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German Pages 647 [656] Year 2001
Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert
Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels herausgegeben von der Historischen Kommission
B a n d 1: D a s K a i s e r r e i c h 1 8 7 0 - 1 9 1 8
Frankfurt am Main Buchhändler-Vereinigung GmbH 2001
Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Das Kaiserreich 1870- 1918 Teil 1
Im Auftrag der Historischen Kommission herausgegeben von Georg Jäger in Verbindung mit Dieter Langewiesche und Wolfram Siemann
Frankfurt am Main Buchhändler-Vereinigung GmbH 2001
Herausgeber: Historische Kommission Ordentliche Mitglieder: Prof. Dres. h.c. Klaus G. Saur, München, Vorsitzender; Prof. Dr. Reinhard Wittmann, Oberachau, Stellv. Vorsitzender; Prof. Dr. Hans Altenhein, Bickenbach; Prof. Dr. Stephan Fiissel, Mainz; Wilhelm Hohmann, Stuttgart; Prof. Dr. Georg Jäger, München; Dr. h.c. Gerhard Kurtze, Hamburg; Dr. Wulf D. von Lucius, Stuttgart; Prof. Dr. Peter Vodosek, Stuttgart. Korrespondierende Mitglider: Dr. Jan-Pieter Barbian, Duisburg; Prof. Frédéric Barbier, Paris; Dr. Hans-Erich Bödeker, Göttingen; Günther Christiansen, Hamburg; Dr. Volker Dahm, München; Prof. Dr. Bernhard Fabian, Münster; Prof. Dr. Ernst Fischer, Mainz; Prof. Dr. John Flood, London; Prof. Dr. Herbert G. Göpfert, Stockdorf; Prof. Dr. Hans-Joachim Koppitz, Mainz; Prof. Dr. Dieter Langewiesche, Tübingen; Dr. Mark Lehmstedt, Berlin; Prof. Dr. Joachim-Felix Leonhard, Frankfurt a.M.; Prof. Dr. Alberto Martino, Wien; Prof. Dr. Ulrich Ott, Marbach/N.; David L. Paisey, London; Prof. Dr. Günther Pflug, Frankfurt a.M.; Lothar Poethe, Leipzig; Dr. Karl H. Pressler, München; Prof. Dr. Ursula Rautenberg, Erlangen; Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Raabe, Wolfenbüttel; Prof. Dr. Helmut Rötzsch, Leipzig; Prof. Dr. Walter Rüegg, Veytaux-Chillon; Dr. h.c. Heinz Sarkowski, Dossenheim; Prof. Dr. Wolfgang Schmitz, Köln; Gerd Schulz, NeuIsenburg; Herta Schwarz, Frankfurt a.M.; Prof. Dr. Wolfram Siemann, München; Friedrich Wittig, Staufen; Prof. Dr. Bernhard Zeller, Marbach/N. Lektorat und Redaktion: Dr. Monika Estermann, Pia Theil M.A.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert / im Auftr. des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hrsg. von der Historischen Kommission - Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung Bd. 1. Das Kaiserreich 1870-1918 Teil 1. / Im Auftr. der Historischen Kommission hrsg. von Georg Jäger...-2001 ISBN 3-7657-2351-7
ISBN: 3-7657-2351-7 © Buchhändler-Vereinigung GmbH Frankfurt am Main Satz: Herbert Back, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Konstanze Berner, Frankfurt am Main Druck: Kösel GmbH & Co. KG, Kempten Printed in Germany Abb. auf dem Einband: Wilhelm II. - Büste von Begas. Deutsches Historisches Museum, Bildarchiv
1
Inhalt Grußwort
5
Geleitwort
7
Einleitung (Monika Estermann und Georg Jäger) Der Weg zu einer neuen »Geschichte des Buchhandels« 9 -Das Vorgängerwerk: der »Kapp-Goldfriedrich« 12 - Leitlinien des neuen Projekts 15
9
1 1.1
Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen Geschichtliche Grundlagen und Entwicklung des Buchhandels im Deutschen Reich bis 1871 (Monika Estermann und Georg Jäger) 17 Entstehung und Ausbau des modernen Buchmarktes 17 - Buchproduktion im 19. Jahrhundert: Die Dynamik des Marktes wirdfreigesetzt 18 - Lieferungsausgaben und Reihenbildung 20 - Leserevolutionen und Lesepropaganda 21 - Lesegesellschaften und Leihbibliotheken 22 - Die zweite Leserevolution 24 - Volksbildungsbestrebungen 25 - Emanzipationsbewegungen der Schriftsteller 26 - Modernisierung des buchhändlerischen Geschäftsverkehrs 28 - Die Organisation des Buchhandels und die Durchsetzung einer Wirtschaftsordnung 31 - Selbstverständnis und Selbstbild 34
1.2
Entwicklungsbedingungen im Kaiserreich (Dieter Langewiesche) 42 Die zwei Gesichter des ersten deutschen Nationalstaates 42 - Bruch und Erbe: Der historische Ort des Kaiserreichs in der deutschen Nationalgeschichte 44 - Das Kaiserreich als Wachstumsgesellschaft 51 - Politische Ordnung und politische Kultur 70
2 2.1
Recht, Staat und Öffentlichkeit Verbote, Normierungen und Normierungsversuche (Wolfram Siemann in Verbindung mit Andreas Graf) Das Verhältnis von Recht, Staat und publizierender Öffentlichkeit: Allgemeine historische Voraussetzungen 87 -Das >kurze 19. JahrhunderU (1815-1871) und das Presserecht 88 - Das Reichspreßgesetz von 1874 92 - Presse, Buchhandel und Verlagswesen in Abhängigkeit von der Gewerbeordnung 93 - Presse, Buchhandel und Verlagswesen in Abhängigkeit vom Strafrecht 95 - Verbote aus politischen Gründen und das >Sozialistengesetz< 100 - Verbote polnischer Literatur 104 Verbote aus sittlichen Gründen und die >Lex Heinze< 107 - Verbote aus religiösen Gründen 112 - Theaterzensur 113 - Zensur im Ersten Weltkrieg 117
87
2.2 2.2.1
Recht im Buchwesen Die Entwicklung des Urheberrechts (Martin Vogel) 122 Zur Rechtsentwicklung vor 1871 123 - Die Urheberrechtslehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1 2 5 - D i e Gesetzgebung von 1870/1876 128 - Die Internationalisierung des Urheberrechts 131 - Zu den einzelnen Bestimmungen der Berner Übereinkunft 133 - Das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst von 1901, das Verlagsgesetz von 1901 und das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie von 1907 134 - Bedeutende Entwicklungen nach der Jahrhundertwende 137
2.2.2
Die Entwicklung des Verlagsrechts (Martin Vogel) 139 Die urheberrechtlichen Grundlagen des Verlagsrechts am Ende des 19. Jahrhunderts - Die Emanzipation vom Werkschutzrecht 139 - Das Reichsgesetz vom 11. Juni 1870 141 - Wirtschaftliche und organisatorische Grundlagen des Verlagsrechts 143 Entstehung neuer urheberrechtlicher Vertragstypen 144 - Organisation von Verlegern und Autoren 146 - Das Verlagsrecht in Theorie und Praxis 147 - Der Gesetzentwurf des Schriftstellerverbandes und die Verlagsordnung des Börsenvereins 149 - Das »Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst« und das Verlagsgesetz von 1901 152 - Das LUG als Grundlage des
2
Inhalt
Verlagsgesetzes 153 - Das Verlagsgesetz von 1901 154 - Nicht im Verlagsgesetz geregelte Vertragstypen 159 - Aufführungsvertrag, Bühnenverlagsvertrag, Verfilmungsvertrag 161 - Die Vertragspraxis unter dem Verlagsgesetz 162 3 3.1
Herstellungstechnik und Buchgestaltung Industrielle Buchproduktion (Peter Neumann) 170 Zögerlicher Beginn des Maschinensatzes 172 - Umbruch bei graphischen Techniken 174 - Die Druckverfahren 176 - Die mechanisierte Buchbinderei 177 - Verbessertes Papier 179 - Das Druckgewerbe im Dienst der Buchherstellung 180
3.2
Buchgestaltung (Peter Neumann) Buchgestaltung und ihre Vorbilder 182 - Vorbilder reformierter Buchkunst 183 — Der Beitrag bildender Künstler 185 - Erneuerte Schriftkunst 186 - Typographische Regeln 189 - Das neue Gesicht 190
4 4.1
Der Verlagsbuchhandel Vom Familienunternehmen zur Aktiengesellschaft - Besitzverhältnisse und Gesellschaftsform im Verlagswesen (Georg Jäger) 197 Erbfolge 197 - Teilhaberschaft 200 - Namengebung 201 - Familiensinn und verwandtschaftlicher Zusammenhalt 202 - Erbteilung und Auszahlung - Gefahren fur den Fortbestand der Firma 202 - Wilhelm Engelmann in Leipzig 203 - Ferdinand Dümmler in Bonn 204 - Umwandlung in Kapitalgesellschaften 205 - Bibliographisches Institut: Vom Familienunternehmen zur Aktiengesellschaft 206 - Risiken bei der Uberführung in eine Aktiengesellschaft 206 - Manz in Regensburg 207 Umwandlung von Presseverlagen in Aktiengesellschaften 208 - Aktiengesellschaften im Stichjahr 1908 210 - Gründungsjahre und regionale Verteilung von Aktiengesellschaften 211
4.2 4.2.1
Der Verleger und sein Unternehmen Die Verlegerpersönlichkeit - ideelle Interessen, wirtschaftliche Erfolge, soziale Stellung (Georg Jäger) 216 Die Stellung der Frau im Verlagsbuchhandel 217 - Die Verlegerpersönlichkeit Literatur- und Kulturverleger 218 - Ideelle Zielsetzungen und wirtschaftliches Erfolgsstreben 220 - Verleger-Millionäre 222 — Rudolf Mosse 225 - Andere Presseverleger 226 - Die Korns in Schlesien 226 - Buch- und Zeitschriftenverleger 227 Millionäre in Bayern 229 - Öffentliches Engagement 232 - Eduard und Albert Brockhaus 232 - Raymund Härtel und Oskar von Hase 232 - Heinrich Korn 233 Wilhelm Ernst 234 - Uberlebensnotwendig: Ein Netz von Beziehungen 235 - Orden und Titel 235 - Kommerzienräte 236 - Ehrendoktorate 238 - Integration und Konflikt 238 - Die Ausbildung des Verlegers 239
4.2.2
Das Unternehmen, Unternehmensführung und -kultur (Georg Jäger) 245 Der Verleger: >Mädchen für alles< 245 - Der Verlag: ein überschaubarer Betrieb 246 - Gliederung in Abteilungen 247 - Die Anfange des Verlagsvertreters 250 — Der Personalbestand in »gemischten« und »Gesamtbetrieben« 251 - Frauen in den technischen Betrieben und im Büro 252 - Der Betrieb: eine Gemeinschaft von Mitarbeitern 255 - Hausordnungen und Unterstützungskassen 256 Der Kleinbetrieb als Hausgemeinschaft 259
4.2.3
Das Verlagsgebäude: Das Gesicht des Unternehmens (Georg Jäger) 263 Ortswechsel von der Provinz ins Zentrum 265 - Selbstdarstellung der Firma im Verlagsgebäude 268 - Vereinigung von Verlag und technischen Betrieben in einem Gebäudekomplex 271 - Das Privatkontor des Chefs und die Repräsentationsräume 21A Wohn- und Geschäftsräume 276
4.3
Die kaufmännische Führung des Verlags: Buchführung, Kalkulation, Herstellungskosten (Georg Jäger) Verlagsbuchhaltung 281 - Kalkulation 290 - Musterkalkulationen 293 - Herstellungskosten im Verlag von Otto Spamer von 1847 bis 1872 298 - Der Deutsche
182
281
3
Inhalt
Buchdruck-Preistarif 300 - Berechnung der Satz- und Druckkosten am Beispiel eines Lehrbuches von 1905 und des Buchdruck-Preistarifs von 1908 304 4.4
Verbindung des Verlagsbuchhandels mit herstellenden Betrieben der »gemischte Betrieb« und der »Gesamtbetrieb« (Georg Jäger) 311 Zunahme gemischter Betriebe 312 - Der Gesamtbetrieb 314 - Druckereien als Verleger 316 - Carl Gerber in München 317 - Zwischen Lohndruck und Eigenverlag 319 - Bindereien als Verleger 319 - Stellenwert der technischen Betriebe 320 Friedrich Pustet in Regensburg 321 - Der Universalbetrieb von Breitkopf & Härtel 322 - Die Druckerei Stiirtz in Würzburg 323
4.5
Der Regional- und Lokalverlag mit Druckerei. Der Aufbau eines Buchverlags im Anschluß an den Kalender-, Gesangbuch-, Schulbuch- und Zeitungsverlag (Georg Jäger) 326 Beispiele gemischter Betriebe mit Zeitungsverlag: Aschendorff in Münster 326 Korn in Breslau 329 - Carl Schünemann in Bremen 332 - Gerhard Stalling in Oldenburg 333 - Der Kalenderverlag Trowitzsch & Sohn 333 - Moritz Schauenburg in Lahr 334 - Der Kalender - eine Domäne von Provinzverlagen 334 - August Mieck in Prenzlau - von der Provinzdruckerei zum Landwirtschaftsverlag 336 - H. Lühr billige Buch< eine Antwort auf den weitverbreiteten Pauperismus. Im spekulativen Buchhand e l kam in einer Zeit der Geldknappheit erstmals neue Übersetzungsliteratur in einfachen Ausgaben auf den Markt. Die Gebrüder Franckh (Stuttgart) unterboten mit einer Zweigroschenausgabe der Werke Scotts 1826 die billigste Konkurrenz um 50 %. Es »erschienen bis 1829 150 Bändchen; 1826 hatte man 25. 000, ein Jahr später 30.000 Subskribenten; die Gesamtauflage soll 3 Millionen betragen haben«. 17 Dabei handelte es sich um Sedezbändchen (Format 13x9,5 cm) mit acht Bogen zu 128 Seiten, unbeschnitten, kompreß gesetzt, mit kleinen Lettern auf dickes, graues Papier gedruckt. In der Reihe Belletristisches Ausland gaben die Gebrüder Franckh von 1843-1865 insgesamt 3.618 Bändchen heraus, jedes einzeln beziehbar. Die billigen Reihen gehen auf August Schumann, den Vater von Robert Schumann, zurück; er gilt als »Urvater des modernen Taschenbuchs«:18 Die 100 Bändchen àtr EtuiBibliothek der deutschen Classiker (1815-1827) waren »meist um die 160 Seiten stark, enthielten ein Frontispiz des Dichters oder der Hauptfigur eines Dramas, eine kurze biographische Einleitung und kosteten >roh< 8, >broschirt< 9 und >gebunden< 12 Groschen in der Subskription; der endgültige Ladenpreis lag um 50 % darüber.«19 Carl Joseph Meyer wurde als Begründer des Bibliographischen Instituts in Hildburghausen der bedeutendste »spekulative Verlegen seiner Zeit. Mit der Miniatur-Bibliothek der Deutschen Classiker (1824-1834 in 187 Bänden mit 17 Supplementen) und der Groschen-Bibliothek der Deutschen Classikerßir alle Stände (1850-1855 in 365 Bändchen) suchte er auch nach 1837, als die Klassiker durch Privilegien geschützt waren, unter Umgehung des Urheberschutzes das literarische Erbe zu kleinsten Preisen gewinnbringend zu vermitteln. Bei Lieferungswerken, die gerade für den Kolportagebuchhandel charakteristisch waren, wurden die ersten Hefte in hohen, oft sechsstelligen Startauflagen gedruckt und zu Werbezwecken verwandt. Die Käufer wurden angelockt, da sie zunächst nur wenig zahlen mußten, sich jedoch auf die Abnahme des Gesamtwerkes verpflichteten und durch die Periodizität von Lieferung und Zahlung an regelmäßigen Buchkauf bzw. an regelmäßige Ausgaben für Bücher gewöhnt wurden. Für den Verleger verminderte die Produktion in Lieferungen das Risiko, denn er regulierte die Druckauflage nach der in den meisten Fällen zurückgehenden Abnehmerzahl. Auch in der zweiten Jahrhunderthälfte erschien noch ein Großteil der Klassikerausgaben in Lieferungen. Hempels Nationalbibliothek sämtlicher deutscher Classiker z.B. war gedacht als »erste vollständige Gesamtausgabe sämtlicher >classischer< deutscher Autoren«. 20 Im Klassikeijahr 1867 zusammen mit Konkurrenten wie Reclams Universally 18 19 20
Fallbacher (Bearb.): Taschenbücher im 19. Jahrhundert, S. 40. Fallbacher, S. 17. Fallbacher, S. 16. Wittmann: Buchmarkt und Lektüre, S. 131.
1.1
G e s c h i c h t l i c h e Grundlagen und E n t w i c k l u n g
Bibliothek gestartet, Schloß die Nationalbibliothek 1879 nach 714 Lieferungen ab. Eine Lieferung kostete bei Hempel 2 112 Silbergroschen, ein Heft der Universal-Bibliothek dagegen nur 2 Sgr. und enthielt zudem auch einen abgeschlossenen Text. Daß Reclam auf die Dauer erfolgreicher war als Hempel, lag weniger am Preis als an dem vielseitigeren Programm mit einer Mischung aus Bildung und Unterhaltung. Die Universal-Bibliothek war jedoch keine singuläre Erscheinung, sie folgte vielmehr dem Vorbild der 1838 gegründeten Bibliothèque Charpentier in Paris, die in einfachster Ausstattung der Hefte ein ausgebreitetes Bildungsprogramm mit Texten von den Kirchenvätern bis zu Gegenwartsautoren vorlegte. Dieses Vorbild machte in ganz Europa Schule, vor allem auch in England und in Italien.21 Ab den sechziger Jahren kamen in großem Maße die Reihen auf, d.h. die regelmäßige Produktion vollständiger gebundener Werke unter einheitlichem Reihentitel. Die Titel dieser Reihen waren von Anfang an auf eine bestimmte Anzahl von Bänden zu einem Themenkreis konzipiert; sie aktivierten durch die thematische Vielfalt, unterschiedliche Aufmachung und akzeptable Preise jede potentielle Käuferschicht. Offene Reihen waren die »Bücher-Collectionen«, die ab etwa 1880 »gebundene Exemplare mit guter Ausstattung bei billigem Preis«22 anboten. Leserevolutionen und Lesepropaganda Die Geschichte des Lesens wird von einem Netz ineinandergreifender Faktoren bestimmt. Auch der Alphabetisierungsprozeß verlief weder linear noch einheitlich, sondern war stark nach sozialen Gruppen und Regionen verschieden. Die Lesefahigkeit war z.B. abhängig von der Bevölkerungsdichte und dem Grad der Urbanisierung, der Gewerbetätigkeit und der Konfession. Der letztere Faktor ist oft plakativ auf die Protestanten bezogen worden, denen durch Luther und seine Überzeugung von »Sola scriptura«, nur das geschriebene Wort, traditionell eine hohe Alphabetisierungsrate zugeschrieben wurde. Differenziertere Untersuchungen, z.B. von Etienne François, haben aber herausgearbeitet, daß die Konfession eine eher sekundäre Rolle spielte. Die Alphabetisierung stieg z.B. in gemischtkonfessionellen Gebieten durch die Konkurrenzsituation deutlich an. So läßt sich erklären, »warum die an protestantische Gebiete angrenzenden katholischen Gegenden wie etwa das Kurfürstentum Trier oder das Bistum Würzburg stärker alphabetisiert waren als Provinzen wie Pommern und Brandenburg, die zum durch und durch lutherisch geprägten Deutschland zu rechnen sind.«23 Der Begriff der >Leserevolution< kann für das 18. Jahrhundert leicht den Eindruck erwecken, als sei die gesamte Bevölkerung davon ergriffen worden, tatsächlich aber erfaßte sie nur einen Teil des Mittelstandes. Von einer Massenalphabetisierung kann erst im 19. Jahrhundert die Rede sein. Eine Faustregel für die Progression der Lesefahigkeit in Mittel- und Westeuropa stellte Rudolf Schenda auf: Wird 1830 ein Alphabetisierungsgrad von 30 % der über sechs Jahre alten Bevölkerung erreicht, so steigt dieser Prozent-
21 Vgl. Olivero: L'invention de la collection, S. 71-83. 22 Wittmann: Buchmarkt und Lektüre, S. 132. 23 François: Alphabetisierung und Lesefahigkeit in Frankreich und Deutschland, S. 417. - Für das 18. Jahrhundert vgl. von Wartburg-Ambühl: Alphabetisierung und Lektüre.
1 V o r a u s s e t z u n g e n und
Entwicklungstendenzen
satz pro Dekade um 10 %, »bis zu einer nahezu vollständigen Alphabetisierung am Finde-siècle«.24 Soweit das Lesen über den sonntäglichen Gebrauch des Gesangbuchs, eines Andachtswerks oder den Kalender hinausging, stellte es für die überwiegende Mehrheit der auf dem Lande lebenden Bevölkerung bis ins 19. Jahrhundert hinein ein »Überschußverhalten«25 dar, das einer starken Motivation bedurfte, exemplarisch ablesbar an Ulrich Bräkers Der arme Mann im Tockenburg (Zürich 1789). Vermittelt wurde der Übergang von einer mündlichen zu einer schriftlichen Volkskultur durch »semiliterarische Prozesse«,26 die über das Hören eines Textes oder das Sehen von Bildern verliefen: die Predigt, die man gedruckt nachlesen konnte, die Zeitung, aus der vom Pfarrer oder Schulmeister im Wirtshaus vorgelesen wurde, der Bänkelsänger auf dem Markt, der durch seinen Vortrag die Bilder erklärte und die gedruckten Hefte zu verkaufen suchte usw. All dies waren Gelegenheiten, in denen einer »Literarisierung durch Kulturkontakt«27 der Weg gebahnt wurde. Die zunehmende öffentliche Kommunikation durch die ansteigende Zahl der Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, die leichtere Zugänglichkeit von Lektüre seit dem frühen 18. Jahrhundert führte zu einer Veränderung des Lesestils. Rolf Engelsing beschrieb dies als »intensives« und »extensives« Lesen.28 Die intensive Wiederholungslektüre konzentrierte sich auf nur wenige Bucharten wie Bibel, Katechismus (Fibel), Gesangbuch, Andachtsbücher, Kalender oder >Volksbücher^ die meist in der Region hergestellt und über Buchbinder oder Kolporteure vertrieben wurden. Diese Bücher gehörten zum Familienbesitz und wurden auch vererbt: Der Umgang mit dem Buch war durch Konventionen geregelt und in Hinsicht auf religiöse Literatur ritualisiert. Mit dem Wandel zur extensiven Lektüre immer neuer Schriften zum Zweck der Unterhaltung oder der Information ging ein Wechsel des Lesestoffs einher. An Stelle der konventionalisierten, in die Abläufe des Lebens integrierten Lektüre trat eine zerstreute, zeit- und gesellschaftsbezogene Lesehaltung. Diesen Wechsel bezeichnete Engelsing als »Leserevolution« in Analogie zur industriellen Revolution in England oder der politischen Revolution in Frankreich. Die Veränderung des Lesens bewirkte eine Veränderung aller Kommunikationsformen, auch der Mitteilung von Erfahrungen und Gedanken. Die Ablösung und das Nebeneinander beider Lesestile führten zu zeittypischen heftigen Debatten über >Lesesucht< und >LesewutVermischung< der Stände innerhalb der Gesellschaft«, 29 eine Verbürgerlichung durch den Abbau ständischer Schranken zwischen den fuhrenden Schichten: Adel, Beamte, Offiziere, Geistlichkeit und Kaufleute. Die Auswahl der Lektüre zielte auf Information und Orientierungswissen; »Aufklärung der Begriffe über die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens, der Natur, Moral, Erziehung etc.«, heißt es im Bericht über die Stuttgarter Lesegesellschaft von 1785. 30 Den Grundstock der Bibliotheken bildeten in- und ausländische politische und gelehrte Blätter sowie Rezensionsorgane, die das »Verlangen nach räsonnierender Erfassung der Welt« 31 belegen. Die Lektüre war mit gemeinsamen Diskussionen über das Gelesene verknüpft, so daß sich in den Lesegesellschaften ein staatsfreier Diskussionsraum bildete, der zur Kritik an Gesellschaft und Staat führen konnte. Somit unterstreichen die Lesegesellschaften, »in welchem Maße der gesellschaftliche Aufbruch der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland sich im literarisch-kulturellen Bereich niederschlug und hier seinen stärksten Ausdruck fand«. 32 Gesellschaftsgeschichtlich lassen sich die Lesegesellschaften unter mehreren Perspektiven betrachten: Gemeinsam belegen sie, wie stark die Lesekultur Ursache sowie Folge des sozialen Wandels war. Große Lesegesellschaften gaben sich eine Verfassung und lassen sich unter die »Vorformen des Konstitutionalismus« 33 einreihen. In ihrer inneren Organisation, die auf (geheimer) Abstimmung unter Gleichen beruhte, schlugen sich demokratische Prinzipien einer verfaßten Gesellschaft nieder. Schließlich stehen Lesegesellschaften durch die Verbindung von Selbstbildung sowie gemeinschaftlicher und gegenseitiger Aufklärung 34 in einer Entwicklungslinie zur politischen Bildung und Erwachsenenbildung. Kommerzielle Leihbibliotheken - deren erste Gründungswelle zeitgleich mit jener von Lesegesellschaften und Lesezirkeln v e r l i e f - ermöglichten den Übergang zu extensi-
29 30 31 32 33 34
Dann: Die Gesellschaft der deutschen Spätaufklärung, S. Β 445. Nach Prüsener: Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert, Sp. 469. Prüsener: Lesegesellschaften, Sp. 474. Dann: Gesellschaft, S. Β 449. Dann, S. Β 446. Prüsener: Lesegesellschaften, S. 421.
1 Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen
ver Lektüre, indem sie bei geringer Kaufkraft oder -motivation einem gesteigerten Bedarf nach Lesestoff Rechnung trugen. Durch sie wurde der Umgang mit dem Buch kommerzialisiert und radikal verzeitlicht: Es kamen die literarischen Moden auf, die das Publikum zu aktuellen Novitäten greifen ließen, und dies zu einer Zeit, als an den Kauf vieler Bücher selbst bei Wohlhabenden kaum zu denken war. 35 Flächendeckend verbreitet war das von einer Buchhandlung im Nebenbetrieb geführte Verleihgeschäft. Die Bestände, bis zu mehreren Zehntausend in großen Anstalten, waren in Katalogen erschlossen, nach denen die Kunden die Bände wählten, sie abholten oder sich zuschicken ließen. Legten die Leihbibliotheken ihre Bestände anfanglich vielfach enzyklopädisch an, so konzentrierten sich auch die größeren Geschäfte nach 1815 immer mehr auf Unterhaltungsliteratur. Lesegesellschaften wie auch Leihbibliotheken leiteten zur mediengestützten Öffentlichkeit und literarischen Industrie des 19. und 20. Jahrhunderts über. Die Lesegesellschaften waren jedoch nur von kurzer Dauer. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts bedroht, als die Regierungen im Gefolge der Französischen Revolution mit Repressalien oder Verboten gegen sie vorgingen, da man sie als Hort von Verschwörung und Umsturz verdächtigte, wandelten sie sich zu geselligen Vereinen. Als Kommunikationszentren waren Lesegesellschaften im Vormärz, im Vorfeld der Revolution von 1848, ein letztes Mal von Bedeutung. Zur Krise des Leihbuchhandels kam es im Laufe der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, zum Hauptkonkurrenten wurde die Presse mit ihrem Romanfeuilleton, 36 die die Erstveröffentlichungen an sich zog. Die zweite
Leserevolution
Die Funktionskrise der Leihbibliothek verweist auch auf die Auswirkungen der Industrialisierung im Buchhandel. Anders als bei der ersten Leserevolution, die sich im Zuge der Aufklärungsbewegung und des gesellschaftlichen Aufstiegs bürgerlicher Schichten vollzog, waren fur die zweite Leserevolution andere Faktoren entscheidend. Langenbucher hat dargestellt, daß es die technisch-ökonomischen Neuerungen waren, deren »Nutzung die >Demokratisierung< des Lesens erst eigentlich ermöglichten.« 37 Mit dem >Sieg der Technik< war die Herstellung von billigen Heftchen, Büchern oder Zeitschriften in massenhafter Auflage möglich geworden. Mehr Menschen denn je bekamen Zugang zu gedruckten Medien. Lesen und Lektüre öffneten auch den sozialen Aufstieg. Diese Revolution vollzog sich in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts, als ein wirtschaftlicher Aufschwung auf breiter Basis einsetzte. Die unternehmerische Verwendung der Technik für das Buch- und Pressewesen wurde durch das politische Umfeld ebenso befördert wie durch eine einheitliche Gesetzgebung (Gewerberecht, Urheberrechtsschutz und Pressegesetzgebung). Unter diesen Bedingungen erlebten sowohl der Verlagsbuchhandel als auch die nichtklassischen Vertriebswege wie der Kolportage- und Reisebuchhandel eine starke Expansion. In der Zeit von 1869 bis 1890 stieg die Zahl der Buchhandelsbetriebe im weitesten Sinne von 3.506 auf 7.474, also um mehr als das Doppelte. 38 Der etablierte Sortiments-
35 Jäger/Schönert (Hrsg.): Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Lebens, S. 10. Vgl. auch: Martino: Die deutsche Leihbibliothek. 36 Bachleitner: Kleine Geschichte des deutschen Feuilletonromans. 37 Langenbucher: Die Demokratisierung des Lesens, S. 16.
1.1
G e s c h i c h t l i c h e Grundlagen und E n t w i c k l u n g
buchhandel erwies sich in der zerklüfteten Massenkommunikationsgesellschaft aber als wenig effizient, vielmehr waren es die alternativen Vertriebswege, auf denen die meisten Leser erreicht wurden. Ein wichtiger Faktor dieser Revolution waren die Bildungsinitiativen von Vereinen und Kommunen, besonders die von politischen oder konfessionellen Gruppen. Neue Leserschichten gewinnen konnte man aber oft nur um den Preis der Anpassung des Angebots an deren Empfindungs- und Vorstellungsweise und Erwartungshaltung. Die damit verbundene Segmentierung in Sondermärkte und Adressatenkreise unterschiedlichen Geschmacks bedrohte die >Kulturhoheit< des Bildungsbürgertums und die Autoritäten im Erziehungs- und Schulbereich, die das >Volk< mit Kindern und Jugendlichen als Objekt sittlicher Erziehung und kultureller Bildung parallel setzten. Diese Kreise reagierten prohibitiv mit einer Bewegung gegen >Schmutz< und >Schundwertlose< literarische und künstlerische Produkte. In der Polemik gegen >Schmutz< und >Schund< wurden die Argumente gegen >Lesesucht< und >Lesewut< aus dem 18. Jahrhundert erneuert und zu einer Kampfrhetorik verfestigt. Diese Bestrebungen führten nach mehreren Versuchen von Zensurmaßnahmen, wie die Lex Heinze von 1900, zum »Gesetz zum Schutz der Jugend vor Schmutz und Schund« im Jahre 1926 (vgl. Kap. 2.1). Volksbildungsbestrebungen Die Bewertung des Lesens war auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur positiv. Breite konservative Strömungen suchten den ungehinderten Zugang zur Lektüre zu verhindern oder wenigstens zu kontrollieren. Über Jahrzehnte bestimmte diese Einstellung auch die vielfältigen staatlichen Zensurmaßnahmen. Die Befürworter einer breiten Alphabetisierung und verbesserten Kommunikation forderten in aufklärerischer Absicht die Volksbildungsbestrebungen zu utilitaristischen und humanitären Zwecken, denn die äußeren Zielsetzungen des Staatsausbaus durch Förderung der Gewerbe und der Erwachsenenbildung wie die inneren zur Beförderung kollektiver und individueller »Glückseligkeit« waren in ihren Konsequenzen weitgehend identisch. Das 18. Jahrhundert hatte zahlreiche Bemühungen um Volksaufklärung, besonders der Bauern, durch Vereine, obrigkeitliche Initiativen bzw. durch Gelehrte, Beamte oder Pfarrer hervorgebracht. Für die >Bauernaufklärung< ist das Noth- und Hülfsbüchlein fiir Bauersleute von Rudolph Zacharias Becker (1788 bei G. J. Göschen) exemplarisch, von dem bis 1799 ca. 150.000 Exemplare verbreitet wurden.40 Das Buch sollte den »Verbesserungstrieb bey dem Landmanne in Bewegung setzen« und ihn dazu anleiten, »allmählich immer richtigere Begriffe und bessere Gesinnungen selbst zu bilden«.41 Becker arbeitete ausdrücklich für Menschen, »die des Lesens ungewohnt« sind und »denen es saurer ankommt, als das Dreschen«.42 Das Buch war deshalb so aufgemacht, wie es der Bauer von
38 39 40 41 42
Langenbucher, S. 22. Jäger: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. - Storim: Literatur und Sittlichkeit. Siegert: Aufklärung und Volkslektüre. Sp. 715. Vgl. Böning/Siegert: Volksaufklärung. Zit. n. Siegert: Aufklärung und Volkslektüre, Sp. 9 3 8 f . Zit. n. Siegert: Aufklärung, Sp. 940.
1 Voraussetzungen und
Entwicklungstendenzen
seinen Kalendern und >Volksbüchern< gewohnt war (u.a. ein rotgedruckter Titel mit Illustration in Holzschnitt). Becker projektierte in privater Initiative ein einzigartiges Instrumentarium der Bildung, Erziehung und Sozialdisziplinierung der bäuerlichen Bevölkerung. Ob er aber damit sein Ziel erreichte, ist fraglich, auch die hohen Verkaufszahlen von insgesamt über einer Million Exemplare43 sind kein Indiz dafür, denn sie verdankten sich nicht der Nachfrage der bäuerlichen Adressaten, sondern der Vermittlerschicht, dem »bürgerlich-geistlichen Block von Pfarrer bis Kaufmann«, 44 die sich im Verein mit der Obrigkeit beim Ankauf und der Verteilung des Noth- undHülfsbüchleins engagierte. Diese Konstellation, in der sich die Regierenden mit einer breiten Schicht von Gebildeten zur Bauernaufklärung verbanden, zerbrach mit der Französischen Revolution. Volksbildungsbestrebungen wurden im 19. Jahrhundert geprägt von den politischen Gegensätzen zwischen liberalen, konservativen und sozialistischen Gruppierungen sowie den konfessionellen Lagern. Neben den Arbeiterbildungsvereinen standen die evangelische und katholische Volksbildung in Konkurrenz zueinander, so daß die Aktivitäten der einen Seite die andere reaktiv werden ließen. So wurde ein Jahr nach dem katholischen Borromäusverein (1844) der Evangelische Bücherverein (1845) als Gegengewicht ins Leben gerufen. In der Restaurationszeit nach 1815 und der Reaktionsära nach 1850 gerieten die liberalen Bestrebungen organisatorisch in Rückstand, doch zwang umgekehrt Ende des 19. Jahrhunderts die Effizienz der liberalen »Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung« ( 1871 ) 45 sowie die überkonfessionelle Lesehallenbewegung46 das evangelische und katholische Büchereiwesen zu einer Reorganisation. Der »Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung« gelang die Erschließung des ländlichen Raums, mit der Lesehallenbewegung entstanden die später kommunalisierten Stadtbüchereien. So läuft die Entwicklung von der Bauernaufklärung bis zur Lesehallenbewegung auf das heutige System einer sich ergänzenden öffentlichen und wirtschaftlichen Trägerschaft der Kultur zu. Emanzipationsbewegungen
der Schriftsteller
Mit der Aufklärung veränderte sich auch die Position der Produzenten der Literatur, der Schriftsteller. In der ständisch geordneten Gesellschaft waren es die Gönner und Mäzene gewesen, die die Dichter für Gelegenheitscarmina zu privaten oder öffentlichen Feiern, zu Rektoratsfestlichkeiten oder fürstlichen Geburten und Todesfallen »belohnt« hatten. Ständische Dichter, wie Hagedorn und Brockes, gehörten zum Hamburger Patriziat, andere waren als Professoren tätig. In diesem sozialen Gefüge war kein Platz für freie Schriftsteller, denn der Fiktionalität von Literatur fehlte die Legitimierung, sie galt in der Literaturtheorie weitgehend als unnütz, wenn sie keinen Wert für das Leben hatte. Eine breite mäzenatische Förderung deutschsprachiger Literatur durch die vielen deutschen Für-
43 Zahlen nach Wittmann: Der Lesende Landmann. Inders.: Buchmarkt und Lektüre, S. 1-45. Hier S. 20. 44 Siegert: Aufklärung und Volkslektüre, Sp. 994. 45 Dräger: Die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, sowie die Quellensammlung von Dräger: Volksbildung in Deutschland im 19. Jahrhundert. 46 Thauer/Vodosek: Geschichte der öffentlichen Bücherei, sowie die Quellensammlung: Die Bücherhallenbewegung.
1.1 Geschichtliche Grundlagen und Entwicklung
stenhöfe war jedoch nicht gegeben, da diese sich meist an den kulturellen Vorbildern in Italien und Frankreich orientierten. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzog sich ein erkennbarer Veränderungsprozeß, denn der sich entfaltende deutschsprachige literarische Markt wurde von einer ständig wachsenden Zahl von Schriftstellern beliefert. Die Aufklärungsphilosophie und das allgemeine Bildungsstreben förderten die Schriftstelleremanzipation ebenso wie das Entstehen eines immer größer werdenden Lesepublikums. Lessing und Klopstock gehörten zu den führenden Vertretern einer neuen Autorengruppe, die den Versuch wagte, nur vom Schreiben und den daraus erzielten Einkünften zu leben. Die Eigengesetzlichkeit des Marktes jedoch, die Schere zwischen Honoraren und Schreibproduktivität, Publikumsgeschmack und Werkbewußtsein, trieb viele Autoren bald in die Fronarbeit für die Buchhändler. Hierin hat die zeitgenössische scharfe Kritik am Buchhandel einen ihrer Gründe. Die Schriftsteller waren in dem Aufbruchsprozeß benachteiligt, der den Verlegern immer höhere Gewinne brachte, an denen sie jedoch nicht oder nur unzureichend beteiligt waren. Nach der herrschenden Rechtsauffassung erwarb der Verleger mit dem Manuskript auch das »ewige Verlagsrecht«, wonach er ohne Honorierung des Autors weitere Auflagen veranstalten konnte. Eine besondere Form der Emanzipation, auch vom Buchhandel, waren die Versuche des Selbstverlags, etwa Lessings und Bodes Projekt des Deutschen Museums von 1767 oder Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik von 1773. Die Distribution über private Kanäle mit Hilfe von Pränumerations- und Subskriptionslisten erwies sich aber als nicht effektiv genug, um als Alternative gegenüber dem etablierten Buchhandel und seinem Vertrieb über die Messe bestehen zu können. Das Experiment des freien Schriftstellers scheiterte in dieser Zeit für nahezu alle Autoren, die in ihrer Enttäuschung über den Buchhandel und das Publikum nach neuen Gönnern an den Höfen suchten. Klopstock hatte das Glück, eine Pension des Königs von Dänemark zu erhalten, während Lessing 1770 desillusioniert an seinen Bruder schrieb: »Auch die glücklichste Autorschaft ist das armseligste Handwerk«; er fand die Sicherung seiner Existenz an der Bibliothek in Wolfenbüttel.47 Die Verwirklichung eines freien Schriftstellerdaseins gelang in bescheidenem Maße nur Christoph Martin Wieland. Mit ihm ist eine entscheidende Wende in der Praxis des ewigen Verlagsrechts markiert. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 räumte einem Autor das Einwilligungsrecht bei einer Neuauflage ein. Ein Jahr später endete ein sich über drei Jahre hinziehender Musterprozeß, in dem Wieland die Loslösung von dem bisherigen Verlag seiner Einzelschriften (Weidmanns Erben und Reich) erstritt und die Gesamtausgabe seiner Werke bei Göschen veröffentlichen konnte. Bei der Entscheidung, die dem veränderten Rechtsverständnis und der Idee des geistigen Eigentums entsprach, überwog die geistige Leistung vor dem ökonomischen Wert. Das neue Urheberrechtsverständnis wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in den einzelnen deutschen Staaten kodifiziert und nach der Reichsgründung vereinheitlicht. Mit der Anerkennung des geistigen Eigentums und des Warencharakters der Literatur korrespondierte die Forderung nach Honorar. Lange Zeit hatte dies als unschicklich gegolten, das Honorar war eher gering bemessen und verschämt angenommen worden.
47 Zit. n. Kiesel/Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert, S. 79.
1 V o r a u s s e t z u n g e n und
Entwicklungstendenzen
Der Konkurrenzkampf der Verleger brachte es mit sich, daß sich die Honorarangebote steigerten, wenn es darum ging, einen berühmten Autor an den Verlag zu binden. Als Goethe 1824 die Ausgabe letzter Hand vorbereitete, wetteiferten die Verlage mit Angeboten: Brockhaus z.B. bot 50.000 Taler, andere überboten ihn; den Zuschlag erhielt für 65.000 Taler Johann Friedrich Cotta, der »nicht nur ein moralisches Recht und juristische Ansprüche auf die Ausgabe besaß.« 48 Dies war zwar ein herausragendes Beispiel, insgesamt aber hatte sich die Lage der Schriftsteller im 19. Jahrhundert trotz besserer Honorierung wenig verändert. Nach wie vor übten viele Autoren, wie z.B. E. Th. A. Hoffmann, einen Beamtenberuf oder eine andere festbesoldete Tätigkeit aus. Der Traum vom unabhängigen Schriftsteller, der von der eignen Feder und für sein Werk leben konnte, ließ sich in den seltensten Fällen realisieren. Oft übernahm der Verleger durch Vorschüsse auf ein Buch die Funktion einer Kreditanstalt, wodurch die Autoren, wie z.B. Heinrich Heine oder Karl Gutzkow, in eine Spirale der Abhängigkeiten gerieten, wenn sie fur schon verbrauchtes Geld schreiben mußten. Dichterberuf und bürgerliche Existenz ließen sich meist nicht vereinen; so erhielt Gottfried Keller, der in Zürich in städtischen Diensten stand, fur seinen Grünen Heinrich zwischen 1850 und 1855 nur 742 Taler, während die jährlichen Lebenshaltungskosten in den fünfziger Jahren bei etwa 700 Talern 1agen.49 Erst 1842 wurde von etwa 130 Autoren und Verlegern der »Leipziger Literatenverein« gegründet mit dem Zweck der Interessenvertretung im Kampf um die soziale Anerkennung des Schriftstellerberufs als einer regulären Erwerbstätigkeit und um die finanzielle Sicherung. In der von bürgerlichen Arbeits- und Lebensfuhrungsnormen bestimmten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts galt der Schriftstellerberuf nach wie vor als unseriös, weshalb sich auch viele schreibende Frauen hinter Pseudonymen verbargen. Der Verein wurde bereits 1845 wegen seiner Forderungen nach Pressefreiheit in seinen Initiativen stark eingeschränkt und versank nach 1848 in der Bedeutungslosigkeit. Erst 1878 wurde mit dem »Allgemeinen Deutschen Schriftstellerverband« ein neuer Versuch unternommen, dem ein besserer Erfolg beschieden war. Modernisierung des buchhändlerischen
Geschäftsverkehrs
Die Grundlage des buchhändlerischen Geschäftsverkehrs bildeten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die persönliche Zusammenkunft auf der Leipziger Messe - die Frankfurter war seit Mitte des Jahrhunderts bedeutungslos geworden - und das »materiale Büchergeschäft«. 50 Die Verleger brachten ihre neue Ware auf die Messe, tauschten sie gegen neue Ware anderer Verleger ein und glichen den Saldo, den Unterschied zwischen Soll und Haben, auf der folgenden Messe entweder in Ware oder Geld aus. Durch den Tausch (Change) zwischen den Verlagen wurden die eigenen Produktionskosten gedeckt und durch den Verkauf der eingetauschten fremden Verlagsartikel der Gewinn gemacht. Der größte Teil einer Auflage wurde zur Messe gebracht, nur die Schriften für den heimischen Markt blieben zu Hause. Dieses einfache Verfahren diente zur Vermeidung von teurem
48 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 168. 49 Vgl. Scheideier: Zwischen Beruf und Berufung, S. 22 f. 50 Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 200.
1.1
G e s c h i c h t l i c h e Grundlagen und Entwicklung
Geldverkehr in einem Land mit unterschiedlichen Währungen und der Verminderung der Transportkosten. Im späten 18. Jahrhundert kamen über 200 Buchhändler regelmäßig nach Leipzig und bildeten dort eine »Gesamtversammlung des deutschen Buchhandels«.51 Voraussetzung für den Changeverkehr war, daß ein Verleger auch als Buchhändler tätig war; der Tauschhandel und der Verlagssortimenter oder Sortimenterverleger sind historisch gesehen »Wechselbegriffe«.52 Konfliktreich wurde der Tausch erst, als zum einen die Menge der angebotenen Bücher die persönliche Prüfung am Meßplatz immer schwieriger machte, zum anderen Qualitätsunterschiede im Druck und in der Ausstattung oder die unterschiedlich großen Absatzmöglichkeiten die Vergleichbarkeit der Ware im Wert in Frage stellten - medizinische Werke gegen katholische Predigten - und zum dritten Honoraransprüche der Autoren zu berücksichtigen waren. So kam es zur Auflösung des persönlichen Meßhandels, der Bindung des buchhändlerischen Verkehrs an die Messen. Insgesamt neigten sich die Warenmessen ihrem Ende zu. Die Modernisierung des Buchhandels ging zuerst von Leipzig aus und leitete den Konflikt zwischen den Buchhandelsmetropolen und der Provinz ein, der die ordnungspolitischen Auseinandersetzungen im Buchhandel bis zur Krönerschen Reform bestimmte. Als Symbolfigur für die Kommerzialisierung des literarischen Lebens gilt Philipp Erasmus Reich, Geschäftsführer des Leipziger Großverlages Weidmann. Als er 1760 zum Nettohandel ohne Rückgaberecht und mit geringem Rabatt überging, »war ein Formationsprozeß in Gang gekommen, der letztlich einer >Flurbereinigung< im Kampf zwischen den großen (Netto-)Händlern und den kleinen Buchhandlungen, die auf Tausch basierten, gleichkam«.53 Über den Nettohandel wurde von Leipzig aus die Trennung von Verlag und Sortiment betrieben. In der Tat nahm die Zahl der >reinen Verlegen Ende des 18. Jahrhunderts zu: Waren 1791 nur 29 von 398, also 7 %, der die Leipziger Messe besuchenden Buchhändler >reine Verlegen, so waren es 1801 bereits 63 von 501, also 12 %.54 Als erste reine Sortimentsbuchhandlung gilt das von Friedrich Christoph Perthes 1796 in Hamburg gegründete Ladengeschäft, dem Perthes aber aus wirtschaftlichen Gründen bald wieder einen Verlag angliederte. Von der Dominanz der Leipziger Kaufleute sahen sich die süddeutschen, österreichischen und schweizer Verlegersortimenter bedroht, da sie mit dem Meßtausch ihre Geschäftsgrundlage verloren. Die Spaltung des Buchhandels wurde durch den Bedeutungsverlust der Frankfurter Messe sowie den wirtschaftlichen und kulturellen Rückstand Süddeutschlands, insbesondere den Kapitalmangel der dortigen Firmen befördert. Im Gegenzug zur >Leipziger Handlungsart bildete sich eine eigene >ReichsbuchhändlerHandlungsart< heraus. »Ihre Eigentümlichkeiten bestanden darin, daß die Reichsbuchhändler sich ihre Neuigkeiten mit dem Rechte der Zurücksendung des Nichtabgesetzten gewißermaßen in Commission - zusandten, und daß sie miteinander von ihren Wohnsitzen aus abrechneten.«55
51 52 53 54 55
Lehmstedt: »Ein nothwendiges Übel«, S. 74. Goldfriedrich: Geschichte, Bd. 3, S. 208. Rosenstrauch: Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung, S. 56. Goldfriedrich: Geschichte, Bd. 3, S. 187. Zit. n. Goldfriedrich, Geschichte, Bd. 3, S. 191.
1 Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen Beide Handlungsarten mischten alte und neue Elemente: »Das Neue am Reichsbuchhandel dem Leipziger Handel gegenüber war das Konditionssystem, das Alte: das Tauschsystem auf der Grundlage der Vereinigung von Verlag und Sortiment. Das Alte am Leipziger Handel dem Reichsbuchhandel gegenüber war der feste Bezug, das Neue: der Nettohandel, also die Differenzierung von Verlag und Sortiment.« 56 Auf der Grundlage einer Trennung von Verlag und Sortiment schlossen sich die jeweils neuen Elemente zur herrschenden Usance zusammen: Es kam zum Konditionsgeschäft im Rahmen eines Nettohandels. So wurde die »bibliopolische« Spaltung des deutschen Buchhandels mit einem Kompromiß nicht nur der Regionen zugunsten eines einheitlichen Marktes, sondern auch der Handelsstufen zugunsten einer gemeinsamen Marktordnung beendet. Dies entsprach dem alten Handelsgrundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme des Manufakturzeitalters und dem nahezu genossenschaftlichen Charakter des Buchhandels. Mit der einsetzenden Industrialisierung bildete sich als neue Grundlage des buchhändlerischen Verkehrs das Konditionsgeschäft (Bedingtverkehr) heraus. Während der Tauschhandel auf die Messetermine beschränkt war, gingen die Sendungen »pro novitate«, sofort nach Erscheinen des Werkes das ganze Jahr über an die Sortimente. Der Verlag streckte das Kapital für die Herstellung vor und übertrug das Verfiigungsrecht an den »à condition« bezogenen Artikeln auf Zeit an den Sortimenter; der Buchhändler besaß volles Rückgaberecht, hatte aber auch seinerseits durch Portokosten und die im eigenen Geschäftsinteresse betriebenen Absatzbemühungen (lokale Anzeigen, Auswahlsendungen an Kunden) am geschäftlichen Risiko teil. So sah die Interessengemeinschaft zwischen Verlag und Sortiment im 19. Jahrhundert aus, die zum geschäftspolitischen Fundament des Börsenvereins als Vereinigung aller Handelsstufen wurde. Das Konditionswesen verursachte freilich auch selbst den Übelstand, an dem es zugrunde gehen sollte: Da mit dem Buch selbst geworben wurde, waren viel zu große Auflagen notwendig; die unverkauften Bücher gingen an den Verlag zurück, und die Überproduktion verstopfte den Markt. Karl Gutzkow, der als freier Schriftsteller vom Buchmarkt abhängig war, kritisierte bereits 1837 dieses deutsche System, das sich fundamental von den in England und Frankreich üblichen Handelsusancen unterschied, wo die Bücher, wie andere Waren auch, nur gegen sofortige Bezahlung verkauft wurden: »Ihr gutmüthigen Verleger! Ihr schickt ihm [dem Professor] von Stuttgart oder Leipzig das Buch nach Dorpat, Wien, Triest; der Sortimentsbuchhändler schickt's ihm in's Haus; er schickt's zurück, der Sortimentsbuchhändler schickt's nach Leipzig, voilà, Petz ist wieder da, der Commissionär schickt ihn in den Schooß der Mutter zurück, in welchen er mit sovielen andern vergeblichen Hoffnungen geboren wurde. So kann ein Buch in 600 Exemplaren versandt sein, in 600 kömmt es wieder zurück - und hat seine Bestimmung erfüllt, ist nicht spurlos vorübergegangen, ist gelesen und beurtheilt worden... Toller Gebrauch! [...] In Deutschland [...] wird der Autor durch eine falsche Buchhändlermanipulation geplündert. In Deutschland würde dreimal mehr als in Frankreich gekauft werden, wenn unsre schöne Buchhandlungsverfassung nicht das Nichtkaufen und Doch Lesen so sehr erleichterte [...] Nein, die Deutschen sind wirklich grade da am dümmsten, wo sie sich für die Klügsten halten, nämlich in der Literatur.« 57
56 Goldfriedrich, S. 199.
1.1 Geschichtliche Grundlagen und Entwicklung
Das Konditionssystem konnte sich nur in einem dezentral verfassten Land wie Deutschland entwickeln, dem eine Hauptstadt als intellektueller und kultureller Mittelpunkt fehlte, denn »wir leben überall in der Provinz«, wie Gutzkow schrieb. 58 Für den Kaufanreiz sorgten weniger die Information über Neuerscheinungen durch den kritischen Diskurs in Zeitschriften und Zeitungen als die altertümliche »materiale« Betrachtung und Begutachtung des Buchobjekts, das den guten Kunden vom Buchhändler zur Ansicht ins Haus gebracht wurde. Dieses Verfahren zeugte von einem gewissen Mangel an marktorientiertem Handeln. Es entstand ein Konflikt zwischen Produktionskapazität und Absatzmöglichkeit, ein Ungleichgewicht zwischen herstellendem und verbreitendem Buchhandel, das erst durch Modernisierungsschübe, wie die Nutzung weiterer Distributionswege außerhalb des herkömmlichen Sortiments (Kolportage- und Reisebuchhandel, Bahnhofs- und Kaufhausbuchhandel), sowie verbesserte Kommunikation, Marketingund Werbemaßnahmen ausgeglichen wurde. Daß hier aber auch noch Reste des bargeldlosen Tauschhandels überlebt hatten, zeigt, daß die Kapitaldecke im Buchhandel in der Zeit vor der Reichsgründung dünner war als in anderen Gewerben. Die Interessengemeinschaft zwischen Verlag und Sortiment, wie sie das Konditionssystem voraussetzte, funktionierte erst mit Hilfe des Zwischenbuchhandels, der die Logistik bereitstellte: Als Vermittlungsinstanz zentralisierte er deren wechselseitige Geschäftsbeziehungen und gestaltete sie wirtschaftlich aus. Der Aufstieg des Zwischenbuchhandels hat die Vielstaatlichkeit Deutschlands vor der Reichsgründung bzw. die Existenz zahlreicher größerer und kleinerer geistiger, wirtschaftlicher und politischer Zentren im deutschen Kulturraum zur Voraussetzung. Nur aufgrund dieser kulturpolitischen Gegebenheiten entwickelten sich die vielen zerstreuten Buchhandelsbetriebe, deren zentrale Verknüpfung zur Aufgabe des Zwischenbuchhandels wurde. Er glich die regionale Zersplitterung des deutschen Buchhandels aus, indem er für Rentabilität des Kleingeschäfts, Disponibilität der Ware und Schnelligkeit der Lieferung sorgte. Zur Konzentration in Leipzig kam es, weil der Zwischenbuchhandel aus der Messepraxis heraus entstand, bei dem der auswärtige Buchhändler den Schlüssel zu seinem Gewölbe an einen einheimischen Kollegen übergab, der Sendungen vom Lager zwischen den Messen ausführen konnte. Die Frachtfreiheit in der Messestadt war der Entwicklung sehr forderlich. Der Zwischenbuchhandel - zunächst in Gestalt des Kommissionsbuchhandels, ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Form des Barsortiments - übernahm die früheren Funktionen des Meßhandels: Versand und Remission der Ware, Abrechnung und Kommunikation zwischen den Firmen. Die Messen verloren für den buchhändlerischen Verkehr an Bedeutung und wurden in dieser Funktion bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schließlich überflüssig.
Die Organisation des Buchhandels und die Durchsetzung einer
Wirtschaftsordnung
Die Bewegung zum Zusammenschluß des Buchhandels hatte zwei Stränge, die unterschiedliche Interessenrichtungen markieren: die Interessen des Leipziger Buchhandels
57 Gutzkow: Uebereine Reform des deutschen Buchhandels, S. 362-364. 58 Gutzkow, S. 365.
1 V o r a u s s e t z u n g e n und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n
und im weiteren der Großverleger auf der einen, des Provinzbuchhandels und der Sortimenter auf der anderen Seite. Auf Grund dieser konstitutionellen Spannung kam es zu mehrfachen Volten in der Vorgeschichte des Börsenvereins. Den Ausgangspunkt der genossenschaftlichen Reformbewegung bildeten die Bestrebungen Philipp Erasmus Reichs, der mit der »Buchhandelsgesellschaft« eine »Berufsvereinigung zwischen Innung und Wirtschaftsverband« 59 zugunsten des sächsischen Buchhandels ins Leben rief. Mit Reich als Spiritus rector wurde der Verband 1765 von 56 Firmen mit dem Ziel der »Konkurrenzregulierung« durch Selbsthilfe und der Bekämpfung des Nachdrucks gebildet. Durch das Kursächsische Mandat (1773), das die Buchhandelsdeputierten zum staatlichen Beratungsorgan machte, wurde die Leipziger Reformbewegung mit der Wirtschaftspolitik Kursachsens verknüpft. Dies erzeugte eine Gegenbewegung aus der Provinz, insbesondere aus Süddeutschland. Dieser Gegenbewegung verdankt der Börsenverein seine Gründung. Was die Auswärtigen, die während der Messe untereinander ihre Geschäfte abwickelten, vor allem brauchten, war ein Börsenlokal als Abrechnungsstelle. Georg Joachim Göschen legte 1791 den Plan einer Buchhändler-Börse vor, der Potsdamer Buchhändler Paul Gotthelf Kummer richtete 1792 ein buchhändlerisches Abrechnungslokal ein. Da die Börse aus einem Privatunternehmen schließlich 1817 zur »Genossenschaft« wurde, indem sie einer Vertretung des Buchhandels - dem »Wahlausschuß der Teutschen Buchhändler« - zufiel, wurde die Abrechnungsanstalt mit der Idee der Reform »unmittelbar verschmolzen«. 60 Worum es in den Reformmaßnahmen ging, geht aus dem »Vertragsentwurf der Deputierten und anderer Leipziger Buchhändler« vom Dezember 1820 hervor. Er enthält drei Forderungen:61 1. Begrenzung des Rabatts an Privatkunden auf 16 2/3 %; 2. Verbot des unmittelbaren und mittelbaren Verkaufs und Vertriebs von Nachdrucken; 3. Beschränkung der Leipziger Handlungen auf »gelernte Buchhändler«. Der »Ausschluß neuer und nichtbuchhändlerischer Firmen«62 war die Folge eines Innungsdenkens, das sich durch die gesamte Reformbewegung zieht und noch in der Selbstbezeichnung des Sortimenterzusammenschlusses als »Buchhändlergilde« (1916) spürbar ist. Der endgültige Vertrag vom 10. Februar 1821 wurde von den Deputierten selbst und elf Leipziger Handlungen angenommen, jedoch nicht von so bedeutenden Firmen wie Breitkopf & Härtel, Brockhaus oder Göschen. »Brockhaus faßte seine Ansichten in dem Grundsatz: Laisser faire. >Die Nachtheile, die durch die Freiheit des Handels und Verkehrs entstehen, sind nie so groß als die, welche der Zwang und Privilegien herbeiführen.« 6 3 Der Gegensatz zwischen einem wirtschaftsliberalen Credo und der Konkurrenzregulierung durch Selbsthilfe begleitete die Reformbewegung. Nach Meinung der Süddeutschen konnten die Leipziger sich leicht liberal geben, nutzten sie doch ihren Standortvorteil geschäftlich aus. Die Gründung des Börsenvereins 1825 erfolgte auf Grundlage der Börse von 1792.64 Voraus ging der »Plan der Begründung eines süddeutschen Centralbuchhandels in Nürn-
59 60 61 62 63
Rosenstrauch: Buchhandelsmanufaktur, S. 60. Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels, Bd. 4, S. 159. Goldfriedrich, Bd. 4, S. 139. Goldfriedrich, Bd. 4, S. 142. Goldfriedrich, Bd. 3, S. 140.
1.1
G e s c h i c h t l i c h e Grundlagen und E n t w i c k l u n g
berg,«65 durch den Friedrich Campe und seine Mitstreiter einen von Leipzig unabhängigen Mittelpunkt für den buchhändlerischen Verkehr schaffen wollten. Die Gründung war ein Coup auf der Messe mit dem Ziel, die von Leipzig dominierten Reform- und Organisationsbestrebungen abzublocken. Gründungsmitglieder waren 93 auswärtige Firmen und nur sechs Leipziger (ohne die drei Deputierten). Sowohl die Zusammensetzung des ersten Vorstandes wie die Wahl des Ehrenvorstehers sind Programm: Friedrich Campe/Nürnberg als Vorsteher, Johann Leonhard Schräg/Nürnberg und Ludwig Reinherz/Frankftirt a.M. als Schriftführer; Bernhard Friedrich Voigt/Ilmenau als Kassenführer; Horvath als Ehrenvorsteher. Das Fazit der Entwicklung, die zur Gründung des Börsenvereins führte, hat Goldfriedrich auf eine Formel gebracht: »die Auswärtigen waren es, die der Börse bedurften; die Auswärtigen waren es, die sie begründet hatten; die Auswärtigen waren es, deren Interessen hier zu vertreten waren; die Auswärtigen waren es, die sich über die unthätige und ablehnende Haltung der Leipziger vor und nach der Einrichtung der Börse so oft und so bitter beklagt hatten.«66 War die Reformbewegung durch den Nachdruck ins Leben gerufen worden, mit dem die süddeutschen, österreichischen und schweizer Buchhandlungen auf die Konzentration moderner Autorenrechte und Verlagsprogramme in Mittel- und Norddeutschland reagierten, so setzte der Bundesbeschluß von 1835 dieser Ära ein Ende. Weitergetrieben wurde die Reformbewegung durch das Bestreben nach Konkurrenzregulierung mittels Festsetzung buchhändlerischer Handelsbräuche, insbesondere im Verkehr mit dem Publikum. Die Schleuderei der Verlage als »Mittel der Lager->Entschüttungüber Leipzig verkehrendem, d.h. die mit dem Buchhandel in ständiger Geschäftsverbindung stehenden Betriebe erfaßte. Der Gedanke der Innung oder Gilde widersprach der Gewerbefreiheit. Der Kundenrabatt wurde insbesondere in Buchhandelszentren wie Leipzig und Berlin genutzt, um mit Hilfe des Versandgeschäfts die Provinz zu erobern. »Leipzig, die
64 Goldfriedrich, Bd. 3, S. 160. - Zur Vorgeschichte und zur Entwicklung des Börsenvereins vgl. »Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825-2000. Ein geschichtlicher Aufriss«. 65 Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels, Bd. 4, S. 161. - Estermann: »Was kann ein Jahrmarkt von Buchhändlern nützen?«. 66 Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 163 f. 67 Goldfriedrich, Bd. 3, S. 564.
1 Voraussetzungen und
Entwicklungstendenzen
Hochburg des Kundenrabatts und der Schleuderet - das war der Gegenstand der Erbitterung nicht nur der Sortimenter, sondern auch von Männern wie Cotta.« 68 Darum wurde die Bewegung gegen die Schleuderet von der Provinz getragen. Die buchhändlerischen Orts- und Kreisvereine fungierten als »territorial abgegrenzte Preiskonventionen«, 69 die innerhalb ihres Gebietes die Kundenrabatte einheitlich regelten und gegen schwarze Schafe durchsetzten. Der Verband der Kreis- und Ortsvereine, zu dem sich 1879 die regionalen Buchhandelsvereine zusammenschlossen, wurde zur treibenden Kraft in den Krönerschen Reformen und zum Fundament der Neuorganisation des Börsenvereins. Auf Adolf Kröner, Vorsteher des Börsenvereins von 1882 bis 1888, der die Bewegung mit Energie und Geschick leitete, gehen die drei Argumentationslinien zurück, die bis heute 70 die Preisbindung legitimieren: 1. Die Preisbindung diene der Aufrechterhaltung einer breiten und differenzierten Buchproduktion (kulturpolitisches Argument), indem sie eine Mischkalkulation ermögliche, die es erlaube, auch unbekannte Talente oder spezifische Interessen zu fördern. 2. Die Preisbindung sichere ein flächendeckendes Sortiment (regionalpolitisches Argument) und 3. fördere die mittelständische Wirtschaft (sozialpolitisches Argument). Die Krönerschen Reformen, die mit der Weimarer Konferenz zur Beratung buchhändlerischer Reformen 1878 einsetzten, hatten ein erstes Ergebnis in der Statutenrevision des Börsenvereins von 1880: Indem sich die neuen Bestimmungen »die Feststellung innerbuchhändlerischer Geschäftsnormen und die Förderung der Bestrebungen der Orts- und Kreisvereine zum Schutze der geschäftlichen Interessen ihrer Mitglieder« 71 zur Aufgabe machten, wurde aus dem Börsenverein eine wirtschaftliche Interessenvertretung. Selbstverständnis und Selbstbild Für den Buchhandel bedeutete die Zeit von der Aufklärung bis zur Reichsgründung eine Epoche des Umbruchs, der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neupositionierung und der zunehmenden Professionalisierung. Als Gewerbe sah er sich seit alters her in der Nähe des Gelehrtentums bzw. der Wissenschaft; sein Standesethos orientierte sich mehr an moralisch-sittlichen Verpflichtungen, weniger am wirtschaftlichen Handeln eines Kaufmanns und gesellschaftlich beanspruchte er ein besonderes Sozialprestige. 72 Aus dem Doppelcharakter seiner Ware leitete der Buchhandel auch im 19. Jahrhundert sein Selbstverständnis ab, und dies bestimmte seine Rolle im literarischen Leben. Eine Anpassung an neuere Entwicklungen, wie sie die Industrialisierung der Wirtschaft, die Ausdehnung der Märkte und die Teilhabe breiter Schichten am kulturellen Leben sowie die Verstädterung verursachten, bereitete ihm große Schwierigkeiten. Im 18. Jahrhundert galt Philipp Erasmus Reich als ein Mann des Geldes, weniger als Aufklärer, sondern mehr als Kaufmann. Die erste Leserevolution bewirkte eine verstärkte
68 69 70 71 72
Goldfriedrich, Bd. 3, S. 138. Verhandlungen über den Börsenverein der deutschen Buchhändler, S. 251. Franzen: Die Preisbindung des Buchhandels, S. 8-10. Schlemminger: Die Preisbindung im deutschen Buchhandel, S. 91. Vgl. Langenbucher: Demokratisierung des Lesens, S. 32.
1.1
G e s c h i c h t l i c h e Grundlagen und E n t w i c k l u n g
Selbstreflexion des Gewerbes: »Noch in den siebziger Jahren sind die Äußerungen darüber trocken, sachlich kalt. In den neunziger Jahren aber hören wir Würde, ja Hoheit und Erhabenheit des buchhändlerischen Berufes mit einem Tone der Begeisterung verkünden, wie er bis dahin unbekannt war«,73 beschreibt Goldfriedrich die Veränderung. Durch die aufklärerischen Bestrebungen nach Bildung und Verbesserung auf allen Gebieten des bürgerlichen Lebens wurde die intellektuell-kulturelle Aufgabe und gesellschaftliche Position des Buchhändlers als Vermittlers bedeutend gestärkt und damit erstmals zum Gegenstand der Diskussion. In der Praxis hatten die großen Verleger und Buchhändler den gesellschaftlichen Kontakt zu Gelehrten und Schriftstellern immer schon gepflegt: Froben und Erasmus von Rotterdam in Basel, Wechel und Giordano Bruno in Frankfurt, Friedrich Nicolai und Lessing in Berlin u.a. Sie hatten auch viele soziale Verhaltensformen von den Gelehrten übernommen, etwa sich porträtieren zu lassen und die Kupferstiche an andere Buchhändler zu verschicken. Wegen der Nähe zu den Gelehrten hatten die Buchhändler traditionell einen aus den übrigen Gewerben herausgehobenen Status beansprucht. Er äußerte sich z.B. darin, daß in den Leipziger Adreßbüchern des 18. Jahrhunderts die Buchhändler an der Spitze der Bürgerschaft piaziert wurden, ihnen folgte die Kaufmannschaft. 74 Eine Annäherung zwischen der Funktion des Kaufmanns und des Vermittlers von Bildung und Kultur strebten in der Reformdebatte an der Wende zum 19. Jahrhundert Georg Joachim Göschen (1802) und Johann Christian Gädicke (1803) an. Göschen suchte die Balance zwischen beiden Positionen und schrieb: »Der Buchhandel ist ein Handel mit Büchern ...Versteht man ... unter Buchhandel die Mühe, einige Bücher à Condition zu verschreiben; so ist nichts leichter als der Buchhandel, und ein Buchhändler ist noch weniger als ein Heringsweib. Sind aber Bücher die Geistesprodukte der vorzüglichsten Männer ihres Zeitalters, welche fähig sind, die Menschen zu unterrichten und zu verbessern, oder das Leben zu verschönern: so ist der Buchhändler ein Kaufmann, der mit den edelsten Waaren handelt: und wenn er seinen Beruf mit Würde treibt, so gebührt ihm unter Handelsleuten der erste Rang.« 75 Bei Göschen stand dennoch der merkantile Aspekt vor den kulturellen Aufgaben des Buchhändlers als Kulturträger im Vordergrund. Friedrich Christoph Perthes dagegen brachte in seiner Grundsatzschrift von 1816, Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur, beide Prinzipien zu einer Synthese, er setzte Wissen und Können als selbstverständlich voraus, schätzte aber das Ansehen höher als den finanziellen Erfolg. Der kaufmännische Aspekt wurde nicht ignoriert, jedoch deutlich abgewertet, wo es bloß um das Profitstreben der billigen Schleuderei ging. Gegen die sich abzeichnenden Folgen der industriellen Massenproduktion versuchte er 1834 in der ersten Nummer des Börsenblatts, dem neuen Kommunikationsforum der Buchhändler, seine Prinzipien aufrechtzuerhalten. Er monierte die »Unruhe, ein Drängeln, Treiben und Jagen... Daß aber die geldjagende Hast... bei dieser traurigen Erscheinung nicht ohne Schuld sey, läßt sich ebenso wenig leugnen als die ehrende, unumstößlich feststehende Thatsache, daß deutscher Buchhandel bis dahin der Träger deutscher Wissenschaftlichkeit, Gründlichkeit und Gediegenheit 73 Goldfriedrich: Grundzüge der Entwicklung, S. 203. 74 Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 2, S. 412. 75 Göschen: Meine Gedanken über den Buchhandel, S. 379.
1 Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen gewesen und - wer möchte widersprechen? - in seinen besseren Theilen noch jetzt ist, ihm selbst zu bleibender Ehre, dem deutschen Vaterland aber, und dem Gesammtgebiet wahrer Gelehrsamkeit und Bildung zu Förderung und Nutzen. Daß nun dieses Palladium dem deutschen Buchhandel nicht entrissen, daß der Unruhe und der unwürdigen Buchmacherei gesteuert, der Buchhandel in allen seinen Theilen wiederum mehr in den Dienst der Wissenschaft und der wahren (! !) Volksbildung zurückgeführt werde, - dafür zu sorgen, ist eines jeden deutschen Buchhändlers, der Ehre höher achtet als Geldgewinn, heilige Verpflichtung.« (Börsenblatt (1834) 6 f.) Die Hervorhebung von Ehre und Würde entstammte dem 18. Jahrhundert, wurde aber auch für die spätere Zeit von vielen sozialen und berufsständischen Gruppen in ihre Verhaltensnormen übernommen. Der Buchhandel stand damit in einer gewissen Staatsnähe, denn Schriften gegen den Staat, die Religion oder die Sittlichkeit zu drucken oder zu verbreiten, widersprach dem elitären Selbstverständnis als Kulturträger. Die Pflege der Erinnerung an herausragende Buchhändler wie etwa Johann Philipp Palm macht dies deutlich. Er hatte die antinapoleonische Schmähschrift Deutschland in seiner tiefen ErniedrigMMgl806 gedruckt und verbreitet. Da er sich nach seiner Verhaftung durch die französischen Truppen weigerte, den Namen des Verfassers zu nennen, wurde er in Braunau am Inn erschossen.76 Wie Goldfriedrich urteilte, war es ein »unkluges und höchst waghalsiges Unternehmen, dessen bedenklichste Folgen für Autor und Verleger... jedem Besonnenen deutlich sein mußten.« 77 Palm wurde jedoch zur deutsch-nationalen Symbol- und Märtyrerfigur stilisiert, Gehilfenvereine trugen seinen Namen, Bronzetafeln und Denkmäler erinnerten an ihn, und ein Roman schilderte sein Leben. Anders dagegen lag der Fall bei Robert Blum, der 1848 nach den Wiener Unruhen hingerichtet wurde, nicht in seiner Eigenschaft als Buchhändler, sondern auf der Seite der Aufständischen. Sein Andenken lebte nur in den demokratischen Strömungen weiter. Perthes hatte, wie vor ihm schon Göschen, zur Aufrechterhaltung des sozialen Anspruchs des Buchhändlers eine angemessene Ausbildung gefordert, die den technischkaufmännischen ebenso wie den literarisch-wissenschaftlichen Bereich berücksichtigte. Auch hier wurde ein Weg zur Modernisierung geöffnet, denn die Ausbildung entsprach noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der des Manufakturzeitalters. Es wurde eine Lehrzeit von drei bis sieben Jahren gefordert, aber es gab keine Lehrbücher oder festgelegte Lehrinhalte. Die buchhändlerische Ausbildung wurde erst nach der Einführung der Gewerbefreiheit allmählich standardisiert. Dies geschah nicht aus eigenem Antrieb, sondern durch Druck von außen, da mit dem Handelsgesetzbuch von 1900 die Ansprüche an die Ausbildung und die Pflichten der Lehrherren festgeschrieben wurden. Der Buchhandel stützte sein Selbstbewußtsein vor allem auf einen allgemeinen Bildungsanspruch, den er immer wieder betonte. Die selbstgesetzten idealen Normen und die Wirklichkeit eines durch Überproduktion verstopften und mit Firmen überbesetzten Marktes klafften aber weit auseinander. 1844 etwa beschrieb ein Anonymus diese Situation mit neuen, industriellen Metaphern: »Der Buchhandel ist die Eisenbahn des Geistes, der Dampfwagen der Gedanken, er ist der Vater der Bildung, und, mit der freien Presse
76 Vgl. Siemann: Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 305 f. 77 Goldfriedrich: Geschichte, Bd. 4, S. 5.
1.1 Geschichtliche Grundlagen und Entwicklung verbunden, zeugt er die Cultur... Richtet man aber seinen Blick auf den Zustand, die Lage und Verhältnisse des deutschen Buchhandels, so ist gewiß nicht Freude und Wohlgefallen, das in der Brust desjenigen aufsteigt, der sich dafür interessiert.« (Börsenblatt ( 1844) 31 ) Auf die industrielle Massenkultur, die sich den Geschmacksnormen der früheren Unterschichten und der neuen Schichten der Arbeiter, Haus- und Büroangestellten anpaßte, war der Buchhandel schlecht vorbereitet. Aber auch das marktwirtschaftliche Denken der Kaiserzeit war insgesamt durchzogen von schichtenspezifischen Normen dessen, was gesellschaftlich Achtung einbringt, was kulturell bildet und von humanem Wert und somit zu fordern ist. Diesen ethischen Fragen konnte der Buchhandel um so weniger ausweichen, als er die Ladenpreisbindung mit einem normativen bildungsbürgerlichen Begriff von literarischer Kultur legitimierte. Der Buchhandel sah sich auch noch durch eine andere Funktion in seiner besonderen Rolle gestärkt. Im zersplitterten Reich war er ein einigendes Band, das durch den Tauschhandel über die territorialen Grenzen hinweg Bücher aller Art in jede noch so entlegene Provinz verbreitete. Am Ende des Heiligen Deutschen Reichs Römischer Nation hatte die deutsche Kulturgesellschaft einen weitgehend offenen Charakter, sie wurde gestützt von Institutionen wie dem Universitätssystem, dem Buchhandel und vor allem den Schichten, die an der deutschen Hochkultur teilhatten.78 Karl Gutzkow hatte z.B. in seiner Kritik am Konditionssystem des deutschen Buchhandels festgestellt: »Es liegt in den Voraussetzungen eines nur den Wissenschaften, Künsten und der Literatur zugewandten Volkes, daß sich bei ihm das geistige Kapital weit mehr verinteressieren [verzinsen] muß, als in Frankreich und England, wo es noch andere und für wichtiger gehaltene Hebel des öffentlichen Lebens gibt.«79 Dies spielt auf die politische Ersatzfunktion an, die die Kultur und die Kulturnation übernommen hatten. Die deutsche Nationswerdung seit dem 18. Jahrhundert basierte auf der kulturellen Bewegung der bürgerlichen Schichten. Diese emanzipierten bürgerlichen Bildungsschichten hatten im Zusammenhang ihrer Kulturbewegung auch ein eigenes nationales Bewußtsein entwickelt. »Sie orientierten sich in ihrem politischen Denken zunehmend auf das Reich und traten als junge bürgerliche Nation der alten Adelsnation gegenüber.«80 Der Begriff der >Kulturnation< suggerierte eine Idealvorstellung, wonach die deutsche Nation ihrem Wesen nach kulturell geprägt sei. Er entsprach der Selbstüberschätzung der Gebildeten, die diesen Begriff mit der ganzen Nation gleichsetzten, er enthielt zudem auch ein bedeutendes Konfliktpotential, etwa in dem kulturellen Überlegenheitsanspruch gegenüber den europäischen Nachbarn und in dem normativen bildungsbürgerlichen Kulturbegriff, der sich bis in die Zensurdebatten hinein bemerkbar machte. Der Buchhandel und sein Selbstbild als Bildungsvermittler konnten sich jedoch in der >Kulturnation< wiederfinden. Die Produktion von Klassikerausgaben in einfachster Aufmachung und zu billigsten Preisen, wie sie Carl Joseph Meyer herstellte, war ein Weg zur kulturellen Einigung. Der Buchhandel hatte hierin auch seine nationale Rolle gefunden.
