt und Patrick Rössler. Nach langjährigem Engagement für die Leipziger Buchwelt lebt sie heute in Mecklenburg-Vorpommern.
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Christoph Links, Dr., geb. 1954 in Caputh/Potsdam, ist Verlagshistoriker und Publizist, studierte Philosophie und Lateinamerikanistik, arbeitete für Zeitungen und Verlage, nach Aufhebung der Zensur in der DDR am 1. Dezember 1989 gründete er einen der ersten neuen Privatverlage in der DDR mit dem Schwerpunkt Politik und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, den er bis Ende 2020 leitete. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen, darunter 2009 Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. Siegfried Lokatis, Prof. Dr., geb. 1956 in Essen, seit 2006 Professor für Buchwissenschaft an der Universität Leipzig. Er studierte Geschichte, Philosophie, Archäologie und Orientalistik in Bochum und Pisa; Promotion 1992, Habilitation 2004. Er publiziert zur modernen deutschen Buch-, Buchhandels- und Verlagsgeschichte. Zuletzt erschienen Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR (2019) und der Konferenzband Die Argusaugen der Zensur. Begutachtungspraxis im Leseland DDR (2021). Hans-Jochen Marquardt, PD Dr. phil. habil., geb. 1953, studierte Journalistik, Germanistik und Hochschul-Pädagogik in Leipzig; Promotion 1984, Habilitation 1991. Er lehrte bzw. lehrt an Universitäten in Leipzig, Pretoria, Kapstadt, Frankfurt (Oder) und Magdeburg, war Direktor des Kleist-Museums in Frankfurt (Oder), Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle (Saale) und ist Beigeordneter a. D. der Stadt Halle (Saale). Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zu Heinrich von Kleist und dessen Umfeld. 2018 gründete er das Reclam-Museum in Leipzig. Reimar Riese, Prof. em., geb. 1937, 1955–1961 Buchhändlerlehre und -tätigkeit in Leipzig. 1961–1967 studierte er Bibliothekswissenschaft und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1967–1969 war er Referendar am Institut für Bibliothekswissenschaft in Berlin, anschließend Wissenschaftlicher Bibliothekar an der Deutschen Bücherei Leipzig. 1977–1992 folgte die Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Verlagswesen und Buchhandel der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig. 1993–2003 war er Professor für Buchhandel und Verlagswirtschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Buchund Verlagsgeschichte. Lisa Schelhas, M.A., geb. 1992, studierte 2011–2018 Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Literary Media in Leipzig und Bournemouth. Ihre Masterarbeit mit dem Thema Der Kulturelle Beirat in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR 1946– 1951 erschien im AGB 76 (2021). Seit 2019 arbeitet sie in der Dokumentarfilmbranche. Eva Schwarz, M.A., geb. 1993 in Bad Salzungen, studierte Buchwissenschaft, Linguistik und Medien- und Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Buchwissenschaft in Mainz und Leipzig. Sie schrieb ihre Masterarbeit zum Thema Die Entwicklung der Verlagsstadt Berlin von 1989/90 bis 2017, darauf aufbauend erschien im Jahrbuch der Leipziger Buchwissenschaft Flachware (2020) ein Aufsatz. Sie arbeitet gegenwärtig an einer Dissertation über den Wiederaufbau des Berliner Buchhandels zwischen 1945 und 1949 und ist außerdem als Projektmanagerin Verlag beim TÜV-Verband in Berlin tätig.
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Ingrid Sonntag, geb. 1953, studierte Germanistik. Sie arbeitete von 1976 bis 1982 als Lektorin im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) und von 1987 bis 1992 in den Gustav Kiepenheuer Verlagen Weimar und Leipzig. Von 1992 bis 2002 war sie als Akademiesekretär und Geschäftsführerin der Freien Akademie der Künste zu Leipzig tätig, von 2008 bis 2015 zuerst als Lehrbeauftragte, dann als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Buchwissenschaft der Universität Leipzig. In den Jahren dazwischen war sie freie Lektorin. Diese Profession übt sie bis heute aus. Letzte Veröffentlichungen: An den Grenzen des Möglichen. Reclam Leipzig 1945–1991 (2016) und Mein 68. Aufbruch nach Europa (mit Holk Freytag) (2019). Sabine Theiß, M.A., geb. 1993 in Frankfurt am Main, studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Buchwissenschaft in Leipzig und Tallinn. Heute lebt sie in Frankfurt am Main und arbeitet in der Kommunikationsabteilung eines Gesundheitskonzerns. Konstantin Ulmer, Dr. phil., geb. 1983 in Bielefeld, studierte Germanistik, Politik-, Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und promovierte anschließend mit einer literatursoziologischen Arbeit über den Luchterhand-Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben. 2020 erschien seine Geschichte des Aufbau-Verlags mit dem Titel Man muss sein Herz an etwas hängen, das es verlohnt. Er lebt als Literaturkritiker, -wissenschaftler und -veranstalter in Hamburg und ist Referent für Öffentlichkeitsarbeit in der Staats- und Universitätsbibliothek. Carsten Wurm, Dr. phil., geb. 1960, studierte Germanistik in Leipzig und promovierte 1995 mit einer Dissertation zur Geschichte des Aufbau-Verlages an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er veröffentlichte Bücher über den Aufbau-Verlag, Rütten & Loening, den Greifenverlag zu Rudolstadt und zu Erstlingswerken von Autoren im 20. Jahrhundert. Seit 2018 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Archiv der Akademie der Künste. Andreas Zimmer, Dr. phil., geb. 1978 in Mühlhausen/Thüringen, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte sowie Kulturwissenschaften in Leipzig sowie Business Administration in Göttingen. 2012 promovierte er mit einer Arbeit über den Kulturbund in der SBZ/DDR. Nach beruflichen Stationen als Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk und als Geschäftsführer einer Eventmarketingagentur in Berlin ist er seit 2012 als Abteilungsleiter für das touristischen Landesmarketing des Landes Brandenburg sowie seit 2019 als Dozent an der SRH Hochschule Berlin tätig.