78 Vgl. Dann: Begriffe und Typen des Nationalen, S. 68. 79 Gutzkow: Ueber eine Reform, S. 365. 80 Dann: Begriffe, S. 72.
1 Voraussetzungen und E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n
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1 Thomas Mann: Essays, Bd. 2, S. 294 f. Die Zitate aus den »Betrachtungen eines Unpolitischen« finden sich in der »Vorrede«. 2 Das Kaiserreich gehört zu den besterforschten Phasen der jüngeren deutschen Geschichte. Die Forschung ist auch für Spezialisten kaum zu überblicken. Präzise Einführungen in den Forschungsstand zur politischen Geschichte: Ullmann: Politik im Deutschen Kaiserreich; Kühne: Das Deutsche Kaiserreich. Unter der stattlichen Zahl neuerer Gesamtdarstellungen sind von denen, die man ohne Gefahr in einer Hand halten kann, besonders zu empfehlen: Ullmann: Das Deutsche Kaiserreich; Ullrich: Die nervöse Großmacht; Blackbourn: The Fontana History of Germany. Zur politischen Geschichte (mit Quellen): Loth: Das Kaiserreich. Unter den mehrbändigen Werken ragen hervor: Nipperdey: Deutsche Geschichte, und Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3.
1.2
E n t w i c k l u n g s b e d i n g u n g e n im Kaiserreich
Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945«. 3 Seit die staatliche Teilung Deutschlands überwunden ist, blicken viele auf der Suche nach Zukunftsgewißheit erneut hoffnungsvoll zurück zu den nationalstaatlichen Anfangen. Andere sehen in einer solchen Rückwendung hingegen eine Gefahr für die noch jungen Staatsbürgertugenden der Bundesrepublik und für ein demokratisches Europa, das die alten nationalen Staatsgrenzen und die tiefen emotionalen Trennlinien, die damit verbunden waren, endlich zu überwinden scheint. Um nur ein Beispiel zu nennen: In seinem Versuch, zu klären, was die Deutschen früher unter >deutscher Kunst< verstanden und heute wieder verstehen, spricht der Kunsthistoriker Hans Belting von der Wiederkehr einer Geschichte, die man vergangen wähnte: »Die deutsche Geschichte hat uns eingeholt, nachdem wir schon glaubten, uns ihrer entledigt zu haben und endlich von ihr frei geworden zu sein. In einer wirklichen >Ironie der GeschichteReich< annahm und sein Oberhaupt >Kaiser< nannte, beanspruchte es, eine Vergangenheit zu erneuern, mit der es brechen mußte, um ins Leben treten zu können. Das neue Reich stellte sich zwar in die Tradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, doch es schuf etwas gänzlich Neues. Das vielstaatliche alte Reich, das dem Modernisierungsdruck der Französischen Revolution und Napoleons, diesem Doppelangriff durch Ideen und Truppen, nicht standgehalten hatte, war in seiner staatlichen Gestalt das Gegenbild des neuen Reiches: ein »System komplementärer Staatlichkeit«, das zwar bestimmte Staatsaufgaben erfüllte, vor allem die Bestandssicherung bei innerer und äußerer Bedrohung, jedoch nicht die Herrschaftsrechte beim Kaiser als dem Haupt des »Reichs-Staates« konzentrieren konnte.6 Deshalb vermochte sich im Gegensatz zu den Modell-Nationen des Westens, vor allem Frankreich und England, die Idee >deutsche Nation< als politische Kraft nicht mit einem Staat zu verbinden, der mächtig genug gewesen wäre, die Herrschaftskonkurrenten zu unterwerfen und Nation und Staat zusammenzufuhren. Dies gelang erst 1871, nachdem 1848/49 ein erster Versuch gescheitert war, in einer Mischung aus Revolution und Vereinbarung mit den alten Dynastien die einzelnen Staaten zu einem föderalen Nationalstaat mit starkem Zentralparlament und einem preußischen Kaiser zu vereinen. Das neue Reich wurde gegen die Tradition des alten gegründet - auch wenn die Gründungsmythen, die den jungen Nationalstaat durch ein hohes Alter zu adeln suchten, erfolgreich das Gegenteil ins kollektive Gedächtnis der Deutschen einschrieben.7 Eine solche Zentralisierung herrschaftlicher Macht, wie sie der Nationalstaat ermöglichte, hatte es jedoch in der deutschen Geschichte nie zuvor gegeben. Den Konzentrationsprozeß frühneuzeitlicher Staatsbildung hatte unter dem Dach des alten Reiches eine schier unüberschaubare Zahl unterschiedlichster Herrschaftsgebilde überlebt. Sie wurde zwar stark verringert, als der Schutzschild >Kaiser und Reich< zu Beginn des 19. Jahrhunderts zerbrach, überdauerte jedoch als Grundmuster deutscher Staatlichkeit in den rund 40 Staaten des Deutschen Bundes bis zu dessen Ende 1866. Diese Tradition des alten Reiches endete erst mit dem Nationalstaat - ein Wort, das noch 1848/49 in der politischen Sprache der 6 Zum Quellenbegriff »Reichs-Staat« und zur Definition von »komplementärer Staatlichkeit« bzw. »komplementärem Reichs-Staat« siehe grundlegend Schmidt: Geschichte des Alten Reichs, bes. S. 40-44. 7 Unter den Kontinuitätskonstruktionen waren zwei Hauptlinien am erfolgreichsten: eine preußische, die schon im Alten Reich in Preußen den staatlichen Kristallisationskern der deutschen Nation erkennt (vgl. dazu Hardtwig: Von Preußens Aufgabe in Deutschland, S. 103-160), und eine >völkische'ii4 bertr, bie ®laubtn baben, unb benen tu munden reàre, baS ibnen tiefer unb bie alte Jrau helfen mögen. Ï8er etwa ber Meinung reit«, ba6 jene ©tarfgtiubfgen W*> ber nlebern .Klaffe anaebîrteit, ber irrt« febr; eí folien berreaUfabJt«nben^atienten mit Squipagen fafi eben fo »iele, ali beren oljne (οΐφβ fei;n ; αιιφ airb ber Sffluntertbáterin ¡u Ibrem Sortbeil naφgefagt( bag fie erfteren »or lefterett feineireegi ben Soijug giebt, fonbertt ibre Äure* (trenge ηαφ ber Stncienlit&t in btr Slnmetbung oornimmt. I ÜOürtemberg. Ber Sònig von ÜDirtemberg rtiit über ffleimar ηαφ ΰ)α«ίφαη, rao er be» 8teit Dit. eintreffen reilt. ©er Äalfer tommt am 5ten bnbin unb beibe Ώίοιιατφ«« raerbtn bii jum löten atiba »erreeilen. »Ii ber Äönig am 2Steu ÎDÎorgenS ¡ιοίίφβη 2 unb 3 U(ir burφ ftellbronn fam, beglew teien bie ginreoiner bei fflagen im iTriumpb. X>ie erfle ©ifung berra&rltmbergifótn©tinbe wirb im Dejember erfolgen. g rant f u r l , »om 5ten Dttober. ©e. Srjelt. ber pr&fïbirenbe ®efanbte ber boben S8unb«i»erfamm' lung , ®raf ». ißuolBurgfrieden< findet seinen Ausdruck in dem Bestreben, den Geist der Geschlossenheit und Hingabe an die großen nationalen Ziele zu erhalten, jede Gefahrdung der Einigkeit des Deutschen Volkes zu vermeiden und niemals den Eindruck aufkommen zu lassen, als sei der entschlossene Volkswille im Siege schwankend geworden. Soweit nicht die militärischen Interessen des Reiches benachteiligt werden, darf jeder Überzeugung Ausdruck gegeben werden, wenn dies in geeigneter Form geschieht.[...] Dagegen müssen alle Verletzungen anderer, die nicht durch die sachliche Vertretung der eigenen Meinung geboten sind, insbesondere alle Schimpfworte, herabziehenden Vergleiche, entwürdigenden Verdächtigungen, unbedingt vermieden werden. Jede Unterstellung eigennütziger oder niedriger Motive bei Verfolgung politischer Ziele, jede unnötige Neuentfachung alten Streits, jede Verhetzung zwischen Volksklassen, Erwerbsständen, Konfessionen oder innerhalb der Presse muß unterbleiben.«101 Mit dieser dehnbaren, nach Belieben zu gebrauchenden Definition konnte die Heeresleitung jegliche Äußerungen im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und künstlerischen Bereich mit dem Hinweis auf die Gefährdung des »Burgfriedens« verbieten; sie konnte jederzeit uneingeschränkt in die Publizistik und Journalistik eingreifen. Das Militär entschied, was nicht gedruckt werden durfte, aber auch, was unbedingt erscheinen mußte. Dabei war die Bandbreite der Verbote außerordentlich hoch. 1915 wurde z.B. ein Artikel der Zeitschrift Forum des Herausgebers Wilhelm Herzog, der sich kritisch mit dem Krieg beschäftigte, »bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen«.102 Kurz darauf wurde die gesamt Zeitschrift fur die Dauer des Krieges verboten, um, wie es in der Begründung des Kriegsministeriums hieß, »die schädlichen Folgen der Propagierung eines vaterlandslosen Ästheten- oder Europäertums« 103 zu verhindern. In Einzelfällen fand die Zensur jedoch gegen eine »Verunglimpfung des Feindes« statt. So wurde in Bremen eine Postkarte verboten mit der Aufschrift »Was essen wir heute? Französisches Hähnchen im Topf«. Auf dem Bild steckt ein preußischer Soldat einen gallischen Hahn in den Kochtopf. 104 Mit Kriegsende 1918 wurde die Militärzensur wieder aufgehoben.
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2.1 Verbote, N o r m i e r u n g e n und
Normierungsversuche
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120
2 R e c h t , Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
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2.1 V e r b o t e , N o r m i e r u n g e n und N o r m i e r u n g s v e r s u c h e
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122
2.2
Recht im Buchwesen Martin Vogel
2.2.1 Die Entwicklung des Urheberrechts Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts galt das Urheberrecht, obgleich es sich zunehmend als besonderes Rechtsgebiet zu entwickeln begann, weitgehend noch als Teil eines geschlossenen Systems privater Rechte, in dem die vorherrschenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorstellungen der Zeit ihren Ausdruck fanden. Der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung immaterieller Güter entsprach es, daß bald nach der Entstehung eines einheitlichen Rechtsgebiets durch die Reichsgründung in rascher Folge zahlreiche Gesetze in Kraft traten, die einheitlich und für das gesamte Gebiet des Deutschen Reiches den Schutz dieser Güter, nicht zuletzt auch den persönlich-geistiger Schöpfungen, gewährleisteten. Diese Gesetze schufen erst die unverzichtbaren rechtlichen Voraussetzungen dafür, daß die für die fortschreitende Industrialisierung bedeutsamen geistigen Leistungen auf rechtlich gesicherter Grundlage innerhalb eines einheitlichen Staatsgebiets gewinnbringend vermarktet werden konnten (Urheberrechtsgesetz 1871, Warenzeichengesetz 1876, Geschmacksmustergesetz 1876, Kunstschutz- und Photographieschutzgesetz 1876, Patentgesetz 1877, Gebrauchsmustergesetz 1891).1 Insofern ist die Reichsgründung zweifellos auch fur die Urheberrechtsgeschichte ein einschneidendes Ereignis. Bestimmend für die weitere Entwicklung dieses Rechtsgebiets wurden jedoch weniger politische Ereignisse als weit mehr die vielfältigen technischen Neuerungen, die seit der Erfindung der Photographie (1839) in immer rascherer Folge dazu zwangen, die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke durch neue Reproduktionsmethoden und neue Möglichkeiten der unkörperlichen Wiedergabe rechtlich zu regeln.2 Insofern in zunehmendem Maße neue Techniken der Vervielfältigung und Wiedergabe von Werken der Literatur, Musik und Kunst die Dynamik der jüngeren Urheberrechtsgeschichte bestimmten,3 war dies kein spezifisches Phänomen des deutschen Kaiserreichs; vielmehr sollte die technische Entwicklung fortan die Triebfeder für eine differenzierende Ausgestaltung des Urheberrechtsschutzes in sämtlichen Industriestaaten und nicht zuletzt für den Regelungsumfang der 1886 in Kraft getretenen Berner Übereinkunft werden. Betrachtet man die etwa 200jährige Geschichte des Urheberrechts, seit sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Vorstellungen vom Recht an geistigen Schöpfungen zu präzisieren begannen, so erweisen sich die fünf Jahrzehnte des Kaiserreichs als die wohl fruchtbarsten für die urheberrechtliche Gesetzgebung, Rechtsprechung und Theorie sowie für die internationale Ausgestaltung des Urheberrechtsschutzes. Die bahnbrechenden Veränderungen jener Zeit erhellt ein kurzer Rückblick auf das ihnen vorangegangene Jahrhundert. (Paragraphen ohne Gesetzesangaben sind solche des in demjeweiligen Abschnitt beschriebenen Gesetzes.) 1 Dazu eingehend Wadle: Der Weg zum gesetzlichen Schutz, S. 93 ff.; Wieacker: Privatrechtsgeschichte, S. 441 f. und 543 f. 2 Zur Geschichte des Photographieschutzes siehe Wadle: Photographie und Urheberrecht, S. 243 f. 3 Siehe Wadle: Die Entfaltung des Urheberrechts, S. 233; speziell im Hinblick auf die Musik Schmieder: Musikkultur, S. 2105.
2.2.1
Die Entwicklung des
Urheberrechts
Zur Rechtsentwicklung vor 1871 Als am 11. Juni 1870 der Norddeutsche Bund das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werkel erließ, das ein Jahr später infolge der Gesetzgebungskompetenz des Deutschen Reiches fur den Schutz des geistigen Eigentums als Reichsgesetz übernommen wurde,5 war es kaum ein Jahrhundert her, daß heftig darüber gestritten wurde, ob dem Urheber ein geistiges Eigentum an seinem Werk zuzubilligen sei oder ob es - einmal als Werkstück in den Handel gelangt - jedermann zum Nachdruck freistehe. 6 Damals ging es noch in erster Linie um die Absicherung der Originalverleger gegen den immer bedrohlicher werdenden Büchernachdruck. Der Verleger brauchte eine Rechtsgrundlage, auf die er sich gegenüber dem Nachdrucker auch dort berufen konnte, wo ihn kein - territorial auf den Messeplatz Leipzig beschränktes - kursächsisches Privileg schützte.7 Diese Rechtsgrundlage wurde zunehmend im Verlagsvertrag gesehen, in dem der Autor über sein geistiges Eigentum verfügt hatte, in der Regel uneingeschränkt gegen ein einmaliges Honorar und gegen eine aus Billigkeitsgründen gewährte Wiederholungsvergütung bei weiteren Auflagen. 8 Diese traditionelle Vertragspraxis sah sich zunehmend in Frage gestellt, als bei erfolgreichen Werken die gezahlten Autorenhonorare in ein grobes Mißverhältnis zu den Verlegergewinnen gerieten.9 Noch vor der Wende zum 19. Jahrhundert traten entscheidende rechtliche Veränderungen ein: Das Allgemeine Landrecht fur die Preußischen Staaten von 1794, das als erstes allgemeines Gesetz das Verlagsrecht - noch nicht das Urheberrecht - regelte, behielt dem Autor ein Einwilligungsrecht vor, wenn nach einer limitierten Erstauflage eine Neuauflage veranstaltet werden sollte (§ 1014) und wenn der Verleger eine neue Ausgabe beabsichtigte (§ 1017).10 Diese gesetzliche Regelung fand ein Jahr später ihren Niederschlag in der Entscheidung des wohl bedeutendsten Verlagsrechtsstreites des 18. Jahrhunderts, als es zwischen der Weidmannschen Buchhandlung und Göschen um das Recht zur Herausgabe einer Gesamtausgabe der Werke Christoph Martin Wielands ging. Nach dem letztinstanzlichen Urteil des sächsischen Oberappellationsgerichts hatte der Autor seinem ursprünglichen Verleger in der Regel nur das Recht zur Veranstaltung einer einzigen Ausgabe übertragen.11
4 Bundesgesetzblatt 1870, S. 339-353; für Hessen, Baden und Württemberg erlangte dieses Gesetz durch die Verträge zur Bildung des Deutschen Bundes mit Wirkung vom 1.1.1871 Geltung. 5 Art. 4 Ziff. 6 der Reichsverfassung. Für Bayern trat das Gesetz vom 11.6.1870 aufgrund des Gesetzes vom 22.4.1871 betreffend die Einführung norddeutscher Bundesgesetze in Bayern, Ziff. 23, am 1.1.1872 in Kraft (bayer. Gesetzes-Blatt 1870/71 Beilage 110). 6 Zu den Einwendungen gegen einen Urheberrechtsschutz auch Rehbinder: 150 Jahre moderne Urheberrechtsgesetzgebung, S. 328 f. 7 Vogel: Deutsche Urheber- und Verlagsrechtsgeschichte, Sp. 59 ff.; Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 55 ff., Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 121 ff., 157 ff. 8 Dazu Vogel: Deutsche Urheber-und Verlagsrechtsgeschichte, Sp. 64 f.; zur Vertragspraxis Vogel: Urhebervertragsrechtsprobleme, S. 423; zum Autorenhonorar im 18. Jahrhundert siehe Bosse: Autorschaft, S. 66 ff., 79 ff., 87, sowie Haferkorn: Der freie Schriftsteller, Sp. 125-180 ff., 210 f. 9 Bosse: Autorschaft, S. 88, sowie Haferkorn: Der freie Schriftsteller, S. 185. 10 Zum Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 siehe Vogel: Deutsche Urheberund Verlagsrechtsgeschichte, Sp. 89 ff.; Strömholm: Le droit moral, Bd. I, S. 217 ff. 11 Siehe Ungern-Stemberg: Christoph Martin Wieland, Sp. 1211/1463 ff.; Vogel: Urhebervertragsrechtsprobleme, S. 423 ff.
124
2 Recht, Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
Die Vorstellung vom geistigen Eigentum als einem dem Sacheigentum entsprechenden Rechtsinstitut verlor in der Folgezeit zunehmend an Überzeugungskraft. Neben der einmaligen uneingeschränkten Verfugung im Verlagsvertrag geriet auch das »ewige Verlagsrecht« in Zweifel. 12 Das Badische Landrecht von 1809 blieb zwar terminologisch noch dem Eigentumsbegriff treu, gleichwohl bezeichnete der Schöpfer dieser Kodifikation, Johann Nikolaus Friedrich Brauer, diese Begriffswahl wegen des Persönlichkeitsbezugs des Urheberrechts als »Rechtsdichtung«. 13 Seine Begründung der von der traditionellen Eigentumsvorstellung abweichenden gesetzlichen Befristung des Urheberrechts bis zum Tode des Autors war konsequent: »Fällt der Kopf ins Grab, so fällt seyne Schrift ins Freye.« 14 Die sinkende Überzeugungskraft der Theorie vom geistigen Eigentum zeigte sich nach 1815 auch in der Bundesversammlung, als diese sich gemäß Artikel 18d der Wiener Schlußakte mit der »Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreiheit und die Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nachdruck« zu beschäftigen hatte. 15 Der von ihr in Auftrag gegebene Bericht des Gesandten von Berg enthielt drei für die Durchdringung der Rechtsnatur des Urheberrechts wesentliche Punkte: Zunächst nahm er eindeutig die Leistung des Urhebers zum Ausgang seiner Betrachtung. Sodann empfahl er die Erstreckung des Rechtsschutzes über die bloße identische Textübernahme hinaus auch auf unwesentlich veränderte Texte. Schließlich brach er - ebenso wie das Badische Landrecht, jedoch bereits mit modernerer Begründung und unterschiedlicher Rechtsfolge - mit der Vorstellung vom »ewigen Verlagsrecht« zugunsten einer dem Gemeinwohl sowie der Billigkeit entsprechenden und seither betont aus dem Alimentationsgedanken gerechtfertigten Schutzfrist von zehn Jahren über den Tod des Urhebers hinaus, eine Frist, die bereits vor der Jahrhundertwende in Frankreich gesetzliche Anerkennung gefunden hatte. 16 Trotz dieser Fortschritte in der Begriffsbildung wurde der Nachdruck, wenn auch vorwiegend aus wirtschaftspolitischen Erwägungen, noch immer in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes unterschiedlich beurteilt. Als sich die Bundesversammlung 1832 auf die bundesweite Anerkennung des Grundsatzes der Inländerbehandlung verständigte, war deshalb ein lückenloses Nachdruckverbot noch nicht gewährleistet. 17 Denn erst am 2. April 1835 beschloß sie ein einheitliches Verbot des Nachdrucks und die Sicherung des schriftstellerischen Eigentums nach gleichförmigen Grundsätzen, so daß zuletzt auch in Württemberg das Privileg seine fur die Urheber- bzw. Verlegerrechte konstitutive Wirkung
12 Dazu Vogel: Deutsche Urheber- und Verlagsrechtsgeschichte, Sp. 141 ff.; das sog. Ewige Verlagsrecht beruhte auf der uneingeschränkten Übertragung des Verlagsrechts durch den Autor. Das Verlagsrecht blieb beim Verleger, solange dieser den Markt mit ausreichenden Exemplaren versorgte (siehe Pütter: Der Büchernachdruck, S. 73). Aus dieser gewerblichen Praxis läßt sich freilich noch kein ewiges Urheberrecht des Autors begründen; vgl. Heymann: Die zeitliche Begrenzung des Urheberrechts, S. 49/75 f. 13 Brauer: Erläuterungen über den Code Napoléon, Bd. 1, S. 469 ff.; zum Badischen Landrecht siehe Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 117 ff. 14 Brauer: Erläuterungen über den Code Napoléon, Bd. 5, S. 483, Nr. 314. 15 Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 203 f. 16 Dazu ausführlich Gieseke, S. 206 ff.; Vogel: Deutsche Urheber- und Verlagsrechtsgeschichte, Sp. 136 ff. 17 Vogel, Sp. 159.
2.2.1
Die Entwicklung des Urheberrechts
verlor.18 Zwei Jahre später folgte trotz des Drängens Preußens, einen zeitlich längeren Schutz von 30 Jahren post mortem auctoris zu beschließen, die bundesweite Einfuhrung einer lediglich zehnjährigen Schutzfrist ab dem Erscheinen des Werkes (Beschluß vom 9. November 1837).19 Sie blieb damit hinter dem Preußischen Gesetz zum Schutz des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildungvom 11. Juni 1837 zurück, das nicht nur wegen seiner langen Schutzfrist, sondern auch wegen der erstmaligen Einbeziehung der bildenden Künste in den urheberrechtlichen Schutz als ausführlichstes und zugleich modernstes Urheberrechtsgesetz der damaligen Zeit galt.20 In seiner Ausgestaltung blieb dieses Gesetz nicht mehr streng am Tatbestand des Nachdrucks orientiert, denn es stellte auch das unveröffentlichte Werk unter Schutz. Überdies anerkannte es ein Veröffentlichungsrecht des Autors und gewährte Rechtsschutz 30 Jahre über den Tod des Urhebers hinaus (bei Werken der bildenden Kunst und bei Bühnenwerken nur zehn Jahre). Mit dem erstmals innerhalb des deutschen Sprachgebietes gesetzlich verankerten, jedoch noch auf unveröffentlichte Werke beschränkten Aufführungsrecht wies es den Weg, der über das Vervielfältigungsrecht hinaus zu einer umfassenderen Beteiligung des Urhebers am wirtschaftlichen Nutzen seines Werkes führte.21 Dem preußischen Gesetz folgten weitere, allerdings weniger ausführliche Gesetze unter anderem in Hamburg (1838), Sachsen-Weimar (1839), Bayern (1840), Braunschweig ( 1842) und Sachsen ( 1844).22 1841 erweiterte auch die Bundesversammlung den Rechtsschutz des Urhebers auf ein bundesweites Aufführungsrecht an ungedruckten dramatischen und musikalischen Werken.23 Mit Beschluß der Bundesversammlung vom 19. Juni 1845 wurden die langjährigen Bemühungen Preußens, innerhalb des Deutschen Bundes eine dreißigjährige Schutzfrist zur Geltung zu bringen, von Erfolg gekrönt.24 Ein weiterer Beschluß vom 6. November 1856 verlängerte letztmalig den Schutz der Werke von Schiller, Goethe, Jean Paul, Wieland und Herder bis zum 9. November 1867, so daß diese Klassiker fortan von jedermann gedruckt werden konnten.25
Die Urheberrechtslehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Die zahlreichen gesetzlichen Regelungen des Nachdrucks innerhalb des Deutschen Bundes beruhten keineswegs auf einem einheitlichen theoretischen Verständnis von den Rechten der Werkschöpfer, Werkmittler und Werknutzer. Noch in der Mitte des 19. Jahr18 Vogel, Sp. 160 f. 19 Zur weiteren Entwicklung der urheberrechtlichen Diskussion in der Bundesversammlung siehe Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 145 ff. 20 Siehe Strömholm: Le droit moral, Bd. I, S. 219 ff. 21 Einzelheiten zum Preußischen Gesetz vom 11.6.1837 siehe die Kommentierung anhand der Gesetzesmaterialien von Hitzig: Das königlich-preußische Gesetz vom 11.6.1837, S. 47 ff.; zur Vorgeschichte des Gesetzes siehe Wadle: Das preußische Urheberrechtsgesetz, S. 167 ff. 22 Siehe Schletter: Handbuch der deutschen Pressegesetzgebung, S. 30, 37, 138, 90, 78. 23 Protokolle BV 1841, § 190, S. 234 f. 24 Protokolle BV 1845, § 228, S. 538 f. 25 Die Schutzfrist der Werke dieser Autoren wurde vorher von der Bundesversammlung in Beschlüssen zwischen 1838 und 1842 einzeln verlängert; siehe Schletter: Handbuch der deutschen Preßgesetzgebung, S. 5 ff. Zum Beschluß vom 9.11.1856 siehe Protokolle BV 1856, § 130 und § 296. Zur wirtschaftlichen und buchgeschichtlichen Bedeutung des Beschlusses vom 6.11.1856 für Klassikerausgaben, vgl. Sippell-Amon: Die Auswirkung der Beendigung, Sp. 349-416.
126
2
Recht, Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
hunderts fand das Urheberrecht durch die Krise der Theorie vom geistigen Eigentum in der rechtswissenschaftlichen Literatur Begründungen, die die Herkunft des Urheberrechts aus einem Gewerberecht noch einmal deutlich werden ließen.26 So verstanden die einen das Recht des Urhebers als bloßen Reflex gesetzlicher Nachdruckverbote (Jolly, Maurenbrecher, Gerber, Laband),27 andere als ein generalisiertes Privileg, d.h. als ein lediglich aus wirtschaftlichen oder kulturellen Zweckmäßigkeitserwägungen hervorgegangenes Monopolrecht,28 und wieder andere sahen das Urheberrecht in seinem Wesensgehalt auf die verlegerischen Befugnisse der Werkvervielfaltigung und des Nachdruckverbots (Verlagsrechtstheorie)29 beschränkt. Richtungweisend blieben aber allein die Theorien, die zwar nicht die dogmatische Begründung, wohl aber den Gerechtigkeitsgehalt der Lehre vom geistigen Eigentum 30 aufnehmend, das Wesen des Urheberrechts überzeugender auszuloten versuchten. Es sind dies in erster Linie die persönlichkeitsrechtliche Theorie, die mit den Arbeiten Otto von Gierkes31 ihre vollendetste Ausprägung erfuhr, und die dualistische Theorie, als deren Begründer und Hauptvertreter Josef Kohler32 gilt. Ihre Wurzeln hat die persönlichkeitsrechtliche Theorie weniger in Kants Abhandlung Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks33 als in den Arbeiten Leopold von Neustetels ( 1824), der als erster ein personalistisches Verständnis des Urheberrechts begründete. Er leitete das Recht, »Gedanken zu äußern und mitzuteilen«, aus der Rechtsfähigkeit der Person her: »Unsere Sprache umfaßt die Rechtsfähigkeit mit ihren unmittelbaren und mittelbaren Ausflüssen, mit ihren Grundlagen und der Ehre, worin sich dieselbe reflektiren, in dem Worte: Persönlichkeit.«34 Die enge persönliche Verbindung zwischen Schöpfer und Werk war auch für Johann Kaspar Bluntschli Ausgangspunkt seiner Kritik der Lehre vom geistigen Eigentum, denn das Urheberrecht weise immer auf die bestimmte individuelle Person des Autors zurück, von dem es sich nie völlig losmachen könne, solange es überhaupt bestehe, während für das Eigentum die Person des Eigentümers gleichgültig sei.35 Trotzdem sei dieses Recht vererblich und während seiner Dauer übertragbar.36
26 Ausführlich dazu: Dölemeyer/Klippel: Der Beitrag der deutschen Rechtswissenschaft, S. 185-206 f. 27 Einzelheiten bei Bappert: Wege zum Urheberrecht, S. 281 ff. 28 Siehe Bappert: Wege zum Urheberrecht, S. 287 f.; kritisch zu dieser Theorie Kohler: Autorrecht, S. 63 ff. 29 Siehe Bappert: Wege zum Urheberrecht, S. 288 ff. 30 Vgl. Klippel: Die Idee des geistigen Eigentums, S. 121 ff.; siehe auch Wadle: Entwicklungsschritte des geistigen Eigentums, S. 245-258. Eine ausführliche Rechtfertigung erfuhr die Lehre vom geistigen Eigentum noch einmal durch Osterrieth: Altes und Neues, S. 78 ff.; zur übereinstimmenden Funktion von persönlichkeitsrechtlicher und immaterialgüterrechtlicher Theorie siehe Klippel: Historische Wurzeln und Funktionen, S. 132-150 f., 154; zu ihrer politischen und ökonomischen Rechtfertigung S. 151 ff. 31 Gierke: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, S. 748 ff. 32 Vgl. Köhler: Autorrecht; Kohler: Das literarische Kunstwerk und Autorschutz; Kohler: Kunstwerkrecht. 33 Kant: Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks, S. 403; vgl. zur Kant-Rezeption: Klingenberg: Vom persönlichen Recht, S. 186 ff. 34 Neustetel: Der Büchernachdruck, S. 30; zur Gleichsetzung von Persönlichkeit und Rechtsfähigkeit in der Pandektistik siehe Klippel: Historische Wurzeln und Funktionen, 132-137 f. 35 Bluntschli: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, S. 188 f. 36 Bluntschli, S. 194-202.
2.2.1
Die Entwicklung des
Urheberrechts
Nach Auffassung Otto von Gierkes 37 wiederum ist Gegenstand des Urheberrechts das als ein Bestandteil der Persönlichkeitssphäre des Werkschöpfers zu verstehende Geisteswerk. 38 Es vermittelt ihm in seinem Kern die Befugnis, über die Wiedergabe seines Werkes zu entscheiden. Von Gierke leugnete zwar nicht die vermögensrechtliche Komponente des Urheberrechts, verstand sie jedoch als bloße Ausstrahlung des personenrechtlichen Herrschaftsbereichs und nicht als eine diesem Recht wesentliche Befugnis. 39 Fast zur gleichen Zeit erhielt die Lehre vom Immaterialgüterrecht durch Josef Kohler ihre wissenschaftliche Begründung. 40 Sie basiert in Anknüpfung an die Überlegungen Fichtes, Hegels und Schopenhauers auf dem naturrechtlichen Prinzip, daß durch die Schöpfung eines unkörperlichen Werkes ein wirtschaftliches Gut erzeugt werde, welches rechtlichen Schutz verdiene. 41 Diese Grundüberlegung teilt die immaterialgüterrechtliche Theorie Kohlers mit der Lehre vom geistigen Eigentum, jedoch unterscheidet sie sich von dieser durch die Berücksichtigung der besonderen Rechtsnatur des unkörperlichen Gegenstandes gegenüber dem Sachgut. 42 Neben dem ausschließlichen Recht an einem immateriellen Gut gewährt Kohler dem Urheber ein Persönlichkeitsrecht, das freilich ohne spezifisch urheberrechtlichen Gehalt ist. 43 In seinem 1907 erschienenen Werk Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht erkannte Kohler eine engere Verknüpfung zwischen dem vermögensrechtlichen Immaterialgüterrecht und dem Persönlichkeitsrecht des Urhebers an. 44 Er näherte sich damit bereits der Auffassung vom einheitlichen, sowohl Vermögens- wie auch persönlichkeitsrechtliche Elemente aufweisenden Urheberrecht an, die seit den frühesten Vertretern der sog. monistischen Theorie, Allfeld 45 und de Boor 46 , in Deutschland wachsende Zustimmung fand. Große wissenschaftliche und praktische Bedeutung erlangten auch Kohlers Überlegungen zum Schutzumfang des Urheberrechts. Längst genügte der Schutz vor identischer Werkübernahme, der im Nachdruckzeitalter im Vordergrund des Interesses der Rechtsinhaber stand, nicht mehr, um deren wirtschaftliche Bedürfnisse abzusichern. Die Nutzung geschützter Werke in bearbeiteter oder umgestalteter Form, sei es als Übersetzung, sei es als Umarbeitung eines Orchesterstückes für die Hausmusik (vgl. das Kap. »Musikverlage« im folgenden Teilband), sei es als Übertragung eines Sprachwerkes in eine andere Literaturform usw., wurde immer mehr zum Geschäft. Bereits Fichte hatte nachgewiesen, daß mit der Veröffentlichung eines Werkes nicht die in ihm enthaltenen Gedanken, wohl aber die Form dieser Gedanken, »die Ideenverbindung, in der, und die Zeichen, mit denen sie vorgetragen werden«, Eigentum des Verfassers werden. 47
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Vgl. Gierke: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, S. 748 ff. Gierke, S. 756. Gierke, S. 766. Zu Köhler siehe Bappert: Wege zum Urheberrecht, S. 292 ff.; Püschel: 100 Jahre Berner Union, S. 23 ff; Ulmer: Urheber- und Verlagsrecht, S. 64; Dölemeyer: »Das Urheberrecht ist ein Weltrecht«, S. 139 ff. Kohler: Autorrecht, S. 98 ff, 103 ff, 112 ff; zur Rechtfertigung der Immaterialgüterrechte aus der Arbeitstheorie bei Kohler siehe Klippel: Historische Wurzeln und Funktionen, S. 132-149. Klippel: Historische Wurzeln und Funktionen, zur Kritik Kohlers an der Lehre vom geistigen Eigentum siehe Kohler: Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht, S. 21 ff. Kohler: Autorrecht, S. 154 f.; Kohler: Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht, S. 15 f. Köhler: Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht, S. 439 f. Allfeld: Kommentar betreffend das Urheberrecht, S. 22 f. De Boor: Vom Wesen des Urheberrechts, S. 34.
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Josef Kohler unterschied nun genauer zwischen zunächst der äußeren Form eines Werkes, auf die in der Regel Übersetzer oder Umbildner eines Musikwerkes ihren urheberrechtlichen Schutz gründen können, sodann der inneren Form der Ideenentwicklung, d.h. der Gedankenfuhrung, dem Darstellungstalent, der besonderen Auswahl des Stoffes usw., die etwa bei wissenschaftlichen oder pädagogischen Werken neben der äußeren Form für den urheberrechtlichen Schutz ausschlaggebend ist (nicht dagegen die wissenschaftliche Lehre), und schließlich einer dritten Stufe, in der auch der der künstlerischen Phantasie entsprungene Inhalt des Werkes Gegenstand des Urheberschutzes sein kann. 48 Die Gesetzgebung von 1870/1876 Die Gesetzgebung griff die theoretischen Erkenntnisse der Wissenschaft nur zögernd auf, wenngleich schon in den Materialien des preußischen Gesetzes vom 11. Juni 1837 persönlichkeitsrechtliche Begründungen des Urheberrechts, insbesondere seiner Schutzfrist, anzutreffen sind.49 Die territorialstaatlichen Gesetze des 19. Jahrhunderts gründeten noch überwiegend auf der wenig differenzierten Idee vom geistigen Eigentum bzw. auf der Vorstellung von einem Urheberrecht als bloßem Nachdruckverbot, ohne freilich inhaltlich übereinstimmende Regelungen zu enthalten. Die Bestrebungen nach einer einheitlichen bundesweiten Gesetzgebung kamen erst voran, als der Börsenverein der Deutschen Buchhändler auf Anregung der königlichsächsischen Regierung 1857 einen Gesetzentwurf erarbeitete, der teilweise auf das preußische Gesetz von 1837 zurückging.50 Er wurde zusammen mit einem österreichischen Regierungsentwurf einer von der Bundesversammlung eingesetzten Kommission zur Prüfung vorgelegt, 1864 überarbeitet und als sog. Frankfurter Entwurf von der Bundesversammlung den einzelnen Bundesstaaten zur Annahme empfohlen. Letztlich scheiterte er jedoch am Widerstand Preußens und seiner gegen die Stärkung des Deutschen Bundes gerichteten Politik.51 Nach der Gründung des Norddeutschen Bundes verstärkten sich die Bemühungen um ein einheitliches Urheberrecht. Auf der Grundlage des Entwurfs von 1857 erarbeitete Otto Dambach unter Beachtung zahlreicher sachverständiger Stellungnahmen einen Entwurf, der am 3. Dezember 1869 dem Plenum des Bundesrates eingereicht und am 14. Februar 1870 dem Reichstag zur Beschlußfassung vorgelegt wurde. 52 Die Beratungen mündeten in das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken vom 11. Juni 1870, das wie das preußische Gesetz von 1837 der Begrifflichkeit der Nachdruckgesetzgebung verhaftet blieb, gleichwohl wie das bayerische Gesetz von 1865 aber schon offiziell den Titel »Urheber-
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Fichte: Beweis der Unrechtmäßigkeit, S. 443,447, 450. Kohler: Autorrecht, S. 172 ff. Heymann: Die zeitliche Begrenzung, S. 86 ff. Klostermann: Das Urheberrecht an Schriftwerken, S. 4; Allfeld: Kommentar das Gesetz betreffend das Urheberrecht, S. 4. 51 Zur Geschichte des Frankfurter Entwurfs, seinem Scheitern und seiner Bedeutung für das bayerische Urheberrechtsgesetz von 1865 siehe Wadle: Der Frankfurter Entwurf, S. 309 ff.; Mandry: Der Entwurf, S. 1-55, 241-274, 567-609. 52 Drucksachen des norddeutschen Bundesrates 1869, Nr. 115 (Entwurf), Nr. 139 (Motive).
2.2.1
Die Entwicklung des Urheberrechts
rechtsgesetz« führte 53 und auch als solches und nicht etwa als Verlagsgesetz verstanden wurde. Abgelehnt wurde dagegen ein ebenfalls zur Konimissionsberatung vorgelegtes Gesetz zum Schutz der Photographie.54 Bis zur zweiten Lesung noch sollte sich das Urheberrechtsgesetz über seinen endgültigen Regelungsgegenstand hinaus auch auf Werke der bildenden Kunst erstrecken (§§ 59-60). Das Kunsturheberrecht wurde jedoch ausgegliedert, weil man sich über die vorgesehene freie Benutzung von Werken der bildenden Künste »als Muster zu den Erzeugnissen der Industrie, der Fabriken, Handwerke oder Manufakturen« (§ 60 Nr. 4 des Entwurfs) nicht einigen konnte. Für die Künstler war diese liberalem Wirtschaftsverständnis entsprungene musterschutzfeindliche Regelung nicht annehmbar. Erst die gesetzliche Anerkennung eines Musterschutzes durch das Geschmacksmustergesetz von 1876 ebnete den Weg für einen gesetzlichen Kunst- und Photographieschutz.55 Gesetz wurden dagegen die Vorschriften des Entwurfs über die Rechte an Schriftwerken (Abschnitt I), die Regelungen über geographische, topographische, naturwissenschaftliche, architektonische, technische und ähnliche Zeichnungen und Abbildungen (Abschnitt II) und die Bestimmungen zum Schutz musikalischer Kompositionen (Abschnitt III). Der Schutz der Zeichnungen und der Musikwerke wurde weitgehend durch Verweisung auf die Bestimmungen über die Schriftwerke hergestellt (§§ 43,44), da diese Werke ebenso wie jene des Schutzes gegen den Nachdruck bedurften. Im Abschnitt IV des Gesetzes erhielt der Komponist zum Recht der Vervielfältigung auch das der öffentlichen Aufführung, jedoch nur, wenn er sich dieses Recht durch einen Vermerk auf dem gedruckten Werkexemplar ausdrücklich vorbehalten hatte (§§ 55 Abs. 2 S. 2). Das Recht der Aufführung dramatischer und dramatisch-musikalischer Werke war demgegenüber uneingeschränkt gewährleistet (§ 50 Abs. 2 S. I). 56 Die Rechte des Urhebers wurden in diesem Gesetz nicht als positive Nutzungs- und negative Verbotsrechte begriffen, sondern ergaben sich nach Umfang, Dauer (30 Jahre) und Durchsetzungsmöglichkeit (strafrechtlicher Schutz)57 - von der positiven Normierung des mechanischen Vervielfaltigungsrechts (§ 1) abgesehen - als Folge der Regelung des Nachdruckverbots. Der Verletzungstatbestand des Nachdrucks als Grundlage des Urheberrechtsschutzes zwang den Gesetzgeber dazu, dem Urheber vorbehaltene Nutzungen als positive Nachdrucktatbestände zu behandeln (§ 5 »als Nachdruck ist auch anzusehen«) und die Schranken des Urheberrechts als Lockerungen des Nachdruckverbots zu regeln (§ 7). Das Verbreitungsrecht fand Erwähnung nur im Rahmen der Strafbestimmungen, denen wegen der noch nicht anerkannten Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche neben den Schadensersatzansprüchen zentrale Bedeutung bei der Durchsetzung der Rechte zukam. Letztlich gewährte dieses Recht auch Persönlichkeitsrechte nur ansatzweise.58
53 Zum Begriffswandel siehe Boytha: Whose Right is Copyright? S. 379-381. 54 Kommissionsbericht, abgedruckt in den Drucksachen des norddeutschen Reichstags 1870, Nr. 138. Zur Gesetzgebungsgeschichte des Photographieschutzes Osterrieth: Altes und Neues, S. 343-345. 55 Ausführlich dazu Wadle: Die Abrundung, S. 771; Osterrieth: Altes und Neues, S. 343-346; Allfeld: Kommentar zu dem Gesetz vom 9.1.1907, Einleitung S. 5 ff. 56 Die unbefugte öffentliche Auffuhrung wurde dem Nachdruck gleichgestellt und als solcher geahndet (§ 54). Zum Aufführungsrecht s. Klostermann: Das Urheberrecht an Schriftwerken, S. 39. 57 Zu den Sanktionsmöglichkeiten siehe Klostermann, S. 40 ff.
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Unter den gleichen Mängeln litten auch das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künstev om 9. Januar 1876 und das Gesetz betreffend den Urheberrechtsschutz an Werken der Photographie, die nach der ursprünglichen Ablehnung am 9. Januar 1876 bzw. 10. Januar 1876 in Kraft traten.59 Das Kunsturheberrechtsgesetz ließ wie das Urheberrechtsgesetz von 1870 eine materielle Regelung von Schutzvoraussetzungen, Urheberschaft, Nutzungsbefugnissen und Schrankenregelungen vermissen und beruhte statt dessen auf einer detaillierten Ausgestaltung des Begriffs der »Nachbildung«. Neben den dogmatischen Unzulänglichkeiten dieses Gesetzes stieß die Freigabe von Werken der Baukunst (§3) und solcher Werke der bildenden Kunst, die mit Zustimmung ihres Urhebers gewerblich nachgebildet worden waren, auf besondere Kritik.60 Auch das Photographieschutzgesetz vom 10. Januar 1876 blieb durch die Versagung des Nachbildungsschutzes bei der Benutzung von Photographien für industrielle Produkte (Postkarten, Bucheinbände, Reklameschilder, Gebrauchsgegenstände etc.) hinter den Bedürfnissen der Berechtigten zurück. Es gewährte im übrigen dem Verfertiger der Photographie auf fünf Jahre ab deren Erscheinen ein ausschließliches, vererbliches und übertragbares Nachbildungsrecht.61 Wie schon das preußische Gesetz von 1837 sahen auch die neuen Urheberrechtsgesetze spezielle Sachverständigenvereine für Literatur, Musik, später auch für Kunst und Photographie, vor, die bei Streitigkeiten über den Tatbestand des Nachdrucks sowie über die Höhe des Schadens angerufen werden konnten.62 Ihre Entscheidungen sind in umfangreichen Sammlungen veröffentlicht worden.63 Ein erster Eindruck spricht dafür, daß die Voten dieser Sachverständigenvereine vielfach die systematischen und begrifflichen Defizite der gesetzlichen Regelungen abzugleichen hatten, welche sämtliche urheberrechtlichen Verletzungstatbestände unter die Begriffe des Nachdrucks und der Nachbildung faßten. Die gleiche Aufgabe, richterrechtlich den Schutzumfang des Urheberrechts zu bestimmen, stellte sich auch der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Ein anschauliches Beispiel dafür gibt eine seiner frühen urheberrechtlichen Entscheidungen, in der es um die Dramatisierung eines Romanes ging, die nach heutigem Urheberrechtsverständnis als Be-
58 Allgemeines zum Gesetz von 1870 Strömholm: Le droit moral, Bd. 1, S. 228; Gamm: Urheberrechtsgesetz, Einführung Rdnr. 4. 59 Reichsgesetzblatt 1876, S. 4 ff. und 8 ff. 60 Einzelheiten siehe Wadle: Die Abrundung, S. 771-774; Gamm: Urheberrechtsgesetz, Einfuhrung Rdnr. 6; Kohler: Kunstschutzgesetz, S. 16 f. 61 Wadle: Die Abrundung, S. 771-775; Gamm: Urheberrechtsgesetz, Einführung Rdnr. 7; kritisch zum Photographieschutzgesetz Kohler: Kunstschutzgesetz, S. 11. 62 §§ 31, 49 des Urheberrechtsgesetzes von 1870, § 16 Abs. 2 des Kunstschutzgesetzes und § 10 des Photographieschutzgesetzes. 63 Dambach: Gutachten des Königlich Preußischen literarischen Sachverständigen-Vereins über Nachdruck und Nachbildung aus dem Jahre 1864-1873, Berlin 1874; 1874-1889, Berlin 1891 ; Heydemann und Dambach: Die Preußische Nachdruckgesetzgebung erläutert durch die Praxis des Königlich-literarischen Sachverständigen-Vereins, 1863; Daude: Gutachten der Königlich Preußischen Sachverständigen-Kammern für Werke der Literatur und der Tonkunst aus den Jahren 1902bisl907, Leipzig 1907; Einzelheiten zu Geschichte, Organisation und leitenden Grundsätzen der SachverständigenVereine siehe Dambach: Einleitung zu »Gutachten« sowie die Instruktion über die Zusammensetzung und den Geschäftsbetrieb der Sachverständigen-Vereine vom 12.12.1870, Bundesgesetzblatt 1870, S. 621; Erlasse des Reichskanzlers vom 16.7.1879 und 25.10.1882, Zentralblatt für das Deutsche Reich 1879, S. 490, 1882, S. 417.
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Die Entwicklung des Urheberrechts
arbeitung anzusehen ist. 64 Das Reichsgericht deutete die Dramatisierung als mechanische Vervielfältigung eines Schriftwerkes, die ohne Genehmigung des Urhebers gemäß § 4 in Verbindung mit § 1 des Gesetzes vom 10. Juni 1870 als Nachdruck zu betrachten sei. In der Begründung heißt es: »Eine solche Vervielfältigung ist offenbar dann vorhanden, wenn der Inhalt eines Schriftwerkes wortgetreu und bei unwesentlichen Veränderungen oder Zutaten in einer im wesentlichen identischen Form reproduziert wird ... Das Gesetz vom 11. Juni 1870 enthält keine Bestimmung, welche vorschreibt, oder aus welcher als Regel zu folgern wäre, daß die teilweise Vervielfältigung eines Schriftwerkes als Nachdruck nicht angesehen werden soll, wenn sie bei der Umformung des Schriftwerkes in ein Werk anderer Gattung, insbesondere bei der Umformung eines Romans in ein Drama erfolgt.« 65 In der weiteren Spruchpraxis des Reichsgerichts gerann der Begriff des Nachdrucks endgültig zum bloßen Rechtsbegriff für die Verletzung urheberrechtlicher Nutzungsoder Einwilligungsbefugnisse: »Nachdruck ... ist lediglich die Bezeichnung des juristisch-technischen Begriffes, nicht die Kennzeichnung der Art der Wiedergabe«, heißt es in der historischen Entscheidung des Reichsgerichts vom 19. Dezember 1888,66 in der die gelochten Tafeln für die Wiedergabe von Musikwerken durch das damals erfundene »Herophon«, eines Vorläufers unseres heutigen Plattenspielers, als Nachdrucke gewertet wurden. In einer weiteren Entscheidung vom 31. Januar 1891,67 in der es um die ähnlich funktionierenden »Clariphone« ging, behalf sich das Gericht mit Analogieschlüssen, um neueren Entwicklungen bei der Werknutzung gerecht werden zu können: »Es ist das Mittel, welches die Komposition in vielen auf mechanischem Wege leicht herstellbaren und leicht vertreibbaren Exemplaren sinnlich dauernd darstellt und so die jeweilige Wiedergabe der Komposition ermöglicht und erleichtert, an welche sich das Verbot des Nachdrucks anheftet. Durch die Erfindung und Ausbildung dieser mechanischen Vervielfältigung ist es erst möglich geworden, das geistige Eigentum zu sichern und verwertbar zu machen. Ist es diese Funktion des Mittels, wodurch das geistige Eigentum gangbar und umsehbar gemacht wird, so stehen darin die Notenblätter der mechanischen Musikwerke den gedruckten Noten gleich, und deshalb sind sie ihnen auch für den Schutz des geistigen Eigentums und das Verbot des Nachdrucks gleichzustellen... Es ist die Analogie, mittels welcher die Rechtsprechung die bestehenden Gesetze den neu entstehenden Erscheinungen des Lebens anpaßt. Nur wenn den neuen Formen ein besonderer Grund anhaften sollte, welcher die Anwendung des sonst gleichen gesetzlichen Gedankens ausschlösse, würde die Analogie ausgeschlossen sein«. 68 Die Internationalisierung des Urheberrechts Nach dem Gesetz von 1870 begann die bis dahin überragende Bedeutung des Schutzes schriftstellerischer Werke für die gesetzliche Ausgestaltung des Urheberrechts nachzulassen. Dies hat sicher zunächst darin seinen Grund, daß die Wissenschaft das Wesen dieses Rechts zunehmend allgemeiner im Schutz persönlich-geistiger Schöpfungen, also nicht 64 65 66 67 68
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt) 8, 428. RGSt 8, 428/430 f. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (RGZ) 22, 174/176. RGZ 27, 60. RGZ 27, 60/65 f.
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mehr im wesentlichen nur von Schriftwerken, sah und daß, befördert durch den technischen Fortschritt, nicht nur neue Werkarten wie die Photographie entstanden, sondern auch neue Arten der Werknutzung eröffnet wurden. Mit der Möglichkeit der mechanischen Werkwiedergabe, gleich welcher Technik, rückte die Frage des Schutzes musikalischer Werke über ein bloßes Nachdruck- und Auffiihrungsverbot hinaus zunehmend ins Blickfeld. Sie blieb jedoch national wie auch international lange zugunsten der betroffenen Industrien, die den Absatz ihrer Wiedergabegeräte gefährdet sahen, ungelöst. Erst 1910 sah sich der Gesetzgeber veranlaßt, das deutsche Urheberrechtsgesetz von 1901 an die Beschlüsse der Berliner Revisionskonferenz (1908) der Berner Übereinkunft von 1886 anzupassen und dem Komponisten das Recht der mechanischen Vervielfältigung auch insoweit vorzubehalten. Vor der Schilderung der weiteren nationalen Gesetzgebung ist es unerläßlich, auf die Gründung der Berner Union im Jahre 1886 näher einzugehen. Sie war das erste mehrseitige internationale Urheberrechtsabkommen, das in der Folgezeit für viele nationale Gesetzgebungen vorbildlich wurde. Seine historischen Wurzeln hat es in zahlreichen bilateralen Vereinbarungen, die vor allem Frankreich, England, Italien und mehrere deutsche Staaten zwischen 1840 und 1885 untereinander geschlossen hatten, um ihre Originalproduktion vor dem Nachdruck im Ausland zu schützen.69 Diese Verträge blieben naturgemäß lückenhaft und für eine Absicherung des Handels mit Verkörperungen urheberrechtlich geschützter Werke unzureichend. Autoren und Verleger erhoben deshalb in zunehmendem Maße die Forderung eines allgemeinen grenzüberschreitenden Urheberschutzes. Wieder war es der Börsenverein der Deutschen Buchhändler, der die Initiative ergriff. Auf dem 1882 in Rom abgehaltenen Kongreß der Association Littéraire et Artistique Internationale (ALAI),70 einer in Frankreich gegründeten internationalen Vereinigung von Autoren, Komponisten und Verlegern zur Förderung des Urheberrechts, schlug er vor, eine Union zum Schutze des literarischen Eigentums nach dem Vorbild des Weltpostvereins zu gründen.71 Die ALAI bat daraufhin die Schweizer Regierung, zur Erörterung dieser Frage eine internationale Konferenz einzuberufen. Nach ersten inoffiziellen Beratungen 1883 in Bern lud der Schweizerische Bundesrat im folgenden Jahr zu einer ersten diplomatischen Konferenz nach Bern ein, an der Delegierte aus zwölf Ländern teilnahmen.72 Dort wurde der von der deutschen Delegation unterbreitete Vorschlag, eine umfassende Kodifikation zu erarbeiten, verworfen und dem bis heute dieser Konvention beherrschenden Prinzip der Inländerbehandlung, verbunden mit einzelnen - auch besondere Rechte genannten Mindestrechten, der Vorzug gegeben.73 Nach nur einer weiteren Konferenz im Jahre 1885
69 Zu den bilateralen Verträgen vor Gründung der Berner Übereinkunft siehe Cavalli: La genèse de la Convention de Berne, S. 69; Volkmann (Hrsg.): Deutsche Gesetze und Verträge, S. 64 ff.; zur Bedeutung der bilateralen Verträge für die Entstehung der Bemer Union siehe Boytha: Urheber- und Verlegerinteressen, S. 5 ff. 70 Zur Rolle der ALAI bei der Ausweitung des internationalen Urheberrechtsschutzes s. Masouyé: The Role of ALAI in the Development of International Copyright Law, Copyright 1978,120 ff.; Boytha: Urheber- und Verlegerinteressen, S. 23 ff.; Cavalli: La genèse de la Convention de Berne, S. 151 ff. 71 Cavalli: La genèse de la Convention de Berne, S. 152; Hubmann: 100 Jahre Berner Übereinkunft, S. 6. 72 Cavalli, S. 158 ff., 162 ff. 73 Hubmann, S. 7 f.
2.2.1 Die Entwicklung des Urheberrechts konnten am 9. September 1886 zehn Staaten die Übereinkunft betreffend die Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst unterzeichnen, nämlich Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Haiti, Italien, Liberia, Schweiz, Spanien und Tunesien.74 Die Konvention trat am 5. Dezember 1887 in Kraft, ohne daß ihr die Vereinigten Staaten, die noch 1885 an den Beratungen teilgenommen hatten, beigetreten waren. Mit ihnen Schloß das Deutsche Reich am 15. Januar 1892 ein wegen des regen Nachdrucks deutscher Bücher in Amerika 75 heftig gefordertes bilaterales Abkommen, das noch heute gilt.76 Zu den einzelnen Bestimmungen der Berner Übereinkunft Das Grundprinzip der Inländerbehandlung besagt, daß ein verbandseigenes Werk in jedem Verbandsland nach den dort geltenden Gesetzen zu behandeln ist. Die Anwendung des Rechts des Ursprungslandes, die in den Beratungen ebenfalls diskutiert wurde, hätte die Rechtsprechung vor außerordentlich schwierige Probleme gestellt. Sie fand deshalb keine Mehrheit.77 Lediglich bei der Regelung der Schutzdauer wurde der sog. Schutzfristenvergleich angeordnet, d.h., ein Werk konnte in keinem Verbandsland einen längeren Schutz beanspruchen, als ihm das Ursprungsland gewährte.78 Als Ursprungsland galt nach damaligem Recht dasjenige Land, in dem die erste Veröffentlichung eines Werkes erfolgt war. Bei der Bestimmung der Werke, die in den Genuß des Verbandsschutzes gelangen sollten, wurde ein Mittelweg zwischen dem sog. Heimat- und dem Territorialitätsprinzip gewählt. Geschützt waren danach zunächst die veröffentlichten und unveröffentlichten Werke von Angehörigen der Verbandsländer und sodann diejenigen Werke, die erstmals in einem Verbandsland veröffentlicht wurden, ohne daß der Urheber Angehöriger eines Verbandslandes sein mußte. Allerdings fand dieser Schutz nur mittelbar über den Verleger statt (Art. 2, 3).79 Übersetzungen erhielten Schutz wie Originalwerke (Art. 6). Zu den besonderen oder Mindestrechten, die unabhängig von den nationalen Gesetzgebungen von den Verbandsurhebern iure conventionis, d.h. auf jeden Fall, beansprucht werden konnten, zählte das ausschließliche Übersetzungsrecht für zehn Jahre, gerechnet ab der Veröffentlichung des Originalwerkes (Art. 5),80 sowie das Recht der Aufführung musikalischer, dramatischer und dramatisch-musikalischer Werke, wie es aus dem deutschen Urheberrechtsgesetz von 1870 bekannt ist, also mit einer Vorbehaltsregelung bei musikalischen Werken (Art. 9).
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Cavalli: La genèse de la Convention de Berne, S. 168. Siehe Fleischmann: Die Berner Übereinkunft, S. 45-47. Reichsgesetzblatt 1892, S. 473. Cavalli: La genèse de la Convention de Berne, S. 174 f. Zum Schutzfristenvergleich Hubmann: 100 Jahre Berner Übereinkunft, S. 7. Cavalli: La genèse de la Convention de Berne, S. 177 f. Die verlegerfreundliche Regelung des Art. 3 wurde 1896 in Paris dahin gehend geändert, daß nicht der Verleger, sondern der verbandsfremde Urheber für das erstmals in einem Verbandsland gedruckte Werk Schutz erhielt. 80 Diese Bestimmung ermöglichte es den Verlegern kulturimportierender Staaten, frühzeitig eine Übersetzung interessanter ausländischer Literatur in Auftrag zu geben. Diese Verleger waren es auch, die die Annahme von Art. 5 in den Beratungen nachhaltig vertraten, nachdem ursprünglich noch vorgesehen war, das Übersetzungsrecht während der gesamten Schutzdauer der Rechte am Originaltext zu gewähren, siehe Boytha: Urheber- und Verlegerinteressen, S. 30.
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Neben der Normierung von Verwertungsrechten kannte die Berner Übereinkunft auch Schrankenregelungen: Genehmigungsfrei zulässig waren der Abdruck von Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, soweit kein ausdrückliches Verbot entgegenstand (Art. 7), sodann das Zitat, sofern es die nationalen Urheberrechtsgesetze vorsahen (Art. 10), und schließlich die Entnahme geschützter Werke für Instrumente, die zur mechanischen Werkwiedergabe dienten. Dazu wurde im Schlußprotokoll der Übereinkunft (Ziff. 3) festgehalten, daß ihre Fabrikation und ihr Verkauf nicht als unerlaubte musikalische Nachbildung anzusehen sei. Die erste Überarbeitung des Abkommens - sie konnte nach ihrem Inhalt nur einstimmig erfolgen - stand zehn Jahre später, 1896, in Paris an. Ergänzend wurde geregelt, daß veröffentlichte Werke der Verbandsurheber nur dann Konventionsschutz beanspruchen konnten, wenn die Erstveröffentlichung auch in einem Verbandsland erfolgte. Für Nichtverbandsangehörige sollte fortan unmittelbarer Schutz bestehen, also nicht mehr lediglich über den Verleger. Die Schutzdauer des Übersetzungsrechts wurde für die Verbandsländer an die des Originalwerks angepaßt, wenn der Urheber innerhalb von zehn Jahren nach der ersten Veröffentlichung des Originalwerks eine Übersetzung in der Sprache, für die er den Schutz verlangte, veröffentlicht hatte. Festgelegt wurde nun auch die Verpflichtung zur Quellenangabe beim Abdruck von Artikeln, die nicht mit einem Vorbehalt versehen waren, und schließlich gewährte die Konvention seit der ersten Überarbeitung Schutz gegen die ungenehmigte Umgestaltung eines Romans in ein Theaterstück.81 Das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst von 1901, das Verlagsgesetz von 1901 und das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie von 1907 Auf nationaler Ebene richteten sich die Bemühungen um eine Verbesserung des Rechtsschutzes im wesentlichen auf einen seinem Charakter nach ausgereifteren und inhaltlich weitergehenden Urheberrechtsschutz und auf eine eingehendere Gestaltung der vertraglichen Beziehungen zwischen Urheber und Verleger. Nahezu alle Interessengruppen beteiligten sich an den Reformdiskussionen ausgangs des Jahrhunderts mit Beiträgen, Stellungnahmen, Denkschriften usw. Am 15. September 1891 verabschiedete der deutsche Schriftstellerverband einen Gesetzentwurf über das Verlagsrecht,82 während der Börsenverein der Deutschen Buchhändler in der Verlagsordnung vom 29. April 1893 seine Vorstellungen eines Verlagsgesetzes niederlegte.83 Sie wurde als Zusammenfassung buchhändlerischer Gepflogenheiten für die Ausgestaltung von Verlagsverträgen in Deutschland maßgebend und beschleunigte Bestrebungen, ein gesondertes Verlagsgesetz in Kraft zu setzen.84 Ihr Erfolg war das spätere Verlagsgesetz von 1901. Parallel zu den Arbeiten an einem eigenständigen Verlagsgesetz kamen bei den betroffenen Interessengruppen auch die Beratungen eines neuen Urheberrechtsgesetzes voran, die beim Börsenverein der Deutschen Buchhändler
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Siehe Hubmann: 100 Jahre Berner Übereinkunft, S. 9 f. Börsenblatt (1892) 4, S. 74-78. Abgedruckt bei Voigtländer-Fuchs: Urheber- und Verlagsrecht, S. 50 f. Siehe auch Schricker: Verlagsrecht, Einl. Rdnr. 8; Allfeld: Kommentar, S. 14 ff.
2.2.1 Die Entwicklung des Urheberrechts Wilhelm Speemann und Robert Voigtländer leiteten. Die Ergebnisse dieser Reformbemü-. hungen wurden in den Beiträgen zum Urheberrecht, Beschlüsse des außerordentlichen Ausschusses für Revision der Gesetze über Urheberrecht nebst Begründung 1896 festgehalten.85 Dem gleichen Ziel dienten eine Kommission, die 1892 auf dem Dresdener Journalisten- und Schriftstellertag eingesetzt wurde,86 die Beratungen der ALAI auf ihren jährlichen Kongressen87 und schließlich gesonderte Stellungnahmen der Berufsgruppe der Komponisten, insbesondere durch ihren Verband, die Genossenschaft Deutscher Komponisten.88 Diese Vorarbeiten führten 1899 zu einem ersten Entwurf der Reichsverwaltung. Er wurde unter Berücksichtigung öffentlicher Kritik überarbeitet und mit Begründung dem Reichstag zugeleitet, der ihn am 9. Januar 1901 in erster Lesung beriet und an eine 21 köpñge Kommission überwies. Auf der Grundlage des rasch erarbeiteten Kommissionsberichts konnte sodann das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst (LUG) zügig in der Sitzung des Reichstags vom 2. Mai 1901 zur Abstimmung gestellt und am 19. Juni 1901 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht werden.89 Am gleichen Tage erfolgte auch die Veröffentlichung des neuen Gesetzes über das Verlagsrecht,90 des seit dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 (ALR) einzigen urhebervertragsrechtlichen Gesetzes bis zum heutigen Tage. Entgegen nachhaltiger Forderungen, der einheitlichen Materie wegen Literatur- und Kunstschutz in einem einzigen Gesetz zu regeln, blieben das Kunstschutz- und das Photographieschutzgesetz von 1876 in Kraft. Sie wurden erst durch das nun beide Materien zusammenfassende Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie vom 9. Januar 1907 (KUG) ersetzt.91 Das LUG von 1901 hatte einige Vorgaben zu erfüllen. So verzichtete es auf alle die Vorschriften, die durch eine einheitliche Normierung des Strafrechts, des Zivil- und Strafverfahrensrechts sowie durch das Bürgerliche Gesetzbuch bereits eine Regelung erfahren hatten.92 Auch im übrigen erfuhr die materiellrechtliche Grundlage des Urheberrechts entscheidende Erweiterungen. Zwar blieb der Kreis der geschützten Werke gegenüber dem Gesetz von 1870 gleich, die urheberrechtlichen Nutzungsbefugnisse wurden aber zahlreicher. Das Vervielfaltigungsrecht bezog sich nicht mehr allein auf die mechanische Vervielfältigung. Das Verbreitungsrecht - nun im Abschnitt über die Befugnisse des Urhebers geregelt - bestand fortan unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Vervielfältigungsstücke, und das Recht zur öffentlichen Aufführung eines Bühnenwerkes oder eines
85 Osterrieth: Materialien zur Reform des Urheberrechts, S. 330. 86 Osterrieth, S. 330 f. Die Ergebnisse der Schriftstellerkommission sind zusammengefaßt in Osterrieth: Die Reform des Urheberrechts. 87 Zum Kongreß der ALAI in Heidelberg 1898, siehe Denkschrift der ALAI, in: Gewerblicher Rechtschutz und Urheberrecht 1899, S. 281. 88 Denkschrift der Genossenschaft deutscher Komponisten S. 345 89 Reichsgesetzblatt 1901, S. 217 ff.; zur Gesetzgebungsgeschichte von LUG und VerlG. Allfeld: Kommentar, S. 7 ff.; Schricker: Verlagsrecht, Einl. Rdnr. 8. 90 Reichsgesetzblatt 1901, S. 217 ff. 91 Reichsgesetzblatt 1907, S. 7 ff.; zur Kritik der gesonderten Gesetzgebung Osterrieth: Materialien zur Reform des Urheberrechts, S. 330-333; Traumann: Der Entwurf des neuen Urheberrechtsgesetzes, S. 80/81. 92 Allfeld: Kommentar, S. 8.
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Werkes der Tonkunst wurde auch ohne Vorbehalt des Urhebers anerkannt (§11). Das Vortragsrecht erstreckte sich allerdings nur auf nichterschienene Werke (§ 11 Abs. 3). Ausdrückliche Anerkennung fanden das Veröffentlichungsrecht (§ 11 Abs. 2), das Abänderungsrecht (§ 9) und in erweitertem Umfang auch das Bearbeitungsrecht (§§ 12-14) einschließlich, wie bereits erwähnt, des Rechts der Übersetzung (§ 12). Nur in sehr engen Grenzen ließ das Gesetz Einschränkungen des Urheberrechts zugunsten der Allgemeinheit zu. Strafverfolgung und Schadensersatz blieben freilich auch im LUG noch die Mittel der Rechtsdurchsetzung. Das KUG von 1907 regelte gegenüber dem Gesetz von 1876 nun einheitlich auch das Recht an Photographien, gewährte diesen jedoch nur einen zehnjährigen Schutz ab ihrem Erscheinen bzw. ab dem Tode ihres Urhebers, wenn es bis dahin noch nicht erschienen war (§ 26 KUG). Als wichtigste Neuerung wurden Bauwerke in den Kunsturheberrechtsschutz einbezogen. Die Regelungen über den Bildnisschutz in den §§22 bis 24 KUG blieben auch nach Inkrafttreten des Urheberrechtsschutzgesetzes von 1965 gültig. Bis zum heutigen Tage blieb auch das Verlagsgesetz von 1901 in Kraft, freilich weniger wegen der gebliebenen Aktualität seiner Bestimmungen, sondern weil das Gesetz bis auf seine konkursrechtliche Bestimmung (§ 36) dispositives Recht enthält, das also durch Abmachungen zwischen Autor und Verleger abbedungen werden kann.93 Als das Verlagsgesetz um die Jahrhundertwende beraten wurde, um das bis dahin teils auf Herkommen, teils auf partikularstaatlichen Gesetzen 94 beruhende Verlagsrecht reichseinheitlich zu regeln und die Urheber-Verleger-Beziehungen auf eine gesicherte Grundlage zu stellen, erhielt der Entwurf, obgleich er auf intensiven Vorarbeiten des Börsenvereins beruhte, auch den verhaltenen Beifall solcher Juristen, die der Seite der Urheber nahestanden. So urteilte Albert Osterrieth, später Mitbegründer der AFMA, in seiner Analyse des Entwurfs eines Gesetzes über das Verlagsrecht: »Für die Interessen der Autoren verrät sich eine freundliche Sympathie, doch ist sie nicht zu einer klaren Erkenntnis ihres inneren Grundes gereift.« Insbesondere die ideellen Interessen des Autors seien nicht hinreichend berücksichtigt. »Vorbehaltlich dieser Mängel«, so heißt es weiter, »verrät der Entwurf ein sicheres Gefühl für die Bedürfnisse der Praxis und eine erschöpfende Regelung der Materie, soweit dies bei der Vielgestaltigkeit der tatsächlichen Verhältnisse überhaupt möglich war«.95 Ungeregelt blieb der Kunstverlagsvertrag, dagegen erhielt der Musikverlag durch dieses Gesetz ein verläßliches Fundament. Über viele Vorschriften des Gesetzes ist die Praxis längst hinweggegangen: Gemäß § 2 Abs. 2 Gesetz über das Verlagsrecht (VerlG) etwa soll dem Urheber das Vervielfáltigungs- und Verbreitungsrecht hinsichtlich der Übersetzung, das Recht der Dramatisierung und der Entdramatisierung, das Recht der Bearbeitung eines Werkes der Tonkunst, das Recht der Benutzung des Werkes zum Zwecke der mechanischen Wiedergabe für das Gehör und schließlich das Recht der Verfilmung eines Schrift- oder Bildwerkes verbleiben. 96 Dem Urheber bleibt ferner das Recht, ein Einzelwerk für eine Gesamtausgabe oder ein Sammelwerk für eine Sonderausgabe zu verwerten (§4). Gemäß § 5 erstreckt sich das
93 Siehe Schricker: Verlagsrecht, Einl. Rdnr. 9 ff. 94 Zu den verlagsrechtlichen Bestimmungen vor dem Verlagsgesetz von 1901 siehe Petsch: Die gesetzlichen Bestimmungen über den Verlagsvertrag. 95 Osterrieth: Bemerkungen zum Entwurf, S. 298-302.
2.2.1
Die Entwicklung des Urheberrechts
Verlagsrecht nur auf eine Auflage, die, soweit nichts anderes bestimmt ist, nicht mehr als tausend Exemplare haben darf. Insbesondere die verbreitete Praxis der Werkverwerter, abweichend von den Vorgaben des Gesetzes sich alle nur erdenklichen Rechte übertragen zu lassen, hat zu einer restriktiven Auslegung der Nutzungsverträge durch das Reichsgericht und zur Anerkennung fundamentaler urhebervertragsrechtlicher Prinzipien geführt. 97 Bedeutende Entwicklungen nach der Jahrhundertwende Ein weiteres urhebervertragsrechtlich wichtiges Ereignis aus dem Berichtszeitraum darf nicht unerwähnt bleiben: Der Beginn der kollektiven Wahrnehmung von Urheberrechten mit der Gründung der Anstalt fur musikalisches Aufführungsrecht (AFMA) durch Friedrich Rösch, Richard Strauss und Albert Osterrieth und deren Angliederung an die Genossenschaft Deutscher Tonsetzer (GDT) im Jahre 1903.98 Im benachbarten Frankreich war bereits seit 1851 die Société des Auteurs, Compositeurs et Editeurs de Musique (SACEM) erfolgreich tätig; sie wurde für die berufsständischen Organisationen der Komponisten in Deutschland schon Ende des 19. Jahrhunderts zum Vorbild.99 Durch die immer neuen Formen massenhafter Werknutzung wuchs die Bedeutung der Verwertungsgesellschaften in der Folgezeit unaufhörlich. Infolge der raschen technischen Entwicklung bedurfte das LUG schon nach kaum einem Jahrzehnt der Novellierung.100 Auf der Berliner Revisionskonferenz der Berner Übereinkunft (1908) war zuvor beschlossen worden, dem Urheber das Recht der Verfilmung und der mechanischen Wiedergabe seines Werkes vorzubehalten.101 Die Novelle vom 22. Mai 1910 paßte das LUG dem Schutzniveau der Revidierten Berner Übereinkunft an. Das Recht der mechanischen Wiedergabe erfuhr allerdings im LUG bei Werken der Tonkunst eine Einschränkung durch die Anordnung einer Zwangslizenz zugunsten der Tonträgerhersteller und durch die Vergütungsfreiheit öffentlicher Werkwiedergaben mittels eines Tonträgers (§§ 22, 22a).102 Die Tonträgerindustrie, zu deren Schutz die Novelle in erster Linie gedacht war,103 blieb fortan gegen die zunehmende Ausbeutung ihrer technisch-wirtschaftlichen Leistungen durch unbefugte Dritte nicht mehr wehrlos: Der neu in das LUG aufgenommene § 2 Abs. 2 setzte die Übertragung von Werken der Literatur und Tonkunst auf Tonträger einer
96 Die beiden letzten Verwertungsarten wurden erst mit dem Gesetz zur Ausführung der Revidierten Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (vom 19.11.1908) vom 22.5.1910 (Reichsgesetzblatt, S. 793) in das Verlagsgesetz aufgenommen. 97 Zur Vertragspraxis siehe Ulmer: Urheber- und Verlagsrecht, 3. Auflage 1979, § 100 III; Schricker: Verlagsrecht, Einl. Rdnr. 11. 98 Siehe Plugge/Roeber: Das musikalische Tantiemerecht, S. 24; Behm: Zur Vorgeschichte der GDT, S. 35; Ulmer: Zur Rechtsstellung der Musikverlage, S. 99 ff. 99 Denkschrift der Genossenschaft deutscher Komponisten, S. 345. 100 Reichsgesetz vom 22.5.1910 zur Ausführung der Revidierten Bemer Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst vom 13.10.1908, Reichsgesetzblatt, S. 793; dazu Schmieder: Musikkultur, Medientechnik, S. 2105-2108. 101 Siehe Hubmann: 100 Jahre Berner Übereinkunft, S. 10 ff. 102 Einzelheiten siehe Ulmer: Vom deutschen Urheberrecht und seiner Entwicklung, S. 257-268. 103 Verhandlungen des deutschen Reichstages, Bd. 275, S. 1790.
138
2
Recht, Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
Bearbeitung gleich. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers übertrug der ausübende Künstler als fiktiver Bearbeiterurheber dem Tonträgerhersteller ausdrücklich oder stillschweigend seine urheberrechtlichen Nutzungsbefugnisse (§ 12 Abs. 2 Ziff. 5 LUG) einschließlich das Recht der öffentlichen Wiedergabe, so daß sich der Tonträgerproduzent aus abgeleitetem Recht gegen die unbefugte Nutzung seiner Leistung zur Wehr setzen konnte. 104 Letzteres geschah - auch darin liegt eine bedeutende Neuerung auf dem Gebiet des Urheberrechts - nicht mehr vornehmlich durch strafrechtliche Sanktion, sondern durch die von der Wissenschaft entwickelte und von der Rechtsprechung anerkannte Klage auf Unterlassung der rechtsverletzenden Handlung selbst da, wo gesetzlich Strafe angedroht war.105 Zu differenziert waren mittlerweile die urheberrechtlichen Tatbestände geworden, als daß ihre Verletzung gleich eine strafrechtliche Verfolgung unerläßlich gemacht hätte. Es mag nicht zuletzt mit dem wachsenden Konsens über die dem Urheber zustehenden grundlegenden Rechte zusammenhängen, daß seit Beginn des Jahrhunderts eine bedeutende rechtsfortbildende Spruchpraxis des Reichsgerichts einsetzte. Zu den erwähnenswerten Urteilen jener Zeit gehört zweifellos die Entscheidung, die Arnold Böcklin gegen den Auftraggeber eines Deckenfreskos errang. Dieser hatte die in seinem Privathaus von Böcklin gemalten nackten Sirenen auf einem Felseneiland von einem Dritten durch Übermalung bekleiden lassen. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen sei der Künstler, so befand das Reichsgericht 1912, befugt, die Änderungen seines Gemäldes zu unterbinden, und gab dem Antrag des Künstlers auf Wiederherstellung statt.106 Diese Entscheidung gründete nicht auf einer positiven Bestimmung des KUG, sondern auf dem Grundgedanken des Gesetzes, »daß der Künstler, dem modernen Rechtsempfinden entsprechend, ein gesetzlich geschütztes Recht daraufhat, daß das von ihm geschaffene Werk, als ein Ausfluß seiner individuellen künstlerischen Schöpferkraft, der Mit- und Nachwelt nur in seiner unveränderten individuellen Gestaltung zugänglich gemacht bzw. hinterlassen werde.« 107 In diesen Ausführungen wird allgemein der Beginn der Rechtsprechung zum Urheberpersönlichkeitsrecht gesehen, wenngleich bereits in verschiedenen früheren Entscheidungen des Reichsgerichts die persönlichkeitsrechtlichen Elemente des Urheberrechts hervorgehoben worden sind.108 Wenn sich das heutige Urheberrecht national wie auch international in der Lage sieht, neue Arten der Werknutzung ohne grundlegende Korrekturen des Gesetzes zu erfassen, so ist dies nicht zuletzt auch das Verdienst von Wissenschaft und Rechtsprechung jenes halben Jahrhunderts nach 1870, die das Urheberrecht endgültig aus der Beschränkung der Nachdruckgesetzgebung herausführten, es seinem Wesen entsprechend allgemeiner zu bestimmen verstanden und es in seinen grundlegenden Rechten an den materiellen und ideellen Interessen der Werkschöpfer ausrichteten. 104 Zuvor bestand Rechtsschutz lediglich aufgrund der allgemeinen Bestimmungen von §§ 823, 826 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch), 1 UWG (Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb), siehe RGZ 73, 294; ausführlich zur Geschichte des mechanischen Rechts siehe RGZ 134, 198/204 ff. 105 Einzelheiten Allfeld: Das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst, 1928, S. 290 ff. mit weiteren Nachweisen. 106 RGZ 79, 397 - Felseneiland mit Sirenen. 107 RGZ 79, 397/399 - Felseneiland mit Sirenen. 108 Siehe Elster: Das Urheberpersönlichkeitsrecht in der Rechtsprechung, S. 252-257 ff.
139
Martin Vogel 2.2.2 Die Entwicklung des Verlagsrechts Kein Recht hat die Geschichte des Urheberrechts nachhaltiger geprägt als das Verlagsrecht. Von den Anfängen des Buchdrucks bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmte das, mitunter in Verbindung mit der Zensur, durch Privileg, polizeirechtliches Nachdruckverbot oder später durch allgemeines Gesetz gewährte ausschließliche Recht, ein Werk zu drucken und zu verbreiten, fast allein die Entwicklung dieses Rechtsgebiets. 109 Verlagsrecht und Urheberrecht wurden deshalb meist gleichbedeutend verwendet. 110 Auch danach beherrschte es zunächst noch die urheberrechtlichen Vorstellungen der Werkverwertung, so daß nach verbreiteter, begrifflich freilich verfehlter Auffassung selbst die unkörperlichen Verwertungsarten der Aufführung und Sendung als Werkverbreitung gedeutet wurden. 111 Werkverwertungen in unkörperlicher Form erlangten zwar in den vergangenen 100 Jahren wirtschaftlich immer größere Bedeutung, sie vermochten jedoch das auf der Auswertung des Vervielfaltigungs- und Verbreitungsrechts beruhende Presse- und Verlagswesen in seiner überragenden Stellung unter den urheberrechtsbezogenen Industrien nicht zu gefährden. 112 Gewiß auch dieses ungebrochene wirtschaftliche Gewicht erklärt, weshalb sich Urheberrechtslehre und -gesetzgebung nur langsam von Vorstellungen trennen konnten, die vorwiegend am Schutz der gewerblichen Interessen des Verlegers - zunächst noch durch originäre Rechte - ausgerichtet waren, und nur zögernd letzteren zum Erwerb ausschließlicher Rechtspositionen allein auf den Vertrag mit dem Urheber verwiesen.113 Die urheberrechtlichen Grundlagen des Verlagsrechts am Ende des 19. Jahrhunderts Die Emanzipation vom Werkschutzrecht
-
Bei diesem Ablösungsprozeß fand das Urheberrecht endlich seinen alleinigen Geltungsgrund im Schutz der persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen des Urhebers zu seinem Werk. Er begann im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit der Entfaltung der Lehre vom geistigen Eigentum, die im Zuge der Diskussion über die Rechtmäßigkeit des damals sprunghaft ansteigenden Büchernachdrucks die Einsichten in die Rechte des Autors an
(Paragraphen ohne Gesetzesangaben sind solche des in dem jeweiligen Abschnitt beschriebenen Gesetzes. ) 109 Vgl. dazu die geschichtlichen Überblicke von Bappert: Wege zum Urheberrecht; Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht; Vogel: Deutsche Urheber- und Verlagsrechtsgeschichte; Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. 110 So noch Wächter: Verlagsrecht, Bd. 1, S. 94 ff. 111 Zur früheren Auffassung vom Wesen der Aufführung als Unterfall der Vervielfältigung siehe Opet: Deutsches Theaterrecht, S. 282 ff.; zum Begriff der Sendung als Werkvervielfältigung siehe Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (RGZ) 113, 413 (Der Tor und der Tod). 112 Vgl. Hummel: Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Urheberrechts. Cohen Jehoram: Kritische Überlegungen zur wirtschaftlichen Bedeutung des Urheberrechts, S. 23 ff. 113 Nach Art. 3 Berner Übereinkunft zum Schuz von Werken der Literatur und der Kunst vom 9.9.1886 (BÜ) gewährte dem Verleger eines in einem Verbandsland veröffentlichten Werkes eines Nichtverbandsurhebers ein originäres Verlegerrecht, das sich auf alle Rechte der Konvention erstreckte. Zum originären Übersetzungsrecht des Verlegers siehe RGZ 40, 119.
140
2 Recht, Staat und Öffentlichkeit
seiner geistigen Schöpfung, in die durch den Verlagsvertrag erworbenen Befugnisse des Verlegers und in das von beiden strikt zu trennende Eigentumsrecht des Käufers am Werkstück weckte." 4 Wegen der mannigfaltigen, häufig recht diffusen Vorstellungen, die sich mit dem Begriff des geistigen Eigentums verbanden, war diese aus dem natürlichen Recht begründete Lehre in der Folgezeit wachsenden Anfechtungen ausgesetzt. Wiederholt wurde nicht zuletzt unter dem Einfluß der historischen Rechtsschule darauf hingewiesen, daß Eigentum ausschließlich an körperlichen Sachen denkbar sei, weshalb der Nachdruck nur durch ein positives Gesetz verboten werden könne.115 Die Auffassungen vom Recht an Geisteswerken gingen, wenngleich der Begriff des Eigentums gebräuchlich blieb, zunehmend auseinander. So wurde es teilweise noch über die Jahrhundertmitte hinaus als ein bloßer Reflex gesetzlicher Nachdruckverbote, 116 als ein gewerbliches Monopolrecht 117 oder als ein Recht angesehen, das sich allein auf die verlegerischen Befugnisse der Werkvervielfältigung und -Verbreitung beschränke.118 Größere Überzeugungskraft erlangten erst die Deutungen des Urheberrechts als Persönlichkeits- oder als Immaterialgüterrecht, die am Ende des 19. Jahrhunderts in den Arbeiten von Gierke119 und Kohler 120 ihre vollendetste Ausprägung erfuhren. Die Kritik an der Theorie vom geistigen Eigentum verhinderte indes nicht, daß sie zumindest als Gerechtigkeitspostulat an allgemeiner Anerkennung gewann und nach der Einführung der Gewerbefreiheit und dem Niedergang des Privilegienwesens zu einem, wenn auch inhaltlich noch recht beschränkten Institut des positiven Rechts erstarkte.121 Zwei für die Geschichte des Urhebervertragsrechts grundlegende Veränderungen, die sich nach 1800 vollzogen, standen in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Entwicklung. Zum einen wurde - wie erwähnt - das Recht des Verlegers fortan nicht mehr originär aus dem von ihm erbrachten gewerblichen Aufwand begründet, wie dies noch zur Zeit der Druckprivilegien des 17. und 18. Jahrhunderts weitgehend der Fall war, sondern als ein vom Autor abgeleitetes Recht verstanden. Schon um die Wende zum 19. Jahrhundert tra-
114 Vgl. Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 115 ff.; Bappert: Wege zum Urheberrecht, S. 262 ff.; Vogel: Deutsche Urheber- und Verlagsrechtsgeschichte, Sp. 59 ff. 115 Zum geistigen Eigentum aus der Sicht der historischen Rechtsschule siehe Vogel: Deutsche Urheberund Verlagsrechtsgeschichte, Sp. 141 ; speziell zu Savignys Ablehnung der Theorie vom geistigen Eigentum Wadle: Savignys Beitrag zum Urheberrecht; vgl. auch Rehbinder: Kein Urheberrecht ohne Gesetzesrecht, S. 99 ff.; neu belebt wurde die Lehre von Osterrieth: Altes und Neues, S. 78 ff. 116 So Jolly: Die Lehre vom Nachdruck, S. 59,87 f f ; Gerber: Über die Natur der Rechte des Schriftstellers, S. 359-369 ff.; Gerber: System des Deutschen Privatrechts, § 219; Wächter: Verlagsrecht, Bd. 1, S. 97 ff. 117 Etwa Schäffle: Die national-ökonomische Theorie der ausschließlichen Absatzverhältnisse, S. 133 f.; in Frankreich vertreten u.a. von Renouard: Traité des droits d'auteur, Bd. I, S. 461 ff.; vgl. dazu auch v. Gierke: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, S. 757. 118 So Wächter: Verlagsrecht, Bd. 1, § 9 ff. ; Wächter: Autorrecht, § 1 ; Kramer: Die Rechte der Schriftsteller und Verleger, S. 20 ff. 119 Gierke (Rez.), in: Handbuch des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, S. 243-266,276; Gierke: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, S. 748 ff. 120 Kohler: Die Idee des geistigen Eigentums, S. 141 ff.; Kohler: Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht, S. 84. 121 Siehe Coing: Europäisches Privatrecht, Bd. 2, S. 153.
2.2.2 Die Entwicklung des Verlagsrechts
ten neben verlagsgewerblichen Nachdruckverboten erste detaillierte Regelungen des Verlagsvertrages in Preußen (1794), später in Baden (1809) und Österreich (1812) in Kraft, die von der Vorstellung eines abgeleiteten Verlegerrechts ausgingen, jedoch mit Ausnahme des badischen Gesetzes keine urheberrechtlichen Bestimmungen enthielten. Zum anderen führte die allgemeine Vorstellung eines wie auch immer begründeten Rechts an immateriellen Gütern aus der der traditionellen Nachdruckgesetzgebung eigenen Beschränkung des Rechtsschutzes auf die Fälle identischer Übernahme gedruckter Werke heraus und gestattete eine schrittweise Ausdehnung des urheberrechtlichen Schutzumfanges auf neue, durch jüngere technische Entwicklungen erst entstandene Werkkategorien und Werknutzungsarten, auf unveröffentlichte und körperlich nicht festgelegte Werke sowie auf Übersetzungen und andere Bearbeitungen. So bezog sich das preußische Gesetz zum Schutze des Eigentums an Werken der Wissenschaft und der Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung vom 11. Juni 1837 122 - anders als noch die Nachdruckgesetzgebung - nicht mehr allein auf Werke, die bereits imDruck vorlagen, sondern auch auf lediglich nachbildbare Kunstwerke und auf mündlich vorgetragene oder handschriftlich fixierte Sprachwerke. Es gewährte 30 Jahre post mortem auctoris dem Urheber bzw. seinen Erben neben dem Vervielfaltigungsrecht auch ein Veröffentlichungsrecht und - allerdings mit kürzerer, zehnjähriger Schutzfrist, beschränkt auf unveröffentlichte Werke - das Recht der Aufführung. Seitdem ist das Verlagsrecht nur noch ein Segment des Urheberrechts. Eine dritte einschneidende Veränderung vollzog sich im wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Erkenntnis Bahn brach, daß das Urheberrecht nicht lediglich ein Werk, sondern wesensmäßig den Urheber in seinen ideellen und materiellen Beziehungen zu seiner Schöpfung unter Schutz zu stellen habe. Es kann deshalb nicht verwundern, wenn die Vorstellung vom Urheberrecht als einem Persönlichkeitsrecht entscheidend die Diskussion über den Umfang der aus dem Verlagsvertrag fließenden Rechte und Pflichten von Autor und Verleger beeinflußte. Das Reichsgesetz
vom 11. Juni 1870
Das preußische Gesetz von 1837 war Vorbild für das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken vom 11. Juni 1870, das als Gesetz des Norddeutschen Bundes beraten und beschlossen, am 1. Januar 1871 in Kraft gesetzt und mit der Gründung des Deutschen Reiches als Reichsgesetz übernommen wurde. 123 Den Schutz von Werken der Kunst und der Photographie regelten eigene Gesetze aus dem Jahre 1876. 124 Alle drei Gesetze bildeten über die Jahrhundertwende hinaus die materiell-rechtlichen Grundlagen des Urhebervertragsrechts.
122 Vgl. die Kommentierung von Hitzig: Das königlich preußische Gesetz vom 11. Juni 1837; zu seiner Entstehungsgeschichte siehe Wadle: Das Preußische Urheberrechtsgesetz von 1837, S. 55 ff., sowie Wadle: Savignys Beitrag zum Urheberrecht. 123 Vgl. Klostermann: Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen ... Berlin 1871, S. 4; siehe Mandry : Das Gesetz ..., S. 24; zur Gesetzgebungsgeschichte vgl. vor allem Dambach: Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes, S. 1 ff., sowie Allfeld: Reichsgesetze, Einleitung S. 5 ff.
142
2 Recht, Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
Das Gesetz von 1870 war in seinem theoretischen Verständnis vom Urheberrecht ein Gesetz des Übergangs: Zwar ersetzte es den in früheren Gesetzen noch gebräuchlichen Begriff des geistigen oder literarischen Eigentums durch den des Urheberrechts, ohne aber in Systematik und Inhalt den Wandel vom vornehmlich am gewerblichen Interesse des Verlegers ausgerichteten Werkschutz zu einem umfassenden Schutz des Werkschöpfers, wie er bereits erste wissenschaftliche Begründungen erfahren hatte, konsequent zu vollziehen. So folgte es wohl dem Schöpferprinzip,125 gewährte aber Rechtsschutz nur für die ausdrücklich genannten Werkkategorien und Werknutzungsarten126 und blieb insbesondere bei den Regelungen der Rechte der Auffuhrung, der Übersetzung und des Abdrucks von Zeitungsartikeln, die allein durch besondere Vorbehaltserklärungen bzw. die Erfüllung von Förmlichkeiten gewahrt werden konnten,127 mehr dem Verleger- als dem Autoreninteresse verpflichtet. Zudem knüpfte es generell den Schutz von Schriftwerken an deren körperliche Festlegung und Verlagsfähigkeit.128 Selbst nach weniger strenger Auffassung waren deshalb solche Werke vom gesetzlichen Schutz ausgenommen, an denen kein literarisches Interesse bestand. 129 Nach älterer Ansicht sollte der Urheberrechtsschutz sogar erst zur Entstehung gelangen, wenn das Werk vom Verfasser oder einem dazu befugten oder unbefugten Dritten mechanisch vervielfältigt und dadurch zum Gegenstand einer vermögensrechtlichen Nutzung gemacht wurde. 130 Die Gesetzgebungsgeschichte enthält Hinweise darauf, daß man bewußt vermeiden wollte, sich auf eine der seinerzeit vertretenen Auffassungen vom Wesen des Urheberrechts (Reflexrecht, Vermögensrecht, Persönlichkeitsrecht, geistiges Eigentum) festzulegen.131 So gaben die wenigen persönlichkeitsrechtlich deutbaren Bestimmungen in der Folgezeit Anlaß zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, ob das Gesetz allein Vermögensrechte gewähre - so Wächter 132 und Klostermann 133 im Anschluß an Jolly134 und Mandry 135 - oder ob es auch persönliche Interessen unter Schutz stelle, wie es Dambach 136 und Allfeld 137 in ihren Kommentaren vertraten.
124 Zur Ausgliederung des Kunstschutzes aus den Entwürfen des Urheberrechtsgesetzes siehe Wadle: Die Abrundung des deutschen Urheberrechts, S. 774. 125 Vgl. Endemann: Kommentar, § 1 Anm. 2, § 2 Anm. 7; Allfeld: Reichsgesetze, § 1 UG Anm. 2a, e; dazu auch Schürmann: Organisation und Rechtsgewohnheiten, S. 265 ff. Der seinerzeit umstrittene Schutz des Herausgebers eines Ineditums wurde von der Gesetzgebungskommission ausdrücklich abgelehnt, siehe Allfeld: Reichsgesetze, § 1 UG Anm. 2, sowie Rehbinder: Zum Schutz der Herausgeber historischer Texte, S. 225 ff. 126 Siehe Dambach: Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes, § 1 Anm. 17. 127 Siehe im einzelnen zu den Voraussetzungen des Übersetzungsrechts § 6 UG, zum Vorbehalt des Rechtes an Zeitungsartikeln § 7b UG und zum Aufführungsrecht §§ 50, 51 UG. 128 Siehe Dambach: Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes, § 1 Anm. 4; Endemann: Kommentar, § 1 Anm. 2; Wächter: Verlagsrecht, Bd. 1, S. 156; Wächter: Autorrecht, S. 45; Mandry: Das Gesetz..., S. 76; Allfeld: Reichsgesetze, § 1 UG Anm. 3; gegen das Erfordernis der Verlagsfähigkeit § 5 Anm. 9 (S. 79) sowie Dahn: Zur neuesten Deutschen Gesetzgebung über Urheberrecht, S. 1/10. 129 Siehe Allfeld: Reichsgesetze, § 1 UG Anm. 3. 130 Klostermann: Urheberrecht an Schrift- und Kunstwerken, S. 40,42 f.; Klostermann, in: Endemann: Handbuch des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, Bd. 2, S. 251; Endemann: Kommentar, § 1 Anm. 5; Wächter: Autorrecht, S. 3 f. 131 Siehe Dambach: Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes, § 1 Anm. 1; zu den Entwürfen von 1865 siehe Mandry: Das Gesetz ..., S. 37 f.
2.2.2
Die Entwicklung des Verlagsrechts
Gemäß § 3 des Gesetzes war das Urheberrecht beschränkt und unbeschränkt übertragbar, wobei in letzterem Falle sich der Autor selbst seiner höchstpersönlichen Rechte begab, soweit man sie ihm überhaupt aufgrund seines Urheberrechts zugestand. 138 Wegen der damit verbundenen weitreichenden Konsequenzen wurde aber teilweise angenommen, daß der Urheber bei Verfügungen unter Lebenden das Recht, auf die künftige Gestaltung seines Werkes, etwa bei Neuauflagen, Einfluß zu nehmen, im Zweifel zurückbehalten wollte. 139 Beschränkungen der Rechtsübertragungen waren bereits in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht denkbar. In der Praxis ging es meist um die sachlich beschränkte Verfügung im Buchverlagsvertrag, mit dem der Verleger weder das Recht der Übersetzung noch das des Wiederabdrucks in Zeitungen und Zeitschriften noch das der Aufführung erwarb. Im Bereich des Musikverlages dagegen war die räumliche Aufspaltung des Verlagsrechts bei im übrigen umfassender Rechtsübertragung weit verbreitet. 140 Dieses sog. geteilte Verlagsrecht fand in Art. 11 des Abkommens zwischen Deutschland und Frankreich, betreffend den Schutz an Werken der Literatur und Kunst vom 19. April 1883, und den entsprechenden Verträgen mit Belgien vom 12. Dezember 1883 und Italien vom 20. Juni 1884 eine ausdrückliche Regelung, während der nationale Gesetzgeber seine Aufnahme in das Gesetz von 1870 abgelehnt hatte. 141 Zur Wirkung des absoluten Verlagsrechts stellte das Urheberrechtsgesetz klar, daß der vertragswidrige Abdruck von Werken ebenso als Nachdruck anzusehen sei wie die Überschreitung der vertraglichen Auflagenzahl (§ 5c und d), so daß, wie das Reichsgericht entschieden hatte, der Verleger bei Überschreitung der Auflage sowohl aufgrund des gesetzlichen Nachdruckverbots als auch aus dem Verlagsvertrag haftete. 142 Wirtschaftliche und organisatorische Grundlagen des Verlagsrechts Bereits ein flüchtiger Blick auf die rasche wirtschaftliche Entwicklung des literarischen Marktes nach der Reichsgründung läßt erahnen, welch wachsende Bedeutung einer einheitlichen und allseits anerkannten Ordnung auf dem Gebiet des Urheber- und Verlagsrechts zukam. Dabei war die Expansion der Bücherproduktion nicht etwas Isoliertes, sondern nur Teil der gesamtwirtschaftlichen Entfaltung, die mit der Überwindung der Klein-
132 133 134 135 136 137 138 139 140
Wächter: Autorrecht, S. 5 f. und 10. Klostermann: Das geistige Eigentum an Schriftwerken, S. 124 ff.; Klostermann: Das Urheberrecht, S. 8. Jolly: Lehre vom Nachdruck, S. 44. Mandry: Das Gesetz ..., S. 47. Dambach: Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes, § 1 Anm. 1. Allfeld: Reichsgesetze, Einleitung S. 17. Etwa Allfeld: Reichsgesetze, § 3 UG Anm. 3. Allfeld: Reichsgesetze, § 3 UG Anm. 3. Vgl. Volkmann: Dasgetheilte Eigenthum unter dem bestehenden Gesetze gegen Nachdruck, S. 110 ff.; Das geteilte Verlagsrecht an musikalischen und literarischen Werken, S. 45 ff.; Dambach: Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes, § 61 Anm. 7; Allfeld: Reichsgesetze, § 61 UG Anm. 5. 141 Vgl. Volkmann: Das getheilte Eigenthum unter dem bestehenden Gesetze gegen Nachdruck, S. 110 f f ; Volkmann: Das geteilte Verlagsrecht an musikalischen und literarischen Werken, S. 45 f f ; Dambach: Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes, § 61 Anm. 7; Allfeld: Reichsgesetze, §61 UG Anm. 5. 142 RGZ 12, 108/110.
144
2 Recht, Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
staaterei und mit der fortschreitenden Industrialisierung verknüpft war. In kurzer Zeit veränderten technische Neuerungen die Buchherstellung grundlegend: Seit 1870 arbeitete in der Schriftgießerei die Dampfmaschine, seit 1872 wurden Setzmaschinen verwendet. 1877 bot die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg die erste Rotationspresse an. Etwa zu gleicher Zeit begann mit der Einführung der Zellulose die Papierherstellung für die Massenfabrikation. Die Drahtheftung - im Jahre 1878 zum ersten Mal im Einsatz - rundete die Reihe der Neuerungen ab, die Voraussetzung für die Herstellung von Druckerzeugnissen in hoher Auflage wurden. 143 (Vgl. Kap. 3.1) Für die neuen Maschinen bestand ein Bedarf: Zwischen 1865 und 1890 stieg die Zahl der Buchhandelsfirmen um 142 %, die des reinen Verlagsbuchhandels sogar um 149 %. 144 Beim Sortimentshandel wuchs der Anteil der Betriebe sprunghaft, die neben Papier-, Zeichen- und Schreibmaterialien auch Bücher anboten und vor allem auf den Vertrieb der mit der Industrialisierung und Verstädterung sich ausbreitenden Kolportage-Romane 145 - jener häufig vom Verleger in Auftrag gegebenen, in Lieferungen erscheinenden Unterhaltungsliteratur für städtische soziale Unterschichten 146 - setzten (vgl. das Kap. im folgenden Teilband). Die neuen Techniken bescherten auch der periodischen Literatur, also dem Zeitschriften- und Zeitungswesen, einen ungeheuren Aufschwung. Mit der Entwicklung dieses Verwertungszweiges erlangten nicht nur die kurzlebigen Publikationen der meist von namenlosen, angestellten Urhebern verfaßten Nachricht und des aktuellen Kommentars weiteres Gewicht. Vielmehr entstand mit dem Journalismus auch ein eigener, wenngleich sehr heterogener Berufsstand, der sich in seinen vertraglichen Bedingungen und sozialen Bedürfnissen von denen des freien Autors absetzte. 147 Entstehung neuer urheberrechtlicher
Vertragstypen
Im Zuge der Entfaltung des bürgerlichen Kulturbetriebes wuchs die Bedeutung des Sprech- und des Musiktheaters. 148 Musikalische, dramatische und dramatisch-musikalische Werke waren nicht mehr allein Gegenstand des traditionellen Papiergeschäfts, sondern auch und sogar in erster Linie Gegenstand der Vermittlung von Aufführungsrechten, die von neugegründeten oder traditionellen Verlagshäusern angegliederten Bühnenverlagen bzw. von Bühnenagenten besorgt wurde. 149 Anderen Werknutzungsarten folgten eigenständige, abweichend vom Verlagsvertrag gewichtende Vertragstypen wie der Aufführungs- und Bühnenvertriebsvertrag. 150 Auch der Musikverlag ging zunehmend Wege, die sich von den Gewohnheiten des Buchverlages unterschieden. Andere Drucktechniken wie der Plattenstich, andere Prakti143 144 145 146
Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 4, S. 485 f. Goldfriedrich, S. 491 f. Zur Kolportageliteratur: Jäger: Der Kampf gegen Schmutz und Schund, Sp. 163 ff. Siehe z.B. die verlegerischen Vorgaben im Vertragsentwurf über einen Kolportageroman bei Voigtländer: Verlagsrecht, S. 37 f.; der Vertragsentwurf enthielt im übrigen eine vollständige Übertragung des Urheberrechts (§ 6). 147 Siehe Groth: Die Zeitung, Bd. 4, S. 51 u. 61 ff. 148 Siehe Sombart: Die Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, S. 478. 149 Jacoby-Goldstandt: Die deutschen Dramatiker im Kampf um den Lohn, S. 52 f. Die Genossenschaft dramatischer Autoren und Componisten und die deutschen Bühnen. In: Magazin für den deutschen Buchhandel 1874, S. 106/107 u. 127.
2.2.2
Die Entwicklung des
Verlagsrechts
ken wie die Reversbindung des Notenmaterials, die sprunghaft gestiegene Bedeutung der unkörperlichen Werknutzung und der zunehmende Bedarf an Bearbeitungen und Arrangements für die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Musizierenden drückten den Vertragsgewohnheiten dieser Branche ihren Stempel auf.151 Die pauschale Rechtsübertragung in Form des Urheberscheins wurde üblich,152 die kollektive Rechtewahrnehmung unausweichlich. 153(Vgl. das Kap. »Musikalienverlag« im folgenden Teilband) Zu den jüngsten Erscheinungen dieser Epoche zählte der Kunstverlag, dessen Bedürfnisse sich mit den Usancen des Buchverlages nicht zu decken vermochten. Da Kunstwerke auf mannigfaltige Art und Weise vervielfältigt werden können und zu unterschiedlichen Zwecken geschaffen werden, stand die Werkverwertung mit Vervielfaltigungsund Verbreitungspflicht des Verlegers nur selten im Mittelpunkt.154 Der Urheberschein war auch hier die Regel; Verpflichtungen des Verlegers zum Verlag wurden allein für selbständige Gegenstände, nicht dagegen für Beigaben zu Schriftwerken vereinbart.155 (Vgl. Kap. 5.10) Obwohl der Geschäftsverkehr zwischen Autor und Verleger weitgehend in geordneten Bahnen verlief, schoben sich auch im traditionellen Buchhandel besondere Vertragsformen in den Vordergrund, bei denen je nach Ausgestaltung das Wesen des Vertrages sich mehr der Geschäftsbesorgung, dem Werkvertrag, dem Gesellschaftsvertrag oder der Dienstmiete annäherte. Die Notwendigkeit des schnelleren Kapitalumschlags, seitdem der Tauschhandel vor fast einem Jahrhundert seinem Ende entgegengegangen war und mit der Erfindung der Schnellpresse aufwendigere Verlagsunternehmungen möglich geworden waren, 156 verlieh denjenigen Werken größeres wirtschaftliches Gewicht, die auf vertraglichen Vorgaben des Verlegers beruhten.157 Bei Auftrags- und Sammelwerken empfahlen sich weniger strenge vertragliche Bindungen für beide Vertragspartner,158 bei wissenschaftlichen Werken weiterreichende Befugnisse des Verlegers zur Aktualisierung des Inhalts bei der Veranstaltung neuer Auflagen. 159 150 Vgl. Opet: Deutsches Theaterrecht, S. 320 ff., 448 ff.; Goldbaum: Der Auffuhrungsvertrag, passim; der Urheberschein dürfte auch in diesem Verwertungszweig verbreitet gewesen sein. Vgl. den Entwurf eines Vertrages über ein Theaterstück bei Voigtländer: Verlagsrecht 1889, S. 38. 151 Vgl. Schürmann: Organisation u. Rechtsgewohnheiten, 1. Tl., S. 285 ff.; zur Geschichte der MaterialLeihgebühr siehe Schneider: »Leihmaterial« und »Materialentgelt«, S. 191 ff.; zur Drucktechnik und dem damit zusammenhängenden Auflagenbegriff im Musikverlagsvertrag vgl. Voigtländer: Urheber- und Verlagsrecht, § 5 VerlG Anm. 5; zur rechtlichen Bedeutung des Auflagenbegriffs im Musikvertrag vgl. Hoffmann: Grundfragen des Urheberrechts, S. 192/199 f. 152 Siehe Streißler: Das Recht für Urheber, Bd. 1, S. 125 f.; Hase: Der Musikverlagsvertrag, S. 5 f.; der Text eines Urheberscheins ist abgedruckt bei Voigtländer: Verlagsrecht 1889, S. 40; zur regelmäßigen Übertragung des Aufführungsrechts im Musikverlagsvertrag vgl. Voigtländer: Urheber- und Verlagsrecht, § 1 VerlG Anm. 6. 153 Dazu Reinbothe in: Schricker: Urheberrecht, 2. Aufl., vor §§ 1 ff. UrhWahrnG Rdnr. 1 ff. 154 Zum Kunstverlagsvertrag vgl. Voigtländer: Verlagsrecht 1893, S. 129 ff. 155 Siehe Streißler: Recht fur Urheber, Bd. 1, S. 127; Voigtländer: Verlagsrecht 1889, S. 40 ff.; Voigtländer: Verlagsrecht 1893, S. 130 f. 156 Dazu Vogel: Deutsche Urheber- und Verlagsrechtsgeschichte, Sp. 113 ff. 157 Von den 1.132 deutschen reinen Verlagsfinnen dürften 1875 nur noch wenige von zugetragenen Verlagsrechten existiert haben; siehe dazu: Die Stellung von Autoren und Verlegern bei Vertragsabschlüssen. In: Magazin fur den deutschen Buchhandel 1876, S. 117. 158 Verlagsgesetz von 1901 §§ 41 ff. 159 Vgl. Voigtländer: Verlagsrecht 1889, S. 5.
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Schließlich wurden neue und zeitlich gestaffelte Verwertungsformen üblich, mit denen die wirtschaftliche Bedeutung der beschränkten Rechtsübertragung wuchs. Nicht selten ging der Einzelausgabe eines belletristischen Werkes die Erstveröffentlichung in einer Zeitschrift oder Zeitung voraus. Sodann erschien es ein drittes Mal im Rahmen eines Sammelwerkes, und häufig wurden die Werke gängiger Autoren auch noch in Form von Lieferungen einem möglichst großen Publikum zugänglich gemacht. 160 Dazu kam auf rechtlich ausgeweiteter Grundlage die Verwertung des Werkes in der Übersetzung, nachdem 1896 in der Pariser Zusatzakte zur Berner Übereinkunft von 1886 international das Übersetzungsrecht verbessert worden war. 161 (Vgl. das Kap. »Belletristischer Verlag« im folgenden Teilband) Zuletzt erfolgte die Verbreitung eines Werkes auch noch durch einen weiteren Werkmittler, der sich neben dem Buchverleger zwischen Autor und Leser etabliert hatte: den Leihbibliothekar. Sein Gewerbe erlebte in der Restauration zunächst eine Blüte, geriet aber im letzten Viertel des Jahrhunderts in die Krise. 162 Gleichwohl sahen sich die Autoren veranlaßt, rechtlichen Schutz auch gegen diese Art der Werknutzung einzufordern. 163 Organisation von Verlegern und Autoren Die über Jahrhunderte gewachsenen Gewohnheiten und Handelsbräuche des Buchhandels knüpften schon immer engere Bande unter den Mitgliedern dieses Gewerbes. Nach einigen weniger bedeutenden Vereinsgründungen wurden diese Bindungen endgültig durch die Gründung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler am 30. April 1825 institutionalisiert, nicht zuletzt, um gemeinsam den Büchernachdruck wirksamer bekämpfen und dem seit der Einführung des Bar- bzw. Konditionsgeschäfts ruinösen Preisverfall Einhalt gebieten zu können. 164 Dieses Ziel wurde mehr als 60 Jahre später erreicht, als 1888 mit der Krönerschen Reform die Mitglieder des Börsenvereins durch Satzungsbeschluß verpflichtet wurden, die von den Verlagen festgesetzten Ladenpreise einzuhalten. 165 Der feste Ladenpreis war fortan Garant für die Existenz einer Vielzahl auch kleinerer Sortimente und eine sichere Bezugsgröße bei der absatzbezogenen Honorierung des Autors. Auch im übrigen unterwarf der Börsenverein durch seine Verkehrs- und Verkaufsordnung den Geschäftsverkehr der Verleger, Sortimenter und Buchhändler untereinander strengen Regeln. 166 Große Bedeutung erlangte die Arbeit des Börsenvereins auf dem Ge160 Siehe Jäger/Rudek: Die deutschen Leihbibliothekenzwischen 1860 und 1914/18, S. 199-220; Hildebrandt: Entwurf zu einem Gesetz über den Verlagsvertrag, S. 101-102 161 Pariser Zusatzakte vom 4.5.1896, Art. 1 Abs. III; vgl. dazu auch Müller: Das deutsche Urheber- und Verlagsrecht, S. 198 ff., sowie Allfeld: Die Reichsgesetze, Einleitung S. 11. 162 Ausfuhrlich Martino: Die deutsche Leihbibliothek. 163 Vgl. Last: Das Autorrecht und die Leihbibliotheksfrage, S. 12. 164 Siehe Goldfriedrich: Geschichte, Bd. 4, S. 133 ff.; Schürmann: Organisationu. Rechtsgewohnheiten, 1. Tl., S. 249 ff. 165 Zur Vorgeschichte und Bedeutung des festen Ladenpreises siehe Titel: Geschäft und Gemeinschaft, S. 181 f.; Ulrich Everling, Bert Rürup, Stephan Füssel: Die Buchpreisbindung, S. 91 ff. 166 Dazu Schürmann: Der deutsche Buchhandel der Neuzeit, S. 110 f f , 176 ff.; zur Vorgeschichte der Verkehrsordnung siehe Schümann: Organisation u. Rechtsgewohnheiten, 1. Tl., S. 300 ff., sowie Schürmann: Organisation u. Rechtsgewohnheiten, 2. Tl., passim; siehe dort S. 231 ff. die von ihm entworfene Grundordnung des deutschen Buchhandels, die nach eigener Einschätzung des Verfassers damals wichtigen und unbestrittenen Grundsätze des buchhändlerischen Geschäftsverkehrs enthält.
2.2.2 Die Entwicklung des Verlagsrechts biete des Urheber- und Verlagsrechts. Seine sachverständigen Stellungnahmen und Gesetzentwürfe bildeten nicht nur die Grundlage für die Urheberrechtsgesetze von 1870 und 1876, sondern trugen auch entscheidend zum Zustandekommen der Berner Übereinkunft von 1886, des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst (LUG) und des Verlagsgesetzes von 1901 sowie des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie (KUG) von 1907 bei.167 (Vgl. Kap. 2.2.1) Vereinsgründungen gab es auch auf der anderen Seite des Verhandlungstisches: bei den Autoren. Ihre Zusammenschlüsse waren freilich kurzlebiger und weniger effektiv. Der Ausspruch Eulenburgs, »Dichter und auch Schriftsteller unter einen Hut zu bringen, ist ein schwerer Ding, als Flöhe unter einen Käsedeckel zu sammeln«,168 mag erklären, weshalb nach dem Leipziger Literatenverein (1842), dem Allgemeinen Deutschen Schriftsteller-Verband (1878), dem Deutschen Schriftsteller-Verein (1885), dem Deutschen Schriftstellerverband (1887), dem Schutzverein Deutscher Schriftsteller (1887) 1888 mit dem Deutschen Schriftstellerbund die sechste und dem Allgemeinen Schriftstellerverein im Jahre 1901 bereits die siebte Vereinsgründung innerhalb dieses Berufsstandes erfolgte. 169 (Vgl. das Kap. »Autoren« im folgenden Teilband) Dazu kam 1871 die Gründung der Genossenschaft dramatischer Autoren und Componisten, aus der 1908 der Verband deutscher Bühnenschriftsteller hervorging, der wiederum das Gegenstück zum Verband der Bühnenverleger bildete.170 Auf dem Gebiet der Musik setzte sich die Genossenschaft deutscher Komponisten für die Interessen der Tondichter ein; die ihrer Verleger wurden von dem 1828 gegründeten Verein der Deutschen Musikalienhändler vertreten.171 (Vgl. das Kap. »Musikalienverlag« im folgenden Teilband) Das Verlagsrecht in Theorie und Praxis Anders als bei den gewerblichen Schutzrechten und dem Urheberrecht entfaltete die Reichsgründung auf dem Gebiet des Verlagsrechts keine rechtsvereinheitlichende Wirkung, obwohl - dem Bedürfnis der beteiligten Kreise entsprechend - in den Territorialstaaten seit mehr als vier Jahrzehnten wiederholt Entwürfe eines einheitlichen Verlagsgesetzes zur Diskussion gestellt worden waren. 172 Mehrfach war solchen Initiativen der Erfolg versagt geblieben: Zunächst, als am Ende der Beratungen des Urheberrechtsgesetzes von 1870 ein Antrag, den Reichskanzler um Erarbeitung eines Verlagsgesetzentwurfs zu ersuchen, abgelehnt wurde, 173 sodann, als die Kommission für den Entwurf des Bürgerli167 Einzelheiten dazu: Beiträge zum Urheberrecht, S. 9 ff. 168 Zit. nach Krön: Schriftsteller und Schriftstellerverbände, S. 31. 169 Vgl. Krön: Schriftstellerund Schriftstellerverbände, S. 32 ff.; vgl. auch Rauecker: Die Fachvereine der deutschen Schriftsteller, S. 157 ff. 170 Jacoby-Goldstandt: Die deutschen Dramatiker, S. 55. 171 Siehe Hase: Der Musikverlagsvertrag, S. 4. 172 Preußische Gesetz-Revision. Pensum XIV (Allgemeines Landrecht, Teil 1, Titel 11), Berlin 1831: Berger: Entwurf zu einem Gesetz für das Königreich Sachsen. Die Rechtsverhältnisse zwischen Schriftsteller und Verleger betreffend. Allgemeine Preßzeitung von 1845, Nr. 31-39; Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern, Teil III; Recht der Schuldverhältnisse, München 1861 ; Entwurf eines fur die deutschen Bundesstaaten gemeinsamen Gesetzes über Schuld-Verhältnisse. Teil 2 Stuttgart 1865.
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cheη Gesetzbuches (BGB) das Verlagsrecht aus dem BGB verwies und sich lediglich seine Berücksichtigung bei der Revision des Handelsgesetzbuches vorbehielt,174 und schließlich, als ein 1888 einstimmig gefaßter Beschluß des Deutschen Schriftstellerverbandes und des Vereins Berliner Presse, den Reichskanzler doch noch um Aufnahme des Verlagsrechts in das BGB zu bitten, ohne Ergebnis blieb.175 Der Artikel 76 des Einfiihrungsgesetzes TximBGB (EGBGB) beließ es auch nach Inkrafittreten des BGB bei den bisherigen landesrechtlichen Vorschriften über das Verlagsrecht.176 So galten weiterhin bis zum Inkrafittreten des Verlagsgesetzes vom 19. Juni 1901 in Preußen das Allgemeine Landrecht 111 §§ 996-1036 (1794), im Königreich Sachsen das Bürgerliche Gesetzbuch §§ 1139-1149 (1863), in Baden §§ 577da-dh des Badischen Landrechts (2. Buch, 2. Titel, 6. Kapitel) (1809) sowie verschiedene Gesetze, Mandate und Verordnungen aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Hessen-Kassel,177 Sachsen-Coburg-Gotha,178 Sachsen-Meiningen-Hildburghausen,179 Anhalt-Dessau180 und Anhalt-Cöthen.181 Überdies waren da, wo dem Verlagsgewerbe geringere wirtschaftliche Bedeutung beigemessen wurde, verlagsrechtliche Normen in der partikularstaatlichen Nachdruckgesetzgebung enthalten, die auch nach Inkrafittreten des Urheberrechtsgesetzes vom 11. Juni 1870 ihre Gültigkeit bewahrt hatten.182 Diese Regelungen erwiesen sich gegen Ende des Jahrhunderts meist als überholt: Teils waren sie lückenhaft, teils hatte sich das Verständnis von der Rechtsnatur des Verlagsvertrags gewandelt, teils hatten neue Gewohnheiten des Verlagsgeschäfts die gesetzlichen Bestimmungen obsolet werden lassen.183 Noch über die Jahrhundertwende hinaus diskutierte die Rechtswissenschaft vielfältige Vorstellungen vom Wesen des Verlagsvertrags. War er ein Pachtvertrag? Wie stand es aber mit der Pflicht des Verlegers zur Vervielfältigung und Verbreitung des Werkes? War er Kauf-, Dienst- oder Werkvertrag? Lag dann etwa in der Honorarzahlung die alleinige synallagmatische Hauptleistungspflicht des Verlegers? Oder war er ein Gesellschaftsvertrag? Allein, sollte der Autor regelmäßig am wirtschaftlichen Risiko der Werkverwertung teilhaben? Oder war der Verlagsvertrag eine Mischung von dem einen und dem anderen oder gar etwas ganz Eigenständiges?184 Das Tribunal de Commerce de la Seine hielt in einer Entscheidung vom 4. Juni 1896 den Verlagsvertrag für einen Gesellschaftsvertrag eigener Art, nach welchem der Verleger 173 Siehe Schürmann: Der deutsche Buchhandel der Neuzeit, S. 235. 174 Vgl. Gutachten der Vorkommission, 15.4.1874. In: Jakobs/Schubert: Die Beratung des BGB, Bd. 1, S. 173; Beschluß der ersten Kommission, 22.9.1874. In: Jakobs/Schubert: Beratung des BGB, Bd. 1, S. 211 ff. 175 Mouvement en faveur de la Codification du droit relatif au contact d'édition en Allemagne. In : Droit d'Auteur (1889), S. 72. 176 Entwurf eines Gesetzes über das Verlagsrecht, S. 14. 177 Gesetz vom 16.5.1829, abgedruckt bei Eisenlohr: Sammlung der Gesetze und internationalen Verträge, S. 28. 178 Verordnung vom 18.9.1828. In: Eisenlohr: Sammlung der Gesetze, S. 81. 179 Verordnung vom 7.5.1829. In: Eisenlohr: Sammlung der Gesetze, S. 84. 180 Verordnung vom 15./24.11.1827. In: Eisenlohr: Sammlung der Gesetze, S. 8. 181 Mandat vom 23.12.1828. In: Eisenlohr: Sammlung der Gesetze, S. 6. 182 Vgl. Wächter: Verlagsrecht, Bd. 1, S. 39 ff.; sowie Petsch: Die gesetzlichen Bestimmungen über den Verlags vertrag, S. 6. 183 Allfeld: Reichsgesetze, Einleitung S. 15, sowie Hildebrandt: Entwurf zu einem Gesetz, S. 102.
2.2.2
Die Entwicklung des Verlagsrechts
zugleich Geschäftsführer der Gesellschaft und Mandatar seines Mitgesellschafters sei.185 In einer Kritik dieser Entscheidung wies Maillard daraufhin, daß der Autor wohl am Gewinn des Verlegers teilhaben könne, nicht aber an seinem Verlust. Der Verlagsvertrag sei auch weder Sach- oder Dienstmiete noch ein Kaufvertrag, zu denen es freilich gewisse Parallelen geben könne; im Wesen sei er richtigerweise ein Vertrag eigener Art. 186 Osterrieth hingegen sah im Verlagsvertrag kein einheitliches Rechtsverhältnis, vielmehr sei er Sachmiete, soweit der Autor dem Verleger das in seinem Eigentum stehende Geistesgut gegen Honorierung zur Verwertung überlasse, und Mandat, soweit der Verleger zur Werkvervielfältigung und -Verbreitung auch verpflichtet werde. 187 Osterrieth vermochte sich mit seiner Meinung ebensowenig durchzusetzen wie Eisenmann, 188 der den Verlagsvertrag als Mietvertrag deutete. Am Ende seiner Auseinandersetzung mit beiden Autoren resümierte Fuld: »Eine in juristischer Hinsicht vollständig genügende Subsumierung ist bisher nicht gelungen und wird auch in Zukunft nicht gelingen, weil es sich eben um einen Vertrag handelt, welcher seinen Inhalt nicht einer Vertragsform, sondern verschiedenen Vertragsformen entlehnt hat.«189 Erst die Einsichten in die persönlichkeitsrechtlichen Bezüge des Urheberrechts, die dem Verleger Änderungen des vertragsgegenständlichen Werkes nur nach besonderer Genehmigung des Urhebers bzw. seines Rechtsnachfolgers gestatten, verhalfen schließlich auch der Erkenntnis zum Durchbruch, daß der Verlagsvertrag keinem der Vertragstypen des BGB unterfallt, vielmehr einen, wie es Esser 190 formulierte, »Persönlichkeitsschutz und Publizitätsinteresse am Originalwerk gegen das Unternehmerinteresse und -risiko abwägenden Vertrag eigenen Typs« darstellt. Der Gesetzentwurf des Schriftstellerverbandes und die Verlagsordnung des Börsenvereins Angesichts nicht mehr zeitgemäßer gesetzlicher Regelungen und unterschiedlicher Auffassungen der Wissenschaft gewannen Gewohnheitsrechte und Handelsbräuche wachsende Bedeutung für die Beurteilung verlagsrechtlicher Sachverhalte. Sie fanden ihren Niederschlag in verschiedenen Verlagsordnungen, in denen Verbände und engagierte Buchhändler - meist als Vorschlag für eine gesetzliche Regelung - ihre Vorstellungen vom Verlagsvertrag niederlegten.191 Besonderes Gewicht kam dabei dem vom Deutschen Schriftstellerverband in seiner Hauptversammlung vom 15. September 1891 an-
184 Zu den verschiedenen Deutungen des Wesens des Verlagsvertrages siehe statt vieler Klostermann: Das geistige Eigentum an Schriftwerken, Kunstwerken, S. 305 ff.; Voigtländer: Verlagsrecht 1893, S. 28. 185 Siehe Maillard: Autor und Verleger, S. 318. 186 Maillard, S. 318 f. 187 Siehe Osterrieth: Urheberrecht und Verlagsrecht, S. 285-298. 188 Eisenmann: Le contrat d'édition et les autres louages d'oeuvres intellectuelles, S. 11 ff. 189 Fuld: Verlagsvertrag und Miethvertrag, S. 14-18. 190 Esser: Schuldrecht. Bd. 1, 4. Aufl., S. 103. 191 Biedermann: Verlagsordnung fiir den deutschen Buchhandel, Bd. 2, S. 235 ff.; Schürmann: Rechtsverhältnisse der Autoren, S. 323 ff.; Hildebrandt: Entwurf, S. 104 ff. Bähr: Gegenentwurf zu dem Entwürfe eines bürgerlichen Gesetzbuches. 2. Heft, 2. Buch. Titel 12; zu den Verlagsordnungen allgemein Schürmann: Der deutsche Buchhandel der Neuzeit, S. 237 ff.
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genommenen Entwurf eines Gesetzes über das Verlagsrecht (Ε-SV)192 und der seit 1890 beratenen Verlagsordnung des Börsenvereins vom 30. April 1893 (VO)m zu. Wie der Vergleich zeigt, spiegelten sie in wesentlichen Punkten ein einheitliches Verständnis von den aus dem Verlagsvertrag folgenden Rechten und Pflichten wider, das später das Verlagsgesetz nachhaltig prägen sollte. Anders als die Verlagsordnung bezog sich der Entwurf des Schriftstellerverbandes auch auf den Kunstverlag (§ 45 Ε-SV), ebenso wie jene aber nicht auf den Verlag von Werken der Musik. 194 Grundlegende Meinungsverschiedenheiten, die ihre Ursache in dem noch nicht einheitlich gesehenen Wesen des Urheberrechts hatten, betrafen naturgemäß die in der Verlagsordnung des Börsenvereins vorgesehene cessio legis bei Bestellverträgen (§ 5 VO), 195 das Recht zur Veranstaltung einer Übersetzung 196 und das selbst unter Buchhändlern nicht mehr unbestrittene Recht des Verlegers, in bestimmten Fällen ohne Zustimmung des Autors bzw. seines Rechtsnachfolgers Dritte mit der Bearbeitung des Werkes beauftragen zu dürfen.197 Die Frage, ob dem Verleger ein originäres Recht an Auftragswerken zustehe, wurde noch bis zur Jahrhundertwende heftig diskutiert.198 Die Kommission des Börsenvereins selbst war in den Beratungen zum Gesetz von 1870 für die konsequente Durchführung des Schöpferprinzips eingetreten,199 sein »außerordentlicher Ausschuß für die Gesetze über Urheberrecht« forderte aber später aufgrund der Kritik einiger Mitglieder wieder ein originäres Urheberrecht des Verlegers,200 das mit dessen schöpferischer Leistung für das Buchwesen begründet wurde.201 Die Urheber hatten keinen Grund zur Abweichung von
192 Entwurf eines Gesetzes über das Verlagsrecht, beschlossen von der Hauptversammlung des Deutschen Schriftstellerverbandes am 15.9.1891. In: Börsenblatt (1892), S. 74 ff. Zur Entstehungsgeschichte: Le règlement des rapports juridiques entre auteurs et éditeurs en Allemagne, S. 67 ff.; Étude sur le droit relatif au contrat d'édition, S. 17-22. 193 Verlagsordnung für den deutschen Buchhandel. Angenommen in der Hauptversammlung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Leipzig 30.4.1893. Zur Entstehungsgeschichte der Verlagsordnung siehe Voigtänder: Verlagsrecht 1893, S. 49. 194 Vgl. Schürmann: Der deutsche Buchhandel der Neuzeit, S. 239. 195 So wohl auch Voigtländer: Verlagsrecht 1893, § 5 VO, S. 57 f. 196 Zur Auseinandersetzung über die Erstreckung des Verlagsrechts auf das Übersetzungsrecht siehe Voigtländer: Verlagsrecht 1889, S. 6; kritisch zur Regelung des Börsenvereins, nach der der Autor für die Übersetzung seines Werkes in fremde Sprachen die Zustimmung seines Verlegers benötigt, Schümann: Der deutsche Buchhandel der Neuzeit, S. 274 ff. 197 Klostermann: Urheberrecht an Schrift- u. Kunstwerken, S. 147 u. 152; Petsch: Die gesetzlichen Bestimmungen über den Verlagsvertrag, S. 95; Wächter: Verlagsrecht, Bd. 1, S. 327; differenzierend Osterrieth, der nur im Falle des Todes des Autors dem Verleger Änderungsbefugnisse zugesteht, weil dann das Individualrecht erloschen sei, siehe Archiv für öffentliches Recht 8, S. 285/302, sowie Osterrieth: Altes und Neues, S. 102 u. 104 Anm. 102; dagegen hält Osterrieth ungenehmigte Änderungen des Verlegers zu Lebzeiten des Autors stets für unzulässig, siehe Altes und Neues, S. 104 Anm. 120; ebenso Allfeld: Reichsgesetze, § 3 UG Anm. 7. Voigtländer: Verlagsrecht 1893, S. 5, sah das Änderungsrecht grundsätzlich beim Urheber bzw. dessen Rechtsnachfolger, gestand dem Verleger bei wissenschaftlichen Werken nach Billigkeitsgesichtspunkten aber ein Änderungsrecht dann zu, wenn der Autor notwendige Änderungen verweigert, S. 89 f. 198 Siehe Beiträge zum Urheberrecht, S. 46. 199 Siehe Beiträge zum Urheberrecht, S. 44; vgl. auch Mittelstaedt/Hillig: Verlagsrecht, § 47 Bern. 4; Schürmann: Organisation u. Rechtsgewohnheiten, S. 265. 200 Siehe Beiträge zum Urheberrecht, S. 46; dagegen nur für eine umfassende Rechtsübertragungsvermutung Voigtländer: Verlagsrecht 1889, S. 7.
2.2.2
Die Entwicklung des Verlagsrechts
der allgemein bei Schriftwerken geltenden Rechtslage.202 Die Verlagsordnung sah in § 5 mit der Anordnung einer cessio legis einen Mittelweg vor. Das Übersetzungsrecht - materiell wie auch vertragsrechtlich im Umbruch 203 - wurde nach der Vorstellung des Schriftstellerverbandes im Verlags vertrag nicht auf den Verleger übertragen (§ 20 Ε-SV), während nach der Verlagsordnung die Veranstaltung einer Übersetzung nur dann zulässig sein sollte, wenn der jeweils andere Teil zugestimmt hatte (§38 VO). 204 Das weitgehende Recht des Verlegers, ohne gesonderte Erlaubnis einen Dritten mit der Bearbeitung des Werkes des Originalautors zu beauftragen, betraf nach der Verlagsordnung des Börsenvereins die Fälle, in denen sich der Verfasser mit der Lieferung eines Teils des Werkes in Verzug befand (§9 VO), der Autor bei Neuauflagen des Werkes die erforderlichen Berichtigungen und Verbesserungen nicht vornahm (§ 32 VO) 205 oder - insoweit bereits im Gegensatz zur Auffassung des Reichsgerichts - wenn nach dem Tode des Autors eine Überarbeitung des Werkes notwendig wurde (§ 40 VO). Derart weitgehende, nach dem Verlagsvertrag zulässige Eingriffsmöglichkeiten in Urheberpersönlichkeitsrechte fanden ihre Grundlage in einer Interessenabwägung bzw. im Falle der Rechtsnachfolge in der überkommenen Lehre vom Urheberrecht als reinem Vermögensrecht, dem die Individualrechte des Autors nicht wesentlich waren, so daß diese nicht auf die Erben übergingen.206 Dagegen gestand der Schriftstellerverband mit einem Teil der Literatur und der zitierten Rechtsprechung dem Verleger diese Befugnisse ohne besondere Absprache mit dem Autor nicht mehr zu (§ 9 E-SV). 207 Für den Bereich des Musikverlags wurde die Verlagsordnung des Börsenvereins ergänzt durch die Verlagsordnung für den deutschen Musikalienhandel, die der Verein der deutschen Musikalienhändler bereits am 28. April 1891 verabschiedet hatte.208 Sie basierte auf derjenigen der deutschen Buchhändler, enthielt jedoch dort Abweichungen, wo »entsprechend der Grundbedingung des künstlerischen Tonsatzes, der Eigenart der technischen Herstellung durch Notenstich und Notendruck und der Mannigfaltigkeit des Vertriebes bei Original und Bearbeitungen eine freiere Verfügung« für erforderlich gehalten
201 So Schürmann: Organisation u. Rechtsgewohnheiten, S. 263 f.; Voigtländer: Zur Entwicklung des Verlagsrechts. Leipzig 1892, S. 17 ff.; Voigtländer: Urheber- u. Verlagsrecht, § 47 VerlG Anm. 1 sowie Voigtländer in: Berichte, S. 110. 202 Der Entwurf des Schriftstellerverbandes folgt auch insoweit dem Schöpferprinzip. 203 Dazu ausführlich Vogel: Die Entfaltung des Übersetzungsrechts im deutschen Urheberrecht, S. 16 ff. 204 So auch § 8 des Vertragsentwurfes über ein wissenschaftliches Werk bei Voigtländer: Verlagsrecht 1889, S. 22 f. ; anders dagegen § 5 des Entwurfs eines Vertrages über ein wissenschaftliches Lehrbuch, S. 23/24, mit dem das Urheberrecht vollständig auf den Verleger übertragen wird. 205 So schon Klostermann: Urheberrecht an Schrift- u. Kunstwerken, S. 147. 206 Ebenso Wächter: Verlagsrecht, Bd. 1, S 347; Harum: Die gegenwärtige Österreichische Preßgesetzgebung, S. 163; Osterrieth: Urheber- und Verlagsrecht, S. 295-303, soweit die Vermögensinteressen der Erben nicht berührt werden; Voigtländer.· Das Verlagsrecht 1893, S. 105; siehe auch: Berichtigung, Ergänzung und Umarbeitung neuer Auflagen nach dem Tode des Autors. In: Magazin für den deutschen Buchhandel, 1875, S. 197. 207 So bereits Eisenlohr: Das literarisch-artistische Eigenthum und Verlagsrecht, S. 86, der vom Standpunkt der Eigentumstheorie eine uneingeschränkte Rechtsübertragung auf die Erben für nicht vertretbar hielt; Allfeld; Reichsgesetz § 3 UG Anm. 2, S. 50; Scheele: Das deutsche Urheberrecht an literarischen, künstlerischen und photographischen Werken, S. 35. 208 Als Anhang in: Verlagsordnung für den deutschen Buchhandel.
152
2 Recht, Staat und Öffentlichkeit
wurde (§ 1). Gemäß § 2 dieser Verlagsordnung galt das Musikalienverlagsrecht, soweit nichts Gegenteiliges ausdrücklich vereinbart worden war, zeitlich, räumlich und sachlich unbeschränkt und beinhaltete zudem das Bearbeitungsrecht, das Übersetzungsrecht und das Aufführungsrecht. § 3 der Verordnung regelte schließlich als einzige Möglichkeit der Einschränkung der Rechtsübertragung das in der Praxis häufig räumlich geteilte Verlagsrecht (vgl. das Kap. »Musikalienverlage« im folgenden Teilband). Das »Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst« und das Verlagsgesetz von 1901 Auf Verbandsebene vereinbarte Regelwerke konnten nach verbreiteter Auffassung ein ausgewogenes reichseinheitliches Verlagsgesetz nicht ersetzen.209 Sie blieben weniger wegen ihrer Unverbindlichkeit210 eine unzureichende rechtliche Grundlage der vertraglichen Beziehungen zwischen Autor und Verleger. Abweichende Auffassungen in wichtigen Einzelfragen, die noch in Kraft befindlichen Partikulargesetze, Unzulänglichkeiten des geltenden Urheberrechtsgesetzes angesichts des teilweise höheren Schutzniveaus internationaler Verträge,211 neue Techniken der Werkreproduktion und nicht zuletzt vertiefte, auch für den Verlagsvertrag bedeutende Einsichten über das persönlichkeitsbezogene Wesen des Urheberrechts212 verliehen vielmehr der Forderung nach vollständiger gesetzlicher Neugestaltung des Urheber- und Verlagsrechts zunehmendes Gewicht. Verschiedene Interessenverbände erarbeiteten deshalb - teilweise durch speziell eingerichtete Kommissionen - Vorschläge für eine gesetzliche Neuregelung. Während der Börsenverein bloße Verbesserungen der Gesetze von 1870/76 für ausreichend erachtete,213 erhoben die Verbände der Urheber - namentlich der Schriftstellerverband, der Journalistenverband214 und die internationale Association Littéraire et Artistique Internationale (ALAI)215 - die Forderung nach einer grundlegenden Neuordnung, die den materiellen und persönlichen Interessen des Urhebers in bezug auf sein Werk Rechnung trage. Sie sollte also nicht wie das Gesetz von 1870 nur verlagsfahige Werke, sondern unabhängig von Wert, Gebrauch oder Bestimmung eines Werkes umfassend und einheitlich persönliche geistige Schöpfungen schlechthin einbeziehen sowie den Schutzumfang folglich auch uneingeschränkt und vorbehaltlos auf das Recht der Bearbeitung und Übersetzung erstrecken, weshalb auch eine Anknüpfung an den Tatbestand des Nachdrucks wie im Gesetz von 1870 für nicht sachgerecht und eine Verbindung des Urheberrechtsschutzes mit 209 Der deutsche Buchhandel hielt offenbar die bestehenden Rechtsverhältnisse fur genügend. Vgl. Voigtländer: Urheber- u. Verlagsrecht, S. 22 f. sowie Schürmann: Der deutsche Buchhandel der Neuzeit, S. 236; dagegen aber Osterrieth: Bemerkungen zum Entwurf über das Verlagsrecht, S. 298 f. 210 Siehe Voigtländer: Verlagsrecht 1893, S. 51. 211 Dies galt insbesondere für das Übersetzungsrecht vgl. Art. 5 BÜ in der Fassung der Pariser Zusatzakte und Deklaration vom 4.5.1896; dazu auch Vogel: Die Entfaltung des Übersetzungsrechts, S. 16-23 f. 212 Siehe Allfeld: Reichsgesetze, Einleitung S. 14 f. 213 Siehe Beiträge zum Urheberrecht, S. 53; kritisch zur Arbeit des Börsenvereins Osterrieth: Materialien zur Reform des Urheberrechts, S. 330 f. 214 Vgl. Osterrieth: Die Reform des Urheberrechts, passim, über den auf dem Münchener Journalistenund Schriftstellertag beratenden Entwurf eines Urheberrechtsgesetzes; siehe auch Osterrieth: Materialien zur Reform des Urheberrechts, S. 330 f. 215 Osterrieth: Bemerkungen, S. 298 f.
2.2.2
Die Entwicklung des
Verlagsrechts
der Erfüllung von Förmlichkeiten für nicht oder allenfalls nur beschränkt statthaft gehalten wurde.216 Richtungweisend für das Urhebervertragsrecht waren die Forderungen, die die ALAI in der Abschlußresolution ihres Dresdner Kongresses von 1895 stellte.217 Dort wurde festgehalten, daß das Eigentum am Werkstück keine urheberrechtlichen Reproduktionsrechte begründe, daß - im Hinblick auf die Praxis der mehrfachen Werkverwertung - die Übertragung von Rechten stets einschränkend zu interpretieren sei und daß dem Urheber auch nach der Übertragung von Einzelbefugnissen das Recht verbleibe, gegen den Nachdrucker vorzugehen sowie sich jeder Entstellung und Veränderung seines Werkes zu widersetzen.218 Als nach einem ersten Entwurf von 1899219 und einem trotz vielfaltiger Kritik der beteiligten Kreise 220 wenig veränderten zweiten Entwurf vom Dezember 1900221 das LUG seinen parlamentarischen Weg ging und am 19. Juni 1901 im Gesetzblatt veröffentlicht wurde, war der Forderung nach einem umfassenden Schutz des Werkschöpfers eine Absage erteilt worden. Der Gesetzgeber hatte sich die Auffassung zu eigen gemacht, das Gesetz von 1870 habe sich, auch soweit es den Kunst- und Photographieschutz besonderen Gesetzen vorbehielt, in seinen Grundlagen bewährt. Das LUG als Grundlage des Verlagsgesetzes Als Grundlage des Verlagsrechts hatte das LUG in mehrfacher Hinsicht Auswirkungen auf die vertraglichen Beziehungen zwischen Autor und Verleger. Zwar blieb der Kreis der geschützten Werkarten gleich, der Schutzumfang des Urheberrechts erfuhr jedoch in Persönlichkeits- wie auch vermögensrechtlicher Hinsicht entscheidende Erweiterungen, die in Zukunft verlagsvertragliche Absprachen unerläßlich machten: Das Bearbeitungsrecht fand eine gesetzliche Grundlage (§ 12 Abs. 1). Das Übersetzungsrecht wurde weitergehend als in der Berner Übereinkunft geregelt und vorbehaltlos auch ohne die Erfüllung von Förmlichkeiten während der gesamten urheberrechtlichen Schutzdauer anerkannt (§ 12 Abs. 2 Nr. 1). Neben dem uneingeschränkten Vervielfaltigungs- und Aufführungsrecht (§ 11 Abs. 1, Abs. 2) sowie dem Recht der gewerbsmäßigen Verbreitung (§ 11 Abs. 1 Satz 1) mit Ausnahme des Verleihens stand dem Urheber das ausschließliche Vortragsrecht an noch nicht erschienenen Werken zu (§ 11 Abs. 3). In urheberpersönlichkeitsrechtlicher Hinsicht erfuhren das Veröffentlichungsrecht (§11 Abs. 1 Satz 1 ) und - im Gegen-
216 Siehe den Entwurf des Schriftstellertages. In: Osterrieth: Reform des Urheberrechts, S. 7 f. u. 23 ff.; die dort vorgesehenen Vorbehaltserklärungen betrafen lediglich noch Zeitungsartikel, politische Reden und das Recht der Aufnahme eines Werkes in eine Sammlung pädagogischer Literatur. 217 Compte rendu du Congrès de Dresde 1895. In: Bericht, S. 59 ff. 218 Vgl. dort Abschnitt A I Ziff. 5 der Resolution. 219 Entwurf eines Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst, amtl. Ausgabe, Berlin 1899. 220 Vgl. insbesondere die Denkschrift der Association Littéraire et Artistique Internationale (ALAI) zum Entwurf eines Deutschen Gesetzes, betreffend das Urheberrecht an den Werken der Literatur und der Tonkunst, S. 281 ff. (verfaßt von Osterrieth; vgl.: Der XXI. Kongreß der ALAI. Heidelberg 1899, S. 369-374); zur Kritik des Entwurfs femer Traumann: Der Entwurf eines neuen Urheberrechtsgesetzentwurfs, S. 80, sowie die Nachweise bei Allfeld: Kommentar 1902, Einleitung, S. 7 Anm. 1. 221 In synoptischer Darstellung zum ersten Entwurf als Beilage in: Börsenblatt (1900) 293, S. 12 f.
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R e c h t , Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
satz zur Verlagsordnung des Börsenvereins - der gegen den Erwerber gerichtete Anspruch auf Achtung der Werkintegrität im Falle der Übertragung des Urheberrechts gesetzliche Anerkennung (§ 9). Vertragspartner des Verlegers bei geschützten Werken war auch nach dem neuen Gesetz grundsätzlich der Werkschöpfer bzw. dessen Rechtsnachfolger; nur bei Sammelwerken sollte der Herausgeber und, falls dieser nicht genannt war, der Verleger als Urheber gelten (§ 4). 222 Letztlich führten die Stellungnahmen der interessierten Kreise zu strikteren Schrankenregelungen, namentlich bei der Aufnahme fremder Schriften in selbständige Werke oder in Sammlungen (§19) und bei der Übernahme von Werken der Tagespresse (§ 18).223
Im Rechtsverkehr blieb das Urheberrecht weiterhin beschränkt und unbeschränkt übertragbar (§ 8 Abs. 3). Offen ließ das Gesetz die in der Literatur umstrittene Frage, ob mit der Übertragung die Substanz des Rechtes übergehe 224 oder lediglich das Recht zur Ausübung überlassen werde, wie es § 16 des österreichischen Urheberrechtsgesetzes vom 26. Dezember 1895 ausdrücklich bestimmte. 225 Diese Frage war von praktischer Bedeutung, weil sie zu unterschiedlichen Ergebnissen führte, wenn der Erwerber des Urheberrechts auf sein Recht verzichtete oder ohne Rechtsnachfolger verstarb und wenn es darum ging, wem die Rechte hinsichtlich neuer Nutzungsarten zustünden. 226 Sie war weiterhin aber auch von theoretischer Relevanz, weil ihre Beantwortung darüber entschied, ob wie zunehmend vertreten - das Urheberrecht ein Persönlichkeitsrecht sei, welches sich vom Werkschöpfer niemals vollständig lösen könne. 227 Die unbeschränkte Übertragung erschwerte der Gesetzgeber erheblich. So bedurfte es fortan besonderer Vereinbarungen, wenn der Erwerber Veränderungen des Werkes, des Titels oder der Urheberbezeichnung vornehmen (§9 Abs. 1 ), es übersetzen, in eine andere literarische Form übertragen oder - bei Werken der Tonkunst - bearbeiten wollte, soweit er nicht bloß einen Auszug fertigte oder eine Übertragung in eine andere Tonart oder Stimmlage vornahm (§ 14). Im übrigen war gesetzlich anerkannt, daß das Urheberrecht mit oder ohne Ausschließlichkeitsbefugnis zeitlich, räumlich und inhaltlich beschränkt übertragen werden konnte (§ 8 Abs. 2). Das Verlagsgesetz von 1901 Wenngleich der zweite Entwurf des LUG noch einmal Verbesserungen des Schutzes des Urhebers mit sich brachte - so war die Regelung des § 14 im ersten Entwurf noch nicht 222 Der Verleger ist zudem berechtigt, die Urheberrechte bei pseudonym oder anonym erschienenen Werken wahrzunehmen, falls der Herausgeber nicht genannt ist (§ 7 Abs. 2). 223 Vgl. Osterrieth: Der gewerbliche Rechtsschutz, S. 37 ff. 224 Vgl. Endemann: Kommentar, S. 11 ff.; Wächter: Das Autorrecht nach dem gemeinen deutschen Recht, 1857,S. 109; Stobbe: Handbuch des Deutschen Privatrechts, 2. Aufl. Berlin 1885,S.44,Fn. l;Klostermann in: Handbuch des deutschen Handelsrechts, Bd. 2, S. 267 ff.; Osterrieth: Altes und Neues, S. 94 ff.; Marwitz/Möhring: Das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, § 8 Anm. 7. 225 Siehe Dahn: Zur neuesten Deutschen Gesetzgebung über Urheberrecht, S. 57; Reuling: Beiträge zur Lehre vom Urheberrecht nach dem Reichsgesetz, S. 74; Gierke: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, S. 767, 805; zur österreichischen Regelung vgl. Rabel: Die Übertragbarkeit des Urheberrechts nach dem österreichischen Gesetz, S. 71 ff. 226 Vgl. Marwitz/Möhring: Urheberrecht, § 8 Anm. 8. 227 Gierke: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, S. 809.
2.2.2
Die Entwicklung des Verlagsrechts
vorgesehen 228 - , enthielt der erste Entwurf bereits wichtige Vorgaben fur den wenig später vorgelegten Entwurf eines Verlagsgesetzes. Die Erweiterung des urheberrechtlichen Schutzumfanges weckte freilich auch Skepsis, ob angesichts einer verbreiteten verlegerischen Praxis, umfassende Rechtsübertragungen zu vereinbaren, die neuen im LUG normierten Befugnisse des Urhebers auch tatsächlich den Werkschöpfern zugute kommen würden. 229 »Sprechen wir nun in einem Satze klar aus, was die Gesetzgebung anstreben muß«, schrieb Streißler im Hinblick auf eine Verlängerung der urheberrechtlichen Schutzfrist auf 50 Jahre post mortem auctoris, »wenn sie ihren Zweck, den geistigen Arbeitern einen möglichst hohen materiellen Ertrag ihrer Tätigkeit zu sichern, erreichen soll. Sie muß die Vertragsfreiheit zwischen Urheber und Verleger einzuschränken suchen.«230 Wer derartige zwingende Bestimmungen zum Schutze des Urhebers im ersten Entwurf eines deutschen Reichsgesetzes über das Verlagsrecht, der am 14. Juli 1900 im deutschen Reichsanzeiger veröffentlicht wurde, erwartet hatte, wurde enttäuscht. Wie es in den Erläuterungen hieß, sollte es kein wesentlich neues Recht schaffen, »sondern nur das in Übung befindliche Recht, wie es durch die Wissenschaft und Rechtsprechung aufgrund der Gepflogenheiten des hoch angesehenen Verlagsgewerbes sich ausgebildet hat, feststellen, bestimmte Streitfragen entscheiden und die einzelnen Vorschriften mit den Grundsätzen des bürgerlichen Gesetzbuches in Einklang bringen«.231 Zwar entschied sich der Entwurf nach Auffassung der Regierung im Zweifel zugunsten des Verfassers als dem wirtschaftlich schwächeren Teil,232 jedoch enthielt er bis auf die Bestimmung über den Konkurs des Verlegers ausschließlich dispositives Recht, das folglich nur dann zur Geltung kam, wenn der Verlagsvertrag Regelungslücken aufwies. Entscheidend Neues war vom Entwurf des Verlagsgesetzes allerdings auch nicht mehr zu erwarten, nachdem über wesentliche Rechte und Pflichten aus dem Verlagsvertrag unter den Beteiligten bereits Einigkeit bestand, der Entwurf des LUG mit der Bestätigung des Schöpferprinzips der Forderung des Börsenvereins nach einem originären Verlegerrecht bei Auftragswerken eine Absage erteilt,233 das Übersetzungsrecht ohne ausdrückliche Vereinbarung dem Urheber vorbehalten und dem Verleger Eingriffe in die Werkintegrität - anders als noch die Verlagsordnung - ohne vertragliche Absprachen mit dem Autor untersagt hatte. Endlich war mit der Vertagung der Neuregelung der Rechte an Werken der Kunst und Photographie auch eine Vorentscheidung über die Ausklammerung des Kunstverlagsvertrages aus dem Verlagsgesetz gefallen. 234 So geriet, als der erste Entwurf des Verlagsgesetzes der Kritik der Urheber- und Verlegerverbände ausgesetzt wurde, die noch ungeklärte, mit den ideellen Autorinteressen eng verbundene Frage nach dem Recht des Verlegers, das Verlagsrecht an Dritte weiterzuübertragen, in den Mittelpunkt der Debatte. Osterrieth hatte sich wiederholt, u.a. 1900 auf 228 Börsenblatt (1900) 293, Beilage S. 3 u. 19. 229 Vgl. Streißler: Entwurf eines Gesetzes, betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst, S. 21 ff. 230 Streißler: Entwurf eines Gesetzes, S. 24 f. 231 Entwurf (amtl. Ausgabe), S. 14. 232 Entwurf (amtl. Ausgabe), S. 20 (Erläuterungen zu §§ 2, 3 des Entwurfs). 233 Siehe Allfeld: Kommentar 1902, § 2 LUG Anm. 2. 234 Kritisch dazu Osterrieth: Bemerkungen, S. 298-302.
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2 Recht, Staat und Öffentlichkeit
dem Juristentag in Bamberg, unter Hinweis auf den persönlichen Bezug der Verlegerwahl und der Annahme des Verlagsvertrages für die Unübertragbarkeit des Verlagsrechts ausgesprochen235 und dabei die Zustimmung der Urheberverbände, namentlich des Vereins Berliner Presse236 und des Vereins Deutscher Ingenieure, erhalten, während die Vertreter des Buchhandels zur Wahrung der gebotenen wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit des Verlegers die im Entwurf vorgesehene eingeschränkte Übertragbarkeit (§ 30, später § 28 VerlG) verteidigten, ja sogar weitergehende Forderungen stellten.237 Im übrigen gab es kaum eine Vorschrift, die nicht von der einen oder anderen Seite einer kritischen Betrachtung und Abwägung unterzogen wurde. Das Justizamt war in der Vorbereitungsphase von den beigezogenen Sachverständigen aller Urheber- und Verlagssparten jedoch so gut beraten, daß die 150 Änderungsanträge, über die die in erster Lesung eingesetzte 21köpfige Sachverständigenkommission zu befinden hatte, zu keinen wesentlichen Änderungen führten. 238 Das Gesetz wurde am 1. Mai 1901 nach der zweiten und dritten Lesung vom Reichstag beschlossen und am 19. Juni 1901 zusammen mit dem LUG in Kraft gesetzt. Es ist bis heute ohne wesentliche Änderung gültig. Das Verlagsgesetz bezieht sich nur auf solche Verlagsverträge, die ein bereits vorliegendes oder erst noch zu schaffendes (§11) Werk der Literatur und Tonkunst zum Gegenstand haben. Verträge über Werke der bildenden Kunst werden dagegen nicht als Verlagsverträge im Sinne dieses Gesetzes angesehen.239 Die sich aus dem Verlagsvertrag ergebenden Pflichten sind die Pflicht des Verfassers oder Verlaggebers (§ 48), dem Verleger das vertragsgegenständliche Werk zur Vervielfältigung und Verbreitung auf eigene Rechnung zu überlassen, und die Pflicht des Verlegers, die Vervielfältigung und Verbreitung vorzunehmen (§ 1 ). Entfällt diese Verpflichtung, weil das Werk nach einem vom Besteller genau vorgeschriebenen Plan hergestellt worden ist (§ 47), liegt kein Verlags-, sondern ein Werkvertrag vor.240 Erfolgt sie im eigenen Namen, aber auf Rechnung des Verfassers, handelt es sich um einen Kommissionsverlag, der sich nicht nach dem Verlagsgesetz, sondern nach dem Handelsgesetzbuch richtet.241 Die Honorierung des Autors hat zu erfolgen, wenn sie vertraglich vereinbart ist; stillschweigend gilt sie als vereinbart, wenn sie nach den Umständen erwartet werden kann. Ist die Höhe der Vergütung vertraglich nicht bestimmt, gilt eine angemessene Vergütung 235 Osterrieth: Reform, S. 285-302; Osterrieth, in: Verhandlungen des 25. deutschen Juristentages, S. 183 ff.; Osterrieth: Bemerkungen, S. 298-313; ebenso Schuster: Urheberrecht der Tonkunst, S. 209. 236 Zum Entwurf eines Verlagsgesetzes, Börsenblatt (1900) 288, Beilage, S. 5 ff. 237 Vgl. die Gegenanträge der deutschen Verlegerkammer, Börsenblatt ( 1900) 289, S. 10014-10018; vgl. auch die Verhandlungen des außerordentlichen Ausschusses für Urheber- und Verlagsrecht des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, Börsenblatt (1900) 263, Beilage zu S. 21; siehe auch Börsenblatt (1900) 175, S. 5668, 6589, 6730, 6983, sowie Biedermann: Neues zur Kritik des Verlagsrechts, in: Börsenblatt (1900) 201, S. 6404 ff., 6432-6434; im Ergebnis ebenso Ehlermann: Zum Entwurf eines deutschen Gesetzes über das Verlagsrecht, in: Börsenblatt (1900)236, S. 7669 f f , 7708-7709; Birkmeyer: Die Kodifikation des Verlagsrechtes, S. 2 ff., 20 ff. 238 Vgl. Voigtländer: Entwicklung des Verlagsrechts, Einleitung, S. 22 ff. 239 Entwurf (amtl. Ausgabe), S. 14. 240 Statt vieler: Gamm: Der verlagsrechtliche Bestellvertrag. In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (1980), S. 531/533; Mittelstaedt/Hillig: Das Verlagsrecht, § 47 Bern. 10; Allfeld: Kommentar 1902, § 47 VerlG Anm. 4; Hoffmann: Die Reichsgesetze über das Verlagsrecht, § 47 Anm. 1. 241 Allfeld: Kommentar 1902, § 1 VerlG Anm. 5c; Voigtländer: Urheber- u. Verlagsrecht, § 1 VerlG Anm. 4; Hoffmann: Reichsgesetze, § 1 Anm. 7 c.
2.2.2
Die Entwicklung des Verlagsrechts
als vereinbart (§ 22). Eine Honorarvereinbarung ist für das Vorliegen eines Verlagsvertrages ebensowenig ausschlaggebend242 wie die Pflicht des Autors, dem Verleger ein Verlagsrecht zu verschaffen (§ 8). Zwar stellt letzteres den Regelfall dar, das Verlagsgesetz gilt aber auch für Verträge über Werke, an denen Urheberrechte nicht oder nicht mehr geltend gemacht werden können, sowie über geschützte Werke, an denen der Verfasser sich die anderweitige Verfügung vorbehalten möchte. 243 In diesen Fällen erwachsen dem Verleger nur schuldrechtliche Ansprüche gegen den Verlaggeber, während er in ersterem Falle sein absolutes Recht der Vervielfältigung und Verbreitung in dem im Verlagsvertrag näher bestimmten Umfang gegen jeden Dritten, ja selbst gegen den Verfasser, vor Eingriffen schützen kann (§ 9 Abs. 1). Dieses Verlagsrecht wurde in den Erläuterungen als ein »aus dem Urheberrecht abgeleitetes und demgemäß im Wesen gleichartiges, wenn auch inhaltlich nicht so weittragendes Recht« 244 beschrieben, das nach Beendigung des Verlagsverhältnisses erlösche, so daß das Urheberrecht wieder unbeschränkt zur Geltung komme. Die Überschreitung der vertraglich dem Verlagsrecht gezogenen Grenzen stellt demnach nicht allein eine Vertragsverletzung, sondern auch eine Urheberrechtsverletzung durch den Verleger dar. Bei Eingriffen Dritter in das dem Verleger übertragene Verlagsrecht ist der Rechtsverletzer nicht nur dem Verbotsrecht des Verlegers, sondern auch dem negativen Verbotsrecht des Verfassers ausgesetzt. Das Verlagsrecht beruht auf dem mit dem Verlagsvertrag zugleich vorgenommenen Verfügungsgeschäft, zu dem als Wirksamkeitserfordernis die Übergabe des Manuskripts hinzuzukommen hat (§ 9 Abs. 1). Der Verleger ist zwar berechtigt, bei nicht rechtzeitiger oder nicht vertragsgemäßer Leistung des Urhebers auf Erfüllung zu klagen, eine Vollstreckung ist jedoch in der Regel nicht möglich, 245 so daß in der Praxis meist die Ausübung des gesetzlich vorgesehenen Rücktrittsrechts nach vorheriger Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung weiterhelfen wird (§§ 30,31 ). Letzteres Recht steht umgekehrt auch dem Autor zu, wenn der Verleger seine vertragliche Hauptleistungspflicht nicht vereinbarungsgemäß erfüllt (§ 32). Erhebliche Bedeutung kommt der Regelung der sich aus dem Verlagsvertrag ergebenden Enthaltungspflicht des Verfassers in der Praxis zu: Grundsätzlich ist ihm während der Dauer des Vertragsverhältnisses die Vervielfältigung und Verbreitung des Werkes in dem Umfang untersagt, in dem sie jedem Dritten während der Dauer des Urheberrechts verboten ist (§ 2 Abs. 1 ). Da der Vervielfaltigungsbegriff des Verlagsgesetzes enger gefaßt ist als der des LUG,246 bezieht sich die Enthaltungspflicht nur auf die druckmäßige Vervielfältigung, nicht dagegen - wie es mit der Novelle von 1910 ergänzend bestimmt wurde - auf die Benutzung des Werkes zum Zwecke der mechanischen Wiedergabe für das Gehör und nicht auf die Verfilmung (§2 Abs. 2 Ziff. 4 u. 5). Die Wiedergabe des Werkes in veränderter Gestalt, gleichgültig ob es um geringfügige, urheberrechtlich unbedeutende Veränderungen, Kürzungen oder Bearbeitungen geht, ist ihm vertraglich verboten. Dage242 R G Z 6 0 , 174/177. 243 Allfeld: Kommentar 1902, § 48 VerlG Anm. 2; Hoffmann: Reichsgesetze, § 1 Anm, 2; Mittelstaedt/Hillig: Verlagsrecht, § 1 Bern. 7; Klostermann: Das geistige Eigentum, S. 293 ff.; Klostermann: Urheberrecht an Schrift- u. Kunstwerken, S. 144 f.; Wächter: Verlagsrecht, Bd. 1, S. 219 ff. 244 Entwurf (amtl. Ausgabe), S. 16 f. 245 Siehe Allfeld: Kommentar 1902, § 30 VerlG Anm. 5b m. w. Nachw. 246 Strittig, siehe Schricker: Verlagsrecht, § 2 Rdnr. 9; Goldbaum: Der Auffiihrungsvertrag, S. 86.
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Recht, Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
gen erstreckt sich seine Enthaltungspflicht nicht auf das Recht, Übersetzungen zu autorisieren, das Werk in anderer literarischer Form herauszugeben oder ein Werk der Tonkunst zu bearbeiten, soweit nicht lediglich die Übertragung in eine andere Tonart oder Stimmlage oder die Herstellung eines Auszugs vorgenommen wird (§ 2 Abs. 2 Ziff. 1-3 in Anlehnung an § 14 LUG). Die regelmäßig während des gesamten Vertragsverhältnisses bestehende Enthaltungspflicht des Autors findet gesetzliche Einschränkungen in den Fällen der Aufnahme des Werkes in eine Gesamtausgabe, die 20 Jahre nach dem Erscheinen des Werkes zulässig ist (§ 2 Abs. 3), bei nicht honorierten Beiträgen zu Sammelwerken, die bereits ein Jahr nach Ablauf des Erscheinungsjahres anderweitig verwendet werden können (§ 3), und bei gemeinfreien Werken, bei denen die Enthaltungspflicht gesetzlich auf sechs Monate verkürzt ist (§ 39 Abs. 3). Das noch in der Verlagsordnung des Börsenvereins von 1893 enthaltene weitgehende, von der Literatur freilich in der Folgezeit zunehmend in Frage gestellte Änderungsrecht ist durch § 13 VerlG abgeschafft. Anders als der Verfasser, dem Änderungen bis zur Beendigung der Vervielfältigung gestattet sind (§ 12), darf der Verleger weder am Werk selbst noch an dessen Titel oder der Urheberbezeichnung Zusätze anbringen und auch im übrigen keine Kürzungen oder sonstigen Änderungen vornehmen, soweit sie der Verfasser nach Treu und Glauben nicht untersagen darf. 247 Für Beiträge zu periodischen Sammelwerken enthält § 44 eine Einschränkung dieses Verbots. Dagegen hat der Verleger allein das Recht, den für die wirtschaftliche Auswertung des Verlagsrechts bedeutsamen Ladenpreis festzusetzen; herabsetzen darf er ihn allein, wenn nicht berechtigte Interessen des Verfassers verletzt werden, erhöhen nur mit dessen Zustimmung (§ 22). Die - für den Verlagsvertrag nicht wesentliche - Vergütung des Autors hat der Vereinbarung entsprechend oder, falls eine solche fehlt, in üblicher Höhe zu erfolgen (§ 22). Dabei kommt neben der Honorierung nach der Anzahl der Zeilen oder Druckbögen (Summenhonorar) auch ein am Absatz des Werkes orientiertes Honorar in Betracht (§ 24). Zusätzlich zur Vergütung in Geld kennt das Gesetz einen Anspruch des Autors auf Freiexemplare und auf Überlassung von Abzügen zum Vorzugspreis (§§ 25, 26). Der Verleger hat im Zweifel nur das Recht zu einer Auflage (§ 5 Abs. 1 ). Ohne besondere Abrede erstreckt sich die Berechtigung auf die Herstellung von 1.000 Exemplaren. Der Verleger ist allerdings befugt, durch einseitige Erklärung gegenüber dem Autor die Höhe der Auflage niedriger zu bestimmen (§ 5 Abs. 2). Bezieht sich der Verlagsvertrag auf mehrere Auflagen, begründet er über die erste Auflage hinaus lediglich eine Berechtigung des Verlegers, der jedoch keine Verpflichtung entspricht. Macht der Verleger von seinem Recht zu weiteren Auflagen keinen Gebrauch, steht dem Autor nach Ablauf einer angemessenen Frist ein Rücktrittsrecht zur Seite (§ 17). Vor Veranstaltung einer neuen Auflage hat der Verleger dem Autor Gelegenheit zu geben, Änderungen des Werkes vorzunehmen. Dabei kann sich der Autor auch der Hilfe Dritter bedienen, darf aber berechtigte Interessen des Verlegers nicht verletzen (§12 Abs. 1 und 2). Eine Verpflichtung zur Vornahme von Änderungen obliegt dem Autor ohne besondere Abreden allerdings nicht.
247 Unter Hinweis auf die Praxis kritisch dazu Voigtländer: Urheber- u. Verlagsrecht, § 13 VerlG Anm. 2.
2.2.2
Die Entwicklung des Verlagsrechts
In der heftig umstrittenen Frage der Übertragbarkeit des Verlagsrechts hat sich der Gesetzgeber wie folgt entschieden: Im Rahmen der Veräußerung des Verlagsunternehmens ist die Übertragung des Verlagsrechts uneingeschränkt möglich. Der Zustimmung des Autors bedarf es, wenn der Verleger nur sein Verlagsrecht an einzelnen Werken zu übertragen beabsichtigt. Sie kann in diesen Fällen allerdings allein aus wichtigem, etwa persönlichkeitsrechtlichem Grund versagt werden. Die Übertragung des Verlagsrechts befreit den ursprünglichen Verleger nicht von seinen vertraglichen Pflichten. Er kann diese lediglich durch den neuen Verleger erfüllen lassen. Letzterer haftet allerdings auch dann neben dem ersten Verleger gesamtschuldnerisch, wenn er die Verpflichtung zur Vertragserfüllung mit übernimmt (§ 28). 248 Das Vertragsverhältnis endet nach Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer (§29 Abs. 3), wenn die vertraglich oder gesetzlich zulässige Auflage vergriffen ist (§ 29 Abs. 1), oder nach Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist, soweit sich aus dem Vertrag nicht das Fortbestehen der schuldrechtlichen Beziehungen ergibt. Stirbt der Verleger, wird das Vertragsverhältnis mit seinen Erben fortgeführt. Fällt er in Konkurs, kann der Verfasser vom Vertrag zurücktreten, wenn mit der Vervielfältigung des Werkes noch nicht begonnen worden ist (§ 36 Abs. 3). Falls der Verfasser von seinem Rücktrittsrecht keinen Gebrauch macht oder die Vervielfältigung bereits begonnen hat, steht dem Konkursverwalter das aus § 17 der Konkursordnung bekannte Wahlrecht zu. Besonderheiten gelten für periodische Sammelwerke. Ist der Beitrag zu einem Werk nicht innerhalb eines Jahres nach Ablieferung veröffentlicht, hat der Verfasser ein Kündigungsrecht (§ 45). Dagegen kann der Verleger kündigen, wenn der Zweck, dem ein Beitrag für ein Sammelwerk dienen sollte, weggefallen ist (§ 18). Auch im übrigen normieren die Bestimmungen über Beiträge zu periodischen Sammelwerken weniger starke Bindungen der Vertragsparteien. So erhält der Verleger bei diesen Werken im Zweifel nur eine einfache Berechtigung. Erwirbt er ein ausschließliches Recht, währt die Enthaltungspflicht des Verfassers nur ein Jahr nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem der Beitrag erschienen ist; bei Zeitungen ist er gar alsbald nach dem Erscheinen zu einer anderweitigen Verfugung berechtigt (§ 42). Der Verleger ist dagegen in der Zahl der von dem periodischen Sammelwerk herzustellenden Abzüge nicht beschränkt (§ 43) und sogar zu üblichen Änderungen berechtigt, wenn der Beitrag des Verfassers ohne Namensnennung erscheint (§ 44). Bei diesen Werken kann der Verfasser auch keine Freiexemplare und keine weiteren Abzüge zum Buchhändlerpreis verlangen (§ 46).
Nicht im Verlagsgesetz geregelte
Vertragstypen
Als die Neuregelung des Kunst- und Photographieschutzes schon bald nach dem Inkrafttreten des LUG zur Debatte stand, lag es nahe, gleichzeitig auch ein Gesetz über den Kunstverlagsvertrag zu entwerfen, der sich gemäß Art. 76 EGBGB noch immer nach den überkommenen landesrechtlichen Vorschriften zu richten hatte. 249 Die von Streißler ge-
248 Siehe dazu die Kritik von Kohler: Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht, S. 260,295,324, der diese Regelung als Verstoß gegen den Grundsatz der höchstpersönlichen Verpflichtung des Verlegers aus dem Verlagsvertrag ablehnt. 249 Alexander-Katz: Das Kunstverlagsrecht, S. 361-363.
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2 Recht, Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
schilderten pauschalen Rechtsübertragungen, die in der Praxis des Kunstverlages zumindest noch bis zum Jahre 1890 gang und gäbe waren, 250 gerieten zunehmend in Gegensatz zum geschärften Urheberrechtsbewußtsein der Zeit. Schon auf dem Dresdner Kongreß der ALAI von 1895 wurde betont, daß zwischen dem Eigentum am Werkstück und den urheberrechtlichen Nutzungsbefugnissen zu unterscheiden sei und daß der Kunstverlagsvertrag sich nur auf die jeweils erwähnte spezielle Reproduktionsart beziehe. Damit wurden für diesen Vertragstyp Grundsätze formuliert, die später für das gesamte Urhebervertragsrecht Geltung beanspruchen sollten. Sie fanden bald danach auch Eingang in die Vorschläge u.a. der Künstlerverbände für ein neues Kunstverlagsgesetz.251 Ihnen ging es darum, die Besonderheiten des Kunstwerkverlages gegenüber dem Buchverlag, die sich aus den unterschiedlichen Verlagsgegenständen und den mannigfaltigen Reproduktionsverfahren für Werke der bildenden Kunst ergaben, herauszuarbeiten und in besondere, vom Verlagsgesetz von 1901 abweichende Regelungen zu kleiden.252 Letztlich erwies sich dieses Unterfangen jedoch als so schwierig, daß man von einer gesetzlichen Regelung des Kunstverlagsvertrages Abstand nahm. »Der Verlag einer teueren, nur in wenigen Exemplaren zu vervielfältigenden Bronze, eines wertvollen kunstgewerblichen Gegenstandes oder eines Stiches von hohem Kunstwerte läßt sich nicht denselben Rechtsregeln unterstellen wie der Verlag einer vielleicht in Tausenden von Exemplaren herzustellenden billigen Ansichtspostkarte. Die großen Schwierigkeiten einer Regelung werden noch dadurch vermehrt, daß beim Kunstverlage die mannigfaltigsten Vervielfältigungsarten in Betracht kommen und daß gerade gegenwärtig die Vervielfältigungstechnik in stärkster Entwicklung begriffen ist«, hieß es in der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie,253 der dem Reichstag Ende 1905 vorlag. Damit war die gesetzliche Regelung des Kunstverlagsvertrages nach 1901 zum zweiten Mal gescheitert. Schärfere Konturen gewann der Kunstverlagsvertrag in der Folgezeit offenbar erst durch die - freilich unverbindlichen - Richtlinien für Abschluß und Auslegung von Verträgen zwischen bildenden Künstlern und Verlegern, die der Reichswirtschaftsverband bildender Künstler und eine größere Anzahl von Verlegerorganisationen am 1. Oktober 1926 untereinander vereinbarten.254 Sie behielten nur bis 1936 Gültigkeit, sind aber auch heute noch für die Verkehrssitte auf dem Gebiet des Kunstverlags von Bedeutung.255 Die Richtlinien, die sich nicht auf Werke der Photographie und der Architektur bezogen, re-
250 Vgl. Streißler: Recht für Urheber, Bd. 1, S. 127, sowie Voigtländer: Verlagsrecht 1889, S. 40 ff. 251 Materialien für eine Neugestaltung des Gesetzes, betreffend das Urheberrecht an den Werken der bildenden Künste, S. 79 f. Pouillet: Der Verkauf von Kunstwerken und der Kunstverlagsvertrag, S. 310 f., sowie Alexander-Katz: Das Kunstverlagsrecht, S. 361 ; insbesondere zur Trennung von Eigentum am Werkstück und Nutzungsrecht; zur zweckgebundenen Übertragung der Nutzungsbefugnisse vgl. S. 361-365, sowie Schäfer: Zur gesetzlichen Regelung, S. 37 f. 252 Vgl. Alexander-Katz: Das Kunstverlagsrecht, S. 364 ff.; Schäfer: Zur gesetzlichen Regelung, S. 37 ff. 253 Entwurf eines Gesetzes, betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie, Reichstags-Drucksache, 11. Legislatur-Periode/II. Session (1905/06) 30, S. 10, abgedruckt auch in: Osterrieth: Bemerkungen zum Entwurf eines Gesetzes, S. 227-241. 254 Abgedruckt in: Bappert/Maunz/Schricker: Verlagsrecht, Anhang S. 733 ff, sowie Schulze: Urhebervertragsrecht, Nr. 32. 255 Ulmer: Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl., S. 503; Schricker: Verlagsrecht, § 1 Rdnr. 88; Hubmann: Urheber- und Verlagsrecht, S. 235.
2.2.2 Die Entwicklung des Verlagsrechts
gelten neben der Übertragbarkeit des Urheberrechts, der Erlaubniserteilung, dem Kommissionsverlag ausführlich den Kunstverlagsvertrag, der den Verleger nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, das vertragsgegenständliche Werk zu vervielfältigen und zu verbreiten (§§ 1-35). Die Vorschriften waren meist denen des Verlagsgesetzes nachgebildet und enthielten im wesentlichen dort Abweichungen, wo es die Natur des Gegenstandes erforderte. 256 Der auffälligste Unterschied zwischen Buch- und Kunstverlag liegt in der unterschiedlichen Ausgestaltung der Enthaltungspflicht, die bei letzterem wegen der vielfältigen Reproduktionstechniken nur in sehr engem Rahmen gegeben ist. 257 Anders als beim Buchverlag besteht sie nicht in den Grenzen, die fur das Urheberrecht gelten, vielmehr ist sie nur beschränkt auf die vertragsgegenständliche Art der Vervielfältigung und Verbreitung. In der Verwertung eines Bildes, das mit demjenigen nur Ähnlichkeiten aufweist, welches der Künstler früher einem Verleger zum Druck überlassen hat, kann der Künstler also nicht gehindert werden. Auffiihrungsvertrag, Bühnenverlagsvertrag,
Verfilmungsvertrag
Der Aufführungsvertrag erlangte nach einigen bahnbrechenden wissenschaftlichen Darstellungen 258 auch in der Praxis einheitlichere Züge, als sich 1919 der Verband der Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten einerseits und der Deutsche Bühnenverein sowie die Vereinigung der Bühnenverleger andererseits auf einen Kartellvertrag verständigten, 259 in dem sie sich verpflichteten, Verträge über Bühnenwerke nur untereinander zu schließen, ihren vertraglichen Beziehungen einen vereinbarten »Normalvertrag« zugrunde zu legen und Streitigkeiten vor einem besonderen Schiedsgericht auszutragen. 260 Der Bühnenverlagsvertrag richtete sich zunächst noch vornehmlich auf die Vervielfältigung und Verbreitung des Text- und Notenmaterials. Da sich der geschäftliche Schwerpunkt des Bühnenverlages auf die Vermittlung von Aufführungs- und Senderechten verlagerte, steht heute seine Tätigkeit in rechtlicher Hinsicht häufig der Geschäftsbesorgung näher als dem Buchverlag. 261 Auch der Verfilmungsvertrag folgte bald anderen Grundsätzen, als sie im Verlagsgesetz niedergelegt waren. Wegen der hohen Herstellungskosten eines Films erklärte das Reichsgericht gegen Stimmen in der Literatur 262 die Bestimmungen des Verlagsgesetzes auf Verträge, in denen es um das Recht der Verfilmung eines Drehbuches ging, für unanwendbar, da der Verfilmungsvertrag keine Verpflichtung zur Herstellung des Filmwerks begründen könne. 263 256 Schricker: Verlagsrecht, § 1 Rdnr. 89. 257 Alexander-Katz: Das Kunstverlagsrecht, S. 361-365; Einzelheiten siehe Schricker: Verlagsrecht, § 2 Rdnr. 39 ff. 258 Opet: Deutsches Theaterrecht, S. 316 ff.; Opet: Beiträge zum Aufführungsrecht, S. 151 ff.; Goldbaum: Auffiihrungsvertrag. 259 Vgl. Rauecker: Fachvereine, S. 157-189 f.; zur uneinheitlichen Vertragspraxis vor der Jahrhundertwende vgl. : Die Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten und die deutschen Bühnen, S. 105-111, 127 ff. 260 Vgl. Rauecker: Fachvereine, S. 157-190 f. 261 Schricker: Verlagsrecht, § 1 Rdnr. 84 f. 262 Goldbaum: Auffiihrungsvertrag, S. 93.
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2 Recht, Staat und Ö f f e n t l i c h k e i t
Die Vertragspraxis unter dem Verlagsgesetz Das Verlagsgesetz von 1901 blieb nach dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten und wenigen anderen partikularstaatlichen verlagsvertraglichen Bestimmungen das einzige deutsche Urhebervertragsgesetz bis zum heutigen Tage. In neun Jahrzehnten erfuhr es nur geringfügige Änderungen durch die Urheberrechtsnovelle vom 22. Mai 1910, die das LUG dem Schutzniveau der Revidierten Berner Übereinkunft (RBÜ) in der Berliner Fassung von 1908 anpaßte, und durch das Urheberrechtsgesetz vom 9. September 1965. Die Gründe für die Langlebigkeit des Verlagsgesetzes liegen zum einen in dem auch international anerkannten hohen Niveau der gesetzgeberischen Arbeit, die eingehende Kenntnisse der Verhältnisse im Buchmarkt verriet und deshalb die Interessen von Autoren und Verlegern in ein von beiden Seiten weitgehend akzeptiertes Gleichgewicht zu bringen vermochte. 264 Zum anderen gereichte dem Gesetz zum Vorteil, daß bis auf die Bestimmung über den Verlegerkonkurs (§ 36) alle Vorschriften zur Disposition der Parteien gestellt wurden. Zwar leistete dies dem Abschluß einseitig zugunsten des Verlegers gewichtender Verträge Vorschub, doch konnten die Vertragsparteien durch individuell ausgehandelte Einzelverträge wie auch durch die Übernahme von Normverträgen der Berufsverbände ihre Absprachen flexibel den Besonderheiten der jeweiligen Buchgattungen und Verlagszweige anpassen, auf diese Weise die Rechtsfortbildung fördern und dem Bedürfnis nach gesetzgeberischem Handeln entgegenwirken. Normverträge standen freilich nicht am Beginn der Geschichte vorformulierter Verträge. Vielmehr waren sie zunächst nur Reaktion auf solche Kontrakte, die - soweit nicht wie meist im Pressewesen auf schriftliche Abmachungen verzichtet wurde - im literarischen Massengeschäft zunehmend Verwendung fanden. Ihre Einseitigkeit ließ erkennen, daß die Autoren das, was ihnen der Gesetzgeber zubilligte, am Verhandlungstisch nicht zu ihrem Vorteil umsetzen konnten, so daß die Autorenverbände auf den Plan gerufen wurden. Mit teils syndikalistischem Selbstverständnis sahen sie das Schriftsteller-VerlegerVerhältnis in der Nähe desjenigen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer und erhoben Forderungen nach verbindlichen und ausgewogenen Normabsprachen. 265 Mag der Urheberschein mit seiner umfassenden Rechtsübertragung im Bereich des Musikverlags wegen der dort zu berücksichtigenden Besonderheiten der Notenherstellung und der Vermarktung von Musikwerken in bearbeiteter Form zunächst noch eine gewisse Rechtfertigung gefunden haben, das Übergreifen ähnlicher Praktiken auf den Buchverlag mußte nicht nur als unbefriedigend, sondern mit Blick auf § 14 LUG als grob
263 RGZ 107,62 - Nur eine Tänzerin; kritisch dazu Goldbaum: Urheberrecht und Urhebervertragsrecht, S. 91 f.; Einzelheiten zum Verfilmungsvertrag Schricker: Verlagsrecht, § 1 Rdnr. 98 f. 264 Vgl. Bappert: Entspricht das gesetzliche Verlagsrecht..., S. 582, sowie Bappert/Maunz: Verlagsrecht, S. 26. 265 Vgl. Rauecker: Fachvereine, S. 186 ff. 266 Ein beträchtlicher Teil der Verlagsrechtsstreitigkeiten wurde vor Schiedsgerichten ausgetragen, die zwischen den Parteien vereinbart wurden. Vgl. dazu Hillig/Greuner. Gutachten über urheberrechtliche Fragen. 267 Vgl. Teichmann: Über die Lage der freien Schriftsteller, S. 315 ff.: Osterrieth: Betrachtungen zur Reform des Urheberrechts, S. 245 u. 262 ff; Lobe: Zur Reform des Verlagsrechts, S. 93 ff.; Hoffmann: Grenzfragen des Urheberrechts, S. 132 u. 138 ff.
2.2.2 Die Entwicklung des Verlagsrechts
unbillig empfunden werden. Wie stand es also mit Verträgen, die d e m Verleger entgegen der Wertung v o n § 2 Abs. 2 VerlG in pauschaler Form alle Nebenrechte w i e das Übersetzungsrecht, das mechanische Recht und das Bearbeitungsrecht bezüglich der Dramatisierung und der Verfilmung sicherten, ohne daß insoweit eine Vergütung gezahlt und eine Verpflichtung zur entsprechenden Auswertung übernommen wurde? Wie stand es mit der Beteiligung des Autors an den Früchten, die aus d e m Nebenabdruck in Zeitungen, aus der A u f n a h m e des Werkes in S a m m l u n g e n s o w i e in Gesamtausgaben und schließlich aus dem Vermietgeschäft g e z o g e n wurden? D i e s waren nur einige Fragen, die die gängige Vertragspraxis aufwarf. Teils wurden sie v o n der - in Verlagsstreitigkeiten recht spärlichen - Rechtsprechung 2 6 6 beantwortet, teils führten sie zu Reformvorschlägen in der Literatur, 267 teils gaben sie zu Vertragsempfehlungen der Autoren- und Verlegerverbände Anlaß - allerdings erst nach dem Ende des Kaiserreichs.
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3
Herstellungstechnik und Buchgestaltung Peter Neumann
3.1
Industrielle Buchproduktion
Versuche eines mechanisierten Fertigungsprozesses beim Auflagendruck waren bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unternommen worden. Bahnbrechende Erfindungen waren aber nur in den Ländern vom Druckgewerbe übernommen worden, in denen die Industrialisierung bereits weiter vorangeschritten war als in Deutschland: in England und seit der Mitte des Jahrhunderts auch in den USA. Die von dem Deutschen Friedrich Koenig konstruierte Schnellpresse wurde in England zur Produktionsreife weiterentwickelt und 1814 bei Londoner Zeitungen eingeführt. In die Serienfertigung kam die Maschine aber erst nach dem Ende der Napoleonischen Kriege 1817 in dem ehemaligen Kloster Oberzell bei Würzburg. Auch deutsche Verleger entschlossen sich zur Anschaffung der Neuerung für ihre Druckereien: Cotta 1823 für den Druck der Allgemeinen Zeitung in Augsburg, Brockhaus 1826 für den Druck seines Lexikons in Leipzig.1 Bis 1873 baute die Maschinenfabrik Koenig & Bauer insgesamt 2.000 Druckmaschinen für in- und ausländische Abnehmer, 265 allein gingen nach Leipzig und 117 nach Stuttgart.2 Am Beginn des Kaiserreichs hatten fast überall Maschinen unterschiedlicher Bauart die hölzerne oder eiserne Handpresse abgelöst. Ein maschinell beschleunigter Druckvorgang benötigte ausreichende Papiermengen, die seit den zwanziger Jahren ebenfalls maschinell gefertigt wurden. Ein Engpaß bildete zunächst die unzureichende Versorgung mit Hadern als dem einzigen bewährten Grundstoff für die Papierherstellung, bis 1844 der Holzschliff als Ersatz erfunden wurde, allerdings auf Kosten der Qualität des Materials. Erst der durch einen chemischen Prozeß gewonnene Zellstoff gestattete seit 1867 Stoffmischungen, die ein stabileres Endprodukt gewährleisteten. Als Vorreiter technischer Entwicklungen betätigten sich in erster Linie die kapitalkräftigen Zeitungsverlage. Wegen der periodischen Erscheinungsweise und der hohen Auflagen der Zeitungen waren die Verleger an einem beschleunigten und rationellen, somit auch kostengünstigen Produktionsprozeß interessiert, wobei die Fertigung im eigenen Betrieb das Risiko bei technischen Neuerungen eingrenzte.3 Dies traf bedingt auch auf die Buch- und Zeitschriftenherstellung zu, vor allem dann, wenn Verlage im Besitz eigener Druckereien waren oder umgekehrt Druckereien über verläßliche Lieferverträge eng mit Verlagen zusammenarbeiteten. Eingeführte buchtechnische Normen erleichterten es, das gewohnte traditionelle Erscheinungsbild, unverändert durch die technischen Hilfsmittel, in arbeitsteiliger Fertigung entstehen zu lassen. 1 Wolf: Druckverfahren, S. 349-353, 355-357. 2 Auch eine jüngste Untersuchung (Schröder: Industrialisierung) läßt das erkennen, arbeitet es aber nicht scharf genug heraus. Eine produktorientierte Gesamtdarstellung der Technik- und Wirtschaftsgeschichte des Druckgewerbes fehlt leider bisher, ausgiebig sind lediglich die Entwicklung der technischen Verfahren und der Maschinenkonstruktionen behandelt. 3 Otto: Zeitungsverleger, S. 341-351.
3.1 Industrielle Buchproduktion
Nicht nur die Druckmaschinen veränderten und beschleunigten am Ende des Jahrhunderts die Buchherstellung, die Mechanisierung setzte sich auch in der Buchbinderei und in der Setzerei durch. Gleichzeitig erfuhren die Reproduktionstechniken durch die weiterentwickelte Photographie einen umwälzenden, folgenreichen Schub. »Das Licht und die Chemie als Förderer der Typographie«, in diesen beiden Elementen sah 1883 der Fachschriftsteller Carl B. Lorck die wichtigsten Errungenschaften der fortschrittsgläubigen »Glanzperiode«. 4 In den vierziger Jahren hatte bereits die Daguerreotypie als Vorlage für Illustrationen in den herkömmlichen Verfahren gedient, in den Fünfzigern erweiterten verbesserte photografische Methoden die Nutzung bei den verschiedenen graphischen Techniken, die schließlich im letzten Drittel des Jahrhunderts durch neuartige Erfindungen ersetzt oder umgestaltet wurden. Die photomechanischen Verfahren, vor allem die Chemigraphie, verdrängten in kurzer Zeit ältere kunsthandwerkliche Methoden der Bildwiedergabe wie Holzstich oder Lithographie. Die sich im Zuge dieser allgemeinen Entwicklung herausbildende Spezialisierung der Betriebe und des breitgefacherten Angebots der Druckereien ließen es manchen Verlegern angeraten erscheinen, mit der gezielten Auftragsvergabe und dem Einkauf der Materialien einen eigenen Mitarbeiter zu betrauen, so daß sich daraus der Beruf des Herstellers entwickelte. 5 Mit Beginn der siebziger Jahre bewirkte die anwachsende Produktion von Büchern und Zeitschriften auch das schnelle Wachstum der Zahl der Druckereien und ihrer Kapazitäten. Gleichzeitig verwandelte sich die Branchenstruktur durch eine verstärkte Ausstattung mit Maschinen und eine verfeinerte Organisation der Betriebsabläufe. Von 1875 bis 1907 stieg die Zahl der Mittel- und Großbetriebe von 1.461 auf 4.609. Auch die Wachstumsraten bei den Kleinbetrieben waren hoch, die jedoch für die Buchherstellung kaum in Frage kamen. 6 Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der im Druckgewerbe Beschäftigten von 46.204 auf 134.208 Personen. Zwei Leipziger Großbetriebe, die sich bevorzugt der Buchherstellung widmeten, zeigen diese Tendenz: Bei der traditionsreichen Buch- und Notendruckerei Breitkopf & Härtel steigerte sich die Zahl der Mitarbeiter von 400 ( 1884) a u f 9 5 0 (1914), 7 bei der jüngeren Firma Oscar Brandstetter von 75 (1880) auf 660 ( 1914).8 In beiden Firmen wirkte sich die Ausweitung und Differenzierung des mehrstufigen Produktionsprozesses aus: In einer Anzeige von 1914 zählte die erstere Firma die Abteilungen Buchdruckerei, Setzmaschinen, Schriftgießerei, Galvanoplastik, Stereotypie, Notendruckerei, Steindruckerei, Lithographische Anstalt und Buchbinderei auf. Nach ihrer Auftragsstruktur waren diese Unternehmen jedoch schon als Mischbetriebe anzusehen, weil neben dem Werk- und Notendruck auch zunehmend Drucksachen für Industrie und Handel ausgeführt wurden. Die zwei Beispiele bezeugen überdies, daß eine Konzentration von Großdruckereien vor allem in Leipzig stattfand. (Vgl. Kap. 4.4)
4 Lorck: Handbuch II, S. 3. Mit »Typographie« wird noch ganz allgemein die Druckkunst bezeichnet. Noch 1910 benutzte Unger: Herstellung, die Bezeichnungen »Chromotypographie« für farbige Akzidenzdrucksachen und »originalgetreue Typographie« für den Werkdruck. Heute bleibt der Begriff auf die Satzgestaltung beschränkt. 5 Sarkowski: Herstellerberuf, S. 9-13. 6 Schröder: Industrialisierung, S. 83. 7 Hase: Breitkopf, S. 709-721. 8 Lange: Harfender Greif, S. 59.
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3 Herstellungstechnik und Buchgestaltung
Zögerlicher Beginn des Maschinensatzes Im frühen 19. Jahrhundert gab es bereits Versuche, Setzmaschinen zu konstruieren, die »die Arbeit des Schriftsetzers mechanisch und mit weit größerer Geschwindigkeit wie Menschenhand verrichten sollen«. Als der Fachredakteur Alexander Waldow das 1884 in Aussicht stellte, war man nach vielen Anläufen einer Verwirklichung nahegekommen. 9 Wenige Jahre vorher noch hatte Lorck gemeint, »daß die Setzmaschine schwerlich fur den Satz dieselbe Bedeutung erlangen wird, wie sie die Schnellpresse für den Druck hat«, und ihr deshalb zum damaligen Zeitpunkt »noch keine Bedeutung« zugemessen. 10 Er blieb auch 1883 skeptisch, da sich der »damit zu erzielende Vorteil noch nicht überSinferhgung 3fyrer sehen« lasse,11 denn die seit 1871 von der Londoner Times benutzte Konstruktion von Kastenbein hatte sich als ein recht umständliches, personalaufwendiges Gerät erwie^ufoh?pten/qrei= uno sen. Den entscheidenden Durchbruch 2$terfarf>en;3!fcuneen schaffte in den USA erst die Erfindung des Cfritifyäfeungen, ( G r a v u r e n aus Deutschland stammenden Ottmar in fedpnifd? noííení>eLinotype< von 1886 an bei der New York i>ie Sïrma Tribune und bald bei weiteren amerikani( g f r e r f a r ò cf)ent))eg 26 Fernruf 1 9 6 0 3 reits zwei Jahre später gab es hier 78, um die Jahrhundertwende 323 und 1913 schon 2.445 Maschinen dieses Typs, die für glatten Satz vorzüglich geeignet waren. 12 Es waren vor allem die Zeitungsver8 > d i e d i e i n Amerika entwickelten und weitverbreiteten Maschinen einsetzten. 13 Die Werkdruckereien, die für die Buchherstellung arbeiteten, verhielten sich vorsichtiger: Sie befürchteten Qualitätseinbußen durch den maschinellen Satz, bezweifelten die Wirtschaftlichkeit und die Zeitersparnis angesichts der meist handschriftlichen Manuskripte. 14 Diese Bewertung galt auch für das mit Matrizenstangen arbeitende Konkurrenzprodukt >MonolineTypograph< des Amerikaners John R. Rogers, die sich für schlichten Werksatz empfahl und von der in Deutschland zwischen 1895 und 1913 bereits 1.163 Geräte verbreitet waren. Für den gemischten, auch leicht zu korrigierenden Werksatz mit höheren Qualitätsansprüchen empfahl sich erst die Einzelbuchstabenmaschine >Monotype< von Talbot Lanston als geeignete Lösung. Von 1904 an fand sie allmählich auch Eingang in deutsche Betriebe, 1913 wurden 534 Tastgeräte und 369 Gießmaschinen gezählt. Die Bedingung fur einen Kauf dieser Maschine war, daß sich der hohe Anschaffungspreis amortisieren ließ, denn um 1910 kostete die >Monotype< 20.000 Mark, während man für eine >Linotype< nur 12.500 Mark und für den >Typograph< sogar nur 5.000 Mark aufwenden mußte. Einige Beispiele für die Einführung von Setzmaschinen in Firmen, die vorwiegend auf den Buchdruck spezialisiert waren, seien genannt. Otto Säuberlich von der Leipziger Druckerei Oscar Brandstetter entschied sich 1897 für 24 >TypographMonotypeMonotype< in etwa gleicher Größenordnung. 16 Die Druckerei Stürz AG in Würzbürg, an der sich der wissenschaftliche Verlag Julius Springer beteiligt hatte, wählte
Abb. 2: Anzeige der Kunstanstalt Riffarth, Berlin, von 1892 (Quelle: Adreßbuch)
1911 ebenfalls die >MonotypeLinotype< zweckmäßig sein, für wissenschaftlichen oder tabellarischen Satz war die >Monotype< besser geeignet.
15 16 17 18
Schulze: Otto Säuberlich, S. 177. Hase: Breitkopf. Sarkowski: Springer-Verlag 1, S. 215. Oldenbourg: 1940, S. 86.
174
3 Herstellungstechnik und Buchgestaltung Trotzdem hielt sich der althergebrachte Handsatz noch lange für variationsreiche, qualitätsvolle Gestaltung von Texten durchschnittlichen Umfangs, besonders in kleinen und mittleren Betrieben, denen das Investitionskapital für die teuren Maschinen fehlte. Die Leipziger Druckerei Poeschel & Trepte, die vor allem für den Insel-Verlag arbeitete, ging erst 1925 zum Maschinensatz über. Noch 1910 standen im Druckgewerbe den insgesamt 40.439 Handsetzern lediglich 3.839 Maschinensetzer gegenüber.19 Diese Handsetzer konnten auf ein inzwischen stark erweitertes Schriftenangebot zurückgreifen, nachdem in den Schriftgießereien seit den siebziger Jahren die Komplettgießmaschinen den Letternguß vereinfachten. Umbruch bei graphischen Techniken Bei den Illustrationen in Büchern und Zeitschriften konnte sich vorzugsweise der Holzstich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts behaupten. Nur er ließ sich gemeinsam mit dem Text auf einem normalen Werkdruckpapier wiedergeben, für hohe Auflagen verstärkt durch Galvanisierung. Der Leipziger Verlag J. J. Weber beschäftigte für die Herstellung der Druckstöcke seiner seit 1843 erscheinenden Illustrirten Zeitung eine vielköpfige Mannschaft in dem 1870 reorganisierten HolzschneideInstitut, einer gerühmten Abteilung des Unternehmens, die aber 1907 aufgelöst werden mußte.20 Für die zum Faksimile- und Tonholzschnitt fortentwickelte Xylographie benutzte man Spezialmaschinen, um die aus regelmäßigen Strichlagen gebilde-
Abb. 3: Anzeige der Notenstecherei C. G. Röder in Leipzig von 1892
ten
Tonflächen zu erzeugen. Seit Ende der siebziger Jahre ließen sich die gezeichneten oder photographierten Vorlagen auch unmittelbar auf die mit einer lichtempfindlichen Schicht versehenen Holzstöcke übertragen. Innerhalb zweier Jahrzehnte verdrängte jedoch das Metall der photomechanischen Reproduktionsverfahren das Holz vollständig: die von Carl Angerer in Wien 1870 entwickelte Strichätzung (auch Zinkographie oder Zinkhochätzung genannt) für Umrißzeichnungen ohne bedeutende Tonabstufungen und die von Georg Meisenbach in München 1882 vorgestellte Autotypie (Rasterätzung) mit der durch Raster erzielten Tonwertzerlegung in unechte Grautöne. Für diese photographisch belichteten und dann geätzten Metallplatten übernahm man von der Holzstichplatte die Bezeichnung »Cliché« (später 19 Bertenburg: Preisbewegung, S. 107-108. 20 J. J. Weber (Leipziger Jahrbuch), S. 197-204, wie auch die späteren Angaben.
3.1
Industrielle
Buchproduktion
Klischee). Für den Herstellungsprozeß dieser Strich- und Rasterätzungen wählte man den Fachbegriff »Chemigraphie«, was den Unterschied zur bisherigen Handarbeit mit dem Stichel deutlich machte. Noch 1883 meinte Lorck irrigerweise, die neue Strichätzung sei des geringen Zeitbedarfs und der verminderten Kosten wegen bei Mustervorlagen oder Zeitungsillustrationen sehr nützlich, doch werde wohl kein Verfahren »der durch vier Jahrhunderte bewährten Xylographie den Vorrang im allgemeinen streitig machen können«. 21 Eine solche Einschätzung widerlegten die Praxiserfahrungen rasch. Bereits 1885 erprobte Webers lllustrirte Zeitung eine Bildwiedergabe mit Strichätzung und Autotypie, ab 1890 tauchten sie neben den herkömmlichen Holzstöcken immer häufiger auf und lösten diese um die Jahrhundertwende endgültig ab. Die Xylographie wurde dann lediglich noch bis in die dreißiger Jahre bei detailgenau erwünschten technischen Darstellungen in Lehrbüchern angewandt, etwa bei Maschinenansichten oder medizinischen Darstellungen. Die Druckereien der großen Verlage reagierten rasch auf diese Veränderungen: J. J. Weber richtete 1896 in seinem Neubau eine »Chemigraphische Anstalt« ein, und F. A. Brockhaus gliederte seinem Betrieb 1905 eine »photomechanische Anstalt« an. Umstellen mußten sich auch die selbständigen Spezialbetriebe für die Anfertigung von Druckstöcken, die, wie etwa Meisenbach, RifFarth & Co. in Berlin oder Brend'amour in Düsseldorf, mit Niederlassungen in den wichtigsten Druckorten vertreten waren. (Vgl. Kap. 5.5) Die Lithographie blieb beim Notendruck und in der Kartographie weiterhin unentbehrlich. Sie konnte sich die photomechanische Kopie zunutze machen, die eine Zeichnung direkt auf den Stein ersetzte. Für farbige Abbildungen als Einzelblatt oder als eingehängte Tafel im Buch blieb bis zur Jahrhundertwende die Chromolithographie unverzichtbar, ehe sie durch den Dreifarben-Hochdruck eine Konkurrenz erhielt. Bis dahin wurden mit diesem Verfahren naturkundliche Sujets farbig ausgeführt, die neben den einfarbigen Holz- und Stahlstichen die Lexika bereicherten, z.B. im 1874 abgeschlossenen Bilder-Atlas von Brockhaus. Tierpanoramen in diesem Verfahren sind noch im Neuen Brockhaus der Jahre 1922-1923 beibehalten worden. (Vgl. Kap. 5.9) Eine weitere Domäne der Chromolithographie waren die Farbbilder im Kinder- und Jugendbuch oder in der Kunstliteratur, selbstverständlich noch längere Zeit bei farbigen Blättern, die als Wandschmuck oder als Lehrmittel dienten. Bei den Reproduktionen alter und zeitgenössischer Kunst ließ sich die Oberflächenstruktur von Gemälden durch den nach 1866 aufkommenden »Öldruck« (Ölfarbendruck) vortäuschen, ermöglicht durch einen speziellen Kopierprozeß. Beim Druck der beliebt werdenden Ansichtskarten konnte nach 1890 die im Hochdruck hergestellte Schwarzform durch vier bis sechs lithographische Farbformen ergänzt werden, ein Kombinationsverfahren, das >Autochromdruck< genannt wurde. (Vgl. das Kap. »Kinder- und Jugendbuch« im folgenden Teilband). Zu den Flachdruckverfahren zählt auch der Lichtdruck, der 1868 von Josef Albert entwickelt worden war und seit 1873 mit einer Schnellpresse gefertigt werden konnte. Er übertraf in der vorlagengetreuen Wiedergabe photographischer Aufnahmen den wenig früher entstandenen >Woodbury-DruckSteindruck< (Lithographie) verdankte. Eine SteindruckSchnellpresse, die höhere Druckleistungen erlaubte, wurde seit 1871 entwickelt. Aber schon in den neunziger Jahren kündigten sich bei der Druckform Veränderungen an. Der Mainzer Verleger Carl Scholz verwendete für seine Farbbildbände Aluminiumplatten (»Algraphie«), andere setzten Zinkplatten (»Zinkographie«) ein - Platten aus solchen Materialien ermöglichten etwas später den Offsetdruck. 26 Dieser wurde zwar in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt, spielte aber abgesehen vom Druck von Noten und Landkarten bei Büchern oder Bildbeilagen noch keine Rolle. In der Buchproduktion unterlag der Tiefdruck als Heliogravüre oder als Bogentiefdruck noch den genannten Einschränkungen. Lediglich für illustrierte Zeitungsbeilagen öffnete sich ein zukunftsträchtiger Weg: 1910 wurde in Freiburg erstmals eine im Rotations-Rakeltiefdruck hergestellte Beilage der Tageszeitung vorgestellt. Die mechanisierte Buchbinderei Die industrielle Fertigung des Einbandes beeinflußte nicht nur die äußere Buchgestalt, sondern ermöglichte überhaupt erst den modernen Verlagseinband. Ab den fünfziger Jahren wurde das handwerklich gefertigte Einzelstück von der maschinellen Serienfertigung abgelöst. Deshalb entstanden hauptsächlich in den Zentren der Buchproduktion arbeitsteilig organisierte und vorerst die Dampfkraft nutzende Großbuchbindereien, namentlich in Berlin, Leipzig und Stuttgart. Ein Beispiel macht dieses Wachstum deutlich: Die als Handwerksbetrieb 1859 gegründete Firma Ε. A. Enders in Leipzig besaß 1888 sieben Hilfsmaschinen und beschäftigte 25 Arbeiter, 1909 verfügte man über 170 Maschinen und es arbeiteten dort 400 Personen. 27 Bereits 1896 waren in Leipzig rund 30 größere Betriebe tätig, die ihre Aufträge nicht nur bei ortsansässigen Verlegern suchten. Hier befanden sich ebenfalls marktbeherrschende SpezialUnternehmen für den Bau von Buchbindereimaschinen. Das Falzen der Druckbogen geschah anfangs noch in Handarbeit, aber zwischen 1883 und 1892 kamen in ständig verbesserter Ausführung Falzmaschinen auf den Markt, die registergenaue Druckbogen, anfangs noch halbautomatisch, verarbeiten konnten. 28 Um die gleiche Zeit kamen vielfaltige Hilfsmaschinen hinzu, die einheitlich und präzise in allen Einzelstufen der Produktion arbeiteten. Die 1879 eingeführte Drahtheftmaschine 29 war eigentlich für einfache Broschüren bestimmt, wurde bald aber in großem Umfang für Bücher, selbst für repräsentative Werke mit hohen und daher lohnenden Auflagen, bis weit ins 20. Jahrhundert eingesetzt. Die Drahtheftung mochte kostengünstig sein, be25 26 27 28 29
Unger: Herstellung, S. 236. Harder: Steindruck, S. 22-29. Werner: E. A. Enders, S. 15-16. Biesalski: Mechanisierung, S. 25-26 Biesalski, S. 27-28.
178
3 Herstellungstechnik und Buchgestaltung
scherte dem Buchkäufer aber Nachteile: selbst verzinnte Eisendrähte waren gegen Rost nicht gefeit, die Klammern brachen und braune Flecken schädigten das Papier. 1899 wurde diese Heftung deshalb in Preußen vorübergehend fur Schulbücher verboten. Eine Alternative bot sich erst allmählich, denn die seit 1884 angebotene, 1898 verbesserte Fadenheftmaschine arbeitete anfangs nicht störungsfrei und war nur unter bestimmten Bedingungen wirtschaftlich zu betreiben.30
M. BAUMBACH & C I TELEGRAMM-ADRESSE" B A U M B A C H »CO [FERNSPRECHER N? 1073.
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IZBÁNDE
Abb. 4: Anzeige der Buchbinderei Baumbach in Leipzig von ¡892
Der 1840 eingeführte und recht preiswerte Bezugsstoff Kaliko eignete sich besonders für die Massenproduktion. Dieses appretierte Baumwollgewebe war haltbar, leicht zu prägen und zu vergolden. Die bequeme Verarbeitung verleitete zur Nachahmung prunkvoller Leder· oder Pappeinbände und zur Imitation beliebiger historischer Vorbilder; deshalb wurde dieses Material aus ästhetischen Gründen von der Reformbewegung um 1900 als protzig und eklektisch abgelehnt.31 Ansonsten konnte man aus einer Vielzahl von Sorten bei Leinenstrukturgeweben auswählen. Die Qualität des Leders war nach 1860 gesunken, 30 Biesalski, S. 29-32. 31 C. Sonntag: Vom Bucheinband, in: Volkmann: Das Moderne Buch, S. 251-256.
3.1
Industrielle
Buchproduktion
denn neue Gerbstoffe verursachten den berüchtigten »roten Verfall«. Anilingefärbtes Leder und leicht zu verarbeitendes Spaltleder waren in dieser Zeit von ebenso schlechter Haltbarkeit wie das wenig alterungsbeständige Papier. Das änderte erst ein neues Materialbewußtsein um die Jahrhundertwende. Die Prägeplatte löste Stempel und Filete ab. Mit erhabenen Reliefprägungen auf farbigem Kaliko wurden z.B. bis 1872 die Bände von Hempels National-Bibliothek sämtlicher deutscher Classiker verziert, deren Einbände sich schnell abnutzten. Man bevorzugte deshalb lieber vertiefte oder flache Ornamente für die Buchdecke. Nach 1873 verbreitete sich ein Aufdruck in den Farben Gold und Silber, zehn Jahre später wuchs die Zahl der geprägten Farben, und es entstand jener »in den buntesten Farben schillernde« Kalikoband, der früh kritisiert wurde. 32 Bei Jugendschriften und Prachtwerken wurde der farbfreudige Aufdruck noch lange von den Käufern erwartet. Von der industriellen Fertigung der »Bucheinbandfabriken« distanzierten sich die am individuellen Eigenentwurf und an ursprünglichen Arbeitsweisen festhaltenden »Kunstbuchbinder«, die für den kleinen Kreis bibliophiler Auftraggeber arbeiteten. Doch auch die Großbetriebe richteten für exklusive Publikationen oder begrenzte Sonderauflagen mit künstlerisch-handwerklichem Anspruch gesonderte Handbinde-Abteilungen ein. Solche Dienste boten etwa die großen Leipziger Firmen H. Sperling, E. A. Enders oder Hübel & Denk mit ihren »kunstgewerblichen« Abteilungen an.
Verbessertes
Papier
Nach 1840 ersetzte der Holzschliff die rar werdenden Hadern als dem einzigen Papierrohstoff und verschlechterte die Papierqualität. Nachteilig wirkte sich ebenfalls die Leimung mit Zugabe von Alaun aus. Der Zustand besserte sich erst durch die Beimischung von Zellstoff, der in Deutschland seit 1873 als Natronzellstoff produziert wurde, ehe man zehn Jahre später auf Sulfitzellstoff auswich. Erzeugt wurden unterschiedliche Qualitäten: »holzfreie« Papiere enthielten hauptsächlich Zellstoff mit einem Zusatz an Hadern; »mittelfeine« Papiere bestanden aus Zellstoff mit Anteilen an Holzschliff; »holzhaltige« Papiere begnügten sich mit Holzschliff und geringen Zellstoffanteilen. Über die unzureichende mechanische Festigkeit vieler Papiere klagten allerdings noch 1910 die Verarbeiter. 33 Beim Druck von Abbildungen war auf die Oberflächenglättung zu achten: Man unterschied zwischen Naturpapieren und satinierten Illustrationsdruckpapieren. In den achtziger Jahren kam in England und den USA ein »Art Paper« auf, bei dem man das Rohpapier mit einer Oberflächenschicht versah. In Deutschland produzierte 1892 zuerst die Papierfabrik Carl Scheufeien in Oberlenningen mit einer mineralischen Masse »gestrichene« Papiere, die sie als »Kunstdruckpapier« auf den Markt brachte. 34 Notwendig und unentbehrlich wurde diese Sorte für die zureichende Wiedergabe von Rasterätzungen (Autotypien) im Hochdruck, erst recht dann, wenn es sich um Farbbilder handelte.
32 Adam: Bucheinband, S. 261. 33 Klemm: Vom Papier, in: Volkmann: Das Moderne Buch, S. 9. 34 Missenharter: Hundert Jahre Scheufeien, S. 73.
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3 Herstellungstechnik und Buchgestaltung
Mit dem erweiterten Angebot von Sorten und Mengen entwickelte sich ein leistungsfähiger Papiergroßhandel in den Zentren des Druckgewerbes. Einige Großunternehmen betrieben fur ihren kontinuierlichen Bedarf jedoch auch eigene Papierfabriken, so hatte der Breslauer Verlag von Heinrich Korn seit 1893 eine Papiermühle in Sakrau,35 und die in Stuttgart beheimatete Deutsche Verlags-Anstalt hatte Fabriken in Salach, Süßen und Wildbad. Die althergebrachten Bogengrößen, die vom »Leipziger« bis zu »Groß Lexikon« reichten und von den Formaten der Druckmaschinen abgeleitet waren, paßten nicht mehr zu einer Fertigung, die einheitliche und praktikable Standards benötigte. 1884 einigte man sich auf zwölf Bogengrößen und entsprechende Bezeichnungen, die nunmehr als Normalformate galten. Normierte Idealformate wurden erst 1920 beschlossen, galten aber zunächst für den Schriftverkehr und nur in eingeschränktem Maße für Bücher. Das Druckgewerbe im Dienst der Buchherstellung
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I ^udjgettjerblídje 2luéftctíung mit 'OTafc^inen, 'Bebarfiartiteln aller $lrt für buefigeroerbliche ®efd)äfte, fotoie bucfege »erblichen Srjeugniffen aller îlrt unb bai
^ e u f f d j e 33ucí)gett>ed>e= u n b ed)felnbenl21uifïellungen jinb an Wochentagen im Sommer »on 9 bti 6 Uj>r, im "ïBinter oon 9 íljjr bii 8«m Eintritt ber ®unfelf>eit, an Sonn- unb Feiertagen »oti 11 bii 2 ilfjr unentgeltlich geöffnet. ®a« Cefejimmer bei ©eutfchen "Suchgeroerbe· »ereinS ift wochentags mit îluênahme bei Contagi oon 9 bi« 2 unb abenbi oon 7 bii 10 Slfcr, a n Sonn· unb Seiertagen »on 11 bi« 2 foftenlo« geöffnet
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Der 1884 in Leipzig gegründete »Deutsche Buchgewerbeverein« wollte eine Personengruppe zusammenführen, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Büchern befaßte, zwei Zweige, die sich zu selbständigen Wirtschaftszweigen herausgebildet hatten. So waren jetzt Buch-, Kunst- und Musikalienverleger einerseits, Buch-, Stein- und Kupferdrucker sowie Lithographen und Notenstecher andererseits aufgerufen, sich an einer Förderung der technischen Buchherstellung und künstlerischen Buchgestaltung zu beteiligen. Einbezogen wurden auch die Lieferanten graphischer Maschinen und Materialien, willkommen war die Unterstützung der »graphischen Künstler« und Bücherfreunde.36
Im 1900 eröffneten Deutschen BuchAbb. 5: Anzeige des Deutschen Bucheewerbevereins in , . . . .. „ , T . , . . ,n,, gewerbehaus zu Leipzig wurde die GutenLeipzig von 1914 Γ , „ . . ° „ _ , berghalle mit einer Statue des Erfinders, eingerahmt von Friedrich Koenig, dem Erfinder der Schnellpresse und Alois Senefelder, dem Erfinder der Lithographie, eingeweiht, zum Beweis der Zusammengehörigkeit der beiden Gewerbezweige. Auch wurde ein Museum mit Bibliothek und Lesesaal sowie eine ständige Ausstellung technischer Neuheiten und vorbildlich gestalteter Druckerzeugnisse 35 Schmilewski: Korn, S. 51. 36 Volkmann: Moderne Buch.
3.1
Industrielle
Buchproduktion
eröffnet. Für die Fachwelt waren das vom Verein 1863 gegründete Archivfiir Buchgewerbe und der Musteraustausch bestimmt, durch Wanderausstellungen und Vorträge versuchte man, auch außerhalb Leipzigs Resonanz zu erzielen. Diese berufsbildenden Aufgaben ergänzte eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit. So sollten die 1907 veranstalteten Leipziger Hochschulvorträge37 über die Bedeutung des Buchgewerbes für Wissenschaft und Literatur, Kunst und Religion, Staat und Volkswirtschaft das Standesbewußtsein der Fachgenossen stärken und zudem in weiten Kreisen das Ansehen dieses Wirtschaftszweiges festigen. Allerdings: Die hier noch einmal beschworene Gemeinsamkeit von Buchhandel und Druckgewerbe entsprach mehr der spezifischen Situation in Leipzig, wo man sich als Mittelpunkt des deutschen Buchhandels, 1914, vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, sogar des Weltbuchhandels sah und 1907 jeder zehnte Einwohner der Stadt dem Buchgewerbe im weitesten Sinne zugerechnet wurde. 38 Im Jahre der Vereinsgründung zählte man in Leipzig 100 Buchdruckereien und 69 lithographische Anstalten, die zum größeren Teil im Dienste der Verlagsproduktion standen. Das weitere Wachstum verdeutlicht die Anzahl der Beschäftigten: Von 8.588 im Jahre 1897 stieg sie 1900 auf 12.758 und schließlich 1913 auf 14.597.39 Einen entscheidenden Anteil hatten daran die 20 und zuletzt 33 Großbetriebe mit jeweils mehr als hundert Angehörigen, von denen die größten im Besitz Leipziger Verlage waren: genannt seien Breitkopf & Härtel, F. A. Brockhaus, Bibliographisches Institut, B. G. Teubner, J. J. Weber und Otto Spamer. Längst waren sie selbständige Unternehmensbereiche geworden, die nicht nur für den Eigenbedarf tätig waren, sondern gleichzeitig andere Verlage bedienten, sich überdies im Akzidenzgeschäft für Handel und Industrie betätigten. So haben die technischen Abteilungen der Verlagshäuser ein immer stärkeres Eigengewicht erhalten und ihren wesentlichen, unter Umständen sogar entscheidenden Anteil am Umsatz und Gewinn beigetragen - eine wirtschaftliche Grundlage, die in Krisenzeiten eine bessere Standfestigkeit verlieh.40 Zunehmend trennten sich Verlag und Druckerei in der Ausrichtung auf unterschiedliche Märkte stärker voneinander, auch wenn sich das für die Konzentration der Buchproduktion in Leipzig noch nicht deutlich bemerkbar machte.
37 38 39 40
Buchgewerbe und Kultur, S. III-V. Schäfer: Leipzig als Zentrum, S. 21, S. 80. Roth: Leipzig, S. 82. Genauere Aufschlüsselungen der internen Anteile sind bisher nicht bekannt.
182
Peter Neumann 3.2
Buchgestaltung
Buchgestaltung und ihre Vorbilder Die verbesserten Reproduktionstechniken forderten die Kenntnis der Typographie und Buchausstattung vergangener Jahrhunderte. Sie wurden von der aufblühenden Kunstwissenschaft und in deren Gefolge der Kunstpädagogik erschlossen und in Veröffentlichungen einem interessierten Publikum zugänglich gemacht. Ein dichteres Verkehrs- und Postnetz vereinfachte den Austausch und den Vergleich kunsthandwerklicher Erzeugnisse. Fachausstellungen in Zentren des Bücherdrucks oder Weltausstellungen in vielen Hauptstädten zeigten die miteinander wetteifernden Leistungen und veranlaßten die Fachwelt, neue Ideen aufzugreifen. 41 Außerdem konnten sich Drucker wie auch Verleger über ältere künstlerische Stilformen anhand von Vorbildersammlungen und Vorlagemappen informieren. 42 Das im Kaiserreich wohlhabend gewordene Bildungsbürgertum orientierte sich an Ideal und Norm des »künstlerischen Erbes« durch Bücher und Zeitschriften, etwa durch das seit 1885 als Organ der vielerorts entstehenden Kunstgewerbevereine erscheinende Kunstgewerbeblatt.43 Trotz des optimistischen Fortschrittsglaubens wurden gerade im voll entwickelten Maschinenzeitalter die ästhetischen Modelle früherer Epochen wieder akzeptiert. Das äußere Erscheinungsbild eines Buches sollte gesicherte Traditionen widerspiegeln und den Charakter der Massenproduktion verschleiern. So imitierten die Drucke bei einer scheinbar unbegrenzten Reproduzierbarkeit ältere Muster, um trotz industrieller Fertigung wie das handwerkliche Produkt vergangener Zeiten zu erscheinen. Das Aussehen des Buches bereicherten Zier- und Schmuckelemente, die einen soliden und gediegenen Eindruck erwecken wollten: Rahmenwerk oder Schlußstücke aus Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts boten sich als ornamentale Versatzstücke für die Textseiten oder den Einband an. Die Druckschrift aber, vorzugsweise die Fraktur, präsentierte sich in einer ausdruckslosen, verschlankten Form, die sich von einer ursprünglichen, klassizistischen Eleganz entfernt hatte. Die spielerische Vielfalt und der unorganische Zierrat waren charakteristische Eigenheiten der Drucke. Als Reaktion auf die willkürliche und übertriebene Verwendung der dekorativen Elemente kam eine scharfe Kritik auf. Süddeutsche Verleger und Drucker begegneten der uniformen, verwilderten Beliebigkeit mit einem eindeutigen Konzept, das 1876 auf der Münchner Kunstgewerbe-Ausstellung vorgestellt wurde. Sie beriefen sich auf Meisterwerke früher deutscher Buchkunst, auf »unser Väter Erbe«. Diese Vorbilder dienten als Muster für jene retrospektive, zugleich schöpferische »Münchner Renaissance«, die sich als Reformbewegung verstand. Der Verleger Max Huttier ließ für seine liturgischen Werke eine »gotische« Schrift nach dem Vorbild eines Augsburger Druckes von 1484 schneiden; der Drucker und Verleger Georg Hirth veröffentlichte seit 1877 den Formenschatz der Renaissance; Heinrich Wilhelm Wallau arbeitete in seiner »Anstalt für künstlerischen Buchdruck« zwischen 1874 und 1895 in dieser altdeutschen Manier. Der 41 Poethe: Ausstellungswesen um 1880. 42 Köhler: Nach berühmten Mustern. 43 Langer: Kunstliteratur und Reproduktion, S. 43.
183
3.2 Buchgestaltung
vom Schriftkünstler Otto Hupp gestaltete Münchner Kalender blieb seit 1895 für Jahrzehnte dieser gekräftigten Neorenaissance treu. Die Schriftgießerei Genzsch & Heyse in Hamburg brachte 1877 eine Mediaeval-Gotisch und später eine wiederentdeckte Schwabacher von 1650 auf den Markt. 1890 empfahl der Buchbinder Paul Adam, beeindruckt von Mustern auf der Wiener Weltausstellung von 1873, seinen Kollegen ausdrücklich den Renaissance-Einband als Vorbild. 44 Dieser Stilrichtung, in der Schriftschnitte und Ornamente früherer Epochen verwertet wurden, Schloß sich auch der Verlag Velhagen & Klasing an, als er ab 1875 eine allerdings kurzlebige »Ausgabe der Bücherfreunde« und eine »Ausgabe der Kabinettstücke« im Elzevier-Format herausbrachte, bei deren Herstellung er sich auf den reichen Schriftbestand der Leipziger Firma Drugulin stützen konnte. Solche Bemühungen zahlten sich geschäftlich nicht aus: Das Publikum hatte sich an die magere Fraktur gewöhnt, die es einer kräftigen Schwabacher vorzog. 45 Doch auf diese Vorbilder beriefen sich die deutschen Bibliophilen, die 1897 diesen Verlag und diese Druckerei für die Herausgabe und den Druck der Zeitschriftfür Bücherfreunde gewinnen konnten.
Itni'Deutfítie Sdjrtftcn und Ornamente KuiiiìlrnfdKS niitirridl fur dir OrnitifllISlìiHMimiπ,irti 3nit)iimi(irn non Otto tnipp
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Hans Loubier bezeichnete im Rückblick die Jahre vor der Jahrhundertwende Abb. 6: Anzeige von Genzsch & Heyse für »Neu-Deutals eine »Zeit der Nachahmung«. 46 Als sche-Schriften« (Quelle: Grautoff: Buchkunst, ¡901) »Vorläufer des Neuen« sah er den mit Illustrationen und Bordüren geschmückten Prachtdruck eines Nürnberger Kunsthändlers an, die 1880 erschienene Ausgabe des Apuleius-Märchens Amor und Psyche von Max Klinger. Dieses Beispiel, einem Gegenwartskünstler den Buchschmuck und die Buchgestaltung zu übertragen, wurde wegweisend. Vorbilder reformierter
Buchkunst
Am Ende des Jahrhunderts entstand eine europäische Reformbewegung, die von England ausging und sich nicht allein auf Stilfragen beschränkte. Dort hatte sich William Morris mit den Gestaltungsprinzipien des mittelalterlichen Buches vertraut gemacht und sie auf 44 Adam: Bucheinband, S. 261. 45 Meyer-Velhagen, S. 155-167. 46 Loubier: Neue deutsche Buchkunst, S. 11-14.
184
3 Herstellungstechnik und Buchgestaltung
seine mit der Handpresse gefertigten Drucke übertragen, bei denen Text und Illustration eine harmonische Einheit bildeten.47 Werkgerechtes Material und gediegene Verarbeitung steigerten den Gesamteindruck, hervorgerufen durch einen tektonischen Aufbau jeder einzelnen Seite, durch Schriften nach alten Vorbildern und durch phantasievolle Schmuckelemente. Dieser festlichen Pseudogotik ist in Deutschland nur Melchior Lechter gefolgt, der 1898 für den Eugen Diedep o e s c n e c «¡ C R e p c e richs Verlag den Schatz der Armen von Bucbdruckerei ê Ê & ® Maurice Maeterlinck gestaltete. Weniger das starre Schema und der überladene Schmuck des englischen Meisters wirkten hier als vielmehr sein Streben nach perfektem Druck auf passendem Material, das /£\oescbel SÌ Crepte, Ceipzig,i Morris bei den Arbeiten der 1891 gegrünl^dmckcn wiaeenechaftUchcìr,;. deten Kelmscott-Press leitete und für das er ^ ^ ^ g q i e r l t t und Zeitschriften, in den Vorträgen der »Art Worker's Guild« J ^ f e K a t a l o g e , Zirkulare und allejp warb. t¡§¡$¿¿ Hccidenzen in vornehmer undM' Der jahrelang für ihn tätige Buchbinder Vff künstlerischer Hueetattung Pustet-Römisch f f ï â f i r r r l ' m k r n b m S o t t l l n r o r r lilfratlfrtjer J m f n t W t („. >,. k « , „„> ^ « ! » » > * » IÔS4 - H in (CBjrt. re jährlich zwischen 1898 und 1912, oder vom ersten Teil des Rechenbuches für Abb. 1: Anzeige des Kalendeirerlages von Moritz Volksschulen, der Rechenfibel, ca. 24.000 Schauenburg, Lahr, unter Verwendung einer Lithound vom zweiten Teil ca. 21.000 Stück jähr- graphie von Fritz Reiss nach einem Entwurf von Calich zwischen 1870 und 1912. Die Gesang- spar Scheuren (Quelle: Katalog der Ostermeß-Ausund Gebetbücher wurden jeweils in mehre- stellung des Börsen-Vereins 1884, S. 496) ren Ausgaben und mit Anhängen verschiedener Bruderschaften und Sodalitäten herausgebracht. An sie Schloß sich eine erfolgreiche Produktion von Erbauungsbüchern an, die auch auf dem amerikanischen Markt vertrieben wurden. 5 Besonders hohe Auflagen erreichten die Volksschulbücher, die Leseund Rechenbücher, die Katechismen und Biblischen Geschichten. Für den Gebrauch an höheren Schulen wurden ab den siebziger Jahren mehrere Sammlungen von antiken. (uLim
n
3 Widmann: Die Aschendorffsche Presse. S. 139. 4 Widmann, S. 123. 5 Der Vertrieb in Amerika lag seit den achtziger Jahren in den Händen der Firma C. Wildermann Co., N e w York, deren Begründer Carl Wildermann, so wie dessen Bruder und Geschäftsteilhaber Ferdinand. seine buchhändlerische Ausbildung bei Aschendorff erhalten hatte. W i d m a n n . S. 147.
4 Der V e r l a g s b u c h h a n d e l
deutschen und fremdsprachigen Klassikern gegründet 6 und durch Volks- und Jugendschriften ergänzt. Die Wiederauflagen all dieser Titel erfolgten im Stereotypiedruck. Tabelle 1: Der Ausbau des Maschinenparks der Aschendorffschen Presse 1842
1. Schnellpresse
1849
2. Schnellpresse
1854
Dampfmaschine
1871
Neue Einrichtung für Papierstereotypie
1885
Erste Doppelmaschine, mit zwei Druckzylindern
3.000 vierseitige Zeitungsblätter in der Stunde, das Doppelte der Produktion auf der einfachen Schnellpresse
1890
Erste vierseitige Rotationsmaschine
18.000 vierseitige oder 36.000 zweiseitige Zeitungsblätter in der Stunde
1892
Zweite vierseitige Rotationsmaschine
1897- Zwei neue Rotationsmaschinen zum 1898 Druck achtseitiger aufgeschnittener Zeitungen ersetzen die beiden vierseitigen Rotationsmaschinen 1903
Die ersten beiden Linotype-Setzmaschinen
1905
1 óseitige Zwillingsrotationsmaschine
1906
Dritte Linotype-Setzmaschine
1910
Doppelmagazin-Linotype
Auf jeder Maschine 20.000 vier- bzw. zweiseitige oder 10.000 acht- bzw. sechsseitige Zeitungen in der Stunde
20.000 acht- (bzw. sechs-, vier- oder zwei-) seitige oder 10.000 sechzehn- (bzw. zwölfoder zehn-)seitige Zeitungen in der Stunde, zugleich gefaltet und zu 25 oder 50 Exemplaren abgezählt Zum Inseratensatz mit der Maschine
Quelle: Widmann: Die Aschendorffsche Presse, S. 115-123 Auf dieser soliden geschäftlichen Grundlage erfolgte nach 1900 der Ausbau des wissenschaftlichen Programms. Die bestehende Verlagsrichtung im Dienst der »Ecclesia militane« nach dem Kulturkampf wurde um theologische, kirchengeschichtliche, missionswissenschaftliche und religionsgeschichtliche Titel erweitert. Es entstanden die Reihen Vorreformatorische Forschungen (1900), Alttestamentliche und Neutestamentliche Abhandlungen (beide 1908), seit 1902 wurde die Theologische Revue herausgegeben. Philosophische {Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Texte und Untersu6 Es handelt sich dabei um »Meisterwerke unserer Dichter. Neue Auswahl für Volk und Schule mit Einleitungen und Erläuterungen«, seit 1878 (bis 1911 73 Hefte), die »Bibliothek gediegener und lehrreicher Werke der englischen Literatur, zum Gebrauche der studierenden Jugend«, seit 1881(15 Bde. bis 1887), die »Sammlung lateinischer und griechischer Klassiker«, mit getrenntem Schülerkommentar fur die häusliche Präparation, seit 1892 sowie die »Sammlung auserlesener Werke der Literatur (Ausgaben für den deutschen Unterricht)«, mit Einleitung und Erläuterungen, seit 1901. Für die Praxis, mit Schulausgaben der Klassiker die Schnellpressen zu beschäftigen und sie im Stereotypieverfahren wiederaufzulegen, hat Metzler seit 1827 bahnbrechend gewirkt. Vgl. Wittmann: Ein Verlag und seine Geschichte, S. 395-398.
4.5 Der R e g i o n a l - und L o k a l v e r l a g mit D r u c k e r e i
329
chungen, 1891) und ethnologische Studien {Anthropos-Bibliothek, theologische Verlagsprogramm.
1909) ergänzten das
Tabelle 2: Brotartikel der Aschendorffschen Presse in Münster Titel
Zeitraum Auflagen Exemplare
1. Schulbücher B. Overberg: Katechismus der christkatholischen Lehre zum Gebrauche der kleinern Schüler
1804-1897
107
955.000
B. Overberg: Katechismus der christkatholischen Lehre zum Gebrauche der großem Schüler
1804-1900
104
722.500
B. Overberg: Katechismus der christkatholischen Lehre. Zum 1828-1897 Gebrauche für die Stadt- und Landjugend ... Ein vollständiger Auszug aus dessen größerem und kleinerem Katechismus
46
257.800
B. Overberg: Neues ABC-, Buchstabir- und Lesebuch, nach der im Hochstifte Münster eingeführten Lehrart
1805-1877
63
940.000
Rechenbuch für Volksschulen (Stein-Petermann), T1.I: Rechenfibel
1870-1912
102
1.010.000
Dass. Τ1.Π
1870-1912
88
870.000
Dass. Τ1.ΠΙ
1870-1912
57
467.500
Dass. Tl.IV
1870-1912
36
151.000
Meisterwerke unserer Dichter. Neue Auswahl für Volk und Schule mit Einleitungen und Erläuterungen. Nr. 1 : Schiller, Wilhelm Teil
1878-1912
23
115.000
1897-1912
35
478.000
Statuten und Gebete für Marianische Sodalitäten (32 S.)
1898-1909
4
20.000
Bruderschaftsandacht zu Ehren der Todesangst unseres am Kreuze sterbenden Heilandes (24 S.)
1898-1909
4
15.000
Bruderschaft von Jesus Maria Joseph zur Beförderung der christlichen Lehre (16 S.)
1897-1907
2
6.000
1898-1912
26
474.500
Statuten und Gebete für Marianische Sodalitäten (48 S.)
1898-1912
15
79.000
Andacht bei der Feier der ersten Kommunion (32 S.)
1898-1911
4
17.000
1900-1912
4
23.000
2. Gesangs- und Gebetbücher Gesangs- und Gebetbuch für das Bistum Münster. Neu hg. auf Anordnung des hochwürdigsten Bischofs Hermann. Ausgabe mit Noten
Dass. Ausgabe ohne Noten
Dass. Ausgabe in großem Druck
Quelle: Verlags-Verzeichnis 1762-1912 - Bei den eingerückten Titeln handelt es sich um Anhänge.
Korn in Breslau Die Firma Korn in Breslau gab seit 1742 die Schlesische Zeitung heraus, die ab 1878 auf Rotationsmaschinen gedruckt wurde und seit 1881 dreimal täglich erschien. Der Jahresumfang wuchs von 1.276 Bogen im Jahr 1870 a u f 2 . 2 5 5 im Jahr 1910, der Inseratenteil im
330
4 Der Verlagsbuchhandel
gleichen Zeitraum von 478 auf 1.008 Bogen, d.h. von 37 % auf 45 % des Gesamtumfanges 7 (Graphik 1). Wie diese Erfolgsbilanz erkennen läßt, bildete der Zeitungsverlag das geschäftliche Rückgrat des Unternehmens.
Jahresumfang
2500
Graphik 1: und Inseratenteil der Schlesischen
Zeitung
CD Jahresumfang ¡ I Inseratenteil
2000
1500
1000
500
1850
1870
1890
1910
Quelle: Die Firma Wilh. Gotti. Korn in Breslau, 1914
Der Anstieg des redaktionellen Teils hing mit dem Charakter der Schlesischen Zeitung als einer »Zusatzzeitung« zusammen. »Ungefähr zwei Drittel ihrer Abonnenten waren außerhalb Breslaus. Sie lasen also ihre Lokalzeitung und forderten von der Schlesischen mit Recht all das, was man von einer Zeitung der Reichshauptstadt verlangen konnte.« 8 Die Zahl der Redakteure stieg von sechs 1859 auf 15 im Jahr 1896. Der innere Ausbau der Zeitung betraf den Handelsteil und insbesondere das Feuilleton, dem ab 1881 ein Zeitungsroman beigegeben wurde. Indem Korn die Auslandsredaktion in zwei Ressorts fur den Osten und den Westen aufspaltete, gab er dem liberal-konservativen Blatt eine ihrem Standort angemessene selbständige Bedeutung. 9 Das Programm des Buchverlags, wie es auf der BUGRA in Leipzig 1914 präsentiert wurde, 10 war durch die Druckerei und das regionale Umfeld geprägt. Ähnlich wie Aschendorff, so publizierte auch Korn Schulbücher (Luthers kleinen Katechismus, Biblische Geschichten) und Gesangbücher, die in unterschiedlichen Größen und in bis zu 27 verschiedenen Einbänden angeboten wurden. Im Bereich der religiösen Literatur war der Hauptverlagsartikel das evangelische Gesangbuch, das auf Beschluß der Provinzialsynode von 1878 geschaffen wurde. Der Verlag Schloß mit der Kirche einen Vertrag, der ihm
7 Die Firma Korn in Breslau, S. 57,59. Zu Auflagenzahlen (1912:20.000), Herstellungskosten und Gewinn vgl. Jessen: 200 Jahre Korn, S. 342-344. 8 Jessen, S. 329. 9 Über den Ausbau der »Schlesischen Zeitung« berichtet ausführlich Jessen, S. 329-332. 10 Die Firma Korn in Breslau, S. 43 ff.
4.5 Der R e g i o n a l - und L o k a l v e r l a g mit D r u c k e r e i
Herstellung und Vertrieb gegen ein Pauschalhonor - von zunächst jährlich M 1.000,1897 M 5.000 und 1903 schließlich M 15.000 - sicherte. 11 Zur raschen Durchsetzung des Provinzialgesangbuchs, wie aus den Auflagenzahlen hervorgeht, trug eine großzügige Umtauschofferte bis 1912 bei. 12 »Die Ausgabe in Taschenformat erlebte in den Jahren 18801905 31 Auflagen in 513.000 Exemplaren, die Petit-Ausgabe 41 Auflagen, darunter Auflagen von 15.000 Stück.« 13 An die Gesangbücher zum gottesdienstlichen Gebrauch schlossen sich Choralbücher, Begräbnisliederbücher, Kindergesangbücher 1 4 und hymnologische Literatur an. Der Verlag Korn, der bereits seit 1742 alle schlesischen Provinzialgesangbücher betreute, wurde endgültig zu »dem Verleger der evangelischen Kirche Schlesiens«. 15 Im Schulbuchverlag dominierten das evangelische und katholische Religionsbuch für Volksschulen, das Rechenbuch, das Lesebuch und Fibeln. Von A. Treblings Achtzig Kirchenlieder, für den Schulgebrauch zusammengestellt erschienen von 1879 bis 1908 25 Auflagen, die letzten vier zu j e 20.000 Exemplaren. Die Neubearbeitung durch Johannes Petran hatte von 1910 bis 1920 6 Auflagen mit 172.000 Exemplaren. 1 6 Hauptwerke des Verlages bildeten periodisch aktualisierte Nachschlagewerke wie das Schlesische Güter-Adreßbuch (1. Aufl. 1870, 10. Aufl. 1912, 14. Aufl. 1930), das Schlesische Ortschaftsverzeichnis (7. Aufl. 1913,11. Aufl. 1928), das seit der dritten Auflage 1893 bei Korn herauskam, das Handbuch der Provinz Schlesien (57. und letzte Auflage 1904) oder das Statistische Jahrbuch deutscher Städte (1890, 21. und letzter Jahrgang 1916), mit denen der Verlag die Pressen am Laufen hielt. Neben dem Schulbuch und der religiösen Literatur lagen Schwerpunkte des wenig konturierten Verlagsprogramms im verwaltungsrechtlichen Bereich, der aus der früheren Provinzialgesetzgebung hervorging, sowie in der Landwirtschaft. Das Handbuch von P. Schubart Die Verfassung und Verwaltung des Deutschen Reiches und des Preußischen Staates wurde zu einem weitverbreiteten Standardwerk. Mit der 26. und letzten Auflage von 1918 war es in rund 750.000 Exemplaren verbreitet. 17 Die Kornsche Druckerei betrieb neben dem Zeitungsdruck auch den Werk- und Akzidenzdruck. Der Umsatz in absoluten Zahlen und seine Steigerung auf das Dreifache von 1871 bis 1906 gehen aus Tabelle 3 hervor. Die Umsätze auf fremde Rechnung dominierten (1906:58 %). Die immer wieder geäußerte Auffassung, daß sich die Lohndruckerei zu erheblichen Teilen in die Provinz verlagert habe, läßt sich an diesem Beispiel belegen. Das Muster eines kombinierten Betriebs mit Zeitung, das Aschendorff und Korn repräsentierten, wiederholte sich in zahlreichen weiteren Fällen. Die älteste heute in Deutschland erscheinende Tageszeitung, die unter dem Titel Hildesheimer RelationsCourier 1705 gegründete Hildesheimer Allgemeine Zeitung, wurde seit 1807 von Gerstenberg verlegt. Die Auflage kletterte von 2.000 Stück 1862 auf 6.500 Stück mit einer Vertriebseinnahme von M 52.000 im Jahr 1902. 18
11 12 13 14 15 16 17 18
Schott: Geschichte, S. 136. Schott, S. 161 f., 165. Jessen: 200 Jahre Korn, S. 320. Vgl. die Zahlen bei Schott: Geschichte, S. 165. Dazu Schott: Geschichte, S. 157 f. Jessen: 200 Jahre Korn, S. 321. Vgl. die 1. These von Schott: Geschichte, S. 171. Jessen: 200 Jahre Korn, S. 321. Jessen, S. 320. Aufermann/Schuster: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, S. 176.
4 Der Verlagsbuchhandel
Tabelle 3: Umsatz der Kornschen Druckerei in Breslau 1871 und 1906 I.
II.
1871
1906
a) Akzidenz- und Werkarbeiten
95.157
459.089
b) Wertpapiere
44.895
32.697
Zwischensumme
140.052
491.786
121.488
323.279
10.359
30.668
Für fremde Rechnung
Für eigene Rechnung a) Schlesische Zeitung b) Verlagsbuchhandlung a) Landwirt Zwischensumme
Gesamtumsatz
5.637
-
137.484
353.947
277.536
845.733
Quelle: Jessen: 200 Jahre Wilh. Gotti. Korn, S. 345. Die Zeitschrift Der ¿ a w / w í wurde 1897 aufgegeben.
Carl Schünemann in Bremen Zwei weitere norddeutsche Beispiele bieten Carl Schünemann in Bremen und Gerhard Stalling in Oldenburg. Carl Schünemann, der 1810 sein Unternehmen mit der Herstellung und dem Vertrieb von Spielkarten begonnen hatte, strebte einen Zeitungsverlag an. Dauerhaft verwirklichen konnte er seine Pläne jedoch erst im Zuge der Neuordnung des Bremer Zeitungswesens 1843, als er die Konzession zur Gründung der Weser-Zeitung ( 1844-1934) erhielt. Durch den Bremer Politiker und Schriftsteller Otto Gildemeister, der zwischen 1844 und 1902 mehr als 5.000 Leitartikel verfaßte, erhielt die Zeitung, die seit 1879 dreimal am Tage erschien, überregionale Bedeutung. Mit dem Presseverlag, der »durch die Weser-Zeitung hanseatische Weltwirtschaftspolitik und durch die Bremer Nachrichten hanseatische Lokalpolitik« machte, 19 war ein buntgemischtes Buchprogramm verbunden. Das Staatshandbuch der Freien Hansestadt Bremen (1873-1930), das Bremer Adressbuch, das 1904 an den Verlag ging, Wegweiser zur Schiffahrt, Stadtführer und ähnliche Artikel waren für die Auslastung der hauseigenen Druckerei von großer Bedeutung. Deren Hauptkunden waren, außer dem eigenen Verlag, »der Norddeutsche Lloyd mit seinen vielfachen Drucksachen, Prospekten, Fahrplänen, Passagierlisten,« 20 die bremische Industrie sowie die Hansestadt selbst, die seit 1877 ihr Gesetzblatt in der Schünemannschen Buchdruckerei publizierte. Ein eigenständiges Verlagsprofil bildete sich erst mit der »Niedersachsen«-Bewegung heraus, die bei Schünemann ihren publizistischen Mittelpunkt hatte. Durch die Gründung der Zeitschrift Nieder19 150 Jahre Carl Schünemann, S. 77. Für die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung der »WeserZeitung« vgl. ausführlich S. 21-42. Mit dem Jahr 1918 wechselte das Blatt, das zuletzt einen »jährlichen Fehlbetrag von 60.000 bis 80.000 Mark« aufwies (S. 41 ), zur Bremer Zeitungs-Verlag G.m.b.H. Wesentlich erfolgreicher waren die »Bremer Nachrichten«, ursprünglich ein Anzeigenblatt des Senats, das von Schünemann gedruckt wurde und 1870 in seinen Besitz gelangte. Im Jahr 1901 wurde die Zahl von 25.000, 1908 von 37.000 Beziehern erreicht (S. 57 f.). 20 150 Jahre Carl Schünemann, S. 96.
4.5
Der Regional- und Lokalverlag mit
Druckerei
sachsen 1896, die den niederdeutschen Heimatdichtern eine Plattform bot, wurde Schünemann »der Verlag für niederdeutsches Schrifttum«.21 Dem entsprach das Hauszeichen für alle Verlagswerke: »die zwei gekreuzten Pferdeköpfe des angestammten Niedersachsenhauses mit den Initialen C und S dazu«.22 Gerhard Stalling in Oldenburg Gerhard Stalling in Oldenburg entwickelte aus der Druckerei heraus einen Schulbuch-, Kalender- und Heimatverlag, der seit 1843 die Oldenburger Zeitung publizierte. Das 1868 für die evangelischen Kirchen neu eingeführte Gesangbuch erschien zwanzig Jahre später bereits in der 16. Auflage mit 15.000 Stück; vom Kalender wurden zu dieser Zeit sieben verschiedene Ausgaben in einer Auflage von etwa 50.000 Exemplaren herausgebracht. Stalling hat nur den Schulbuchverlag gezielt ausgebaut, bevor er das 1897 gegründete Wochenblatt Allgemeiner Anzeiger fiir die Offiziere der Armee und Marine, ein Fachorgan für den praktischen Truppendienst, zum Aufbau eines militärischen Verlages nutzte.23 Mit dem Verlag waren neben der Buch- und Steindruckerei noch eine Spielkartenfabrik und eine Papiergroßhandlung verbunden.24 Der Kalenderverlag Trowitzsch & Sohn Der Kalenderverlag erlangte im Zeichen der Gewerbefreiheit seine größte Vielgestaltigkeit. In Preußen wurde das seit 1700 geltende staatliche Kalendermonopol 1815 aufgehoben, die drückende Stempelsteuer fiel mit dem Reichsgesetz über die Presse von 1874. Von diesen Änderungen hat in Preußen vor allem die Firma Trowitzsch & Sohn aus Frankfurt an der Oder profitiert. Sie trat 1820 an Stelle der Kalender-Deputation, die der privaten Konkurrenz nicht gewachsen war, in den Vertrag mit der Ungerschen Druckerei ein, die seit 1794 Verlag und Druck der amtlichen Kalender gepachtet hatte, und erwarb selbst ein Jahr später die Ungersche Druckerei und Schriftgießerei. In dem (seit 1851 selbständigen) Berliner Zweig des Geschäfts wurden die Kalender herausgegeben.25 Hatten Trowitzsch & Sohn zunächst nur sechs Kalender übernommen, so verlegten sie beim Verkauf des Geschäftes 1888 18 verschiedene Kalender in 33 Ausgaben.26 Die technischen Betriebe waren für die eigene Produktion (Kalender, Schulbücher, »Volksbücher«) und den Lohndruck, vor allem den Bibeldruck, ausgebaut und modernisiert worden. 27 Trowitzsch & Sohn diversifizierten ihre Kalenderproduktion nach Bedürfnissen und Benutzerkreisen, indem sie Notiz-, Portemonnaie- und Reisekalender für die Damen, den 21 22 23 24
150 Jahre Carl Schünemann, S. 78. Vgl. die Aufzählung der Schriftsteller und Illustratoren S. 77-79. 150 Jahre Carl Schünemann, S. 79. Roth: Einhundertfunfzig Jahre Stalling, S. 118-125. Die Druckerei stellte 1879 die vierte Schnellpresse auf und verfugte seit 1888 über eine doppelte Schnellpresse größten Formats. Im Verlag erschienen bis 1890, zum 100jährigen Geschäftsjubiläum, gegen 400 Titel. Roth: Einhundertfunfzig Jahre Stalling, S. 98-104. 25 Mangelsdorf: Das Haus Trowitzsch & Sohn, S. 44f., 58. 26 Mangelsdorf, S. 78. Die Firma wurde an Edmund Mangelsdorf und Otto Freiherr von der Pfordten verkauft. 27 Mangelsdorf, S. 71 f. Die Geschäftsverbindung mit der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft in London geht auf das Jahr 1856 zurück.
334
4 Der Verlagsbuchhandel
Landmann, das Militär usw. schufen. Damit behaupteten sie sich auf dem überfüllten Kalendermarkt und erwehrten sich der öffentlichen Institutionen, die seit den vierziger und fünfziger Jahren Kalender zu wohltätigen Zwecken herausgaben {Kaiserswerther Kalender, 1842; Der Veteran, zum Besten der 3ubtläums Ausgabe »Allgemeinen Landesstiftung zur Untertes stützung vaterländischer Veteranen und inJtílnenifÍnt'i! I N í f i f i e n Cimunersliiirfis. valider Krieger«, 1852),28 sie durch freiwil^ausgegeben w* 3il. Siftia uni St. gtl. lige Kolportage am Sortimentsbuchhandel fùnfuneMuaiKlilIt *lil:«gt ®títíct "XiOiuíl: vorbei verbreiteten und sich dabei zuweilen IMkilirtiM |l«lk»licìttM· auf behördliche Empfehlungen stützen konnten. Moritz Schauenburg in Lahr Der bekannteste Kalenderverlag in Süddeutschland war die Verlagsbuchhandlung Moritz Schauenburg in Lahr, die neben der Druckerei eine Schriftgießerei und lithographische Kunstanstalt betrieb. Des Lahrer Hinkenden Boten neuer historischer Kalender, dem eine Volksbibliothek des Lahrer Hinkenden Boten angegliedert war, bildete seit seiner Gründung im Jahr 1800 draft. « Ξ 25. " »«μπμπϊ .« S.mit ϋκι.ι^,Ιη Λ 3.50, in tritt Jt «, mil M»mj£«!n .4 li III „i,„ 29 Pro—MdM* „„> &m,.„„η „„« í,.oj.3.m»,. f „,. «vi.,·, ο. :ι„, „„ J jt 3S0 maiStC^if das Zugpferd des Betriebes. 1 8 84 umfaßte der Kalenderverlag nicht weniger als IllufmcrtcS PalíiáliEbcrLuidi. ' no MntnwlkK Daws Τ .hht »¡r[tr¿ 250 Sorten. Ausgedehnt wurde das Verlags¿otturai , ítntent™ frinii. UMníft , «Htm. «"t MmMMMMtt mil »aiuta»! n onef»ím .u«ns Μ ) j». oni„t¡ol¡ raí intuii 1».,,,, s,«T¡„J™ S 2*·*. o* -» mρ* Α3Γδ5Γ.»· at¡!Í*ncl «ait. Mrh|usntntnk> ΠιηΜ ιΙα,ιΜ .«φt,jwsm fAimnt it «olead programm auf Liederbücher, illustrierte Abb. 2: Anzeige der Jubiläums-Ausgabe des Allge- Werke (Familien-Bilderbibel), Prachtwermeinen Deutschen Commersbuchs im Verlag Moritz ke und Prachtblätter sowie Schul-Atlanten. Schauenburg, Lahr (Quelle: Katalog der Ostermeß- Das Allgemeine Deutsche Commersbuch Ausstellung des Börsen-Vereins 1884, S. 494) (Abb. 2) wurde in der 25. Jubiläumsausgabe in Leinen, Leder oder weißem Pergament, jeweils mit und ohne Biernägel angeboten. Mit solchen auflagenstarken Titeln versorgte der Verlag seine technischen Betriebe. m
Γ
Der Kalender - eine Domäne von Provinzverlagen Der Kalender30 war seit alters eine Domäne von Provinzverlagen. Der älteste Hinkende Bote, der Prototyp einer ganzen Gattung, wurde von der Firma Jäger in Frankfurt a.M. als Der wahre und ächte Hinkende Bote 1882 im 245. Jahrgang herausgegeben. Unter dem 28 Mangelsdorf, S. 73 f. Der mit dem Kalenderverlag eng verbundene Schulbuchverlag kennt das gleiche Problem (vgl. das Kap. im folgenden Teilband). 29 Von der »Volksbibliothek des Lahrer Hinkenden Boten«, die pro Nummer 5 Pf. kostete, waren 1884 100 Nummern erschienen. Alle Angaben sind dem Katalog der Ostermeß-Ausstellung des BörsenVereins 1884 entnommen.
4.5
335
Der Regional- und Lokalverlag mit Druckerei
Titel Aechter Hebel 's Rheinländischer Hausfreund verlegte Lang in Tauberbischofsheim den von Johann Peter Hebel begründeten Kalender 1882 im 77. Jahr. Kalender erschienen in Orten wie Braunschweig (Joh. Heinr. Meyer), Bregenz, Breslau (E. Trewendt), Erfurt (F. Bartholomäus), Glogau (Flemmings Verlag), Graz (Styria), Hannover, Kaiserslautern, Luckenwalde, Neuhaidensieben (C. Eyraud), Prag (Moritz Perles), Reutlingen (Fleischhauer & Sohn), Stade, Ulm, Weißenfels, Wismar (Hinstorf!) oder Würzburg (Etlinger). Teils handelt es sich dabei um alteingesessene Firmen, teils um neugegründete Verlage, die das regionale Heimat- und Geschichtsbewußtsein forderten. Musterbeispiele bilden der seit 1902 vom Thüringischen Museum in Eisenach herausgege-
bene Thüringer Kalender, De Kiepenkerl bei Fredebeul & Koehnen in Essen seit 1909 (Abb. 3) sowie Der Heidjer. Ein niedersächsiches Kalenderbuch, das seit 1904 bei dem Zeitungsverlag Gebrüder Jänecke in Hannover herauskam. Der Heidjer mit Bildschmuck von Mitgliedern der Worpsweder Künstlerkolonie (Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Heinrich Vogeler) wollte ein »künstlerisch ausgestattetes Jahrbuch für unsere liebe Heimat sein, voll bewußter niedersächsischer Eigenart«. Katholische Kalender wurden in den traditionellen Verlagsorten katholischer Literatur herausgegeben, in Augsburg, Breslau, Donauwörth (Auer), Freiburg (Herder), Köln (Bachem), Mainz (Franz Kirchheim), Regensburg (Pustet) und Sulzbach (Seidel 31 ).
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3í!haIt5=Pte len Konzentrationsprozeß. 1906 wurde das Protestantenblatt, nach wie vor die politische Speerspitze des altliberalen Protestantismus, in die Central-Stelle des Deutschen in Protestanten-Vereins für Schriften-Betrieb ©efd)icf)fe uttb ®egenn>art übernommen, den vom Vereinsvorsitzen^(mbïDorierbuct) den und freisinnigen Reichstagsabgeordnein $emeim>eritäublid>er $>arfieUung ten Karl Schräder finanzierten Berliner Hrtiglm eon Sunhtl (Altes leftament, RfIigior.cn òtsaIWn Orients),fcitmün«(Iteues Siftamai!), ädernd A Selbstverlag. (Kirá¡tigeiBeilsteinBeilstein< wurden von den Referenten des Centraiblatts vorgenommen. Das von der Deutschen Chemischen Gesellschaft eingerichtete literarische Bureau< gab vier Supplementbände und ein Generalregister zur dritten Auflage heraus (insgesamt 4.604 Seiten, 1899-1906) und bereitete die vierte Auflage mit einem neuen System zur Einordnung des Materials vor. Zu Springer kam das Handbuch 1916, als die Vorbereitungsperiode zur vierten Auflage abgeschlossen und der Verlag Wilhelm Engelmann - in Folge der Auszahlung von Erben103 - nicht zur Vorfinanzierung der Herstellung in der La-
98 99 100 101 102 103
Sarkowski: Springer, S. 110. Sarkowski, S. 112. Richter: Beilsteins Handbuch, S. 72. Richter, S. 72. Richter, S. 86. Zum Niedergang des Verlages Engelmann vgl. Kap. 4.1.
5.4
Der w i s s e n s c h a f t l i c h e Verlag
ge war; Springer erwarb 1916 das Verlagsrecht und übernahm den gesamten ophthalmologischen Verlag. Das als Zettelmaterial vorliegende Manuskript des >Beilstein< umfaßte 123 Zettelkästen mit einem Gewicht von rund 460 kg, aufbewahrt in drei großen feuersicheren Schränken.104 Mit der aufwendigen Herstellung wurde Anfang 1917 begonnen, der erste 1.018 Seiten starke Band Anfang 1919 ausgeliefert. Die Zahl der Verbindungen hatte sich wiederum mehr als verdoppelt, ihre Beschreibung explodierte. »So ist z.B. der Artikel Äthylalkohol, der in der 3. Auflage 7 Druckseiten umfaßt, auf 22 Seiten angewachsen, Acetylen von 2 auf 16, Formaldehyd von 1 1/2 auf 16, Blausäure (mit ihren Salzen) von 24 auf 60 Seiten!«105 Das Erscheinen der vierten Auflage in 31 bzw. 33 Bänden 106 zog sich bis 1940 hin. Mit schließlich mehr als 400 Bänden wurde der >Beilstein< zum »wichtigsten Werk des Springer-Verlags.«107 Zur »Keimzelle des neuen Verlagszweigs für das Bauingenieurwesen«108 wurde das Taschenbuch für Bauingenieure, das Max Foerster - Professor der Bauingenieurwissenschaft an der TU Dresden - unter Mitwirkung zahlreicher Fachleute herausgab. Das Unternehmen ist ein Musterbeispiel für die Umfangsexplosion von Handbüchern: Statt der vereinbarten 70 Bogen wurden 118 erreicht - eine Überschreitung von 70 %. »Die Termine wurden ziemlich regelmäßig überschritten und die vorgegebenen Umfange von fast keinem Autor eingehalten.«109 Allein die 2.723 Strichätzungen sprengten zeitlich und finanziell den Rahmen. Den Herstellungs- und Honorarkosten - der Verlag honorierte auch den Mehrumfang - von 55.000 und der Einführungswerbung von M 3.000 stand bei einem Ladenpreis von M 20 (Auflage 5.000, Rabatt 35 %) ein Verkaufserlös von M 65.000 gegenüber.110 Von der Kritik als »eine wahrhaftige Enzyklopädie des Bauingenieurwesens« gefeiert, avancierte der >Foerster< zum Standardwerk, das mit weiteren Auflagen - bis 1928 sechs starke, verbesserte Ausgaben - ein rentables Verlagsobjekt wurde.111 Dubbels Taschenbuch für den Maschinenbau ist »der auflagenstärkste >LongsellerHütteDubbel< »das am weitesten verbreitete Buch des Springer-Verlags«.116 114 Faksimile der Kalkulation bei Sarkowski: Springer, S. 213. 115 Sarkowski, S. 213 f.
5.4 Der w i s s e n s c h a f t l i c h e Vertag
Land- und forstwirtschaftlicher
449
Verlag
Die Titelproduktion im Bereich Land- und Forstwirtschaft stieg zwischen 1870 und 1900 um etwa 250 %; ihr Anteil an der Gesamtproduktion erhöhte sich von 2,6 % (mit 269 Titeln 1870) auf 3,3 % (mit 688 Titeln 1900). Die Gesamtseitenzahl der Titelproduktion wuchs von 41.061 auf 106.332, was einem Anteil von 2,2 % bzw. 3,2 % entspricht. A m Druck: W. BQxenstcin, Berlin. - F a r b e : C L. Slcii Papier; Vereinigte Bnuuner Papier Fabriken. Fittale Schriften aus verschieJencn Ginnereien. — Linien: dermal Gesamtladenpreis der Jahresproduktion 1900 waren Land- und Forstwissenschaft mit 2,9 % beteiligt. Ein Titel kostete im statistischen Durchschnitt M 3,10, so daß das Preisniveau deutlich unter den IngenieurVERLAGSBUCHHANDLUNR und Naturwissenschaften lag. LANDWIRTHSCHAFT
Paul Parey G A R T E N B A U
Als land- und forstwirtschaftliche Verlage profilierten sich neben Springer vor allem Parey in Berlin und Ulmer in Stuttgart. Der Parey Verlag geht auf das von Karl Ferdinand Wiegandt 1848 in Berlin gegründete Verlagsgeschäft zurück. Ab 1867 Leiter, ab 1869 Mitinhaber, ab 1877 Alleininhaber und ab 1881 auch Namensgeber des Verlages war der Berliner Buchhändler Paul Parey, unter dem sich der Aufstieg der Firma vollzog. Das einschlägige Programm von Wilhelm Braumüller 117 in Wien, der zu dieser Zeit seinen Schwerpunkt in Medizin und Pharmazie ausbaute, wurde mit mehr als 100 lieferbaren Titeln 1885 übernommen.
FORSTWESEN
BERLIN
SW
WILHFI.M-STBASSE
Abb. 5: Paul Pareys Anzeige im Katalog der Ostermeß-Ausstellung, Leipzig 1884, S. 29
Im Jahr 1900, als Parey ohne Nachfahren starb und die Firma vom einstigen Mitarbeiter und befreundeten Verleger Arthur Georgi 118 übernommen wurde, konnte der Verlag 1.500 Titel und 15 Zeitschriften vorweisen. 119 Die Firma Parey, die sich selbst als »Verlagsbuchhandlung für Landwirtschaft, Gartenbau und Forstwesen« 120 bezeichnete, hatte ihr Profil als Buch- und Zeitschriftenverlag für angewandte Naturwissenschaften gewonnen. Die Diversifikation des Programms wurde bei Parey »immer im Sinne der organischen Ableitung verstanden«. 121 Es bestand »eine enge Bindung zwischen Zeitschriften
116 Götze: Springer, S. 344. 117 Zum Verlag Braumüller vgl. Bachleitner u.a.: Geschichte des Buchhandels in Österreich. S. 219 f. 118 Seinen eigenen, nach ihm benannten Leipziger Verlag verkaufte Arthur Georgi 1902 an seinen Schulfreund Georg Thieme. Vgl. Parey 1848-1972, S. XVIII. 119 Parey 1848-1972, S. XIV. 120 So im Verlagskatalog von 1911, der ein systematisches Inhaltsverzeichnis enthält, das die Schwerpunkte der Produktion erkennen läßt.
450
5
Programmbereiche
und Buchtiteln«,122 weil die Buchautoren sich aus Wissenschaftlern rekrutierten, die ihre Forschungsresultate in den hauseigenen Zeitschriften publizierten. Von den Zeitschriften des Verlages bewährten sich als Fachkommunikationszentren das Journal fiir Landwirtschaft (ab 1853), die Deutsche Landwirtschaftliche Presse (ab 1874) und das Forstwissenschaftliche Zentralblatt (ab 1879), das zugleich als Zeitschrift für die Veröffentlichungen aus der Forstlichen Forschungsanstalt München diente. An diesen Organen waren wechselnde Körperschaften beteiligt; in neuer Trägerschaft und vereinigt mit anderen Fachblättern bestehen sie bis heute weiter. Am erfolgreichsten waren Periodika, bei denen es gelang, wissenschaftliche Erkenntnisse, praktische Bedürfnisse und gewerbliche Interessen zusammenzuführen. Mit der Gründung der Jagdzeitschrift Wild und Hund für Jäger und andere Naturfreunde 1895 legte Parey das Fundament für den Spezialbereich des Jagdwesens, fortan der Longseiler des Verlages. Die Illustrine Jagdzeitung. Organ für Jagd, Fischerei, Naturkunde (Leipzig: Schmidt 1873/74-1895/96) ging in Wild und Hund auf, mit ihr verschmolzen wurde St. Hubertus - Der Heger und Jagd und Hege, erweitert wurde sie durch Beilagen: den Wild-und Hund-Kalender. Taschenbuch für deutsche Jäger (1900-1929); die Reihe Wild und Hund. Jagdromane u.a. Durch eine geglückte Mischung aus aktuellen Informationen, fachwissenschaftlicher Belehrung, Erlebnisschilderungen und Unterhaltung baute Parey ein Programm für die breite Schicht der gut verdienenden und für ihr Hobby ausgabebereiten Jagdfreunde auf. Wild und Hund, Wegbereiter des Spezialmarktes, ist heute das größte unabhängige europäische Jagdmagazin. 123 Nach der Ausgliederung des Buchverlages, einschließlich der wissenschaftlichen Zeitschriften, in den Blackwell-Wissenschafts-Verlag Berlin 1993 konzentriert sich Parey ganz auf Zeitschriften für Jäger und Angler. Das Buchprogramm stützte sich auf Handbücher und Lexika, Bibliotheken und Sammlungen. Unter den Handbüchern ragt das Illustrirte Gartenbau-Lexikon (hrsg. von Theodor Rümpler, 1882, fünfter völlig neubearb. Aufl. 1955/56) und das Illustrirte Landwirtschafts-Lexikon (hrsg. von Guido Krafft, 1884, siebter völlig neubearb. Aufl. 1956/57) heraus, beide überaus reich mit in den Text gedruckten Holzschnitten ausgestattet. Das Lehrbuch der Landwirtschaft auf wissenschaftlicher und praktischer Grundlage von Krafft - dem »führenden österreichischen Landwirtschaftslehrer vor dem 1. Weltkrieg«124 - umfaßt mit vier Bänden zu Ackerbau-, Pflanzenbau-, Tierzucht- und Betriebslehre sowie einem Ergänzungsband mit Geräte- und Maschinenlehre alle Tätigkeitsfelder landwirtschaftlicher Betriebe. Als Handbuch für den Landmann wurde es ein Longseller mit zehn Auflagen bis 1918 und weiteren Ausgaben in den zwanziger Jahren. Solche Dauererfolge waren charakteristisch für Parey: Paul Sorauers Handbuch der Pflanzenkrankheiten für Landwirthe, Gärtner und Forstleute, erstmals bei Wiegandt,
121 Paul Parey. Verlagsprofil, S. 7. 122 Paul Parey, S. 3. 123 Für die Freunde der Natur. Der Paul Parey Zeitschriftenverlag. URL: http://www.paulparey.de/verlag_historie.html (27.01.2001). 124 Neue Deutsche Biographie, Bd. 12, Berlin: Duncker & Humblot 1980, S. 644. Krafft war Professor für Land- und Forstwirtschaft am Polytechnischen Institut (heute TU) Wien.
5.4 Der wissenschaftliche Verlag Hempel & Parey 1874, kam in siebter, vollständig neugestalteter Auflage ab 1965 heraus. August Garckes illustrierte Flora von Deutschland. Zum Gebrauche auf Exkursionen, in Schulen und zum Selbstunterricht, das 1972 neu ediert wurde, geht auf das Jahr 1849 zurück; Diezeis Niederjagd (nach dem Verfasser Karl Emil Diezel), seit 1879 bei Parey, erlebte die 23., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage von Friedrich Karl von Eggeling 1983. Buchtitel, die sich mit ihrem ursprünglichen Urheber verbinden, ständig aktualisiert und überarbeitet werden, zählen zu den begehrten Einzelproduktmarken im Buchhandel. Im Rückblick ist das Sammelwerk zum Waldsterben ( 11 Hefte, 1908-1916) zum >Klassiker< geworden.125 Die Thaer-Bibliothek- genannt nach Albrecht Daniel Thaer ( 1752-1828), Begründer der wissenschaftlichen Landbaulehre - war konzipiert als »eine umfassende Sammlung kurzgefaßter, preiswerter Abhandlungen fur praktische Landwirte über die naturwissenschaftlichen, betriebswirtschaftlichen und technischen Grundlagen und alle Teil- und Randgebiete moderner Landwirtschaft«. 126 Die von 1877 an erscheinenden Bände wurden ausschließlich im Verlegereinband zu je M 2,50 ausgegeben. Viele Titel erreichten mehrere Auflagen, besonders erfolgreich war Wolffs Düngerlehre (nach dem Verfasser Emil Theodor Wolff), ein »gemeinverständlicher Leitfaden der Agrikultur-Chemie« mit 15 Auflagen bis 1910. Bereits um die Jahrhundertwende waren von der Reihe mehr als 1/2 Million Exemplare verkauft. 127 Außerordentlich populär waren die Kalender aus dem Hause Parey. Mentzel und vfonj Lengerke 's landwirtschaftlicher Hülfs- und Schreib-Kalender hielt sich 136 Jahre, von 1848/49 bis 1984. Er wurde zum Taschenkalender der Deutschen LandwirtschaftsGesellschaft (DLG) und des Deutschen Bauernverbandes. Der Jahresabsatz erreichte 1900 60.000 Exemplare.128 Zweitstärkster Titel war der Deutsche Garten-Kalender mit einer Laufzeit von 1874 bis 1940. Verlag Ulmer Das Programm des 1868 in Stuttgart gegründeten Verlages von Eugen Ulmer wurde geprägt durch seine Zusammenarbeit mit landwirtschaftlichen Hochschulen und Forschungsanstalten - der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim, der Tierärztlichen Hochschule Stuttgart, der Lehr- und Forschungsanstalt fur Wein-, Obst- und Gartenbau in Geisenheim/Rhein - sowie den Bildungseinrichtungen für die Landwirtschaft. Die Programmgebiete erstreckten sich auf Botanik, Garten-, Obst- und Weinbau sowie Tier- und Kleintierzucht. Konsequent begleitete der Verlag die Entwicklung des landwirtschaftlichen Bildungswesens.129 Der 1882 mit einem Leitfaden fur den Unterricht an ländlichen Fortbildungsschulen begründete Programmbereich umfaßte Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 20 Bücher für den landwirtschaftlichen Unterricht. In der Bibliothek landwirtschaftlicher 125 126 127 128 129
Reprint in der Reihe »Klassiker der Technik« Düsseldorf: VDI-Verlag 1985. Parey 1848-1972, S. XV. Parey 1848-1972, S. XV. Parey 1848-1972, S. XV. »Seitdem es öffentliche Bildungseinrichtungen für die Landwirtschaft gibt, bietet der Verlag Lehrern und Schülern literarische Handreichung.« Ulmer und sein Verlag, S. 42. Vgl. insgesamt S. 42-45.
452
5 Programmbereiche Lehrbücher(später: praktischer Lehrbücher)fìir Ackerbau-, Obst- und Weinbauschulen, Fortbildungsschulen etc. erschien das Erfolgswerk Kurze Anleitung zur Obstkultur vori Eduard Lucas - einem bedeutenden Pomologen, der mit dem Pomologischen Institut in Reutlingen 1860 die erste gärtnerische Fachschule gründete. 1900 in zehnter Auflage, seit der 30., völlig neu bearbeiteten Auflage von 1981 unter dem Titel Lucas'Anleitung zum Obstbau auf dem Markt, wurde das Buch über drei Generationen hinweg immer wieder bearbeitet und dabei von ursprünglich weniger als 100 auf mehr als 400 Seiten in der 31. Auflage von 1992 erweitert. Die Literatur zur Tierzucht umfaßte alle Gebiete - Pferdezucht, Rinderzucht und Rinderhaltung, Milchwirtschaft, Schweinezucht und -mast, Futterwirtschaft, Tiergesundheitslehre und Tierchirurgie u.a.m. Von der Tierärztlichen Hochschule Stuttgart gewann Ulmer Leonhard Hoffmann, der aber weiterhin auch bei konkurrierenden Verlagen wie Schickhardt & Ebner in Stuttgart oder Hirschwald in Berlin veröffentlichte. Bei Ulmer gab er u.a. eine Allgemeine Tierzucht (1899) und einen Atlas der tierärztlichen Operationslehre in 5 Büchern (1908) heraus und übernahm die Bearbeitung von Th. Merk's Haustier-Heilkunde für Landwirte (10. Aufl. 1906). Als Erfolgstitel erwies sich auch Schäfer 's Lehrbuch der Milchwirtschaft (6. Aufl. 1899, nach dem ursprünglichen Verfasser Wilhelm Schäfer), das seine Zielgruppen im Untertitel aufführt: »ein Leitfaden für den Unterricht an milchwirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Lehranstalten, sowie zum Gebrauch für Landwirte, Molkereivorstände und sonstige Molkerei-Interessenten unter besonderer Berücksichtigung mittlerer und kleiner Betriebsverhältnisse«. Neben Lehrwerken und Ratgebern, die Geld einspielen mußten, standen innovative wissenschaftliche Werke, wie sie z.B. aus der Zusammenarbeit mit dem von Oskar von Kirchner 1881-1917 geleiteten Botanischen Institut der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim hervorgingen. Von dem Monumentalwerk Lebensgeschichte der Blütenpflanzen Mitteleuropas. Spezielle Ökologie der Blütenpflanzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz von Oskar Kirchner, Ernst Loew und Carl Schröter erschienen 62 Lieferungen von 1904 bis 1942. Wegen Vernichtung der Bestände im Krieg konnte das Projekt nicht zu Ende geführt werden. Durch wegweisende Titel ist der Verlag eng verbunden mit der Entwicklung des Pflanzenschutzes in Deutschland. Zu dem sechsteiligen Atlas der Krankheiten und Beschädigungen unserer landwirtschaftlichen Kulturpflanzen (1. Aufl. 1896-1902) gab Kirchner das umfassende Bestimmungswerk Die Krankheiten und Beschädigungen unserer landwirtschaftlichen Kulturpflanzen (637 Seiten 1890, 3. Aufl. 1923) heraus, das als »einzigartig in der gesamten Weltliteratur«130 galt. Gute Beziehungen unterhielt Richard Ulmer auch zu Lorenz Hiltner, dem ersten Direktor der Bayerischen Landesanstalt für Pflanzenbau und Pflanzenschutz, der mit der Anleitung Pflanzenschutz. Nach Monaten geordnet (1909, neu hrsg. 1926) zu einem neuen praxisorientierten Darstellungstypus fand. Ab 1891 verlegte Ulmer die von Paul Sorauer, Professor der Botanik an der Berliner Universität, unter Mitwirkung der Internationalen phytopathologischen Kommission gegründete Zeitschriftfür Pflanzenkrankheiten. Organ für die Gesamtinteressen des Pflanzenschutzes, »die erste deutsche Zeitschrift auf diesem Gebiet«.131
130 Ulmer und sein Verlag, S. 66. Vgl. insgesamt Bernhard Rademacher: Pflanzenschutz, S. 64-70.
5.4 Der wissenschaftliche Verlag
Mit der Reihe Des Landmanns Winterabende pflegte Ulmer die populäre Sachliteratur.132 Um den Landmann zu erreichen, scheute er vor populären Vermittlungsformen wie »Predigten« oder »Unterhaltungen« nicht zurück. Die 100-160 Seiten starken Bändchen handeln entweder einen klar umgrenzten Arbeitsbereich ab - Der Bienenhaushalt, Das Buch von der Ziege, Die Fischzucht, Feldpredigten über Bodenbearbeitung und Düngung, Unterhaltungen über Obstbau, Die Zucht und Pflege des landwirtschaftlichen Nutzgeflügels - , empfehlen sich als »Ratgeber« und »Auskunftsbuch« - Des Landwirts Bauberater, Des Landwirts Ratgeber in Geldsachen - oder antworten auf die im Titel gestellten Fragen: Wie baut der Landmann seine Ställe einfach und billig? Wie mehrfache Auflagen belegen, traf der Verlag damit auf einen Informationsbedarf der Klein- und Mittelbetriebe, welche die Landwirtschaft in Süddeutschland bis heute prägen. Geistes-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher
Verlag
Der Anteil des geisteswissenschaftlichen Verlags an der Buchproduktion kann nur grob geschätzt werden, da sich die zugehörigen Titel auf zahlreiche Rubriken verteilen und die Grenzen zwischen ihnen durchlässig sind. Statistische Angaben fur die sich erst entwickelnden, im Falle der Betriebswirtschaft noch im Entstehen begriffenen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Verlagszweige sind nicht möglich. Die Bereiche »Philosophie«, »Sprach- und Literaturwissenschaft« und »Geschichte« haben zusammen einen Anteil von 13 % bis 17 % an der Produktion (Tab. 4). Dabei sind jedoch weit mehr als die wissenschaftlichen Titel gezählt: Unter die Rubrik »Sprach- und Literaturwissenschaft« fallen auch Lehrwerke (außerhalb der Schulbücher) und Wörterbücher sowie die populären Literaturgeschichten, unter »Geschichte« die kulturgeschichtlichen Sachbücher, Biographien, Memoiren und Briefwechsel, unter »Philosophie« der zur Jahrhundertwende blühende theosophische Sektor (mit Geheimwissenschaften, Okkultismus u.ä.), den man heute mit >Esoterik< bezeichnet. Wissenschaftliche Bücher, Fach- und Sachbücher vermischen sich in der Statistik mit der Folge, daß z.B. in der Rubrik »Sprach- und Literaturwissenschaft« unter den führenden Firmen ein Wissenschaftsverlag wie Niemeyer neben Langenscheidt mit Sprachlehrwerken und Wörterbüchern oder Violet mit Ratgebern zu stehen kommt. Im Folgenden ist von Wissenschaftsverlagen im engeren Sinn die Rede. Für den geistes-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Verlag gelten grundsätzlich die gleichen Lebensbedingungen wie für den naturwissenschaftlichen Verlag; nur daß die strukturellen Vorgaben weicher und die Verlagsszene zersplitterter waren. Weicher erscheinen die disziplinären Vorgaben, weil die Geistes- oder Kulturwissenschaften traditionell mit dem kulturellen Leben eng verknüpft sind und somit auch die Publikationstätigkeit nicht in gleichem Maße wie in der Mathematik, den Natur- und Technikwissenschaften auf das engere Fachpublikum begrenzt ist. Auf andere Weise gilt dies auch für die Sozial-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften, wo über Probleme von aktuellem gesellschaftlichem oder politischem Interesse publiziert wurde. Wie übergänglich der Wissenschafts- und Sachbuchbereich in diesen Feldern war, belegen Verlagsprogramme wie
131 Ulmer und sein Verlag, S. 68. Heutiger Titel: Zeitschrift für Pflanzenkrankheiten und Pflanzenschutz = Journal o f plant diseases and protection. 132 Dazu vgl. das Kap. 5.7.
454
5 Programmbereiche die von J. J. Weber in Leipzig: Der auf populäre illustrierte Schriften spezialisierte Verlag der Illustrierten Zeitung bewarb Karl Biedermanns Deutschland im Achtzehnten Jahrhundert (4 Bde. u. Register, 1867-1880), ein noch heute geachtetes Werk, in einem Zuge mit kulturgeschichtlichen Darstellungen von Johann Jakob Honegger (Allgemeine Kulturgeschichte, 1882-1886 u.a.) und den Entscheidungsschlachten der Weltgeschichtevon Christian F. Maurer (1882).133 Wie in den Natur- und Technikwissenschaften so lautete auch im land- und forstwirtschaftlichen Verlag die Devise der Zeit: Konzentration und Spezialisierung in der Programmpolitik, Zusammenfuhrung von Fachgebieten durch Ankäufe, Organisation der Wissensproduktion in Handbüchern und Reihen, Institutionalisierung der Fachkommunikation in Zeitschriften. Während modern geführte Verlage wie Duncker & Humblot unter der Leitung von Carl Geibel oder Neugründungen wie Meiner,134 Niemeyer, Poeschel oder Trübner die Spezialisierung vorantrieben, gab es weiterhin große, besonders aber unzählige mittlere und kleine Firmen, die ein gemischtes, mehr oder weniger universales Programm pflegten. Tabelle 4: Geisteswissenschaftliche Produktion Fachgebiet
1880 Titel
% % Titel Umfang
1900 Titel % % % % Umfang Ladenpreis Titel Ladenpreis
Philosophie
188
1,3
1,3
1,3
Sprach- und Literaturwissenschaft
953
6,6
7,5
Geschichte
725
5,0
7,2
405
2,0
7,5
1,9 1.325 6,4
6,8
3,1 6,0
8,7
963 4,6
6,2
6,4
Legende: Als »Sprach- und Literaturwissenschaft« wird 1900 zusammengefaßt, was 1880 noch aufgeführt wird als »Altclassische und orientalische Sprachen. Alterthumswissenschaft und Mythologie«, »Neuere Sprachen (mit Einschluß der altdeutschen Literatur)«. Philosophie schließt Theosophie ein; Geschichte umfaßt auch Biographien, Memoiren, Briefwechsel sowie historische Karten. (Quelle: Hinrichs' Vierteljahreskatalog. Vgl. das Kapitel »Statistik und Topographie des Verlagswesens« im folgenden Teilband.
Der aus der Weidmannschen Buchhandlung hervorgegangene Verlag von Salomon Hirzel bietet hierfür ein gutes Beispiel. Hier erschien das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm, über das der Verleger von der ersten Lieferung 1852 an in »aufopfernder Anhänglichkeit« (Jacob Grimm) wachte. 135 Zu den Standardwerken der sich ausbildenden deut133 So in dem Prospekt: Empfehlenswerte Werke. Vgl. auch die überaus populären Darstellungen der Kultur von Weimar durch Wilhelm Bode Kap. 5.1. Von der professionellen Historikerzunft wurden die kulturgeschichtlichen Interessen des gebildeten Lesepublikums nicht zureichend bedient. 134 Felix Meiner gründete seinen Verlag 1911 mit den Hauptgebieten Philosophie, Rechts-, Staats- und später Wirtschaftswissenschaften. Hierfür erwarb er die philosophische Abteilung des Fritz Eckardt Verlages und mit den philosophischen Titeln der Dürr'schen Buchhandlung auch die 1868 gegründete »Philosophische Bibliothek«. Vgl. die detaillierte Studie von Bast: Philosophische Bibliothek, hier S.68f. 135 Aus Jacob Grimms Vorrede zum ersten Band geht hervor, daß Salomon Hirzel jeden Bogen vor dem Abdruck durchlas. Hundert Jahre S. Hirzel Verlag, S.6. Die wissenschaftliche Leitung des »Deutschen Wörterbuchs« übernahm 1908 die Berliner Akademie der Wissenschaften.
455
5.4 D e r w i s s e n s c h a f t l i c h e V e r l a g
sehen Philologie gehörte das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von Georg Friedrich Benecke (in Lieferungen 1847-1867) und das dazu als Index und Supplement gedachte Mittelhochdeutsche Handwörterbuch von Matthias Lexer (in Lieferungen 1869-1878; 15. Aufl. 1920) sowie Des Minnesangs Frühling von Karl Lachmann und Moritz Haupt ( 1857 ff.), die gültige, weil immer neubearbeitete Edition des Minnesangs. Die beiden letzten Bücher zählten zum Rüstzeug jedes Germanisten. An das philologische Programm ß. 3. ^tourer. schlossen große historische Reihen an: die Scriptores rerum Prussicarum (5 Bde., €ntfcfyei0ungsfcfylad?ten bit 1861-1874; Nachdruck 1965), die »Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit ΠΜί^φίφΙο. bis zum Untergange der Ordensherrschaft«, die von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften edierten Chroniken der deutschen Städte jßrfie braίφ. 7 jfttnrl· in lllg. Ciiitr. 8 ïfiirL vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (32 Bde., 1862-1917)136 und die von Karl Biedermann herausgegebene Staatengeschichte Wad) einer längeren (£i nleilung, bic fid) über bit iillefte Öe(d)id)le ber ortentalifdjru der neuesten Zeit (30 Bde., Erstauflagen ¡Reidje ergefjt (beren ©djladjten (¡φ unferer Delailfenntni« entjieljen), jd)flbert ba8 flattlidje ©erf folgenbe jrociunbaraanjig (Snt(rf)eibung8fnmj>fe : 1858-1913) mit der erfolgreichen DeutDie edjladjt bei platini (479 ». 5&r.) Ht&eii« 9?ieberlnge bei ©yrofii« (413 ». Sljr.) Die Sköniglichen< Kaufleuten seiner Zeit« (Schmoller, S. 10). Der Nachruf liegt dem Firmenportrait in Kahn: Münchens Großindustrie, S. 274277, zugrunde. 139 Schmoller: Geibel, S. 10.
5.4 Der wissenschaftliche Verlag Verhältnisses.«140 Mit seinen Sämmtlichen Werken in zahlreichen Auflagen und vielen Einzelausgaben wurde Ranke zum vielleicht wichtigsten Autor des Verlages. Die Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verlegte die Jahrbücher der deutschen Geschichte (seit 1866) bei Duncker & Humblot. Der gesamten Historikerzunft brachte sich der Verlag mit den Berichten über die »Versammlung deutscher Historiker«141 immer neu ins Gedächtnis. Innerhalb des breitgestreuten geschichtswissenschaftlichen Programms zeichneten sich Schwerpunkte in der Geschichte Preußens und der Hanse ab. Die Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte (1888 ff., bis 1914 26 Bde. in je 2 Heften von mehr als 300 Seiten),142 ein hochangesehener Publikationsort, wurden von Reinhold Koser und später von Otto Hintze betreut, einem Bahnbrecher in der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte und Vordenker einer Strukturgeschichte. Der Verein fiir Hansische Geschichte publizierte die Hansischen Geschichtsblätter ( 1872-1912) und übergab dem Verlag die Hansischen Geschichtsquellenm sowie die von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften übernommenen Hanserecesse (ab 1870), d.h. die Edition der Akten der Hansetage ab 1256. Von monographischen historischen Werken seien ζ. B. das Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte von Ernst Bernheim ( 1889,5. u. 6. Aufl. 1908), die Geschichte des Alterthums von Max Duncker (9 Bde., 1878-1886, Gesamtpreis M 74,-) und die Geschichte der deutschen Kaiserzeit von Wilhelm von Giesebrecht (6 starke Bde., 1881-1895, Gesamtpreis M 100,40) erwähnt; als Dauererfolg bewährten sich die Geschichte Bismarcks von Max Lenz (4. Aufl. 1913, Lnw., M 9,60) und Kaiser Wilhelm I. von Erich Mareks (6. u. 7. Aufl. 1910, Lnw., M 7,60). In der »Volkswirtschaftslehre (Allgemeine Nationalökonomie, Wirtschaftspolitik, Wirtschaftsgeschichte und Finanzwissenschaft)« 144 bauten Duncker & Humblot gezielt ein zukunftsweisendes Programm auf. Geibel, der »lebendigen Anteil an den großen schwebenden sozialen Tagesfragen« nahm und »ein inneres Verhältnis zu den Problemen der sozialen Reform« hatte, war Teilnehmer der Eisenacher Versammlung von 1872, die zur Gründung des Vereins für Sozialpolitik führte, und hatte zeitweise dessen Schriftfuhreramt inne.145 Die Stellung des hauptsächlich aus Gelehrten und Beamten bestehenden
140 Schmoller: Geibel, S. 6. Vgl. Ranke: Aus den Briefen. »Man hat bei der Lektüre des Briefwechsels das Gefühl, daß Ranke während der siebziger und achtziger Jahre fast nur im Dienste der Verlagsbuchhandlung tätig gewesen sei, oft an mehreren Bänden zugleich arbeitend, daß die Buchhandlung unaufhörlich nach Manuskript und fertiger Korrektur verlangte, daß eine Auflage der Weltgeschichte und der Gesammelten Werke der andern auf dem Fuße folgte.« Schmoller: Geibel, S.6. 141 Vgl. Verlagsverzeichnis 1866-1903, S. 12; Verlagsverzeichnis 1903-1914, S. 92. Duncker & Humblot erhielten die Berichte erst ab der zweiten Versammlung 1894 in Verlag; der Bericht über die erste Versammlung erschien bei der Rieger'schen Universitätsbuchhandlung in München. 142 Genaue bibliographische Angaben im Verlagsverzeichnis 1866-1903, S. 46-51; Verlagsverzeichnis 1903-1914, S. 82-86. 143 Band I-VII wurden 1906 übernommen aus dem Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle. Neue Folge Bd. I-II aus dem Verlag von Paß & Gartleb in Berlin. Verlagsverzeichnis 1903-1914, S. 90. 144 So die Bezeichnung im Verlagsverzeichnis 1903-1914, S. 28-79. 145 Schmoller: Geibel, S. 8.
457
458
5
Programmbereiche
Vereins war prekär: »Zwischen den alten Richtungen der Wissenschaft und dem neuen sozialdemokratischen Radikalismus stand er, von beiden Seiten heftig angegriffen.«146 In die Öffentlichkeit wirkten vor allem die von Duncker & Humblot verlegten Schriften des Vereinsfür Sozialpolitik (ab 1873,148 Bde. bis 1914), in denen aktuelle sozial-und wirtschaftspolitische Fragen von engagierten Wissenschaftlern aufgearbeitet wurden: »Die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre 1900 ff.« (Bd. 105-112), »Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte« (Bd. 117-123), »Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie« (Bd. 133-135), »Untersuchungen über Preisbildung« (Bd. 139-142, 145) usw. Als Zeitschriften wurden das Sozialpolitische Centralblatt ( 1892-1895) und die Blätterfür soziale Praxis in Gemeinde, Vereinen und Privatleben ( 1893 -1895) übernommen und vereinigt weitergeführt als Soziale Praxis. Centralblatt für Sozialpolitik. Zugleich Organ des Verbandes deutscher Gewerbegerichte,147 Neben Gustav Schmoller sind an heute noch bekannten Autoren Georg Simmel (Philosophie des Geldes, 1900), Joseph Schumpeter und Werner Sombart (Der moderne Kapitalismus, 2 Bde., 1902; Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, 1913) zu nennen. Ein »erheblicher Teil« des volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Verlags »war eine Folge der persönlichen Verbindungen, die sich aus dem Verein für Sozialpolitik ergaben, oder die sich als sachliche Ergänzungen an das dort Erstrebte anknüpften.«148 Poeschel Auf dem Gebiet der Sozial-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften hatten Duncker & Humblot nur wenige Konkurrenten, wie Deichert in Erlangen und Leipzig, J. C. B. Mohr in Tübingen - dem Verlag Max Webers149 - und Gustav Fischer in Jena (Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 6 Bde., 1890-1894, mit Registerband und zwei Supplementbänden, 1895-1897; 4. Aufl. 1923). Den Weg zu einem betriebswirtschaftlichen Verlag haben Duncker & Humblot und seine Konkurrenten nicht eingeschlagen. Der Drucker Carl Ernst Poeschel hingegen nutzte die Handelshochschulbewegung (Gründung der Handelshochschule Leipzig 1898) zum Aufbau eines Verlages kaufmännischer Literatur,150 indem er den handelswissenschaftlichen Teil des Stuttgarter Verlages Strecker & Schröder mit 22 Werken 1902 erwarb. Mit dem Lehrbuch des Geld-, Bank- und Börsenwesens von Georg Obst, bei Strecker & Schröder 1900 erstmals erschienen, wurde die
146 Schmoller: Geibel, S. 8. 147 »Die >Blätter für soziale Praxis< erschienen vom I. Jahrgang No. 1-26 bei Baer & Co. in Frankfurt a.M., Nr. 27-117 bei Siemenroth & Worms in Berlin. Von Carl Heymann's Verlag, Berlin, im April 1895 übernommen, verschmolz diese Zeitschrift mit dem Sozialpolitischen Centralblatt< zur Sozialen PraxisKluge< zog sprachgeschichtliche Titel nach sich, doch der Aufbau einer Gruppe etymologischer Wörterbücher kam nicht zustande. Allein stand auch das 1891 gegründete Jahrbuch Minerva, ein zentrales, später zu mehreren Reihen ausgebautes Informationsmittel der gelehrten Welt. Neben dem streng wissenschaftlichen Verlag pflegte Trübner die Literatur der Region. So gab die Gesellschaft für Elsässische Literatur bei ihm ihre Jahresgaben (z.B. 1913 das Faksimile von Sebastian Brandts Narrenschiff von 1494) und die Einzelschriften zur elsässischen Geistes- und Kulturgeschichte heraus. Als Karl Trübner 1907 starb, ging der Verlag an den Teilhaber Walter de Gruyter, der durch diesen Kauf zu einem modernen philologischen Programm kam. Dissertationen und Programme Einen wissenschaftlichen Sondermarkt bildete das akademische Kleinschrifttum aus Dissertationen (oft nur Teildrucke) und Programmen. Bei den Programmen handelte es sich überwiegend um Schulschriften, die traditionell eine wissenschaftliche Abhandlung aus dem Lehrkörper beinhalteten. Die Zahl der gedruckten Dissertationen stieg in dem Maße an, als die Promotion mit dem Druckzwang, d.h. der Pflicht zur Ablieferung einer bestimmten Anzahl von Exemplaren der Dissertation, verbunden wurde. 173 Auf diesen Markt spezialisierte sich die 1879 gegründete Buchhandlung von Gustav Fock in Leipzig. Seit 1884 unterhielt sie eine Zentralstelle für Dissertationen und Programme, deren Bestand auf 1,5 Millionen Stück anwuchs. Wurde dieser Bestand durch Lagerkataloge erschlossen, so orientierte der Bibliographische Monatsbericht über Neuzugänge. »Die ersten 25 Jahrgänge von 1889-1914 brachten eine Übersicht über etwa 117.000 Abhandlungen.« 174 Die einzelnen Broschüren waren schmal, ihre Zahl beträchtlich (vgl. Tab. 5). Gezählt wurden: 175 1889/90: 3.345,1909/10: 5.240 Titel; die Spitze lag 1910/11 bei 6.560 Titeln, fast der doppelten Anzahl von 1889/90.
171 Lüdtke, S. 73. 172 Lüdtke, S. 74. 173 Vgl. Schnieders: Druckzwang. Sowie die Zusammenstellung der Bestimmungen durch Baumgart: Grundsätze und Bedingungen. Zu den Problemen des Dissertationswesens s. Geiger: Mißstände. 174 Wissenschaft und Antiquariat, S. 386. Die Darstellung folgt der Abhandlung von Friedrich Schulze: Buchhandlung Gustav Fock, S. 383-391. 175 Die Angaben folgen den beiden Zusammenstellungen im »Börsenblatt« (1903) 120, S. 4236 und (1912) 38, S. 2005. Zugrunde liegen die »Bibliographischen Monatsberichte«.
463
464
5
Programmbereiche
Tabelle S.Dissertationen und Programme Fach
1889/90
1899/1900
1909/10
Klassische Philologie u. Archäologie
416
203
245
Neuere Philologie. Neue Sprachen u. Literaturen
304
244
406
Oriental. Sprachen u. Sprachwissenschaft/Linguistik
47
37
33
Theologie
39
36
67
Philosophie. Psychologie
85
76
136
81
159
177
180
127
244
Pädagogik Geschichte u. Hilfswissenschaften Geographie Rechts- u. Staatswissenschaften Medizin
18
29
49
212
458
1.231
1.200
1.104
1.353
Naturwissenschaften (Zoologie, Botanik, Geologie)
147
176
254
Exakte Wissenschaft (Mathematik, Physik, Astronomie, Meteorologie)
238
209
309
Chemie
332
403
488
12
24
61
-
76
9
13
Bildende Künste Technik u. Handelswissenschaften Musik
-
3
Land- und Forstwirtschaft
13
26
53
Verschiedenes (Bibliothekswissenschaft, Vorträge)
18
209
45
3.345
3.529
5.240
Gesamt
Quelle: Börsenblatt (1903) 120, S. 4236 und (1912) 38, S. 2005. Zusammengestellt nach den »Bibliographischen Monatsberichten« der Buchhandlung Gustav Fock in Leipzig.
Gliedert man nach Disziplinen, so fallt die überragende Rolle von drei Fächern auf: Medizin, Jura und Chemie, in denen der Doktortitel gesellschaftliche Notwendigkeit oder Voraussetzung einer Karriere war. Noch heute schließt ein Medizinstudent in der Regel mit dem Doktorexamen ab. Auf Medizin, Jura und Chemie entfielen im Jahrzehnt von 1901/02 bis 1910/11 rund 28 %, 21 % und 11 % dieses akademischen Schrifttums. Von größerer Bedeutung waren weiterhin die Neuere Philologie (7 %) und die Klassische Philologie (5 %) sowie die exakten Wissenschaften - Mathematik, Physik, Astronomie und Meteorologie - und die als Naturwissenschaften zusammengefaßten Fächer Zoologie, Botanik und Geologie; die beiden Fächergruppen stellten je etwa 6 % dieses akademischen Kleinschrifttums. »Bücher-Streit«: Die Auseinandersetzung um Rabatte zwischen Wissenschaft, Bibliotheken und Buchhandel176 Die unterschiedlichen Rabattbestimmungen der Kreis- und Ortsvereine, ein Relikt aus der Zeit vor Abschluß der Krönerschen Reformen, 177 wurden durch die ab 1. Januar 1903 gül-
5.4 Der wissenschaftliche Verlag
tige neue Verkaufsordnung beseitigt. Waren bislang Rabatte von 5 bis 10 % üblich gewesen, so war fortan nur ein Skonto von 2 % an Privatkunden und von 5 % an Behörden, öffentliche Bibliotheken und Institutsbibliotheken gestattet. Nach einer Einschätzung des Vorstehers des Börsenvereins, Albert Brockhaus, belief sich ein Kundenrabatt von 5 % (bei 4.000 Sortimentsbuchhandlungen mit einem durchschnittlichen Umsatz von M 30.000) auf M 6 Million. 178 Um einen Betrag dieser Größenordnung, der dem Sortiment zugute kommen sollte, ging es in dem nun aufbrechenden Konflikt. Der Anti-Rabatt-Bewegung des organisierten Buchhandels gelang es, »die Reduktion des allgemeinen Kundenrabatts auf 2 % - abgesehen von Berlin und Leipzig - überall durchzusetzen«,179 nur bei den Bibliothekaren und Wissenschaftlern formierte sich Widerstand. Der Verein deutscher Bibliothekare forderte die Beibehaltung bisheriger Rabatte und drohte dem Sortiment mit dem »direkten Bezug von den Verlegern wie einer zu diesem Zwecke zu gründenden Einkaufsstelle«.180 Der Widerstand wurde mit der Entwertung der Anschaffungsmittel durch die Preiserhöhungen begründet. Nach einer fur die Universitätsbibliothek Leipzig (Jahresetat M 50.000) angestellten Berechnung hätte eine Herabsetzung des Rabatts von 10 % auf 5 % den Vermehrungsetat um 2,28 % gesenkt.181 Neben den Zentralbibiiotheken der Hochschulen waren die Studien- und Fachbibliotheken der Institute betroffen, die im Zuge des Ausbaus der Hochschulen zum Großbetrieb und zu einer »durch Seminare ergänzten Arbeitsuniversität«182 zunehmend an Bedeutung gewannen. So vermehrten sich allein in Preußen in der Ära Althoffs die Universitätsinstitute (ohne Kliniken) »von 320 im Jahre 1882 auf 412 im Jahre 1894 und ca. 476 im Jahr 1907«.183 Eine Frage der subjektiven Einschätzung blieb es, inwieweit sich der einzelne Hochschullehrer betroffen fühlte. Der Altphilologe Georg Wissowa,184 der im Jahresdurchschnitt M 576,- für Bücher ausgab, errechnete für sich einen Mehraufwand von M 24,48, der sich aus der Kürzung des Rabatts von 10 % auf 2 % ergab. Bezogen auf seine gesamten Bücheranschaffungen waren dies 4,25 %, auf den rabattfahigen Betrag (M 306,-) stolze 8 %. Vielen seiner Kollegen war dieser Preis des Kampfes wert, nicht zuletzt mit Blick auf die Studenten. Auf der Rektorenkonferenz deutscher Hochschulen 1903 in Eisenach wurde auf Initiative des Rektors der Universität Leipzig, Adolf Wach, der Akademische Schutzverein gegründet. Als Ziel setzte sich der Verein, »im Interesse der Wissenschaft, ihrer Arbeiter und des Publikums auf den Verlag, Vertrieb und Absatz der wissenschaftlichen Literatur ein(zu)wirken, um der Verteuerung der Schriftwerke zu steuern, den Absatz zu fordern und die Autoren gegen die wirtschaftliche Übermacht beim Abschluß der Verlagsverträge zu schützen«.185 Im Auftrag des Akademischen Schutzvereins verfaßte der 176 177 178 179 180 181 182
Vgl. dazu auch Jäger: Buchhandel und Wissenschaft, S. 13-17. Vgl. das Kapitel über die Geschichte des Börsenvereins im folgenden Teilband. Bücher: Der deutsche Buchhandel und die Wissenschaft, S. 107. Vertrauliches Rundschreiben, S. 3. Vertrauliches Rundschreiben, S. 6. Vertrauliches Rundschreiben, S. 4. Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik, S. 49; Bücher: Universitätsbibliothek und Institutsbibliotheken. 183 Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik, S. 50. Vgl. Krueger: Beziehungen. 184 Wissowa: Buchhandel und Wissenschaft, S. 224 f. 185 Satzungen, § 1. Abdruck bei Bücher: Der deutsche Buchhandel, S. 311.
465
466
5
Programmbereiche
Volkswirtschaftler Karl Bücher eine Denkschrift, die dem Börsenverein Kartellbildung vorwarf und zur Durchsetzung der Prinzipien freier Marktwirtschaft auch im Buchhandel aufrief. Bücher zielte auf eine genossenschaftliche Organisation des Vertriebs wissenschaftlicher Literatur, die zum Zweck der Verbilligung des Bezugs das reguläre Sortiment umgehen sollte. Da mit dieser Schrift die Organisation des Buchhandels, wie sie sich im Zuge der Krönerschen Reformen stabilisiert hatte, von Seiten der Wissenschaft in Frage gestellt wurde, entwickelte sich eine grundsätzliche Diskussion aller beteiligten Kreise, 186 die als »Bücher-Streit« bekannt wurde. Dem Akademischen Schutzverein gelang es, den Buchhandel in die vom Reichsamt des Innern angestellten Erhebungen über das Kartellwesen hineinzuziehen. Die »Kontradiktorischen Verhandlungen« (1904) scheiterten, gaben aber immerhin Anlaß zur Klärung des vom Börsenverein bestrittenen Kartellcharakters. 187 Eine im Gefolge der Untersuchung abgehaltene Kommissionssitzung zwischen dem Akademischen Schutzverein und dem Börsenverein platzte durch Auszug der Gelehrten. Karl Bücher forderte dort »im Namen aller deutschen Gelehrten neben 10 v.H. Rabatt für Bibliotheken einen nach der Kaufsumme eines Jahres gestaffelten Kundenrabatt, den Vertrieb billiger Volksliteratur durch Konsumvereine, den billigeren Bezug von Unterrichtswerken für Dozenten, aber auch die Abschaffung von Rabattbeschränkungen für gemeinnützige Fach- und Bildungsvereine, die Postzustellung von Zeitschriften zum Buchhändlerpreis sowie eine generelle Buch verbilligung für Akademiker« 188 - Forderungen, denen sich die Buchhändler verweigerten. Lediglich zwischen Bibliotheken und Buchhandel bahnte sich eine Verständigung an, die zu einer für die anderen Länder beispielhaften Regelung in Preußen führte. Die von der Abgeordnetenversammlung der Kreis- und Ortsvereine 1906 beschlossenen Rabatte für Bibliotheken von 5 % (Vermehrungsetat unter M 10.000) bzw. 7,5 % (Vermehrungsetat von mindestens M 10.000) wurde von den preußischen Behörden anerkannt. 189 Damit schieden die Bibliotheken aus der Front gegen den Buchhandel aus. Trotz der Abspaltung der Bibliothekare gelang dem Akademischen Schutzverein rasch der organisierte Aufbau (1.150 Mitglieder 1904, Korrespondenzblatt 1906-1914 und 1919-1920). Der genossenschaftliche Vertrieb wurde durch Bücherämter an Universitäten realisiert, die teilweise gemeinsam mit der Freien Studentenschaft bzw. »Wildenschaft« betrieben wurden. Die Konsumentengenossenschaft beruhte auf der Zusammenarbeit der Autoren wissenschaftlicher Literatur mit einem speziellen Abnehmerkreis, den Studierenden, und war infolgedessen besonders für Lehrbücher und Standardwerke inter-
186 Prager: »Ausschreitungen des Buchhandels«; Theorie und Praxis; Trübner: Wissenschaft und Buchhandel; Koehler: Das deutsche Buchgewerbe. 187 Koehler: Das deutsche Buchgewerbe, S. 131 ff.; Liefmann: Der deutsche Buchhandel in der Kartellenquete, S. 204-206. 188 Teuteberg: »Karl-Bücher-Streit«, S. 434 f.; Verhandlungen zwischen dem Akademischen Schutzverein ..., S. 16-20. 189 Börsenblatt (1906) 160, S. 6326 f. 190 Börsenblatt (1905) 243, S. 9385. Bei der Klage ging es um denVerkauf von Büchern dieser Autoren zum Buchhändler-Nettopreis, u.a. auch der Bände von »Ostwalds Klassikern der exakten Naturwissenschaften« (s.o.). Dunsch: Ein Fundament zum Gebäude der Wissenschaften, S. 77 f.; Hapke: Zeitschrift für Physikalische Chemie, S. 43 f. 191 Börsenblatt (1920) 165, S. 849. 192 Börsenblatt (1922) 105, S. 642-645.
5.4 Der w i s s e n s c h a f t l i c h e Verlag
essant. Gegenüber den Verlagen stützten sich die Autoren auf § 26 des Gesetzes über das Verlagsrecht (VRG) von 1901, das die Lieferung an den Verfasser mit Buchhändlerrabatt vorsah. In einer Musterklage gegen die Verlagsfirma Wilhelm Engelmann (Leipzig) erreichten die Leipziger Professoren Karl Binding (Jurist), Wilhelm Wundt (Philosoph) und Wilhelm Ostwald (Chemiker) als Kläger die dem Akademischen Schutzverein genehme Auslegung des § 26 VRG durch das Reichsgericht: Alle Werke müssen den Autoren »in beliebiger Menge auch zum Weitervertrieb, so lange dieser nicht gewerbsmäßig ist, überlassen werden«. 190 Damit war die Praxis der Bücherämter, die Autorenrabatte weitergaben, höchstrichterlich legalisiert. Erst der Druck der Wirtschaftskrise und der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, der zum »Notstand der deutschen Wissenschaft« und zur Verarmung breiter akademischer Schichten führte, erzwang eine Lösung des Konflikts. Mangelnde Kaufkraft ließ Studenten wie auch Dozenten auf alternative Wege der Bücherbeschaffung sinnen; der auf § 26 VRG gestützte Büchervertrieb wurde durch Austausch der so beschafften Titel zwischen Universitäten ausgebaut. 1920 forderte der Verband Deutscher Hochschulen und die Deutsche Studentenschaft in einem gemeinsamen Schreiben den Börsenverein ultimativ zum »Abbau der gegenwärtigen Sortimentspreise für wissenschaftliche Bücher« auf und drohte mit organisierter Selbsthilfe. Die Akademiker schienen entschlossen, »eine Konsumgenossenschaft der Käufer wissenschaftlicher Bücher zu gründen, die zunächst in allen deutschen Hochschulstädten, späterhin auch an anderen Plätzen mit breitem akademischen Publikum ihre Verkaufsstellen eröffnen wird«. 191 Beigelegt wurde der Konflikt durch die - bis heute in modifizierter Form geltenden »Vertragsnormen und Auslegungsgrundsätze für Verlagsverträge über wissenschaftliche Werke«, 192 abgeschlossen vom Akademischen Schutzverein und dem Verband der Deutschen Hochschulen auf der einen, dem Börsenverein und dem Deutschen Verlegerverein auf der anderen Seite. In bezug auf § 26 VRG sehen die Regelungen die »Abgabe des Werkes mit 25 % unter dem Ladenpreis durch das wissenschaftliche Sortiment an die Hörer des Verfassers« vor und folgen damit einem Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Verleger und einem Beschluß des Zweiten Deutschen Hochschultages von 1921. Voraussetzung für diesen Kompromiß waren die Spezialisierung und der Ausbau des wissenschaftlichen Buchhandels auf Seiten der Verleger sowie der Sortimenter, die »Sonderabkommen« über die Teilung des Rabatts schlossen. Dadurch konnten die Rechte der Autoren aus § 26 VRG »ohne Einschränkung« anerkannt und zugleich der Vertrieb durch das wissenschaftliche Sortiment gesichert werden - was vorher eine Quadratur des Kreises zu sein schien.
Literatur Nachschlagewerke Deutsches Biographisches Archiv. Mikrofiche-Edition. Hrsg. von Bernhard Fabian. München u.a.: Saur 1982. Deutsches Biographisches Archiv. Neue Folge bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Mikrofiche-Edition. Hrsg. von Willi Gorzny. München u.a.: Saur 1989. Gesammt- Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels und des mit ihm im direkten Verkehr stehenden Auslandes. Hrsg. von Adolph Russell. Mikrofiche-Edition. München u.a.: Saur 1986.
467
5
468
Zeitgenössische
Programmbereiche
Fachliteratur
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5.4 Der w i s s e n s c h a f t l i c h e Verlag
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Forschungsliteratur BACHLEITNER, Norbert/EYBL, Franz M./FISCHER, Ernst: Geschichte des Buchhandels in Österreich. (Geschichte des Buchhandels, VI), Wiesbaden: Harrassowitz 2000. BAST, Rainer Α.: Die Philosophische Bibliothek. Geschichte und Bibliographie einer philosophischen Textreihe seit 1868. Hamburg: Meiner 1991. BAUMGART, Max: Grundsätze und Bedingungen der Ertheilung der Doctorwürde bei allen Facultäten der Universitäten des deutschen Reiches ... 3. durchges. u. verm. Aufl. Berlin 1888. BECK, Heinrich: Der wissenschaftliche Verleger. In: Börsenblatt (1965) 17, S. 462-469. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825-2000. Ein geschichtlicher Aufriss. Hrsg. von Stephan Füssel, Georg Jäger u. Hermann Staub in Verbindung mit Monika Estermann. Frankfurt a.M.: Buchhändler-Vereinigung 2000. BROCKE, Bernhard vom: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882-1907: das »System Althoff«. In: Baumgart, Peter (Hrsg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. (Preußen in der Geschichte 1 ), Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 9-118. CAHAN, David: An Institute for an Empire. The Physikalisch-Technische Reichsanstalt 1871-1918. Cambridge: Cambridge UP 1989. CAHN, Michael: Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation. Wiesbaden: Reichert 1991. DAUM, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914. München: Oldenbourg 1998.
DUNSCH, Lothar: Ein Fundament zum Gebäude der Wissenschaften. Einhundert Jahre Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften ( 1889-1989). Mit einer Bibliographie der Reihe zus.gest. von Hella Müller. (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Sonderbd.). Leipzig: Akad. Verlagsgesellschaft Geest & Portig 1989. Einhundert Jahre Beilsteins Handbuch der organischen Chemie. Hrsg. vom Beilstein-Institut für Literatur der Organischen Chemie. Frankfurt a.M. 1981. 100 Jahre Strasburgers Lehrbuch der Botanik für Hochschulen 1894-1994. Redaktion: Ulrich G. Moltmann. Stuttgart u.a.: G. Fischer 1994. FISCHER, Ernst Peter: Wissenschaft für den Markt. Die Geschichte des forschenden Unternehmens Boehringer Mannheim. München, Zürich: Piper 1991. GOLDFRIEDRICH, Johann: Zur Geschichte des wissenschaftlichen Verlags. Die Jubiläumsschriften der letzten Jahre. In: Minerva-Zeitschrift 3 (1927), S. 27-37. GRIESER, Thorsten: Der »Bücher-Streit« des deutschen Buchhandels im Jahre 1903. In: Buchhandelsgeschichte (1996) 1, S. Β 17-B 28.
469
5
470
Programmbereiche
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SARKOWSKI, Heinz: Die Entwicklung ingenieurwissenschaftlicher Verlagsprogramme im 19. Jahrhundert. In: Buchhandelsgeschichte (1988) 1, S. Β 1-B 8. SCHIERA, Pierangelo: Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.
5.4 Der w i s s e n s c h a f t l i c h e Verlag
SCHIMANK, Hans: Physik und Chemie im 19. Jahrhundert. Ihre Abkunft, ihre Hilfsmittel und ihre Wandlungen. In: Technikgeschichte 32 (1965) 2, S. 103-130. SCHNIEDERS, Klaus: Druckzwang für Dissertationen und Dissertationentausch. Eine Erörterung von Grundfragen anhand der historischen Entwicklung in Deutschland und der gegenwärtigen Situation im Land Berlin. (Arbeiten aus dem Bibliothekar-Lehrinstitut des Landes NordrheinWestfalen, 40), Köln: Greven 1972. Staatliche Forschung in Deutschland 1870-1980. Von Peter Lundgreen, Bernd Horn, Wolfgang Krohn u.a. Frankfurt a.M., New York: Campus 1986. STICHWEH, Rudolf: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. TEUTEBERG, Hans-Jürgen: Der »Karl Bücher-Streit«. Ein Beitrag zum Verhältnis von Wissenschaft und Buchhandel um 1900. In: Leidinger, Paul/Metzler, Dieter (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsbewußtsein. Festschrift für Karl-Ernst Jeismann. Münster 1990, S. 430-442. TITZE, Hartmut: Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820-1944. (Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte. 1,1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987. TURNER, R. Steven: Universitäten. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 3: 18001870. Hrsg. von Karl-Ernst Jeismann u. Peter Lundgreen. München: Beck 1987, S. 221-249. VOLKMANN, Wilhelm: Grundfragen des Vereinsbuchhandels. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1921. Staatswiss. Diss. Freiburg i.Br. WAGNER, Siegfried: Die Entwicklung der exakten Naturwissenschaften von der Antike bis zur Gegenwart. Eine Quantifizierung ihrer Geschichte. (Science Studies Report 27), Bielefeld: Kleine Verlag 1985. WußiNG, Hans (Hrsg.): Geschichte der Naturwissenschaften. 2. Aufl. Köln: Aulis-Verlag Deubner 1987 [Die Zeit der großen Industrie, S. 361-428], 200 Jahre Annalen der Physik. Beiträge von André-Marie Ampère u.a. Leipzig u.a.: Barth 1990.
Firmengeschichten
und Firmenschriften
BAST, Reiner Α.: Die Buchhändler-Familie Meiner. Ein Beitrag zur Buchhandelsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Köln: Dinter 1997. Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages. Hrsg. von Robert Harsch-Niemeyer. Tübingen: Niemeyer 1995. BUCHGE, Wilhelm (Bearb.): Der Springer-Verlag. Katalog seiner Zeitschriften 1843-1992. Berlin u.a.: Springer 1994. 150 Jahre Ferdinand Enke Verlag. Ein Abriß der Verlagsgeschichte. Stuttgart: Enke 1987. Wilhelm Engelmann. In: Börsenblatt (1879) 105, S. 1814-1817. 50 Jahre Literaturschaffen 1906-1965. Akademische Verlagsgesellschaft Leipzig. 1956. 50 Jahre C. E. Poeschel Verlag 1902-1952. Zus.gest. u. bearb. von Ernst Metelmann. Nachdr. der Ausg. Stuttgart 1952. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 1998. GEIST, Lucie: »Ein Geschäft recht geistiger Natur«. Zum 200. Jahrestag der Gründung des J. C. Hinrichs Verlags Leipzig. Mit einem Nachwort von Erika u. Manfred Taube. Leipzig: Neuer Sachsenverlag 1991. GÖTZE, Heinz: Der Springer-Verlag. Stationen seiner Geschichte. Teil II: 1945-1992. Berlin u.a.: Springer 1994. Hundert Jahre Gustav Fischer Verlag. 1878, 1948, 1978. Verlagsgeschichte. Verzeichnis der seit 1948 in Stuttgart erschienenen Bücher und Zeitschriften. Stuttgart, New York: G. Fischer 1978. Hundert Jahre S. Hirzel Verlag. Leipzig, 1. Januar 1953. Das hundertjährige Jubiläum der J. C. Hinrichs'schen Buchhandlung in Leipzig. In: Börsenblatt (1891) 183, S. 4551-4553. Jubiläums-Katalog der Verlagsbuchhandlung Wilhelm Engelmann in Leipzig. 1811-1911. Leipzig, Druck von Breitkopf & Härtel 1911 (Mit Nachträgen 1912-1914, 1916, 1918).
472
5
Programmbereiche
Jubiläumskatalog 1811-1936 der Verlagsbuchhandlung von Wilhelm Engelmann in Leipzig. Leipzig 1936. KAHN, Julius: Münchens Großindustrie und Großhandel. 2. Aufl. München: J. Lindauer 1913. LÜDTKE, Gerhard: Der Verlag Walter de Gruyter & Co. Skizzen aus der Geschichte der seinen Aufbau bildenden ehemaligen Firmen, nebst einem Lebensabriß Dr. Walter de Gruyter's. [Nebst] Eine Auswahl besonders bekannter Werke des Verlages Walter de Gruyter & Co. Berlin: de Gruyter 1924. MEINER, Annemarie/MEINER, Arthur: Johann Ambrosius Barth. Leipzig 1780-1930. Leipzig: Barth 1930. OBST, Georg: Carl Ernst Poeschel als Verleger. In: 50 Jahre Poeschel Verlag (s. dort), S. 21-27. Paul Parey 1848-1972. Gesamtkatalog. Berlin, Hamburg: Parey 1972. Paul Parey. Verlagsprofil. Frühjahr 1989 (9 maschinenschriftliche Blätter, Historisches Archiv des Börsenvereins in Frankfurt a.M.). POESCHEL, Carl Ernst: Zeitgemässe Buchdruckkunst. Leipzig: Poeschel & Trepte 1904. Reprint mit einem Nachwort von Hans Peter Willberg. Stuttgart: Poeschel 1989. RANKE, Leopold von: Aus den Briefen Leopold von Ranke's an seinen Verleger. Leipzig: Duncker & Humblot 1886. SARKOWSKI, Heinz: Der Springer-Verlag. Stationen seiner Geschichte. Tl. 1:1842-1945. Berlin u.a.: Springer 1992. SCHMOLLER, Gustav: Carl Geibel. Ein Nachruf. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 35 (1911) 1, S. 1-12. SCHRÖTER, Manfred: Die Geistesgebiete des Verlages R. Oldenbourg 1858-1958. Eine wissenschaftsgeschichtliche Überschau. München: Oldenbourg 1958. SPRINGER, Marie: Julius Springer. Eine Lebensskizze. Hrsg. von Heinz Sarkowski. Berlin, Heidelberg u.a.: Springer 1990. Richard Ulmer und sein Verlag. Werden und Wirken im Dienste der Landwirtschaft. Hrsg. von Bernd Andreae. Stuttgart: Ulmer 1961. TREFFER, Günter: Drei Jahrhunderte für Schule und Wissenschaft. Der Verlag Hölder-PichlerTempsky und seine Vorgänger. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1990. Der Verlag von Julius Springer im Jahre 1912. Ein bibliographischer Jahresbericht. Heidelberg, Privatdruck zum 8. August 1982. Verlagskatalog von Paul Parey Verlagsbuchhandlung für Landwirtschaft, Gartenbau und Forstwesen in Berlin. Mit systematischem Inhaltsverzeichnis. Neujahr 1911. Verlagsverzeichnis von Duncker & Humblot in Leipzig 1866-1903. Mit einem Schlagwort- und Sachverzeichnis und Nachtrag. Verlagsverzeichnis von Duncker & Humblot in München und Leipzig 1903 bis 1914 (Leipzig 1914). Werden und Wesen des Hauses R. Oldenbourg, München. Ein geschichtlicher Überblick 18581958. München: Oldenbourg 1958. Empfehlenswerte Werke aus dem Verlage von J. J. Weber in Leipzig. Leipzig 1885. Wissenschaft und Antiquariat. Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Buchhandlung Gustav Fock GmbH. Hrsg. von Max Buchner. Leipzig: Fock 1929. WITTMANN, Reinhard. Ein Verlag und seine Geschichte. Dreihundert Jahre J. B. Metzler Stuttgart. Stuttgart: Metzler 1982. ZIESAK, Anne-Katrin: Der Verlag Walter de Gruyter 1749-1999. Berlin, New York: de Gruyter 1999. 200 Jahre Johann Ambrosius Barth. Leipzig: Barth 1980.
473
Georg Jäger 5.5
Medizinischer Verlag
Tendenz zur Spezialisierung Als eigener Markt bildete sich das medizinische Verlagswesen erst heraus. Die Ausdifferenzierung wurde durch das Wachstum der Produktion ermöglicht (Tab. 1): Zwischen 1870 und 1910 stieg die Zahl der jährlich publizierten Artikel von 370 auf 755, die Gesamtseitenzahl dieser Titel von etwa 63.000 auf 144.688 - ein Zuwachs von 100 bzw. 130 Prozent. Sieht man von der populären Ratgeberliteratur ab, so war das kleine Marktsegment durch reichillustrierte und im Durchschnitt umfangreiche und teure Bücher charakterisiert. Im Jahr 1878, als Joseph Friedrich Bergmann seinen Medizinverlag gründete, erschienen etwa 425 fachwissenschaftliche medizinische Titel und 67 Zeitschriften in rund 150 Firmen.1 Darunter befanden sich bekannte Verlagshäuser, deren Bedeutung jedoch nicht auf medizinischem Gebiet lag: Breitkopf & Härtel, Brockhaus, Cotta, Dieterich, Engelmann, Grieben, Herder, Mittler, Reimer, Tauchnitz, Teubner, Vandenhoeck & Ruprecht oder Wigand. Nur wenige Firmen, wie F. C. W. Vogel in Leipzig, hatten sich bereits auf den medizinischen Bereich spezialisiert: Carl Lampe-Vischer, der den auf theologische und philologische Werke ausgerichteten Verlag von Ferdinand Theodor Vogel 1862 übernommen hatte, machte die Medizin zum Schwerpunkt seines Programms.2 Die anderen, heute noch bekannten medizinischen Verlage begannen ihre Tätigkeit erst im Laufe der nachfolgenden 30 Jahre: 1878 Bergmann und Gustav Fischer, 1886 Thieme, 1890 Lehmanns, 1898 eröffneten Urban & Schwarzenberg ihre Berliner Filiale. Durch den Verlagswechsel ganzer Programmbereiche und einzelner Titel wurde der Prozeß der Spezialisierung vorangetrieben. So kaufte der Verlag von Johann Ambrosius Barth, nachdem er 1890 von Felix Meiner übernommen worden war, die einschlägigen Bestände von Ambrosius Abel 1892 und von Breitkopf & Härtel 1908 auf. Den Zug zur Spezialisierung markiert am deutlichsten die erfolgreiche Gründung des ersten ausschließlich medizinischen Verlages durch Georg Thieme 1886 - vergleichbar mit der Umwandlung von Carl Heymanns zu einem ausschließlich juristischen Verlag. (Vgl. Kap. 5.6) Ihm folgte S. Karger, der mit seinem 1890 in Berlin ins Leben gerufenen Verlag sich gleichfalls nur medizinischen Kompendien, Lehrbüchern und Zeitschriften widmete. An den nach Titelzahl, Gesamtseitenzahl und Gesamtladenpreis führenden Verlagen im Jahr 1910 (Tab. 1 ) ist die Verselbständigung des medizinischen Verlagszweiges zu sehen: Bergmann, Hirschwald und Lehmanns hatten sich auf medizinische Publikationen spezialisiert. Eine deutliche Schwerpunktbildung ist auch dort zu beobachten, wo weiterhin mehrere Fachgebiete verlegt wurden, wie bei den im Folgenden vorgestellten Verlagen Gustav Fischer, Ferdinand Enke und Springer. Medizinische Sachbücher und Ratgeber, die sich an ein Laienpublikum wandten, gab es wie eh und je auf dem Gebiet der Ge-
1 Götze: Hundert Jahre J. F. Bergmann-Verlag, S. 5-7, skizziert die medizinische Verlagslandschaft um 1878. 2 Verlagskatalog Vogel, 1887, Vorwort.
474
5 Programmbereiche
sundheitslehre. Einen Schwerpunkt bildeten sie im Bereich der Naturheilkunde, den beispielhaft Th. Grieben's Verlag (L. Fernau) vertrat. Tabelle 1: Medizinische Verlagsproduktion in Zehnjahresschritten (mit einem Anteil von mindestens 2 % der Gesamtproduktion) Führende Verlage nach Titelproduktion 1870 Nr. Verlag
1880 Titel Prozent Verlag
Titel Prozent
1 HIRSCHWALD, Berlin
36
9,7
ENKE, Stuttgart
37
5,4
2
GRIEBEN, Berlin
20
5,4
BREITKOPF & HÄRTEL, Leipzig
16
2,3
3
BRAUMÜLLER, Wien
17
4,6
VANDENHOECK & RUPRECHT, Göttingen
16
2,3
ENGELMANN, Leipzig
13
1,9
4
Quelle: Hinrichs Vierteljahreskataloge. Erfaßt sind alle Unterrubriken Medizin: Allgemeines, Geschichte, Anatomik, Physiologie, Biologie, Pharmakologie, Toxikologie, Pathologie, Therapie, Gynäkologie, Kinderkrankheiten, Chirurgie, Orthopädie, Öffentliche Gesundheit, Hygiene, Homöopathie, Naturheilkunde, Tierheilkunde, Psychiatrie. Gesamtproduktion 1870: 370 Titel; 1880: 690 Titel. - Zusammengestellt von Barbara Kastner. - Zur Quelle und zur Kritik der Daten vgl. Kap. Statistik und Topographie des Verlagswe-
Führende Verlage nach Gesamtseitenzahl 187 0
1880
Jahres- Durchschnitt produktion pro Titel
Nr. Verlag
Gesamt- Seitenseiten- zahl zahl
Jahresproduktion
Verlag
Durchschnitt pro Titel
Gesamt- Gesamt- Seiten- Ladenseiten- ladenzahl preis in zahl preis Mark in Mark
1 HIRSCHWALD, Berlin
9 977
277,1
ENKE, Stuttgart
9 767
237,2
271,3
6,41
2
BRAUMÜLLER, Wien
5 136
302,1
ENGELMANN, Leipzig
4 639
116,6
356,8
8,97
3
GRIEBEN, Berlin
1 755
87,8
4
FLEISCHER, Leipzig
1 580
225,7
5
FUES, Tübingen
1 528
764,0
6
ENGELMANN, Leipzig
1 302
260,4
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion Medizin 1870: 63.382, 1880: 116.783 Seiten.
5.5 M e d i z i n i s c h e r V e r l a g
Führende Verlage nach
Titelproduktion 1890
1900
Nr. Verlag
Titel Prozent Verlag
Titel Prozent
1
HIRSCHWALD, Berlin
56
4,6
HIRSCHWALD, Berlin
71
4,8
2
KAROW (SCHNAKENBURG), Dorpat
47
3,9
G. FISCHER, Jena
63
4,3
3
BERGMANN, Wiesbaden
41
3,4
BERGMANN, Wiesbaden
51
3,5
4
HUBER & COMP., Bern
33
2,7
SEITZ & SCHAUER, München
45
3,1
5
ENKE, Stuttgart
32
2,6
ENKE, Stuttgart
42
2,9
6
LIPSIUS & TISCHER, Kiel
32
2,6
DEUTICKE, Wien
32
2,2
7
DEUTICKE, Wien
28
2,3
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion Medizin 1890: 1.208, 1900: 1.472 Titel. Führende Verlage nach
Gesamtseitenzahl 1890
1900
Jahresproduktion
Nr. Verlag
Durchschnitt pro Titel
Jahresproduktion
GeGe- Seiten- Ladensamt- samt- zahl preis seiten- ladenin zahl preis Mark Verlag in Mark
Durchschnitt pro Titel
GeGe- Seiten- Ladensanit- samt- zahl preis seiten- ladenin zahl preis Mark in Mark
1
HIRSCH13 230 367,6 240,5 WALD, Berlin
6,56
16 971 435,8 435,2
10,38
2
ENKE, Stuttgart
8 472 188,8 264,8
5,90 G. FISCHER, 12 530 420,9 198,9 Jena
6,68
3
BERGMANN, Wiesbaden
7 725 229,4
5,60 HIRSCH12 368 627,7 224,9 WALD, Berlin
8,84
4
DEUTICKE, Wien
7 258 216,0 268,8
5
G. FISCHER, Jena
4 5 1 0 187,3 265,3
6
KAROW 3 781 (SCHNAKENBURG), Dorpat
72,1
80,4
1,53
7
SPRINGER, Berlin
82,5 311,9
6,88
3 743
193,1
7,71 10,4
ENKE, Stuttgart
BERGMANN, 12 257 524,2 255,4 Wiesbaden
10,28
DEUTICKE, Wien
7 453 186,7 248,4
5,84
HOLDER, Wien
5 168 111,2 234,9
4,83
8 PERLES, Wien 3 703 56,4 264,5 3,76 Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion Medizin 1890: 165.385, 1900: 217.111 Seiten.
476
5
Programmbereiche
Führende Verlage nach Titelproduktion 1910 Nr. Verlag
Titel
Prozent
1
G. FISCHER, Jena
37
4,9
2
J. BARTH, Leipzig
36
4,8
3
BERGMANN, Wiesbaden
34
4,5
4
HIRSCHWALD, Berlin
29
3,8
5
LEHMANNS, München
24
3,2
6
SPRINGER, Berlin
22
2,9
7
ENKE, Stuttgart
19
2,5
8
ENGELMANN, Leipzig
18
2,4
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion Medizin 1910: 755 Titel
Führende Verlage nach Gesamtseitenzahl 1910 Jahresproduktion Nr. 1
Gesamtseiten- Gesamtladenzahl preis in Mark
Verlag G. FISCHER, Jena
Durchschnitt pro Titel Seitenzahl
Ladenpreis in Mark
9 280
355,3
290,0
9,60
237,2
9,51
2
BERGMANN, Wiesbaden
7 826
323,4
3
ENKE, Stuttgart
7 796
248,2
410,3
13,07
4
SPRINGER, Berlin
7 594
283,0
345,2
12,86
5
J. BARTH, Leipzig
5 781
194,6
160,6
5,41
6
HIRSCHWALD, Berlin
5 509
213,9
262,3
7,38
7
ENGELMANN, Leipzig
4 574
300,2
415,8
16,68
8
LEHMANNS, München
3 485
108,2
145,2
4,51
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion Medizin 1910: 144.688 Seiten
Erfahrungs- und
Naturheilkunde
Am Rande der Schulmedizin fächerte sich eine reiche »medizinkritische« Medienlandschaft auf, in der alternative Heilverfahren der Erfahrungs- und Naturheilkunde propagiert wurden. »Im deutschsprachigen Raum erschienen 1903 allein 56 naturheilkundlich ausgerichtete Zeitschriften, von denen Der Naturarzt [...] mit beinahe 112.000 Exemplaren die am weitesten verbreitete war. Dazu kam eine Flut von Broschüren und Flugblättern. Naturheilkundliche Hausbücher erreichten innerhalb weniger Jahre Auflagen, die in die Hunderttausende gingen.« 3 Auch neue Verlage entstanden auf naturheilkundlichem Gebiet. So geht der Karl F. Haug Verlag auf den Homöopathischen Centrai-Verlag zurück, der vom Vorsitzenden des Berliner Vereins Homöopathischer Ärzte, Eugen Kröner, zusammen mit Walter Grosse, Obwalter der Homöopathischen Liga, 1903 in Berlin gegrün-
5.5 Medizinischer Verlag det wurde. »Die homöopathische Ärzteschaft stand damals noch im Kampf um ihre Lehre, und der Verlag war dazu ausersehen, das homöopathische Schrifttum zu aktivieren und zusammenzufassen.« 4 Zu diesem Zweck publizierte er die Homöopathische Rundschau (1903-1931) und die Zeitschrift des Berliner Vereins homöopathischer Àrzte. Im Jahre 1936, als der Verlag in den Besitz von Haug überging, übernahm er das älteste, bereits 1832 begründete Fachblatt der Homöopathie, die Allgemeine Homöopathische Zeitung. Der Berliner Verlag Lebenskunst - Heilkunst, der Bücher für Lebens- und Heilreform herausbrachte, führt sein Programm im Titel. Nicht zuletzt stößt man im Bereich der Naturheilverfahren auf den Selbstverlag. Mit außergewöhnlichem Erfolg betrieb ihn Friedrich Eduard Bilz (1877-1922), der bei Dresden eine Naturheilanstalt errichtet hatte. In seinem 1888 gegründeten Verlag brachte er den >Bilz< heraus - ein »Lehrbuch der naturgemäßen Heilweise und Gesundheitspflege« unter dem Titel Das neue Heilverfahren. Der Verlag warb damit, daß >Bilz< »das leicht verkäuflichste Buch der Naturheilmethode ist und den größten Gewinn bringt«.5 Das etwa 1.250 Seiten starke Werk - in der teuersten Version zu M 20,- mit zehn zerlegbaren bunten Modellen, mehr als 30 bunten Tafeln und 720 Abbildungen - wurde mit 40 %, bei zehn Exemplaren mit 50 % und bei größeren Partien »nach Uebereinkunft« rabattiert und auch in zehn Heften à 50 Pf. und 40 Heften à 15 Pf. vertrieben. Zur Jahrhundertwende waren 850.000 Exemplare verkauft, bis zum Ersten Weltkrieg mehr als eine Million und Mitte der dreißiger Jahre waren es ca. 2 Millionen Stück.6 Verlagsprofile: Schwerpunktbildung und Spezialisierung Die Verlage von Ferdinand Enke in Stuttgart und Gustav Fischer in Jena, 1837 bzw. 1878 gegründet, bauten ihr Medizinprogramm aus. Alfred Enke, der von seinen Geschwistern den Verlag 1874 erwarb, steigerte den Anteil der Medizin an den lieferbaren Titeln bis 1881 auf 60 %.7 Mit dem Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der Haustiere von F. Friedburgerund E. Fröhner ( 1. Aufl. 1886-1887, 7. Aufl. 1908) erhielt die Veterinärmedizin eine eigenständige Sparte. Enke widmete sich aber auch den Naturwissenschaften - verstärkt wurde insbesondere die Chemie (Handbuch der chemischen Technologie, 5 Bde. von 1895-1898) - , den neuen Technikwissenschaften {Handbuch der Elektrotechnik von E. Kittler 1885-1886, 2. Aufl. 1890-1892) sowie der Jurisprudenz. Gustav Fischer, der den Verlag 31 Jahre, von 18788 bis 1909 leitete, charakterisiert seine Programmpolitik in der Einleitung zum Verlagskatalog von 1898:9 »Das Streben
3 Dinges (Hrsg.): Medizinkritische Bewegungen, S. 48 f. Vollständiger Titel: »Der Naturarzt. Zeitschrift des Deutschen Bundes der Vereine für Gesundheitspflege und Arzneilose Heilweise«, Berlin, später im Verlag Lebenskunst-Heilkunst. 4 75 Jahre Karl F. Haug Verlag, S . U . 5 Anzeige im Börsenblatt (1900) 270, S. 9144. 6 Vgl. die Einträge im D B A sowie den »Gesammt-Verlags-Katalog« von Russell. 7 150 Jahre Ferdinand Enke Verlag, S. 54. Insgesamt waren 1881 728 Titel lieferbar. 8 1878 kaufte Gustav Fischer den in Konkurs geratenen Verlag Hermann Dufft, vormals Friedrich Maucke in Jena. 9 Gustav Fischer Verlag, S. 14. Die Medizin macht mit 17 Seiten die umfangreichste Abteilung des Katalogs aus, gefolgt von den Naturwissenschaften mit 14 Seiten.
477
478
5
Programmbereiche
nach Arbeitsteilung, welches sich in unserer Zeit auf allen Gebieten geltend macht, kommt auch im Buchhandel immer mehr in Anwendung; es ist eben nur dann möglich, dem Geschäft eine gesunde Fortentwicklung zu sichern, wenn die neuen Unternehmungen auf bestimmte Gebiete beschränkt werden. Aus diesem Grunde wurden in den 80er Jahren der größte Teil des alten philosophischen Verlags und sämtliche Schulbücher verkauft und neue Werke nur aus der Medizin und den Naturwissenschaften, den Rechts- und Staatswissenschaften veröffentlicht. Auf diese Fächer soll auch in Zukunft die Thätigkeit des Verlags beschränkt bleiben.« Charakteristisch für die Verlagspolitik war das »beharrliche Festhalten an vorhandenen Titeln«, die »unter ständiger Bearbeitung und Fortentwicklung unter ihrem alten Namen über Jahrzehnte im Verlagsprogramm erhalten« wurden.10 Ähnlich wie C. H. Beck im juristischen Bereich (vgl. Kap. 5.6), produzierte auch Fischer bewußt wissenschaftliche Longseller (vgl. Kap. 5.4). Urban & Schwarzenberg: Ein Wiener Verlag kommt nach Berlin Urban & Schwarzenberg entwickelte sich aus einer Wiener Reise- und Sortimentsbuchhandlung zu einem fast ausschließlich medizinischen Verlag.11 Den Ausgangspunkt bildete 1872 die Übernahme der im Selbstverlag des Herausgebers Johann Schnitzler erscheinenden Wiener Medizinischen Presse, deren Auflage sich innerhalb weniger Jahre von 1.000 auf 3.000 Exemplare erhöhte. Von den Beilagen der Wiener Medizinischen Presse hatte die Wiener Klinik mit Beiträgen über aktuelle Probleme der praktischen Heilkunde 1875 eine Auflage von 4.000 Exemplaren. Sie legte den Grundstein fur den medizinischen Buchverlag, bei dem Urban & Schwarzenberg ihren Standortvorteil nutzen konnten. Mit der sog. Zweiten Wiener Medizinischen Schule war die Kaiserstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Zentrum der Klinischen Medizin Europas. Mit großen Lehrbüchern und einer Fachenzyklopädie machten die Verleger ihren Namen der medizinischen Welt bekannt. Es erschienen nacheinander das Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre von Eduard Albert ( 1. Aufl. in 4 Bde. 1877-1880,5. Aufl. in 2 Bde. 1897/98), das Lehrbuch der gerichtlichen Medizin mit gleichmäßiger Berücksichtigung der deutschen und österreichischen Gesetzgebung von Eduard von Hofmann (1878, 8 immer reicher mit Holzschnitten ausgestattete Auflagen bis 1903) und als drittes Lehrbuch mit weltweiter Bedeutung die Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten in Vorlesungen fiir praktische Ärzte ( 1880) von Moritz Kaposi. Neben diesen drei Verlagswerken verhalf die Herausgabe einer neuen Fachenzyklopädie dem medizinischen Programm zum Durchbruch. Da das Encyklopädische Wörterbuch der medizinischen Wissenschaften, zwischen 1828 und 1849 in 37 Bänden bei Veit & Comp, in Berlin erschienen, inzwischen veraltet war, wurde es von Urban & Schwarzenberg durch die Real-Encyklopädie der gesamten Heilkunde ersetzt, die unter der Heraus-
10 Gustav Fischer Verlag, S. 14. 11 Vgl. die detaillierte Darstellung: Hundert Jahre Urban & Schwarzenberg. Die bibliographischen Angaben aller Veröffentlichungen sind verzeichnet in: Urban & Schwarzenberg Wien und Berlin 1866-1916.
5.5
Medizinischer Verlag
geberschaft von Albert Eulenburg und unter Mitarbeit von 90 Fachleuten in 15 Bänden von 1880 bis 1884 vorgelegt wurde.12 Die rasche Folge der Bände und die Beschränkung des Umfangs trugen zum Erfolg der Enzyklopädie bei, die in zweiter Auflage 1885 -1890 in 22 Bänden, erweitert um propädeutische Disziplinen herauskam. Die dritte Auflage erschien völlig neubearbeitet in 26 Bänden von 1894 bis 1901, die vierte Auflage, wiederum neubearbeitet und konzentriert auf nur 15 Bände, von 1907 bis 1914. Insgesamt wurden 96 Bände der Real-Encyklopädie der gesamten Heilkunde von 1880 bis 1914 herausgebracht. 1898 eröffneten Urban & Schwarzenberg eine Niederlassung in Berlin, in einer Zeit, als die Stadt die alte Buchhandelsmetropole Leipzig überflügelte. 13 Zum einen hatte die Reichshauptstadt in den medizinischen Wissenschaften die Führung übernommen, und es galt den direkten Kontakt mit der medizinischen Elite zu gewinnen. Zum anderen verlagerte sich zur Jahrhundertwende die Herstellung der Zeitschriften nach Berlin, weil es hier inzwischen die leistungsfähigeren technischen Betriebe gab. Die Berliner Verlagsstrategie folgte dem erprobten Muster wie in Wien, wo die Verleger ihre Buchhandlung systematisch zu einem medizinischen Fachsortiment ausgebaut hatten und den direkten Kontakt zum Kunden als Informationsquelle für ihre Programmplanung nutzten. Das gleiche wiederholte sich in Berlin, wo die Firma »Oscar Rothacker Buchhandlung und Antiquariat« 1901 gekauft wurde. Als fachwissenschaftliches Forum seiner Produktion stand dem Verlag weiterhin der Mitarbeiterkreis seiner Zeitschriften zur Verfügung. Die Resonanz der Blätter und Schwerpunktverlagerungen in ihren Themengebieten fungierten zugleich als Trendmesser für die vom Verlag betreuten Wissenschaftsgebiete. Der Krise der traditionellen gelehrten Fachzeitschriften 14 begegnete der Verlag durch deren Ausrichtung an den Bedürfnissen der praktizierenden Ärzte und den Interessen des Berufsstandes. Besonderen Erfolg hatte die Medizinische Klinik, zu deren Einfuhrung Eduard Urban 1904 eine großangelegte Werbeaktion startete, die ihn 45.000 Goldmark kostete: An alle erreichbaren Ärzte wurden die ersten vier Nummern kostenlos zur Probe verschickt. Als die Wiener Medizinische Presse mit dem 48. Jahrgang 1907 eingestellt bzw. mit der Medizinischen Klinik vereinigt wurde, erhöhte sich die Auflage von 6.000 auf 8.000 Exemplare. Die 1912 ins Leben gerufene Zeitschrift Strahlentherapie (mit monographischen Sonderbänden zur Strahlen therapie) kam der Nachfrage von Ärzten nach, die mit der Strahlentherapie zu behandeln begannen. Auf der Grundlage der Medizinischen Klinik und der bereits 1898 gegründeten Therapie der Gegenwart, die sich beide an praktische Ärzte richteten, entstanden Zentralblätter und Rundschauzeitschriften für wissenschaftliche Spezialgebiete wie Anatomie. 1905 wurde das Centraiblatt für Stoffwechsel- und Verdauungskrankheiten aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erworben und als Centraiblattfür die gesamte Physiologie und Pathologie des Stoffwechsels weitergeführt. Als Centraiorgan für Geburtshilfe und Frauenkrankheiten diente von 1907 bis 1917 die Gynäkologische Rundschau. Mehrere Fachzeitschriften waren zugleich Organe fachwissenschaftlicher Gesellschaften, die den be-
12 Hundert Jahre Urban & Schwarzenberg, S. 50-59. 13 Einen Überblick über den Aufstieg des Berliner Verlagswesens gibt Mahlke: Berlin als Verlagsort, wo auch die wichtigsten Verlage charakterisiert werden. 14 Hundert Jahre Urban & Schwarzenberg, S. 60-66.
479
480
5
Programmbereiche
treffenden Autoren- und Leserkreis an den Verlag banden. Mit dem Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, von dem ab 1910 mehr als 100 Bände publiziert wurden, setzte der Verlag seine erfolgreichen Sammelwerke mit Autoren des Berliner Hauses15 fort. Georg Thieme: Neugründung eines reinen Medizinverlags Georg Thieme konzipierte seine 1886 gegründete Firma von Anfang an als reinen Medizin-Verlag. Als Grundstock dienten ihm 45 medizinische Titel, darunter zwei Zeitschriften16 und ein Formularsystem (die »Steinbach-Formulare« mit einem Kassabuch für praktische Árzte), die er vom Verlag Theodor Fischer in Kassel übernahm. Besonders ging es ihm um den anzeigenstarken Reichs-Medicinal-Kalender, der ihn in regelmäßige Verbindung mit der gesamten Ärzteschaft brachte. Es erschienen jeweils zwei Bände im Jahr, Band 1 mit dem statistischen Teil nebst Adreßbuch aller Ärzte in Deutschland im September/Oktober, der Kalender- und Referateband als Band 2 im November bis Januar. Bis April war die Auflage, die bis Ende des 19. Jahrhunderts auf mehr als 10.000 Exemplare stieg, jeweils verkauft. Der Verlagszweig der Adreßsammelwerke wurde mit weiteren Titeln wie das Akademische Taschenbuch für Mediciner (1. Aufl. 1895) ausgebaut. »Deutsche Medizinische Wochenschrift« Durch den Chefredakteur des Reichs-Medicinal-Kalenders, Paul Boerner, bestand eine Verbindung zur 1875 gegründeten und bis heute bestehenden Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW) im Verlag von Georg Reimer. Thieme kaufte dieses für die erfolgreiche Entwicklung seines Verlages entscheidende Blatt 1887 von den Erben Reimers. Die DMW war internistisch ausgerichtet und brachte den Verlag in enge Beziehungen zur Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. Über zwei Jahrzehnte prägte die Zeitschrift das Verlagsprogramm, ihr Chefredakteur Samuel Guttmann17 war zugleich der wichtigste Verlagsberater.18 Die Chirurgie - neben der Inneren Medizin das zweite große medizinische Arbeitsfeld - war in der DMff unterrepräsentiert und spielte auch in der Verlagsproduktion vorerst keine Rolle.19 Zum steilen Aufstieg der DMW trugen wichtige medizinische Entdeckungen bei: Als 1890 der 10. Internationale medizinische Kongreß in Berlin tagte, wurde dies zu einem Glücksjahr für den Verlag. Robert Koch sprach auf dem Kongreß von erfolgreichen Versuchen zur Heilung der Tuberkulose an Meerschweinchen und 15 Hundert Jahre Urban & Schwarzenberg, S. 97-109. 16 Die 1884 gegründete »Internationale Monatsschrift für Anatomie und Physiologie« führte Thieme bis 1916 weiter, die »Klinischen Monatsblätter für Augenheilkunde« gab er an den Ferdinand Enke Verlag ab. 17 Ein biographischer Abriß des Geheimen Sanitätsrats Dr. Samuel Guttmann (1839-1893) findet sich bei Staehr: Spurensuche, S. 24. Seit 1882 Herausgeber des »Reichs-Medicinal-Kalenders«, des »Jahrbuchs der praktischen Medizin« und Redakteur der DMW, zählte er »zu den bedeutendsten medicinischen Publicisten« Deutschlands (Ernst von Leyden). 18 Staehr: Spurensuche, S. 26. 19 Im Jahrgang 1887 waren von 212 Originalarbeiten nur 34 (= 16 %) chirurgischen Themen gewidmet. Das Verlagsverzeichnis von 1890 weist unter 78 medizinischen Werken »nur ein einziges größeres aus der Chirurgie« auf. Staehr, S. 26.
5.5
Medizinischer Verlag
schob am 13. November 1890 unter dem Titel Weitere Mitteilungen über ein Heilmittel gegen Tuberculose einen Aufsatz in der DMW nach, der auf die Reaktionen beim Menschen einging. »Binnen Monatsfrist verdoppelte sich die Abonnentenzahl der DMW. »Um den Ansturm von täglich fast 400 Posteingängen zu bewältigen, mußten zu den vier ständigen noch acht Hilfskräfte herangezogen werden - der Name des Verlages wurde weltbekannt.Lehrbücher für Studierende und Ärzte< und einbändige medizinische Handbücher sah«, traf jedoch auf starke Konkurrenz bei der Autorenakquisition.33 Einen großen Erfolg konnte er allerdings auf dem Gebiet des populären Sachbuchs erzielen: Das 1894 vom Kaiserlichen Gesundheitsamt herausgegebene Gesundheitsbüchlein (von ca. 260 Seiten) erschien bis 1906 in zwölf Auflagen von je 10.000 Exemplaren.34 Sein Sohn, Ferdinand Springer d. J., gründete 1907 die Buchreihe Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde und initiierte große Fachenzyklopädien wie das Handbuch der Neurologie, »die erste handbuchmäßige Darstellung des Gesamtgebietes der Neurologie«, die 1914in sechs Bänden mit6.778 Seiten und mehr als 1.200 Abbildungen abgeschlossen wurde.35 Den seit 1912 betriebenen Aufbau der Zentralblätter für medizinische Fachgebiete stoppte vorerst der Erste Weltkrieg. Doch gelang Springer am Ende des Krieges mit der Übernahme von J. F. Bergmann der Durchbruch in die Spitze der Medizinverlage. Bergmann verfügte über sechs mehrbändige Handbücher, 18 Buchserien, elf Zeitschriften sowie zahlreiche Monographien und Lehrbücher. »Bergmanns besondere Stärke lag in den Fächern Ophthalmologie, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Gynäkologie und physikalische Medizin, die bisher bei Springer kaum vertreten waren. Im Bereich Innere Medizin, Neurologie und Kinderheilkunde ergänzten sich die Programme auf ideale Weise.«36 (vgl. Kap. 5.4). Th. Grieben s Verlag (L. Fernau) in Leipzig: Ein Verlag fiir Naturheilverfahren Als L. Fernau in Leipzig den Verlag von Theobald Grieben 1881 übernahm, führte er ihn unter dem Namen »Th. Grieben's Verlag (L. Fernau)« weiter und vereinigte ihn mit dem bereits 1877 von ihm erworbenen Verlag der Nauck'sehen Buchhandlung. Programmschwerpunkte lagen in der Gesundheitslehre und Naturheilkunde, in Vorlagenwerken für Kunsthandwerk, Möbel- und Bautischlerei sowie bei einzelnen Handwerken (Fleischerei, Gerberei, Wagenbau). Populär wurden die Ratgeber fiir gesunde Lebensführung und naturgemäße Heilverfahren. Der Verlag propagierte die Prinzipien von Johann Schroth, nahm jedoch auch die Ideen von Vincenz Prießnitz) auf. Im Zentrum von Schroths »Natur-Heillehre« standen eine Trockendiät (»Schrothsche Trockenkur«) und feuchte, warme Wickel, wogegen Prießnitz auf eine Wasserkur setzte. Die von den ärztlichen Dilettanten - beide waren sie von Beruf Landwirte - gegründeten Kuranstalten in Lindewiese und Gräfenberg lagen im 33 34 35 36
Sarkowski: Der Springer-Verlag, S. 126. Der Erfolg hielt bis in die dreißiger Jahre an. Sarkowski, S. 125. Sarkowski, S. 170-180. Zitat S. 174. Sarkowski, S. 235 f. Der Verlag Bergmann wurde in Form einer Offenen Handelsgesellschaft geführt. Ferdinand und Julius Springer übernahmen 1918 zunächst nur die Bergmannschen, 1929 aber auch die restlichen, vom Neffen Wilhelm Geck gehaltenen Geschäftsanteile. 37 Mit zwölf Supplement-Bänden. Gesammt-Verlags-Katalog, S. 1098, 2185. Die nicht nachgewiesenen Zitate entstammen den im Russell verzeichneten Titeln.
484
5
Programmbereiche
Sudetengebirge. Offenbar suchte der Verlag die Anhänger Schroths an sich zu binden, denn er hatte dessen Porträt und einen Führer durch Lindewiese im Programm. Zu den bekannten Verlagsautoren zählte der Naturarzt Arnold Rikli (1823-1906), der ein Licht- und Luftbad, auch »Thermodiätetik« genannt, unter dem Namen »Es werde Licht!« propagierte. Sein Hauptwerk Z)/e Grundlehren der Naturheilkunde einschließlich die athmosphärische Cur »Es werde Licht« brachte es bis 1895 auf acht Auflagen. Von den Gesundheitsbüchern erreichten besonders hohe Auflagen das anonyme Werk Der Radikal-Arzt. Natur- und vernunftgemäße Heilung sämmtlicher Krankheiten ohne Arznei, Charlatan- und Wundermittel (2 Bde., 32 Auflagen) und Die diätetische Heil-Methode des Apothekers Moritz Kypke (bis 1890 im ersten Teil 40 und im zweiten Teil 29 Auflagen).37 Eine Reihe von Werken widmete sich Fragen der Diätetik und Ernährung. Während die »Ritter vom Fleische« sich heftigen Angriffen ausgesetzt sahen, wurde der Vegetarismus nicht nur als »blutlose Diät« empfohlen, sondern galt überdies als »ein Beitrag zur Lösung der sozialen Frage«. Zu den Verlagsautoren zählten englische Gesundheitsreformer und der amerikanische Arzt Sylvester Graham, dessen nach ihm benanntes, aus geschroteten Körnern ohne Gärung hergestelltes Brot bei den Vegetariern beliebt wurde. Ratgeber deckten das gesamte Gebiet der »Selbstbehandlung« und gesunden Lebensführung ab: Die Themen reichten von Mutterschaft, »schmerzloser Entbindung« und Säuglingspflege, Ernährungsfragen, »Turnen im Haus« bzw. »Zimmergymnastik« bis zu Gebrechen und Krankheiten.
Literatur Nachschlagewerke Deutsches Biographisches Archiv. Mikrofiche-Edition. Hrsg. von Bernhard Fabian. München u.a.: Saur 1982. Deutsches Biographisches Archiv. Neue Folge bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Mikrofiche-Edition. Hrsg. von Willi Gorzny. München u. a.: Saur 1989. Gesammt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels und des mit ihm im direkten Verkehr stehenden Auslandes. Hrsg. von Adolph Russell. Mikrofiche-Edition. München u.a.: Saur o.J.
Forschungsliteratur COMMICHAU, Arndt: Naturheilkundliche Bestrebungen dargestellt an der Zeitschrift »Der Naturarzt« von 1861-1886. Med. Diss. Universität Münster 1968. (masch.) DINGES, Martin (Hrsg.): Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870-ca. 1933) (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beih. 9) Stuttgart: Steiner 1996. FLEMMER, Walter: Verlage in Bayern. Geschichte und Geschichten. Pullach bei München: Verlag Dokumentation 1974. SCHMIDT, Rudolf: Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker. Beiträge zu einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes. 6 Bde. Berlin: Verlag der Buchdruckerei Franz Weber 1902-1908. TAUBERT, Andreas: Die Anfänge der graphischen Darstellung in der Medizin. (Kieler Beiträge zur Geschichte der Medizin und Pharmazie 1) Kiel: Selbstverlag des Instituts für Geschichte der Medizin und Pharmazie der Universität Kiel 1964.
5.5 M e d i z i n i s c h e r Verlag
Verlagskunde. Beiträge zur Geschichte des deutschen Verlagsbuchhandels. Hrsg. von Klaus Dietze u. Hans Schulte. Tl. 1. Köln: Verlag »Der Jungbuchhandel« Hans Schulte 1952.
Zeitgenössische Fachliteratur sowie weitere Quellen KAHN, Julius: Münchens Großindustrie und Großhandel. München: A. Ackermann's Nachf. 1891. KAHN, Julius: Münchens Großindustrie und Großhandel. 2. Aufl. München: J. Lindauer 1913. MENZ, Gerhard (Hrsg.): Der deutsche Buchhandel der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig: Meiner 1925. OPPENHEIMER, Carl: Reformen im medizinischen Publikationswesen. In: Münchener Medizinische Wochenschrift, 57 (1910) 1, S. 27-30.
Firmengeschichten und Firmenschriften 100 Jahre Ferdinand Enke. Verlagsbuchhandlung Stuttgart. Jubiläums-Katalog 1837-1937. Stuttgart: Enke 1937. 150 Jahre Ferdinand Enke Verlag. Ein Abriß der Verlagsgeschichte. Stuttgart: Enke 1987. Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestehens am 1. Juli 1927. Die Andreas Deichertsche Verlagsbuchhandlung in Leipzig im Wechsel der Zeiten. 1852-1927. Hauptverlagskatalog mit geschichtlichen Einleitungen und Bildern. Hrsg. von Wemer Scholl. Leipzig: Deichert 1927. Gustav Fischer Verlag Stuttgart. Hundert Jahre Gustav Fischer Verlag: 1878, 1948,1978. Stuttgart: Fischer 1978. Fünfzig Jahre J. F. Lehmanns Verlag 1890-1940. Zur Erinnerung an das fünfzigjährige Bestehen am 1. September 1940. München, Berlin: J. F. Lehmanns 1940. 75 Jahre J. F. Lehmanns Verlag München. 1890-1965. München: Lehmanns 1965. GÖTZE, Heinz: Hundert Jahre J. F. Bergmann-Verlag. Festansprache anläßlich der Jubiläumsfeier in München am 12. Juni 1978. Hundert Jahre Urban & Schwarzenberg 1866-1966. Tl. 1: Ein Beitrag zur Geschichte und Soziologie des medizinisch-naturwissenschaftlichen Verlagswesens. Tl. 2: Gesamtkatalog. München: Urban & Schwarzenberg 1966. Im Dienste der ärztlichen Naturheilkunde. 75 Jahre Karl F. Haug Verlag. Heidelberg: Haug 1978. S. Karger. Vollständiger Verlagskatalog. General Catalogue. Catalogue Général 1890-1960. Basel u.a.: Karger 1960. SARKOWSKI, Heinz: Der Springer-Verlag. Stationen seiner Geschichte. Tl. 1:1842-1945. Berlin u.a. : Springer 1992. 70 Jahre J. F. Lehmanns Verlag. 1890-1960. München: Lehmanns 1960. SCHMECK, Harold M.: Karger-Turning Medical Progress into Print. A Mirror of a Century of Medical and Scientific Publishing. Basel: Karger 1990. Der Springer-Verlag. Katalog seiner Veröffentlichungen 1842-1945. Bearb. von Hans-Dietrich Kaiser (Bücher) u. Wilhelm Buchge (Zeitschriften). Hrsg. von Heinz Sarkowski. Berlin u.a. : Springer 1992. Der Springer-Verlag. Katalog seiner Zeitschriften 1843-1992. Bearb. von Wilhelm Buchge. Berlin u.a.: Springer 1994. STAEHR, Christian: Spurensuche. Ein Wissenschaftsverlag im Spiegel seiner Zeitschriften 18861986. Stuttgart, New York: Thieme 1986. Urban & Schwarzenberg Wien und Berlin 1866-1916. Verzeichnis aller seit der Gründung der Firma bis Ende 1916 erschienenen Werke mit einer kurzen einleitenden Geschichte ihres Werdeganges. Wien, Berlin: Urban & Schwarzenberg 1916. Verlagskatalog von F. C. W. Vogel in Leipzig. Verlags-Bericht 1862-1887. Leipzig, im October 1887.
485
486
Georg Jäger 5.6
Juristischer Verlag
Der Einfluß der Gesetzgebung auf die Verlagsprogramme Alle juristischen Verlagsprogramme waren eng an die Gesetzgebung gekoppelt. Die Höhepunkte der Verlagstätigkeit (Tab. 1) fielen regelmäßig »mit denen der gesetzgeberischen Thätigkeit der Parlamente« zusammen.1 Wie nie zuvor war dies nach der Reichsgründung der Fall, als der neue Staat gesetzgeberisch ausgestaltet wurde und die Gesetze der ehemals selbständigen Bundesstaaten durch Reichsgesetze ersetzt oder ihnen angepaßt werden mußten. Zahllose Textausgaben und Kommentare wurden über Nacht zu Makulatur. Um die Ausgaben und Kommentare der neuen Gesetze lieferten sich die Verlage ein Wettrennen und begleiteten bei wichtigen Gesetzen bereits das laufende Gesetzgebungsverfahren durch Publikation von Denkschriften, der Entwürfe und »Motive«, Berichte und Protokolle der Kommissionen sowie der Reichstagsdebatten. Die Juristen mußten auf die neuen Gesetze vorbereitet und in vergleichenden Darstellungen mit dem bisher geltenden Recht in sie eingeführt werden. So wurden die juristischen Programme z.B. geprägt durch das Strafgesetzbuch von 1871 und seine Nebengesetze, das Gerichtsverfassungsgesetz sowie die Zivil- und Strafprozeßordnung von 1877 (ersetzt 1898); das Reichsgesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, von 1884; das Handelsgesetzbuch von 1897; das Gesetz, betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, von 1898; durch die Gewerbeordnung usw. Einschnitte brachte auch die Gesetzgebung großer Bundesstaaten. Die beiden »Fundamentalgesetze« des Preußischen Staates von 1891, die Landgemeindeordnung und das Einkommensteuergesetz, schlugen sich beispielsweise deutlich im Heymannschen Programm nieder.2 Tabelle 1: Staats- und rechtswissenschaftliche
Werke in deutscher Sprache
Jahr
1870
1875
1880
1885
1890
1895
1900
Zahl
1.394
1.666
1.829
1.870
1.818
2.184
2.598
Quelle: Otto Mühlbrecht: Übersicht der gesammten staats- und rechtswissenschaftlichen Literatur. Berlin 1869-1914. - Teilweise sind die Zahlen etwas höher als in der Hinrichs'schen Statistik, die nur eingesandte Artikel verzeichnet. Dazu Tony Kellen: Die literarische Produktion der Welt. In: Börsenblatt (1903) 120, S. 4235 f.
Das »Bürgerliche Gesetzbuch« Das dominierende Ereignis war jedoch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Mit Reichsgesetz vom 20. Dezember 1873 war die Zuständigkeit für die Gesetzgebung auf dem gesamten Gebiet des bürgerlichen Rechts auf das Deutsche Reich übergegangen. In zwei Kommissionen wurde der Entwurf von 1874 bis 1895 ausgearbeitet, nach 22 Jahren Vor-
1 Gedenkblatt, O.P. 2 Carl Heymanns Verlag, S. 77-79.
5.6
Juristischer Verlag
arbeit wurde das BGB mit Einführungsgesetz vom 18. August 1896 verabschiedet. Das Reichsgesetzblatt Nr. 21, das am 24. August 1896 das BGB veröffentlichte, war mit 57 Bogen in Quart und einer Auflage von 110.800 Exemplaren die stärkste jemals publizierte Nummer. Als Rekord wurde vermeldet, daß das Papier, das in der Reichsdruckerei auf drei Rotationsmaschinen in etwa 20 Tagen verarbeitet worden war, nebeneinandergelegt eine Papierbahn von 3.347 Kilometern, etwa von Moskau bis Madrid, oder, aufeinandergestapelt, eine Papiersäule von 631 Metern Höhe, fast das Vierfache des Ulmer Münsters, ergäbe.3 Als das BGB am 1. Januar 1900 in Kraft trat - gleichzeitig mit einem Gesetz, betr. Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Zivilprozeßordnung und der Konkursordnung, einem Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung, einer Grundbuchordnung und einem Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - , wurde die Rechtsvereinheitlichung in überschwenglichen Kommentaren gefeiert:4 »Die Neujahrsglocke d.J. 1900 läutete unserem deutschen Volke nicht nur ein neues Jahrhundert ein, sondern auch ein neues Recht. Die alte Buntscheckigkeit der preußischen, französischen und römischen Rechtsbestimmungen sollte aufhören: e i η Recht vom deutschen Fels bis zum deutschen Meere.« Auf die Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches hatten sich die juristischen Verlage seit Jahren vorbereitet. Die Publikationswelle dokumentiert die herrschende Stellung der Reichshauptstadt auf dem Gebiet des juristischen Verlags. Bereits in der Vorbereitungszeit konkurrierten insbesondere J. Guttentag, Carl Heymanns und Franz Vahlen. Die amtlichen Ausgaben des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, der Motive5 in fünf Teilen mit 4.144 Seiten sowie des Entwurfs eines Einfuhrungsgesetzes erschienen bei Guttentag, wogegen Heymanns von den Entwürfen zum BGB und dem Einführungsgesetz eine »zum Dienstgebrauch der preußischen Justizbehörden hergestellte Ausgabe« herausbrachte. Heymanns stützte sich bereits bei der Veröffentlichung dieser vorbereitenden Arbeiten auf den Deutschen Anwaltsverein. Bei Guttentag erschien zwischen 1888 und 1890 eine eigene Reihe, die Beiträge zur Erläuterung und Beurtheilung des Entwurfes eines Bürgerlichen Gesetzbuchs fiir das Deutsche Reich in 18 Heften. Auch Vahlen publizierte die Denkschriften und den Entwurf des BGB in sechs Heften, die die Abonnenten seiner Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts unberechnet erhielten. Nach der Verabschiedung der Gesetze durch den Reichstag kam es auf Schnelligkeit an, denn wer als erster auf dem Markt war, machte das Geschäft. Allein in Berlin publizierten Textausgaben des BGB, meist mit Einführungsgesetz und Register, teilweise auch mit Erläuterungen, neben J. Guttentag, Heymanns und F. Vahlen die Verlage Bruer & Co., R. v. Decker, F. Dümmler, Berliner bibliographisches Institut, P. Letto, H. Liebau, O. Liebmann, A. Nauck & Co., Aug. Schultze und A. Weichert. Otto Liebmann eröffnete mit der Textausgabe des Bürgerlichen Gesetzbuches im Westentaschenformat, von der er bis 1914 74.000 Stück verkaufte, die Reihe der »Liliput-Ausgaben«. Mit den Verlagen
3 Börsenblatt (1896) 201, S. 5227. 4 Deutsches Biographisches Archiv. Neue Folge, Fiche 1011/379, aus einem Artikel über Gottlieb Planck. 5 Motive zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Amtliche Ausg. 5 Bde. Berlin: J. Guttentag 1888, 2. Aufl. 1896.
487
488
5
Programmbereiche
Adolf Ludwig, Th. Knaur, C. Klinner, W. Malende, J. Milde, C. Ε. M. Pfeffer, Rossberg, E. Stock und J. J. Weber bildete Leipzig den einzigen weiteren regionalen Publikationsschwerpunkt.6 Die Preise der meist 300 bis 600 Seiten starken Ausgaben betrugen in Leinen ab M 2,- aufwärts, oft wurden M 2,50 (C. H. Beck, 42 Bogen, geb.) oder M 3,60 (Heymanns, 41 Bogen, geb.) verlangt, kartoniert gab es sie schon ab M 1,-. Heymanns brachte die erste Ausgabe des BGB mit umfassendem Sachregister heraus: »Noch am Abend des 1. Juli 1896 zeigte ein Rundschreiben dem Gesamtbuchhandel das Erscheinen einer nach der dritten Lesung hergestellten Textausgabe an und acht Tage später begann die erste Versendung, mit der das Buch geheftet und gebunden in 10 000 Exemplaren durch das ganze Reich verbreitet wurde. Der ersten starken Doppelauflage folgten fast unmittelbar die dritte, vierte und fünfte - nach nochmals genauer Textrevision - war mit der fünften Auflage binnen 11/2 Wochen die... Zahl von 20 000 Abzügen erreicht und innerhalb weniger Tage wiederum mehrere Tausend überschritten.«7 Die Ausgabe, die sich trotz des Umfangs von mehr als 40 Bogen durch leichte Handlichkeit auszeichnete, erreichte bis 1915 eine Gesamtauflage von fast 100.000 Exemplaren. Außerdem veranstaltete der Verlag für Liebhaber eine bibliophile Ausgabe auf Büttenpapier in 100 numerierten Exemplaren und im Auftrag des Deutschen Anwaltsvereins eine Handausgabe mit knappen Erläuterungen für die Praxis. Kommentare und Lehrbücher zum BGB bestimmten das Heymannsche Verlagsprogramm der nächsten Jahre.8 Kommentare zum BGB: Konkurrenz um Autoren mit Namen Die Durchsetzung auf dem Markt hing in diesem Fall nicht nur vom Zeitpunkt der Publikation, sondern mehr noch von der Qualität der Bearbeitung sowie von Namen und Rang der Herausgeber ab. Heymanns brachte einen »Großen Kommentar« heraus, der 1898 mit dem Sachrecht einsetzte und sich bis 1906 hinzog, mit dem Familienrecht als letztem Teil. Von den Kommentaren erreichte Friedrich Endemanns Lehrbuch, »die erste systematische Darstellung zum Bürgerlichen Gesetzbuch«, bis 1915 neun Auflagen (mit zuletzt drei umfangreichen Bänden), R. Altmanns Das Recht des bürgerlichen Gesetzbuchs. Ein kurzgefaßtes Lehrbuch für mittlere Justizbeamte 13 Auflagen. Bei den Kommentarwerken konkurrierten die Verlage um Juristen, die in der Welt des Rechts möglichst große Bekanntheit hatten und einschlägig ausgewiesen waren. Der Verlag der Guttentagschen Buchhandlung gewann Gottlieb Planck, der in der ersten Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs als Referent für das Familienrecht und in der zweiten Kommission als Generalreferent und damit auch als Hauptredaktor des BGB tätig gewesen war, als Herausgeber eines sechsbändigen Kommentars, der von 1897 bis 1902 erschien und es bis 1910 auf drei Auflagen brachte. Heinrich Dernburg machte die »Ausarbeitung eines großen, in sechs Bänden geplanten Werkes über das BGB samt Darstellung der Grundzüge des Handelsrechts und der in Geltung gebliebenen Normen des preu-
6 Christian Gottlob Kayser's Vollständiges Bücherlexikon. Bd. 29 (1895-1898). Leipzig: Tauchnitz 1899, S. 596 f. 7 Carl Heymanns Verlag, S. 84 f. 8 Umfassende Informationen zu den Veröffentlichungen rund ums BGB: Carl Heymanns Verlag, S. 8486, 92-94 sowie Recht im Wandel, S. 627 f.
5.6 Juristischer Verlag ßischen Zivilrechts« zu seinem Alterswerk, 9 obschon er als Mitglied des Herrenhauses den Entwurf aus seiner wissenschaftlichen Grundanschauung heraus bis zur letzten Stunde bekämpft hatte. Der erste Band seines von der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle verlegten Werkes Das bürgerliche Recht des deutschen Reichs und Preußens erschien 1902, der sechste, von Joseph Kohler zu Ende geführte Band posthum 1908. An eben diese Fachleute hatte auch Heymanns gedacht, als er Planck fiir die Redaktion eines umfassenden Kommentars und Dernburg für eine großzügige Systematik des BGB zu gewinnen suchte. Im 1868 gegründeten Verlag J. Schweitzer in München besorgte Julius von Staudinger, zuletzt Senatspräsident am Oberlandesgericht München und seit 1890 im Ruhestand, den Kommentar. Er wurde als »Staudinger« zum Markenzeichen und feierte 1998 sein hundertjähriges Bestehen. Die Verlagsszene In Tabelle 2 ist die juristische Verlagsproduktion in Zehnjahresschnitten dargestellt. Noch deutlicher als an den Titelzahlen (vgl. hierzu auch Tab. 1) zeigt sich die Produktionssteigerung an den Gesamtseitenzahlen. Die in den Hinrichs'schen Vierteljahreskatalogen angezeigten Titel erhöhten sich im Zeitraum von 1870 bis 1910 von 1.007 auf 2.113, die Gesamtseitenzahl dieser Titel wuchs von rund 164.000 auf 412.000 an, was einer Zunahme von 110 % bzw. 150 % entspricht. An die Spitze der juristischen Verlage setzte sich nach allen Indikatoren - Zahl der Titel, Gesamtseitenzahl, Gesamtladenpreis - Carl Heymanns in Berlin. Mit Heymanns, Guttentag, Vahlen, Liebmann sowie Decker und Kortkampf dominierte Berlin als Firmensitz; auch in Österreich-Ungarn hatten die führenden juristischen Verlage, die Κ. K. Hof- und Staatsdruckerei sowie Manz, ihren Sitz in der Metropole. Für den Ausbau eines juristischen Verlagsprogramms war es zweckmäßig, im Zentrum von Politik und Verwaltung zu agieren, wo die Gesetze gemacht wurden und das Fachwissen wie auch ein Gutteil des Zielpublikums sich konzentrierte. Von Leipziger Firmen spielten nur Duncker & Humblot eine führende Rolle, in Süddeutschland C. H. Beck, zeitweise auch Franz, Oldenbourg und Schweitzer in München sowie Buchner in Bamberg. Geht man von dem weiten Begriffsumfang der Rechtswissenschaft aus, wie ihn Hinrichs zugrunde legt, läßt sich nicht von einer Dominanz der führenden Firmen auf dem Markt sprechen. Kein Verlag konnte mehr als 5 % der Titelproduktion auf sich vereinen; die fünf Spitzenreiter von 1910 brachten es zusammen auf nicht mehr als 14 % der Titelproduktion und 19 % der Gesamtseitenzahl der Jahresproduktion. Der juristische Verlag war vergleichsweise hochpreisig. Der durchschnittliche Umfang (200 bis 300 Seiten) und die Höhe des Ladenpreises der Titel (von M 3,- bis M 5,-) resultierten aus Kommentaren und Sammlungen, einem Kernbereich juristischer Programme. Die Spannweite des juristischen Verlagswesens reicht vom traditionellen Universitätsverlag bis zu dem auf Textsammlungen, Lehrbuchreihen und Kommentare ausgerichteten Spezialverlag. In den traditionellen Verlagsprogrammen bildete die Rechtswissenschaft nur einen Verlagssektor unter anderen. Das ist beispielsweise bei L. Schwann in Düsseldorf der Fall, der Schwerpunkte in den Rechts- und Staatswissenschaften, dem
9 Deutsches Biographisches Archiv. Neue Folge, Fiche 264/21-22.
489
490
5
Programmbereiche
Tabelle 2: Juristische Verlagsproduktion in Zehnjahresschnitten (mit einem Anteil von mindestens 2 % der Gesamtproduktion) Führende Verlage nach
Titelproduktion 1870
Nr. Verlag
1880 Titel
Prozent
Titel Prozent
Verlag
1
KORTKAMPF, Berlin
51
5,1
HEYMANNS, Berlin
54
4,4
2
GUTTENTAG, Berlin
30
3,0
DECKER, Berlin
38
3,1
3
DECKER, Berlin
29
2,9
BECK, Nördlingen
24
1,9
4
FRANZ, München
25
2,5
Quelle: Hinrichs Vierteljahreskataloge. Erfaßt sind alle Unterrubriken Rechtswissenschaft: Allgemeines, Rechtsgeschichte, Kirchen- und Staatsrecht, Handels- und Seerecht, Gesetzeskunde, Verwaltung, Volkswirtschaft, Sozialwissenschaft, Innen- und Außenpolitik, Statistik, Staatshandel, Rechtswissenschaft, Staatswissenschaft. Gesamtproduktion nach Hinrichs 1870: 1.007 Titel; 1880: 1.239 Titel.-Zusammengestellt von Barbara Kastner. - Zur Quelle und zur Kritik der Daten vgl. Kap. Statistik und Topographie des Verlagswesens. Führende Verlage nach
Gesamtseitenzahl
1870
1880
Jahres- Durchproduk- schnitt tion pro Titel Nr. Verlag
Durchschnitt pro Titel
Jahresproduktion
Gesamt- Seiten- Verlag seiten- zahl pro zahl Titel
Gesamt- Gesamt- Seiten- Ladenzahl preis in seiten- ladenMark preis zahl in Mark
1
FRANZ, München
7 208
288,3
HEYMANNS, Berlin
13 463
146,4
249,3
2,71
2
GUTTENTAG, Berlin
6 989
233,0
DECKER, Berlin
10 099
139,8
265,8
3,68
3
KORTKAMPF, Berlin
5 116
100,3
BECK, Nördlingen
5 490
54,3
228,8
2,26
4
DECKER, Berlin
4 949
170,7
5
BUCHNER, Bamberg
4 077
147,1
6
OLDENBOURG, München
3 471
214,6
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion 1870: 164.435 Seiten; 1880: 249.896 Seiten.
5.6 J u r i s t i s c h e r Verlag
Führende Verlage nach Titelproduktion 1890
1900
Nr. Verlag
Titel Prozent Verlag
Titel Prozent
1
DUNCKER & HUMBLOT, Leipzig
51
3,6
HEYMANNS, Berlin
109
4,4
2
HEYMANNS, Berlin
48
3,4
GUTTENTAG, Berlin
90
3,6
3
MANZ, Wien
36
2,5
MANZ, Wien
63
2,5
BECK, Nördlingen/München
53
2,1
4
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion 1890: 1.412 Titel; 1900: 2.492 Titel.
Führende Verlage nach Gesamtseitenzahl 1890
1900
Jahresproduktion
Nr. Verlag
Durchschnitt pro Titel
Jahresproduktion
GeGe- Seiten- Laden samt- samt- zahl preis seiten- ladenin zahl preis Mark Verlag in Mark
Durchschnitt pro Titel
GeGe- Seiten- Ladensamt- samt- zahl preis seiten· ladenin zahl preis Mark in Mark
DUNCKER & 14 790 358,2 290,0 HUMBLOT, Leipzig
7,02
HEYMANNS, 33 536 504,9 316,4 Berlin
4,63
13 785 168,6 382,9
4,68
GUTTENTAG. 28 840 421,6 335,3 Berlin
4,68
159,4
3,10
BECK, Nördlingen/ München
16 533 170,2 324,2
3,21
69,6 267,9
2,78
HOF- u. 15 606 145,3 459,0 STAATSDRUCKEREI, Wien
3,82
MANZ, Wien
13 966 229,9 253,9
3,65
G. FISCHER, Jena
12 291 240,4
307,3
5,86
1 983 147,9 386,5
3,29
M A N Z , Wien
HEYMANNS, Berlin
7 649 149,0
HOF- u. STAATSDRUCKEREI, Wien
6 697
SCHWEITZER, München DECKER, Berlin
870 137,1
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion 1890: 270 424 Seifen; 1900: 514.704 Seiten.
269,8
3,12
492
5
Programmbereiche
Führende Verlage nach Titelproduktion 1910 Nr. Verlag
Titel Prozent
1
HEYMANNS, Berlin
83
3,9
2
GUTTENTAG, Berlin
70
3,3
3
VAHLEN, Berlin
61
2,9
4
G. FISCHER, Jena
46
2,2
5
DUNCKER & HUMBLOT, Leipzig
44
2,1
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion 1910: 2.113 Titel.
Führende Verlage nach Gesamtseitenzahl 1910 Jahresproduktion Nr. Verlag
Gesamtseitenzahl
Durchschnitt pro Titel
Gesamtladen- Seitenzahl Ladenpreis in Mark preis in Mark
1
HEYMANNS, Berlin
19 541
339,0
235,4
4,08
2
GUTTENTAG, Berlin
18 874
306,9
269,6
4,38
3
VAHLEN, Berlin
16 602
289,1
272,2
4,74
275,8
6,25
241,0
5,17
4
DUNCKER & HUMBLOT, Leipzig
11 584
275,2
5
G. FISCHER, Jena
10 364
237,7
Vgl. obige Erläuterung. Gesamtproduktion 1910: 411.549 Seiten.
Schulbuch- und Musikverlag setzte, aber auch weitere Gebiete wie Theologie oder bildende Kunst pflegte. 1 0 Ein typisches Beispiel für den traditionellen Universitätsverlag mit fakultätsübergreifendem Programm ist die Andreas Deichertsche Verlagsbuchhandlung in Erlangen. 11 Ihr juristisches Programm war durch die Verbindung mit der juristischen Fakultät der Universität geprägt. Deichert verlegte die bekannten »Romanisten« bzw. »Pandektisten« und Kirchenrechtler, fur die Erlangen berühmt war, aber auch die heimischen »Zivilisten«. Als Universitätsverlag legte Deichert auf Lehrbücher und Monographien Wert, weniger auf Kommentare, und besaß keine eigene juristische Zeitschrift. In wissenschaftlicher Hinsicht nahm der Verlag beim Tod von Andreas Deichert 1888 eine führende Stellung in Recht und Theologie ein. 12 Ein alternatives Beispiel eines Universitätsverlages mit juristischem Programm bietet der Verlag von J. C. B. Mohr, Paul Siebeck, in Tübingen. Im 10 Vgl. Einleitung und systematische Übersicht über die Produktion im Verlagskatalog von 1899 sowie die Darstellung in der Festschrift von 1921. 11 Emil Sehling: Fünfundsiebzig Jahre juristischen Verlages. In: Scholl (Hrsg.): Festschrift, S. XXIXXXXVI. 12 Von 1852 bis 1875 erschienen jährlich im Durchschnitt 25 Titel. Der Katalog von 1875 verzeichnet 703 Verlagswerke. Scholl (Hrsg.): Festschrift, S. XV.
5.6
Juristischer
Verlag
Unterschied zu Deichert betrieb Siebeck eine aktive Verlagspolitik, baute ein Informationsnetz auf, warb auswärtige Autoren und Herausgeber ein und wagte sich auch an Zeitschriftengründungen: So geht die Entstehung des Archivs des öffentlichen Rechts (1885 ff.) auf eine Anfrage um Zusammenarbeit zurück, die der Verleger an den jungen Greifswalder Professor Felix Stoerk gerichtet hatte.13 Die Verlage C. H. Beck und Carl Heymanns, die im Folgenden einander gegenübergestellt werden, repräsentieren unterschiedliche Verlagstypen. Der Beck Verlag operierte von der Provinz, von Nördlingen, und seit der Übersiedlung nach Schwabing 1889, von München aus, wogegen Heymanns in Berlin die Vorteile der Reichshauptstadt, den unmittelbaren Kontakt zum Reichstag und den Reichsbehörden für seinen Aufschwung zu nutzen wußte. Beck hat über dem juristischen Programm seine anderen Verlagszweige Theologie, Altertumswissenschaften und Pädagogik - nicht vernachlässigt, während Heymanns die zeittypische Spezialisierung im Verlagswesen vor Augen führt. Er wurde zu einem auf den juristischen Bereich beschränkten, in dieser Beschränkung aber universellen Verlag. Erweitert wurde das juristische Verlagsprogramm nur, wo es die Kontakte mit Verwaltung, Politik und einschlägigen gesellschaftlichen Gruppierungen nahelegten. Eingeleitet und vorangetrieben wurde die Spezialisierung von den jungen, nach der Jahrhundertmitte gegründeten Verlagen von J. Guttentag (1853), Ludwig Rossberg ( 1854), Franz Vahlen ( 1870) und Otto Liebmann ( 1890), die von Beginn an mehr oder weniger ausschließlich auf die Rechtswissenschaften setzten. Während jedoch Guttentag die nicht rechts- und staatswissenschaftlichen Titel 1885 zum größten Teil verkaufte, 14 erweiterte Rossberg seit 1894 sein Programm um den Schulbuchverlag.15 Carl Heymanns Verlag in Berlin In der Reichshauptstadt stieg der Carl Heymanns Verlag zum führenden juristischen Verlag des Kaiserreichs auf. Mit dem Geschäftsantritt von Otto Löwenstein, der den Verlag im April 1871 für die Summe von 25.000 Tir. kaufte, wurde »der Universalverleger vom Spezialisten abgelöst, der auf seinem Gebiet größtmögliche Universalität erstrebt«.16 Die fortschreitende Ausdehnung des Verlages läßt sich an den Publikationsnummern ablesen, die jedes Verlagswerk seit 1871 erhielt. »Dreizehn Jahre (1871-1884) waren erforderlich, bis einer Veröffentlichung die Nummer 1000 gegeben werden konnte. Neun Jahre (18841893) genügten, um das zweite Tausend zu vollenden. Die Nummer 3000 wird am 27. April 1899 ..., die Nummer 4000 im Jahre 1905, die Nummer 5000 im Jahre 1911 erteilt.«17 (Vgl. die Darstellung der Verlagstätigkeit in Abb. 1 und 2) »Ein Exemplar aller
13 14 15 16
Doerfert: Archiv, S. 32. Verlags-Katalog, 1903, Vorwort. Denkschrift, S. 24 f. Recht im Wandel, S. 626. Löwenstein erwarb nur die rechtswissenschaftlichen Verlagsartikel, den ganzen übrigen Teil des Verlags führte Julius Imme unter seinem Namen weiter. 1872 verkaufte Löwenstein die Hälfte seines Verlages für 4.500 Tir. an Elwin Staude. Lindner: Wilhelmstraße, S. Β 27 Anm. 17. 17 Zeitschriften und Lieferungswerke wurden zu Jahrgängen und Bänden zusammengefaßt. Carl Heymanns Verlag, S. 109 f.
494
5
Programmbereiche
73-120 121-213 214 - 299 300— 408 M
388.10
M
276.45
409-509 S10 —636 637-723 724 - 823 »24-896 897 — 972
542.75
973-1063
jH 623.85
1064-1162
M
1163-1252 1253-1350 M
634.35
1351-1451
M
70335
1442-1575 1576-1692 1693-1823
Abb. 1
©arftcttung ber 93eríag¿íaíigfetí in ben S a g r e n 1893 fué 1914 pillât! ber SBerfe
etneó ^templari (ámítldjer SBerle Mammen: M. 737.7s
1995-2142 2143-2321
M
SI7.40
2322-2474
M
977.65
2475-2664
M
913.50
2665—2825
M
886.20
2974-3133
M 1049.85
3134—3306
2826—2973
3307-3456 JU 910J20
3157-3608 3609-3751
M
962.00
37S2—3900
M
938J0
MM—4050
M 111730
4051-4233 4234—4404
J í 1111.90
4405—45S5
M
>71.10
4586—1782
M 1124.90
4783—4977
JC 1126.45
4978—5175
M 1121.36
5176 -5370
M 128976
5371—5560
M 1191.25
5561-573»
Abb. 2 (Quelle fir die Abb. 1 und 2: Carl Heymanns Verlag Berlin, 1915, S. 112-113)
5.6 Juristischer Verlag
neuen Erscheinungen des Jahres 1900 allein ergab einen Gesamtumfang von rund 4.000 Druckbogen und einen Ladenpreis von über 1.000 Mark.« 18 Zu Beginn des Ersten Weltkrieges gab der Verlag 45 Zeitschriften heraus und hatte seit 1871 5.739 Werke verlegt. 1890 hatte Heymanns eine Sortimentsbuchhandlung eingerichtet, um mit dem »zum großen Teil aus Reichs- und Staatsbeamten sich zusammensetzenden Publikum« in direkte Verbindung treten zu können. 19 Die Verlagsproduktion von Carl Heymanns wurde »zum Abbild der gesetzgeberischen und staatsrechtlichen Entwicklung des Reichs und der Bundesstaaten«. 20 Dies entsprach der Zielsetzung, die Löwenstein anläßlich des Kaufes der Sittenfeldschen Druckerei in sein Tagebuch notierte: »der Erbe Decker's zu werden, die Reichsverwaltung auf dem Gebiet der Presse zu repräsentieren«. 21 Neben dem Reichsrecht und dem preußischen Landrecht wurde auch das österreichische Recht gepflegt. Zu diesem Zweck wurde 1892 eine geschäftliche Vertretung in Wien eingerichtet. Löwenstein arrondierte seinen Titelbestand ständig durch Ankäufe von Werken aus anderen Verlagen und trieb damit die Spezialisierung des Verlagsprogramms voran. Der Ankauf der Hofdruckerei Julius Sittenfeld 1875 eröffnete dem Verlag die für seine erfolgreiche Weiterentwicklung entscheidenden geschäftlichen Verbindungen zu staatlichen Stellen. Kunden der Druckerei wie der Reichstag, das preußische Herrenhaus und die Stadt Berlin wurden für den Verlag gewonnen. Die Publikationen der Reichs- und preußischen Behörden waren für das Verlagsgeschäft entscheidend. Löwenstein zählte zu seinen Kunden u.a. Reichstag, Reichskanzleramt/Reichsamt des Innern, Auswärtiges Amt, Reichsversicherungsamt, Reichsschatzamt, Kaiserliches Statistisches Amt, Kaiserliches Patentamt, Ministerium für Handel und Gewerbe, Ministerium für öffentliche Arbeiten und das Königliche Oberverwaltungsgericht. Bereits 1877 trugen »fast die Hälfte sämtlicher Publikationen, und gerade deren wichtigste, einen amtlichen Charakter«. 22 So bildeten Abdrucke von Gesetzen, Berichte parlamentarischer Kommissionen, öffentliche Aktenstücke, Denkschriften und >WeißbücherVerlag Dr. Otto SchmidtMarke< auf dem Buchmarkt überformt wurden. Die dadurch ausgelösten Synergieeffekte und das organisatorische Geschick seines Gründers erklären den rasanten Aufstieg des Diederichs Verlages (vgl. Kap. 5.2). Broschürenflut Die spätestens mit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzende Broschürenflut war ein Charakteristikum der Zeit. Die gesellschaftliche Diskussion, die heute in audiovisuellen Medien, der Presse, in Taschenbuchreihen und Sachbüchern geführt wird, wurde damals in Form von billigen, periodisch erscheinenden Heften von 24 bzw. 32 Seiten aufwärts, aber selten über 100 Seiten Umfang, publiziert. Die Hefte konnten teilweise zu Jahrgängen zusammengebunden werden und stellten in solchen Fällen eine Zwischenform von selbständiger Veröffentlichung und Zeitschriftennummer dar. In Broschürenreihen wurde Volksaufklärung betrieben und Populärwissenschaft verbreitet, wurden die religiösen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen ausgetragen, suchten die kirchlichen und politischen Gruppierungen ihre Klientelen ideologisch zu formieren, warben Interessengruppen für ihre Ziele und Reformer für ihre Ideen. Aber auch die Fachleute Mediziner, Militärs, Pädagogen, Wirtschaftswissenschaftler - bedienten sich dieser Publikationsform, um aktuelle Probleme ihrer Profession zu diskutieren. In diesem Fall, der hier nicht verfolgt wird, traten die Broschüren an die Stelle der Sonderdrucke aus Zeitschriften und Sammelwerken, die damals noch buchhändlerisch vertrieben wurden. Alles
13 Daum: Wissenschaftspopularisierung, S. 300. Vgl. insgesamt dort Kap. V.5. 14 Daum, S. 307. Insgesamt S. 303-308. Vgl. auch die Fallstudie von Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus, zu »Kosmos. Zeitschrift fur einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre«, 1877-1886.
513
5.7 Sachbuch- und Ratgeberverlag
in allem waren die Broschürenreihen ein gar nicht zu überschätzendes Mittel der Informationspolitik und Meinungsbildung (vgl Kap. 5.4). »Zeitfragen« und »Streitfragen« Zeitfragen und Streitfragen waren häufig gewählte Titel; es gab Evangelisch-soziale (Leipzig: Grunow 1891 ff.), Gewerbliche (Zürich, Bern: Büchler & Co. 1887 ff.), Militärische (Berlin: Bath 1902 ff.), Naturwissenschaftliche (Godesberg-Bonn: Naturwissenschaftlicher Verlag 1909/10), Pädagogische (Gotha, später Wiesbaden: Behrend), Soziale (Minden: Bruns, später Berlin: George und Fiedler 1885 ff.) und Volkswirtschaftliche Zeitfragen (Berlin: Simion 1879 ff.) sowie Genossenschaftliche (Berlin: Guttentag 1895 ff.), Klinische (Wien: Breitenstein, später Braumüller, Holder 1887 ff.), Militairische (Berlin: Luckhardt 1872 ff.), Social-politische Zeit- und Streitfragen (München: Pollner, später Viereck 1883 ff.) usw. Zahlreiche Reihen wurden durch Vereine oder Gesellschaften betreut, wie - in den genannten Fällen - vom Evangelisch-Sozialen Kongreß, dem Keplerbund, dem Schweizerischen Gewerbeverein sowie der »Volkswirthschaftlichen Gesellschaft in Berlin und der ständigen Deputation des Congresses deutscher Volkswirthe«. Die Mode der Broschüren war eng mit dem Vortragswesen verbunden, das von Parteien, Gesellschaften und Vereinen zu gleichen Zwecken der Aufklärung, Meinungsbildung und Propaganda organisiert wurde. Viele Texte gingen direkt aus Vorträgen hervor (vgl. das Beispiel Damaschke).
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Verlag Continent, Theo Gutmann, Berlin W. 50. ^ soeben erschienen:
Broschüren-Folge „Continent" No. 10
Altjungfern-Koller von S f e f â l l
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Protest gegen die Auewüchse der modernen Frauenbewegung?
Diese Broschüre
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Abb. 3: Stefan von Kotze: Altjungfern-Koller (Quelle: Börsenblatt (1904), S. 11069). Antifeministisches Kuriosum aus der Broschüren-Folge »Continent« des gleichnamigen Verlages von Theo Gutmann
Manche dieser Reihen hielten sich über Jahrzehnte, wurden zu bekannten >Marken< und brachten es auf einen beachtlichen Gesamtumfang. Großen Erfolg hatten die Deutschen Zeit- und Streitfragen. Flugschriften zur Kenntnis der Gegenwart, die in erster Folge in 224 Heften von 1872 bis 1886 zuerst in Berlin bei Habel und später in Hamburg bei J. F.
514
5
Programmbereiche
Richter erschienen. Die von dem Juristen Franz von Holtzendorff und dem Historiker Wilhelm Oncken begründete Sammlung war kulturprotestantisch, kulturkämpferisch antirömisch ausgerichtet, verfugte über einen breiten Themenkreis, glänzte mit renommierten Fachleuten und sprach die reformwilligen Mittelschichten an. Die Hefte waren eher stark - oft mehr als 50 Seiten - und mit rund M 1,- nicht billig. Mit den Deutschen Zeitund Streitfragen setzte Holtzendorff seine reformerischen und volksbildenden Aktivitäten fort, die er mit der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge begonnen hatte. Diese gemeinsam mit seinem Freund Rudolf Virchow herausgegebene langlebige Sammlung - die 480 Hefte der ersten Folge erschienen bei Lüderitz in Berlin von 1866 bis 1885, die 360 Hefte der Neuen Folge in wechselnden Verlagen, zuletzt in der Verlags-Anstalt und Druckerei in Hamburg, von 1886 bis 1901 - war in der Wissenschaftspopularisierung epochemachend. Sie verweist im Titel auf die ursprüngliche Verbindung von Vortrag und Druck. Erfolgreich agierten auch die preisgünstigeren und populäreren religiösen Heftreihen. So erschien der Broschüren-Cyclus für das katholische Deutschland, von Nasse und später von Schöningh in Paderborn verlegt, von 1866 bis 1900 in 35 Jahrgängen zu je zwölf Heften à 10-20 Pf. Als Beispiel für den vielfaltigen Inhalt, der der Selbstbildung und Selbstvergewisserung der Katholiken wie auch der Ausbildung kirchlich sanktionierter Lebenstechniken diente, sei der 18. Jahrgang 1883 herausgegriffen (s. Tab 2): Tabelle 2: Broschüren-Cyclus für das katholische Deutschland, 18. Jahrgang, 1883 Heft
Titel
Seiten 1-32
1
Wer ist ein Katholik?
2
Abraham a Sancta Clara
35-56
3
Des Christen Buch
57-80
4
Ist der Mensch nur ein Thier?
81-96
5
Ueber das Lesen, namentlich Romanlesen
6
Der Zeitgeist der Gegenwart
121-136
7
Leben und Wirken des heil. Johannes Capistranus
137-152
8
Vergnügen und Vergnügungen
153-176
9
Die Schutzheiligen der Gewerbe zur Zeit Kaiser Maximilian's L 1495
177-192
97-120
10
Thomas Morus und Bischof Fischer
193-216
11
Von der Standeswahl
217-232
12
Die Türken vor Wien
233-256
Die beiden Kirchen, im evangelischen Lager auch liberale und orthodoxe Positionen und mit ihnen die sie vertretenden Verlage - , konkurrierten in den Schriftenreihen, wie aus ähnlichen Titelformulierungen hervorgeht: Biblische Zeit- und Streitfragen zur Aufklärung der Gebildeten (Groß-Lichterfelde: Runge, 1905 ff.) und Biblische Zeitfragen, gemeinverständlich erörtert (Münster: Aschendorff, 1908 ff.), das Heft meist zu 40 bis 60 Pfennig. Während »der positiv gläubige Protestant« an den Biblischen Zeit- und Streitfragen bereits eine Stütze besaß, schuf Aschendorff mit den Biblischen Zeitfragen »für die
5.7 S a c h b u c h - und R a t g e b e r v e r l a g
brennenden biblischen Einzelfragen ein sofort aufklärendes, sicher belehrendes Arsenal«.15 Die erste Auflage jedes Heftes war beim ersten Erscheinen bereits vergriffen. Paul Siebeck, der fuhrende Verleger des theologischen Liberalismus, entschloß sich gegen Ende des Jahrhunderts zu einem ähnlichen Schritt: Um die Forderungen und Ideen der religionsgeschichtlichen Arbeitsweise zu popularisieren, gründete er die Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft, von der von 1896 bis 1925 120 Hefte erschienen.16 Es folgten Religionsgeschichtliche Volksbücherfür die deutsche christliche Gegenwart, deren Themenspektrum sich auf den gesamten Bereich der allgemeinen Religionsgeschichte erstreckte. Sie setzten die Erträge des Handwörterbuchs zur Religion in Geschichte und Gegenwart (5 Bde., 1909-1913) für die Volksbildung um. »Die Auflagen der billig gehaltenen Hefte (50 Pfennig bis 1 Mark) betrugen in der Regel 10.000 oder 5.000 Exemplare. Nach Übernahme der Volksbücher vom Verlag Gebauer und Schwetschke wurden bis 1914 insgesamt etwa 300.000 Hefte verkauft.« 17 (Vgl. Kap. 5.2) Zum Verhältnis von Rede und Schreiben in der Reformpropaganda das Beispiel Damaschke
-
Adolf Damaschke (1865-1935), von seiner Ausbildung her Volksschullehrer, wirkte seit 1895 als freier Publizist. Er war Herausgeber und Redakteur verschiedener Zeitungen und Zeitschriften wie der Kieler Neuesten Nachrichten, der Zeit. Organ für nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage, als Tageszeitung das Hauptorgan des Naumann-Kreises, der Welt am Montag, deren Besitzer er wurde, der Deutschen Volksstimme, zunächst Sonntagsblatt der Kieler Neuesten Nachrichten und später selbständige Halbmonatsschrift, die gleichfalls in sein Eigentum überging.18 Damaschke ergriff vielfach Partei und engagierte sich in so unterschiedlichen Reformbestrebungen wie der Lesehallenbewegung - er war erster Schriftführer der von Konstantin Nörrenberg in Kiel ins Leben gerufenen »Gesellschaft Lesehalle« - und dem nationalsozialen Kreis um Friedrich Naumann, mit dem er einen persönlichen »Bund« schloß.19 Neben der Sozialpolitik war vor allem die Naturheilkunde sein Gebiet. Er bekleidete das Amt des Generalsekretärs der deutschen Naturheilvereine und war Redakteur des fuhrenden Organs Der Naturarzt, dessen Auflage um 1897 mehr als 70.000 Exemplare betrug.20 Damaschkes Lebensaufgabe wurde jedoch die Bodenreform, die von dem Grundsatz ausging, »daß der Boden dem kapitalistischen Marktbetrieb entzogen werden müsse, da er anderer Natur sei als die übrige Ware«.21 Damaschke wurde Vorsitzender des Bundes
15 Widmann: Die Aschendorffsche Presse, S. 166. Vgl. die Bibliographie im Verlags-Verzeichnis, S. 1719. 16 Rühle: J. C. B. Mohr, S. 70. Titeibis 1914 mit Auflagenhöhe und Absatzzahlen bei Hübinger: Kulturprotestantismus, S. 208-212. 17 Hübinger: Kulturprotestantismus, S. 205. Auch in diesem Fall werden Titel mit Auflagenhöhe und Absatzzahlen, S. 214-219, verzeichnet. 18 Damaschke: Zeitenwende, S. 11 ff., charakterisiert die Presseorgane und schildert seine Mitarbeit. 19 Vgl. »Mein Bund mit Naumann«, Damaschke, S. 86. 20 Richard Wrede (Hrsg.): Das geistige Berlin. Bd. 1. 1897. DBA, Fiche 219/123. 21 Theodor Heuss, Art. Damaschke, in: NDB, Bd. 3, 1957, S. 497 f. Hier S. 497.
516
5
Programmbereiche
der Deutschen Bodenreformer, einer überparteilichen Organisation, und machte die Deutsche Volksstimme zu seinem Organ. »Satzungsgemäß hatte jedes Mitglied jährlich 6 M Beitrag zu zahlen. Davon erhielt ich 4 Mark. Dafür mußte ich das Blatt jedem Mitglied portofrei liefern.«22 Damaschke lieferte den gesamten Inhalt - durchschnittlich jährlich 780 Seiten - und schrieb, um dies zu vertuschen, zeitweise unter fünf verschiedenen Namen.23 Als Programm der Bewegung schuf er die Schri ft Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches (mit dem späteren Zusatz: zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not). Er gab sie dem jungen Berliner Buchhändler Johannes Raede für seine Sammlung Kulturprobleme (1902, 3. Aufl. 1903) in Verlag,24 die vierte Aufl. aus dem Jahre 1907 erschien im Verlag der Hilfe, des Wochenblattes des Naumann-Kreises, die weiteren Auflagen bei Gustav Fischer in Jena ( 19. u. 20. Aufl. = 111.-136. Tsd. 1923). Der Umfang wuchs dabei auf das Doppelte, von 246 auf484 Seiten an. Durch eine Einführung in Reclams Universal-Bibliothek (Nr. 6972,1929,3. Aufl. 1933) wurden die Ideen der Bodenreform in weiteste Kreise getragen. Als Journalist, Redner und Publizist war Damaschke unermüdlich. Nur für die größeren, »aus dem Bedürfnis der Bewegung«25 hervorgegangenen Werke fand er einen Stammverlag: das wirtschaftswissenschaftliche Programm des Verlages von Gustav Fischer in Jena. Hier erschienen die Longseiler Geschichte der Nationalökonomie (2 Bde., 1905, 14. Aufl. 1929) und die Volkstümliche Redekunst. Erfahrungen und Ratschläge (1911, 66.-70. Tsd. 1930). Beide Werke sind aus Vorträgen entstanden, und dies scheint charakteristisch für große Teile des Reformschrifttums: »Mich hinzusetzen und ein Buch zu schreiben, dazu hatte ich niemals Neigung, auch niemals Zeit. [...] Gewöhnlich mußten mich zugesagte Vorträge zwingen, einen gewissen Stoff zu bestimmten Stunden abzuschließen. Diese Vorträge habe ich nie wörtlich ausarbeiten können. Das scheute ich. Eine Schreibe ist keine Rede, wie ja auch umgekehrt eine Rede keine Schreibe ist. Aber wenn ich die Rede gehalten hatte und mir den Eindruck der einzelnen Ausführungen vergegenwärtigte, so konnte ich auf Grund der Aufzeichnungen für den Vortrag wohl auch die Grundlage für ein Buch gewinnen.«26 Die Schrift Wohnungsnot und Bodenfrage ging aus der stenographischen Mitschrift eines Studenten hervor, der sich Geld verdienen mußte.27 So überrascht es nicht, daß die aus Vorträgen hervorgegangenen Broschüren in den verschiedensten Verlagen, bei Vereinen und Gesellschaften und häufig in Sammlungen erschienen. Damaschke selbst gab im Eigenverlag der Bodenreform (später Gebr. Mann, H. Thomas Nachf. in Berlin) die Broschürenreihe Soziale Zeitfragen (91 Hefte von 1895 bis 1930) heraus, die es auf eine Gesamtauflage von weit mehr als eine Million Stück brachte.28
22 Damaschke: Zeitenwende, S. 179. 23 Damaschke, S. 180 f. 24 Damaschke, S. 189-191. Der Kontakt war über Vorträge zustande gekommen, die Damaschke 1901 im Falkgymnasium in Berlin gehalten hatte. 25 Damaschke, S. 191. 26 Damaschke: Zeitenwende. 27 Damaschke, S. 196 f. Der Titel verweist auf die Entstehungsbedingungen: Wohnungsnot und Bodenfrage. Vortrag im »Wohnungs-Mieter-Verein« am 4.5.1899. Stenographisch aufgenommen, durchgesehen u. hrsg. von E. Reuter. Halle: J. Krause 1899. 29 S., Auflage: 10.000. 28 Damaschke,S. 196 f. Zu dieser Zeit (vor 1925)lagen81 Hefte in bereits mehr als 1.100.000 Stück vor.
517
5.7 S a c h b u c h - und R a t g e b e r v e r l a g
Der Verlag Otto Spamer - das Sachbuch als Hausbuch Der Verleger Otto Spamer faßte Anfang der fünfziger Jahre den Plan zur Herausgabe »einer Reihe tüchtiger, der Zeit und ihren Anforderungen entsprechender, in sich abgeschlossener, illustrierter Kinder-, Jugend-, Familien- und Volksschriften - Musterbücher für Jugend und Haus - , welche nach der einen Seite hin dem Durchschnittsbedürfhis des gebildeten Publikums, nach der anderen insbesondere den aufstrebenden Geistern aus den verschiedenen Schichten des Gewerbe- und Handelsstandes dienen sollten.« 29 Die »Vorbereitungs- und Fortbildungsschriften für das Haus und das Leben« sollten auf wissenschaftlicher Basis »gewissermaßen das ganze Fortschrittsleben der Gegenwart abspiegeln«. 30 Der Stand, den der revidierte Publikationsplan 1871 erreicht hatte,31 geht aus Tabelle 3 hervor. An ihr lassen sich zentrale Rahmenbedingungen ablesen, unter denen die Publikation des Sachbuchs als Hausbuch zur Zeit der Reichsgründung stand.
Publikationsplan
Tabelle 3: des Verlages Otto Spamer 1871 Vollendet, Rückstand,
Bde.
Bde.
Erste Hauptabtheilung: Kinder-, Jugend- & Volksbildungsschriften I.
Für die Kinderwelt A. Illustrirtes goldenes Kinderbuch 1. Gruppe: Anmuthige Belehrungen und Unterweisungen 2. Gruppe: Zur Kenntnis der Umgebung des Kindes und der Heimat 3. Gruppe: Spiel- und Unterhaltungsbücher
12 6
1 4
3
4
10 6 13 11 7
2 6
II. Für Jugend und Haus B. Illustrirte Jugend- und Hausbibliothek 1. Serie: Kosmos für die Jugend 1. Gruppe: Die Natur 2. Gruppe: Der Mensch, Herr der Schöpfung 2. Serie: Belehrende Unterhaltungsschriften 3. Serie: Geschichtswerke für Jugend und Haus 4. Serie: Fortsetzung der Geschichtswerke (5. Serie = Illustrirtes goldenes Kinderbuch, zweite Gruppe) (6. Serie = dass., dritte Gruppe) 7. Serie: »Vaterlandsbuch«. Illustrirte Schul- und Hausbibliothek. Geographische vaterländische Bilder aus dem Deutschen Reich 8. Serie: Geographische vaterländische Bilder ... aus Oesterreich-Ungarn 9. Serie: Zur Weiterführung einer der vorhergehenden Serien
-
1 5
2
10
4
6
29 Spamer: Verlagsbericht. Abt. 1, S. 13. 30 Spamer, Abt. 1, S. 14 f., aus dem Programm von 1853. 31 Vgl. »Einige Mittheilungen ueber Plan, Zusammenhang und Entwicklungsgang der Jugend- und Hausbibliotheken«. Spamer, Abt. 1, S. 23-34.
5
Programmbereiche 1
•ssmrrnîs®^
ran····»
Bde. 10. Serie: c.
»Pantheon«. Lebensbilder berühmter Menschen
Illustrirte Jugend- und Hausbibliothek. Neue Folge Welt der Jugend.
4 38
D. Livre d'or. Bibliothèque illustrée pour la jeunesse et la famille
4
Bde. 8
-
8
III. Jugend- und Volksschriften E. Malerische Feierstunden. Volks- und Familien-Bibliothek zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse 1. Das Buch der Reisen. Illustrirte Bibliothek der Länder- und Völkerkunde 2. Naturwissenschaftliche populäre Lehrbücher 3. Praktische Lehr- und Hülfsbücher für das Leben, vornehmlich für angehende Gewerbetreibende und Künstler 4. Ehrentempel des neunzehnten Jahrhunderts. Biographische Denkmäler berühmter Zeitgenossen
Summe
13
-
10 8
-
8
-
-
159
55
6
20
6
6
1 2
9 2
1
5
6
4
20
46
Zweite Hauptabtheilung: Allgemeine Bildungsschriften und Mitgaben F.
Neues Buch der Reisen und Entdeckungen. Illustrirte Bibliothek der Länder- und Völkerkunde G. Aus dem Reiche des Lebens in Pflanzen-, Thier- und Menschenwelt H. Biographische Denkmale. Historische Galerien 1. Galerie der Meister in Wissenschaft und Kunst 2. Galerie hervorragender Kaufleute, Förderer des Handels und Meister auf dem Gebiete der Technik 3. Lebensbilder, Kultur- und Sittengemälde Buch der Religionen - Helden der christlichen Kirche Buch berühmter Frauen
I.
Für Haus und Leben. Mitgaben & Festgeschenke Das Buch der Hausfrau. - Buch der Erziehung - Andachtsbücher etc. - Briefe berühmter Deutscher - Literatur- und Kunstgeschichte - Illustrirte Chronik Das preuss. Landwehrbuch - Pferd und Reiter - Pferd, Wagen und Kutsche
Summe
Dritte Hauptabtheilung: Fachschriften. Zur Literatur des Handels, der Gewerbskunde, Chemie und Technik K. Bibliothek des Wissenswürdigsten aus der Gewerbskunde und technischen Chemie Praktische Lehr-, Hand- & Hülfsbücher für Techniker, Gewerbtreibende (!), Fabrikanten, Kaufleute. Chemiker, Künstler etc.
1. Serie:
Dr. E. Winckler's Technisch-chemisches ReceptHandbuch 2. Serie: welche der Darstellung einzelner Gewerbe und Geschäftszweige gewidmet ist L. Die kaufmännische Bibliothek M. Die Schule der Baukunst N. Illustrirte Bibliothek des landwirtschaftlichen Gartenbaues
Summe
6 50
_ -
10
_
100
11
5.7
Sachbuch- und
519
Ratgeberverlag
Vollendet, Rückstand, Bde. Bde. Vierte Hauptabtheilung: Volksthiimliche Prachtwerke 0.
P.
Pracht-Ausgaben von Volkswerken in lieferungsweisem Bezug, erschienen geplant: Erde und Weltall (angekündigt als »Buch der Schoepfung«) Naturgeschichte des Thier- und Pflanzenreichs Illustrirte Nachschlagebücher. Encyklopädien, Lexika und Wörterbücher Illustrirtes Bau-Lexikon Illustrirtes Archaeologisches Wörterbuch Illustrirtes Konversations-Lexikon für das Volk
7
-
12 2
3 -
4 1
2
6
Summe
12
25
Bände gesamt
291
137
Quelle: Otto Spamer: Illustrirter Verlagsbericht. Jubiläums-Katalog von Otto Spamer in Leipzig. Erste Abtheilung. Leipzig, ausgegeben im Dezember 1872, S. 35-38.
Als Zielgruppen waren Jugend und > Volk< nahezu deckungsgleich; auf die Familie als Sozial- und Kommunikationszusammenhang hin waren viele Titel konzipiert. Manche Titel waren noch ganz traditionell als »Hausbücher« gedacht, die man nur einmal im Leben erwirbt oder erhält; sie dienten als »Mitgaben« für einen Lebensabschnitt und als »Festgeschenke« zu Feiertagen und Jubiläen. Von Sachbüchern dieser Art wurde eine aufwendige Illustration erwartet, >Prachtwerke< dienten zur Auslage in der >guten Stube< und hatten als »Schaustücke« und Besehbücher Repräsentationswert. 32 Im Salon des Kaiserreichs wurden sie zu »konstitutiven Bestandteilen von Einrichtungs-Gesamtkunstwerken«. 33 Der Wert, den Spamer auf die äußere Erscheinung des Buches legte, geht aus dem Grundsatz hervor, »neue Auflagen vom Standpunkte der Ausstattung aus als neue Bücher zu betrachten«. 34 Der kulturelle Wert des vermittelten Wissens, die soziale Wertschätzung des Besitzers und der symbolische Wert des Buches, wie er sich in der Ausstattung ausdrückte, hatten die Tendenz zu konvergieren. Daß niedrige Preise sich »nur auf dem Wege der Illustrirung durch Holzschnitte, in Verbindung mit Veranstaltung großer Auflagen« 35 erzielen ließen - diese Lehre nahm Spamer aus dem Hause von Johann Jakob Weber mit, der ihn »seinen gelehrigsten Schüler« nannte. 36 Weber hatte nach englischem Vorbild den Holzstich in das Buch und in die Zeitung eingeführt und publizierte zur Weiterverwendung des Abbildungsmaterials, das sich durch die Illustrine Zeitung (1843 ff.) ansammelte, auch »Illustrirte Katechismen«, aus denen »Webers Illustrirte Handbücher« hervorgingen. 37 Die Verlage von Weber und 32 Mazzoni: Prachtausgaben, S. 58. 33 Mazzoni, mit einer Dokumentation »Für den Salon«, S. 59-64. 34 Spamer, Abt. 1, S. 21. Spamer: Verlagsbericht, Abt. 2, stellt die Reihen mit vielen Illustrationsbeispielen vor. 35 Spamer, Abt. 1,S. 15. Zum »Buntdruck mittels der Buchdruckschnellpresse« und dem Betriebskapital fur illustrierte Jugend- und Volksschriften vgl. S. 17-19. 36 Spamer, Abt. 1, S. 12.
520
5 Programmbereiche í'tlf.lj Mil Olli) ÜHKIlt in .ïril'jilj. '
J H i t s i r i r b J i î ï t ï w l ï p ï i h r J i i i n h c r - unit " f ä i b r k i m b i .
Dos „lient Buif)ta»îltiftn" 6mm sudj in ôîflcn ju 71/« Sur. = 2? Jir, rö. Oejofliii iwXb. Abb. 4: Australien. Aus der Reihe: Das neue Buch der Reisen und Entdeckungen. Erweiterte neue Ausgabe von Otto Spamer 's Illustrierter Bibliothek der Länder- und Völkerkunde (Quelle: Otto Spamer: Illustrirter Verlagsbericht, 1872. Abt. II. S. 59)
5.7 Sachbuch- und Ratgeberverlag Spamer konkurrierten somit im Sachbuchbereich. Spamer eiferte Weber auch darin nach, daß er sich eine für seine Zwecke eingerichtete »Artistische Anstalt« fur Xylographie und Zeichnung auf Holz 1858 angliederte.38 Thematisch fallen als Großgruppen historische und »vaterländische«, länder- und völkerkundliche sowie biographische Titel auf, denen sich die beliebte Reiseliteratur anschließt. Die »beiden KulturenRatgeber< und dem professionellen >FachbuchGeschenkversionTrittbrettfahrerineilige Wanderen auch broschierte >Wegweiser< mit geringerem Umfang angeboten. Die >Führer< gab es zudem bis zur Mitte der siebziger Jahre in zwei Ausgaben: Bei gleichem Textumfang war die teurere Ausgabe zusätzlich mit zahlreichen, ausklappbaren Stahlstichtafeln ausgestattet.« 96 Wie eine Gegenüberstellung der Produktion um 1900 verdeut-
89 90 91 92 93 94
Hinrichsen, S. 26f. Hinrichsen, S. 35. Hinrichsen, S. 34. Vgl. Anzeige im Börsenblatt (1900) 150, S. 5003. Hinrichsen: Baedeker-Katalog, S. 31. Will Vorderwisch, Art. Theobald Grieben, ADB 7, 1966, S. 56 f. Hier S. 56. Übersicht über die Produktion nach Nummern wie Inhalt im GV alt. 95 Sarkowski: Das Bibliographische Institut, S. 222-229 u. 237-239. 96 Sarkowski, S. 227.
536
5
Programmbereiche
licht,97 spezialisierte sich das Bibliographische Institut mit Erfolg auf Teilausgaben zu deutschsprachigen Ausflugs- und Wandergebieten {Der Harz in 15. Aufl. 1899 und 21. Aufl. 1912; Riesengebirge in 12. Aufl. 1900 und 17. Aufl. 1911). Mit dem Plan eines Reisehandbuchs »Um die Welt«, das Fritz Baedeker seit 1904 beschäftigte,98 stand er in direktem Wettbewerb mit Meyer - und verlor, da bereits 1907 als Nr. 52 von Meyers Reisebüchern die opulente Weltreise mit 516 Seiten herauskam (2. Aufl. 1912). How to do-Bücher Um die Jahrhundertwende entstanden die ersten Reihen moderner Ratgeber. >Modern< meint, daß sie ganz auf die Sache und den praktischen Nutzen ausgerichtet sind, ihren Gegenstandsbereich eingrenzen und eine klar umrissene Zielgruppe haben. Von ideologischen und repräsentativen Werten, wie sie für das Spamersche Verlagsprogramm charakteristisch waren, sehen sie weitgehend ab, sprechen nicht mehr ein allgemeines Bildungsbedürfnis an und geben statt dessen themenspezifische Ratschläge. »Lehrmeister-Bibliothek« Repräsentativ für den zukunftsweisenden Neuansatz wurde die Lehrmeister-Bibliothek (später: Lehrmeister-Bücherei), welche die Leipziger Verlagsbuchhandlung Hachmeister & Thal aus der Zeitschrift Der Lehrmeister im Garten und Kleintierhof heraus 1910 entwickelte. Die Eigenwerbung sprach von »praktischen, billigen Büchern für alle möglichen Bedürfnisse des täglichen Lebens«,99 oder kurz und bündig im Bereich häuslichen Werkeins: »Jeder sein eigener Handwerker!«.100 Das Programm101 umfaßte die Tätigkeiten im Haushalt, in Haus und Garten, einschließlich der Jagd und einer kleinen Landwirtschaft, sowie alle Hobbybereiche: I. Gartenbau. Blumenpflege II. Jagd. Hunde. Angelsport III. Landwirtschaft. Bienenzucht. Fischzucht IV. Hauswirtschaft V. Geflügel. Singvögel VI. Sammelsport. Aquarien VII. Sport und Spiel VIII. Liebhaberkünste (Sticken, Häkeln, Klöppeln, Skizzieren, Aquarell-, Öl-, Porzellanmalerei, Photographie, Anfertigung von Christbaumschmuck usw.) IX. Technik. Handwerkskunst X. Geistige Bildung (Sprachführer, Vortragskunst, Gedächtnistraining, Handschriftendeutung, »Wege zum Erfolg« u.a.) 97 Hinrichsen: Baedeker-Katalog, S. 32f. 98 Hinrichsen, S. 34. 99 Fritz Lindenberg: Besserer Rundfunk-Empfang durch eigene Hilfe. Leipzig: Hachmeister & Thal (1941), mit Schlagwort-Verzeichnis der Reihe. Reprint Köln: Herbst 1994. 100 Anzeige in: Hermann Bock, Karl Weitzel: Der historische Roman als Begleiter der Weltgeschichte (Lehrmeister-Bücherei Nr. 535-544). Leipzig: Hachmeister & Thal (ca. 1920). 101 Vgl. die ganzseitige Anzeige mit dem Gesamtprogramm im Börsenblatt (1911) 232, S. 11551.
5.7
S a c h b u c h - und R a t g e b e r v e r l a g
Der Ladenpreis der mit 40 % Rabatt und in Partien zu 13/12 angebotenen, meist ca. 30 bis 80 Seiten starken Bändchen betrug 20 Pf. Bis 1911 waren 184,1920 über 500,1960 mehr als 2.000 Nummern publiziert. Die Reihe setzte ihren Erfolg in der Weimarer Republik, wo sie sich dem Rundfunk öffnete, fort, überdauerte zwei Weltkriege und wird heute vom Landbuch-Verlag in Hannover herausgegeben. » Violets Studienföhrer« Die Neukonzeption, die Hachmeister & Thal mit der Lehrmeister-Bücherei vollzogen, hat Parallelen in anderen Bereichen, so daß man davon ausgehen darf, daß sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg der heutige Typus von Ratgebern ausgebildet hat. Der Verlag Violet, 1858 von Wilhelm Violet in Leipzig (später Stuttgart) begründet, verlegte Unterrichtswerke und Präparationen für Schüler und Studierende. Aus der alten Textsorte der Hodegetik heraus schuf er die Reihe Violets Studienföhrer, die alle im Titel die gleiche Frage fiihren: Wie studiert man klassische Philologie (Philosophie, Rechtswissenschaft, Evangelische Theologie usw.)? Ergänzt wurde die Reihe durch Violets Beruf swahlföhrer, bei denen auch an die Frauen gedacht wurde: Violets Ratgeber für weibliche Berufe. Eine Übersicht über die Erwerbsgelegenheiten ... (1903, 91 S.). Die Ratgeber für Kaufleute faßte der Verlag in Violets Globus-Bücherei. Handbibliothek der gesamten Handelswissenschaften zusammen - eine gut gemachte handliche Reihe, die in den zwanziger Jahren expandierte. Geworben wurde mit der kostenlosen Schrift Wie gelangt der Kaufmann zum Erfolg?. Denn die Bücherei - so wandte sich der Verlag an sein Zielpublikum - »lehrt Sie sicheres und gewandtes Arbeiten, die Kunst, richtig zu disponieren und zu organisieren, verhilft Ihnen zur Erhöhung und Festigung Ihrer Stellung, zur Verbesserung Ihres Einkommens, zur Selbständigkeit«.102 * In den vorangehenden Ausführungen wurden keineswegs alle wichtigen Verlage im Sachbuch- und Ratgeberbereich genannt. Ein Verlag von Sachbüchern aller Themenbereiche war beispielsweise die Ernst'sche Buchhandlung in Quedlinburg, wie ein Potpourri von (abgekürzten) Titeln illustriert: Angelfischerei, Blumengarten, Briefsteller, Einmachekunst, Hundearzt, Reitunterricht, Schachbüchlein, Scatspieler sowie Bienen-, Kaninchen- und Taubenzucht.103 Daneben gab es auf einzelne Bereiche spezialisierte Verlage wie Friedrich Beck in Wien, der seit den siebziger Jahren den Schwerpunkt Hippologie ausbaute. Der erste auf das Sportfachbuch spezialisierte Verlag entstand mit Grethlein & Co.,104 der oben im Zusammenhang der Jagdliteratur Erwähnung fand. Von den Buchhändlern Konrad Grethlein und Wilhelm von Crayen 1899 gegründet, wurde er bereits 1902 von dem Verleger Curt Hauschild übernommen. Da der Sport erst in der Weimarer Republik ein Massenphänomen wurde, legte sich der Verlag ab 1907 Unterhaltungsliteratur - mit Walter Bloem als erfolgreichem Autor - als zweiten Programmbereich zu. Zu ih-
102 P. Friesenhahn/A. Schwering: Handbuch der Reklame für den modernen Geschäftsmann (Violets Globus-Bücherei) 3. Aufl. Stuttgart: Violet o.J. Anzeigenanhang, S.V. 103 Angaben nach dem »Gesamt-Verlags-Katalog« von Russell. 104 Die folgenden Daten nach Hohlfeld: Betrachtungen. Bibliographie zur Sportliteratur, S. 435-452.
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5
Programmbereiche
rer Vermarktung in der Presse unterhielt er von 1908 bis 1922 die Feuilleton-Korrespondenz Der neue Zeitungsroman. Der reich entwickelte Markt von Ausflugs- und Tourenbüchern wurde nur am Beispiel des Verlages Kiessling angesprochen. Hier hatten lokale Verleger wie A. Köhler in Dresden ihre Chance. Köhler gab Ausflugstips von Wandervereinen heraus und faßte sie in der Reihe Köhler 's praktische Touristenfiihrer zusammen. Eine umfassende Darstellung des reichen Sachbuch- und Ratgeberbereichs ist beim derzeitigen Kenntnisstand nicht möglich. Um eine Übersicht über die Produktion zu gewinnen, bedarf es einer Kärrnerarbeit bei der Sammlung der Titel und der Beschreibung der Bücher, wie sie nur von Liebhabern und Sammlern zu erwarten ist.
Literatur Nachschlagewerke Deutsches Biographisches Archiv. Mikrofiche-Edition. Hrsg. von Bernhard Fabian. München u.a.: Saur 1982. Deutsches Biographisches Archiv. Neue Folge bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Mikrofiche-Edition. Hrsg. von Willi Gorzny. München u.a.: Saur 1989. Gesammt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels und des mit ihm im direkten Verkehr stehenden Auslandes. Hrsg. von Adolph Russell. Mikrofiche-Edition. München u.a.: Saur 1986. Bibliographien
und
Forschungsliteratur
ARTELT, Walter: Die deutsche Kochbuchliteratur des 19. Jahrhunderts. In: Ernährung und Ernährungslehre im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Edith Heischkel-Artelt (Studien zur Medizingeschichte des 19. Jh., 6) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 350-385. Beruf der Jungfrau. Henriette Davidis und Bürgerliches Frauenverständnis im 19. Jahrhundert. 2. Aufl. Oberhausen: Verlag M. Krumbeck, Graphium press 1990. BIESALSKI, Ernst-Peter: Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850-1900. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 36 (1991), S. 1-94. DAUM, Andreas: Naturwissenschaftlicher Journalismus im Dienst der darwinistischen Weltanschauung: Ernst Krause alias Carus Sterne, Ernst Haeckel und die Zeitschrift »Kosmos«. Eine Fallstudie zum späten 19. Jahrhundert. In: Mauritiana (Altenburg) 15/2 (1995), S. 227-245. DAUM, Andreas: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914. München: Oldenbourg 1998. DIEDERICHS, Ulf: Annäherungen an das Sachbuch. Zur Geschichte und Definition eines umstrittenen Begriffs. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Themen, Tendenzen seit 1945. Die deutschsprachige Sachliteratur. Hrsg. von Rudolf Radler. München: Kindler 1978, S. 1-37. EHLERT, Trude: Zum Funktionswandel der Gattung Kochbuch in Deutschland. In: Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder (Kulturthema Essen, 1). Hrsg. von Alois Wierlacher, Gerhard Neumann u.a. Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 319-341. EISENBERG, Christiane: »English sports« und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 18001939. Paderborn: Schöningh 1999. HÄNTZSCHEL, Günter (Hrsg.): Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850-1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 15) Tübingen: Niemeyer 1986 [Bibliographie der Anstandsbücher und Lebenshilfen, S. 484-504].
5.7 S a c h b u c h - und R a t g e b e r v e r l a g
HÜBINGER, Gangolf: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen: Mohr 1994. KERBS, Diethart, REULECKE, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 18801933. Wuppertal: Peter Hammer 1998. LANGE, Helene, BÄUMER, Gertrud (Hrsg.): Handbuch der Frauenbewegung. Tl. I: Die Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern. Berlin: W. Moeser 1901. LUTUM, Paula: Der Küchen- und Blumengarten von Henriette Davidis. Praktischer Ratgeber oder bürgerliche Erziehungsschrift? In: Beruf der Jungfrau, S. 155-159. MAZZONI, Ira Diana: Prachtausgaben. Literaturdenkmale in Quart und Folio (Marbacher Magazin 58) Marbach a.N.: Deutsche Schillergesellschaft 1991. OREND, Friedrich: Henriette Davidis und Liebig. Erfindung und Vermarktung. In: Beruf der Jungfrau, S. 167-175. PIETSCH, Ulrich: Bürgerliche Küche in Norddeutschland, 1850-1890. In: Beruf der Jungfrau, S. 198238.
PFITZER, Ina: Kosmos. Naturwissenschaftliches Literaturblatt 1904-1914. Ein Beitrag zur Popularisierung der Naturwissenschaften. Magisterarbeit München 1998. PRETZEL, Ulrike: Die Literaturform Reiseführer im 19. und 20. Jahrhundert. Untersuchung am Beispiel des Rheins (EHS, Reihe I, Bd. 1531) Frankfurt a.M.: Peter Lang 1995. SCHIFFELS, Walter, ESTERMANN, Alfred: Nichtfiktionale deutsche Prosa 1870-1918. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. XVIII: Jahrhundertende - Jahrhundertwende. Tl. 1. Hrsg. von Helmut Kreuzer. Wiesbaden: Athenaion 1976, S. 225-264. SCHUMANN, Andreas: Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichtsschreibung 1827-1945. München u.a.: Saur 1994 [mehrere Register, auch nach Verlagen]. SCHWENK, Sigrid: Bibliographie der deutschsprachigen Jagdliteratur von 1851 bis 1945. Bd. 1: A-K. Berlin, New York: de Gruyter 1997. TIMM, Willy: Henriette Davidis. In: Westfälische Lebensbilder. Hrsg. von Robert Stupperich. Bd. XII. Münster: Aschendorff 1979, S. 88-103. VERK, Sabine: Geschmacksache. Kochbücher aus dem Museum für Volkskunde. Berlin 1995. WEISS, HansU.: Gastronomia. Eine Bibliographie der deutschsprachigen Gastronomie 1485-1914. Ein Handbuch für Sammler und Antiquare. Zürich: Bibliotheca Gastronomica 1996.
Zeitgenössische Fachliteratur sowie weitere Quellen DAMASCHKE, Adolf: Aus meinem Leben. Leipzig, Zürich: Grethlein & Co. 1924. DAMASCHKE, Adolf: Zeitenwende, Aus meinem Leben. Zweiter Band. Leipzig, Zürich: Grethlein & Co. 1925.
Firmengeschichten und Firmenschriften Almanach des Verlages Grethlein 1899-1924. Leipzig: Grethlein 1924. Aus Natur und Geisteswelt. Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen. Illustrierter Katalog 1911. Leipzig: Teubner. Baedeker. Ein Name wird zur Weltmarke. Ostfildern: Karl Baedeker 1998. Das Bibliographische Institut in Leipzig und Wien. Entwicklungsgeschichte, Verlagsunternehmungen, Anlage und Betrieb. Verlagsverzeichnis [1914], FRÜHAUF, Helmut: Das Verlagshaus Baedeker in Koblenz 1827-1872. Koblenz: Rheinische Landesbibliothek 1992. GOLDFRIEDRICH, Johann: Johann Jakob Weber. In: Sächsische Lebensbilder. Bd. 1. Dresden: Wolfgang Jess 1930, S. 395-403. HINRICHSEN, Alex W.: Die Baedeker. Geschichte eines Reiseführerverlages. In: Buchhandelsgeschichte ( 1992) 1, S. Β 1-B 13.
539
540
5
Programmbereiche
HINRICHSEN, Alex W.: Baedeker-Katalog. Verzeichnis aller Baedeker-Reisefiihrer von 1832-1987 mit e. Abriß der Verlagsgeschichte. Holzminden: v. Hinrichsen 1988. HOHLFELD, Johannes: Geschichtliche Betrachtungen zur Entwicklung des Verlages Grethlein & Co. In: Almanach des Verlages Grethlein, S. 3-17. HOHLFELD, Johannes: Das Bibliographische Institut. Festschrift. Leipzig: Bibliographisches Institut 1926. KERSTING, Martin: Kosmosbändchen. In: Aus dem Antiquariat (2000) 8, S. A 503-A 509. MÜLLER, Anita: Der Verlag von Karl Baedeker. Geschichte u. Bibliographie seiner Reisehandbücher. Diplomarbeit, Berlin FU, Institut für Bibliothekarausbildung. 1975. Paul Parey 1848-1972. Gesamtkatalog. Berlin, Hamburg: Parey 1972. RÜHLE, Oskar: Der theologische Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Rückblicke und Ausblicke. Tübingen 1926. SARKOWSKI, Heinz: Das Bibliographische Institut. Verlagsgeschichte und Bibliographie 18261976. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliograph. Institut 1976. SCHULZE, Friedrich: B. G. Teubner 1811-1911. Geschichte der Firma. Leipzig: Teubner 1911. SPAMER, Otto: Illustrirter Verlagsbericht. Jubiläums-Katalog von Otto Spamer in Leipzig. Zwei Abtheilungen. Seinen Freunden, Mitarbeitern und Geschäftsgenossen am Jahrestage des 25jährigen Bestehens seiner Firma gewidmet. Leipzig, ausgegeben im Dezember 1872. Verlagskatalog von Paul Parey Verlagsbuchhandlung für Landwirtschaft, Gartenbau und Forstwesen in Berlin. Mit systematischem Inhaltsverzeichnis. Neujahr 1911. WIDMANN, Simon Peter (Hrsg.): Die Aschendorffsche Presse 1 7 6 2 - 1 9 1 2 . Ein Beitrag zur Buchdruckergeschichte Münsters. [Nebst] Verlags-Verzeichnis der Aschendorffschen Presse, 17621912. Münster: Aschendorff 1912.
541
Georg Jäger 5.8
Der Lexikonverlag
Das 19. Jahrhundert brachte das »Ende für die große wissenschaftliche Enzyklopädie«, das mit der Einstellung der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste von Johann S. Ersch und Johann G. Gruber 1889 markiert ist, und den Siegeszug fur das Allgemeinlexikon,1 das sich unter der gängigen Bezeichnung Conversations-Lexikon, aber auch unter Titeln wie Real-Encyklopädie, Encyklopädisches Wörterbuch oder Universal-Lexikon an die gebildeten Stände wandte. Unter Ausschluß des Spezialwissens einzelner Fächer und Professionen wird das >WeltwissenKonversationslexikon< verweist auf die Befähigimg zum geselligen Gespräch, das durch dergleichen Nachschlagewerke befördert werden sollte. Konkret hat man an die gesellige Lektüre im Kreis der Familie, von Freunden und Nachbarn, in Haus und Garten - wie sie die Gartenlaube und andere Familienblätter in der zweiten Jahrhunderthälfte propagierten - oder in Cafés und Vereinen zu denken. Hier trug das Nachschlagen zur Vorbereitung auf die gesellschaftliche Unterhaltung oder zum Verständnis und zur Vertiefung des Gelesenen oder Gehörten bei. Als »Konversations-Lexikon-Weisheit« wurde der Mißbrauch angeprangert, wonach »manche, um in Gesellschaft zu glänzen, sich einige Seiten aus einem Lexikon einprägte und sein erborgtes >Wissen< denn ex abrupto mit Hartnäckigkeit vortrug.«2 Das Konversationslexikon fehlte in keiner Bibliothek und keinem Lese- oder Konferenzzimmer. Es sollte »das für Beruf und geistiges Leben täglich notwendige Nachschlagewerk« 3 schlechthin sein. Wie es an der Gesprächs- und Lesekultur gestaltend teilhatte, so wurde es auch von deren Wandlungen betroffen. Das Konversationslexikon der Kaiserzeit hatte Repräsentationswert und war »in seiner äußeren Gestaltung als Objekt gehobener Wohnkultur« konzipiert.4 Zur Ausstattung des bildungs- und besitzbürgerlichen Haushalts gehörte das Konversationslexikon als »Hausschatz«, wenn möglich in eigenem (vom Verlag geliefertem) historistischem Wandregal mit stilisiertem Himmelsglobus, kleinen Säulen und anderen Zierelementen. Die Einbandgestaltung fügte sich in das Ensemble ein: Halblederbände, »die Buchrücken mit historisierenden Rankenmustern überwuchert, durch falsche Bünde gegliedert und die Bandaufschrift in einer (kaum lesbaren) verschnörkelten Fraktur«.5
1 Schultheiss (Bibliographische Anmerkungen, S. 33) spricht vom »Beginn für das Allgemeinlexikon«, Brauer (Geschichte, Schicksal und Wert, S. A 4) vorsichtiger vom »Beginn der Ära der modernen deutschen Konversationslexika und der modernen deutschen Enzyklopädien«. Zu Herkunft und Entwicklung des Konversationslexikons vgl. Lexika gestern und heute; Brauer: Geschichte, Schicksal und Wert; zum Hingst: Geschichte, Kap. II. 2 »Konversations-Lexikon-Weisheit«. In: Der Reisebuchhandel 1 (1908) 1, S. 5. So macht es Frau Oberamtmann Rollmaus in Gustav Freytags Roman »Die Verlorene Handschrift«; vgl. zum Hingst: Geschichte, S. 58. 3 Anzeige der Firma Bial & Freund, Breslau und Wien, fur Brockhaus Konversations-Lexikon. In: Simplicissimus, 10 (1906) 43, Beiblatt, und mehrfach. 4 Estermann: Lexika als biblio-kulturelle Indikatoren, S. 251. 5 Estermann, S. 251.
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5 Programmbereiche Der Siegeszug des Allgemeinlexikons wurde mit der Übernahme des von Renatus Gotthelf Löbel und Christian Wilhelm Franke herausgegebenen Conversationslexikons durch Friedrich Arnold Brockhaus 1808 eingeleitet. In der »Flut von allgemeinen und fachgebundenen Nachschlagewerken«,6 die im 19. Jahrhundert auf den Markt kamen, schälten sich als wichtigste Marken die Hauptkonkurrenten »Brockhaus« und »Meyer« heraus, denen mit Abstand »Pierer« und als Kleinlexikon für das katholische Milieu »Herder« folgten. Quantitativ, mit dem größten Ausstoß an Bänden,7 erfolgte der Durchbruch der Allgemeinlexika von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren. Mit der Vollendung des Meyer in 46 Bänden im Jahre 1855 war die Anfangsphase beendet. Danach setzte eine Konsolidierung des Marktes mit Beschränkung und Regulierung der Umfánge ein. In der Folge ging es um Strategien der Marktdurchdringung zur Erhöhung des Absatzes, Diversifikation des Produkts durch Gestaltung und Preis für unterschiedliche Käuferschichten, Mehrfachverwertung der Inhalte in verschiedenen Ausgaben sowie um die Entwicklung standardisierter und übertragbarer Modelle für Fachlexika. Auf diesen Gebieten spielte sich der Konkurrenzkampf der Lexikonverlage in der Kaiserzeit im wesentlichen ab. Die Bedeutung des Lexikonverlages für die Entwicklung des Buchhandels und seine charakteristischen Merkmale lassen sich in einigen Punkten zusammenfassen: Konzeption sowie Redaktion eines Großlexikons waren Sache eines Verlages Dieser wurde damit zum geistigen und organisatorischen Zentrum des Projektes, in der Sprache des 19. Jahrhunderts zu seiner »Seele«. Pioniere wie Friedrich Arnold Brockhaus oder Joseph Meyer, die mit wenigen Mitarbeitern auskamen und dem Werk eine persönliche Note gaben, indem sie Artikel selbst schrieben (bzw. aus Vorlagen abschrieben und kompilierten), mußten an der Explosion des Wissens bzw. an dessen Professionalisierung und Spezialisierung scheitern. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erzählte das Konversationslexikon nicht länger »behaglich unterhaltend«,8 sondern bemühte sich um objektive Informationsvermittlung, die dem Stand des Wissens und der Forschung entsprach. Dazu war der Verlag auf die Mitarbeit zahlreicher Fachleute angewiesen, die durch hauseigene Fachredakteure betreut wurden. Die Redaktion (Abb. 1) hatte die Arbeit der freien Mitarbeiter anzuleiten und zu koordinieren sowie die Texte zu redigieren, durch Verweisungen zu verknüpfen und durch Register zu erschließen. Aus Selbstbeschreibungen des Bibliographischen Instituts geht die Arbeitsweise bei Herstellung einer neuen Auflage hervor:9 Zunächst müssen Herausgeber und Redaktionsstab die »Grundsätze« festlegen, »nach denen das Lexikon umzuarbeiten, zu erweitern und zu verbessern ist«. Neben der obersten Redaktion im Verlag sind »Spezialredaktionen« für »die verwandten Fächer einer oder mehrerer Wissenschaften« tätig. Sie werden von ausgewiesenen Fachvertretern geleitet und haben ihren Sitz in Universitätsstädten oder »Mittelpunkten des deutschen Bücherwesens«. Die Leiter dieser Spezialredaktionen
6 7 8 9
Estennann, S. 251. Vgl. die graphische Darstellung bei Schultheiss: Bibliographische Anmerkungen, S. 34. Brauer: Über das Sammeln, S. 200. Menz: Hundert Jahre Meyers Lexikon, S. 60-64 (aus einem Artikel in »Daheim« von 1879, der sich auf die dritte Auflage bezieht).
5.8 D e r L e x i k o n v e r l a g
Abb. 1 : Mitglieder der Redaktion von Meyers Konversationslexikon in ihrem Büro im Haus des Bibliographischen Instituts Leipzig. Fotografie, 1913 (aus: Gerhard Menz: Hundert Jahre Meyers Lexikon. 1939)
entscheiden über die Mitarbeiter, d.h. die Verfasser einzelner Artikel ihres Gebietes, und erteilen ihnen »genaue Weisungen und W i n k e auf G r u n d eines g e m e i n s a m e n t w o r f e n e n >Programmes< über die inneren Fragen des Werkes«. Z u m Z w e c k der N e u b e a r b e i t u n g werden aus der früheren A u f l a g e alle - in d e m geschilderten Beispiel gegen 70.000 - Artikel ausgeschnitten und im Falle, daß verschiedene Fachschriftsteller an einem einzelnen Artikel geschrieben haben, zerlegt. Mit dieser Arbeit und d e m A u f k l e b e n der Teile auf Schreibpapier »verbringen einige Arbeiter eine ganze R e i h e von M o n a t e n « . D a n a c h w e r d e n diese Artikel nach Zeilen gezählt, u m festzustellen, » w e l c h e n U m f a n g die nahezu hundert Fächer und Abteilungen e i n n e h m e n dürfen«, in die das Weltwissen aufgegliedert wird. Die alphabetische O r d n u n g ist »mit einer streng wissenschaftlichen vertauscht, so daß z.B. alle naturwissenschaftlichen Artikel, alle Artikel des G e w e r b e s , der Kunst usw. z u s a m m e n l i e g e n ; der U m f a n g des G a n z e n und j e d e r einzelnen Disziplin ist bis ins Kleinste berechnet worden«. N e b e n d e m Erschein u n g s r h y t h m u s ist die R a u m a u f t e i l u n g das entscheidende organisatorische Problem. »Was der Etat im Haushalt der Staaten, das ist der R a u m beim Konversationslexikon.« N u r über den im voraus festgelegten R a u m für ihre Wissensgebiete dürfen die Spezialredaktionen v e r f u g e n . Die Vorlagen der alten Artikel gehen an die mehreren hundert Mitarbeiter zur Über- oder Neubearbeitung. Durch Recherchen k ü m m e r t sich die Redaktion im Verlag um Aktualisierungen und N a c h t r ä g e von Daten. Angeschrieben werden Magistrate und Behörden, H a n d e l s k a m m e r n und Konsulate; zur A u s w e r t u n g eines halben H u n derts Zeitschriften ist ein besonderer » N o t i z e n s a m m l e r « angestellt. Die Hauptredaktion bearbeitet die eingehenden Artikel u n d achtet dabei insbesondere auf Geburts- und
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5
Programmbereiche
Todesdaten sowie auf die bibliographischen Angaben, zu deren Überprüfimg »Tausende von Büchertiteln in deutscher und fremder Sprache« aufgeschlagen werden. Eine spezielle Organisation erfordern die Verweise und die Erstellung der Register; »jede Verweisung, jeder in den Artikeln enthaltene Name [wird] steckbrieflich durchs ganze Werk verfolgt«.10 Mit Fertigstellung des Manuskripts müssen auch die Illustrationen vorliegen; sie gelten als organischer Teil des Gesamtwerkes und werden »durchweg eigens für das Konversationslexikon« hergestellt. Wie der zitierte Erfahrungsbericht verdeutlicht, konnte die Zahl der Mitarbeiter bis in die Hunderte gehen. Pierers Universal-Lexikon verweist im Titel der dritten Auflage (17 Bde., 1849-1852) auf »mehr als 220 Gelehrte«: An der dritten Auflage des »Meyer« (15 Bde., 1874-1878) waren 160 Mitarbeiter beteiligt; an der 14. Auflage des »Brockhaus« (16 Bde., 1892-1895) arbeiteten 25 Fachredakteure und ca. 500 freie Mitarbeiter.11 Einer »Zahl von fünfhundert Mitarbeitern« rühmte sich auch die Fragment gebliebene Deutsche Encyklopädie.12 Konversationslexika sind multimedial konzipiert Konversationslexika sind als Kombination von Text und Bild konzipiert und auf Anschaulichkeit bedacht. Die Unternehmen konkurrierten in Zahl und Qualität von Abbildungen, Karten und Plänen, wie die Gegenüberstellung der Hauptkonkurrenten in den letzten Vorkriegsausgaben verdeutlicht. Meyer 's Großes Konversationslexikon bringt in der 6. Auflage (20 Bde., 1902-1908) mehr als 11.000 Abbildungen im Text und mehr als 1.400 Bildertafeln. Die vierte Ausgabe der 14. Auflage des »Brockhaus« (16 Bde., 1908) enthält etwa 1.000 Bildtafeln und ca. 4.000 Abbildungen im Text.13 Das Bibliographische Institut, das hier die Nase vorn hat, hatte von Anfang an in Gestaltung und Typographie neue Wege eingeschlagen.14 Am Meyer von 1855 waren die Bildnisse, Ortsansichten, Karten und Pläne ebenso neu wie »viele tausend Abbildungen naturgeschichtlicher und gewerblicher Gegenstände« (so der Titel) im Text selbst. Vom »Pierer« übernahm Joseph Meyer den zweispaltigen Satz, den »Brockhaus« erst in der 13. Auflage (16 Bde., 18821887) einführte. Der Verlag Brockhaus arbeitete mit einem eigenen Bilder-Atlas zum Conversationslexikon. Ikonographische Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (1844-1849; 2. Aufl. 1869-1874, Lieferungsausgabe 1878/79, billige Volksausgabe 1886)15 und heftete erstmals der 13. Auflage seines Konversationslexikons Illustrationen auf Tafeln bei. So lange wie noch keine Karten in die Lexika integriert waren, traten selbständige Atlasbände an deren Stelle; später faßten die Atlanten das verstreute Material zusammen. Die Schwierigkeiten der Integration des Bildmaterials in den Text waren technischer Natur. Die Bilder wurden zunächst in Stahl- oder Kupferstich, später auch im Steindruck, 10 Menz, S. 59, aus einem Brief von Hermann Meyer über die Erarbeitung des »Neuen ConversationsLexikons für alle Stände« 1857-1860. 11 Menz, S. 42, 44, 39. Brockhaus: Firma Brockhaus, S. 364. 12 Deutsche Encyklopädie. Bd. 1. Leipzig: Grunow 1886. Vorwort der Redaktion, S. V. 13 Sarkowski: Bibliographisches Institut, Bibliographie Nr. 19.3; Schultheiss: Bibliographische Anmerkungen, S. 45, 39. 14 Die folgenden Angaben nach Schultheiss: Bibliographische Anmerkungen.
5.8 Der Lexikonverlag mithin im Tief- oder im Flachdruckverfahren hergestellt; erst mit dem Wechsel zum Holzstich, einem mit dem Buchdruck kompatiblen Hochdruck, und mit photographischen Verfahren 16 (vgl. Kap. 3.1) konnten Bild und Text in einer Druckvorlage zusammengefaßt werden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich eine Kombination von Druckverfahren zur Illustration durch: Nichtfarbige Holzstiche wurden in den Text integriert, farbige lithographische Tafeln einzeln eingefügt, »um bestimmte Wissensbereiche zu illustrieren: Medizin, Technik, Geographie, Biologie, Erdkunde, Sachkunde, Naturkunde, Ethnologie, Kulturgeschichte und Kunstgeschichte«.17 Die Abbildungen 2, 5 und 6 geben Beispiele für Illustrationen im Text sowie für eingefügte Tafeln in Stich und farbigem Steindruck. Der große Umfang und die getrennte Herstellung der erforderlichen Anschauungsmaterialien veranlaßten Brockhaus (und ähnlich das Bibliographische Institut) zur Errichtung einer »Geographisch-Artistischen Anstalt« mit Zeichnern, Stechern, Stahl- und Kupferdruckerei - wozu später noch eine Lithographische Anstalt trat - , mit der er als Karten- und Kunstverlag tätig wurde. Mit der Entwicklung neuer Reproduktionstechniken und der Ausdifferenzierung des kartographischen Verlages (Kap. 5.9) und des Kunstverlages (Kap. 5.10) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sahen sich solche Betriebe, die unterschiedliche Druckverfahren kombinierten, der Konkurrenz spezialisierter Unternehmen ausgesetzt. Das Bibliographische Institut gab deshalb seine Kunstproduktion auf und stellte die Weiterentwicklung der Atlanten ein. Lexika leben durch
Aktualität
Ihr Todfeind ist Langsamkeit: 18 Obwohl sie abgeschlossene Werke bilden, müssen sie der geschichtlichen Veränderung Rechnung tragen und ihre Informationen fortschreiben. Durch verschiedene Arten von Ergänzungen haben die Lexikonverlage dieses Problem soweit gelöst, wie es das Druckzeitalter zuließ. Üblich wurden Jahressupplemente, die sich mehrfach zu Zeitschriften weiterentwickelten, mit deren Hilfe der Benutzer kontinuierlich in seinem Wissensstand fortschritt. Selbständige Supplementbände waren entweder das Ergebnis einer Neubearbeitung und wurden den Besitzern der vorhergehenden Ausgabe »nach oder mit der neuen Auflage« ausgeliefert, oder sie wurden umgekehrt zum Grundstock für die Bearbeitung der folgenden Ausgabe. 19 Geschichtlichen Zäsuren wie dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und dem Ersten Weltkrieg trugen Sonderbände Rechnung. Eine schnelle Aufeinanderfolge neu erarbeiteter Ausgaben schuf Probleme 15 Vgl. Schultheiss: Bibliographische Anmerkungen, S. 38. In den Katalogdaten der Bibliotheken finden sich abweichende Angaben. Der »Bilder-Atlas« von Johann Georg Heck ist unter dem Titel »Heck's pictorial archive of art and architecture« in New York: Dover 1994 (nach Vorlage einer englischen Übersetzung von 1851) neu publiziert worden. 16 Im Bibliographischen Institut wurde seit den neunziger Jahren bei Neubearbeitungen stets ein Teil der Holzstichabbildungen durch Photoreproduktionen ersetzt, die zwar qualitativ weniger gut waren, dafür aber einen höheren Grad an Authentizität vermittelten, »auf den das Publikum gerade beim Sachbuch, wie wir heute sagen würden, nicht verzichten wollte.« Sarkowski: Bibliographisches Institut, S. 112. 17 Bilderbunter Alltag, S. 47 f. 18 Vgl. Estermann: Lexika als biblio-kulturelle Indikatoren, S. 248. 19 Schultheiss: Bibliographische Anmerkungen, S. 37. Letzteres trifft für die vier Supplementbände des »Brockhaus« von 1822-1826 zu.
5 Programmbereiche
Abb. 2: Brockhaus' Konversations-Lexikon. Die Illustration zeigt ein Tableau mit Kostümfiguren des Altertums. Chromolithographie, 1894,17,5 χ 38,5 cm (aus: Bilderbunter Alltag-200Jahre Lithographie. 1999)
eigener Art: So mußten Supplemente für die Besitzer mehrerer Ausgaben konzipiert werden; bei einer Überlappung aufeinander folgender Ausgaben - so bei der zweiten, dritten und vierten Auflage des »Brockhaus« zwischen 1815 und 1819 - konnte es sogar vorkommen, daß einige Bände in mehreren Auflagen identisch waren 20 oder, wie im Falle des Herderschen Staatslexikons, für eine weitere Auflage nachgedruckt wurden. Nach der 14. Auflage ( 16 Bde., 1892 -1895) brachte Brockhaus bis zum Ersten Weltkrieg nur noch eine »revidierte Jubiläums-Ausgabe« - zum hundertjährigen Firmenbestehen 1898 - mit Supplementband heraus, die ihrerseits zweimal als »neue revidierte Jubiläums-Ausgabe« aufgelegt wurde. Dem Bedarf ständiger Aktualisierungen des Datenmaterials konnte in der Druckgestalt des Werkes nicht befriedigend Rechnung getragen werden; das Merkmal der Aktualität weist vom Buch auf die periodische Presse21 - deren Erscheinungsweise sich die Supplemente anglichen - und voraus auf das Internet-Zeitalter, in dem es voll zur Geltung kommt.
20 Schultheiss, S. 36. Hübscher: Brockhaus, S. 73 f. (»ein Kuriosum in der Geschichte des Lexikons und wohl des Buchhandels überhaupt«). 21 Menz: Hundert Jahre Meyers Lexikon, S. 58f.
5.8
Der
Lexikonverlag
Konversationslexika speichern und organisieren gesellschaftliches
Wissen
In historisch-politischer Hinsicht liegt das Besondere des Konversationslexikons darin, daß es »unter dem unerbittlichen Zwang der hohen Auflage präzis die Situation der Gesellschaft ansprechen muß, an die es sich wendet. Umgekehrt hat diese gesellschaftliche Bestimmtheit des Konversationslexikons zur Folge, daß es die öffentliche Meinung der jeweiligen Gruppe trägt.«22 Sie sind ein Mittel der Gesellschafts-, nicht nur der Informationspolitik, und als solche historische Quellen für den Wissensbestand und das Meinungsprofil ihrer Benutzer.23 Die Gründer der beiden führenden Firmen, Friedrich Arnold Brockhaus und Joseph Meyer, vertraten »die Linie des liberalen Fortschritts«24 und wollten mit ihren Produkten weite Volksschichten erreichen, um aufzuklären und zu bilden. Joseph Meyer trug bei der Erarbeitung des Lexikons dem Wahlspruch des Bibliographischen Instituts, »Bildung macht frei!«, Rechnung, und auch die Neubearbeitung der fünfziger Jahre wollte »der Wahrheit, der Aufklärung, der Bildung, dem Fortschritt in Wissenschaft, Kunst und Leben« dienen und die »Fahne der Humanität, des Rechts und des Lichtes« tragen.25 In den folgenden Jahrzehnten verschwand dieses missionarische Pathos. Aus Anlaß der fünften Auflage umschrieb Hans Meyer die angestrebte Objektivität als »leidenschaftslose Weltanschauung, die fest im nationalen Boden wurzelt«,26 und wollte sie nicht verwechselt wissen mit Grundsatzlosigkeit oder Bekenntnisscheu; sie schließe »ein bestimmtes Wollen im ganzen, eine Absicht an gegebener Stelle« nicht aus.27 Heute steht Meyers Konversationslexikon in dem Ruf, sich der jeweiligen politischen Lage angepaßt zu haben, »und diese Regierungstreue, die schließlich zum berüchtigten >braunen Meyer< der Ära Hitler führte, verschaffte dem >Meyer< seinen großen Erfolg«. 28 Das Lexikon hat den Bismarckschen Kulturkampf vehement unterstützt, sich an der Jahrhundertwende den antiliberalen ideologischen Strömungen nicht verschlossen. So konnte der junge Adolf Bartels, ein Wegbereiter des Antisemitismus, seine Gesinnung in Artikeln über deutsche Literatur in den Kriegsnachträgen zu der sechsten Auflage verbreiten.29
Vertrieb und Werbung Auf Grund der hohen Investitionen, die in die Herstellung von Konversationslexika flössen, war der Verlag auf Massenabsatz angewiesen. Lexikonverlage gingen darum in Vertrieb und Werbung neue Wege und diversifizierten das Produkt in Gestaltung und Preis nach Käufergruppen. Die großen Lexikonverlage begnügten sich nicht mit dem Sortiment als Vertriebspartner, sondern bedienten sich der Kolportage und riefen den »neuen Kol22 23 24 25 26 27 28 29
Der katholische Buchhandel, S. 73 f. Vgl. beispielhaft die historischen Studien von Haltern und Langewiesche. Brauer: Über das Sammeln, S. 219. Hermann Julius Meyer im Vorwort zur Ausgabe von 1857-1860. Zit. n. Estermann: Lexika als bibliokulturelle Indikatoren, S. 249. Zit. n. Menz: Hundert Jahre Meyers Lexikon, S. 66. Referat des zitierten Beitrags durch Menz, S. 66. Brauer: Über das Sammeln, S. 210. Das Urteil wird durch Artikel über Napoleon III., Bismarck, Pius IX. u.a. belegt. Brauer, S. 216.
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5
Programmbereiche
portagebuchhandel« ins Leben, der sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Reise- und Versandbuchhandel vom diskreditierten Kolportagebuchhandel abtrennte. Sowohl Kolporteure als auch Reisende suchten die Kunden am Wohnort oder am Arbeitsplatz auf und erschlossen durch die intensive, oft aggressive Kundenansprache den Absatzmarkt weit besser als Ladengeschäfte. Für die Kolportage waren die Lieferungsausgaben gedacht. Das Neue Conversations-Lexikon (15 Bde., 1857-1860) wurde vom Bibliographischen Institut »in Gemeinschaft mit Meyers Universum«, einer gut eingeführten und beliebten Zeitschrift, kolportiert. Man benutzte also die »bereits bestehenden Verbindungen, um das Lexikon rascher und leichter einzuführen. Für die Werbung lieferte der Verlag die ersten 10 Hefte, die sich wöchentlich folgten, bedingt, d.h. mit dem Recht der Rückgabe«, ab Heft 11 »nur noch fest, also für nur noch wirklich gewonnene Abonnenten«. 30 Im Unterschied zum Kolporteur suchte der Reisende seine Kunden mit einem Musterband (Abb. 3) auf, der »Umfang, Inhalt, Stärke und Wert des Lexikons« 31 vor Augen führte, und schloß im persönlichen Werbegespräch einen Abnahmevertrag für das Gesamtwerk, meist auf Ratenzahlung. Das Reisegeschäft wurde entweder vom Verlag aus betrieben, der auf diese Weise zum Direktmarketing überging, von Sortimenten, die sich den Reisebuchhandel im Nebengeschäft angliederten, oder von selbständigen Firmen. Den größten Teil des Geschäftes sicherten sich der Reise- und der Kolportagebuchhandel, wobei der vornehmere Reisebuchhandel den Schwerpunkt auf Großlexika legte, wogegen der sozial breitere, weil auch niedrigere Schichten ansprechende Kolportagebuchhandel insbesondere kleinere Lexika verkaufte. So setzte der Reisebuchhandel von 1885 bis 1893 »insgesamt 124.000 Exemplare des großen Meyer ab im Wert von 21,28 Millionen Mark und 12.000 des kleinen Meyer im Wert von 280.000 Mark«, der Kolportagebuchhandel 19.000 Exemplare des großen und 26.000 des kleinen »Meyer« im Wert von 2,23 Millionen bzw. 620.000 Mark. 32 Von 1893 bis 1902 hat der Reisebuchhandel vom großen »Meyer« 190.800 und vom kleinen »Meyer« 36.800 Exemplare im Verkaufswert von 32,45 bzw. 1,10 Millionen Mark umgesetzt. 33 Die Verteilung des Marktes der Großlexika zwischen Reisebuchhandel und Sortiment - mit einem Anteil unter einem Viertel - hatte sich bis zur fünften Auflage des großen »Meyer« (1893-1897) stabilisiert: Vom Gesamtabsatz der 233.000 Stück (zu 170 Mark) »im Wert von 39,61 Millionen Mark entfielen 79,4 % auf den Reisevertrieb und 20,6 % auf den Sortimentsbuchhandel«. 34
30 31 32 33 34
Menz: Hundert Jahre Meyers Lexikon, S. 72. Der Reisebuchhandel einst und jetzt. In: Der Reisebuchhandel 1 (1908) 3, S. 1 f. Menz: Hundert Jahre Meyers Lexikon, S. 74. Sperling: Reisebuchhandel, S. 62. Sperling; Hohlfeld: Bibliographisches Institut, S. 245. Friedrich Streissler (Die wirtschaftliche Bedeutung des Reisebuchhandels. In: Allgemeine Buchhändlerzeitung 22 (1915) 34, S. 241 f.) nimmt sogar an, daß von der 5. Auflage »nur etwa 15 % durch den Kolportage- und Sortimentsbuchhandel«, 85 % durch den Reisebuchhandel abgesetzt wurden. Insgesamt gab es nach dem Adreßbuch des deutschen Buchhandels 1895 192, 1900 172 und 1905 368 Reisebuchhandlungen in Deutschland, 1905 weitere 26 in Österreich-Ungarn und 16 in der Schweiz - doch könne davon nur ein Viertel als eigentliche Reisebuchhandlung, die sich auf diesen Geschäftszweig spezialisiert hat, angesehen werden. Sperling: Reisebuchhandel, S. 40. Der Jahresumsatz der Branche wurde um 1910 auf 30-35 Millionen Mark veranschlagt (Sperling, S. 62).
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5.8 D e r L e x i k o n v e r l a g >
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Abb. 3: Musterband för die Buchhandelsvertreter zu Brockhaus' »Konversationslexikon«. 14. vollst, neubearb. Aufl. Neue revidierte Jubiläums-Ausgabe. Leipzig: F. A. Brockhaus Muster des Einbandes der Luxus-Ausgabe mit Goldschnitt (Privatbesitz)
1908.
D e r Reisebuchhandel b e z o g mit h o h e m Rabatt von 4 0 bis 50 % und langen Zahlungszielen 3 5 direkt v o m Verlag und w a r b in d e m von ihm bearbeiteten Gebiet mit Prospekten und Inseraten. Die hohen Rabatte schlossen die Provisionen f ü r die Reisenden ein; die langen Zahlungsziele ermöglichten die K r e d i t g e w ä h r u n g im Ratenzahlungsgeschäft mit den E n d k u n d e n . Als das Bibliographische Institut der Firma Urban & S c h w a r z e n b e r g in Wien 1869 die Vertretung der dritten A u f l a g e des » M e y e r « f ü r den Reisevertrieb in Österreich übergab, w u r d e n 40 % Rabatt und ein »halbes Jahr Ziel« vereinbart. 3 6 A u c h in anderen Fällen w u r d e n ganze Teile einer A u f l a g e einem Partner z u m Vertrieb überlassen. So trägt ein Teil der letzten A u f l a g e des »Pierer« (12 Bde., 1888-1893), die bei Johann Wilhelm S p e m a n n bzw. der Union D e u t s c h e Verlagsgesellschaft erschien, »unten a m vergoldeten R ü c k e n bei völlig gleichartigem Einband die Inschrift >Schrobsdorff'sche Buch- und K u n s t h a n d l u n g in D ü s s e l d o r f « . 3 7
35 So erklärt es sich, daß das Bibliographische Institut bei den Reisebuchhandelsfirmen Ende 1899 ein Gesamtguthaben von 5.854.000 Mark hatte. Hohlfeld: Bibliographisches Institut, S. 245 f.; Menz: Hundert Jahre Meyers Lexikon, S. 74. 36 Hundert Jahre, Tl. 1, S. 25.
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5 Programmbereiche
Der Kunde konnte zwischen mehreren Ausstattungsvarianten sowie verschiedenen Lieferungs- und Bezahlungsmodi wählen. So war die dritte Auflage von Meyers Konversations-Lexikon (15 Bde., 1874-1878) in wöchentlichen Lieferungen zu 64 Seiten à 50 Pfennig, durch Subskription auf fertige Bände in Leinen (9,50 Mark pro Band) oder Halbleder (10 Mark pro Band) sowie als Prachtausgabe, gedruckt auf holzfreiem Papier, in vergrößertem Format, in Kalbsleder gebunden (240 Mark für alle 16 Bände) zu beziehen. 38 Das Brockhaus 'sehe Konversationslexikon wurde in der 14. Jubiläums-Ausgabe 1898(17 Prachtbände, 17.586 Druckseiten und 10.406 Abbildungen, 138 bunte Tafeln, Karten und Pläne, pro Band 10 Mark) zu folgenden Bedingungen angeboten: 1) Sendung franco, 2) Monatsraten von nur 3 bis 5 Mark oder Vierteljahresraten von 9 bis 15 Mark, 3) ohne Anzahlung, die erste Rate wird erst nach drei Monaten fällig, 3) Zuschickung complet auf einmal. Der »Hauptdebit von Brockhaus' Konversations-Lexikon. Schriftsteller Julius Boss« in Breslau, von dem dieses Angebot stammt, zählte weit mehr als 11.000 Besteller des hohen und höchsten Adels, der höheren Beamtenwelt, des Großgrundbesitzes und der besten Gesellschaftskreise. 39 Mit ähnlichen Bedingungen warb 1906 die Firma Bial & Freund, Breslau und Wien, für den Kauf der neuesten revidierten Jubiläumsausgabe in »17 hocheleg. Bänden à Mk. 12,—« (Abb. 4): Der Kunde leistet keinerlei Anzahlung und stottert seine Schulden nach Erhalt des kompletten Werkes, nach Wunsch zuzüglich eines Wandregals in Eiche oder Nußbaum zu 27 bzw. 32 Mark, mit 5 Mark pro Monat ab. 40 Ein solches Verfahren ist riskant und setzt eine kapitalkräftige Firma - meist den Verlag, der dem Händler kreditiert - voraus. Die »Ratenschleuderei« mit überlangen Zahlungszielen und niedrigen Raten wurde als »eine ernste Gefahr für das ganze buchhändlerische Reisegeschäft« gebrandmarkt. 41 Wie aus dem Beispiel der Firma Boss hervorgeht, wurden die vertreibenden Firmen durch Staffelung des Rabatts, Sonderkonditionen und Prämien zu großen Kontinuationen angeregt, die sie nur durch intensive Marktbearbeitung erzielten. 1869 wurden von 31 Firmen allein rund 2.400 Bezieher des großen »Meyer« eingeworben (bzw. 6 % der Gesamtauflage von 40.000 Stück abgesetzt): »In Berlin von 3 Firmen 200, in Hamburg von 2 Firmen 200, in Wien von 2 Firmen 150, in Troppau von 2 Firmen 200, in Triest von 2 Firmen 100, in Ellwangen von einer Firma über 200, in Leipzig, Nakel und Boppard von einer Firma je 100, in Freiburg, Frankfurt a.M., Sigmaringen, Karlsruhe, Stuttgart, München, Chemnitz von je einer Firma je 50, in Ludwigsburg von einer Firma über 50, in Brünn, Reichenberg, Agram und Odessa von je einer Firma je 100, in Preßburg, Brüx und Budapest von je einer Firma je 50.« 42 Die Ortsangaben weisen auf das Verbreitungsgebiet, das weit in die slawischen Länder sowie nach Italien und Ungarn - wo es überall eine deutschsprachige Bevölkerung gab - hineinreichte. Auf Grund der starken geschäftlichen Beziehungen zu Österreich-Ungarn und den Balkanländern errichtete Brockhaus 1864 und das Bibliographische Institut 1890 eine Zweigniederlassung in Wien.
37 38 39 40 41 42
Brauer: Über das Sammeln, S. 215. Sarkowski: Bibliographisches Institut, S. 104. Werbeschreiben mit Subskriptionsliste im Historischen Archiv des Börsenvereins, Frankfurt a.M. Anzeige in: Simplicissimus, 10 (1906) 43, Beiblatt, und mehrfach. Gegen die Ratenschleuderei. In: Der Buchhandlungsreisende 6 (1911) 1, S. 1 f. Menz: Hundert Jahre Meyers Lexikon, S. 73 f.
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5.8 Der L e x i k o n v e r l a g
VVrhUinfrl« Abbildung d « » M n d l g m UVrkc* Im H a l b U d f r f c e n d ;u j« 10 JJUffc. Gegen Abonnementszahlungen oon nur 5 fflark m o n a t l i c h liefern roir ohne jede Erhöhung des Cadenpreifes:
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einen roefentlichen fortfehritt auf enzyklopädifchem Gebiet bezeichnet die neue Auflage oon JTÌeyers Großem Konoerfations-Cexikon, in der die anerkannten Vorzüge diefes Werkes erfichtlich zu roeiterm Ausbau gelangen. Diefes in nahezu einer m i l l i o n Exemplaren oerbreitete, großartige Rachfchtageroerk behandelt alle Gebiete derWiffenfchaft und Kunlt, Technologie, Cand- und forftwirtfehaft, des Handels- und Geroerberoefens, der rnilitärroilfenfchaflen etc., außerdem alle fremdroörter (mit deren A u s fprache), Abkürzungen, Sprichwörter, Zitate, Spiele, feite; kurz alles und jedes, was in Schrift und Rede oorkommen kann, w i r d berflcklichtigt und mit dem oorgeichrittenen Witten unirer Tage in Einklang gebracht. Es gibt keinen Beruf, der nicht in diefem nutzbringenden führer durch das Wirrial der jeden Tag neu auftauchenden fragen einen fichern, anregenden f ahrer fände. Offizier oder Beamter, Kaufmann oder Gewerbtreibender, Gelehrter oder Techniker, forltmann oder £androirt, roer es auch immer fei oder roclchcr Berufsklaite er auch immer angehöre, alltäglich drangen fidi ihm fragen auf, über die er Auffchlulj haben möchte. Ein Griff nach ITteyers Großem KonoerfationsCexikon, und man itt Ober das Gefuchte oollkommen orientiert. Auf den erften Blick erhalten mir den begehrten Rachweis, kurz, erichöpfend und richtig. Der „Große Rleyer" ift längft Gemeingut der gebildeten Welt. Wenn er Irotjdem in manchem Haufe fehlt, fo roird der Grund hierzu in der mangelnden Gelegenheit zu einem günftigen Einkauf des oerhöltnismäßig hohen Objekts zu luchen fein. D'iefe Gelegenheit bieten roir, indem voir diefes neuefte, befte und oollltöndiglte Konoerfations-texikon
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franko ohne jeden Preisaufíchlag ^ gegen Abonnementszahlungen oon Π Ι Ι Γ 3 1 U U I K I l t U l t U I U U I abgeben. Die bekannten Vorzöge des .Groden ITleyer- : Zweckmäßigkeit der Anlage, klare, allgemein oerltändliche Daritellung, einheitliche Bearbeitung, Unabhängigkeit und Sicherheit des Urteils, Objektioität, namentlich auch in religiöfen Dingen, Vollftändigkeit, weitgehende BerOckiichtigung der praktHchen Bedürfniffe, ein mufterhafter JlluNrationsapparat find auch der neuen Auflage eigen. Der tadellofe Druck auf holzfreiem Papier und ein moderner, durch die beigefügten Abbildungen oeranfchoulichter Einband werden auch die oerroöhnteften Anforderungen befriedigen.
Urteile der Preífe. Unfit 0 « u e n o h w i auf den In der 2Tierleben< stammt von Hermann Julius Meyer«. 111 Von der dritten Auflage an wurde der »Große Brehm« von neuen Herausgebern weiterentwickelt und vom Verlag in verschiedenen Auswahlen >kannibalisiertDurchschläger< erwies, wurde zum Ahnherrn einer ganzen Genealogie von Publikationen. Auf diese Weise erwarb sich das Bibliographische Institut ein Image für ganze Produktgruppen, wie aus folgender Anekdote hervorgeht: »Die Titel >Der grosse MeyerDer kleine Meyer< sind geflügelte Worte geworden. Als ... eine Berliner Firma ein Buch >Der kleine Brehm< auf den Markt brachte, und deshalb 108 109 110 111 112 113 114
Sarkowski: Bibliographisches Institut. Bibliographie Nr. 13 und 13.1. Das Bibliographische Institut, S. 3. Hohlfeld: Bibliographisches Institut, S. 212. Behrmann: Kartographische Anstalt, S. 211 f. Das Bibliographische Institut, S. 4. Goebel: Bibliographisches Institut, S. 380. Der Buchhandlungsreisende 4 (1910) 23, S. 268.
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Programmbereiche
Abb. 7: Brehm, Alfred (Hrsg.): Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs 1876; Bd. 1, S. 298: Boback
5.8
Der Lexikonverlag
vom Bibliographischen Institut auf Grund des Wettbewerbsgesetzes verklagt wurde, entschuldigte jene Firma ihre Titelwahl damit, dass >Brehm< nicht mehr als Eigenname, sondern als geflügeltes Wort, als Gattungsbegriff für Bücher über die Tierwelt zu betrachten sei.«115 Noch verstärkt trifft dies für den »Duden« als Gattungsbegriff für Sprachwerke zu. Der Duden Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die deutsche Rechtschreibung »wild, d.h. ohne eine übergreifende verbindliche Regelung, gewachsen«, 116 »was dazu geführt hatte, dass die Schreibweisen nicht nur von Land zu Land, sondern sogar von Schule zu Schule, von Druckerei zu Druckerei und von Zeitung zu Zeitung sehr unterschiedlich gehandhabt wurden«. 117 Die Uneinheitlichkeit, insbesondere in Phonem-Graphem-Beziehungen mit zahlreichen Doppelschreibungen, in Groß- und Kleinschreibung wie auch in Getrennt- und Zusammenschreibung, sowie die daraus resultierende generelle Unsicherheit in Fragen der Rechtschreibung bildeten im Schulwesen, im Buchdruck und in der Presse ein stetes Ärgernis. Große Druckereien behalfen sich mit Hausorthographien, um wenigstens in den eigenen Erzeugnissen einheitlich zu verfahren. Durchgesetzt wurde die Einheitsorthographie auf Grundlage eines moderaten phonetischen Standpunktes 118 unter weitgehender Berücksichtigung des Alltagsgebrauchs erst im Gefolge der Reichsgründung. Dieser schwierige Prozeß der Vereinheitlichung und Reform wurde von dem Gymnasiallehrer Konrad Duden begleitet, vorangetrieben und schließlich zum Erfolg gefuhrt, so daß sich die neuere deutsche Rechtschreibung mit seinem Namen verband. Der erste amtliche Anlauf zu einer Einheitsorthographie scheiterte. In den »Verhandlungen der zur Herstellung größerer Einigung in deutscher Rechtschreibung berufenen Konferenz« in Berlin 1876 - kurz I. Orthographische Konferenz - , zu der vom preußischen Kultusminister Sprachwissenschaftler, Vertreter der Behörden und des Druckereigewerbes eingeladen worden waren, sorgten Vorschläge zur Einschränkung im Gebrauch von Dehnungszeichen (Dehnungs-h, Doppelgrapheme) für erhebliche Auseinandersetzungen und lösten eine Pressekampagne aus. Duden, ein Teilnehmer der Berliner Verhandlungen, erläuterte und verteidigte die Beschlüsse in seinem Werk zur »Zukunftsorthographie«. 119 Da die Schulbehörden von der Einführung des beschlossenen, aber umstrittenen Regelwerks absahen, entstanden - zuerst 1879 in Bayern und 1880 in Preußen amtliche Schulorthographien in allen deutschen Ländern. Die im Auftrag des Königli-
115 Friedrich Streissler: Fünfundsiebzig Jahre im Dienste der Volksaufklärung. Ein Gedenkblatt zu Ehren des Bibliographischen Instituts. In: Allgemeine Buchhändlerzeitung 8 (1901) 31, S. 255 f. Hier S. 255. 116 Drosdowski: Duden, S. 2. 117 Konrad Duden - Ein Name wird zum Synonym. URL: http://www.duden.bifab.de/marke/image_konrad.html (25.1.1997). 118 Die phonetische Richtung der Orthographiereform verfuhr nach dem Grundsatz »Bringe deine Schrift und deine Aussprache in Übereinstimmung!« (Rudolf von Raumer). Zu den »gemäßigten Phonetikern«, denen auch Duden angehörte, vgl. Deutsche Orthographie, S. 244-246. 119 Soweit die genauen Titel zur Orthographiereform in der chronologischen Auflistung im Literaturverzeichnis zu finden sind, werden sie im laufenden Text verkürzt zitiert.
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Programmbereiche
chen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten von Wilhelm Wilmanns erarbeitete preußische Schulorthographie stieß bei Reichskanzler Bismarck auf eine derartige Ablehnung, daß er den Behörden deren Anwendung »bei gesteigerter Ordnungsstrafe« untersagte. Dennoch setzte sie sich durch: 1899 wurden in Deutschland fünf Sechstel aller Bücher und etwa drei Fünftel aller Zeitschriften nach den preußischen Regeln gedruckt.120 Dies war nicht zuletzt das Verdienst Dudens, der in seinem Vollständigen OrthoSeHpitbigeg graphischen Wörterbuch die Regeln der preußischen (und bayerischen) Schulorthographie auf den deutschen Wortschatz anwandte und dafür sorgte, daß sie über die btr Grenzen beider Länder und der Schule hinaus Geltung gewannen. Mit dem orthograôeuffcÇen $pxae phischen Wörterbuch, das im Bibliographischen Institut publiziert wurde, machte Dr. Soitra!) ¡Biiiien, Duden Karriere und setzte sich gegen KonDinner l«ffînigt.Sqmnatiuml ja $trijcll. kurrenten durch: Bot die erste Auflage ( 1880; Abb. 8) - auch »Ur-Duden« genannt - auf 187 Seiten etwa 27.000, so die sechste 3!ai) ben neuen pmi§i¡djen unb Vrçeiifôen SRegebt. Auflage (1900) auf 384 Seiten mehr als 32.000 Stichwörter.121 Ursprünglich wenig Çtfia luti. 1 ¡Wurf. mehr als eine orthographische Wortliste, wurde das Werk durch Aufnahme von Fachwörtern und mundartlichen Ausdrücken sowie durch Erläuterungen zu Wortbedeutung und Herkunft ein vielseitig nutzbares Nachschlagewerk.122 8ei)pjl8·
SBörterfiud)
¡Setlag bei SB ÊSï i D g τ ap ή iídjtn 3n[tituU
Erfolgreich verliefen die auf Einladung des Reichsinnenministeriums in Berlin 1901 stattfindenden »Beratungen über die Einheitlichkeit der deutschen RechtAbb. 8: Titelblatt des »Ur-Duden« schreibung«, die II. Orthographische Konferenz, die ein Regelwerk aufstellten, das von allen Ländern des Deutschen Reiches, von der Schweiz und Österreich angenommen und ab 1903 sowohl im Schulunterricht als auch im öffentlichen Verkehr als verbindlich erklärt wurde. Mit redaktioneller Unterstützung des Verlages - der hierin die »Geburtsstunde der Dudenredaktion«123 sieht - konnte Duden die siebte Auflage des Wörterbuchs, 1880.
120 Kampf um die Deutsche Schulschreibung, S. 27. Zit. n. Deutsche Orthographie, S. 249. Die Hauptversammlung des Börsenvereins sprach sich im Mai 1900 für die allgemeine Durchsetzung der Schulorthographie von 1880 und gegen ihre weitere Veränderung aus. 121 Deutsche Orthographie, S. 252. Vor allem hierauf - sowie auf Drosdowski: Duden - stützen sich die folgenden Ausführungen. 122 Die 3. Auflage ( 1887) hat den Untertitel »Mit etymologischen Angaben, kurzen Sacherklärungen und Verdeutschungen der Fremdwörter«.
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welche die neuen Regeln auf den Wortschatz anwandte, bereits 1902 auf den Markt bringen. Zu einer weiteren Erleichterung der Rechtschreibung trugen die Druckereien bei, die »wegen der Fülle der gleichberechtigt zugelassenen Doppelformen« 1 2 4 bzw. >Schwankungsfálle< immer noch einer eindeutigen Anweisung entbehrten. »Auf Anregung und unter Mitwirkung des Deutschen Buchdruckervereins, des Reichsverbandes Österreichischer Buchdruckereibesitzer und des Vereins Schweizerischer Buchdruckereibesitzer« wie es auf dem Titelblatt heißt - erarbeitete Duden den sog. Buchdruckerduden (1903, SSorDcutctfuttflcu. 2. verm. und verb. Aufl. 1908; Abb. 9). Zukunftsweisend war die Entschei3)ie S o r b e m e r F u u g e n f o l i e n ü b r c bie in beut Dorliegenbeit o i t f ) o q r i v » I ) > f 4 e n 3 8 i k t e r & u c $ a n g e m e l d e t e n Siegeln ber 31 e dl I [ φ t è i b u 11 g m t b ü b e r dung zugunsten der Kleinschreibung bei b i t f ü r roiinftbenäiuert e n u b i t l í n g r o m m o I i [ φ t η Î M e t i n m g e n f n t j î h i f . [diluii g e b e n . g e n i t e e n t h a l t e n f i t e i n t 3 n t e r ) i i t t t f t i o n ä i c l ) i ' e , einige Doppelformen und bei eingedeutschten S i n j e l B o r f í r i f t e n , b e f o n b e r t fold)« typographer ta, imb tin 33tr¿eidjnié ber gebr«udílid}ften ^IbïiUjnngen. Fremdwörtern zugunsten von »k«, »z« und »sch« (statt »c« und »ch«). Um es an BeiI. 5«r JStrljifdjrcitmng. 3 n a l l e m fflefeutlidjen ift b i t 3itinig b e f o l g f , bie jc|)t in spielen zu verdeutlichen: Lassen die Regeln S e u t f d i t a n b . C f l e r r e i é u n b b e t S d i i o e i j f û t olle S d i u i n t u n b f i i t ben a m t l i é e n S r e M j r m a & g c b e n b iff. φ φ iff « b e r i l l i , inn in t e n ¡ t r a t t i c e l i und Dudens orthographisches Wörterbuch Í H f i j e t b ü d i c m íluei o b e t b r e i S C r e i l n i u g e n filr t i n n u b biefelbe S o n t , oerbinbnng angegeben jinb, g r n n b f a ^ l l ^ nur e i n e gdjrtibutig auf. 1902 die Schreibung »in Bezug auf« und g e n o m m e n . ISntftbeibenb f i l r bie S a Ç l rant f a f t « U ä n o t ) i n e i o 3 bit i j m g e : S D t í é t ö o n belt j u r 9ϊιι3ιυα&! t i o r l i e g c n b e n ( S d i r e i b u n g e n it r fit beni ¿ i e l e , »in bezug auf«, »Gesundheits halber« und n a d ) bent b i n ( ϊ φ u n f r e K e d j t f È r e i b u n g entluiitelt, a m n ñ d i f l c i t ? 2>ie n i i d j t i g f t e n g u n i t e , i n b e n e n b i t n e u e einijeitlidie SRedilfdircibung »gesundheitshalber«, »gesetzten Fall[e]s« b o n b e r b i s h e r g ü l t i g e n ' ì r ì u i i o r t b o g r a p b i e ixnb n o n ber f o g e n a n n t c n a l t e n O r t h o g r a p h i e a b r o e i è t , f o l i e n b i e r n e b f t einigen S r g i i n j u n g e u u n b e i n i g e n und »gesetztenfalls« zu, so schreibt der A n g a b e n l i b e r b i t i n biefent 8 η φ β g e t r o f f e n e SBaf)l jluifctien jroei ober bici ο η ι Ι Ι ί φ j u l ä f p g e n S d b r e i b u n g t n angeführt loerbrn. Buchdruckerduden jeweils die letzte Form Miter b u s tit. vor. In Fremdwörtern soll es heißen: »Aktí) w i r b n u r n o d i i n p f r e i u b l u ö r t e n t u n b in ScfyutDÜvtent ge* zent«, »Zivilist«, »Schikane«, nicht mehr f d j r i e b e n ; i n a l l e n iiripriingtirf} b e u t f d j e n S S ö r t c r n fdireibt m a n n u r t, iilfo π ι ι φ i n ben b e f n n n t e n fieben S i ö r t e r n , bie biêlter ìiorri b o i tli »Accent«, »Civilist« und »Chicane« b e w n ü r t b a t t e n : Œ a l , C o n , C o r (ber u n b b a s ) , E r a n , C r â n e . tltn u n b C ü r ; e&enfo i n b e u n o n b i t f e n SS&rtern gebilbeten V l b l e i t u n g e n , usw. 125 An der Vereinheitlichung der 3. 95. C a l e r , t i j i t e r n , t ö r i d j t , t r a n i g , t r ä n e n , t ä t i g , U n t e r t a n . ben i V r i o n e t t n a n i c n beutfeften U r f p m n g ä , i n b e n e n i m i t tli Rechtschreibung durch Verminderung der g l e i d i b t r e d j t i g t i f t , ift bie S i r e i b i t n g m i t t a u f g e n o m m e n . Œ8 f i n b a l i o η ί φ ί n u r 9 ï i i m t n m i t B e r t a u n b S e r t o i b , in b e n t n b n â amtlirfie Varianten haben somit die Drucker erhebliiKegribucb f d i o n bie S d i r e i b u u g oljne h a l ë b t f f e r Iir,c!diiicl, f o n b e r n a n d } D i a m e n mie (©tinter u n b Ì D a l t e r o&ne I) g c f d j n c b e i t . chen Anteil. Vor seinem Tod (1911) arbeite(Sbenfo i f t i n b e m b i s t e r a l l g e m e i n m i t It g e i ^ r i e b e n e n S o r t e C f i e t , b a l bie « Μ Ι φ α ί Siegeln n u t u n b oline t) ,111 ftfirciben g e j t a l t e n . te Duden an einer Vereinigung des Buchb a á f) befeitigt l u o r b e n , ba e3 lueber efl)iiiologifdie Il)ereCtig\ing t j a t , η ο φ n e b e n c c a l á ^ e í j n u n g s j e i d i e n bieneit t a u n . druckerdudens mit dem Wörterbuch, doch erschien die daraus resultierende neunte Auflage erst 1915. In ihrer Titelgebung Abb. 9: Vorbemerkungen zum »Buchdruckerduden«. machte sie erstmals den Namen des Verfas- Konrad Duden: Rechtschreibung der Buchdruckereisers zum Begriff für Nachschlagewerke zur en deutscher Sprache, 1903 Gegenwartssprache: Duden, Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Die zehnte Auflage von 1929 trug den Titel Der Große Duden und verwandelte den Namen endgültig in die Marke einer Produktgruppe. 0
123 Deutsche Orthographie, S. 254; Grebe: Geschichte und Leistung, S. 71. Drosdowski spricht von der »Keimzelle der Dudenredaktion« (Duden, S. 5; Dudenredaktion, S. 86). Eine ständige Dudenredaktion wurde erst in den dreißiger Jahren aufgebaut, um die Marke für weitere Nachschlagewerke zur deutschen Sprache zu nutzen. 124 Deutsche Orthographie, S. 255. 125 Beispiele: Deutsche Orthographie, S. 255 f.
5
Programmbereiche
Literatur Lexika (Mikrofiche-Ausgaben, Reprints) Archiv der europäischen Lexikographie, Abt. 1, Enzyklopädien. Mikrofiche-Edition. Erlangen: Fischer 1992 f. [alle Ausgaben des »Brockhaus« bis 1898; »Pierer«, Ersch-Gruber u.a.] Deutsche Encyklopädie. Ein neues Universallexikon für alle Gebiete des Wissens. Bd. 1 : Leipzig: Grunow 1886, Bd. 2-3: Berlin: Wiegandt & Grieben 1886-1889. Mikrofiche-Ausg. Wien: Seemann 1996. Enzyklopädische Information im 19. Jahrhundert. Die Ergänzungswerke zum Brockhaus Konversationslexikon: »Zeitgenossen«, »Die Gegenwart«, »Unsere Zeit« mit Gesamtregister. Hrsg. von Otmar Seemann. Mikrofiche-Edition. München u.a.: K. G. Saur 1985-1995. ERSCH, Johann Samuel, GRUBER, Johann Gottfried: Allgemeine Enzyclopädie der Wissenschaften und Künste. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1818-1889. 168 Bde. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1969 ff. ERSCH, Johann Samuel, GRUBER, Johann Gottfried: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Erste Section, Bd. 1-99, 1818-1882. Zweite Section, Bd. 1-43, 1827-1889. Dritte Section, Bd. 1-25, 1830-1850. Mikrofiche-Edition. München u.a.: K. G. Saur 1996. Grosse deutsche Lexika. Aufklärung und frühes neunzehntes Jahrhundert. Mikrofiche-Edition. Hrsg. von Walther Killy. München u.a.: K. G. Saur 1992. Musikalisches Conversations-Lexikon. Hrsg. von Hermann Mendel, vollendet von August Reissmann. Reprint der Ausg. Berlin 1870-1883. 12 Bde. Hildesheim: Olms (ca. 1994).
Quellen zur Geschichte der Rechtschreibreform (chronologisch) DUDEN, Konrad: Die Zukunftsorthographie. Nach den Vorschlägen der zur Herstellung größerer Einigung in der deutschen Rechtschreibung berufenen Konferenz erläutert und mit Verbesserungsvorschlägen versehen. Leipzig: Teubner 1876. DUDEN, Konrad: Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Nach den neuen preußischen und bayerischen Regeln. Leipzig: Bibliographisches Institut 1880 (Neudruck Leipzig: Bibliographisches Institut 1980. Sammlung Duden 1). Regeln und Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zum Gebrauch in den preußischen Schulen. Hrsg. im Auftrage des Kgl. Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und MedizinalAngelegenheiten. Berlin: Weidmann 1880 (Reprint Mannheim: Bibliographisches Institut 1963. Sammlung Duden 2). WILMANNS, Wilhelm: Kommentar zur preußischen Schulorthographie. Berlin: Weidmann 1880. Der Kampf um die Deutsche Schulschreibung im Jahre 1900. Urkundliche Beiträge zu einem nicht unwichtigen Kapitel der Geschichte unserer Muttersprache. Leipzig: Börsenverein 1900. Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis. Hrsg. im Auftrage des Kgl. Preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. Neue Bearbeitung. Berlin: Weidmann 1902 (Reprint Mannheim: Bibliographisches Institut. Sammlung Duden 4). DUDEN, Konrad: Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Nach den für Deutschland, Österreich und die Schweiz gültigen amtlichen Regeln. 7. Aufl. Leipzig u.a.: Bibliographisches Institut 1902. Amtliches Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zum Gebrauch in den preußischen Kanzleien. Gemäß dem Beschlüsse des Kgl. Staatsministeriums vom 11. Juni 1903. Berlin: Weidmann 1903. DUDEN, Konrad: Rechtschreibung der Buchdruckereien deutscher Sprache. Auf Anregung und unter Mitwirkung des Deutschen Buchdruckervereins, des Reichsverbandes Österreichischer
5.8 Der L e x i k o n v e r l a g
Buchdruckereibesitzer und des Vereins Schweizerischer Buchdruckereibesitzer. Hrsg. vom Bibliographischen Institut. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1903. DUDEN, Konrad: Rechtschreibung der Buchdruckereien deutscher Sprache. 2., verm. u. verb. Aufl. Leipzig: Bibliographisches Institut 1908. DUDEN, Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Nach den für Deutschland, Österreich und die Schweiz gültigen amtlichen Regeln bearb. von J. Ernst Wülfing. 9. neubearb. u. verm. Aufl. Leipzig u.a.: Bibliographisches Institut 1915. Akten zur Geschichte der deutschen Einheitsschreibung, 1870-1880. Hrsg. von Paul Grebe (Sammlung Duden 3) Mannheim: Bibliographisches Institut 1963. Forschungsliteratur Bilderbunter Alltag - 200 Jahre Lithographie. Ausstellungskatalog. Hrsg. vom Museum der Arbeit. Hamburg: Christians 1999. BRAUER, Adalbert: Geschichte, Schicksal und Wert älterer und neuerer >Konversationslexikakranker< Druck erfolgen konnte. Die Platte mußte >aufgestochen< werden. Das konnte aber auch nur zwei- bis dreimal erfolgen, so daß von einer Platte maximal 6.000 bis 8.000 Drucke gefertigt werden konnten. 8 Einen Ausweg bot seit den vierziger Jahren die Galvanoplastik (vgl. Kap. 5.10). Von den Original-Stichplatten wurde durch galvanischen Niederschlag in der Elektrolyse eine Reliefkarte genommen, von der belie4 Vgl. die Bibliographie von Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co, die auch kleinere Handatlanten teilweise kaum bekannter Finnen erfaßt. 5 Geschichte, S. 64 f., 70. Von den Touristenwanderkarten, die zum Markenzeichen des Verlages werden, erschien Blatt 1, Wienerwald, 1888; bis zur Jahrhundertwende sind es sieben Blätter. Vgl. Aurada: Freytag-Berndt-Touristenwanderkarte. 6 Achtzig Jahre, S. 15-29. 7 Vgl. die Analyse von Stams: Die Entwicklung der Wandkartenproduktion. Wie die Statistik S. 64 und Tab. 3 belegen, gilt dies auch noch für die zwanziger Jahre: Die vier führenden Verlagshäuser (Freytag & Berndt, Georg Lang, Perthes, Westermann) vereinen nur 37 % der Gesamtproduktion (nach Titeln) auf sich. 8 Köhler: Gothaer Wege, S. 80 f.
5.9
Kartographischer
Verlag
big viele Druckplatten je nach Bedarf auf gleichem Wege hergestellt werden konnten, so daß »das mühselige Aufstechen und Neustechen der Platten« entfiel.9 Die Galvanoplastik erhöhte überdies die Korrekturfahigkeit der Kupferplatte: Bei großen Korrekturen wurde »die fehlerhafte Stelle im Relief ausgeschabt, ein neuer Niederschlag auf dieses bewirkt und endlich auf der so gewonnenen Platte die neue Zeichnung eingestochen«.10 Auch war es möglich, gestochene Platten durch Sägen zu trennen und in neuen Ausschnitten zusammenzusetzen. Der Rückgang der Herstellungskosten durch das neue Verfahren ist am »Stieler«, dem Brotartikel von Justus Perthes, abzulesen. Die zweite Ausgabe von 1845-1847 konnte um ein Viertel bis ein Drittel im Preis herabgesetzt werden, da man die Galvanoplastik zur Vervielfältigung der Druckplatten einsetzte.11 Als Nachteile des Kupferstichs machten sich jedoch weiterhin »der relativ hohe manuelle Aufwand für den Stichvorgang, die geringe Druckgeschwindigkeit auf der Kupferdruckhandpresse und die geringe Anzahl von Abzügen, die von einer Platte hergestellt werden konnten,«12 bemerkbar. Abhilfe schuf der Steindruck (Lithographie), der eine wesentlich billigere und raschere Produktion sowie eine weit höhere Zahl von Abzügen ermöglichte. Mit Einführung der Maschinenpresse für die Lithographie wurde überdies der Druckvorgang wesentlich beschleunigt. Dabei wurde das Kartenbild (seit 1860) von einem Originalstein oder einer Kupferstichplatte auf einen Maschinenstein im Umdruck übertragen. So hielt Justus Perthes zwar für den Stieler-Handatlas bis ins 20. Jahrhundert am Kupferstich fest, ließ jedoch ab der siebten Auflage die Kupferstich-Originale auf Stein umdrucken. »Nach Aufbrennen von Kollophoniumstaub und Ätzen hält der Umdruckstein in einer Steindruckschnellpresse auch größeren Auflagen (etwa 10.000 bis 15.000 Drucken) stand.«13 Da mit dem Umdruck Feinheiten des Originals verloren gingen, wurden hochwertige Karten weiterhin in kleiner Auflage »direkt von den Steingravuroriginalen bzw. von Kupferstichen ausgeführt«. 14 Ein Problem stellte der Farbendruck dar. Bei der Vervielfältigung im Tiefdruck mußte »ein durchfeuchtetes Papier gegen die Kupferdruckplatte gepreßt werden, denn nur feuchtes Papier war genügend weich, die zähe Farbe aus den gestochenen Vertiefungen auf das Papier zu ziehen.« Beim Trockenprozeß veränderten die Bogen ihre Maße »stark und vor allem unberechenbar«, so daß sich ein Druck mit weiteren Farben »wegen zu starker Paßungenauigkeiten« verbot.15 Im Kupferstich hergestellte Karten wurden nachträglich mit dem Pinsel, bei höheren Auflagen mit Hilfe von Schablonen per Hand koloriert. Erst mit der Lithographie wurde der Farbendruck üblich. Während der Grundriß - Schrift und Relief (Schraffen, Höhenlinien) - in Steingravur ausgeführt und auf Maschinensteine
9 10 11 12
Köhler, S. 82. Perthes: Perthes, S. 67. Köhler: Gothaer Wege, S. 82, 129. Vgl. Perthes: Perthes, S. 67. Lexikon zur Geschichte der Kartographie, Art. Druckverfahren, hier S. 178. Auf die einschlägigen Artikel dieses Lexikons stützen sich die folgenden Ausführungen. Eine vorzügliche knappe Zusammenfassung bei Säuberlich: Buchgewerbliches Hilfsbuch. Darin: Galvanoplastik, S. 70-73; Lithographie und Steindruck, S. 115-124. 13 Lexikon, Art. Umdruck, S. 832. 14 Lexikon, Art. Farbendruck, S. 216. 15 Köhler: Gothaer Wege, S. 136-138.
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5
Programmbereiche
umgedruckt wurde, »konnten die sog. Farbplatten direkt mit lithograph. Tusche auf Maschinensteinen ausgeführt werden«. 16 Für jede Farbe war ein Druckgang nötig. Schulatlanten, Stadtpläne, Wanderkarten und viele thematische Karten wurden mit zwei bis zehn Farben, geologische Karten auch in weit mehr Druckgängen hergestellt. Transparenz und Leuchtkraft der Wasserfarben in den handkolorierten Stichen wurden damit freilich nicht erreicht. Mit dem Übergang vom Kupferstich zur Lithographie ging der Beruf der Koloristinnen - im männlichen Jargon auch »Koloradokäfer« 17 genannt - , einer fast ausschließlich mit Frauen besetzten, unterbezahlten Lohngruppe, rapide zurück. Die Firma von Justus Perthes, die lange am Kupferstich festhielt, beschäftigte 1885 90,1906 noch zehn Koloristinnen.18 Obwohl sich die Massenanfertigung im Steindruck in mehreren Farben schließlich auch hier durchsetzte, kam erst die »HundertjahrAusgabe« des »Stieler« (1920-25) ganz ohne Handkolorit aus.19 Wegen der Formatbegrenzung und der schwierigen Korrekturausfiihrung wurde der Stahlstich, die meistgenutzte Technik für Reproduktionsgraphik Abb. 1: Lithographiestein mit Atlaskarte. - Aus dem Lange- um die Jahrhundertmitte, bei Landkar20 Diercke-Schulatlas im Verlag von George Westermann, ten seltener eingesetzt. Hauptsäch1890 (Quelle: Festschrift zum 150jährigen Bestehen. We- lich bedienten sich Verlage - wie das stermann 1988, S. 12) Bibliographische Institut-, die auf Lexika und reich illustrierte Werke spezialisiert waren, des Stahlstichs. Auf diese Weise konnten sie unterschiedliches Bildmaterial - Gemälde, Porträts, Stadtansichten und -pläne, Landschaften, Eisenbahn-Streckenkarten usw. - in einer und derselben Technik reproduzieren und den Bilderpool ihrer Nachschlagewerke für gesonderte Atlantenbände nutzen. Das härtere Material erlaubte hohe Auflagen: »25.000 Abdrucke galten als üblich, 40.000 als möglich«, doch waren auch größere Auflagenhöhen realisierbar.21 Mit der Einführung der Galvanoplastik und der Verstählung von Kupferplatten beim Kupferstich, die dann hohe Auflagen ermöglichten, verlor auch der Stahlstich für die Kartographie immer weiter an Bedeutung.
16 Köhler, S. 215. 17 Haack: Wie eine Schulwandkarte entsteht, S. 15. Hier werden die lithographischen Werkstätten von Justus Perthes beschrieben. 18 Köhler: Gothaer Wege, S. 180. Mit etwa M 10,- Wochenlohn lag die Bezahlung der Koloristinnen 1885 weit unter dem Minimaltarif des Tarifvertrages im deutschen Buchdruckgewerbe von M 19,50. Weitere Angaben zu Kolorieranstalten und Koloristinnen, S. 84 f., sowie Perthes: Perthes, S. 68 f. 19 Köhler, S. 131. 20 Lexikon zur Geschichte der Kartographie, Art. Stahlstich, S. 775-777. 21 Lexikon, Art. Auflage(nhöhe), S. 42 f.
579
5.9 Kartographischer Verlag
Daneben wurde mit weiteren Druckverfahren experimentiert, die sich jedoch meist nicht durchsetzten. Eine gewisse Bedeutung erlangte die zunächst fur die künstlerische Druckgraphik benutzte Algraphie (Aluminiumdruck) ab den neunziger Jahren. Dabei setzte man zur Herstellung von Farbplatten für Wandkarten und andere gröbere Karten als Druckform Aluminiumplatten an Stelle des Steines ein. Das Militärgeographische Institut in Wien, das mit Druckverfahren experimentierte, verfügte um 1900 über 4.000 solcher Aluminiumdruckplatten. 22 Im Unterschied zu den üblichen Tiefdruck- (Kupferstich) und Flachdruckverfahren (Lithographie) wurden Textkarten, d.h. Landkarten mit einem hohen Maß an Schriftsatz, aber auch Kartenbeilagen im Hochdruck, dem traditionellen Buchdruck, hergestellt. Zu diesem Zweck bediente man sich der um 1840 erfundenen Metallhochätzung in Form der Strichätzung. Im Wege der Chemiegraphie erhielt man erhabene Druckstöcke, indem die bildfreien Stellen mit Säure tiefgelegt wurden. Anschließend wurde das Klischee auf Holzplatte aufgenagelt und als Block in den Schriftsatz für den Buchdruck eingefügt. »Vereinzelt wurden auch ganze Atlanten auf Buchdruckschnellpressen von solchen geätzten Klischees in Buntdruck erstellt.« 23 Mit der Erfindung der Autotypie (Rasterätzung) Ende des 19. Jahrhunderts konnten sogar Halbtonvorlagen im Buchdruck vervielfältigt werden. Mehrfarbiger Buchdruck wurde nur selten für Textkarten oder Kartenbeilagen verwendet.
Abb. 2: Lithographiesteine im Verlag Kümmerly & Frey. Die Lithographiesteine werden numeriert und katalogisiert wie die Bücher einer Bibliothek. (Quelle: Achtzig Jahre Lithographie Kartographie. 1932, S. 46)
Atlanten erschienen oft in unterschiedlicher Ausstattung. Der Verlagseinband in Kaliko oder Halbleder setzte sich durch und verdrängte den Pappband mit Lederrücken. Seit den sechziger Jahren wurde größeres Gewicht auf eine repräsentative Gestaltung des Einbandes gelegt. So erschien der »Andree« in der vierten Auflage (1897-1904) 24 im grünen Halbledereinband, aber auch im blauen »Kastendesign« und mit Jugendstil-Dekor auf rotem Kaliko. Bei den Lieferungsausgaben gab es einen Buchkasten für die Kartenblätter. Eine Besonderheit der Kartenwerke waren die unterschiedlichen Formate bei Ausgaben gleicher Drucke, wenn die Karten sowohl gefaltet (gebrochen) wie auch ungebrochen (piano) vertrieben wurden. 23
22 Lexikon, Art. Algraphie, S. 10. 23 Lexikon, Art. Buchdruck, S. 123. Vgl. den Artikel Chemigraphie. S. 132 f. 24 Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co. S. 243, 258.
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5
Programmbereiche
Das Geographische Institut von Justus Perthes Die Geschichte des Hauses Justus Perthes - heute als »Klett-Perthes« ein Tochterunternehmen des Ernst Klett Verlages - wird mit dem Slogan charakterisiert: »Seit 210 Jahren dreht sich bei uns alles um Geographie und Kartographie«.26 Die Verlagstätigkeit begann jedoch 1785 mit der Übernahme des »Gotha« (Almanach de Gotha bzw. Gothaischer Genealogischer Hofkalender), der als Nachschlagewerk Weltruhm erlangte und bis 1944 aktualisiert wurde. Um »den Gotha« zu einem »internationalen Staatshandbuch« auszubauen, wurde die Redaktion in zwei gesonderte Abteilungen geteilt, in das genealogischdiplomatische und das statistische Jahrbuch. Das statistische Jahrbuch diente als »Handbuch der Finanzen, des Handels, des Armee- und Marinewesens, wie des Areals und der Bevölkerung der Staaten«.27 Die Umfangserweiterungen verweisen auf den außerordentlichen Zuwachs des Materials:28 Zählte der erste Jahrgang 20 Seiten, so waren es 1825 396,1850 814 und 1870 1.066 Seiten, so daß auf ein größeres Format umgestellt werden mußte. Erst mit dem Handatlas von Adolf Stieler29 (ab 1817) und den Schulwandkarten von Emil von Sydow, dem »Begründer der methodischen Schulkartographie«30 (erste Karte »Asia«, 1838), hatten sich die Publikationsschwerpunkte auf Atlanten und Wandkarten verlagert. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Perthes der fuhrende Geographie- und Kartographieverlag. Die »Geographische Anstalt« wurde Mitte der fünfziger Jahre durch Bernhard Perthes als »Mittel- und Einigungspunkt für die gesammte Geographie in allen ihren Zweigen« geschaffen: »Den in allen Theilen der Erde erfolgenden Forschungen wollte Perthes eine Stelle schaffen, nach der sie mittelbar oder unmittelbar zusammenfliessen konnten, um hier zusammengefasst, verglichen, geeint zu werden und um dann von hier aus als ein Ganzes, durch die Mittel der Schrift oder der Karte wieder zurückzustrahlen.«31 Zu diesem Zweck zog er August Petermann 1854 und Emil von Sydow 1855 nach Gotha. Während Petermann »die rein wissenschaftlich geographische Forschung zu seiner Lebensaufgabe« machte, kam es Sydow zu, »die so gewonnenen geographischen, wissenschaftlichen Errungenschaften auf das pädagogische Feld zu übertragen«.32 Auch nach seinem Ausscheiden 1860, als er dem Preußischen Generalstab als Major attachiert wurde, blieb Sydow der Anstalt verbunden. Ihr Ruf war in dem Zusammenwirken führender Geographen und Kartographen begründet, vor allem das »Dreigestirn«33 von August Petermann (1822-1878), Hermann Berghaus (1828-1890) und Carl Vogel (1828-1897).
25 Espenhorst, S. 9f., 55 (für den »Stieler«). 26 »Ein paar Worte zur Geschichte« im Klett-Perthes Firmeninfo. URL: (6.4.1999). Im Netz findet sich auch eine kurze Verlagsgeschichte mit Zeittafel. URL: (6. 4. 1999). 27 Perthes: Perthes, S. 102. 28 Perthes, S. 102. 29 Rudolf Habel: Adolf Stieler. Initiator der wissenschaftlichen Atlaskartographie. In: Suchy (Hrsg.): Gothaer Geographen, S. 31-38. 30 Wilfried Görtier: Emil von Sydow. Begründer der methodischen Schulkartographie. In: Suchy (Hrsg.): Gothaer Geographen, S. 69-76. 31 Perthes: Perthes, S. 71. 32 Perthes, S. 75.
5.9 Kartographischer Verlag In der Geographischen Anstalt waren 1885 18 Kupferstecher und sieben Lithographen, in den technischen Abteilungen 47 Angestellte und Arbeiter sowie 82 Arbeiterinnen (80 in der Kolorieranstalt und zwei in der Buchbinderei) beschäftigt, in den Redaktionen sieben Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin, in der Verlagshandlung selbst (einschließlich des Inhabers) acht Mitarbeiter sowie ein Kastellan und zwei Bürodiener.34 (Vgl. Kap. 4.3) Durch die Tätigkeit führender Kartographen und Stecher wurde die Anstalt zu einer angesehenen Ausbildungsstätte. Auch spätere Verleger und Konkurrenten gingen aus ihr hervor. So waren Ernst Debes, Ludwig Friederichsen und Georg Hirth an der kartographischen Bearbeitung der 4., Debes und Hirth auch an der 5. Ausgabe von Stielers Handatlas beteiligt.35 Friederichsen gründete 1868 in Hamburg eine »Geographische und nautische Verlagshandlung«, für die er selbst Karten entwarf, die großes Lob ernteten. Von Debes stammen Atlanten und Wandkarten, mit denen die Firma H. Wagner & E. Debes in Leipzig auf den Markt kam. In der »Ära Petermann«, den fünfziger und sechziger Jahren, als die Perthes'sche Anstalt »eine kleine geographische GelehrtenrepublikHöhepunkt der zeichnerischen Leistungc. In der Regel tuscht der Kartograph »die Formen in Halbtönen, die der Stecher dann erst nach einer bestimmten Skala oder optischen Tonleiter in das Header Striche zerlegt.« (Quelle• Haack: Vom Werden des »Stieler«. 1926. S. 11)
586
5 Programmbereiche 200 Jahre Verlagsarbeit im Dienste von Wissenschaft und Schule - Die wichtigsten Verlagsobjekte und ihre Bearbeiter -
in Gotha 1785
in Darmstadt
1800
HZ
1850
in
in
in
i9oo
χ
X
X
1945
1953
1985
X
Golhaischcr Hofkalender · Almanach de Gotha - Genealogische Taschenbücher - Stamm- und Wappenkunde Stielers Hand-Atlas:
v. Stülpnagcl · Petermann · Berghaus · Vogel - Habenicht · Haack
H i s t o r i s c h e r Hand-Atlas: P h y s i k a l i s c h e r Atlas: I
v. Spruner · Menke - Sieglin · Kießling Heinrich Berghaus - H e r m a n n Berghaus
Geographische Wandkarlen:
Emil v. Sydow • Habeniehl · H e r m a n n Haack
Historische Wandkarlen:
χ
T h e m a l . Wandk.: j
Taschcn-Atlanten:
Werner Painke
Breischneider - Haack - Hertzberg · v. Kampen '
a
Welt · Deutsches Reich · See-Atlas · Atlas Antiquus
M e t h o d i s c h e r Schul-Atlas:
v. Sydow · Wagner · Haack · Laulensach
P e t e r m a n n s Geographische Mitteilungen: Geographisches Jahrbuch:
JUSTUS PERTHES 1785-1985
Behm - Wagner ' Mecking
Vogels K a r t e d e s D e u t s c h e n R e i c h e s
TransparentAlias:
G e o l o g i s c h e K. d. D t . R.: Lepsius [ G e o g r a p h i s c h e r Anzeiger: Haack
Abb. 5: Verlagsobjekte von Justus Perthes (Quelle: Werner Painke: 200 Jahre Justus Perthes sche Verlagsanstalt Gotha-Darmstadt. 1985, S. 18/19)
Geographi-
Als der 23jährige Bernhard Perthes die Firma übernahm, leitete er einen technischen Ausbau ein und entwickelte neue Produkte. Seit 1860 verfugte der Verlag über eine eigene Druckerei, 1887 waren - wohl zu überhöhten Preisen - Grundstücke und Gebäude der angrenzenden Maschinenfabrik Briegleb, Hansen & Co. erworben worden.45 Der Ausbau vollzog sich in folgenden Schritten: 1882 Buchbinderei, »zunächst fast völlig auf Handarbeit eingerichtet«46 1894 Mehrfarbendruck auf Schnellpressen, zunächst fur den »Sydow-Wagner« in sechster Auflage 1895 »Riesenschnelldruckpresse« zur Verbesserung der Paßgenauigkeit 1897 Elektrifizierung 1900 Aufbau eines eigenen Buchdrucks 1902 Einrichtung eines »Photoateliers« Bernhard Perthes handelte als »ein Investbauherr, der gezwungen war, das Anlagekapital stark zu erhöhen,ja es zwischen 1881 und 1914zu verdoppeln«.47 Zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten kam hinzu, daß die Kartographie durch die industrielle Produktion fur ein Massenpublikum immer mehr zur Ware wurde, der wissenschaftliche Einsatz der 45 Köhler, S. 89. 46 Köhler, S. 173.
5.9
587
Kartographischer Verlag
Geographischen Anstalt aber vom Markt immer weniger honoriert wurde: »Ein Atlas ist ein bloßes Handelsprodukt von Papier und Farbe geworden, die wissenschaftliche Leistung wird nicht gewertet.« 48 »So ergibt sich im Widerstreit von Investitionszwang, Umsatzrückgang sowie Entwertung der Erzeugnisse eine Abnahme des Gewinnes, teilweise sogar ein Zehren von der Substanz.« 49 Der »Stieler« Der »Stieler«, als Hand-Atlas über alle Theile der Erde erstmals 1817-1823 erschienen, wurde »zum Inbegriff für die anerkannt gute Kartographie des Hauses Justus Perthes und zum Leitmotiv der geographischen Verlagsarbeit«. 50 Mit einer Erscheinungsdauer von 123 Jahren war er der »langlebigste und vielleicht verbreitetste« Atlas überhaupt. 51 Eine Schätzung der Auflagenverteilung bis 1918 zeigt Schaubild 3: Von 1868 bis 1918 zählt man 230.000 Exemplare.
Auflagenverteilung Zeitabschnitt
Schaubild 3: der deutschen Hauptausgaben
des
»Stieler«
Anzahl der Jahresausgaben
Auflage
Gesamtauflage
1817-1833
12
1.600
20.000
1834-1845
10
2.000
20.000
1846-1852
6
3.000
18.000
1853-1862
9
4.000
36.000
1863-1866
5
4.000
20.000
1868-1874
8
5.000
45.000
1875-1879
5
9.000
36.000
1882-1889
7
4.000
28.000
1890-1901
12
3.000
36.000
1905-1913*
13
5.000
65.000
1907-1912*
6
2.000
12.000
1914-1918*
4
2.000
8.000
Quelle: Jürgen Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co. Handatlanten des deutschen Sprachraum, S. 57. Die Jahresausgaben sind zu Auflagengruppen zusammengefaßt (vgl. Tab. S. 63), die von der in Schaubild 4 zugrundegelegten Zählung des Verlages abweichen. Die Schätzungen sind »sehr vorsichtig zu bewerten« und bieten nur »einen ersten Anhaltspunkt«. * = verschiedene Ausgaben einer Auflagengruppe.
47 Köhler, S. 175. »Das Geschäftsvermögen übernahm er 1881 mit über 800.000 M und konnte es auf 1.240.000 M im Jahre 1901 steigern. Bis zum Ersten Weltkrieg dürften Baumaßnahmen, Maschinenkäufe, die Entwicklung neuer Erzeugnisse und anderes das Vermögen auf rund 1,5 Millionen Mark erhöht haben.« 48 Schreiben von Bernhard Perthes an Hermann Wagner, 1897. Köhler, S. 175. 49 Köhler, S. 175. 50 Verlagsgeschichte. URL: (6. 4. 1999). 51 Lexikon zur Geschichte der Kartographie, Art. Atlas. Hier S. 39.
5
Programmbereiche
Schaubild 4: Deutsche Hauptausgaben des »Stieler« Erscheinungszeitraum
Ausgabe
Herstellungstechnik
1817-1823
»Ur-Stieler«, erste Lieferungen zu einer vorläufigen 50-Blatt-Ausgabe
Kupferstich. Handkolorit
1823-1831
weitere Lieferungen zur ersten vollständigen Ausgabe mit 75 Bl.
1845-1847
2. Lieferungsausgabe mit 83 Bl.
1852-1854
3. Lieferungsausgabe mit 83 Bl.
1862-1864
4. Lieferungsausgabe mit 84 Bl.
4 Karten in mehrfarbigem Steindruck
1866-1868
5. (Jubiläums-)Lieferungsausgabe mit 84 Bl.
9 Karten in mehrfarbigem Steindruck
1871-1875
6. Lieferungsausgabe mit 90 Bl.
8 Karten in mehrfarbigem Steindruck; Einführung des Schablonenkolorits
1879-1882
7. Lieferungsausgabe mit 95 Bl.
1888-1891
8. Lieferungsausgabe mit 95 Bl.
Kombination von Kupferstich und Steindruck (für Meerblau)
1901-1905
9. Lieferungsausgabe mit 100 Bl.
Umdruck aller Stiche auf Stein; Massenfertigung durch Steindruck in mehreren Farben; Trennung des Geländestichs vom übrigen Stich und Druck des Geländes in Braun
1921-1925
10. (Hundertjahr-)Lieferungsausgabe Trennung der Hydrographie vom übrigen Stich und Druck in einem zweiten mit 108 Bl. ~ Blau; Massenanfertigung im Steindruck in mehreren Farben; kein Handkolorit mehr
Entwicklung der Galvanoplastik
Quelle: Franz Köhler: Gothaer Wege in Geographie und Kartographie. Gotha: Haack 1987, Tab. 7; Jürgen Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co. Handatlanten des deutschen Sprachraums, 1994, S. 63. Diese Einteilung geht von den wesentlichen Kartenrevisionen aus und folgt der Geschichtsschreibung des Verlages.
In der zweiten Jahrhunderthälfte lag die »kartographische Federführung« bei Heinrich und Hermann Berghaus, August Petermann und Carl Vogel. Sie entwickelten den »Stieler« in dreierlei Richtung weiter: »1. Einarbeitung der geographischen Entdeckungen bei gleichzeitiger Verfeinerung des Stiches. 2. Konservative, aber in allem präzise drucktechnische und verlegerische Ausstattung. 3. Auffacherung des kartographischen Angebotes durch Supplementreihen.«52 Mit der sechsten Auflage (1871-1875) wurden geographisch-topographische Spezialkarten, Mehrblattkarten europäischer Staaten, eingeführt und der Atlas auf 90 Blatt erweitert. Von da an verfügte der »Stieler« über »die mit Abstand zuverlässigsten Atlaskarten, da sie mit Akribie und fast übertriebener Feinheit aus 52 Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co, S. 51. Der Ausdruck »konservative« Herstellung bezieht sich auf Kupferstich und Handkolorierung.
5.9 Kartographischer Verlag
mehrfach größerem Ausgangsmaterial abgeleitet wurden,« über welches das Geographische Institut dank seiner Verbindungen verfugte. 53 Unübertroffen war die Reliefdarstellung mit Schraffuren. Da die Konkurrenz wesentlich billiger war, sanken jedoch die Auflagen. Erst nach Eintritt von Hermann Haack in den Verlag kam es mit der neunten Auflage (1901-1905; vgl. Schaubild 4) zu einer durchgehenden Modernisierung: Die Herstellung wurde nun im Umdruck von Kupfer auf Stein durchgeführt; die Geländeschraffuren wurden auf eine eigene Platte übertragen und separat in Braun gedruckt; die Ausstattung dem Zeitgeschmack angepaßt und für unterschiedliche Kundenwünsche diversifiziert, der Preis von M 60,- auf M 38,- gesenkt; die internationale Vermarktung vorangetrieben. 54 Nach dieser Umgestaltung und der Preissenkung war der »Perthes« wieder konkurrenzfähig. Die Hauptausgabe des »Stieler« wurde zum Stamm einer weitverzweigten Kartenfamilie. 55 Der wirtschaftlich wichtigste Zweig waren die Schulausgaben, von denen die erste bereits 1821, noch vor Vollendung des »Ur-Stieler« erschien. Insgesamt geht man fast von einer Million Schulatlanten des »Stieler« aus; bis 1914 erreichten sie mehr als 200 Auflagen. 56 Ab 1845 gab es eine Taschenausgabe im Quer-Oktav-Format (mehr als 100 Auflagen in vielen Sprachen), seit 1907 einen Taschen-Atlas vom Deutschen Reich (13 Auflagen bis 1937). 57 Der Verlag nutzte den Kartenpool zur Zusammenstellung spezieller Ausgaben, lieferte Ergänzungsblätter und publizierte auch ungebundene Einzel- und Spezialkarten. An den Stieler-Handatlas angelehnt, entstand unter der Leitung von Carl Vogel bis 1893 die Karte des Deutschen Reichs im Maßstab 1 : 500.000 in 27 Blättern. Die laufend aktualisierte Karte war unter Aufsicht des Generalstabs entstanden; sie diente dem Militär im Ersten und Zweiten Weltkrieg. 58 Auf der kartographischen Basis von Stielers Handatlas baute der Geschichtsatlas (seit 1837) von Spruner auf. Drei weitere Gruppen von Atlanten verbinden sich mit den Namen Heinrich Berghaus, Emil von Sydow und dem eben genannten Karl von Spruner. Der Historisch-Geographische Hand-Atlas von Spruner, 59 der die Entwicklung territorialer Herrschaftsverhältnisse darstellt, lag erstmals 1846-1853 in drei Abteilungen mit insgesamt 118 Kartenblättern vollständig vor. Der Physikalische Atlas oder Sammlung von Karten, auf denen die hauptsächlichsten Erscheinungen der anorganischen und organischen Natur nach ihrer geographischen Verbreitung und Vertheilung bildlich dargestellt sind (erstmals 18381848) von Berghaus 60 gehört zur Gruppe der thematischen Atlanten, die in den folgenden Jahrzehnten an Bedeutung gewannen, als erdphysikalische, meteorologische/klimatische, siedlungskundliche und wirtschaftliche Verhältnisse stärker berücksichtigt wurden. Von den Einzelkarten war die Weltkarte von Hermann Berghaus besonders erfolgreich. Erstmals 1863 herausgekommen, brachte sie es bis zur 16. Auflage 1924. Der spätere Titel Chart of the World zur Übersicht der regelmäßigen Dampf schiffahrts-Linien und
53 54 55 56 57 58 59 60
Lexikon zur Geschichte der Kartographie, Art. Stieler-Handatlas. Hier S. 783. Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co, S. 55. Vgl. Espenhorst: Skizze zu den Filiationen. Espenhorst, S. 58 f. Espenhorst, S. 60. Abbildung einer Werbung fur »Justus Perthes' Taschen-Atlanten« S. 61. Köhler: Gothaer Wege, S. 144 f. Vgl. dazu Hoffmann: Entwicklung, S. 38-40. Hoffmann, S. 154 f.
589
590
5
Programmbereiche
Haupt-Überland-Routen, der wichtigeren Segelschiffs-Wege, der Meeresströmungen und Windzonen, der Linien gleicher magnetischer Mißweisung, der Treibeis-Verhältnisse sowie der Telegraphengürtel rund um die Erde gibt die Konzeption der Karte wieder. Sie vereinigte erstmals »das Wissen, das der Überseekaufmann benötigte,«61 und wurde zur Kontorkarte aller Büros. Aber auch Teile der Marine, wie die US-Navy, rüsteten ihre Schiffe damit aus. Zeitschriften Nach den Atlanten und Wandkarten, dem kartographischen Bereich im engeren Sinn, bildete das geographische Schrifttum einen weiteren Schwerpunkt. Ausgangspunkt und Zentrum des geographischen Programms waren die 1855 von August Petermann ins Leben gerufenen, noch heute bestehenden Mittheilungen aus Justus Perthes Geographischer Anstalt über wichtige neue Forschungen auf dem Gesammtgebiet der Geographie so der exakte Titel des ersten Heftes. Die Monatshefte erschlossen den Ertrag der Forschungsreisenden für die Kartographie. Als »Organisator, Vermittler finanzieller Unterstützung und Berater für die Forschungsziele«62 hatte Petermann großen Anteil an vielen Forschungsreisen. »Die eingehenden Routenskizzen, Tagebuchaufzeichnungen, Ortsbestimmungen und Briefe wertete Petermann aus und setzte sie in Karten um.«63 Das Arbeitsergebnis war eine »Zweimannsarbeit«, bei der sich »die Analyse des Reisenden im Felde und die Synthese des Kartographen am Zeichenpult« ergänzten.64 Umfangreiche monographische Arbeiten erschienen seit 1860 in »Ergänzungsheften«. Die einzigartige geographische und kartographische Spezialsammlung - sie wurde nach dem Verkauf des Verlages an Klett in ein Museum überführt - ist ein Ergebnis der internationalen Kontakte, die Petermann 's Geographische Mitteilungen unterhielten: »Fort und fort vermittelten sie neue Verbindungen, zogen eine Menge neuen litterarischen Materials herbei, füllten zusehends die Kartenschränke und Bücherbretter«.65 Der Zeitschriftenverlag wurde durch zwei weitere langlebige Blätter ausgebaut, durch das Geographische Jahrbuch (seit 1866) und den Geographischen Anzeiger (seit 1899). Unter der Herausgeberschaft des späteren Hochschulgeographen Hermann Wagnerwurde das Geographische Jahrbuch durch Fortschrittsberichte zum »Sammelbecken geographischen Schrifttums« und begründete die Weltgeltung der deutschen Geographie vor dem Ersten Weltkrieg.66 Julius Hann berichtete 16 Jahre über Meteorologie, Otto Krümmel 18 Jahre über Ozeanographie, Ludwig K. Schmarda 21 Jahre über Tiergeographie, Oskar Drude 23 Jahre über Pflanzengeographie, Georg Gerland 25 Jahre über Ethnologie; auch ausländische Gelehrte wurden als Berichterstatter gewonnen. Mit Berichten
61 Hoffmann, S. 106 f. 62 Hoffmann, S. 114. Vgl. Petermanns Einsatz für eine deutsche Expedition in die Arktis, S. 123-25. Ausführlicher Perthes: Perthes, S. 89-91. 63 Perthes, S. 89-91. 64 Perthes, S. 89-91. 65 Perthes: Perthes, S. 77. 66 Köhler: Gothaer Wege, S. 159. Köhler spricht von der »Formierung der deutschen Hochschulgeographie mit Hilfe des Geographischen Jahrbuches« (S. 160). Auf S. 159 findet sich die folgende Aufzählung.
5.9 K a r t o g r a p h i s c h e r V e r l a g
591
Abb. 6: Die Riesen-Ausgabe der Wandkarte von Deutschland auf der BUGÍL4. (Quelle: Hermann Haack, Groszer Geographischer Wandatlas. Deutschland. Physisch. Riesen-Alisgabe. Maßstab 1: 450.000. Größe 358 χ 344 cm. Preis als Wandkarte aufgezogen mit 5 cm starken Vollrundstäben M 200,-)
über die »Methodik der E r d k u n d e « trug Wagner selbst zur Klärung des Selbstverständnisses der aufsteigenden Disziplin bei. A u c h die Kartenkritik hatte in Gotha ihr Zentrum. S y d o w s Hauptarbeit bildete die von 1857 bis 1872 in Petermann's Geographischen Mitteilungen v e r ö f f e n t l i c h t e j ä h r l i c h e A b h a n d l u n g Der kartographische Standpunkt Europa 's. »Was bisher an kurzen A n z e i g e n und Kritiken in B e z u g auf neuere Kartenarbeiten zerstreut geboten wurde, erschien nunm e h r vereinigt in Gestalt wissenschaftlich begründeter und f a c h g e m ä ß vergleichender B e s p r e c h u n g e n « . 6 7 H e r m a n n Haack führte die Kartenkritik im Geographischen Anzeiger weiter. Der Geographische Anzeiger war zunächst als Inseratenanhang zu Petermann 's Geographische Mitteilungen gedacht. »Mit ihm versuchte Perthes eine groß angelegte Reklam e o f f e n s i v e , vor allem unter den Lehrern, an die der Anzeiger zunächst kostenlos verteilt wurde.« 6 8 Da die R e s o n a n z groß war, w u r d e der Anzeiger zur f ü h r e n d e n schulgeographischen Zeitschrift ausgebaut, die vor allem kurze Nachrichten und viele B u c h b e s p r e c h u n gen brachte. Als 1911 der »Verband deutscher Schulgeographen« gegründet wurde, wählte man den Herausgeber Haack in den Vorstand; der Anzeiger w u r d e Verbandsorgan. Im
67 Perthes: Perthes, S. 94. 68 Köhler: Gothaer Wege, S. 165.
592
5 Programmbereiche
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5.9 K a r t o g r a p h i s c h e r Verlag
gleichen Jahr wurde das Konkurrenzorgan Zeitschriftfür Schulgeographie, die von 1880 bis 1911 von Holder in Wien verlegt wurde, mit dem Anzeiger verschmolzen.69 In Abgrenzung zum Anzeiger richteten sich die Mitteilungen am wissenschaftlichen Diskurs aus, blieben »objektbezogener und akademisch-seriöser«.70 Da die Zeit der großen Entdeckungsreisen zu Ende ging, griffen die Redakteure (Alexander Supan, ab 1884; Paul Langhans, ab 1909) verstärkt Fragen der physischen und kulturellen Erdkunde sowie anthropogeographische und wirtschaftsgeographische Interessen auf. Mit Langhans machten sich nationalistische Bestrebungen im Verlag bemerkbar. Er gab die Zweimonatsschrift Deutsche Erde ( 1902 -1915) heraus und war verantwortlich für einen Alldeutschen Atlas, der »>germanische< Volksstämme von der Etsch bis über den Belt hinaus, bis zum Nordkap, von Metz bis St. Petersburg, bis an die Wolga und bis an die Grenze der Türkei« hervorhebt und schon zeitgenössisch als »Skizze politischer Zukunftsgeographie« apostrophiert wurde.71 Besonders im Ausland schädigte Langhans durch sein »Deutschtum-Getöse« 72 den Ruf des Verlages. Die geographischen Magazine kamen um die Jahrhundertwende in eine Krise, die einen Konzentrationsprozeß auslöste. Die 1828 begründete Wochenschrift Das Ausland wurde von Cotta 1894 an Vieweg verkauft, der sie mit seiner (ab 1862 erscheinenden) Zeitschrift Globus vereinigte. Ebenso verfuhr Vieweg mit der seit 1862 von verschiedenen Leipziger Verlagen herausgegebenen und von ihm gleichfalls 1894 erworbenen Zeitschrift Aus allen Welttheilen. Diese Organe hatten einen Petermann's Geographischen Mitteilungen vergleichbaren Magazincharakter. »Bernhard Perthes kaufte schließlich diese drei vereinigten Journale 1910 von Vieweg für 5000,- Mark und vereinigte sie mit Petermann's Geographischen Mitteilungen,«73 Damit hoffte er den Rückgang der Zahl der Abonnenten - von 2.801 im Jahr 1884 war sie auf 1.330 im Jahr 1908 gefallen 74 - zu stoppen. Velhagen & Klasing Durch den Vertrag zwischen dem Bielefelder Verlag Velhagen & Klasing und Richard Andree wurde 1873 die »Geographische Anstalt von Velhagen & Klasing« in Leipzig ins Leben gerufen. Als Andree 1890 zurücktrat, erwarb der Verlag gegen die Abfindungssumme von 97.000 Mark, die in etwa dessen Ertragsanteil für die Jahre 1889 und 1890 entsprach, die Rechte an den Atlanten.75 Wie die Höhe der Abfindung anzeigt, hatten sich die von der Anstalt verlegten Kartenwerke bereits bestens eingeführt. Velhagen & Klasing hatte den Mut zum Risiko, denn für den Einstieg in den Markt setzte der Verlag auf Kampfpreise. Dieses »Verfahren des werbewirksamen Einstiegspreises mit den Gewinnchancen durch die Massenproduktion in späteren Phasen des Produktzyklusses«76 verschaffte dem Verlag einen ungeahnten Erfolg. Nach dreijähriger 69 70 71 72 73 74 75
Köhler, Köhler, Köhler, Köhler, Köhler, Köhler, Meyer:
S. 167 f. »In dieser Zeit hatte der Geographische Anzeiger fast 3.000 Abonnenten.« S. 185. S. 168. In Gotha gründete Langhans die Gemeinde des »Deutschbundes«. S. 165. S. 182. S. 181. 150 Jahre, S. 104.
594
5
Programmbereiche
Aufbauphase erschien 1876 Andrees Allgemeiner Volksschulatlas in vierunddreißig Karten zum »Lockpreis«77 von einer Mark. Innerhalb von vier Jahren wurden 150.000 Exemplare verkauft; bis zum Ersten Weltkrieg brachte es der Atlas auf 59 Auflagen, die Gesamtauflage erreichte die Millionengrenze. Die Werbekampagne für Andrees Handatlas, den als »Andree« in die Geschichte der Kartographie eingegangenen Stamm einer eigenen Atlasfamilie, hob den Preisansatz marktschreierisch hervor: Der Verlag biete hiermit etwas, »was vor ihm noch niemand, zu keiner Zeit und in keinem Lande zu unternehmen gewagt hat: einen großen Handatlas von vollendeter Ausführung und auf dem neuesten Standpunkte der Wissenschaft stehend für Zwanzig Mark.« 78 Sensationell war auch der Erfolg: Die erste Lieferung zu Ostern 1880 wurde in 30.000 Ansichtsexemplaren mit der Hoffnung auf 10.000 Festbezieher hergestellt, bis zur Schlußlieferung im Frühjahr 1881 waren es 120.000 Käufer.79 Das »neue Atlaskonzept« der Erstausgabe beruhte auf »beidseitigem Mehrfarbendruck, thematisch orientierten Karten und umfangreichen beigebundenen Erläuterungen«.80 Doch die Konzeption blieb ständig im Fluß. Der »Andree« kam fast jährlich mit revidierten Abdrucken heraus, wurde im Kartenmaterial immer umfangreicher - wogegen der Text zurücktrat - und änderte fortwährend seine Gestalt in Einband, Größe und Farbgebung.81 »Die Jubiläumsauflage von 1906, die zum 25. Jubiläum der Erstauflage erschien, hatte mit 300 Karten (Haupt- und Nebenkarten) bereits ein Gewicht von ca. acht Kilo.«82 Die sechs Auflagen in jeweils mehreren deutschen und ausländischen Ausgaben, die bis 1915 auf den Markt kamen, brachten es auf eine Gesamtauflage von ca. 525.000 deutschen und 125.000 ausländischen Exemplaren, insgesamt also auf schätzungsweise 650.000 Stück (Schaubild 5). Wie dieser Verkaufserfolg bestätigt, zog das Sortiment mit. »Viele Buchhändler schlossen sich zu Bezugsgemeinschaften zusammen, um in den Genuß des Höchstrabatts von fünfzig Prozent zu kommen, der bei einer Abnahme von fünfhundert Exemplaren gewährt wurde.« 83 Auch im Ausland wurde der »Andree« ein Erfolg. 84 Zum Handatlas, dem »Großen Andree«, trat eine billigere und populärere Ausgabe, der Neue Volks- und Familienatlas, der erstmals 1901 zum Preis von M 12,50 herauskam. Mit dem »Putzger« gelang Velhagen & Klasing die dauerhafte Plazierung einer zweiten Atlantenfamilie auf dem Markt. Als der Historische Schul-Atlas zur alten, mittleren und neuen Geschichte von Friedrich Wilhelm Putzger 1877 erschien, stellten die Verleger ihre Preiskalkulation »als pädagogische und soziale Wohltat« dar: »Der jetzt vorgelegte Atlas biete die Chance, das > Wünschenswerte< Wirklichkeit werden zu lassen; denn er stehe >an Güte den vorhandenen [Atlanten] nicht nach< und werde >für ein Drittel oder Viertel der bisherigen Preise< ausgeliefert.«85 Auch der »Putzger« wurde ständig verbessert. So
76 77 78 79 80 81 82 83 84
Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co, S. 238. Meyer: 150 Jahre, S. 171.Zahlenangaben ebd. sowie Espenhorst: Andree,Stieler,Meyer&Co,S.238. Zit. n. Meyer: 150 Jahre, S. 183. Meyer: 150 Jahre, S. 183-185; Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co, S. 241. Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co, S. 250. Vgl. den »Überblick über die Ausstattung der Stammausgabe« bei Espenhorst, S. 242. Espenhorst, S. 243. Meyer: 150 Jahre, S. 185. Zu den internationalen Ausgaben vgl. Espenhorst: Andree, Stieler, Meyer & Co, S. 246-248.
5.9 K a r t o g r a p h i s c h e r Verlag
wurde in der stark erweiterten Auflage von 1888 das unhandliche Querformat »durch einfaches Falzen der Kartenblätter auf das benutzerfreundliche und bis heute beibehaltene Hochquart-Format umgestellt.« 86 Die inhaltliche Bearbeitung folgte den schulischen Bedürfnissen und den ideologischen Strömungen. Mit der - wiederum stark erweiterten - 25. Auflage von 1901 wurde die Kolonialgeschichte aufgerollt. »Wie von selbst rückte in der neuen Kartenserie die > Aufteilung Afrikas< in den Vordergrund, die den jüngst erworbenen deutschen Kolonialbesitz in einem besonders freundlichen Licht erscheinen ließ.« 87 Nach 1914 wurde der Geschichtsatlas »zum >KriegseinsatzAus Wald und Hainfür mich< entstanden.« Koch, S. 62. Über die Konsequenzen für Gestaltung und Typographie vgl. Koch, S. 62-64. 157 Die Zeitschrift »Der Tapisserist« wurde von C. A. Müller (Berlin) übernommen und erschien ab dem siebten Jahrgang (1906/07) unter dem neuen Titel »Strickerei-Zeitung und Spitzen-Revue«. Sie wurde 1907 Organ des neugegründeten »Verbandes selbständiger Stricker Berlins« und des »Verbandes der Tapisserie- und Strickerei-Geschäfte«. Randa: Koch, S. 43 f., 174-179. 158 Maier wurde 1876 Teilhaber der Dorn'schen Buchhandlung (die er 1891 übernahm) und gründete 1883 seinen eigenen Verlag in Ravensburg. Die Darstellung folgt der Festschrift: Otto Maier Verlag Ravensburg 1883-1983. 159 1911 wurde der letzte Vertrag für ein Vorlagenwerk unterzeichnet. Der Markt stellte sich auf den Jugendstil um.
5.10 Verlag f ü r K u n s t , A r c h i t e k t u r und K u n s t g e w e r b e
637
beitsanleitungen für Glaser, Schmiede und Steinmetze (Grabdenkmale), für Detail-Aufgaben der Bau- und Zimmertischlerei wie Türen, Vertäfelungen, Ladeneinrichtungen, aber auch für Haustelegraphen- und Telefonanlagen. Der Verlag zog aus der regen Bautätigkeit in den zeittypischen Villensiedlungen Nutzen und war an der kunstgewerblichen Ausgestaltung der Lebenswelt um die Jahrhundertwende maßgeblich beteiligt. Von den von der Kunsterziehungsbewegung kritisierten »Zeichenkunstmappen«, die Vorlagen zum Abzeichnen enthielten, wurden bis zu hundert Folgen nebeneinander publiziert. Sie waren über Jahrzehnte lieferbar und verdankten sich der pragmatischen, auf sicheren Gewinn ausgerichteten Seite der Verlagspolitik. Hingegen wurde der Selbsterziehungsund Selbsttätigkeitsgedanke, der für die Kunsterziehungsbewegung und die ReHEINRICH VOGELER formpädagogik charakteristisch war, auf ZWEITES S O N D E R . H E F T MIT EINER BEGLEITENDEN STUDIE dem Spiele-, Jugendbuch- und FachbuchVON RAINER MARIA RILKE r APRIL MDCCCCII ~ sektor umgesetzt. So verlegte Maier seit 1900 die Broschürenreihe Spiel und Arbeit unter dem Motto »Wackere Knaben fertigen sich ihr Spielzeug selber an«. Bücher Abb. 11: Heinrich Vogeler: Titelblatt für das zweite für Erwachsene zum Selbstunterricht, teilSonderheft »Deutsche Kunst und Dekoration«. 1902. weise angelsächsischen Ursprungs, hatten (Quelle: Randa: Koch, Abb. 41) Aquarell- und Ölmalerei, Kopf- und Landschaftszeichnen sowie Modellieren, aber auch Naturholzarbeiten oder Papierblumen zum Gegenstand. Das Programm wurde durch Zeichenschulen, Stilwegweiser und Modellierund Ausschneidebögen abgerundet. Es setzte sich aus ungefähr 75 % Büchern und 25 % Spielen zusammen. Von den Spielen erschienen seit 1912 auch Exportausgaben in einer Reihe von Fremdsprachen.
Verlage und Galerien für moderne
Kunst
Bedeutende Kunsthandlungen waren oft zugleich Galerien, die Ausstellungen und Auktionen veranstalteten, die dazugehörigen Spezialkataloge herausgaben sowie lokale Ansichtenwerke, Kunstpostkarten usw. verlegten. Der Schritt zu einer darüber hinausgehenden Verlagsproduktion war klein, wie die von Hermann Amsler und Theodor Ruthardt 1860 gegründete, 1877 an die Heidelberger Kunsthändler Louis und Albert Meder verkaufte Berliner Kunsthandlung zeigt. Amsler & Ruthardt nahmen die Originalradierungsfolgen von Max Klinger zu Brahms Phantasie und Vom Tode sowie die Radierungen von Karl Stauffer-Bern in Verlag.
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5
Programmbereiche
Die Entwicklung der modernen Kunst seit den Sezessionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden von Verlagen aus dem Umfeld von Galerien begleitet. Der Verlag von Bruno Cassirer ging aus der Kunsthandlung Bruno und Paul Cassirer hervor, die sich in Zusammenhang mit der zweiten Berliner Sezession 1898 gebildet hatte. Als sich die Vettern 1901 trennten, übernahm Paul die Kunsthandlung und Bruno den Verlag. Bruno Cassirer gehörte zu den »jungen Verlegern aus Passion, die einen bestimmten Kulturwillen hatten, etwas durchsetzen wollten, aktive Idealisten waren und als solche vor Wagnissen nicht zurückscheuten«.160 Aus Passion für die zeitgenössische Kunst - den Impressionismus 161 - gründete er Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift fiir bildende Kunst und Kunstgewerbe (1902/03-1933). Durch diese Zeitschrift, fiir die er Karl Scheffler als Redakteur gewann, knüpfte Cassirer Verbindung zu führenden Künstlern und Museumsfachleuten. Weitere Kontakte ergaben sich, als die Graphische Gesellschaft dem Verlag ihre jährlichen Veröffentlichungen übertrug. Daß Cäsar Fleischlen162 anfänglich für die typographische Anordnung und BildAbb. 12: Umschlag des Graphik-Katalogs des Goltz ausstattung der neuen Zeitschrift zuständig Verlags von 1917, gestaltet von Richard Seewald. (Quelle: Fünf Jahre Goltz Verlag, 1917) war, belegt die Anknüpfung an die buchkünstlerische Arbeit des Pan (1895-1900). Text und Illustrationen wurden so komponiert, »daß gute Satzbilder zustande kamen und daß sich die Wichtigkeit der Bildbeispiele auch in den Größen aussprach«; jedes Heft soll
160 Scheffler: Die fetten und die mageren Jahre, S. 189. 161 Vgl. Brühl: Die Cassirers. 162 Cäsar Fleischlen galt, »seit er den >Pan< redigiert hatte, als Autorität in solchen Fragen, um so mehr, als er Briefe und Postkarten schrieb, die wie Werke der Schreibkunst aussahen«. Er nahm jedoch bald das Angebot des Scherl-Verlages, der für die Anordnung des Satzes und der Bilder im »Roten Tag« eine Autorität brauchte, für das hohe Gehalt von M 1.000,- im Monat an. Scheffler: Die fetten und die mageren Jahre, S. 184. 163 Scheffler: Die fetten und die mageren Jahre, S. 186 f. 164 Zit. n. Sarkowski: Bruno Cassirer, S. 117 f. 165 Pirsich: Der Sturm, S. 342-369, mit Auflistung der Ausstellungen und der von der Galerie vertretenen Künstler. Zitat S. 342. Vgl. auch Sprengel: Institutionalisierung der Moderne. 166 Pirsich: Der Sturm, S. 369-373. Im Laufe von 20 Jahren hat der Verlag annähernd 100 Bücher verlegt, die Auflagen lagen durchweg unter 1.000 Exemplaren. 167 Wittmann: Hundert Jahre Buchkultur, S. 93.
5 . 1 0 Verlag für Kunst, Architektur und K u n s t g e w e r b e
te »wie ein Lebewesen sein, eines sollte sich aber auch aufs andere beziehen«.163 Gleichviel Zeit und Sorgfalt verwandte Cassirer auf die Herstellung der Bücher. Es konnten Monate vergehen, ehe er über die Ausstattung entschied, alles sollte sich dem Zweck unterordnen, »das im Buch Dargestellte zur möglichst reinen, unauffälligen und zweckentsprechenden Anschauung zu bringen, Form und Inhalt als eines wirken zu lassen«.164 Für das literarische Verlagsprogramm hatte Cassirer August Scholz unter Vertrag, der für ihn die modernen russischen Schriftsteller (Ivan Gontscharow, Maxim Gorki, Leo Tolstoi) übersetzte. Der Verlag Herwarth Waldens, Der Sturm, engagierte sich für die frühen Avantgarden, zu denen Cassirer kaum Zugang fand. Er gehörte zu einem Verbund von Galerie, Theater, Kunstschule sowie einem Klub, Kunstabenden und einer Mitgliederorganisation, die sich zur Beförderung moderner Kunst um die Zeitschrift Der Sturm (1910-1932) in Berlin gebildet hatte. Tragende Säulen waren die Zeitschrift und die Sturm-Galerie, »eines der bedeutendsten Zentren der Welt für die Präsentation moderner Malerei«, vor allem für den Expressionismus, Kubismus und Futurismus.165 Der Verlag166 betreute in erster Linie die eigene Zeitschrift, Schloß den Vertrieb nahezu aller im Sturm veröffentlichten Originalholzschnitte in Sonderauflagen an und erweiterte sein Programm um die Kataloge zu den Sturm-Ausstellungen und um Kunstpostkarten. Die Buchveröffentlichungen kulminierten unmittelbar vor dem Krieg und in den Kriegsjahren selbst, als die Sturmbücher ( 14 Titel von 1914-1917) die Sturm-Kunsttheorie und Sturm-Kunst einem breiteren Publikumskreis nahebringen sollten. Bei Kriegsausbruch wurde vor allem der bereits im September 1915 gefallene August Stramm propagiert, der prototypische Vertreter der von Herwarth Waiden und Rudolf Blümner vertretenen »Wortkunst«. Stramms Gedichtband Du brachte es bis 1922 auf vier Auflagen und war damit das meistverkaufte literarische Werk des Kleinverlages. Zur Verbindung von Verlag und Galerie kam es auch außerhalb der Reichshauptstadt. Ein Beispiel dafür ist Hans Goltz in München (Abb. 12). Ab 1910 Besitzer einer Buchhandlung im Luitpold-Block, verwirklichte er »sein Konzept, in dem moderne Buchkunst und moderne Malerei eine gleichgewichtige Rolle spielten«,167 indem er Kunstausstellungen veranstaltete und seit 1914 moderne Buchkunst, graphische Blätter und Künstlermappen verlegte. Die Blätter und Mappen erschienen in Auflagen von knapp über zehn bis 500 Exemplaren, teilweise mit Vörzugsausgaben auf Bütten, von Hand gedruckt und vom Künstler numeriert, signiert und teilweise handkoloriert. Literatur Nachschlagewerke Neuigkeiten des deutschen Kunsthandels, nebst den wichtigsten Erscheinungen des Auslandes. Monatliches Verzeichnis. Hrsg. vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler. Bd. 1-12. Leipzig: Verlag des Börsenvereins 1907-1918 [Einzelblätter, Tafelwerke]. Forschungsliteratur Bilderbunter Alltag - 200 Jahre Lithographie. Ausstellungskatalog. Hrsg. vom Museum der Arbeit. Hamburg: Christians 1999. BRANDT, Hartwig: Motive der Kunsterziehungs- und Kunstgewerbebewegung. (Unipress, Reihe Pädagogik 3) Würzburg: Königshausen + Neumann 1981.
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5
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Programmbereiche
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BRÜCKNER,
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5 Programmbereiche
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Firmengeschichten
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5.10 Verlag für Kunst, Architektur und Kunstgewerbe
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